Helgas essayähnliche Moni-Geschichte von ‚Schuld und Vergebung‘ wurde wahrscheinlich angeregt durch mein eher als Erzählung geschriebenes Büchlein ‚Tischgebet und Gottesdienst 2010‘. Aus dem von mir angesprochenen überlegenswerten sich Mitschuldigfühlen an den Belastungen, die unsere heutigen Generationen den zukünftigen aufgebürdet haben, entstand eine allgemeiner gehaltene Diskussion über Schuld und sich schuldig fühlen. Helgas Moni geht davon aus, daß wir als Teil des Ganzen eine Mitschuld an negativen gesellschaftlichen Zuständen fühlen, uns jedoch damit trösten, daß eigentlich ganz spezielle Andere die Verursacher und Schuldigen sind (Schuld-Verdrängung). Zur Vergebung stehen die Fragen, wann darf man, wer darf, was darf man vergeben? Und ist danach alles wieder in Ordnung? Später, in einem Diskussionsbeitrag ergänzt sie: Schuld – Sühne / Bestrafung – Vergebung -> blanker Willkür.
Bei der Diskussion über Helgas Buch läßt uns wohl die Lust am Rechthaben, an der Verwissenschaftlichung und Philisophierung einer zumeist allbekannten Definition und ihrer Begründung das Anliegen etwas in die Ferne rücken.
Klar ist für mich, daß es in den gängigen Nachschlagwerken ausreichende Begriffserklärungen gibt, weshalb wir diese nicht neu erfinden müssen. Interessehalber und zum Vergleich mit unseren Erkenntnissen folgende Ausschnitte:
Lt. (c) Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2005
Schuld,
Strafrecht: die Vorwerfbarkeit der Willensbildung des Täters. Sie setzt voraus, dass der Täter statt des rechtswidrigen einen normgemäßen Handlungswillen hätte bilden können;
Schuld ist gegeben bei Vorsatz oder Fahrlässigkeit.
Das Vorliegen von Schuld ist Voraussetzung für die Bestrafung und Grundlage für die Zumessung der Strafe.
Schuldausschließungsgründe (Entschuldigungsgründe) sind v.a. Schuldunfähigkeit, entschuldigender Notstand (§35 StGB), unvermeidbarer Verbotsirrtum und Tatbestandsirrtum (Irrtum).
Die Schuldfrage (ob der Angeklagte der Tat schuldig ist) besteht aus
der Beweisfrage (ob die Begehung der Tat durch den Angeklagten erwiesen ist) und
der Frage nach der Gesetzesanwendung (Subsumtion; ob ein im Strafgesetz bezeichneter Tatbestand vorliegt).
Sie umfasst ferner die Strafe ausschließende, mindernde oder erhöhende Umstände.
Philosophie, Religion: 1) etwas, das man tun soll, eine Schuldigkeit;
2) Schuldigwerden, die Übertretung eines im Rahmen eines allgemeinen Normenkodex vorgegebenen beziehungsweise auf Gott oder die Götter zurückgeführten Gesetzes oder Gebots oder das Bewusstsein, der erkannten sittlichen beziehungsweise religiösen Pflicht zuwidergehandelt zu haben.
Beurteilungsinstanzen der Schuld sind das eigene Gewissen, vor dem das Individuum sich als schuldig erfährt (Schulderfahrung, Schuldgefühl), Gott, die anderen Menschen.
Die Religionen und das antike Drama zeigen, dass Schuldigwerden eine Urerfahrung des Menschen darstellt. (Sünde)
(Schuldgefühl), subjektive, bewusste oder unbewusste Überzeugung, einer Person Unrecht getan oder gegen ein Gesetz oder Gebot verstoßen zu haben;
im weiteren Sinne ein von der Empfindung persönlicher Unwürdigkeit und Minderwertigkeit bestimmter unklarer Gefühlszustand.
Die psychoanalytische Theorie lokalisiert die für Schuldgefühle verantwortliche Instanz im Über-Ich.
