2.
Aber es wird noch vager. "Er trug wenige Waffen bei sich" steht da. Wie viele waren es denn nun? Und vor allem: was für welche?
Heutzutage sind drei Waffen (Gewehr, Pistole, Messer) ein realistischer Durchschnitt, je nach Armee und Einheit. Das sind durchaus "wenige", und viel mehr wären schon des Gewichts wegen wenig sinnvoll. Aber ein Wächter aus Avenia ist kein moderner Soldat. Vielleicht hat er ein Schwert, einen Dolch... Show more
2.
Aber es wird noch vager. "Er trug wenige Waffen bei sich" steht da. Wie viele waren es denn nun? Und vor allem: was für welche?
Heutzutage sind drei Waffen (Gewehr, Pistole, Messer) ein realistischer Durchschnitt, je nach Armee und Einheit. Das sind durchaus "wenige", und viel mehr wären schon des Gewichts wegen wenig sinnvoll. Aber ein Wächter aus Avenia ist kein moderner Soldat. Vielleicht hat er ein Schwert, einen Dolch und eine Doppelhandaxt? Oder besser einfach eine Blendlaterne, um mit letzterer die Dunkelheit zu vertreiben. Die ganze Bewaffnung und das Training, welches weiter hinten im Buch beschrieben wird, ergibt nämlich eigentlich überhaupt keinen erkennbaren Sinn. Die Dunkelheit bringt "Krankheit und Tod", und als sie präsent wird, ist von Waffen keine Rede, sondern Vivien läßt ihr inneres Licht erstrahlen. Das paßt zwar wunderbar zum Kontext, läßt die Leserin hinsichtlich der Waffen jedoch ratlos zurück.
Ich hatte bisweilen den Eindruck, du hast durchaus eine Vorstellung von dem, was da passiert, aber weil dir ja alles klar war, hast du es halt nicht hingeschrieben. Bitte denk an die Leser. Sie erfahren nur, was du aufschreibst. Und wenn du Sachen schreibst, die nicht sinnvoll zusammenpassen, dann sind sie entweder verwirrt, verärgert oder enttäuscht.
Allein diese beiden Elemente hätten eine Menge über Jeremy, die Wächter und Avenia ausgesagt. Aber du hast diese Chance verschenkt.
Und obendrein noch eine, als Jeremy anbietet, Viviens Fragen zu beantworten. Normalerweise genau der Punkt, wo man der Leserin zwanglos und unaufdringlich Exposition unterschieben kann. Im Prinzip hättest du hier all das, was im ersten Kapitel steht, in einen Dialog zwischen V und J einbringen können. Das wäre lebendiger gewesen und hätte die Figuren nebenbei noch genauer charakterisiert. Du schreibst nur "ich konnte nur nicken und hörte ihm aufmerksam zu". Was hat der Mann denn nun gesagt? Da macht ein Hauptcharakter eine Einführung in das Gesamtkonzept der titelgebenden Legende, und was erfährt man von ihm? Nichts.
Was auch im Buch nur relativ wenig deutlich wird, ist der Grund, warum ausgerechnet Vivien für diese bedeutende Aufgabe auserwählt wurde. Es gibt allgemeine Andeutungen, sie gehen aber nicht über "begabt" oder "reine Seele" hinaus.
Blicken wir an dieser Stelle mal kurz zu Harry Potter, dessen Laufbahn auch mit einem Brief begann: bei ihn wurde schließlich sehr klar, wie und warum er relevant für die Gesamtstory war.
Auf Seite 12 werden die obersten Wächter von Avenia nicht deutlicher als Jeremy. Man erfährt auch hier nichts Konkretes über die Aufgaben, die Ausbildung, die Gefahren von Viviens zukünftigem Leben. Selbst die Ernährung wird ausführlicher behandelt als die Faktoren, die nun über Leben und Tod sowie über den Umgang mit Seelen entscheiden sollen!
Die Erklärungen auf S.13 erläutern zwar immerhin die Konzepte, aber nicht das konkrete Leben bzw. die Praxis. Daher ist man später schon etwas überrascht, daß Vivien auf S.19 allein intuitiv so erfolgreich ist.
Ein anderer Punkt ist mir noch aufgefallen: "Seit Millionen von Jahren gab es die Wächter schon" (S.13). Das bedeutet, daß schon in der Altsteinzeit, also seit der allerersten Benutzung von Faustkeilen durch Hominiden, bereits Wächter existierten, die das Konzept von Gut und Böse, von Licht und Dunkelheit, geschützt haben. Diese geistige Abstraktion kann ich mir bei Wesen, die lange vor dem homo sapiens lebten, nicht vorstellen. Hier wäre entweder eine Erklärung über den Zeitablauf in Avenia oder der Hinweis, daß es in Avenia schon deutlich früher Hochkulturen gab, ratsam gewesen.