Out of the Dark, into the Blue, so fühle ich mich gerade. Nur das es beim Blau nicht bleibt. Die Welt in all ihrer Pracht eröffnet sich auf ein Neues. Der Schleier der Nacht legt sich allmählich. Aus dem Dunklen der Ruhephase entschwinde ich in die bewusste Wahrnehmung. Ich kann es spüren: die Wärme.
Sie umschließt meinen ganzen Körper. Von oben, von unten, von den Seiten und von innen. An meinen Beinen, meinem Oberkörper. Sogar an meinem Hals. Zufrieden entkommt mir ein Seufzer. Ich bin gehüllt in einen warmen Kokon der Glückseligkeit.
Ich will noch nicht, denke ich und lasse meine Augen geschlossen.
Der Morgenduft flutet meine Nase. Der Geruch von meiner Bettwäsche steigt mir in den Sinn. Frisch und klar kitzelt er meine Nase. Dazu erschließt sich eine herbe Note. Ein Geruch von Haut. Warmer, purer, männlicher Haut. Ein kleines Grinsen formt sich auf meinen Lippen.
Meine Ohren erwachen als nächstes. Leise vernehmen sie Schritte außerhalb des Zimmers. Auf dem großen Flur nähern sich leichte Tapsen, gehen an der Tür vorbei und werden wieder leiser. Und da ist da noch etwas. Neben mir, leise Geräusche. Ein sanftes einatmen und leises ausatmen. Es ist schön diese Geräusche zu hören. Ruhig und gelassen wie Meeresrauschen bei Nacht. Nicht störend, eher besänftigend. Jede Sekunde könnte ich mich neu in ihnen verlieren.
Unter meiner weichen, warmen Bettwäsche und mit dem süßen Morgenduft in meiner Nase beflügelt es meinen Geist und ich öffne nun doch meine Augen. Ganz vorsichtig löst sich der Schleier der Benommenheit. Als erstes erbliche ich die Decke. Eine weiße, kalte Zimmerdecke. Zum Glück liege ich in meiner kuscheligen Koje.
Das Zimmer wird erhellt mit klaren, warmen Sonnenstrahlen. Sie fallen durch ein großes Fenster, an denen Schneeweiße Gardinen Hängen. Eine kleine Bewegung meiner Augen, und schon erhasche ich einen Blick aus dem Fenster. Draußen schneit es. So wie die Helligkeit scheint, muss die Sonne durch frisch gefallenen Schnee reflektiert werden. Ein leichter Glanz legt sich auf die Dinge.
Mein Kopf wird ein wenig schwerer und drückt sich tiefer in mein Kissen. Federn pressen sich zusammen und es folgt ein rauschendes Knistern. Ein weiterer Schwung meiner Pupillen und die flauschige Bettwäsche wird sichtbar. Auch diese ist in Weiß gehalten. Aber kein kaltes Weiß. Eher rein und unschuldig. Oder wie neugefallener Schnee, eine Art Wiedergeburt. Ein Neuanfang sozusagen oder vielmehr ein neues Kapitel.
Die friedliche Ruhe umschließt meine Gedanken. Ich schließe erneut meine Augen, lasse mich Fallen. In die Wärme, in den Frieden. Meine Gedanken driften von dannen. An den Tag, an dem mein Glück seinen Anfang nahm…
***
„Ney Neal. Kommst du bald“, rief mir mein beste Freundin entgegen.
„Ja, Sabine. Ganz ruhig“, entgegnete ich ihr.
Es war ein genauso kalter Tag im November. Sabine hatte zu ihrem Geburtstag eine Teilnahme an diesem dämlichen Quiz von ihrem Mann geschenkt bekommen. Da gerade eine Grippewelle rumging, war er aus dem Schneider. Ihn hatte es ganz schön erwischt, so lag der großzügige Schenker zu Hause in seinem Bettchen. Und wer musste wieder einspringen? Der beste Freund.
„Ich will auch einen guten Platz bekommen“, schallte es aus Sabine.
Sie war für solche Events immer zu haben. Ob Karaoke, Mottoparty‘s oder Rollendinner. Sabine machte alles mit und hatte an allem ihrem Spaß. Also war es weniger überraschend, dass sie mich in diese Kneipe drängte. Dort wurde einmal im Monat eine Quiznacht veranstaltet und die Gewinner erwartete eine ganze Nacht Freigetränke. Und so nahm das Elend seinen Lauf.
