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Titel

 

 

 

Hans de Man

 

 

 

Der weiße Hirsch

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Roman

 

 

 

„Denn

Wie du anfingst, wirst du bleiben.“

 

Hölderlin, Der Rhein

 

 

 

Kapitel 1

 

Tommek hätte wahrscheinlich seine Wohnungstür aufgerissen, den heranstürmenden Polizisten ins Gesicht gelacht, höhnisch Applaus gespendet, und etwas wie „Der Typ, den ihr sucht, hat sich schon vor Wochen verpisst“ hinterhergeschrien, aber Andi Zeiner war nun mal nicht wie sein bester Kumpel, nicht dieser wilde Grizzlybär, der sich selbst im Auge des Orkans noch hoch aufrichtet und den Stürmen entgegenbrüllt. Andi war derjenige, der kauernd unter der Bettdecke liegen blieb und den polternden Schritten der Beamten im Treppenhaus lauschte. Er erwartete sekündlich, dass jemand mit Wucht seine Wohnungstür eintreten und ihn aus dem Bett reißen würde, doch unvermittelt entstand eine angespannte Stille. Andi streckte sein nacktes Bein unter der Decke hervor und richtete sich vorsichtig auf. Auf Zehenspitzen schlich er über kalte Holzbohlen zur Wohnungstür und lugte durch den Spion. Vage erkannte er im Hausflur dunkel uniformierte Gestalten, die sich entschlossen vor die Tür seiner Nachbarn drängten. Einer der Polizisten brachte einen Rammbock in Position.

Das reichte. Andi riss seine Tür auf. „Das sind doch nur die Öztürks...aarrgh!“

Das nächste, woran er sich erinnerte, waren stahlharte Arme und Hände, die seinen Kopf auf den Boden drückten und seine Handgelenke brutal auf dem Rücken fesselten. Er überlegte kurz, welcher Schmerz schlimmer war, der auf seiner Stirn oder der in seinen verdrehten Armen, als die Tür der Öztürks mit einem lauten Knall gesprengt wurde und ein wütender Trupp SEK-Beamter in die Wohnung seiner Nachbarn stürmte. Andi hörte Geschrei und Getrappel, energische Männerstimmen, die nach einem Engin Öztürk fragten. Offenbar war dies keine der in der Ellerstraße üblichen Drogenrazzien. Dieses Mal suchten die Beamten einen Terrorverdächtigen. Aber wieso bei den Öztürks, seiner türkischen Nachbarsfamilie, die einen Gemüsehandel an der Ecke betrieben und deren Sohn er bei den Schulaufgaben half? Er schaute auf, und erkannte wie die Elitepolizisten einen jungen Mann im Pyjama abführten. Halblange Haare verdeckten seine weichen Gesichtszüge.

„Hey! Das ist Engin! Der älteste Sohn der Öztürks. Das ist kein Terrorist,“ würgte Andi Zeiner hervor. Der Polizist, der auf seinem Rücken kniete, blieb ungerührt. „Hallo Arschloch, bist du taub?“ Andi schrie noch lauter.

„Lassen Sie uns einfach unsere Arbeit machen.“ Die Stimme des SEK-Beamten hatte einen sachlichen Tonfall.

„Idiot.“

„Vorsichtig, Bürschchen.“

 

Eine halbe Stunde später stand Andi vor dem Dreifachspiegel seines Badezimmerschranks und kühlte die Beule auf seiner Stirn. Wieso hatten die Polizisten Engin mitgenommen? Er kannte keinen sanfteren, friedfertigeren Jungen als den siebzehnjährigen Sohn der Öztürks. Andi überlegte kurz, ob er bei seinen Nachbarn vorbeischauen sollte, nachfragen, ob alles okay sei, doch er beschloss, dies auf den Feierabend zu vertagen. Besser, wenn sich die Wogen erst einmal glätteten. Die Razzia war eine schlimme Sache und Engins Verhaftung noch schlimmer, aber mittlerweile gehörten solche Aktionen zur Normalität der Ellerstraße.

 

Als Andi Zeiner vor die Haustür trat, schnitt ihm ein eisiger Wind ins Gesicht. Er stellte den Mantelkragen auf, zog die Schultern hoch und stapfte durch den Schneematsch Richtung Düsseldorf Hauptbahnhof. Nach wenigen Schritten querte er die Unterführung an der Flügelstraße und spürte unvermittelt die verstohlenen Blicke zweier hagerer Gestalten auf seiner Laptoptasche. Die jungen Marokkaner lehnten betont lässig an einem Laternenmast, spuckten auf den Bürgersteig und checkten ihre Handys. „Tsss...tsss...tsss... hey ... willstu rauchen? Smoke, smoke?“ Andi schüttelte den Kopf und beschleunigte seine Schritte. Die jungen Dealer stampften hinter ihm mit den Füßen auf das Pflaster, als würden sie eine lästige Taube verscheuchen, und sie lachten hämisch. Idioten, dachte Andi Zeiner, und revidierte sich innerlich im selben Augenblick. Wie kannst du so rassistisch über Migranten urteilen, arme Teufel sind das, und doch verließ er den Schauplatz mit einem erschreckend feindseligen Gefühl. Männer wie sie hatten das ehemalige Szene-Viertel in Düsseldorf-Bilk drastisch verändert. Wo früher ein Duft von frischer Minze und süßem Tee über dem Kiez lag, roch es jetzt nach Kiff und Urin. Andi dachte ans Wegziehen, aber wo gab es in der schicken Landeshauptstadt eine vergleichbare, siebzig Quadratmeter große Altbauwohnung mit echtem Holzboden und hohen Decken für eine Miete von sechshundertfünfzig Euro?

 

Auf dem Vorplatz des Hauptbahnhofs bahnte er sich lustlos einen Weg durch das Heer umtriebiger Angestellter. Noch war es nicht zu spät, sich krankzumelden. Er hätte die Beule auf seiner Stirn vorschieben können, erklären, er wäre beim Fußball mit einem Gegenspieler zusammengestoßen und noch etwas benommen. Aber das war nicht seine Art. Von seinem neuen Chef, Max Aschenbrenner, sollten PR-Fotos geschossen werden. Andi hatte sich ein Bild voller Symbolwert und Dramatik überlegt, dass hohe Wellen in der Öffentlichkeit schlagen würde.

 

Er schlich an einem Bratwurststand vorbei, roch das schwere Fett, öffnete die Schwingtür des Bahnhofs und fuhr auf der Rolltreppe ins Untergeschoss. Als er die Spotify-App auf seinem iPhone startete, rempelte ihn jemand unsanft von der Seite an.

„Zeiner, wenn Sie sich schon mit ihren maghrebinischen Nachbarn auf eine körperliche Auseinandersetzung einlassen, dann benutzen Sie anschließend wenigstens eine deckende Gesichtscreme,“ sagte eine hohe, nasale Stimme neben ihm.

Andi schaute auf. Nur zu gut kannte er den jungen, schlaksigen Kerl, der mit süffisantem Gesichtsausdruck die Beule auf seiner Stirn in Augenschein nahm.

„Das Veilchen ist von der Polizei, nicht von den Marokks,“ blaffte Andi seinen Arbeitskollegen Stefan Karwitz an.

„Ihre Sache. Aber wieso wohnen Sie ausgerechnet in einem Viertel, in dem dauernd Razzien veranstaltet werden? Das wäre mir zu unkomfortabel. Oder gehört sich so etwas für einen Bergarbeiter-Sohn?“

„Was genau meinen Sie damit?“ Andi fragte scharf nach.

Stefan Karwitz drehte sich halb von ihm weg, wobei das schwarze Granulat, das draußen gegen Eis und Schnee ausgelegt war, unangenehm unter seinen Ledersohlen knirschte.

