Schon bevor der Wecker klingelte, war ich auf den Beinen. Es war Samstag. Der erste Samstag im August. Wie jeden ersten Samstag des Monats durfte ich heute Brummi besuchen.
Ich hatte kaum gemerkt, wie ich mich angezogen habe.
Es ist schon über ein Jahr her, dass ich mit dem Bären Freundschaft geschlossen und ihn vor den Gewehren der Jäger gerettet habe. Danach wurde er in einen nahegelegenen Zoo gebracht. Nach langem Ringen mit Zoowärter, Tierpfleger und dem WWF hatten meine Eltern es durchgesetzt, dass ich meinen Bären einmal pro Monat in seinem Schlafgehege besuchen durfte. Allerdings war immer ein Gitter zwischen uns.
"Guten Morgen, Sven!" Mama strich mir freudenstrahlend über das Haar. "Papa ist zu einer Sitzung, wir müssen heute also allein in den Zoo fahren. Ach ja, Katja kommt mit!"
Ich lächelte. Katja war meine beste Freundin. Sie wollte schon vorher mit mir, um Brummi zu sehen, aber ihre Eltern gehörten zu jenen fanatischen Raubtierhassern, die meinen pelzigen Freund beinahe zu einem Bettvorleger gemacht hatten. Als Meine Eltern das erste Mal zu ihnen kamen und vorsichtig den Vorschlag machten, dass Katja unter Aufsicht erfahrener Tierpfleger einen Bären sehen konnte, natürlich hinter Gittern und mit dem nötigen "Sicherheitsabstand", haben sie reagiert, als wollten wir beide in einem selbstgebauten Plastik-Uboot in den Atlantik abtauchen. "Das kommt überhaupt nicht in Frage! Was ist wenn dieses Biest sie angreift, oder sogar verletzt! Uns ist es egal, wenn sie ihren Sohn in Lebensgefahr schicken, aber mit unseren eigenen Kindern werden wir so etwas niemals tun! Sie können froh sein, wenn wir nicht die Polizei rufen..."
Nun waren diese übers Wochenende zu der Sorte von Verwandten gefahren, die Katja, wenn sie mitbestimmen könnte, nur gegen hohe Bezahlung aufsuchen würde, und irgendwie haben wir es mit vereinten Kräften geschafft, zu vereinbaren, dass sie so lange bei mir übernachten konnte. Wie wir das geschafft haben, weiß ich heute noch nicht so genau. "Meine Eltern würden mich lieber in die Obhut von Osama bin Laden geben, als mich auch nur einen Tag allein in deiner Familie zu lassen!", hatte sie am Anfang zu diesem Vorschlag gesagt.
Ich hatte mir gerade ein Marmeladenbrötchen geschmiert, als Katja gähnend mit zerzaustem Haar noch in ihrem geblümten Schlafanzug aus dem Gästezimmer in die Küche kam. "Morgen!", murmelte sie verschlafen.
"Du siehst aus, als wäre es bei dir gerade erst Mitternacht!", bemerkte ich.
"Ich konnte gestern partout nicht zur Ruhe kommen. Wann fahren wir eigentlich los?" Sie sah schon ein wenig wacher aus.
"Wenn wir beide bereit sind. Das heißt: Frühstücken, Umziehen und los!"
Anderthalb Stunden später, Katja war nicht nur ein Morgenmuffel, sondern futterte morgens immer doppelt so viel wie wir, dafür aber über den Rest des Tages fast gar nichts, standen wie schon bereit zur Abfahrt. Es hätte perfekt sein können, wenn in dem Augenblick nicht Torben mit seiner Gang vorbeigeradelt wäre.
"Hey, Svennilein. Gehst du jetzt deinen Monsterteddy besuchen? Sonst hast du ja keine Freunde!" Ich atmete scharf ein, als ich das Gelächter von Lars, Christian und Nick hörte. Katjas Hand lag plötzlich auf meinem Arm. "Lass sie reden! Die sind es nicht wert!" Ich entspannte mich erst, als sie anfing, leise die Melodie des Songs "Lasse redn" von den Ärzten vor sich hin zu summen. Mein absolutes Lieblingslied, wenn es um die vier und ihren weiteren Freundeskreis ging. Endlich kam Mama mit einem Picknickkorb aus dem Haus. "Alles einsteigen, es geht los!"
Brummi hat mich schon gewittern, bevor ich das Gehege betreten habe. Jedenfalls stand er schon am Gitter und streckte seine feuchte Nase durch die Stäbe.
"Hallo, Brummi!" Ich streichelte den Bären das Fell und hielt ihm eine Hand voll Brombeeren durch das Gitter. Katja zögerte noch einen Augenblick, dann machte sie einige zögerliche Schritte auf den Bären zu. Brummi wandte seine dunklen Knopftaugen in ihre Richtung und schnaubte leise.
"Du kannst ihn ruhig streicheln!", ermutigte ich sie. "Hier." Ich hielt ihr einige Beeren hin. Zögernd streckte Katja diese auf der flachen Hand durchs Gitter. Brummi schnupperte kurz an der Hand, bevor er die Beeren mit seiner rauen Zunge aufleckte. Katja musste lachen. "Er sabbert!"
Die Tür ging auf. Anja, Brummis Tierpflegerin kam herein. "Oh, hallo Sven. Ich habe ganz vergessen, dass du heute kommst. Und wer bist du?"
"Katja. Ich bin eine Freundin von Sven."
"Und von Brummi, wie es aussieht." Lächelnd kniete sie sich neben uns ans Gitter. "Er ist wirklich ein riesiger Kuschelbär. Meine Kollegen wollten ihn schon 'Teddy' taufen, als Svens Familie hereingeschneit ist."
Teddy? Das war doch kein Name für einen Braunbären!
"In den nächsten Wochen kommt übrigens eine Bärendame aus einem Zoo in Moskau hierher. Wir hoffen, dass sie Brummis Partnerin wird. Ihr Name ist Takinka."
"Ein schöner Name!", meinte Katja. "Das wird für ihn hoffentlich auch ein Trost sein, dass er im Gehege nicht so viel Platz hat wie im Wald."
"Hast du das gehört Brummi?" Ich rubbelte dem Bären das Fell am Hals, das hatte er besonders gern. "Gib dir Mühe, dann wirst du vielleicht bald Vater."
Anja und Katja lachten.
"Ich glaube aber, es hat ihm in den Wäldern besser gefallen." Es rutschte mir einfach so heraus.
"Tieren gefällt es in der freien Natur immer besser als in den Wäldern. Das ist nun mal so. Aber wenn ihr Glück habt, bekommt ihr bald neue Jäger."
Überrascht sahen wir die Tierpflegerin an.