Zivilrecht: 1) als Verbindlichkeit die Verpflichtung des Schuldners zu einer Leistung (Tun oder Unterlassen) aufgrund eines Schuldverhältnisses;
2) als Vorwerfbarkeit die Bewertung eines menschlichen Verhaltens (Verschulden).
Ende der Zitate aus Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2005
Ich versuche einmal den Extrakt unserer Diskussionen, aus meiner Sicht und sicher beschränkten Auffassungsgabe, unter Hinzufügung meiner Gedanken, zusammenzufassen:
1. Schuld ist eine historische und gesellschaftliche Kategorie und deshalb etwas Subjektives, sich Veränderndes.
2. „Mir wurde bewusst, dass ich mitschuldig bin an den Verbrechen dieser Welt. Und ich schäme mich dafür.“ Auf Grund so eines Bekenntnisses müßten wir alle rufen: Ich auch. Statt dessen weichen wir in einem Wirrwarr von Fragen und Behauptungen aus.
3. Denn es gilt: „Zu sich schuldig fühlen, gehört auch, sich zu ändern“. Fragen: Wie will man das Schuldigwerden an den Verbrechen der Welt verhindern und was kann man ändern? Antwort: „Andere Leute wählen oder nicht wählen gehen.“ Feststellung „Nicht wählen stärkt nur die Falschen“. Das ist statistisch sehr unbedeutend. Aber bedeutend ist, daß die Mächtigen keine demokratische Berechtigung mehr haben, wenn ihnen die Masse verloren geht!
4. Ein Extrem: „„Erbsünde. Jeder ist schuld.“ Da werden wir uns nicht einigen können. Wir müßten hier die Religion bis zum bitteren Ende ausdiskutieren.
Was hier wohl auch nicht klärbar ist, daß sind die Winkelzüge folgender Art:
5. „Sind moralische Normen allein durch gesellschaftlichen Nutzen zu begründen? Oder ist es gerade die Gesellschaft, die durch ihre Konventionen die Entwicklung des Guten im Einzelmenschen unterdrückt?
Ja mehr noch: stand nicht die vermeintliche moralische Rücksichtnahme auf die Gesellschaft der Forderung im Wege, dass das Individuum ‚stets das Höchste zu leisten habe‘, was in seinem Vermögen liegt?
Demnach muss jeder urwüchsiger Naturmensch in einer ‚zahmen‘ Gesellschaft zum Außenseiter und Verbrecher verkommen.
Oder anders herum: ist nicht jedes moralische Handeln ohne die Annahme der sittlichen Autonomie des Individuum undenkbar und schließt somit die Tragik des Irrtums wie des Scheitens automatisch mit ein?“
Alles anzweifeln, alles in Frage stellen, wohin soll das führen, wenn keine helfenden Erkenntnisse daraus erwachsen. Das kann eine sehr helfende Methode sein, um heuristische Erkenntnisse zu gewinnen. Es wird jedoch bewußt oder unbewußt als Element der Rhetorik zumeist zur Zerstörung jeder vernünftigen Diskussion mißbraucht. Denn was soll uns das jetzt hier weiterbringen?
Oder was fangen wir mit dieser Behauptung an:
6. daß „…Machtmangel zu Fehlverhalten und letztlich Schuld führt … dass jede Form von Schuld dem menschlichen Wesen immanent ist – es kommt nur auf den Schwergrad oder besser den Grad der Machtlosigkeit an.“
Ist wirklich jede Schuld dem menschlichen Wesen immanent oder ist das nur eine, von der Religion seit 5000 Jahren gesteuerte Behauptung, um das Versagen der Mächtigen zu entschuldigen? Denn es geht doch in unserer Diskussion hier nicht um die bescheidenen Sündlein des kleines Mannes, zu onanieren oder was man alles schon als Sünde erklärt hat. Wir haben uns an solche Metapher so gewöhnt, daß wir sie sogar bei wissenschaftlichen Diskussionen verwenden. Die Rhetorik erlaubt es zwar, aber es ist eigentlich nur billige Scholastik.
