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Titel

 

 

 

 

 Die Borderline Identität

 

 

 

 

Verstehen und bewältigen für Betroffene und Angehörige

Wie Sie (wieder) ein eigenständiges Leben führen können.

  

 

 

 

 

By Lea Septer

Rechte

 

 

 

Alle Ratschläge in diesem Buch wurden vom Autor und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden.

Eine Haftung des Autors beziehungsweise des Verlags für jegliche Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist daher ausgeschlossen.

Die Borderline Identität

Copyright © 2021 Lea Septer

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung der Übersetzung, vorbehalten.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Auflage 2021

Vorwort

 

Eine Welt ganz in schwarz-weiß, in der Sie fern von sich selbst leben und das Chaos Sie steuert – das klingt nach einem gruseligen Science-Fiction-Film, ist für Menschen mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung aber trauriger Alltag. Die Realität verzerrt sich, alle sind scheinbar gegen den Betroffenen, und gleichzeitig wünscht er sich nichts sehnlicher, als geliebt zu werden. Die Konsequenz? Gefühlschaos, Stimmungsschwankungen, instabile Beziehungen und Schlimmeres. Nicht selten wird die Störung zu einer Bedrohung für die körperliche Gesundheit und sogar das Leben. Die Betroffenen leiden erheblich, und mit ihnen leiden die Menschen, welche die Hauptdarsteller in dem großen, alles überschattenden Film sind – die Partner, Familienmitglieder und Freunde. Für wen der Beteiligten die Situation schlimmer ist, kann man kaum sagen. Doch für alle gibt es eine gute Nachricht: Es muss nicht so bleiben. Borderline ist mit Hilfe einer Psychotherapie heilbar und es gibt viele Methoden, wie Betroffene und Angehörige selbst dazu beitragen können, dass die Auswirkungen der Störung sich verringern. In diesem Buch möchte ich Sie, gleich, ob Sie Betroffener oder Angehöriger sind, ausführlich über das Borderline-Syndrom und seine Hintergründe informieren sowie Ihnen durch diverse Tipps den Umgang mit der Störung erleichtern.

Dieses Buch dient ausschließlich der Information und ersetzt keinesfalls eine Therapie. Alle Inhalte dieses Ratgebers sind nach bestem Wissen und Gewissen zusammengestellt worden, für die Richtigkeit der Angaben wird jedoch keine Gewähr übernommen. Sofern in diesem Buch Methoden zur Selbsthilfe vorgestellt werden, handelt es sich ebenfalls lediglich um Informationen. Falls Sie Tipps aus diesem Ratgeber anwenden, wird seitens des Autors keine Haftung für etwaige Schäden oder ausbleibenden Erfolg übernommen. Wenn Sie sich schlecht fühlen, suchen Sie bitte einen Arzt oder Psychotherapeuten auf.

Hinweis bezüglich geschlechtergerechter Sprache: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde in diesem Buch auf geschlechtergerechte Sprache verzichtet. Alle männlichen Bezeichnungen, wie zum Beispiel „der Betroffene, der Angehörige, der Partner, der Therapeut“, schließen selbstverständlich alle anderen Geschlechter mit ein.

Was ist das Borderline-Syndrom?

 Einordnung als Persönlichkeitsstörung

 

Auf den ersten Blick erscheint es, als ob man einfach einen launischen Menschen vor sich hat, aber dahinter steckt sehr viel mehr. Betroffene des Borderline-Syndroms haben starke Stimmungsschwankungen und ändern ihre Meinung über sich selbst und ihre Mitmenschen teils von einer Sekunde auf die andere. Nicht nur auf das äußere Verhalten wirkt sich dies deutlich aus, sondern auch auf den inneren Zustand.

Menschen mit Borderline-Syndrom erleben ihre emotionale Verfassung als Qual, der sie sich nicht entziehen können. Eigentlich sehnen sie sich nur nach Liebe und danach, von jemandem verstanden zu werden. Doch sie verstehen sich selbst nicht und durch ihr für andere schwieriges, oft auch sehr verletzendes Verhalten erreichen sie genau das Gegenteil von dem, was sie sich im tiefsten Inneren wünschen. Zudem suchen sie zwar einerseits Nähe, haben jedoch andererseits auch Angst vor ihr, da sie niemandem wirklich vertrauen. Das alles führt zu einer extremen inneren Zerrissenheit, welche sich immer weiter verstärkt, je schlimmer die Störung wird. Dabei verstärkt gerade auch die innere Zerrissenheit die Störung – es ist also ein Teufelskreis. Nicht selten wissen Betroffene keinen anderen „Ausweg“ aus ihrem inneren Chaos, als sich selbst zu verletzen, und manche bringen sich sogar um oder denken zumindest darüber nach.