"Habt ihr es noch nicht gehört? In einem Waldstück hier in der Nähe soll ein Wolfspäärchen sein. Es sieht ganz danach aus, als würden sie weiter in eure Richtung ziehen."
"Wölfe?", wiederholte Katja ungläubig. "Hier, im Harz?"
"Mit etwas Glück bald ein ganzes Rudel. Das heißt, falls es sich nun um ein Männchen und ein Weibchen handelt."
Im ersten Moment machte mein Herz einen freudigen Hüpfer. Dann durchfuhr mich ein Stich der Sorge. Schon bei einem Bären wurde bei uns fast der Krisenstand ausgerufen. Was würde dann erst passieren, wenn sich ein Rudel Wöfe bei uns einistet?
"Und wenn sie wieder Jagd auf die Wölfe machen?"
"Der WWF hat schon eine Aufklärungstruppe aus Biologen zusammengestellt, die euch besuchen, sobald die Wölfe dort gesichtet werden. Außerdem soll demnächst ein Heft über das Leben von Wölfen in eurer Region herauskommen, in dem auch steht, wie man sich zu verhalten hat, wenn man einem der Tiere begegnet und wie man Viehherden vor ihnen schützen kann."
"Das ist toll!", sagte Katja, "aber ich fürchte, dass dieses Heft keinen hohen Umsatz machen wird. Unser Dorf ist schon bei dem Gerücht, dass ein Bär in der Nähe sein könnte in Panik geraten. Und Wölfe haben einen noch viel schlimmeren Ruf."
"Wie gesagt: Vielleicht kammen sie auch gar nicht in eure Nähe. Wissen kann man es nie."
Am Sonntag machten wir uns gleich auf den Weg zur Bibliothek, die jeden Tag in der Woche von fünfzehn bis neunzehn Uhr geöffnet hatte und von ehrenamtlichen Helfern der Gemeinde geleitet wurde. Sie war ein riesiger Saal mit vielen Regalen und unzähligen Büchern. Der Stolz unseres Dorfes.
"In diesem Regal sind Bücher über die Natur. Außerdem viele Tierbücher." Katja ging mindestens einmal in der Woche zur Bibliothek. Sie war, im Gegensatz zu mir, ein richtiger Bücherwurm. Ich zog ein Buch mit dem Titel "Wildtiere in Deutschland" aus dem Regal und schaute im Register unter W nach. Als ich nichts über Wölfe fand, stellte ich es wieder zurück.
"Hier steht etwas!", rief Katja plötzlich aus. "Der Wolf gilt seit über einhundert Jahren in Deutschland als ausgestorben. Seit einigen Jahren jedoch sind immer wieder Jungwölfe über die polnische Grenze zu uns hinübergewandert. Trotz wissenschaftlicher Forschung und weitreichenden Informationen sind die Grauen Jäger immer noch nicht sehr beliebt. Obwohl Wölfe unter Naturschutz stehen, werden immer wieder Tiere erlegt." Katja sah auf den Titel des Buches. "Bedrohte Tiere in Europa. Viel mehr steht dort aber nicht drinn."
"Hallo Sven, Hallo Katja." Die Stimme gahöre Frau Meyer, die sonntags immer den Dienst in der Bibliothek übernahm. Ich mochte sie sehr, da sie eine der wenigen war, die sich über einen Bären im Harz gefreut haben. "Kann ich euch helfen?"
"Wir suchen Bücher über Wölfe", erklärte Katja.
"Einen Moment, die haben wir gleich. Diese Bücher werden nicht oft ausgeliehen. Braucht ihr das für die Schule?" Ich war mir sicher, dass ich Frau Meyer vertrauen konnte.
"Wir..." Ich hielt inne und senkte die Stimme, da hinter den hohen Regalen der ein oder andere tierunfreundliche Lauscher stecken könnte. "Wir haben Gerüchte gehört, dass ein Wolfspäärchen in unseren Wald zieht. Vielleicht ziehen sie auch weiter, aber wir wollen vorbereitet sein, falls sie bleiben."
Frau Meyer hielt inne. "Wölfe? Von wo?"
"Sie wurden etwas weiter nördlich gesichtet!", erzählte Katja. "Aber es ist noch nicht klar, ob es sich um ein Männchen und ein Weibchen handelt."
"Also ich persönlich hoffe, dass sie sich hier niederlassen! Ah, hier sind sie ja!"
Sie zog drei Bücher aus dem Regal. "Das Sozialleben eines Wolfsrudels. Die Wahrheit über den 'bösen Wolf'. Isegrimm und sein Wald. Und..." Sie streckte den Arm weit hoch und zog ein etwas dickeres Buch hervor. "Ein Jahr unter Wölfen. Die Erlebnisgeschichte norwegischer Forscher, die ein Wolfsrudel ein Jahr begleitet haben. Das könnte auch sehr interessant sein."
"Wie lange können wir die Bücher ausleien?" Gerade die Erlebnisgeschichte interessierte mich und Katja brennend, und ich würde etwas länger brauchen, um das Buch zu lesen.
"Normalerweise für drei Wochen. Aber ich kann sie euch bei der Anzahl vier Wochen ausleihen. Außerdem könnt ihr sie jederzeit verlängern. Ach ja, informiert mich, wenn ihr neues über das Rudel wisst."
"Sven, hier sind Skizzen über die Körpersprache von Wölfen!"
Katja zeigte mir die Seite in "Das Sozialleben eines Wolfsrudels", während ich mir in meinem extra gekauften Heft Notizen über die Jagdmethoden von Wölfen aus "Isegrimm und sein Wald" machte. "Steckst du mir ein Lesezeichen hinein, dann kann ich das später abzeichnen." Ich legte mir ein eigenes Heft zum Thema Wolf an, in dem ich Texte zusammenfasste und mir wichtige Notizen machte. Dasselbe hatte ich auch vor eineinhalb Jahren getan, als ich anfing, mich brennend für Bären zu interessieren.
Katja legte das Buch zur Seite und ergriff "Die Wahrheit über den 'bösen Wolf'".
"'Viele Tiere, die wir Menschen lieben und verehren sind ungleich gefährtlicher als ein ganzes Wolfsrudel. Normale Honigbienen haben schon mehr Menschenopfer gefordert als die Wölfe aller Zeiten, dennoch würden es die meisten Menschen vorziehen, neben einem Imker zu wohnen, als Wölfe im zwei Kilometer entfernten Wald zu wissen.' Also wenn dass mal kein schlagkräftiges Argutent ist. 'In Indien leben Menschen mit Tigern zusammen, also sollte uns in Europa das Zusammenleben mit Wölfen eigendlich leicht fallen. Tiere, die viele Menschen als Lieblingstiere wählen, wie Pferde oder Bären sind viel aggressiver als Wölfe'"
Ich räusperte mich leicht.
