„Du schaust umher und siehst nicht, wo du stehst im Üblen,
nicht, wo du wohnst, und nicht, mit wem du lebst – weißt du, von wem du bist?“
– Sophokles: König Ödipus
Schlagartig dehnte sich das Entsetzen in ihm aus. Er sah gerade noch, wie der rote VW-Bulli in flotter Fahrt um eine Hausecke bog. Dann konnte er nichts mehr von ihm sehen und hören. Die jäh durchgebrochene Angst steckte wie ein Klotz in seinem engen Hals und statt mit aller Macht nach seinen Eltern zu rufen und vielleicht hinterherzulaufen, konnte er nur hilflos würgen. Nichts als zaghafte, unterdrückte Laute entfuhren ihm, die nach wenigen Sekunden in sein kleinkindhaftes Wimmern und Keuchen übergingen und schon bald völlig erstarben. Der Angstschrecken lähmte ihn und hielt seinen gesamten kleinen Körper wie eine übergroße, stählerne Schraubzwinge umschlossen.
Die Waffel mit der wunderschönen, rosa Kugel aus Erdbeereis war ihm entglitten und zerfloss auf dem staubigen Boden. Breitbeinig stand er neben einer uralten Laternenstange aus Gusseisen. Sein hochroter Kopf schien wie aus Stein gemeißelt, unbeweglich, erstarrt, ja eingefroren, als habe sich jetzt, in diesem einen kleinen Moment, sein weiteres Schicksal unauslöschlich in ihm eingegraben und bestimme seinen künftigen Weg durchs Leben wie eine ewige Warnung vor furchtbarem Unheil.
Den Blick immerzu auf die etwa hundert Meter entfernte Hausecke gerichtet, verharrte er einige Minuten lang, bis endlich wieder ein wenig Bewegung in ihn kam. Sein Urin hatte eine kleine Pfütze unter ihm gebildet, deren gezackte Ränder sich in dem Staub des ausgetrockneten Bodens verloren. Mit einer erheblichen zeitlichen Verzögerung entfuhr ihm endlich sein furchtbarer, gellender Klagelaut: „Mamaaaa! Papaaaa!“
Als Navajo erwacht, ist es noch stockdunkel. Sein Rücken schmerzt. Die harte Parkbank dient eben kaum als Ersatz für ein richtiges Bett. Er dreht sich ächzend auf die Seite und stöhnt unwillkürlich laut auf. Vor allem spürt er ein heftig pochendes Dröhnen im Kopf. Und die Zunge schmeckt pelzig, sein Mund scheint wie ausgetrocknet.
„Kacke!“, ruft er laut und setzt sich auf. Was für ein Brand! Er braucht erst einmal dringend etwas zu trinken. Gedankenlos fummelt er nach seinem Brustbeutel und angelt sich eine zerdrückte Schachtel Zigaretten heraus.
Wie kommt er hierher? Navajo versucht, seine Erinnerungen an die letzten Stunden zusammenzusuchen, während er gierig an dem Glimmstängel zieht. Am Imbissstand von der dicken Marlene hatte er eine Currywurst verdrückt. Und anschließend war er wieder planlos in der Gegend umhergestreift. Er hatte sich gefühlt wie ein Freibeuter auf Kaperfahrt. Irgendwie müsste ihm doch bald sein wütend angestrebtes Ziel ins Visier geraten, hatte er gedacht, oder wenigstens irgendein Hinweis! Das Ende seiner Suche! Aber davon hatte er noch nichts zu sehen bekommen. Leider!
Stattdessen war er diesem Lao, Lajo oder wie der hieß, in die Fänge geraten. Der wollte ihn gar nicht mehr weiterziehen lassen. Im ‚Felsenkeller‘ war er auf ihn gestoßen. Immer noch ’n Bier und ’nen Schnaps, und noch einen, und noch einen! Der wollte ihn abfüllen, mit Sicherheit! Da hatte er dann auf dem Weg vom Klo schnell die Biege gemacht.
Aber anschließend draußen auf der Straße musste der Film gerissen sein, totaler Absturz. Unbegreiflich!
Die Ellenbogen auf den Knien stützt Navajo seinen Kopf mit beiden Händen ab und versucht, sich stärker zu konzentrieren.
Aber trotz allem guten Willen herrscht weiterhin gähnende Leere im Gehirnkasten. Kein weiteres Fitzelchen der Erinnerung an die vergangenen Stunden stellt sich ein.
Ein einziger Gedankensplitter aber kommt ihm dennoch zurück ins Bewusstsein. Als er wankend auf der Straße stand, hatte er sich wie in einem Fahrstuhl gefühlt, der mit rasender Geschwindigkeit nach unten fuhr – das Gehirn wurde geflutet! Und dann war alles aus!