Oder folgende Gedankengänge:
7. „Wer kann schon etwas für das Unrecht dieser Welt. … allen Weltverbesserern sei gesagt, sie wird es auch niemals sein. Aber ist man deswegen schlechter oder schuldiger als andere, nur weil man das Wohl der eigenen Familie im Auge hatte, - muss man deswegen in Vorwürfe verfallen?
Sie werden die Zustände, die sie beklagen, niemals ändern - niemand kann das, weil die Welt so ist, wie sie ist. Nur sich deswegen gleich zu schämen, ist angesichts solcher ‚Allgemeinschuld‘ überflüssig. Das zu Ihrer Beruhigung.“
Diese Sätze sind typisch für die uns im Kapitalismus besonders anerzogenen Moral und vermittelten Wissen. Da wir uns in keiner Urgemeinschaft mehr befinden sondern in einer mit unglaublichen Veränderungen vorwärtsstürmenden Gesellschaft, muß man davon ausgehen,
• daß das Allgemeinwohlüber dem der Familie und des Individuums stehen muß, sonst läßt sich diese Welt mit bald 10 Milliarden Menschen nicht mehr beherrschen,
• daß die Welt noch nie so blieb wie sie ist und auch jetzt gerade nicht so bleiben wird, wie sie ist und zwar ohne Ausnahme, sich in jeder Hinsicht verändern wird. Wir Menschen haben dabei unseren Anteil und unseren Einfluß.
• daß der Mensch von Grund auf Gut ist, die Verhältnisse/ die Umwelt bewirken in bestimmten unterschiedlichen, sich verändernden Umfang, leider immer wieder das Gegenteil. Wenn wir die Verhältnisse verbessern, werden wir auch das Verhältnis Gut zu Böse verändern. Absolut werden wir das Böse niemals vermeiden. Es steckt nicht im Menschen drin, sondern die Evolution hat den menschen in so einer Vielfältigkeit vorgesehen, daß es Randbereichen des Extremen von 3 bis 10% der Individuen gibt. Das zur Beruhigung für diejenigen, die uns Vorwärtsdenker gern mit den Begriffen Träumer, Idealisten, Utopisten verunglimpfen.
Stattdessen gehen wir der Frage nach, können wir überhaupt als schuldig angesehen werden?
8. „Machtfülle hingegen verursacht Wirkung, und somit trägt der Mächtige Schuld an dieser Wirkung“.
9. "Doch an etwas Schuld zu haben heißt gleichzeitig, die Macht zu haben“ es zu verändern bzw. eine Schuldhaftigkeit abzuwenden.
10. „Im Übrigen sehe ich die Unfähigkeit“ (des kleinen Mannes) „, sich gegen bestehende Machtstrukturen aufzulehnen, allein in dem Fehlen der nötigen Einsicht. Man könnte hier sogar sagen, dass gerade hierin seine Schuld liegt, weil er sich diese Einsicht nicht verschaffte.“ Diese Einsicht besteht z.B. :
in dem Satz ‚Wenn dein starker Arm es will, stehen alle Räder still‘ – also im Streik bis zum Generalstreik.
in der Erkenntnis, ‚nur gemeinsam sind wir stark‘, als organisiere ich mich in der Gewerkschaft.
11. „Ein Gewissenskonflikt ist immer ein Bekenntnis zur eigenen Schuld, zugleich aber auch ein Zeichen von Charakter. Das so etwas schnell als Schwäche interpretiert und auch ausgenutzt wird…“
12. „Schuld ist immer eine Frage des Gewissens, weshalb gewissenlose Menschen auch keine Schuld empfinden…“ Diese Betrachtung ist eine metaphysische. Was ist ein Gewissen? Es ist in dem Fall die Summe der ins Bewußtsein aufgenommenen Ethik und Moralauffassungen in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit. Ein gewissensloser Mensch hat entweder andere Ethik und Moralauffassungen (z.B. ein Abkömmling der Lobby, der Reichen, der Elite, des kriminellen Milieus)) oder einen Defekt in seinem Gehirn bzw. in seiner Hormonproduktion.