Das Borderline-Syndrom ist eine schwerwiegende Persönlichkeitsstörung. Es wird auch Borderline-Persönlichkeitsstörung oder kurz BPS genannt. Als Persönlichkeitsstörungen wird eine Gruppe von psychischen Störungen bezeichnet, bei denen bestimmte Aspekte der Persönlichkeit extrem ausgeprägt, unangepasst oder unflexibel sind. Nicht jeder Mensch, der nicht mit der Norm geht, hat aber natürlich eine Persönlichkeitsstörung. Vielmehr muss das „nicht normale“ Verhalten so intensiv sein, dass es den Betroffenen in seiner Lebensführung stark beeinträchtigt. Es ist keine Entscheidung des freien Willens, sondern der Betroffene wird aus dem Unterbewusstsein heraus so gesteuert, dass er sich anders verhält, als er es eigentlich will.

Bei Persönlichkeitsstörungen wird laut ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und Gesundheitsprobleme) in drei Hauptgruppen unterschieden. Das Borderline-Syndrom gehört zur Gruppe C, die mit den Stichworten „dramatisch, emotional, launisch“ beschrieben wird. Genauer gesagt, ist die Borderline-Störung eine Form der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung und wird auch als Borderline-Typus derselben bezeichnet. Der zweite Typus dieser Störung besitzt „nur“ emotionale Instabilität sowie mangelnde Impulskontrolle, während beim Borderline-Typus weitere Faktoren hinzukommen (zu den Merkmalen siehe nächster Abschnitt).

Der Name „Borderline“, der auf Englisch „Grenzlinie“ bedeutet, führt nicht etwa auf die gespaltene Identität zurück, sondern auf die psychoanalytische Einordnung. Man unterscheidet dort normalerweise je nach Symptomen in neurotische und psychotische Störungen bzw. Neurosen und Psychosen. Bei Neurosen handelt es sich um seelische Zustände starker Unausgeglichenheit oder des Zwangs wie zum Beispiel Depressionen oder Angststörungen. Der Betroffene ist sich in diesen Fällen bewusst, dass seine Wahrnehmung nicht der Realität entspricht und seine Reaktionen nicht angemessen sind, kann sich jedoch trotzdem nicht anders verhalten. Die Persönlichkeit ist davon nur zum Teil betroffen, d. h. die Störung beeinflusst nicht den ganzen Menschen. Eine Psychose erstreckt sich hingegen auf die gesamte Persönlichkeit. Zudem nehmen Psychotiker sich nicht als gestört wahr, sondern glauben, dass ihre Vorstellungen der Realität entsprechen. Zu den bedeutendsten Symptomen einer Psychose gehören Halluzinationen, Wahnideen und das Hören von Stimmen. Am bekanntesten ist die Schizophrenie, bei der die Betroffenen zwei ganz unterschiedliche Persönlichkeiten ausbilden, aber auch zum Beispiel Größenwahn oder Eifersuchtswahn gehören dazu.

Borderline ist jedoch nicht eindeutig unter eine Neurose oder eine Psychose einzuordnen, denn es sind Symptome aus beiden Kategorien vorhanden. Somit liegt die Störung auf der „Grenze“ zwischen einer Neurose und einer Psychose. Neurotisch sind beispielsweise die Stimmungsschwankungen, während die gestörte Sicht auf sich selbst und die Umwelt psychotisch ist. Entsprechend dazu, dass ein Borderliner gleichzeitig neurotisch und psychotisch ist, ist er sich manchmal bewusst, dass er die Realität nicht richtig sieht, und dann wieder ist er überzeugt davon, dass alle anderen Unrecht haben und nur er selbst die Wirklichkeit wahrnimmt.