Navajo nimmt einen letzten Zug, lässt die Kippe fallen und zerdrückt sie mit dem Fuß. Er steht auf und reckt sich. Ihm ist kalt geworden und der Brand im Rachen stärker. Was jetzt? Unentschlossen setzt er sich irgendwohin mühsam in Bewegung. Weiter vorn wird es heller. Eine Straßenlaterne? Tatsächlich!
Auf dem Weg dorthin hört er es plätschern. Ein Brunnen? Ein Wasserhahn? Oh ja! Er klatscht sich zwei, drei Handvoll Wasser ins Gesicht, puhlt sich die verklebten Augen sauber, spült sich den Mund und füllt sich gierig den Magen mit billigem Gänsewein. Er kichert. Na also: schon besser!
Als er mit den Augen wieder etwas erkennen kann, greift er erneut zu seinem Brustbeutel und zieht sich dessen Halteschnur über den Kopf. Er untersucht die Fächer. Alles noch da: Personalausweis, 37 Euro und 75 Cent, aber vor allem der Schlüssel für das Schließfach am Bahnhof, in das er gestern Mittag die zwei Taschen und den Rucksack mit all seinen Klamotten gestopft hatte.
Ziemlich riskant war es, einfach hier in so einem gottverlassenen Parkgelände allein die Nacht zu verbringen. Er schüttelt verständnislos den Kopf. Aber was sollte er machen? Er war dicht gewesen. Außerdem könnte es sein, dass mittlerweile die Polizei nach ihm sucht. Wo hätte er dann unterkommen können?
Irgendwie muss er eine Bleibe finden!
Die Nase läuft. Er hat sich doch wohl nicht erkältet? Umständlich greift er in seine Hosentaschen. Zwar findet er kein Taschentuch, aber einen zerdrückten Zettel mit einer Handynummer. Wie kommt der dahin? Er schnäuzt sich kurzerhand mit den Fingern und wischt mit einem Ärmel nach.
„Schluss mit der Kultur!“, murmelt er halblaut vor sich hin und grinst gequält.
War das nicht schon immer so? Wenn die Lage einmal bedrohlich wurde, geriet er nach einiger Zeit zunehmend in einen Zustand gleichschwebender Aufmerksamkeit auf sich selbst. Dabei fühlte er sich immerzu relativ entspannt, während seine Aufnahmebereitschaft gleichzeitig auf sich selbst gerichtet war. Er hörte gewissermaßen in sich hinein und beobachtete, was sich dort ereignete, ohne es zu bewerten. Er widmete sich auf diese Weise seinen inneren Bildern und den damit verbundenen Gefühlen. So hörte er gleichsam sich selbst zu; er achtete dadurch viel sorgfältiger auf sich und versuchte zu ermitteln, was ihn tiefer bewegte. Darauf war er richtig stolz.
Nur diesmal scheint es vollkommen anders zu sein. Er findet keine innere Ruhe mehr.
Inzwischen nähert er sich wieder dem Ort seines gestrigen Absturzes.
Das Bild von Mobilis taucht in ihm auf. Was er jetzt wohl macht? Wahrscheinlich liegt er in seinem Bett und schläft in aller Ruhe den Schlaf des Gerechten. Oder weiß er schon Bescheid?
Navajo reckt seine Schultern nach links und dann nach rechts. Oh wie gut, sich strecken zu können! In der Schule ist heute Morgen als Erstes Sport: Geräteturnen. Ob man ihn bald vermisst?
Er hat keinen Plan. Eigentlich weiß er noch gar nicht, wie es weitergehen soll. Es ist aber auch alles noch so frisch. Vorgestern erst war der Tag der Erkenntnis. Dieser unbekannte Kerl hatte die ganze Geschichte ohne ersichtlichen Grund losgetreten und dadurch Navajos bisheriges Leben vollkommen auf den Kopf gestellt. Oder zerstört? Ja, auch das ist möglich.
Aber befindet er sich nicht ohnehin schon längst in einer Phase dringender Ablösung? Beschleunigt dieses neue Wissen dann vielleicht sogar diesen Prozess, der unausweichlich kommen musste? Dann wäre es wohl kein großer Nachteil, was ihm da ins Gesicht geknallt wurde!