„Nichts für ungut, mein Lieber. Jedem sein Plaisir. Sie fühlen sich zwischen Drogendealern und Asozialen am wohlsten, ich neben meinen Künstlern und Ärzten in Oberkassel.“

Karwitz war einer dieser impertinenten Schlaumeier, die zu allem und jedem eine Meinung hatten. Bei Moto leitete der schneidige Diplom-Ingenieur die Entwicklungsgruppe Klein- und Kompaktwagen. Sein Standesdünkel durchdrang ihn bis in die gegelten Haarspitzen.

„Die Ellerstraße war einmal die coolste Straße von ganz Düsseldorf. Noch vor einem Jahr kamen ihre Künstler und Ärzte zu uns, haben Fisch gekauft, Couscous gegessen und auf gut Freund mit den alteingesessenen Migrantenfamilien gemacht. Von ihren zunehmenden Problemen mit illegalen Kleinkriminellen und Drogendealern wollte jedoch niemand was wissen. Jetzt empört man sich pauschal über die Leute von der Ellerstraße.“ Andi spuckte auf den Bahnsteig.

„Wie auch immer, Sie sehen jedenfalls reichlich mitgenommen aus. Ich frag mich, wie Doktor Aschenbrenner darauf reagieren wird.“

„Das ist mir egal,“ zischte Andi. „Vielleicht erkläre ich ihm, dass ich auch einmal so verbeult aussehen wollte wie Ihre Prototypen nach dem letzten Crash-Test.“

„Ah, daher weht der Wind. Scheinbar haben sich unsere kleineren, wenn auch lösbaren Probleme mit der Kompaktwagenserie schon rumgesprochen.“

„Ich lach mich tot. Den Test-Puppen wurden nach dem Aufprall die Schienbeine und Hüften gebrochen,“ höhnte Andi.

„Nichts, was wir nicht in den Griff kriegen würden. Aber Zeiner, ich sag Ihnen was: wir testen wenigstens unsere Prototypen. Im Gegensatz zu Ihnen vom Marketing, die Sie mit Ihren Kampagnen regelmäßig Schiffbruch erleiden.“

Andi atmete tief durch. Karwitz sprach einen wunden Punkt an. Die Kampagne für den Frog Two war total gefloppt. Presse wie Verbraucher hatten sich lustig gemacht über den TV-Spot mit einem dicken Fußballmanager, der gespielt bequem in ihrem Kleinwagen durch die Stadt flitzt. Peinlich.

 

Mit quietschenden Bremsen rauschte die U-Bahn heran. Die Türen öffneten sich und die Leute drängelten hinein, um einen der wenigen Sitzplätze zu ergattern. Zeiner und Karwitz bestiegen als letzte den Waggon und blieben in der Nähe des orangefarbenen Entwertungsautomaten stehen. Als die U-Bahn abfuhr, hielten sie sich an den Handläufen über ihren Köpfen fest, so dass ihre Körper im Rhythmus der Waggons schaukelten.

„Und jetzt soll das Shooting mit Doktor Aschenbrenner alles rausreißen?“ fragte Karwitz lakonisch nach, während er die beschlagenen Gläser seiner schwarzgerahmten Brille mit dem Einstecktuch seines Jacketts polierte.

„Er wollte auf jeden Fall kein Standardfoto für sein Spiegel-Interview, sondern etwas Außergewöhnliches.“

„Jaja, habe schon gehört. Ein echtes Wagnis, Zeiner! Wird uns trotzdem nicht aus den Miesen holen.“

„Darum geht´s auch gar nicht. Der Chef meint, dass man zunächst einmal das Bild des Konzerns ändern muss, bevor man das Unternehmen selber reformieren kann.“ Andi bedauerte seinen enthusiastischen Tonfall. Er wusste, dass Leute wie Stefan Karwitz einen solchen, in ihren Augen naiven Optimismus, nur belächelten.

„Wird auch langsam mal Zeit, dass er etwas tut. Seitdem er vor einem halben Jahr Herrn von Heisingen an der Konzernspitze abgelöst hat, ist wenig passiert.“

„Das sehe ich anders. Aschenbrenner hat eine neue Dynamik entfacht. Die IT hat Vorschläge für ein konzernweit einheitliches PIM gemacht, es gibt Ansätze für ein integriertes Finanzcontrolling und unsere Vertriebsstrategie steht auch auf dem Prüfstand. Alle tun was.“

„Jaja, und die Kantine will einen Veggie-Day einführen. Ganz toll.“

 

Die U 79 hielt am Golzheimer Platz. Sie stiegen aus und marschierten schweigend auf die Konzernzentrale zu. Andis iPhone meldete sich. Er sah aufs Display, atmete tief durch und nahm das Gespräch an. Karwitz verabschiedete sich mit einem angedeuteten Kopfnicken.

 

Kapitel 2

 

„Mutter, ich habe wenig Zeit.“

„Andi, hast du zum Heiland gebetet?“

„Ja, habe ich.“

„Andi, die waren heute Morgen wieder da. Die wollen mich abholen.“ Ihre weinerliche Stimme und der gebrochene Tonfall stürzten ihn augenblicklich in die Verzweiflung.

„Niemand holt dich ab. Du bist ganz sicher im Heim. Ruf die Schwestern, wenn was ist,“ versuchte Andi sie zu beruhigen.

„Die kamen mit dem Lkw und wollten mich ins Arbeitslager bringen. Aber ich habe mich versteckt.“

„Niemand bringt dich ins Arbeitslager. Die Zeiten sind vorbei.“ Obwohl es ihm schwerfiel, versuchte er seiner Stimme einen ruhigen Tonfall zu geben.

„Vorhin war hier ein wahnsinniges Geschrei. Eine Frau hat ein Kind bekommen.“ Seine Mutter wechselte wieder willkürlich die Themen, ein untrügliches Zeichen, dass sie auf eine Krise zulief.

„Das kann nicht sein.“

„Die Frau Krailers von nebenan. Die hat wie verrückt geschrien und dann Zwillinge bekommen. Da war ein furchtbares Gerenne auf dem Flur.“

„Mutter, die Frau Krailers ist doch schon über achtzig!“

„Kommst du gleich vorbei?“

„Ich muss jetzt zur Arbeit.“

„Lass mich doch hier nicht so alleine sitzen.“ Er hörte, wie sie leise zu weinen begann.

„Ich war doch erst Samstag da,“ rechtfertigte er sich.

„Willst du nichts mehr mit mir zu tun haben? Andi, du musst mich wegbringen, die richten Erdstrahlen auf meinen Kopf.“

„Es gibt keine Erdstrahlen.“

„Doch, gibt es. Aber ich habe mir Kappesblätter unters Haarnetz gesteckt. Da kommen die nicht durch.“

„Gute Idee. Mach das.“

„....“

Andi hörte ein lautes Schluchzen, dann ein Klappern. Offenbar hatte seine Mutter den Hörer schief auf die Gabel gelegt. Er steckte sein Smartphone in die Jackettasche und atmete tief durch. Eiskalte Januarluft flutete seine Lungen.

 

Mit Grausen dachte er an das Derendorfer Altenstift, wo seine Mutter seit zwei Jahren untergebracht war. Schon wenn er durch die Eingangstür ging, empfing ihn ein starker Desinfektionsgeruch, der sich mit einem bitteren Uringestank vermischte. Das Interieur war ärmlich, die medizinischen Geräte veraltet. Die Insassen wurden weitestgehend sich selbst überlassen. Auf Menschen mit Demenz ging niemand gesondert ein. Die Pflegerinnen waren immer in Eile. Wenn Andi sie etwas fragte, bekam er kaum eine Antwort.

Klar, er musste seine Mutter da rausholen. Das Problem war das Geld. Würde er seine Mutter nach Oberkassel geben, hätte er nach Abzug der Miete und laufenden Kosten nur noch ein Minimum zum Leben. Jeden Cent müsste er umdrehen, und das ertrug er nicht mehr.