 

Typische Merkmale & Abgrenzung zu anderen Störungen

 

Alle psychischen Störungen, die als solche diagnostiziert werden können, werden mit ihren typischen Symptomen in einem internationalen Katalog eingetragen. Neben dem bereits oben erwähnten ICD-10 gibt es noch das neuere DSM-IV (Diagnostisches und statistisches Handbuch psychischer Störungen), welches das ICD-10 teilweise ersetzt und ergänzt. Laut DSM-IV müssen mindestens fünf der nachfolgend aufgelisteten Merkmale vorliegen, um die Borderline-Störung zu diagnostizieren:

  • Der Betroffene ist verzweifelt bemüht, das Alleinsein zu verhindern, gleich ob dieses tatsächlich oder nur in seiner Vorstellung besteht.
  • Er hat immer wieder intensive, aber instabile Beziehungen und Freundschaften.
  • Die Identität ist gestört, d. h. der Betroffene verändert sein Selbstbild oder das Gefühl für sich selbst immer wieder (ausführlich dazu noch unter „Die Borderline-Identität“).
  • Der Betroffene ist in mindestens zwei Bereichen, die sich selbstschädigend auswirken können, impulsiv. Zum Beispiel kann sich dies auf das Kaufverhalten, Sex, Drogen, Alkohol, das Autofahren oder das Essverhalten beziehen.
  • Es erfolgen mehrfach Suizidandrohungen oder -versuche, der Betroffene verletzt sich selbst oder bringt sich durch riskante Handlungen in Gefahr (zum Beispiel Balancieren auf einem Brückengeländer).
  • Der Betroffene zeigt starke, sich phasenweise abwechselnde unterschiedliche Gefühlszustände wie zum Beispiel große Angst, starke Reizbarkeit oder tiefe Niedergeschlagenheit.
  • Es besteht ein ständiges Gefühl innerer Leere, das unabhängig von den äußeren Umständen andauert.
  • Der Betroffene reagiert bei Kleinigkeiten sehr zornig, ist oft verärgert, wird schnell beleidigend oder sogar gewalttätig; Wut und Ärger können in Intensität und Angemessenheit nicht kontrolliert werden.
  • In Stresssituationen treten paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome auf, d. h. der Betroffene hat eine falsche Wahrnehmung der Realität; zum Beispiel ist er überzeugt, dass sich alle Menschen gegen ihn verschworen haben oder ihn nur ausnutzen wollen.

Je mehr Kriterien vorhanden sind, desto schwerer ist die Störung. Manche Symptome wie zum Beispiel selbstverletzendes Verhalten, Suizidversuche oder unkontrollierte, gewalttätige Wutausbrüche sind an sich allerdings schon Anzeichen für eine schwere Ausprägung des Borderline-Syndroms. (Mehr zu den Ausprägungen und zum Verlauf der Krankheit lesen Sie im nächsten Abschnitt.)

Die folgenden Symptome sind besonders charakteristisch für eine Borderline-Störung:

  • ein ausgeprägtes impulsives Verhalten (starke, plötzliche Stimmungsschwankungen);
  • ständig wiederkehrende, unterschiedliche Gefühlsphasen (zum Beispiel einige Tage Angst, dann einige Tage Niedergeschlagenheit, gefolgt von einigen Tagen Reizbarkeit usw.);
  • andauernde Schwankungen in der Selbstwahrnehmung (einmal Erfolgsmensch, dann Versager, einmal liebenswert, dann abstoßend etc.);
  • instabile Beziehungen, in denen der Betroffene Nähe sucht oder sogar fordert, aber sich selbst nicht öffnet, seine Freiheit beansprucht und den Partner abwechselnd als Freund und Feind sieht;
  • die mangelnde Fähigkeit, mit Kritik und Zurückweisung umzugehen (Reaktion entweder extrem „eingeschnappt“, aggressiv oder auch tieftraurig);
  • das Gefühl, sich selbst fremd zu sein, die eigenen Gefühle nicht zu spüren und sich mit sich selbst nicht identifizieren zu können.

Da sich die Merkmale teils mit anderen Krankheitsbildern überschneiden, ist die Diagnose jedoch nicht immer einfach. Unter anderem zeigen sich Parallelen zum Narzissmus, zur Schizophrenie, zur Bindungsangst, zum Posttraumatischen Belastungssyndrom, zu Dissoziativen Störungen und zu Suchterkrankungen. Ob Sie oder eine Ihnen nahestehende Person am Borderline-Syndrom leiden, kann nur ein psychologischer Psychotherapeut oder ein Psychiater feststellen.