Der fremde Typ, ein verbraucht wirkender Mittvierziger, war zu ihm an den Tisch getreten, an dem auch seine Eltern saßen, seine Adoptiveltern, versucht er sich jetzt schnell klarzumachen, denn diese brandneue Erkenntnis hatte der Bursche für ihn parat gehalten. Der war schon ziemlich angesäuselt und irgendwoher wahrscheinlich sauer gewesen und wollte seinem Vater wohl Schwierigkeiten bereiten. Seinem Adoptiv-Vater, korrigiert er sich sofort von Neuem. Als erstes hatte der Mann seinen rechten Arm angewinkelt erhoben, eine Faust gezeigt und grinsend allen Umsitzenden verkündet: „Schwerter zu Bierkrügen!“
Daraufhin hatte er sich zu Navajo herunter gebeugt, ihm freundschaftlich einen Arm um die Schulter gelegt und süffisant so laut gesprochen, dass es die halbe Hochzeitsgesellschaft mithören musste:
„Tura lura lura lu. Ich bin ich. Und wer bist du?“
Unwillkürlich hatte Navajo seinen Kopf zur Seite weggedreht. Dieser Mann verbreitete eine unangenehme, aufdringliche Alkoholfahne. Aber das Abwenden nutzte nicht viel, ja, es wirkte sich sogar wie eine ungewollte Einladung aus, denn der Fremde rückte unverzüglich mit seinem hageren Vogel-Kopf nach und gelangte dabei so nahe an Navajos Ohr, dass er es fast mit den Lippen berührte und raunte ihm spöttisch zu:
„Ein Findling! Ein Fundkind! Ein Schundkind! Ein namenloses Nichts! Ein Satansbraten! Und doch ein Hauptgewinn! Erinnerst du dich vielleicht? ‚Le Grand Prix‘ oder ‚Der Preis ist heiß‘, so hieß die Spielshow im Internet. Und du warst im Jackpot. Und diese beiden hatten dafür ein Dauerlos. Monatelang! “
Er zeigte schmierig grinsend mit dem Finger auf seine Eltern, die wie versteinert dasaßen und tief erschrocken und mit angehaltenem Atem diesen Auftritt des Fremden verfolgten. Wie ein ausgebuffter Entertainer hob der Unbekannte trickreich seine durchaus wohlklingende Stimme, als wollte er frische, ofenwarme Semmeln anpreisen.
„Und jetzt, meine sehr verehrten Damen und Herren, lade ich ich Sie herzlich ein, mit mir eine Zeitreise zu unternehmen. Wir schreiben zwar mittlerweile das Jahr 2018, aber stellen Sie sich vor, heute sei der 18. 11. 2006 und wir alle befänden uns hier im Internetportal von www.kinderlosundkinderglueck.de!
Also: Ladies and Gentlemen, die Damen, die Herren! Wir kommen jetzt zur Verlosung des Ersten Preises. In Ihm befindet sich seit vier Tagen unser Supergewinn.
Jahahaa! Es iiiiist: Jawohl! Schauen Sie genau hin, damit Ihnen nichts entgeht. So ein Glückslos gibt es kein zweites Mal. Also noch einmal!
Es iiiist, es iiiist:
Dieser niedliche vier- bis fünfjährige blonde Junge mit dem traurigen Welpenblick! Er wurde von seinen herumreisenden Eltern in einem Dorf in der Bretagne in der Nähe einer Kindertagesstätte wie ein räudiger Straßenköter ausgesetzt. Er ist höchstwahrscheinlich deutscher Herkunft, jedenfalls spricht er dialektfreies Deutsch, und befindet sich in einem kerngesunden körperlichen Zustand, er benötigt verständlicherweise aber besonders viel emotionale Zuwendung. Also ein Fall für ein ausgesprochen engagiertes Elternpaar. Den Glanzpunkt darf ich allerdings nicht verschweigen, daher als Letztes: Dieser Knabe ist nicht nur ausgesprochen hübsch und gesund und liebebedürftig, sondern er verfügt nach eingehenden neuropsychologischen Untersuchungen auch über ein quantitativ hohes Maß an Spearman’s ‚g‘!
Sie stutzen, meine Damen und Herren? Sie wissen nicht, worum es sich handelt? Ich will es Ihnen erklären: Es handelt sich beim g-Faktor um den sogenannten ‚Generalfaktor der Intelligenz‘. Und dieser liegt bei diesem Jungen im Bereich der Hochbegabung. Das heißt, dass sein IQ höchstens von 2,2 Prozent seiner Mitmenschen erreicht oder übertroffen wird. Seine herausragenden, ja, phänomenalen Fähigkeiten liegen nach übereinstimmenden Testergebnissen insbesondere im Bereich der Gedächtnis-Leistungen.
