Immer wenn ich musiziere, denke ich an Kurt

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User: KlaRaMar
Immer wenn ich musiziere, denke ich an Kurt

Mein Cousin Kurt musste 1943 nach Abschluss seiner Lehre als Maschinenschlosser als Achtzehnjähriger in den Krieg. Im Februar 1945 erlitt er eine schwere Verwundung. Eine Granate hatte ihm sein Gesicht völlig zerfetzt. Dabei hat er auch sein Augenlicht verloren. Seine Mutter konnte es nach wenigen Wochen nicht mehr ertragen. Sie bat ihre Schwägerin, meine Mutter, um Hilfe. Meine Mutter hatte Erfahrung im Umgang mit menschlichem Leid. So zog Kurt bei uns ein.

 

Ein schwer kriegsbeschädigter Musiklehrer  bot Kurt an, ihm das Gitarrespiel beizubringen. Ich wurde als Siebenjähriger dazu verpflichtet, dreimal in der Woche vormittags Kurt zu diesem Musiklehrer zu führen, die Unterrichtsstunde da zu bleiben und ihn nach dem Gitarrenunterricht wieder nach Hause zu begleiten.

 

Und an jedem Nachmittag musste ich Kurt in den Wald begleiten. Wir setzten uns stets unter einen Baum, und Kurt hörte auf jedes Geräusch. Wenn ein Vogel hoch oben im Baum sang, musste ich beschreiben, wie der Vogel aussah, und Kurt riet anhand des Gesangs und meiner Beschreibung, um was für einen Vogel es sich handelte. – So verging der Sommer 1945 und Kurt begann, sich allmählich mit seinem Schicksal abzufinden.

 

Dann kam das erste Weihnachtsfest nach dem Krieg. Dennoch war es ein beklemmendes Weihnachtsfest. Kurt hatte mir aus Dankbarkeit dafür, dass ich ihn regelmäßig zum Musiklehrer und in den Wald begleitete, eine Blockflöte und ein Jahr Flötenunterricht bei jenem Musiklehrer geschenkt, den ich schon kannte. Nun ging ich regelmäßig zum Musikunterricht. Dort lernte ich nicht nur Blockflöte spielen, sondern auch Noten lesen. Und zu Hause musste ich Kurt jeden Tag auf der Blockflöte vorspielen, was ich gelernt hatte.

 

Mich begleitet seitdem die Musik. In den folgenden Jahren erlernte ich mehrere Instrumente. Diese Nähe zur Musik wäre bei mir nie entstanden, wenn mir Kurt nicht zu Weihnachten 1945 eine Blockflöte geschenkt hätte.

 

Diese Kurzgeschichte erreichte beim 63. Dear Diary-Wettbewerb der Gruppe "Biopgraphisches" im April 2016 den 2. Platz.


Posts and Comments
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Zora Zorn

Bei einer autobiographischen Erzählung, die sich um so ein fürchterliches und grausames Schicksal dreht, ist es immer schwierig, "wunderschön" zu sagen ...

Ein bewundernswerter Mann, dein Cousin Kurt! Solch ein schweres Schicksal so tapfer anzunehmen, ist nicht selbstverständlich.
Es freut mich ungemein zu lesen, dass er offensichtlich trotz allem ein zufriedenes und erfülltes Leben geführt hat: die Musik als Wegbegleiter, ein... Show more

4 Comments
KlaRaMar

Liebe Zora Zorn,
es freut mich sehr, dass Du so ausführlich auf meinen Beitrag eingegangen bist. Es ist in der Tat so, dass mich dieses Kindheitserlebnis mein Leben lang begleitet und vielleicht auch ein bißchen geprägt hat. In der Weise, dass ich stets dafür eintrete, Konflikte... Show more

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philhumor

Rührende Story - man wünscht sich, es wäre nur Fiktion, aber Kurt ist einigermaßen mit seinem Leben klargekommen - u. a. auch mit Deiner Unterstützung. Als Gegengeschenk die Bereicherung durch die Musik.

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KlaRaMar

Danke für Dein Lob. In der Tat hat mich als Kind sehr beeindruckt, wie Kurt mit diesem Schicksal klar gekommen ist. Ich denke, das wqar für mich prägend; nicht aufzugeben, auch wenn es mal ausweglos erscheint; sich durchbeißen, wenn sich einem Widerstände entgegenstellen.