 

Die glänzende Fassade der Konzernzentrale baute sich machtvoll vor ihm auf. Er eilte durch die Drehtür und betrat einen Quader aus Glas und Stahl. Bodentiefe Fensterfronten durchfluteten das Entree mit gleißendem Licht, innenliegende Aufzüge huschten lautlos über die Wände des hohen Atriums. Anders als sonst spazierten jedoch keine Anzugträger mit mokantem Lächeln durch den Empfang, sondern ein Wust junger, volltätowierter Leute, die Filmleuchten, Stative, Kamerakoffer, Reflektoren und Stromgeneratoren ins Herz des Konzerns schleppten.

 

„Andiiiii, du bist zu spät, Mensch!“ Ines stürmte mit hohen Absätzen auf ihn zu. „Du lieber Himmel, hast du dich geprügelt?“

„Ist Doktor Aschenbrenner schon da?“ Andi überging missmutig ihre Frage.

„Nein, ich sage seiner Assistentin Bescheid, sobald es losgeht.“

Doktor Ines Schwartau, Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit, wirkte in ihrem schwarzen Hosenanzug mit passender weißer Business-Bluse hoch professionell. Allein am unruhigen Spiel ihrer manikürten Hände erkannte man, dass auch sie voller Nervosität auf das Kommende schaute. Andi atmete ihr französisches Parfüm ein, doch der schwere Duft, der ihn sonst so erotisierte, störte ihn jetzt. Er ließ sie unvermittelt stehen und ging hinüber zu Tommek. Inmitten des allgemeinen Durcheinanders dirigierte der Fotograf seine Crew so bestimmt wie ein Räuberhauptmann seine Männer in der Schlacht.

„Alter.“

„Alter.“

Tommek drückte ihn mit muskulösen Armen an seine breite Männerbrust. Er trug einen braunen Ledermantel mit zotteligem Pelzkragen. Seine Füße steckten in schweren Boots. Er wischte sich die wilde, schwarze Mähne nachlässig aus dem Gesicht und nahm eine Mittelformatkamera von seiner Fotoassistentin in Empfang. Silberne Armreifen klapperten an seinen Handgelenken.

„Läuft?“

„Bei dir scheinbar nicht so toll.“ Tommek inspizierte Andis Beule.

„Holt ihr das Vieh gleich rein?“

„Wir machen noch ein paar Probeschüsse mit ´nem Lichtdouble und dann kann´s losgehen.“

„Gut, gut, gut.“

„Was ist mit dir?“

„Nichts, was soll sein? Kümmere dich nicht um mich. Sieh zu, dass du deinen Job machst!“ blaffte Andi seinen besten Freund an.

„Aye, aye, Sir!“ Tommek salutierte.

„TOMMEK!“

„Ok. Lass mal mit ein paar Probeschüssen anfangen. Alles auf Position!“ Der quirlige Tross aus Assistenten, Stylisten, Visagisten, Tiertrainern und Produzenten verstummte sekündlich.

Einer von Tommeks Assistenten postierte sich als Double im Set. Blitzlicht erhellte sein gerötetes Gesicht, aus dem schwarze Bartstoppeln wie verirrte Eisenspäne hervorstießen.

Ines stellte sich neben Andi. Ihr blonder Zopf tanzte zum Rhythmus ihrer umherschweifenden Blicke. Andi versuchte ein Lächeln.

Tommek prüfte die ersten Probeschüsse, korrigierte nochmal Schärfe, Licht und Blende, dann nickte er Ines und Andi zu. Sie sahen auf den Kontrollmonitor, und hoben die Daumen.

„Happiness?“

„Happiness!“

„Ich sage Aschenbrenner Bescheid.“ Ines zückte ihr iPhone.

Tommek lächelte ihnen verschwörerisch zu und marschierte zum Ausgang. „Holt es raus!“

Ein Pferdetransporter wurde rückwärts an die Schiebetür des Haupteingangs heranmanövriert. Die Klappe ging auf und ein Tierpfleger zog ein nervöses, scheues Tier an der Leine heraus. Andi hielt den Atem an. Ein Geschöpf mit weißem Fell betrat wie ein Fabelwesen die helle Halle der Moto Deutschland. Das Klappern der Hufe echote überlaut durch den hohen Raum. Ungläubiges Staunen allenthalben. Denn vor ihnen stand kein Schimmel.

Sondern ein weißer Hirsch.

Er war kleiner, als Andi ihn erwartet hatte. Seine Schulter reichte ihm knapp über den Bauch. Dafür war sein Geweih umso eindrucksvoller.

Bevor auch nur irgendjemand etwas sagen konnte, stand Max Aschenbrenner, Vorstandsvorsitzender der Moto Deutschland AG, im Raum und ging mit Händen in den Taschen auf das Tier zu. Er nahm die Linke heraus und hielt sie dem Hirsch beruhigend vor die feuchte, schwarze Schnauze. Der nahm Witterung auf und stob plötzlich mit einem ängstlichen Satz zwei Meter zurück.

„Ho, hooo!“ Der Tiertrainer beruhigte den weißen Hirsch mit rezitativen Floskeln. Tommek nutzte die Gelegenheit für eine Stellprobe mit Andis neuem Chef.

„Einfach locker hier stehen bleiben, Herr Aschenbrenner. Den Hirsch führen wir seitlich auf Sie zu. Wir nehmen eine Dreiviertel-Ansicht von Ihnen und dem Tier. Schauen Sie abwechselnd in die Kamera und zu ihm. Wir halten dann solange drauf, wie der Bursche da mitmacht.“

„Dann mal los. Ihr habt das schon im Griff,“ antwortete Max Aschenbrenner, der ein bisschen wie ein erschöpfter Langstreckenläufer wirkte. Aber das täuschte. Man musste nur in seine hellen, blauen Augen sehen und sein kantiges Profil unter kurz geschorenen Haaren betrachten, um zu erkennen, dass dieser Mann jedes ihn umgebende Detail mit scharfen Sinnen wahrnahm.

Der Tiertrainer führte den weißen Hirsch langsam zwischen die Scheinwerfer und drängte ihn in die gewünschte Position. Das Tier hob und senkte in immer schneller werdenden Abständen den Kopf, trippelte zur Seite, stampfte auf der Stelle. Man hörte klappernde Hufe und das „Ruhig, ruuuuuhig, ruhig, hohooo, hoo“, des Trainers.

Nach endlosen Minuten blieb der weiße Hirsch dort stehen, wo er sollte. Der Tiertrainer nahm ihm die Trense ab. Er war frei. Nervös schaute er sich um. Man merkte, wie ihn die fremde Umgebung und die vielen Leute irritierten. Und trotzdem blieb der weiße Hirsch still stehen.

Tommek shootete, was die Kamera hergab. In kurzen Abständen hörte man das Geräusch des metallischen Verschlusses. Weiße Feuerstöße aus der Blitzanlage prasselten auf Aschenbrenner und das verwunschene Tier nieder. Niemand bewegte sich, vor Anspannung atmete man kaum.

Klack, Klack, Klack.

Das Stakkato des Kameraverschlusses zerrte an Andis Nerven. Es war alles so surreal. Da stand Aschenbrenner mit entschlossenem Gesicht und schmalen Mund im Zentrum seiner stählernen Machtbasis und schaute auf einen weißen Hirsch, dessen geschmeidige Kraft eine Art Schockstarre erlitten hatte. Nur das Zucken der feinen Wimpern deutete darauf hin, dass er lebte und keine ausgestopfte Staffage war.

 

Was dann passierte, sollte Andi noch lange und peinigend quälen.