Heute also bei uns das tollste Hauptangebot, das wir jemals vorweisen konnten: ein Wunderkind! Jawohl! Ein Gedächtnis-Gigant! Also: Applaus! Jubel! Ovationen! Konfetti! Freudentaumel! Ritterschlag! Fackelzug und Ehrenwache! Der Glücksgöttin sei gedankt, gelobt, gepriesen und gepfiffen! Wo bleibt der Tusch?“
Es war mucksmäuschenstill im Saal, als er seine schräge Ansprache beendet hatte.
„Und für dich hielten sie seitdem eine Dauerlüge parat, als Salbe oder Tarnung. Oder aus berechtigter Scham, du Volltreffer!“, fügte er noch flüsternd an, bevor er mit seiner nassen Zungenspitze wie ein sabbernder Hund Speichelfäden in Navajos Ohrmuschel rinnen ließ.
Der zuckte sofort angeekelt zurück und wollte sich aus der zudringlichen Umarmung lösen. Er hob ein wenig sein Gesäß, stieß seinen Stuhl zurück, tauchte angewidert unter dem Kopf des Fremden hindurch und rannte, so schnell er konnte, aus dem Saal, wobei er mit einem Ärmel seines Hemdes sein Ohr auszuwischen versuchte. Für manchen Beobachter sah es so aus, als wollte er auf diese Weise zugleich auch das Gehörte unbedingt wieder so loswerden, als hätte es sein Ohr niemals erreicht.
Navajo seufzt leise auf: „Ach ja!“
Er verspürt ein rebellisches Grummeln in seinem Magen. Hunger! Aber so früh ist noch überall geschlossen. Er muss warten. Hätte er nicht für ein paar kleine Vorräte sorgen können, fragt er sich. Ja, gewiss! Aber er mag sich nichts vorwerfen. Sein Kopf ist so voller Gedanken, dass er kaum noch Platz für etwas anderes findet. Daher achtet er auch weniger auf seine körperlichen Bedürfnisse oder auf den Ort, an dem er sich aufhält, oder auf die Menschen um sich herum. Oder auf das, was morgen sein könnte!
Das ist leicht zu verstehen.
Schon vorletzte Nacht im Zug hatte er nicht mehr ein noch aus gewusst. Er befindet sich innerlich in einem belastenden Ausnahmezustand ohnegleichen. So viel in ihm ist in Bewegung geraten und hat seinen alten, angestammten Platz verlassen müssen. Was stimmt denn überhaupt noch in seinem Leben? Wieder muss er tief seufzen: „Ach ja!“
Wollte er jemandem sein Befinden beschreiben, würde er schlicht und einfach sagen, dass er vollkommen durcheinander ist. Die sonderbare Offenbarung des betrunkenen Fremden vorgestern auf der Silberhochzeit seiner – bisherigen – Eltern hat nicht nur seine jugendliche Welt zum Einsturz gebracht, also die äußeren Beziehungen zu all den Menschen in Frage gestellt, die ihm bis dahin besonders nahe und wichtig waren, sondern vor allem seinen Bezug zu sich selbst.
Wer bin ich wirklich, fragt er sich betroffen. Und woher komme ich?
Und fügt sich nicht zwangsläufig hieran auch die Frage nach dem Wohin? Gerade in seiner konkreten Situation hier auf dem Weg ins Zentrum? Was will er hier? Und wie soll es jetzt weitergehen?
So viele große Fragen und kaum brauchbare Antworten!
Schnaps und Bier gestern Abend dienten ihm als Beruhigungsmittel für seine innere Hochspannung, und der komische Kerl, dieser Lao oder Lajo, hatte ihm ein bisschen geholfen sich abzulenken, und dabei war er dann hemmungslos abgestürzt.
Eigentlich wollte Navajo sich lediglich von der vielen Lauferei den ganzen Tag über ein wenig ausruhen und seine Füße weit von sich strecken. Aber der Mann war nur ein paar Minuten nach ihm hereingekommen, er hatte zuerst kurz an der Theke gestanden und war schon bald zu ihm herüber geschlendert und hatte sich, ohne zu fragen, dreist an seinen Tisch gesetzt und die erste Lüttje Lage bestellt: Bier und Korn.
Und dann hatten sie das Trinken geübt: Das kleine, niedrige Glas für das Lüttje-Lagen-Bier zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, der Mittel- und Ringfinger für das Schnapsglas, das beim Trinken über dem Bierglas liegen sollte, und dann beides in einem Zuge austrinken.
Aber diese komplizierte Handhaltung war zunächst nicht einfach für den ungeübten Navajo. Anfangs ging noch einiges vom Schnaps daneben. Verständlich! Lüttje-Lagen-Lajo orderte für ihn ein Lätzchen beim Wirt. Und von nun an wurde mit viel Gelächter aller Anwesenden drillmäßig geübt.