"Na ja, das mit den Bären sollten sie sich schon noch überlegen, aber mit allem anderen hat das Buch ja Recht. Kann ich 'Ein Jahr unter Wölfen' mitnehmen? Ich habe es schon angefangen."
"Gut. Ich möchte sowieso erst meine Notizen zuende machen." Ich klappte das Heft zu und steckte mir den Stift in die Tasche. Für mein Bären-Heft hatte ich mir extra ein Schreibheft mit einem Jungbären getauft, da aber keine Wolfsmotive im Schreibwarenladen waren habe ich eines mit einem Wald gewählt. Später werde ich einen ausgeschnittenen Wolf draufkleben.
Ich klemmte mir die Bücher und das Heft unter den Arm und stand auf. "Wir sollten langsam nach Hause gehen."
"Sven!" Katja blieb stehen. Ihre Augen fingen an, zu glänzen. "Hörst du das?"
Es war vom Wind verzerrt, kaum mehr als ein Lufthauch, so leise, dass es genau auf der menschlichen Hörgrenze zu sein schien. In Videos und Dokumentarfilmen hörte sich Wolfsgeheul immer etwas metallisch an. Und in alten, schlechten Filmen war es etwa der Ton, den man bekam, wenn man über den Hals einer leeren Glasflasche blies. Kurz: nicht mit dem Original zu vergleichen. Ich schloss die Augen, konnte schwach heraushören, dass es sich um zwei Wölfe handelte. Das Geheul schickte ein leichtes Vibriren durch meinen Körper, es hatte nichts gruseliges, aber eine Aura des Geheimnisvollen. Es war melodiös. Schöner als so manche Musik, fast magisch. Und es war schlicht und einfach wunderschön.
"Sie rufen," murmelte Katja. "Sie erkundigen sich, ob hier schon ein Rudel lebt, oder andere Jungwölfe, mit denen sie eins gründen können."
"Hier ist kein Rudel. Das heißt, sie können bleiben." Mein Herz machte bei dieser Erkentnis einen freudigen Hüpfer und doch bekam ich Angst. Angst, dass sie hier nicht willkommen waren. Dass die Menschen sie jagen würden, wie sie es mit Brummi gemacht haben, vielleicht sogar töten. Nur weil sie sie nicht kannten. Weil sie sie nicht kennen lernen wollten.
"Denke daran, dass morgen Schule ist, Svenni!", erinnerte mich Papa, während ich die Skizzen der Wolfskörpersprache in mein Heft übertrug.
"Ich verschlafe schon nicht, Paps." Ich legte des Stift beiseite und betrachtete mein Werk. Kunst war nicht gerade mein bestes Fach, aber die Wölfe und ihre Mimik konnte man gut erkennen. Ich schrieb noch schnell die Begriffe darüber, dann klappte ich das Buch zu. "Gute Nacht, Papa", sagte ich noch kurz, dann machte ich mich auf den Weg nach oben in mein Zimmer. Das Heft und die Bücher legte ich auf den Schreibtisch und hoffte, dass ich morgen nicht allzu viele Hausaufgaben aufbekommen werde, damit ich schnell weiterarbeiten kann. Schlafen konnte ich allerdings nicht. Schließlich schaltete ich meine Lampe ein und zog "Das Sozialleben eines Wolfsrudels" hervor. Ich vertiefte mich in einen Bericht über Welpen und stellte mir vor, wie diese putzigen Tierkinder bald durch unsere Wälder tollen würden. Aus dem Text musste ich mir noch Notizen machen. Ich legte ein Lesezeichen herein und plazierte das Buch unter meinem Kopfkissen. Vielleicht träumte ich dann von Wölfen.
Mein Schulweg führte durch den Wald. Leider nur über wenige Meter. Ich bin extra früh aufgestanden, um in diesem Gebiet ein wenig bummeln zu können. Auf dem Waldboden sah ich Vogelspuren, die Spuren eines Eichhörnchens und...
Schlagartig blieb ich stehen. Langsam kniete ich mich hin. Der Pfotenabdruck war so groß wie die Hand eines Schulkindes. Ich sah mich um und entdeckte noch mehr. Vorsichtig, um kein Geräusch zu machen folgte ich der Spur bis zum Bach, wo sie endete.
"Vielleicht ist es auch nur ein großer Hund", murmelte ich vor mich hin. Dann machte ich mich auf den Weg zur Schule.
Der Schultag dauerte quälend lange, aber schließlich hasteten ich und Katja in den Wald.
"Eye, eye, eye, was seh' ich da? Ein verliebtes Ehepaar!", grölte Lars uns hinterher, während Christian und Torben laut lachten. Ich ignorierte sie.
"Sie waren hier!", keuchte ich außer Atem, als wir die Stelle erreichten. Vorsichtig schob Katja das Laub beiseite. "Hier ist die Spur!"
"Bis zu dem Fluss habe ich sie auch verfolgt, aber dort habe ich sie verloren." Wir liefen zum Bach.
"Vielleicht ist er durch den Bach gelaufen, um keine Spuren zu hinterlassen."
"Ich frage mich nur, in welche Richtung."
"Da hinten!" Katja deutete ein Stück flussabwärts. Es dauerte ein wenig, bis ich die abgebrochenen Zweige erkannte. Wir sprangen über den Bach und erreichten die Stelle.
"Hier ist noch ein Pfotenabdruck!", hauchte Katja. Es dauerte ein wenig, bis ich ihn sah.
"Und dort ist ein zerbrochener Ast. Gut möglich, dass der Wolf daraufgetreten ist."
Ich musste grinsen. "Hast du eigendlich schon überlegt, ob du bei den Pfadfindern anfangen solltest?"
"Wenn es einen Pfadfinderverein in der Nähe gäbe, wäre ich drin." Wir folgten der Spur. Langsam kam ich mir wie ein Forscher vor, ein tolles Gefühl!
"Vorsicht!" Katja hielt mich auf und zeigte auf einen Haufen Kot, in den ich fast hineingerannt wäre. "Er hat sein Revier markiert! Ein gutes Zeichen!"
Wir erklommen eine Anhöhe. Von dort aus hatten wir einen guten Überblick über die näheren Wald bekamen.
"Dort ist noch ein umgeknickter Ast. Es klebt noch Harz daran!" Katja wollte schon losrennen. "Warte!" Ich steckte mir kurz den Zeigefinger in den Mund und hielt ihn in die Luft. "Gut, wir haben Gegenwind. So kann der Wolf uns schwerer wittern. Sie sind nämlich scheuer als Bären." Katja nickte, wir setzten unsere Reise fort.
Vom Gebüsch an fingen wir an, zu kriechen, unsere Schultaschen ließen wir in einem hohlen Baumstamm versteckt zurück. Meine Jacke verfing sich in einer Ranke.
"Mist!" Ich befreite mich mit einem Ruck.