 

Ein lautes, metallisches Scheppern durchbrach plötzlich die angespannte Stille. Die Anwesenden erschraken, und richteten böse Blicke auf eine junge Stylistin, die eine Kleiderstange umgestoßen hatte. Kurz nach dem ersten Schreck, stieg der weiße Hirsch hoch und galoppierte mit lautem Schnauben quer durch die Empfangshalle. Verängstigt und mit gequälten Blicken floh er von einer Ecke in die nächste, stieß Aufsteller und Sessel um, kotete auf das blankpolierte Granit und urinierte schließlich gegen die Fahrstuhltür. Der Tiertrainer und alle Mitglieder der Fotocrew rannten ihm hinterher und versuchten, das scheue Tier mit erhobenen Armen in eine Ecke zu drängen, während sie beruhigend auf es einredeten. Doch sie hatten keine Chance. Der Hirsch galoppierte nur noch schneller von einer Ecke der Halle in die andere.

 

„Oooh, Gott!“

Entsetzte Schreie.

Der Hirsch war auf dem polierten Boden ausgeglitten. Mit seinem schweren Körper lag er seitlich auf dem kalten Stein und zuckte ängstlich mit den Läufen. Alle verharrten. Stolpernd und mit klappernden Hufen kam er wieder auf die Beine.

Stille.

Aus der Gruppe löste sich plötzlich eine junge Frau in einem schwarzen Sakko. Aschenbrenners Sekretärin schaute dem Tier in die Augen. Vorsichtig streckte sie die Hand aus. Der Hirsch blieb stehen und wendete den Kopf zu ihr. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, noch einen. Er bewegte den Körper, machte Anstalten zu fliehen – und verharrte dann doch. Andi erkannte den rasenden Herzschlag unter seiner muskulösen Flanke. Die junge Frau ging einen weiteren Schritt auf das Tier zu und streichelte ganz leicht über sein weißes Fell. Einige Sekunden später nahm sie dem Tiertrainer die Trense aus der Hand und streifte sie dem weißen Hirsch über den Kopf.

Andi wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ich muss hier weg, dachte er, und stapfte Richtung Ausgang. Vor der Tür der Hauptverwaltung steckte er sich eine Zigarette an. Und das, obwohl er eigentlich tagsüber nicht rauchte.

 

„Zeiner, wenn dem Tier irgendwas passiert ist, dann mache ich sie dafür persönlich verantwortlich.“ Andi erschrak. Er drehte den Kopf zur Seite und schaute in die kalten Augen von Doktor Max Aschenbrenner. „Sorgen Sie dafür, dass der Hirsch unverletzt in sein Gehege kommt. Das ist mein Ernst,“ sagte er, und stampfte in Begleitung seiner Sekretärin weiter Richtung Tiefgarage. Als sich beide ein paar Schritte entfernt hatten, drehte sich Aschenbrenner nochmal zu ihm um. Er musterte Andi Zeiner aus schmalen Augenschlitzen und flüsterte seiner Assistentin ein paar Worte ins Ohr. Sie blieb stehen, machte kehrt und kam auf Andi zu.

„Kommen Sie,“ sagte Aschenbrenners Sekretärin und hakte ihn unter. „Jetzt kümmern wir uns erstmal um Sie.“

„Was hat Herr Aschenbrenner zu Ihnen gesagt?“, fragte Andi mit besorgter Stimme.

„Dass Sie schlimm aussehen. Aber keine Angst, ich frag nicht, wie das passiert ist.“

 

Kapitel 3

 

Fünf Minuten später stand Andi im Vorzimmer seines obersten Chefs und hielt ein Kühlpack an seine Stirn, das Camille Griszmann dem Eisschrank der Vorstandsetage entnommen hatte.

„Wer kümmert sich um das Tier?“

„Tommek. Äh, also ich meine Tomislav Horvath, der Fotograf“, sagte Andi unsicher, während er mit kreisenden Bewegungen seine Beule mit dem Kühlpack massierte. „War wohl nicht so eine gute Idee mit dem weißen Hirsch, oder?“

„Wieso?“ fragte Camille. „Wenn dem Tier nichts passiert ist und die Presse davon keinen Wind bekommt, ist doch alles gut. Ich bin gespannt auf die Fotos.“

„Wie haben Sie das gemacht?“

„Ich habe nichts gemacht,“ sagte Camille ganz unschuldig.

„Doch, Sie haben das Tier beruhigt und ihm die Trense umgelegt. Der Hirsch – er hat Ihnen vertraut. Wie haben Sie das gemacht?“

„Zauberei“, sagte sie und zeigte ihm ihre offenen Hände. Andi schaute sie ungläubig an.

Sie lachte.

 

Ein dickflüssiger, brauner Strahl lief in eine kleine, weiße Tasse und verbreitete einen herrlichen Kaffeegeruch, der Andis Nerven beruhigte.

„Mit Zucker?“

„Ja, gerne.“

Andi beobachtete Camille Grizmann, als sie ihm den Espresso gab. Sie hatte so gar nichts von einer klassischen Vorstandssekretärin. Er schätzte sie auf Ende zwanzig. Ihre braunen Haare trug sie zu einem Dutt. Das Gesicht dominierten wache braune Augen, die wie Jonglierbälle immer in Bewegung waren. Camille verzichtete auf Kostümchen und Blüschen. Sie trug lieber verwaschene Jeans, die sie mit einem Designer-T-Shirt aufwertete. Highheels erwartete man bei ihr vergeblich, ihre täglich wechselnden Sneaker waren ihr Markenzeichen. Sie war recht groß, hatte eine schlanke Figur und eine natürliche Eleganz, die ihre französische Herkunft verriet. Für den Konzern war sie so etwas wie ein Kulturschock, aber Aschenbrenner war dafür bekannt, wenig auf althergebrachte Konventionen zu geben. Er vertraute seiner Assistentin seit vielen Jahren, er nahm sie mit von einer Firma zur nächsten. Es hieß, sie berate ihn mittlerweile sogar in strategischen Fragen.

Nachdem Camille einen zweiten Espresso für sich zubereitet hatte, startete sie das Soundsystem des Vorzimmers. Clubmusik erklang.

„Oh, wow.“

„Max liebt elektronische Musik.“

„Disco-Musik? Echt?“

„Echt!“

„Das wusste ich nicht. Man weiß überhaupt wenig Persönliches über ihn“, sagte Andi.

„Ja, er kann unnahbar sein. Die Wirtschaftspresse hat einmal über ihn geschrieben, er sei eine hermetische Persönlichkeit. Aber wenn man Max besser kennenlernt, ist er sehr nett. Er tut alles für seine Leute.“

„Hat er Familie?“

„Nein, er lebt allein.“

„Hobbys?“

„Sie sind neugierig!“ Camille lächelte ihn charmant an. „Max geht jeden Morgen joggen. Außerdem interessiert er sich für Kunst. Am Wochenende lässt er sich von seinem Fahrer quer durch die Republik von Museum zu Museum fahren.“

„Das hätte ich nicht gedacht. Aschenbrenner geht der Ruf eines kühlen Reformers voraus. Er gilt als jemand, der alles genau berechnet – ein deutscher Ingenieur eben. Kunst passt nicht zu ihm.“

„Er steckt halt voller Überraschungen. Darf ich Sie jetzt was fragen?“

„Was Sie möchten.“

„Oh, nicht solche Angebote. Haha. Aber im Ernst: Wer von Ihnen hatte die Idee mit dem weißen Hirsch? Sie? Oder Ines Schwartau? Ich wäre da nie drauf gekommen.“

„Weder noch. Das war Tommeks Idee. Ich hatte Herrn Aschenbrenner zunächst vorgeschlagen, ihn beim Golfen oder Segeln zu fotografieren.“

„Da hat er mir von erzählt. Fand er ganz blöd. Max meinte, er sei doch kein Parvenü.“

„Ja, dumm von mir. Zum Glück hatte Tommek dann die Idee mit dem weißen Hirsch. Er sagte, das seltene Tier stehe in Fabeln für das Prinzip der Erneuerung. Ein weißer Hirsch sei das Symbol für einen sterbenden und wiederauferstehenden Gott. Solche PR-Fotos würden zeigen, dass Aschenbrenner es ernst meine mit der Sanierung und strategischen Neuausrichtung von Moto Deutschland.“

„Wahnsinn. Ich bin so gespannt, was die Presse sagt. Gut gemacht.“

„Meinen Sie das ernst?“

„Nicht nur ich. Max fand ihren neuen Vorschlag auch extrem mutig. Ich weiß noch, wie er zu mir sagte, endlich mal jemand, der sich nicht nur anbiedert und mir dauernd nach dem Mund redet.“

„Nicht wahr.“ Andi war verblüfft.