In Erinnerung daran muss Navajo unwillkürlich schmunzeln. Aus irgendeinem Grunde hatte es ihm durchaus Spaß gemacht, weil er vielleicht auf diese Weise von seinem inneren Aufruhr abgelenkt war.
Aber dieser Lajo hatte durchaus auch anziehend und liebenswürdig auf ihn gewirkt, ein leutseliger Mann höchstens Mitte Dreißig und mit einem ungewöhnlich gewinnenden Lächeln, das er so noch nie erlebt hatte. Es war viel eher ein Lächeln der Augen als des Mundes, ja, er bewegte die Mundwinkel kaum, wenn er lachte, aber die blau-grünen Augen strahlten wie die eines kleinen Jungen während der Weihnachtsbescherung.
Ja, blau-grün! So etwas hatte er auch noch nie zuvor gesehen. Eindeutig: Das linke Auge war leuchtend blau und das andere von einem ebenso wie poliert glänzenden Grün. Ein Mensch mit zwei verschiedenfarbigen Augen: Vielleicht war die Pigmentierung der Regenbogenhäute gestört; so hatte sich Navajo diesen Unterschied zu erklären versucht. In erster Linie war er irritiert gewesen und musste immerzu von einem Auge zum anderen blicken. Aber er fand es interessant und zugleich sympathisch. Wie der ganze Mensch, fügt Navajo in Gedanken an. Er hatte ihn auf seine Odd-Eyes angesprochen und wieder dieses blitzende Lachen geerntet.
„Das ist aber nur so, wenn ich ehrlich bin, sobald ich anfange zu lügen, ist auch das rechte Auge blau. So kann jeder immer genau feststellen, woran er mit mir ist – wenn er das weiß.“
Lajo funkelte ihn erneut mit seinem blendenden Augenlächeln an. War das nun einfach nur Lachlust oder schon Schäkerei? Navajo konnte es nicht erkennen, auf jeden Fall hatte er zu diesem schon erheblich fortgeschrittenen Zeitpunkt die Nase und den Kanal reichlich voll und sich also klammheimlich davongemacht. Dadurch hatte er sich gewiss nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Nun ja!
Ach so, das hilfreiche Lätzchen hing jetzt vielleicht immer noch über dem Spiegel auf dem Kneipenklo.
Navajo blickt um sich. Wo bin ich hier, fragt er sich. Es wird heller. Morgendämmerung! Er scheint wieder in der Innenstadt angekommen zu sein, in der Fußgängerzone. Aber es ist bislang kaum Personenverkehr unterwegs. Er tapert noch fast allein durch die Gegend.
Navajo hat Hunger, wieder Durst und friert. Außerdem spürt er zunehmend einen ekelhaften Kater, je mehr seine Benommenheit abnimmt. Unangenehm! Er beginnt zu zittern, erst die Finger, dann die Hände, bald klappern auch die Zähne aufeinander. Er knöpft sich die Jeansjacke zu und schiebt seine Hände tief in die Hosentaschen. Der Zettel mit der Telefonnummer knistert wieder zwischen den Fingern. Soll er einfach mal anrufen und hören, wer sich da meldet? Er greift nach seinem Handy in der Reißverschlusstasche auf der Innenseite der Jacke und zieht es heraus. Noch zuhause in Rostock hatte er seine SIM-Karte global zum Orten deaktiviert. Soll er das jetzt wieder rückgängig machen?
Es ist ihm im Moment egal. Er will hier ja sowieso nicht lange bleiben. Vor allem aber ist er aus einem unbegreiflichen Grund heraus ausgesprochen neugierig. Also schaltet er sein Mobiltelefon an, gibt seine PIN ein, stellt die Rufnummerunterdrückung ein und wählt die unbekannte Nummer. Er wartet.
„Hey, wer is’n da?“, hört er leise und unklar eine Stimme wie aus dem Jenseits.
Navajo zuckt zusammen. Herrgott nochmal! Wie sehr sind seine Nerven doch angespannt! Eine relativ junge, männliche Stimme hat sich gemeldet, verärgert, vielleicht noch verschlafen - oder auch verkatert?
„Ja, was is‘n jetzt? Hallo, kommt da noch was?“, ertönt es deutlicher.
Navajo zögert nicht mehr, ihm ist kalt, er hat Hunger und Durst, und übermüdet ist er sowieso und dann noch dieser elende Katzenjammer und dieser Brummschädel…
„Ja, hey, bist du das Lajo, hier ist Jo“, bringt er seine Worte flott über die Lippen, als wäre schon wieder alles klar und sie säßen sich von Neuem gegenüber. Was ist mit ihm plötzlich los, so freundlich und liebenswürdig, wie er jetzt redet, fühlt er sich doch gar nicht, sagt er sich verwundert.