Eine Erkrankung mit vielen Gesichtern – Formen & Verlauf der Borderline-Störung

 

Nicht jeder Mensch, der an Borderline leidet, ist gleich – vielmehr gibt es mehrere verschiedene Erscheinungsformen der Störung. Zum einen unterscheidet man zwei verschiedene Formen bzw. Typen. Einerseits ist da der impulsive Typ, der zu Wut und Aggressionen neigt, und andererseits gibt es den Typ, der sich durch intensive, aber unbeständige zwischenmenschliche Beziehungen kennzeichnet. Die Typen werden danach klassifiziert, welche Verhaltensweisen besonders stark in den Vordergrund treten. Die Eigenschaften des jeweils anderen Typs können aber trotzdem vorhanden sein, nur sind sie im Vergleich zu den für die jeweilige Form charakteristischen Verhaltensweisen weniger auffällig. Allgemeine Merkmale wie zum Beispiel das Gefühl von Leere und eine verzerrte Sicht der Realität kommen bei beiden Typen gleichermaßen vor, wirken sich jedoch aufgrund der typbedingten Eigenschaften teilweise unterschiedlich aus.

 

 

Typ 1: Aggressiv und impulsiv

 

Der impulsive Typ ist innerlich angefüllt von Wut und Aggressionen, die sich meist gegen die Außenwelt, teils aber auch gegen sich selbst richten. Er ist wie ein Fass, das ständig kurz vor dem Überlaufen ist. Ein winziger Tropfen genügt, damit er komplett aus der Haut fährt. So ist er zum einen kaum bis gar nicht kritikfähig und fasst selbst neutrale oder scherzhafte Aussagen als Angriff auf. Zum anderen bringt alles, was nicht zu hundert Prozent so läuft, wie er es sich vorstellt, ihn zum Platzen. Im Folgenden seien einige Situationen beispielhaft beschrieben:

Als Herr B. gemütlich in seiner Wohnung mit seiner Partnerin zusammensitzt, stößt diese aus Versehen ein Glas um. Herr B. springt auf und schreit: „Was soll das?! Kannst du nicht aufpassen?! Jetzt ist der ganze Abend ruiniert! Jetzt bin ich hier die ganze Zeit am Aufwischen! Das hast du toll hinbekommen! Ist dir natürlich egal, ist ja nur meine Wohnung, die versaut ist! Was ist, was starrst du mich jetzt so an?!?“ Seine Partnerin murmelt erschreckt, warum er sich wegen eines umgestoßenen Glases so aufregt. Daraufhin eskaliert die Situation weiter, denn nun fühlt er sich nicht nur missachtet, sondern auch noch zu Unrecht kritisiert. Der Abend endet damit, dass seine Partnerin die Wohnung verlässt, während er ihr hinterherschreit, was ihr einfiele und dass sie nicht wiederzukommen brauche.

Herr L. hat für die Familie eingekauft. Dabei hat er leider schwere, harte Sachen und weiche, empfindliche Produkte in eine Tasche gepackt, und zwar so, dass die schweren auf den weichen Sachen liegen. Stolz kommt er mit den Einkäufen nach Hause, wo seine Frau ihn empfängt und beginnt, die Produkte auszupacken. Er beobachtet dabei, wie sich ihr Gesichtsausdruck verändert. „Was ist, was passt dir nicht?“, fragt er in gereiztem Ton. Frau L. versucht, es mit Humor zu nehmen. Sie merkt an, dass es wohl heute Brot-Tomaten-Brei mit Joghurtsoße zum Abendessen gibt. Herr L. findet das gar nicht lustig. Er schreit: „Nichts kann man dir recht machen! Da gehe ich schon einkaufen und dann das! Nichts ist dir gut genug! Ich habe keine Lust mehr, irgendwas für dich zu machen! Du kannst in Zukunft allein einkaufen! Das ist doch wohl die Höhe, wie du mit mir umspringst!“