Sabine schleppte mich in diese stickige Bar. Nachdem mein erster Fuß durch die Tür war, kam mir schon dieser Geruch entgegen. Eine Mischung aus Schnaps und rauchigem Ambiente. Die dunklen Brauntöne, in den die Einrichtung gehalten war, tat ihr übriges.
Sabine und ich suchten unseren Tisch. Wir waren in Block A. Im Block A waren außer uns noch drei andere Teams, welche jeweils aus zwei Leuten bestand. Außerdem gab es noch das Block B, welches ebenfalls aus vier Zweierteams bestand.
Die Regeln waren einfach. Jedes Team hatte eine Klingel vor sich, welche auch auf Rezeptionen steht. Der Moderator las immer eine Frage vor, die aus den verschiedensten Kategorien stammen konnte. Dann hatten die Kandidaten 10 Sekunden Zeit auf die Klingel zu drücken. Dann konnte das Team antworten. Wer als erstes bimmelte und die Frage richtig beantwortete, bekam einen Punkt. Wurde die Frage falsch beantwortet wurde ein Punkt abgezogen. Verstrich die Zeit, ohne dass ein Glöckchen bimmelte, mussten alle Teilnehmer einen Kurzen trinken. Nach 15 Minuten Spielzeit wurde das Team mit den wenigsten Punkten eliminiert. Dann gab es 10 Minuten Pause. Dann wiederholte sich die Prozedur, bis am Ende ein Team übrig war. Zu guter Letzt, traten dann noch das Gewinnerteam aus Block A gegen das Gewinnerteam aus Block B an. Wer dieses Duell für sich entschied, bekam den Gutschein für Freigetränke an einen kompletten Abend seiner Wahl.
Nachdem der Moderator die Regeln erklärte, ging es auch schon los. Wir spielten das Kneipenquiz. Sabine, welche bekannt war, Spiele zu spielen, um zu gewinnen, beförderte unser Team ganz schnell an die Spitze und somit war es wenig verwunderlich, jedenfalls für mich, dass wir nach einer guten Stunde als Gewinnerteam von Block A hervorkamen.
Nun war Block B an der Reihe. Sabine, in absoluter Siegerlaune, feierte ihren Blocksieg ausgiebig. Und ich mittendrin. Somit konnte ich mir nicht einmal die Konkurrenz anschauen. Aber Sabine schien dies egal. Sie feierte und lachte und trank. Ich war da mehr zurückhaltender, ließ mich aber soweit von Sabine mitreißen, dass ich gar nicht mitbekam, wie die Zeit ins Land ging.
Nach anderthalb Stunden rief der Moderator die beiden Gewinnerteams an die Quiztische. Sabine und ich nahmen Platz. Nun konnten wir auch das erste Mal einen Blick auf unsere Konkurrenz werden.
Der Moderator kündigte uns an: „Erfolgreich aus dem Vorentscheid aus Block A …Sabine und Neal!“
Die Leute klatschten uns Beifall.
„Und frisch aus dem Vorentscheid aus Block B …Ulrich und Sebastian!“, rief er und zeigt auf die zwei Männer an dem anderen Tisch.
Nun erblickte auch ich unsere Rivalen. Rechts saß Sebastian. Kleine, schmale Statur. Blond, kurzer Bart und dunkle Brille im Gesicht. Er sah aus, als ob er der kluge von beiden war. Doch als ich Ullrich näher ansah, wurde mir mulmig in der Magengegend. Groß, dunkle Haare, 3-Tage-Bart, haselnussbraune Augen, volle Lippen und ein markantes Kinn. Ein breiter Oberkörper. Keine definierten Muskeln. Eher ein kleiner Bauch, aber genau mein Typ. Sein Lächeln brachte Gletscher zum Schmelzen, aber vor allem pürierte es mein Denkorgan.
Sabine hingegen war wenig angetan. Sie holte uns Punkt um Punkt. Nahm es immer wieder mit den beiden Gegnern auf. Ich gab auch mal ein paar Antworten aber mehr schlecht als Recht. Und dann war es soweit. Nach einer halben Stunde herrschte Gleichstand.
Hier machte der Moderator einen Schnitt. Er erklärte uns, dass die nächste Frage nur einer aus den Teams beantworten durfte. Der Sprecher würde die Frage stellen. Die erste Antwort, die er höre, würde zählen. Wär die Antwort richtig, hätte das Team gewonnen, wär die Antwort falsch, hatte das Team verloren.
Sabine wollte schon losstürmen, da hielt der Moderator sie zurück. Ein Münzwurf würde entscheiden, wer die Frage beantworten müsse. Ja, und wie sollte es auch anders sein. Am Ende stand ich in der Mitte und mir gegenüber stellte sich Ullrich.