„Ja hallo Jo, moin, Kumpel. Das ist ja ’ne Überraschung in der Morgenstunde. Was is' los, Kleiner?“
„Du hast doch wohl diese Nummer in meine Tasche gesteckt, oder?“, fragt Navajo jetzt in einem patzigen Ton, dessen Grund er im Augenblick selber nicht versteht. Spinnt er mit einem Mal? Wieso nun wiederum so aggressiv? Mein Gott, denkt er, wie sehr bin ich momentan doch von der Rolle!
„Ja, zum Kontakt, falls du willst, weiter nix!“, bekommt er von einer ruhigen und freundlichen Stimme zur Antwort.
Nun muss er sagen, was er will oder das Gespräch beenden. Er überlegt nicht mehr, sondern sprudelt los, als hätte sich ein verschlossenes Gatter geöffnet und sämtliche in einem Pferch gefangenen Mustangs, die bereits mit den Hufen gescharrt hatten, würden endlich entfesselt hinausstürmen.
„Ja, ich will. Hör zu: Mir geht es momentan ziemlich schlecht und ich weiß nicht, wohin. Ich muss irgendwie und irgendwo heute unterkriechen. Ich bin nur noch am Zittern und absolut fertig. Ein teuflischer Kater! Vielleicht kannst du mir helfen, nur etwas zu essen und aufzuwärmen, wenigstens für heute, bitte, ich habe sowas noch nie jemanden gefragt. Und ich dachte, du warst ja gestern so kumpelhaft zu mir und irgendwie mag ich dich auch und da dachte ich, ich ruf einfach mal an und frage“, spult er seine Rede ab, ohne ein einziges Mal Luft zu holen.
„Hallo, Lajo, bist du noch da?“, murmelt er nach ein paar Sekunden zögernd und unsicher, weil die Antwort nicht umgehend erfolgt.
„Jaaa!“, kommt es gedehnt an sein Ohr, „Ich denke gerade nach. Natürlich, das geht schon. Ich weiß nur nicht, wie wir das am besten machen können. Pass auf: Ich glaube, ich hole dich ab. Sag‘ mir einfach, wo du im Moment bist. Du bleibst da und wartest. Es kann allerdings eine gute Weile dauern. Also werde nicht ungeduldig. Ich muss vorher noch was organisieren. Es dauert höchstens zwei Stunden, dann bin ich da. Geht das?“
„Oh ja, natürlich, das ist okay! Ich bin hier am Rathaus und warte auf dich. Bis dann.“
Ende. Navajo zieht seine Schultern hoch und lehnt sich gegen eine Hausmauer. Der spendierfreudige Trinkkumpan von gestern also, wie vermutet. Mal sehen, wie das wird, sagt er sich. Eigentlich kennt er den Mann überhaupt nicht. Eine Kneipenbekanntschaft, weiter nichts. Die Hauptsache ist ja lediglich, dass er sich ein wenig erholt und Zeit gewinnt, um nachzudenken und sich selbst etwas Klarheit über seine allgemeine Lage zu verschaffen. Er muss einfach wieder zu sich kommen und den Kater überwinden. Vielleicht geht das ja auf diesem Wege.
Möglicherweise hat er vorgestern doch einen ziemlich großen Fehler gemacht, alles hinzuschmeißen und sich 'mir nichts dir nichts' davonzumachen. Dadurch war er mit sich und allen anderen Betroffenen viel zu scharf ins Zeug gegangen! Zweifellos!
Aber er konnte doch gar nicht anders, muss er seine Besorgnis unverzüglich zurückweisen. Er fühlte sich doch an einer besonders heiklen Stelle vernichtend getroffen.
Als er nach der Offenbarungsattacke des betrunkenen Fremden kopflos hinausgerannt war, hatte er sich draußen wie ein kleines Kind hinter einem niedrigen Mäuerchen zusammengekauert und darauf gewartet, dass sein Herz aufhörte, wie irrsinnig davonzugaloppieren. Er saß auf dem harten Boden, die Knie angewinkelt vor der Brust, den Kopf tief nach unten gesenkt und beide Hände hielten die Ohren verschlossen, jetzt erst, da doch schon alles Furchtbare gesagt war, und er wiegte sich sanft schwingend unentwegt hin und her und stieß dabei fortwährend kleine, wimmernde Laute aus, bis auch das mutlose Keuchen erstarb: ein kleiner Junge, elend und verlassen?