Ein Freund von Frau P. zieht um und hat sie sowie ein paar andere Freunde um Hilfe gebeten. Frau P. muss an dem Tag in der Frühschicht arbeiten, aber möchte trotzdem helfen. Sie stößt um 13 Uhr dazu. Als sie ankommt, sind schon fast alle Kisten gepackt und im Transporter verstaut. Auch die Möbel sind schon abgebaut und befinden sich im Wagen. Frau P. traut ihren Augen nicht und ruft entnervt: „Was soll das jetzt? Wozu bestellst du mich her? Es ist ja schon alles gemacht! Und dafür hetze ich extra von der Arbeit hierher?!“ Der umziehende Freund versucht ihr zu erklären, dass sie ja schon anfangen mussten, dass der halbe Tag schon vorbei ist, sie noch zur neuen Wohnung fahren müssen und der Transporter pro Stunde Geld kostet. Frau P. hört kaum zu. „Du schickst mich durch die Gegend, für was hältst du mich?? Ich komme doch nicht für nichts hierher! Als hätte ich nichts zu tun! Das ist alles meine Lebenszeit! Verschwendet! Was bist du für ein Freund?!?“ Daraufhin steigt sie wutentbrannt in ihr Auto und fährt mit Vollgas davon.

Die Partnerin von Herrn F. hat Geburtstag, aber ausgerechnet an diesem Tag fühlt sie sich gesundheitlich nicht wohl. Das Paar hatte geplant, den Tag gemütlich zusammen zu verbringen und vielleicht noch einen kleinen Ausflug zu unternehmen. Zusammen sind sie zwar, aber mit dem Ausflug wird es nichts und auch ansonsten ist Herrn F.s Partnerin nicht gerade in Feierstimmung. Statt sie aufzuheitern, für sie da zu sein und ihr den Tag so angenehm wie möglich zu gestalten, wird Herr F. zunehmend unruhig und missmutig. Ihm sei langweilig, das sei doch keine Party, beginnt er zu schimpfen. Er erwartet von seiner Partnerin, dass sie „Stimmung macht“, es sei ja schließlich ihr Geburtstag. Seine Partnerin versucht ihm zu erklären, dass es ihr nicht gut geht und wird zusehends traurig. Das macht Herrn F. noch gereizter. „Wenn du keine Lust hast, mit mir zu feiern, dann sag es! Ich bin schwer enttäuscht von dir! Du würdest wohl lieber mit jemand anderem feiern, stimmt's?“ Nebenbei trinkt er die Flasche Sekt allein aus. Als seine Partnerin irgendwann sagt, dass sie es nicht schön findet, dass er sich an ihrem Geburtstag und obwohl es ihr nicht gut geht, so verhält, dreht Herr F. endgültig durch: „Wie bist du denn drauf?!? Was nimmst du dir raus, so mit mir zu reden?! Wenn du so weitermachst, haue ich dir gleich eine rein!!“

In der Mittagspause möchte Herr S. in einem Restaurant in der Nähe seines Arbeitsplatzes etwas essen. Er wählt schnell ein Gericht aus und beginnt dann, mit ausladenden Armbewegungen die Bedienung heranzurufen. Als diese kommt, beschwert er sich, dass es so lange gedauert hat, und gibt in gereiztem Ton seine Bestellung auf. Die Nachfragen, was es denn sonst noch sein dürfte, blockt er sofort unwirsch ab und fordert die Bedienung auf, ihm sofort sein Essen zu bringen. Da dieses natürlich noch zubereitet und angerichtet werden muss, kommt es aber nicht sofort. Herr S. wird immer unruhiger und kann sich kaum noch beherrschen, in die Küche zu gehen und sich sein Essen selbst zu holen. Fünf Minuten vor Ende seiner Pause kommt die Bedienung mit dem duftenden, schön angerichteten Essen und stellt den Teller vor ihn hin. Herr S. guckt verächtlich und herrscht sie an: „Das brauche ich jetzt nicht mehr!“ Dann fegt er den Teller mit dem Essen vom Tisch, sodass alles in hohem Bogen auf dem Boden landet, und verlässt zornigen Schrittes das Lokal.