„Und ob. Max möchte übrigens, dass Herr Karwitz und Sie die morgige Strategiekonferenz bestreiten.“

„Bitte?“

„Er möchte eine offene Diskussion über das Image von Moto Deutschland. Was halten unsere Kunden von unseren Autos? Was müssen wir ändern? Sie haben doch letztens eine Marktbefragung in Auftrag gegeben.“

„Allerdings. Und die Ergebnisse sind verheerend.“

„Na, dann wird das doch zumindest eine muntere Runde. Am Ende Ihres Vortrags sollen Sie eine Empfehlung für die strategische Neuausrichtung unserer Marke geben.“

„Wann ist das Meeting?“

„Morgen früh um neun Uhr.“

„Oh, Gott. Ich bin überhaupt nicht vorbereitet!“

„Dann haben Sie jetzt was zu tun, haha!“ Camille lachte wieder so erfrischend, dass Andi nicht anders konnte, als einzustimmen. Noch als er im Fahrstuhl stand und nach unten in die zweite Etage zu seinem Büro fuhr, hatte er ein Lächeln auf den Lippen.

 

Ein langer Arbeitstag lag hinter Andi Zeiner. Bis in den späten Abend hatte er an der Präsentation für die morgige Strategiekonferenz gearbeitet. Vom Büro fuhr er allerdings nicht auf direktem Weg nach Hause, sondern nahm einen Umweg über die Düsseldorfer Altstadt, wo er mit Tommek das Shooting begießen wollte. Andi war sich nicht sicher, ob es ein Frustsaufen oder eine Siegesfeier werden würde, dafür kannte er die Ergebnisse noch nicht, doch unabhängig davon konnte er jetzt einen guten Schluck vertragen.

An der Heinrich-Heine-Allee stieg er aus der U-Bahn. Die Altstadt war bevölkert von einer feierwütigen Meute, die wildentschlossen schien, den Abend ihres Lebens zu begehen. Inmitten von Gejohle und Geschubse erreichte er den Grabbeplatz, wo er den, unter einem Betonvorsprung leicht versteckt gelegenen Club Salon des Amateurs betrat.

 

Tommek nahm ihn mit einem verschwörerischen Grinsen in Empfang, klappte seinen Laptop auf und zeigte Andi eine Auswahl der besten Fotos. Sie steckten die Köpfe zusammen und schauten auf den Bildschirm. Das Atrium der Moto Deutschland erstrahlte auf den Bildern in avantgardistischer Kargheit. Gleißendes, weißes Licht durchflutete den Raum und ließ die vertikale Struktur der Stahlträger, die gewaltige Glasfassade und den hellen Granitfußboden wie ein futuristisches Labor aussehen, in dem Aschenbrenner und der weiße Hirsch eine Art hyperreales Pas de deux aufführten. Ein Bild wie eine Szenerie aus der Endzeit des Humanismus, postmoderne Neoromantik – ein echter Wahnsinn, dachte Andi.

Nachdem beide mit stillem Lächeln ihren Triumph genossen hatten, ging Tommek mit ein paar kräftigen Männerschritten an die Theke und bestellte eine eiskalte Ladung Tequila-Shots, die sie mit lautem Johlen herunterstürzten, die nächste Runde gleich hinterher. Es war angerichtet für eine rauschende Partynacht in dem kleinen, intimen Club am Rande der Düsseldorfer Altstadt.

 

Tommek war in seinem Element. Jeder schien ihn hier zu kennen und er kannte jeden. Mit einem Gin-Tonic in der hocherhobenen Hand drängte er sich locker durch die Menge und klatschte sich mit seinen Buddys ab. Überall führte er ein Quätschchen. Junge Frauen küsste er zur Begrüßung auf die Wange, wobei er den besonders gutaussehenden dreist über den Po streichelte. Aber scheinbar durfte ein angehender Starfotograf wie er so etwas.

Andi kannte niemanden. Er kauerte auf seinem Barhocker, strich mit der flachen Hand über die glattpolierte Theke und schaute nachdenklich auf seinen Bier.

„Den siehst du in den nächsten zwei Stunden nicht wieder“, meinte unvermittelt die Barfrau zu ihm, während sie mit dem Kopf zu Tommek deutete. Sie polierte ein Cocktailglas und sah Andi dabei aus schwarzen, mit Kajalstrich umrandeten Augen an.

„Passt schon“, sagte Andi.

„Ich habe dich hier noch nie gesehen.“

„Ich geh auch selten aus. Feiern ist nicht so mein Ding“, sagte Andi zerstreut.

„Aber du bist kein Mönch oder Pastor oder so?“

„Nee, keine Sorge.“ Sie mussten beide lachen.

Sie schob sich den Ärmel ihres schwarzen Tops hoch, so dass ihre volltätowierten Arme zum Vorschein kamen. Bänder und Armreifen umschlängelten ihre Handgelenke. Die schwarzen Haare trug sie zu einer stacheligen Hochsteckfrisur. Obwohl sie überhaupt nicht sein Typ war, und er offensichtlich auch nicht ihrer (sie stand seiner Einschätzung nach auf tätowierte Harleyfahrer mit Bart), gefiel ihm ihre Gesellschaft.

„Woher kennst du Tommek?“, fragte Andi.

„Jeder kennt Tommek. Und du?“

„Älteste Freunde.“

„Hab ich mir fast gedacht.“

„Echt jetzt? Wir sind ja schon recht unterschiedlich“, meinte Andi verlegen.

„Ja, aber genau deswegen. Die ältesten Freunde sind ab ´nem gewissen Alter oft total anders drauf, als man selbst. Irgendwann nehmen die ´ne andere Abzweigung. Aber wenn alles gut geht, bleibt man trotzdem Best Friends.“

„So habe ich noch nie über Tommek und mich nachgedacht.“

„Was glaubst du, an welcher Stelle eurer Freundschaft du anders abgebogen bist?“

„Du stellst intime Fragen.“

„Hey, ich bin Barschlampe. Typen erzählen mit mehr Geheimnisse als ihrer Alten. Aber du musst auch nicht reden.“ Sie polierte das nächste Whiskyglas mit dem rot-weiß-karierten Handtuch.

„Nee, schon okay. Ich überlege selber gerade. Weißt du, das ist eine gute Frage. Wo haben sich unsere Wege getrennt? Als Kinder waren wir wie Bud Spencer und Terence Hill.“

„Ich rate jetzt mal, wer Terence Hill war“, sagte sie und lächelte ihn wissend an.

„Genau, Tommek war Bud Spencer – der starke, unumstößliche, der jede Schlägerei gewann. Ich war der, der dafür sorgte, dass wir durch die Schule kamen und immer die passenden Ausreden hatten, wenn wir in der Patsche saßen.“

„Du, ich muss mich mal gerade um meine Kunden kümmern“, meinte die Barfrau mit Blick auf eine Gruppe junger Männer, die augenscheinlich auf Bedienung warteten.