Verrat, hatte er gedacht – oder nicht gedacht, nein, es war viel, viel mehr, er hatte überhaupt nicht mehr gedacht, so schien es ihm, sondern er hatte es so knallhart erlebt. Ja, das war es: Genau dies war seine Erfahrung jener schrecklichen Minuten: Verrat, ungeheuerlicher Verrat! Unsagbar, so unfassbar!
Und währenddessen galoppierte sein Herz weiter auf und davon in einem irrsinnigen, halsbrecherischen Tempo und nahm zugleich alles mit, was ihn freundlich und stabil gehalten hatte: Vertrauen und Geborgenheit und Hoffnung und Dankbarkeit und Sehnsucht nach dem Leben.
Und in die riesige Lücke, die mit diesem Verlust nun entstanden war, drang unaufhaltsam eine gefräßige Großkatze mit dem Namen Angst, oder nein: Das war doch viel, viel mehr! Eine grausige Panik machte sich breit in ihm, die er nicht zu fassen vermochte. Ja, er war absolut fassungslos geworden, das erschien ihm viele Stunden später, als er endlich, endlich wieder ein paar zusammenhängende Gedanken zu fassen vermochte, als ein zutreffendes Wort: Fassungslosigkeit.
Der Schock ging so tief, dass er nichts mehr denken oder gar sagen konnte, sein Rahmen war gebrochen, jene gute, alte Fassung, die ihn so lange umfasst und gehalten und erhalten hatte. Sein personales Zentrum, sein innerer, fester Kern, sein Ich, schien in diesen entsetzlichen Minuten – oder Stunden? - jeden Halt, jegliche Kontrolle über sich verloren zu haben; ein Menschlein uferte aus; der Schmerz, die Not, die Panik überschritten alle Grenzen, er war nur noch ein kleiner Kloß, der sich auflöste, zerrann, zerfloss wie eine rosa Kugel aus Erdbeereis auf einem staubigen Boden…
Jemand war irgendwann hinter ihn getreten und hatte ihn sanft an seiner linken Schulter berührt. „Jo, Jo, Jo!“
„Lasst mich! Bitte lasst mich!“
Und dann hatte Navajo geschrien. Eine Minute? Zwei? Oder noch länger? Ununterbrochen, mit einer sehr hohen, schrillen Stimmlage: im Diskant wie ein Tier im Todeskampf. Oder wie ein ausgesetzter, kleiner Junge.
„Mamaaaa! Papaaaa!“
Navajo löst sich von der Mauer, an die er sich soeben gelehnt hatte. Tränen rinnen ihm schon wieder über das Gesicht. Er hatte bis gerade eben noch gar nicht wahrgenommen, dass er weinte. Von Neuem war er völlig versunken gewesen; diese Situation an dem Mäuerchen vorgestern war so plastisch in seiner Erinnerung aufgetreten, so direkt, so intensiv, als steckte er schon wieder voll und ganz darin.
Oh Gott, nein! Navajo erschrickt, als er aufblickt. Was für eine sonderbare, beklemmende Verknüpfung!
Er schaut auf die Hauswand.
Sollte er vielleicht künftig vermeiden, sich an Mauern zu lehnen?
Er will sich mit einer Hand über das Gesicht fahren, um die Tränen fortzuwischen. Aber irritiert hält er mitten in der Bewegung inne. Sein heißer Kopf erscheint ihm wie aus Stein gemeißelt, unbeweglich, erstarrt, ja eingefroren.
Bin ich das? Bin ich so? Jetzt und für immer? Wird es nie mehr anders?
Noch einmal drängen Tränen nach oben.
Ich will nicht mehr, denkt er und schaut nach unten und traut seinen Augen nicht: Sein Urin hat eine kleine Pfütze unter ihm gebildet, deren gezackte Ränder sich in dem Staub des ausgetrockneten Bodens verlieren. Mit einer erheblichen zeitlichen Verzögerung entfährt ihm erneut sein furchtbarer, gellender Klagelaut: „Mamaaaa! Papaaaa!“
Es war gut, dass er aufgestanden und losgerannt war. Das Laufen, die Bewegung, das tat gut, so gut! Dadurch erlebte er sich wieder als handlungsfähig, wenigstens ein bisschen. Ziellos, hilflos, kopflos zwar, aber immerhin er selbst. So lief er und lief, als gelte es, den Irrsinn, der ihn packen wollte, hinter sich zu lassen. Er lief den Bildern davon und den unfassbaren, zerstörerischen Gefühlen, die damit verbunden waren, und die er nicht sehen und spüren wollte. Sie taten doch so weh. Also lief er und hörte seinen rasselnden Atem und sein Keuchen und schmeckte seine salzigen Tränen. Laufen, laufen, laufen…
Mit einem Mal wurde er mit Macht von hinten umfasst und zurückgerissen. Sein ‚Vater‘ presste ihn an sich und schrie mit überkippender Stimme:
„Nein Jo, halt‘ inne, bitte halt‘ inne! Jo!“
Erschrocken hält Navajo inne und presst eine Hand fest auf seinen Mund. Spinne ich denn total, sagt er sich betroffen, hier in aller Öffentlichkeit jetzt so loszukreischen wie ein kleines Kind. Ich bin zweifellos dabei, vollends die Kontrolle über mich zu verlieren.
