Mecki
Gestern habe ich beim Durchwühlen alter Kisten ein Foto von Mecki gefunden. Ich bin natürlich auch darauf zu sehen – in Schlaghosen und mit einer furchtbaren Hornbrille. Ich war damals etwa 10 Jahre alt, und obwohl inzwischen 30 Jahre vergangen sind, erinnere ich mich gut an das kleine Kerlchen. Eines Abends im Spätherbst klingelte es unerwartet an der Tür. Draußen stand ein guter Bekannter aus der Nachbarschaft und hielt einen Schuhkarton in den Händen. Er nahm den Deckel ab und zeigte den Inhalt meiner Mutter:
„Den haben wir heute im Wald gefunden. Ihr habt doch schon ein paar Tauben aufgepäppelt, da dachte ich, ihr könnt euch vielleicht auch um das kleine Kerlchen hier kümmern.“
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und sah neugierig in die Kiste. Darin lag eine kleine stachelige Kugel, die leicht zu zittern schien. Es war ein junger Igel, der scheinbar vergessen hatte sich rechtzeitig Winterspeck anzufressen. Meine Mutter schaute ratlos auf das Häufchen Elend herunter. Ich zupfte an ihrem Arm und sah sie flehend an.
„Bitte Mama! Ich kümmere mich auch um ihn. Ehrlich!“
Schließlich seufzte sie und sagte: „Na gut, wir können es ja zumindest versuchen.“
Wir wohnten in einer Großstadt und hatten nicht die geringste Ahnung von Igeln. Das einzige, was wir wussten war, dass es einen Comic-Igel namens Mecki gab. Und nun ratet einmal, wie wir unseren neuen Mitbewohner nannten. Genau, Mecki.
Ihr müsst bedenken, dass es damals noch kein Internet gab. Man konnte nicht einfach den PC einschalten und „Igel“ eingeben um an Informationen zu kommen. Ich wusste nicht, wen ich fragen sollte, also ging ich mit dem Kleinen erst einmal zum Tierarzt. Der untersuchte vorsichtig die Haut zwischen den Stacheln und stellte fest, dass Mecki einen Haufen Untermieter hatte, nämlich Flöhe. Es gibt übrigens kaum einen Igel in der freien Natur, der keine hat. Der Tierarzt gab mir ein spezielles Mittel und berechnete mir netterweise nichts dafür, weil der Kleine ja ein Wildtier war. In einer Buchhandlung fand ich schließlich noch ein kleines Buch, in dem stand, was man bei der Pflege von Igeln alles beachten muss. Habt ihr zum Beispiel gewusst, dass sie keine Milch trinken dürfen, weil sie davon krank werden können? Ich fand das ganz erstaunlich, denn die meisten Leute denken als Erstes an Milch, wenn es um Igel geht.
Jedenfalls war ich jetzt ganz gut für meine Aufgabe als Ersatzmama gewappnet. Nachdem der kleine Igel das lästige Ungeziefer von der Pelle hatte, zog er in zwei große zusammengeklebte Kartons, die durch eine Öffnung verbunden waren und in meinem Zimmer standen. Weil ich ihm immer Futter gab und mich oft um ihn kümmerte, lief er mir bald hinterher wie ein Hündchen und ließ sich von mir sogar an der Nase kraulen. Darauf war ich besonders stolz, denn bei allen anderen Menschen rollte er sich blitzschnell zu einer stacheligen Kugel zusammen, wenn sie auch nur in die Nähe seiner Knopfnase kamen. Als das Thema „Igel“ im Biologieunterricht an der Reihe war, nahm ich ihn sogar mit in die Schule und ließ in frei im Klassenzimmer herumlaufen. Da war vielleicht was los! Habt ihr schon mal einen Igel rennen sehen? Die sind schneller als man denkt. Die Kinder in meiner Klasse waren ganz aus dem Häuschen vor Begeisterung.