"Sven, pass auf!"
Ich stolperte rückwärts aus dem Gebüsch und schlitterte über eine Schlammfütze. Nach einem missglückten Aufstehversuch stellte ich fest, dass ich mich in einer Brombeerranke verfangen hatte. Ich kannte diesen Wald doch schon seit ich ein Baby war!
"Sven!", hauchte Katja.
"Keine Sorge, mir geht es gut!" Ich zerrte an der Ranke, mein T-Shirt zog einen Riss davon.
"Sven! Er steht neben dir!"
Langsam wandte ich den Kopf. Plötzlich spielte die Ranke keine Rolle mehr, ich kam von selbst auf die Beine. Fünf Meter von mir entfernt stand ein großer, braungrauer Wolf und sah mich aus bernsteinfarbenen Augen an. Sie wirkten fast ein wenig menschlich.
Ich merkte wie sich die Beine des Wolfes versteiften, seine Rute stand ab, das Fell war gesträubt. Langsam richtete er seine spitzen Ohren in meine Richtung, seine Nase krauste sich, seine Lefzen zogen sich nach oben und emblößte eine Reihe voller weißer, spitzer Zähne. Genau das hatte ich gestern noch abgezeichtet. Eine typische Drohgebärde.
Ich konnte mich nicht rühren. Der Wolf war größer und kräftiger, als ich erwartet habe. Sein Nackenfell sträubte sich, das Knurren wurde lauter.
"Duck dich!", zischte Katja. "Mach dich klein, Kopf nach unten, winseln!"
Meine Knie wurden weich. Endlichschaltete mein Hirn. Ich kauerte mich zusammen legte den Kopf nach unten, sah schräg nach oben und machte ein Geräusch, von dem ich hoffte, dass es dem Winseln eines Wolfes ähnlich klang. Es war die Unterwerfungs- und Bemutsgeste, mit dem besiegte und unterlegene Wölfe den Stärkeren akzeptierten. Oder ihren Leitwolf. Meine Nackenhäärchen sträubten sich, er hielt mich für einen anderen Wolf!
Es kostete mir Mühe, den Blick von seinen leuchtenden, gelbbraunen Augen zu wenden, direkter Blickkontakt war unter Wölfen und Hunden eine Drohung. Der große Wolf entspannte sich, ging langsam auf mich zu. Ich spürte, wie er an mir schnupperte, dann wandte er sich in Katjas Richtung. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie sie die gleiche Haltung, wie ich eingenommen hatte.
Etwas raschelte im Gebüsch. Vorsichtig hob ich den Kopf. Der andere Wolf, die Wölfin, war aus dem Wald hervorgetreten. Woher ich wusste, dass es sich um eine Wölfin handelte? Ihr folgten drei flauschige, wackelige, fiepsende Welpen, um neugierig die Neuankömmlinge zu inspizieren.
Immer noch mit klopfenden Herzen saßen wir ein Stück entfernt und beobachteten die unter den wachsamen Augen ihrer Elten herumtollenden Welpen.
"Der Kleinste hat mich gekratzt!", hörte ich mich sagen. Es war nur ein feiner Schnitt, der kaum blutete.
"Sie sind einfach putzig!", meinte Katja.
"Hast du gesehen, wie sie uns empfangen haben? Als seien wir Wölfe!"
"Das sollten wir als Kompliment sehen. Wölfe sind intelligenter als so manche Menschen!"
"Hey!" Ich stieß sie mit dem Ellbogen an. "Was meinst du damit?"
"Pff. Also als allererstes Torben und co. Dann meine Eltern, die würden durchdrehen, wenn sie davon erfahren, und die Lehrer, die uns Unmengen an Hausaufgaben aufgeben, obwohl es im Wald besseres zu tun gibt."
Ich musste lachen. "Apropros Hausaufgaben! Ich fürchte, wir müssen nach Hause, um die in den Griff zu bekommen."
"Gute Idee! Also dann, bis morgen!"
"Bis morgen!"
Eine Woche später stand es groß in der Zeitung. Wolfsrudel lebt im HarzTierschützer setzen große Hoffnungen in den Nachwuchs
Es war ein Bild von den Jungwölfen zu sehen, denen Katja und ich begegnet sind. Nun war es also offiziel. Nun konnten die Wolfshasser mit der Jagd beginnen.
"Es besteht keinerlei Gefahr, dass einer der Wölfe für die Menschen gefährlich werden könnte!", erklärte Biologe Mansing vor einer skeptisch aussehenden Menge. "Wir passen nicht in sein Beuteschema. Außerdem sind Wölfe extrem scheu und meiden menschlichen Kontakt, wo es nur möglich ist."
"Sieht nicht so aus, als ob das große Überzeugung findet", flüsterte Katja mir zu. Wir hatten in der letzten Woche versucht, die Wölfe wiederzufinden, konnten sie aber nicht entdecken.
"Und was ist, wenn das Rudel unseren Herden zu nahe kommt?", fragte einer der Hirten in den hintersten Reihen. Ich verdrehte die Augen. Diese Frage könnte man auch beantworten, wenn man nichts von Wölfen versteht.
"Viehherden sind leicht zu schützen. Es reichen ein paar Hütehunde, oder ein Stacheldrahtzaun. Dann wagen sich die Wölfe nicht an die Tiere heran. Außerdem zahlt der WWF Sntschädigungen für von Wölfen erlegte Tiere." Ich fing langsam an zu glauben, dass der Bauer diese und ähnliche Fragen nur gestellt hat, um die Wölfe in ein schlechtes Licht zu tragen. Ich hatte gelesen, dass Bauern in anderen Ländern mit ihren Stock auf Wölfe losgingen, wenn diese ihren Tieren zu nahe kamen.
"Die Wahrscheinlichkeit, im Wald einen Wolf zu begegnen, ist relativ gering. Wölfe wittern uns schon aus weiter Entfernung und meiden die Begegnung. Sollte man doch einem Tier über den Weg laufen, wäre das Besste, sich ruhig zu verhalten, keine hektischen Bewegungen zu machen und beruhigend auf das Tier einzureden. Dabei sollten Sie darauf achten, dem Wolf nicht in die Augen zu sehen und sich zusätzlich hinzuknien, dann wirken sie nicht allzu bedrohlich auf das Tier. Das können Sie aber noch in unseren Flyer nachlesen, die es am Ausgang gibt." Ich fing an, den munteren Wolfsforscher zu bewundern, da er versuchte, das Unmögliche möglich zu machen und die Bewohner an Raubtiere zu gewöhnen. "Gibt es sonst noch Fragen?" Niemand meldete sich. Dann kam mir etwas in den Sinn, was ich unbedingt wissen musste.
"Ja, der junge Mann dort hinten."