Aber es gelingt ihm eben immer noch nicht, seinen inneren Aufruhr in den Griff zu bekommen. Irgendetwas in ihm scheint losgebrochen, irgendwo tief in seinen Eingeweiden sitzt ein ungeheurer Schmerz, der sich immer wieder - ohne einen für ihn klar erkennbaren Grund - sein Schicksal anklagend mit aller Macht meldet und einfach losbrüllt.
Vorgestern wurde dieser schlafende Drachen geweckt. Und nun wütet er, so oft man ihm zu nahe kommt. Mittlerweile beherrscht er Navajo also nicht nur im Schlaf, sondern zunehmend auch im wachen Zustand.
Ich muss besser aufpassen, will er sich einreden, ohne selbst so richtig davon überzeugt zu sein, dass es ihm überhaupt gelingen könnte. Denn er fühlt sich tatsächlich dieser tiefen Qual mittlerweile regelrecht ausgeliefert.
Also presst er wieder ziemlich verkrampft seine Zähne aufeinander und versucht, die Umgebung bewusst in Augenschein zu nehmen, um sich von seinen inneren Bildern und Hilferufen aus unbekannten Tiefen zu lösen.
Gottseidank ist hier in der Gegend noch nichts los, stellt er beruhigt fest, kein Betrieb, ein sehr früher Montagmorgen, viele Leute haben noch das Wochenende im Genick, da startet man lieber langsam in den Tag und die neue Woche.
Er schaut sich um. Weit und breit auf dem großen freien Platz vor diesem Kleinstadtrathaus in der Nähe von Hannover ist keine einzige Menschenseele zu entdecken. Wie spät ist es eigentlich? Wieder zückt er sein Handy und schaut auf das Display. Sechs Uhr dreiunddreißig, sein Akku ist bald leer. Gewohnheitsmäßig denkt er sofort an eine Lademöglichkeit, bis ihm wieder einfällt, dass er es doch ausgeschaltet lassen wollte, um unauffindbar zu bleiben. Nun hat er allerdings mit dem Telefonat seine eigene Regelung durchbrochen. Noch einmal bei dem Netzanbieter anzurufen, um die Deaktivierung zu erneuern, wird wohl mangels Power nicht mehr gehen. Aber ihm fällt eine andere Möglichkeit ein, die wahrscheinlich ohnehin wesentlich wirksamer ist. Er öffnet sein Mobiltelefon, nimmt den Akku heraus und verstaut ihn zitternd in seiner Brusttasche.
So, denkt er teilweise beruhigt, das ist jetzt erledigt. Andererseits macht ihm auch sein körperlicher Zustand Angst. Nicht nur die Gefühlswelt ist in hellem Aufruhr, auch sein Körper scheint ein Eigenleben zu entwickeln, das sich dem direkten Einfluss seines Willens entzieht.
Ich brauche wirklich endlich Ruhe, stellt er schaudernd fest. Und da fällt ihm urplötzlich dieser unglaubliche Absturz gestern Abend wieder ein.
Was das wohl war? Wirklich ungewöhnlich!
Er hatte schon einige Male einen ziemlich üppigen Affen bei sich erlebt. Alkohol war also nichts Neues für ihn gewesen. Ganz im Gegenteil: Mit seinem engsten Freund Mobilis hatte er öfter schon so manchen Humpen geleert. Aber dieser Absturz kam ihm vor wie ein Systemfehler beim Computer. Mit einem Mal war alles total dunkel und er selbst war weg, als hätte es ihn nie gegeben.
Navajo stutzt. Ein Fahrzeug nähert sich mit unerhört lautem Geräusch. Als er hinter sich blickt, sieht er einen zwangsläufig wohl uralten Trabant 601 röhrend um die Ecke biegen. Wiederum ist er fassungslos. Diesmal
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Gerhard R. Jörns Dies ist ein Roman. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen oder realen Ereignissen sind nicht immer zu vermeiden. Sie liegen in der menschlichen Natur begründet und sind nicht Absicht des Autors.
Publication Date: 05-04-2014
ISBN: 978-3-7368-0785-3
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Dedication:
Den toten Eltern!
Ätsch!