 

Sieben Biere später setzte sich Tommek neben ihn und legte Andi vertraulich seine schwere Pranke auf die Schulter.

„Tommek, sag mal, damals, wann war das?“ Andi redete schon mit schwerer Zunge.

„Wann war was?“

„Das du ´ne andere Richtung im Leben eingeschlagen hast als ich?“

„Hab ich das?“

„Ja, hast du!“

„Nee, finde ich nicht.“

„Doch. Die bist ´ne coole Sau geworden. Und ich ein Spießer.“

„Andi, du bist kein Spießer. Dein Job ist vielleicht ein bisschen spießig, weil du spießige Anzüge tragen musst. Aber darunter bist du immer noch ein Freak.“

„Das sagst du doch nur so. In Wirklichkeit findest du, dass ich ein Spießer geworden bin, der in einem Scheißspießerunternehmen mit anderen Scheißspießern arbeitet.“

„Was ist mit dir?“ Er gab der Barfrau ein Zeichen, ihnen ein frisches Beck´s hinzustellen. „Komm, wir trinken erstmal einen.“

Sie stießen an und kippten einen großen Schluck.

Andis Bierflasche war danach zur Hälfte geleert, Tommeks zur Gänze.

„Siehste“, sagte Andi mit Blick auf Tommeks Flasche, „wenn du ein Bier trinkst, dann richtig. Ich krieg wieder nur so einen halbgaren Scheiß hin.“

„Soll ich dir sagen, was mit dir los ist?“

„Ich bitte darum!“

„Du bist mal wieder unglücklich verliebt.“

„Rede doch nicht so einen Scheiß.“

„Oh, doch, Andreas Zeiner. Ich kenne dich. Immer wenn du einen Moralischen hast, dann steckt ´ne Frau dahinter. Und ich sag dir auch, welche.“

„... nicht so einen Scheiß“, stammelte Andi mit schwerer Zunge.

„Die schöne Blonde.“

„... Scheiße redest du ...“

„Ja, ja. Die aparte, junge Dame aus der Öffentlichkeitsarbeit. Wie heißt sie doch gleich?“

„Iiiinnnäässs .... scheiße Tommek, du redest nur Kacke ...“

„Ist doch nix dabei. Und die sieht ja auch verdammt gut aus. Brauchste dich doch nicht für schämen.“

„Oh Gooott. Muss ich jetzt mit dir über Gefühle reden.“

„Nein, musst du nicht.“ Tommek bestellte noch ein Bier. „Aber wenn du die so gut findest, dann lade sie doch einfach mal auf ´nen Kaffee ein.“

„Das ist doch so spießig. Steh ich da wie ein Trottel und frag, hey haste Lust auf einen Kaffee. Sowas sagt doch nur ein Idiot.“

„Ja, dann eben auf einen Drink im Sir Walter. Oder ins Kino. Was weiß ich, lass dir was einfallen.“

„Die findet mich eh scheiße. Unerreichbar ...“

„Andi, jetzt kein Selbstmitleid. Wenn ich eins nicht leiden kann, dann ist das, wenn mein bester Freund anfängt, sich zu bedauern. Sei mal ein Kerl, ja!“

„So einer wie du, ne?“

„Worauf steht sie?“

„Keine Ahnung. Auf erfolgreiche, gutaussehende Karrieretypen vermutlich.“

„Du hast aber eine sehr hohe Meinung von ihr,“ sagte Tommek in ironischem Tonfall.

„Das weiß man doch. Kannste in jeder Untersuchung lesen. Junge Frauen stehen auf Männer mit Macht.“

„Oh weia. Andreas Zeiner, der Frauenversteher.“

„Ich weiß es doch auch nicht. Es ist alles so verwirrend. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie mich mag. Aber irgendwie bin ich nicht ihr Milieu.“

„Nicht ihr Milieu“, äffte Tommek ihn nach. „Was ist denn ihr Milljööö?“

„Du lachst. Die kommt aus großbürgerlichem Haus. Der Vater ist Professor.“

„Oh, oh. Der Herr Professor“, sagte Tommek in gedehntem Ton.

„Ja, und dem stell ich dann meine Mutter vor. Im Altenheim. Mit Demenz.“

„Ja, und? Das ist deine Ma. Die hat dich großgezogen. Komm mal klar!!“

 

Tommek stand auf und stapfte wütend ans andere Ende des Clubs. Seit längerer Zeit war er das erste Mal richtig sauer auf seinen besten Freund.

 

Kapitel 4

 

Um zwei Uhr nachts kletterte Andi aus einem Taxi. Mit schweren Schritten stieg er die Treppen hoch. Als er vor seiner Wohnungstür stand und versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu steckten, erlebte er eine Überraschung. Engin, der Sohn seiner türkischen Nachbarn, kam hinter ihm die Treppen hochgehechtet. Andi drehte sich ungläubig zu ihm um. „Engin. Alles klar bei dir? Haben sie dich wieder laufen lassen?“

„War ´ne Verwechslung.“ Der junge Türke versuchte schnell an ihm vorbei in die Wohnung seiner Eltern zu gelangen.

„Das gibt´s doch nicht! Die treten doch nicht einfach so mir nichts dir nichts eure Tür ein. Was hast du ausgefressen?!“

„Nichts!! Kümmere dich um deinen Scheiß!“ Der sonst so sanfte Junge wurde plötzlich energisch.

„Ich spreche morgen mit deinen Eltern.“

„Nichts wirst du!“ Engin stürmte auf Andi zu und fasste ihn rüde am Kragen.

„Hey, ganz ruhig! Ich will dir nur helfen.“

„Du willst mir helfen?“, fragte Engin Öztürk. „Bist du dir sicher, oder ist das nur Gelaber?“

 

Andi stellte eine alte Teekanne aus Porzellan auf das brennende Stövchen. Sie setzen sich an seinen Küchentisch, wärmten die Hände an den heißen Gläsern und rauchten schweigend. Es war vollkommen ruhig im Haus, was so gut wie nie vorkam. Spätestens in drei Stunden würden sich die Frühschichtler polternd auf den Weg machen. Sie ebneten das Feld für hysterische Streits, rabiate Stiefelabsätze und das Geschrei verwahrloster Kinder, die das Treppenhaus bis in den Abend beherrschten.

Andi trank einige Schlucke Tee und fühlte, wie er wieder nüchtern wurde. Gleichzeitig überlegte er, ob es gut war, einen Siebzehnjährigen zum Rauchen zu ermuntern, aber er hatte das Gefühl, dass dies vielleicht nur ein Geringeres war, im Vergleich zu dem, was den Jungen sonst noch umtrieb. Er kannte Engin seit dieser ein kleiner Junge war. Für Andi war er der liebe, sanfte Sohn der Öztürks – ein Computernarr, der ihn aus braunen Kulleraugen immer etwas verstohlen hinter seinem Bildschirm ansah. Jetzt aber bemerkte er zum ersten Mal eine Kante unter Engins Augen sowie eine neue Art, den Mund schmal zusammenzupressen und den Körper dabei zu straffen – beides Zeichen, dass der Junge die Kindheit wie ein lästiges Federkleid abgestreift hatte und nun begierig daran ging, sich in die Härten des Erwachsenenlebens zu stürzen.

„Das war doch ein SEK-Kommando heute Morgen. Die rücken doch nicht mit der Kavallerie an, wenn sie sich nicht absolut sicher sind, jemand radikalen zu finden.“

„Wie du siehst, sitze ich hier und kann mich frei bewegen. Die Bullen wissen einen Scheiß!“

„Aber was haben die gesucht?“

„Ich möchte dich was fragen.“ Engin lehnte sich auf dem Freischwinger zurück, steckte die Zigarette in den Mund und inhalierte tief. „Wenn ich dich ins Vertrauen ziehe, was machst du mit den Informationen?“

Andi war perplex. Darüber hatte er tatsächlich noch nicht nachgedacht.