"Ähm...bleiben die Wölfe nun für immer hier, oder könnten sie irgendwann weiterziehen?"
"Auf die Frage gibt es leider keine eindeutige Antwort. Die Jungen sprechen dafür, dass sich die beiden hier eingelebt haben, sie könnten aber jederzeit weiterziehen. Sollte es beispielsweise zu einem harten Winter kommen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie weiterziehen und sich ein anderes Zuhause suchen könnten. Sonst noch Fragen?"
Keine weiteren Meldungen. "In Ordnung, ich hoffe, ich konnte ihnen weiterhelfen. Wenn es noch irgendwelche Fragen gibt, die Internetadresse der Deutschen Naturschutzbehörde steht auf den Flyern, dort können Sie sich jederzeit informieren."
Die Menge verließ das Rathaus. Ich schnappte einige Satzfetzen auf. "Das war's dann wohl mit der Ruhe..." "...Das eine Biest ist weg und schon kommen die nächsten hinterher..." "Die Viecher würden sich einzig als Bettvorleger eignen. Und nun sind die immer da!"
"Wie es aussieht, hast du mit deiner Frage eine ziemliche Unruhe gestiftet", flüsterte Mama mir zu. Mir wurde leicht mulmig.
"Sollten wir ihm erzählen, dass wir die Wölfe gesehen heben?", flüsterte ich ihr zu.
"Er weiß vielleicht, wie wir sie wiederfinden können. Ich würde gerne ein paar Fotos machen."
"Gut. Mama, Papa. Wir gehen noch mal hin, um uns zu erkundigen."
"In Ordnung", sagte Mama. "Wir warten vor der Tür."
Als wir näherkamen hörten wir den Mann, der uns einige Bilder von Wölfen auf dem Overheadprojektor gezeigt hatte, sagen: "Hundertprozentig willkommen sind Wölfe ja nirgends, aber ich habe noch nie erlebt, wie eine Gemeinde so abwesend sein kann."
"Es sieht so aus, als ob wir etwas länger hierbleiben müssen, als geplant. Von den Flyern ist auch kaum einer weggekommen." Er bemerkte uns. "Hallo, habt ihr noch irgendwelche Fragen?"
"Naja, also, wir sind eigendlich, wegen etwas anderem gekommen." Katja schaute sich um, um sich zu vergewissern, dass niemand lauschte. "Wir wissen nämlich in etwa, wo..."
"Moment Mal!", unterbrach uns der Mann mit den Bildern. "Dich kenne ich doch. Bist du nicht der Junge mit dem Bären?" Tja, immerhin noch besser, als 'der Bengel mit seinem Monstrum'. "Ja."
"Volker Hartlieb, mein Name. Toll, dich kennen zu lernen. Wie heißt du noch gleich?"
"Sven!"
"Gut, Sven. Kannst du mir bei Gelegenheit etwas über den Bären erzählen? Ich finde diese Tiere einfach fazinierend!"
"Volker!", unterbrach Mansing ungeduldig. Dann wandte er sich an Katja. "Was wolltest du noch gleich sagen?"
"Wir haben die Wölfe gesehen."
Volker, der gerade dabei war, das Kabel aufzuwickeln, ließ dies schlagartig fallen. "Wo?"
"Im Wald, nahe am Rand ist ein kleiner Bach. Dort in der Nähe steht ein Hügel mit einer Lichtung. Hinter diesem Hügel im Gebüsch waren sie", erklärte Katja hastig.
"Waren die Welpen dabei?"
Ich nickte. "Sie waren kaum größer als Kaninchen und noch ziemlich wackelig auf den Beinen."
"Wann habt ihr sie gesehen?", verlangte Mansing zu wissen.
"Letzte Woche."
"Welpen kommen nähmlich nach etwa vier Wochen aus der Höhle. Das heißt, dass das Rudel schon über fünf Wochen in eurem Wald lebt, ohne dass es bemerkt wurde."
"Aber vor knapp anderthalb Wochen haben wir erst gehört, dass sie in unsere Richtung ziehen", gab Katja zu bedenken. Die beiden Biologen sahen sich an.
Ich versuchte meinen Kopf zu ordnen. "Bedeutet das, dass noch zwei weitere Wölfe kommen, die ncoh nicht zu dem Rudel gehören? Können die sich dann in das Rudel eingliedern?"
"Möglich ist es schon", sagte Mansing. "Aber eine Gewissheit haben wir da nicht. Wir werden versuchen, die beiden aufzuspüren. Danke, dass ihr das gesagt habt!"
Ich befand mich wieder an der Stelle, an der wir den Wölfen begegnet waren. Dieses Rudel lebte also schon seit Monaten hier und niemand hatte es bemerkt! Wenn das mal kein Beweis für die Scheuheit dieser Tiere war.
Ich saß auf den Stein, von dem der Leitwolf mich beobachtet hatte und sah der Sonne nach, deren goldene Strahlen wie Speere durch das Dickicht stießen. Ich griff in seine Tasche und holte mein Wolf-Heft hervor, das ich inzwischen fertiggestellt hatte und so gut wie auswendig konnte. Ich hatte das Zeitungsbild der Welpen hinaufgeklebt. Ich überflog noch einmal die Absätze zur Rangordnung eines Wolfsrudels. Die beiden Wölfe, die wahrscheinlich hinzuwanderten, könnten sich als Jährlinge unterhalb des Alpha-Paares einordnen. Sollte allerdings ein geschlechtsreifes Weibchen dabei sein, würde dieses von der Alpha-Wölfin vertrieben werden. Mir war klar, dass ein einzelner Wolf keine Überlebenschancen hatte. Sollte die Wölfin allerdings weiterziehen und auf einen anderen Wolf treffen, würden diese gleich noch ein Rudel gründen. Zwei Wolfsrudel in einem Wald stiegen allerdings weit über der Toleranzgrenze des Dorfes.
Ich rappelte mich auf und ging weiter durch den Wald. Spuren sah ich nicht. Vielleicht ist das Rudel auch weitergezogen, als es die beiden neuen Wölfe wahrgenommen hatte. Ich war mir jedenfalls sicher, dass die Sicherheit der Welpen an erster Stelle stand.
Ein Eichhörnchen huschte durch die Bäume, mehrere Völgel flogen auf. Ich sah auf. Das konnte ein Zeichen für Jäger in der Nähe sein. Ich sah mich um. Etwas raschelte hinter mir. Ich ging in die Hocke, bewegte mich langsam in die Richtung des Geräusches. Etwas bewegte sich. Langsam wurde mir mulmig. Ich setzte mich langsam auf den weichen Waldboden, als drei graue Blitze aus dem Gebüsch schossen. Etwas warf mich um, ich spürte eine, kleine raue Zung und musste lachen. Die Welpen waren gewachsen. Einer von ihnen sprang mir ans Ohr.