13. „… eine Vergebung wäre allenfalls dann gerechtfertigt, wenn eine Schuld hinreichend gesühnt wurde…“
Vergebung ist nicht mein Spezialgebiet. Ich kann auch Leuten ohne Sühne vergeben. Wenn ich weiß, daß sie es wegen ihrer Bildung, ihrer Herkunft, ihres Intellektes nicht wissen oder begreifen können, z.B. So vergeb ich einem Unternehmer oder Manager, daß er Gewinnmaximierend denkt und handelt – er wäre sonst nicht existenzfähig – obwohl er damit fast immer auch unvermeidlich irgend eine Schuld auf sich läd. Hier ist jedoch abzuwägen, wie sich Schuld zur Nützlichkeit verhält. Er wird bestimmte Arbeitnehmer disziplinieren oder welche entlassen und benachteiligen müssen. Das bleibt nicht aus. Wenn er es für den Unternehmenserhalt tut, ist es in Ordnung. Wenn er damit die zweite Milliarde auf sein Konto schaufelt, nicht.
14. "Schuld kann nur zwischen den beteiligten Personen vergeben und abgetragen werden."
Statt Personen würde ich Partnern sagen.
15. „Die empfundene Schuld oder Nichtschuld der Täter ist etwas Individuelles.“
Und auch, wie er darauf reagiert. Doch diese Weisheit bringt uns auch nicht weiter.
Hat uns überhaupt etwas weiter gebracht?
Die Diskussion war bisher überdurchschnittlich interessant und aufschlußreich. Es ist schön, daß sich hier solche Denker und Wissenden eingefunden haben.
Nach meiner Einschätzung bleibt zum Beispiel die folgende Frage offen:
Wie verfährt man nun mit einer Schuld, die außerhalb heutiger Gerichtsbarkeit und Rechtsauffassung liegt. Einer Schuld, die man womöglich als solche erst in den nächsten Jahrzehnten einklagen wird, wenn die Schuldigen nicht mehr leben.
Dazu habe ich zu meinem Buch ‚Tischgebet und Gottesdienst 2010‘ ein Nachwort angehängt.
Ich würde mich freuen, wenn die Diskussionsteilnehmer sich mit ähnlicher Intensität einmal dem Ursprungsthema, das Helga zu ihrem Buch vielleicht mit inspiriert hat, zuwenden würden. Da bekommt die Schuldfrage einen konkreteren und wahrscheinlich einen etwas schwieriger zu beantwortenden Inhalt.
Euer adolfkurt
Oh, ich glaube, da hat Spooky ausnahmsweise einmal recht, denn ein Materialist ist nicht zugleich auch Marxist. Ludwig Feuerbach zb. war auch Materialist; allerdings lehnte er eine Übertragung der Naturgesetze auf die Gesellschaft ab (aus gutem Grunde, wie sich später zeigte).... Show more
Oh, ich glaube, da hat Spooky ausnahmsweise einmal recht, denn ein Materialist ist nicht zugleich auch Marxist. Ludwig Feuerbach zb. war auch Materialist; allerdings lehnte er eine Übertragung der Naturgesetze auf die Gesellschaft ab (aus gutem Grunde, wie sich später zeigte). Marx monierte seinerzeit genau dies (so wie er übrigens auch Hegel ‚vom Kopf auf die Füße‘ stellte - er hätte ich wohl lieber auf dem Kopf lassen sollen) und schuf somit die orthodoxe Variante des Materialismus, für die selbiges nunmehr auch galt, was dann auch letztlich in die Irre führte. Deshalb sicher diese Unterscheidung. :-P