An einem lauschigen Abend sitzt Frau D. mit einigen Freunden zusammen auf dem Balkon. Eigentlich ist die Stimmung entspannt, sie hören Musik, reden und lachen. Es fließt auch einiges an Alkohol, besonders bei Frau D. Sie schenkt sich immer wieder nach, und zwar nicht „nur“ Bier, sondern auch Whisky. Mit zunehmendem Pegel kann sie dem Gespräch nicht mehr so recht folgen, fasst es jedoch so auf, als ob die anderen sie aus der Unterhaltung ausschließen. Mit vorwurfsvollen Bemerkungen macht sie auf sich aufmerksam und löst damit eine gewisse Sorge bei den Freunden aus. Eine Freundin meint, dass Frau D. wohl schon ein bisschen viel getrunken habe, und bittet sie, jetzt damit aufzuhören. Als Frau D. wütend sagt, dass die Freundin ihr „gar nichts zu sagen“ habe, beginnt eine Diskussion. Frau D. weiß sich nicht zu helfen und schreit nur noch: „Ihr seid doch sowieso alle gegen mich!“ Ein Freund versucht, die Flasche Whisky aus ihrer Nähe zu entfernen. Doch Frau D. greift schneller zu und wirft die Flasche wutentbrannt über das Balkongeländer, sodass sie auf dem Gehweg zerbricht.

Beim Staubsaugen stößt Frau Z. aus Versehen an das Wohnzimmerregal. Einige Sachen darin fallen um, ein Buch fällt sogar heraus. Frau Z. ruft: „Das kann doch jetzt wohl nicht wahr sein! Gegen mich hat sich aber auch alles verschworen!“ Sie gibt dem Regal einen heftigen Tritt mit dem Fuß. Daraufhin fallen noch mehr Sachen um. Das ist zu viel für Frau Z. Sie lässt den Staubsaugerknauf fallen und bearbeitet das Regal mit Händen und Füßen, bis alle Sachen umgefallen sind, durcheinander liegen und teilweise über den Boden verstreut sind. Der Anblick des Chaos macht sie noch wütender. Nun nimmt sie die noch im Regal verbleibenden Sachen und wirft sie quer durch den Raum. Es geht einiges zu Bruch. Plötzlich hört sie auf, kniet sich auf den Boden und fängt bitterlich zu weinen an.

Herr O. ist zu Fuß unterwegs, als eine Gruppe junger Erwachsener ihm begegnet. Diese gehen breit über den Weg verteilt, während sie auf ihn zukommen. Herr O. verspannt sich sichtbar. Wie respektlos die sind, denkt er. Und gucken sie nicht abschätzig zu ihm herüber? Bestimmt gehen die mit Absicht nicht aus dem Weg, um ihn zu ärgern. Da, jetzt kichern sie auch noch. So weit kommt es noch, sich von ein paar Halbwüchsigen mobben zu lassen. Nein, Herr O. wird ihnen nicht aus dem Weg gehen. Er steuert geradewegs auf sie zu, mit hartem, verächtlichem Blick. Kurz darauf stehen sie sich gegenüber. „Was ist das denn jetzt?“, sagt einer der jungen Männer halb überrascht, halb belustigt. „Was habt ihr für ein Problem mit mir?“, entgegnet Herr O. in abfälligem, barschem Ton. Auf ein kurzes Wortgefecht folgen Faustschläge.

Das sind nur einige Beispiele für das stark impulsive, unkontrollierte, extrem reizbare und unangemessen aggressive Verhalten dieses Borderline-Typs. Auch wenn das Aggressionspotenzial ständig in ihm gärt, hat er aber auch mehr oder weniger lange Zeiten, in denen er guter Stimmung ist – allerdings eben nur, bis etwas passiert, das ihm missfällt oder das er als Angriff auffasst. Dann schlägt seine Laune von einer Sekunde auf die andere um und das Gegenüber weiß nicht, wie ihm geschieht. Möglich ist aber auch, dass sich über Stunden eine zwar gereizte, aber noch nicht eskalierte Stimmung breitmacht und irgendwann dann der Punkt ist, wo der Borderliner sich nicht mehr beherrschen kann und seine geballte Wut herauslässt. Auch „im Guten“ ist dieser Typ jedoch oft ungebremst und impulsiv, verhält sich zum Beispiel überschwänglich, albert stark herum, ist hyperaktiv oder muss Bedürfnisse sofort befriedigt bekommen. Gehen seine Mitmenschen darauf nicht ein oder versuchen gar ihn zu bremsen oder zurechtzuweisen, schlägt seine Stimmung wiederum in Wut um.

Nach seinen Wutanfällen tut es einem Borderliner oft leid, was er gesagt oder getan hat (jedenfalls, wenn er Einsicht in sein Verhalten

Imprint

Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Publication Date: 08-22-2021
ISBN: 978-3-7487-9224-6

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