"Hey, lass das!"
Der Welpe schnappte noch einmal nach meinem Ohr. Ich stieß ihn weg, aber er griff erneut an. Einen Moment war ich unschlüssig, dann fiel mir die Erziehungsmethoden gegenüber jungen Wölfen ein. Ich packte ihn an der Schnauze, drückte ihn runter. "Nein, lass das!", zischte ich und bemühte mir, einen drohen den Unterton aufzusetzten. Der Jungwolf legte die Ohren an und winselte, also ließ ich ihn los.
Etwas raschelte. Die Wölfin trat hervor und legte sich etwas von mir entfernt ins Moss um ihren Welpen zuzusehen. Ich gehörte anscheinend zum Rudel.
Der Welpe, der mich fast gebissen hätte, sprang seiner Mutter an die Schnauze. Vielleicht währe Unfug ein guter Name für ihn. Dann machten es seine Geschwister ihm nach. Sie verlangten Futter. Die Wölfin beugte den Kopf nach unten und spie den dampfenden Brei aus, auf den sich die Welpen mit fröhlichem Piepsen stürzten, Unfug als erstes. Seine beiden Schwestern- wie könnte ich die wohl nennen?- taten es ihm nach.
Die größere von beiden hatte einen hellgrauen Fleck auf der Stirn, der sich von dem strupppigen Fell abhob. Pünktchen, dachte ich. Dann wandte ich mich zu dem kleinsten Welpen. Wie könnte sie heißen?
Als ob sie wüsste, dass meine Gedanken bei ihr waren, hielt sie inne und stubste mich an. Anscheinend wollte sie mich zum Mitessen auffordern.
"Oh, nein, ich habe schon gegessen." Die junge Wölfin drückte ihre Schnauze in meine Seite, woraufhin ich ihr die Ohren kraulte. Sie mochte es genauso sehr wie Brummi.
"Schwesterchen! Das ist gut! Oder...nein. Etwas spezieller. Wie wäre es mit... Waldschwester?" Ein Pfiepen war die Antwort. Nacheinander sah ich die Welpen an. Pünktchen, Unfug, Waldschwester. Und die Großen?
Ich spürte etwas in meinem Rücken und wandte mich um. Der Leitwolf kam zu seiner Familie auf die Lichtung. Mit liebevollem Blick sah er den Jungen zu. Ich überlegte.
"Napoleon!", rief ich aus. Als ob er wüsste, dass er gemeint war, setzte sich der große Wolf zu mir. "Klar, ein Rudelanführer muss nach einem Herrscher benannt werden." Ich streichelte Napoleon über die Flanke, er legte sich wie ein Hund neben mir hin. Leider hatte ich keine Ahnung, wie Napoleons Frau geheißen hatte. Ich bemerkte den sanften Blick, mit dem die Wölfin ihre Jungen beobachtete. Mutter Liebevoll? Ja, das ist ein guter Name für eine Wölfin. Nun hatte ich ihnen Namen gegeben. Nun war ich für sie verantwortlich.
Es klingelte. Endlich. Normalerweise mochte ich die Schule, aber heute konnte ich mich einfach nicht konzentrieren. Ich musste mit Katja reden.
Torben rempelte mich im Vorbeigehen an, ich merkte es kaum. Endlich erreiche ich sie.
"Du hast ihnen...Namen gegeben."
"Napoleon und Mutter Liebevoll. Die Welpen Pünktchen, Waldschwester und Unfug."
"Sven! Weißt du was das bedeutet?"
"Dass sie jetzt Namen haben?"
Katja seufzte. "Viele alte Indianerstämme glaubten, dass man, sobald man einem Geschöpf einen Namen gibt, dafür verantwortlich ist. Bis in den Tod."
"Und wenn das wahr ist, müssen wir ihnen helfen, Fuß zu fassen."
"Sven, die Jagd hat begonnen."
"WAS?!"
"Nicht auf das Rudel, sondern auf die beiden neuen Wölfe." Katja hielt mir eine Zeitung unter die Nase. Ich überflog den Artikel. Die wandernen Wölfe hatten sich als ein Paar entpuppt. Das Weibchen war trächtig.
"Zwei Rudel im Wald ist zu viel. Da konnten auch Mansing und Volker nichts ändern. Sie versuchen, die beidden mit Fallen zu fangen und in einen anderen Wald zu bringen, aber irgendjemand hat schon vergiftete Fleischköder ausgelegt. Ich habe einen gefunden und in die nächste Mülltonne geworfen."
Meine Gedanken rasten. "Wann geht die Jagd los?"
"Heute nachmittag, gleich nach Schulschluss. Sie haben gesagt, wir sollen zu Hause bleiben."
Einen Moment lang herschte Funkstille. "Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie sie die beiden Jungwölfe erschießen."
"Ich habe noch eine gute Nachricht." Katja holte tief Luft. "Ich weiß, wo sie die Waffen gelagert haben. In einem Schuppen. Und ich weiß, wie wir da hineinkommen."
Für Schulschwänzer hatte ich bisher nur Verachtung übrig. Einmal sogar ein wenig Schadenfreude, als Lars einmal blau gemacht hatte und vom Hausmeister auf der Schulmauer erwischt und in den Unterricht zurückgeschleift wurde. Jedenfalls hätte ich mir nie denken können, selbst mal die Schule zu schwänzen. Und dann auch noch mit der vernünftigen, klugen Katja. Aber es gab wirklich Dinge, die wichtiger waren, als sich einen langweiligen Vorstrag über Dezimalzahlen anzuhören.
Wir bogen gerade um die Ecke, als wir die Pausenklingel läuten hörten. Nun war es zu spät, um einen Abgang zu machen. Ich versuchte lieber nicht daran zu denken, wie die Lehrer und meine Eltern reagieren würden.
"Keine Sorge, wir stehen auf der grünen Liste der Lehrer. Das Schlimmste, was uns passieren kann ist eine Stunde nachzusitzen. Und wir kommen nie direkt nach der Schule nach Hause. Unsere Eltern werden keinen Verdacht schöpfen." Wie konnte sie nur so zuversichtlich klingen?
"Hier ist er!"
Der alte Tischlerschuppen! Eine Ruine, die aus unerklärlichen Gründen nie abgerissen wurde. Ich hätte es mir denken können!
"Die Fenster sind vernagelt und vor der Tür lungert eine Bande betrunkener Obdachloser."
"Super!", zischte ich. "Wollen wir jetzt von unseren neuesten Teleportationstechniken gebrauch mach, um dort hinein zu kommen?"
"Du hast auch keine Fantasie, oder?"
"Dafür habe ich dich doch dabei."