„Ich weiß nicht, kommt halt drauf an.“

„Auf was?“, fauchte er Andi an. „Darauf, dass es in dein Weltbild passt? Darauf, dass du gut damit dastehst, und du einen ach so armen Türken retten kannst?“ Engin blickte ihm mit wütenden Augen direkt ins Gesicht. Andi hielt dem Blick für einen Moment stand ... und sprang dann ruckartig auf. Er ging ratlos durch die Küche und wandte sich schließlich dem Vorratsschrank zu, aus dessen oberster Schublade er eine Tüte mit Pistazien nahm, die er nachdenklich aufriss und in eine Schale gab. Was war mit dem Jungen? Wieso war er so wütend? Aus seinen Augen sprach nicht nur Wut, sondern – Hass!

Andi stellte die Schale auf den Tisch, nahm eine Pistazie und knackte den Kern langsam aus seiner pudrigen Schale.

„Was läuft in deinem Leben so schief, dass du es wegwerfen willst. Weißt du, was du deinen Eltern antust?“

„Oh, Andi Zeiner, der verständnisvolle, gute Deutsche. Ja, wie kann ich das meinen Eltern und dir und all den anderen guten Deutschen nur antun und nicht ein Leben als Kfz-Mechaniker oder Handyverkäufer anstreben.“

„Warum so bitter? Deine Schwester und du, ihr seid beide gute Schüler. Hafise macht bald Abitur. Wenn sie will, kann sie studieren. Du bringst auch gute Noten nach Hause. Ihr habt alle Chancen.“

Engin lachte und wischte sich die strähnigen Haare aus dem Gesicht. Er war ein gutaussehender junger Mann, dachte Andi, während er auf dem salzigen Kern einer Pistazie herumkaute. Ein cooler Typ mit falschrum sitzender Basecap, Lederjacke, Jeans und stylischen Turnschuhen. Westlich und modern. Was stimmte nicht?

„Wie viele Leute aus der Ellerstraße, und ich meine keine Deutschen so wie dich, also wie viele von uns Deutschtürken oder Marroks oder Tunesiern oder Afrikanern kennst du, die einen Job im Management haben? Oder einfach nur bei der Stadt arbeiten? Oder ein Unternehmen besitzen, das größer ist als ein Kiosk oder eine Dönerbude? Wie viele? Schätz mal!“

„Keine Ahnung, ich bin nicht das statistische Bundesamt!“

„Sehr witzig. Ich sag´s dir: kein einziger.“

„Gutes Englisch soll ja helfen“, sagte Andi lakonisch. Er spielte auf den Nachhilfeunterricht an, den er Engin gegeben hatte. Der Junge war bei Englischarbeiten immer wieder gescheitert, hatte trotz seiner Bemühungen nur Vieren und Fünfen nach Hause gebracht. Er verstand die Sprache einfach nicht.

„Darauf holst du dir immer noch einen runter, dass ich diese Scheißsprache nicht kann.“

„Darum geht es nicht. Du weißt selbst, dass Englisch heute die internationale Businesssprache ist. Wer die nicht beherrscht, ist einfach außen vor.“

„Aber an genau diesem Punkt erkennt man das ganze globale Unterdrückungssystem. Man muss Englisch können. Arabisch oder Türkisch sind nichts wert, obwohl diese Sprachen soviel reicher sind.“

Andi zündete sich eine neue Zigarette an. Der Tee war kalt, aber er trank trotzdem die letzten Reste des bitteren Getränks.

„Und was hast du jetzt vor? Nach Syrien abhauen, dich dem IS anschließen und ungläubigen Jesiden den Kopf abschneiden?“

„Jaja. Eure Logik. Der IS ist grausam und böse. Und die Amerikaner sind gut und werfen friedenssichernde Präzisionsbomben auf meine Glaubensbrüder. Ganz im Dienste der Freiheit zerfetzen sie Kinder, töten Frauen und verstümmeln unsere Alten. Alles klar! Und nebenbei bemerkt, die Drohnen, die diese Lenkraketen abschießen, werden auch von deiner Firma produziert!“

Sie schauten sich beide an. Andi wusste nicht, was er sagen sollte. Mit den Drohnen hatte Engin Recht. Die Rüstungsabteilung von Moto Deutschland produzierte selbststeuernde Drohnen, die präzise Lenkraketen auf Bodenziele abfeuern konnten. Und sie hatten unlängst dreißig Stück davon an die Amerikaner verkauft, das Stück zu einhundertdreißig Millionen Euro, was ein Gesamtvolumen von fast vier Milliarden Euro ergab.

 

„Glaub mir, was da unten passiert, das ist nicht dein Krieg. Geh den Demagogen und falschen Predigern nicht auf den Leim.“

Engin schwieg. Plötzlich stand er auf und ging zur Tür. „Warte.“

Er lehnte die Haustür an und verschwand nebenan. Nach einer Ewigkeit von drei Zigarettenlängen stand er wieder vor Andi und hielt ihm einen USB-Stick hin.

„Hier, wenn du wirklich was für mich tun willst, dann bewahre den auf.“ Und damit verschwand er wieder. Es sollte für lange Zeit das letzte Mal sein, dass sich die beiden gegenüberstanden.

 

Was erwirtschaften eigentlich diese Tausenden und Abertausenden von Powerpointcharts, aus denen nichts folgt, außer dass sie ein Heer gelangweilter Gesichter noch tiefer in die Ratlosigkeit stürzten? Diese und ähnliche Fragen gingen Andi Zeiner durch den Kopf, als er seinen PC mit dem Beamer des Konferenzraums verband. Die Teilnehmer der Strategiekonferenz würden in zehn Minuten eintreffen. Zeit genug, um noch einmal alle Folien in Ruhe durchzuschauen.

Andi fühlte eine unbestimmte Anspannung. Er wusste, dass er der Überbringer schlechter Nachrichten sein würde, eine Person also, die man in der Antike noch geköpft hatte. Außerdem steckte ihm der gestrige Abend noch in den Knochen, und das nicht nur in Form eines stechenden Kopfschmerzes. Auch der Streit mit Tommek ging ihm nach. Sein bester Freund hatte Recht gehabt. Wie konnten ihm seine Herkunft und seine kranke Mutter peinlich sein? Andi schämte sich. Irgendwie musste er das wieder geradebiegen. Ganz zu schweigen von der Unterredung mit Engin. Da hatte er plötzlich den Gutmenschen gespielt. Auch völlig beknackt. Er merkte, wie seine Laune sich verschlechterte. Aber davon durfte er sich jetzt nicht beeinflussen lassen. Denn wenn er alles das präsentieren würde, was die Marktforschung über Moto ans Licht gebracht hatte, dann musste er gleich verdammt wach sein.

 

Auf der Mitte des Konferenztisches stand eine übergroße Thermoskanne, die die Servicekräfte jeden Morgen mit frischem Filterkaffee befüllten. Andi drückte den Spender nach unten und mit kurzer Verzögerung ergoss sich schwarzer Kaffee in die weiße Tasse. Die Füllmenge war genau auf die Tassengröße abgestimmt, ein irgendwie immer wieder erstaunliches Schauspiel, dachte Andi, bevor er ein kleines Töpfchen Kaffeesahne nahm, die knisternde Folie abzog und die gelbliche Flüssigkeit in das schwarze Getränk goss.