Einmal, an einem Sonntagmorgen war Mecki aus seinem Karton verschwunden und meine Eltern suchten ihn in der ganzen Wohnung. Ich lag noch faul im Bett und hatte eigentlich überhaupt keine Lust aufzustehen. Meine Mutter fand das nicht so toll, denn schließlich hatte ich ja versprochen mich um das Igelchen zu kümmern. Um größeren Ärger zu vermeiden, schlug ich die Decke ein Stück zurück und streckte mich erst einmal genüsslich. Autsch! Da piekte mich etwas ganz ekelhaft in die Zehen. Ihr habt bestimmt schon erraten, was es war, oder? Genau, es war Mecki, der sich zusammen gerollt hatte und an meinem Fußende unter der Decke schlief.
Aber die verrückteste Geschichte war wohl die mit den Mehlwürmern. Passt auf, ich erzähle sie euch:
Mecki liebte Mehlwürmer! Kaum erschnüffelte er sie in seinem Napf, stürzte er sich darauf und verschlang einen nach dem anderen mit lautem Schmatzen – lebend versteht sich. Leider war die nächste Tierhandlung, die Lebendfutter führte, nicht gerade um die Ecke. Ich musste mit der Straßenbahn extra in die Innenstadt fahren um welche zu besorgen. Aber zum Glück hatte ich ja meine einfallsreiche Mutter, die eines Tages kurzerhand beschloss selbst Mehlwürmer zu züchten. Sie hatte irgendwo gelesen, dass man die Würmer lediglich in eine dunkle Dose mit etwas Mehl setzten musste, die man mit einem Deckel verschloss. Nach etwa vierzehn Tagen hätten sie dann angeblich Kinderchen. Wir füllten also Mehl in eine leere Kaffeedose, gaben reichlich Mehlwürmer dazu und warteten zwei Wochen. Dann öffneten wir gespannt die Dose und… – machten lange Gesichter. Einige Mehlwürmer waren tot andere krochen etwas altersschwach im Mehl herum. Ein wenig enttäuscht beschloss meine Mutter ihre Karriere als Mehlwurmzüchterin an den Nagel zu hängen und gab den Doseninhalt zum Verzehr frei. Meckis Tischmanieren waren schon bei einer kleinen Portion Wurm nicht die Besten und so richteten wir ihm das Festmahl kurzerhand in der Badewanne an. Und nun ratet mal, was dann passierte. Falsch! Der kleine Flohfänger rührte nicht einen einzigen Mehlwurm an. Meine Mutter und ich hockten uns vor die Wanne und überlegten.
„Vielleicht ist es ihm zu hell“ Sagte ich nach einer Weile.
Also schalteten wir das Licht aus. Doch auch das kuschelige Halbdunkel konnte seinen Appetit offenbar nicht anregen.
„Vielleicht stört ihn das viele Mehl“ meinte meine Mutter nach einer Pause.
Sie fackelte nicht lange und schaltete den Fön ein um das Mehl von den Würmern zu pusten. Das Ergebnis war überwältigend! Inmitten einer großen weißen Wolke wirbelten die Mehlwürmer aus der Badewanne und quer durch das ganze Bad. Erschrocken schaltete meine Mutter den Föhn ab und sah mich fassungslos an. Ich versuchte krampfhaft nicht loszuprusten. Allerdings ohne Erfolg. Am Ende saßen wir beide auf den Fliesen und konnten uns kaum noch halten vor lachen. Als wir uns endlich wieder beruhigt hatten, ging meine Mutter mit dem Staubsauger auf Würmerjagd und ich wusch Mecki die glibberigen Reste von den Pfoten. Er hatte zwar nichts von dem Doseninhalt gefressen, aber dafür war er ausgiebig darauf herumgetrampelt.
Übrigens wurde noch Wochen später, als unser Igelchen schon gemütlich im Keller seinen Winterschlaf hielt hinter einem der Badschränke ein einsamer Mehlwurm gesichtet.
Ihr fragt euch jetzt vielleicht, was eigentlich aus dem kleinen Mecki geworden ist?
Natürlich hätte ich das kleine Kerlchen nur zu gerne behalten. Aber Igel sind nun einmal Wildtiere und gehören unbedingt in die freie Natur. Weil wir selbst leider keinen Garten hatten, haben wir ihn im Frühling, als es schön grün und immer wärmer wurde bei Bekannten in den Garten gesetzt. Dort gewöhnte er sich schnell ein und schloss Freundschaft mit dem Familienkater.
Publication Date: 02-12-2009
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