Katjas Blick wanderte zu den niedrigen Reihenhäusern. Von einer alten, halb zerfallenen Mauer konnte man auf die halb losen Ziegeldächer klettern. Am anderen Ende der Häuser stand eine große Buche, über deren Äste man mehr oder weniger problemlos auf das Dach des Schuppens gelangen konnte.
"Das kann nicht dein Ernst sein!"
"Willst du die Wölfe retten, oder nicht?"
Ich schluckte. "Du weißt, dass Sport nicht gerade mein stärkstes Fach ist."
"Ich weiß, dass du eine Drei Minus in Sport hast. Und dass du dir vor drei Monaten den Fuß umgeknickt hast, was man allerdings kaum als Argument nehmen kann."
Denk an die Wölfe!
"Du gehst vor!"
Katja murmelte irgendwas von wegen Männer und Tapferkeit und stieg auf die mit Moos überwachsene Mauer. Mit einem geschikten Sprung landete sie beinahe lautlos auf dem Dach. "Komm!"
Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als ich auf die Mauer stieg. Ich wünschte mich in die glücklichen Stunden mit Brummi im Wald zurück. Ein Jahr zurück.
Ein kleiner Stein fiel ab. Ich atmete tief durch.
Katja streckte mir ihre Hand entgegen.
Ich holte tief Luft, dachte an einen Adler und sprang.
Mit der einen Hand bekam ich Katjas Arm zu fassen, mit der anderen die Dachrinne. Meine Füße schlugen gegen das Fenster unterm Dach. Sehr laut.
Mit einem Ruck zog Katja mich hoch, ich lag auf den kalten Zigeln und keuchte. Unter mir wurde das Fenster geöffnet.
"Hier war irgenwas!"
"Es ist bestimmt nur ein Vogel gegen die Scheibe geflogen!"
"Keine Federn", widersprach die erste Stimme. Ich befürchtete, dass alleine mein Herzklopfen micht verraten könnte.
"Komm schon. Das war bestimmt nichts."
Nach langem Zögern wurde das Fenster geschlossen. Ich atmete erleichtert auf.
"Weiter", hauchte Katja. Stöhnend rappelte ich micht auf. Nach zwei Schritten rutschte ich aus. Ein Stein rollte das Dach hinunter. Es sah so hoch aus.
"Mensch, Sven, reiß dich ein bischen zusammen!" Ich hörte einen Hund bellen.
"Hier war doch etwas!" Die Frau, die eben das Fenster geöffnet hatte, kam aus der Tür. Katja und ich pressten uns auf die Dachzinnen.
"Martin, ich will, dass du sofort die Polizei rufst!"
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich hatte ein Bild vor mir, wie ich im Polizeiauto nach Hause gefahren wurde.
"Hör zu, das war bestimmt nur der Wind. Du bist zu nervös."
Ich hörte, wie ein Hörer abgenommen wurde.
"Wir verlieren Zeit!"
Ich schob einfach alle Gedanken in meinem Kopf beiseite und folgte meiner Freundin zum Rand des Hauses. "Nein! Nicht noch mal springen!"
Widerstand war zwecklos, Katja schon drüben. "Meinst du, der hält!"
"Herunterfallende Äste wie dieser zerschlagen Autos, also würde ein dich auch halten."
Mit Bäumen war ich wenigstens vertrauter, als mit Dächern. Ich spang, landete schwankend auf dem Ast, hielt mich fest und erreichte den Stamm der Buche. Sogleich entspannte ich mich.
"Wir müssen auf den Baum. Von dort aus können wir auf das Dach springen."
Bleib ruhig Sven, je schneller du es hinter dir hast desto eher sind die Wölfe in Sicherheit.
Ich kroch über einen dickreren Ast, ergriff einen Ast des anderen Baumes und erreichte des Stamm. Blätter flogen zu Boden. Katja landete währenddessen auf dem Holzdach des Schuppens. Ich schob mich weiter auf den Ast. Schließlich ließ ich mich fallen.
Ich landete hart auf dem harten Dach. Ein Stöhnen konnte ich nicht zurückhalten.
"Hier ist ein loses Brett!", hauchte Katja. Ein Splittern war zu hören, das Brett flog auf den Rasen. Ich merkte kaum, wie ich durch die Lücke kletterte. Draußen war das Grölen Betrunkener zu hören.
"Hier sind die Gewehre!"
"Und wohin sollen wir die jetzt bringen?"
Bevor Katja antworten konnte, ertönten die Polizeisirenen.
"Sie haben also gehört, wie jemand bei Ihnen auf das Dach geklettert ist."
"Ja, da bin ich mir ganz sicher!"
"Nun gut, Frau Kehrmann, haben Sie irgenjemanden gesehen?"
"Meine Ohren reichen mir! Und Sie sollten sich besser mal daranmachen, das zu untersuchen."
Ich weiß heute noch nicht, wie wir es geschafft haben, uns hinter den Büschen zu verkrümeln. Auf die Entschärfung der Waffen mussten wir beide notgedrungen verzichten.
Die beiden Beamten sahen sich an. Schaulustige, die um die Szene versammelt waren, fingen an zu murmeln. Wir wagten es, uns langsam aus unserem Versteck zu schleichen.
"Wie es aussieht," meinte der zweite Polizist mit dem Notizbuch, "hat ihnen der Wind jediglich einen Streich gespielt. Keinem der anderen Anwohner ist etwas aufgefallen, also sollten wir es dabei beruhen lassen und diese ganze Sache als Fehlalarm registrieren."
"Fehlalarm!", kreischte Frau Kehrmann. "Da waren Einbrecher!
Ich habe ganz genau, gehört, wie jemand..."
"Bitte beruhigen Sie sich. Es gibt hier doch keine Dachfenster, also warum sollten sich Einbrecher, die Mühe machen, auf das Dach zu klettern, wenn nebenan sogar ein Fenster offen war?"
"Und warum sollten sie es am hellichten Tag machen?", fügte der andere Polizist hinzu.
Die Traube löste sich langsam auf. Unbeobachtet stahlen wir uns davon.
Nach einiger Zeit, bemerkten wir, dass die Penner, die zuvor noch vor der Tür standen, durch die nahenden Polizeisirenen abgezogen waren, wodurch wir doch noch in den Schuppen eindringen konnten. Und da hatten wir schon das nächste Problem: Wie sollten zwei Jugendliche, die um diese Zeit eigendlich in der Schule sitzen müssten einen Haufen Schusswaffen mit Munition verschwinden lassen, ohne, dass dies bemerkt wird?
"Über den Feldweg. Der führt direkt zum Schrottplatz."
"Der um diese Zeit geschlossen ist. Und da wäre noch das Problem mit dem Stacheldrahtzaun!", zischte ich, während ich mir so viele der Dinger wie möglich auf die Schulter lud. Der Zaun war letztes Jahr aufgezogen worden, weil eine Motoradgang öfter den Schrottplatz geplündert und Unbekannte ihren Müll dort kostenfrei abgelagert hatten, der nicht immer ungiftig war.