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Deleted User

Sehr berührend und schön erzählt! So einen Menschen vergisst man nicht, der einen für das ganze Leben prägt.

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KlaRaMar

Danke für Deinen Kommentar. Du hast Recht, ich habe das nicht nur so daher geschrieben, sondern mir bleibt Kurt unvergesslich.

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Tierfreundin

Eine herzergreifende Geschichte wunderbar beschrieben. Dazu ein grosses Lob an deine Mutter, die es geschafft hat Kurt auf einen gangbaren Lebensweg zurück zu begleiten. Nicht jeder schafft es Behinderte zu betreuen. Schön, wie der Kriegsversehrte dir zu einem wertvollen Grundstein in deinem Leben verhelfen konnte.
Sehr gerne gelesen.
LG Silvie

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KlaRaMar

Vielen Dank für Deine Anerkennung meines Beitrags zum Autorenwettbewerb. Ich habe diesen Beitrag nicht erst jetzt geschrieben, sondern schon vor längerer Zeit, weil mich dieses Erlebnis sehr bewegt und immer begleitet hat. Meine Mutter und ich sind mit Kurt bis zu seinem... Show more

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bettyjoyce

Mir hat sehr gut gefallen, wie du den Bogen spannst von Kurt über die Geschichte bis hin zu deiner Erinnerung an ihn, wenn du musizierst :)
Einer von vielen Kriegsversehrten, aber einer, der seinen Weg gefunden hat. Eindrucksvoll beschrieben, wirklich bisher einer meiner Favoriten!

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KlaRaMar

Vielen Dank für Deine zustimmenden Worte.

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Ralf von der Brelie

Lieber Klaus-Rainer,
so schrecklich, so zerstörrerisch, so gnadenlos ist der Krieg. Und doch, gelernt haben wir nichts daraus. Noch heute schlagen sich Menschen gegenseitig die Schädel ein und haben jede Mahnung, die uns all die zerschundenen Seelen gegeben haben, einfach vergessen.
Meine Mutter ist auch mit 20 Jahren erblindet, allerdings durch eine Krankheit und nicht durch den Krieg.
Später dann, durch einige Operationen,... Show more

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KlaRaMar

Lieber Ralf,
vielen Dank für Deine Zeilen. Ich teile Deine Meinung, dass die Menschheit aus dem schrecklichen Krieg nichts gelernt hat, dass noch immer Gewalt und Intoleranz vorherrschen. Deshalb scheint es mir so wichtig, immer wieder und in unterschiedlicher Weise daran zu... Show more

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Anne Koch

Der arme kurt kann einem nur Leid tun, wie er in jungen Jahren so zugerichtet wurde. Dass er trotzdem sein Leben in den Griff bekam ist ein Verdienst Eurer Familie , die sich so um ihn gekümmert hat. LG Anne

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KlaRaMar

Danke fäür Dein Interesse an meinem Bericht und Dein Mitgefühl.
Liebe Grüße Klaus-Rainer

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schnief

Eine unheimlich berührende Geschichte, die sich zum Glück zum guten wandelte und dir die Liebe zur Musik.
Liebe Grüße Manuela

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KlaRaMar

Danke für Deinen Kommentar
Herzliche Grüße Klaus-Rainer

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genoveva

Eine Schicksal, das mich sehr erschüttert hat! Du hast es sehr einfühlsam beschrieben und diese schrecklichen Schicksalsschläge, die Kurt persönlich zu erdulden hatte, sind kaum vorstellbar!!! Das er trotzdem ein "normal" lebender Mensch wurde und sein Leben meisterte, kann ich nur bewundern! Auch die beiden vemissten Familienmitglieder aus Kurts Familie - manchmal denke ich, warum müssen viele Menschen immer mehr ertragen... Show more

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KlaRaMar

Danke für Deine zustimmenden Worte.

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Deleted User

Ich kann mir diese Erinnerungen gut vorstellen, die Zeit damals kenne ich mehr aus Erzählungen, die mir aber gut in der Erinnerung geblieben sind.

Eine bewegte Geschichte, das schwere Schicksal von Kurt und die fürchterlichen Umstände. Wie schön, dass du ihm vorgespielt hast. Das war wichtig und tut der geschundenen Seele gut.

Gern gelesen lieber Klaus
Geli

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KlaRaMar

Danlke für Dein Interesse an meiner Geschichte.

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