 

Die Tür öffnete sich und Ines Schwartau betrat den Konferenzraum. Mit rotgeschminktem Mund lächelte sie Andi kurz zu, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder Stefan Karwitz schenkte, mit dem sie offenbar in ein Gespräch vertieft war. Karwitz schwadronierte und spielte dabei abwechselnd an Manschettenknöpfen und Jacketttaschen. Man hörte, wie er sich um einen charmanten Plauderton bemühte. „Ich werde das Thema nochmal in Q Drei adressieren. Wir haben das ja ohnehin auf Wiedervorlage. Sobald wir New IT und One Finance durchgesteuert haben, werden wir auch bei den Utility Vehicles nochmal genauer hinschauen ...“ Karwitz´ leicht gebeugte, magere Gestalt steckte in einem dunkelblauen, am Revers abgesteppten Boss-Anzug. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm, dachte Andi, und damit meinte er nicht den Kontrast von Karwitz´ hoher, leicht nasaler Stimme zu seinem schwarzen Haar und den dunklen Augenringen. Es war etwas vorzeitig gealtertes, dass diesen Menschen linkisch und gefährlich erscheinen ließ.

 

Die Tür öffnete sich ein weiteres Mal und beinahe lautlos trat Max Aschenbrenner ein. Er wurde gefolgt von seinem Vorstandskollegen Hajime Fukanaga – einem kleinen, schmächtigen Japaner, der sich als Chef für Forschung und Entwicklung verschiedener Automobilhersteller weltweit einen gewaltigen Ruf erbarbeitet hatte. Fukanaga-san galt als Technikgenie. Sein Eintritt in die Firma vor vier Monaten kam einer kleinen Sensation gleich und hatte den schwächelnden Börsenkurs der Moto Deutschland AG, wenn auch nur für Tage, stabilisiert.

Hinter den beiden Top-Managern des Konzerns folgte ein Tross von persönlichen Assistenten und Funktionsträgern, aus denen zwei besonders hervorstachen: Paul Rottloff, der fettleibige Personalchef und Frau Dr. Mainzer, die gefürchtete Chefjuristin des Konzerns.

 

Es entstand ein Moment der Stille. Max Aschenbrenner nahm alle Aufmerksamkeit ein. Der hagere Vorstandsvorsitzende mit dem kurz geschorenen Schädel setzte sich an den Kopf des Tisches und beherrschte sekündlich das Meeting, obwohl er noch gar nichts gesagt hatte. Missmutig und schmallippig eröffnete er die Konferenz mit einem kurzen Nicken Richtung Andi Zeiner.

 

„Guten Morgen, meine Damen und Herren. Ich darf Sie zu unserem heutigen Strategiemeeting begrüßen“, begann Andi Zeiner mit zittriger Stimme. „Doktor Aschenbrenner hat mich gebeten, Ihnen die Ergebnisse unserer letzten Marktbefragung zu präsentieren. Im Anschluss werde ich dazu eine kurze Bewertung abgeben. Zum Thema. Vor drei Wochen haben wir eine Kundenbefragung mit zweitausend Teilnehmern durchgeführt. Fokus waren das Image von Moto Deutschland und die allgemeine Markenpräferenz. Befragt wurden zur Hälfte Frauen und Männer sowie Fahrer und Nichtfahrer eines Motos. Zur Markenpräferenz,“ Andi klickte auf das nächste Chart, das eine Statistik mit den Imagewerten verschiedener Autobauer zeigte, „hier müssen wir feststellen, dass Moto Deutschland hinter den vier anderen großen deutschen Marken BMW, Mercedes, Audi und VW auf Platz fünf, also auf dem letzten Platz liegt. Ähnlich sieht es bei den Themen Komfort, Qualität und Fahrleistung aus. Überall wird Moto auf dem letzten Platz eingereiht. Lediglich beim Thema Preis-Leistung stehen wir auf Platz zwei.“

Andi schaute in die Runde. Die halb abgedunkelten Gesichter schauten angestrengt auf die von ihm präsentierten Charts. Nur Max Aschenbrenner sah ihm klar und gerade in die Augen und nickte.

„Darüber hinaus müssen wir konstatieren, dass wir auch beim Thema Zuverlässigkeit kein Vertrauen genießen, ebenso wenig beim subjektiven Sicherheitsgefühl. Hier landen wir wieder auf Platz fünf beziehungsweise vier. Ähnlich schlecht sieht es leider auch beim Thema Design aus. Moto liegt auch hier völlig abgeschlagen auf dem letzten Platz. Unsere Kunden bewerten unsere Autos überwiegend als, Zitat: bieder, langweilig und unpersönlich. Wenn man also ehrlich ist, so muss man feststellen, dass unsere Autos eigentlich nur noch über einen günstigen Preis zu verkaufen sind. Freiwillig steigt niemand mehr in einen Moto.“

Andi hielt inne. Der offizielle Teil seiner Präsentation war nach neun Charts beendet, und er wusste, dass sich eine solche Dreistigkeit noch nie ein Nachwuchsmanager geleistet hatte. Er hatte nicht weniger getan, als den anwesenden Herrschaften mitzuteilen, dass sie für einen Haufen Mist namens „Moto Deutschland“ verantwortlich waren, dessen Autos niemand mehr freiwillig kaufte, es sein denn, man schmiss den Kunden die Wagen zum Selbstkostenpreis hinterher.

„Danke, Herr Zeiner.“ Aschenbrenners kalte Stimme durchbrach die angespannte Stille der Konferenz. „Möchte jemand direkt kommentieren? Ansonsten wären wir sehr gespannt auf Ihre Empfehlung, die Sie aus der Marktbefragung ableiten.“

„Ja, ich hätte eine Frage“, unterbrach Stefan Karwitz´ nasale Stimme den Raum. „Geht es hier nur um unsere zivilen Pkw oder auch um Nutzfahrzeuge und Military?“

„Dazu komme ich jetzt.“ Andi klickte eine weitere Folie an. „Bei Nutzfahrzeugen pendelt sich das ganze irgendwo in der Mitte ein und bei Military nehmen wir imagemäßig eine führende Position ein.“

„Das heißt unsere Lkw sind ganz ok und unsere Panzer werden geliebt?“, fragte Stefan Karwitz hart nach.

„Man muss etwas differenzieren. Unsere Lkw finden große Zustimmung in Deutschland und Europa. In Amerika und Asien allerdings weniger. Aber bei unseren Militärfahrzeugen haben wir durchgehend hohe Zustimmungswerte. Sowohl in Europa, wie in USA und Asien.“

Stille.

„Also ist unser Zukunftsfeld die Rüstungsindustrie?“, fragte Aschenbrenner in das allgemeine Schweigen.

„Das würde ich nicht so sehen,“ sagte Andi, „es kommt halt darauf an, wie wir uns im Bereich ziviler Pkw neu erfinden.“

„Präzisieren Sie“, sagte Aschenbrenner.

„Nun, ich denke es ist ziemlich klar, dass wir mit unseren Limousinen und Kleinwagen keine Chancen mehr auf dem Markt haben. Niemand will unsere hässlichen Autos,“ (Raunen), „mit einem schlechten Image. Aber ich sehe das auch als Chance. Eine Krise zwingt zu Entscheidungen. Wir können unser eigener Disrupter werden. Wenn unsere Autos mit Verbrennungsmotor faktisch unverkäuflich sind, dann sollten wir ein ganz neues Feld beschreiten: E-Mobility. Wir steigen in den Markt mit selbstfahrenden Elektroautos ein.“

Höhnisches Gegrinse allenthalben. Selbst Ines schaute peinlich berührt zu Boden.

„Ich meine das ernst“, sagte Andi ungewöhnlich heftig, „wir müssen nur ein Momentum kreieren, wo man uns das abnimmt.“

„Wie meinem Sie das,

Imprint

Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Text: Hans de Man
Cover: Maike Heckhoff
Editing: Susann Tietze
Publication Date: 08-16-2018
ISBN: 978-3-7438-7807-5

All Rights Reserved

Dedication:
"Der weiße Hirsch" ist allen gewidmet, die das eisige Innenleben von Großkonzernen kennen und sich fragen: Was macht der Job aus mir?

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