"Es gibt ein Loch im Zaun."
"Woher weißt du das?!"
Katja beugte sich näher über mein Ohr. "Dirk und Gunnar haben mal auf dem Schulhof damit angegeben, wie sie dieses Loch in den Zaun geschnitten hatten, als ihr Fußball hinüber flog und der Aufseher nicht da war. Wenn sie es entdeckt hätten, wüssten wir bescheid."
Natürlich, hier weiß man immer, was wann und wo passiert oder passiert ist.
"Und wo sollte das sein?"
"Sie haben gesagt, an der Stelle, wo der Schrottplatz an den alten Steinbruch grenzt."
"Heißt das, wir müssen die Wand des Steinbruchs hochklettern, der wegen Steinlawinengefahr gesperrt ist, um von da in den Schrottplatz einzubrechen? Und das mit den Dingern?! Die sind ja jetzt schon höllisch schwer!"
"So hoch ist die Felswand nun auch wieder nicht. Und alle wissen, dass das mit der Geröllgefahr nur verbreitet wurde, damit der Steinbruch nicht wieder mit Flaschen zugemüllt wird."
Seufzend stimmte ich zu. Langsam kam ich mir vor, wie ein Soldat, der eine Mission auf feindlichem Gebiet zu erledigen hatte. Und langsam fand ich die Sache aufregend.
Das Loch war hinter dem dichten Brombeergestrüpp fast nicht zu erkennen. Der Aufstieg fürte über den nicht vertraunswürdig aussehenden Abhang, an dem genausoviele Dornen und Brennesseln wie Steine vorhanden waren. Mit sorgenvollen Gedanken sah ich zu dem eingerosteten Schild hinüber.
Betreten verboten! Einsturzgefahr!
Ich sah zu Katja.
"Schon klar, ich geh vor."
Mit fast spielerischer Leichtigkeit erklomm sie die ersten niedrigen Felsen, griff nach den Sträuchern und zog sich an ihnen hoch, bis der Untergrund etwas fester wurde. Ich hatte schon den Stein erklommen.
"Ich komme nicht ran!"
Katja kletterte ein Stück zurück, streckte mir ihre Hand entgegen und zog mich hoch.
"Du könntest dich ruhig etwas leichter machen!"
Endlich bekam ich den Ast zu fassen. Die ungeladenen Gewehre drückten hart in meine Schulter.
Es trennten mich nur noch wenige Meter von dem Loch. Ich klammerte mich am Zaun fest und setzte vorsichtig einen Schritt vor den anderen. Endlich erreichten wir das Loch. Ich riss mir den Ärmel auf, als ich mich hindurchzwängte.
"Hier können wir sie abladen!" Katja deutete auf eine mit lauter Eisenschrott gefüllte Grube. Schon flogen Waffen und Munition scheppernd hinunter.
Die Geschichte landete weder in der Zeitung, noch in den Gesprächen der Dorfbewohner, trotzdem kam ich mir immer noch vor, wie in einem verrückten Abenteuerroman. Die Wölfe sahen wir wochenlang nicht wieder. Ich machte immer weitere Steifzüge durch den Wald um meine tierischen Gefährten wiederzufinden, bis meine Eltern es mir verboten, damit ich mit meinen Hausaufgaben nicht hinterherhinken würde. Die ganze Zeit zerbrach ich mir darüber den Kopf, was nun aus den beiden Wolfsrudeln werden sollte. Die Welpen mussten längst geboren worden sein. Oder eines der angehenden Rudel gewichen.
Ich kämpfte gerade mit einer sehr komplizeirten Gleichung, als es unten Sturm klingelte.
"Ist Sven da?", hörte ich Katjas atemlose Stimme. Schon stürmte sie in mein Zimmer.
"Was ist los?"
"Du must kommen, schnell!"
"Geht nicht, erst die Hausaufgaben!"
Katja schnappte sich meinen Füller und mein Matheheft und ließ den Stift über das Papier sausen. Nach einigen Minuten legte sie es wieder hin. "Hast du sonst noch etwas zu erledigen?"
"Englisch", sagte ich halblaut während ich versuchte, die Zahlen und Variablen auf dem karierten Papier zu entschlüsseln.
Katja zog das Arbeitsheft aus meiner Tasche, schlug es auf und setze die entsprechenden Verben in die Lücken. Ich wusste noch nicht einmal um welche Zeitform es ging.
"Fertig, jetzt können wir gehen, und zwar schnell."
"Kannst du mir vielleicht mal Nachhilfe geben?", fragte ich noch, während wir durch die Tür liefen, ohne sie hinter uns zu schließen.
"Irgendjemand hat vergiftete Fleischstücke ausgelegt!", sie deutete auf den toten Fuchs und das rohe Schnitzel daneben. Ein harter Stich borte sich in mein Herz als ich das verendete Tier sah. Ich stieß mit der Astgabel in das Fleisch und beförderte es in die Plastiktüte.
Erst jetzt wurde mir bewusst, wie still es um uns herum war.
"Wir müssen es schnell einsammeln!", murmelte ich und nahm mir ebenfalls einen der Beutel, die Katja mitgebracht hatte. "Ich schlage vor, wir teilen uns auf."
Nach wenigen Minuten hörte ich sie wieder.
Ich rannte in die Richtung, aus der Katjas Stimme kam. Ich hatte ihre Worte verstanden, konnte sie aber nicht glauben. Nicht, bis ich sie sah.
Es waren nicht Napoleon und Mutter Liebevoll. Es waren die anderen Wölfe. Und zwei pelzige, winzige Junge, die ihren toten Eltern vergeblich in die Flanken knufften.
"Wir müssen sie wohl mit der Hand aufziehen. Aber sie sind kräftig und werden schnell wachsen", meinte Anja aufmunternd, während wir die Welpen, beides Weibchen, im gepolsterten Kasten beobachteten. Sie schliefen. Namen hatten die Hungwölfe noch nicht.
"Wenigstens haben wir dann zwei sehr interessante Tiere mehr im Zoo. Das wird bestimmt auch die Toleranz gegenüber Wölfen bei euch unterstützen."
Wir nickten. Ich glaubte nicht, dass die beiden im Zoo ein genau so schönes Leben wie in Freiheit haben werden, aber es währe vorübergehend das beste für sie.
"Jetzt gibt es schon zweimal Nachwuchs."
Katja horchte auf. "Zweimal?"
Anja lächelte. "Brummi wird Vater. Takinka wird die Jungen in etwa fünf Wochen bekommen.
Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus.
"Ich denke, ich muss noch einmal zu meinem Teddy und ihm gratulieren.
Publication Date: 07-14-2012
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