Sabines Zähneknirschen konnte ich auf meiner Haut spüren. Ullrichs Blicke durchbohrten mein Inneres. Warum mussten sich diese doofen Schmetterlinge auch jetzt entpuppen und meinen Verstand in die Unendlichkeit befördern. Ein kleines Lächeln von ihm und in meinem Kopf waren meine Gedanken zu kleine Babys geworden, die nur Gugu und Gaga sagen konnte.
Dann kam die Frage: „Welche Planet unseres Sonnensystems ist der sechst naheste zur Sonne?“
Meine Gedanken splitterten in den Stillstand. Für mich gab es in diesem Moment kein Sonnensystem. Selbst die Tatsache, dass unsere Erde eine Scheibe ist, wär mir in diesem Moment eine unwiderrufliche Tatsache gewesen.
Und dann bewegten sich Ullrichs Lippen. Diese vollen, dunklen Lippen formten Buchstaben. Wie in Zeitlupe kam verzerrt ein Wort an mein Ohr.
„Uranus“, konnte ich wahrnehmen.
Der Moderator zog sein Kommentar in die Länge, versuchte Spannung aufzubauen. Doch hinter mir johlte schon Sabine. Da wurde mir bewusst, dass Ullrichs Antwort falsch gewesen sein musste. Gleich darauf bestätige der Sprecher meine Vermutung.
„Leider ist diese Antwort nicht richtig“, bekräftige er meine Theorie, „die Richtige Antwort ist Saturn. Und damit sind die Gewinner Sabine und Neal aus Block A!“
Die Kneipe war erfüllt von klatschendem Beifall und Jubelrufen. Sabine freute sich wie ein Schneekönig. Sie sprang auf und ab. Schrie und grollte.
Ullrich nahm es wie ein Mann, kam zu mir und reichte mir seine Hand.
„Du hast es verdient. Glückwunsch“, gratulierte er mir mit einem festen Händedruck.
„ …Danke“, krächzte ich, da meine Stimme noch in den Tiefen der Klanglosigkeit gefangen war.
„Hey, wenn du mal Lust auf eine Revanche hast? Oder vielleicht mal einen Kaffee?“, lächelte mich Ullrich an.
„Ähm… gern“, wirbelten meine Hirnzellen wie in einem Tornado durcheinander.
„Gibst du mir deine Nummer?“, fragte Ullrich weiter.
Und eh ich mich versah tauschten wir unsere Handynummern. Mit einem zwinkern verabschiedete er sich und ich ging zu Sabine, die in ihrer Siegerstimmung derweil dem ganzen Laden eine Runde spendiert hatte. Wenn das ihr Mann erfahren würde….
Meine Aufmerksamkeit wandert auf die Räumlichkeiten. Ein schönes Hotelzimmer. Die Wände sind schlicht in Weiß gehalten. Decke, sowie die Wände strahlen hell. Rechts und links von unserer Liege befinden sich braune Nachttischschränke. Ihre Holzmaserung sticht durch die hellen Wände besonders hervor. Auf den Tischen finden sich noch die Überbleibsel von letzter Nacht.
Auf meinem sticht eine Vase mit roten Rosen hervor, daneben finden sich ein paar abgebrannte Kerzen. Auf der anderen Seite liegt neben weiteren abgebrannten Kerzen, ein Kühler mit einer leeren Flasche Sekt.
Wo die dazugehörigen Gläser sind, kann ich im Moment nicht sagen. Gab es überhaupt Gläser? Egal.
An der Wand, gegenüber des Fensters steht ein massiver, schwarzer Holzschrank. In der Mitte prangt ein großer Spiegel. Rechts und links befinden sich die Türen. Unten ein paar Schubladen in demselben schwarz. Silberne Griffe und eingravierte Schnörkellinien zieren den massiven Holzkoloss.
Wenn ich über die Stirnseite des Bettes schaue, erkenne ich eine dazugehörige Kommode. Weitere kleinere Kerzen stehen darauf. Gestern haben sie das Zimmer in einen warmen Glanz gehüllt.
Über der Kommode, an der Wand hängt ein großer Flachbildschirm.
Ob ich den Fernseher anmachen sollte?, frage ich mich. Entscheide mich aber schnell für ein klares NEIN. Ich will die Ruhe noch ein wenig genießen.
Über dem Bett hängt ein breites Regal, aber was darauf ist, weiß ich schon gar nicht mehr. In der Situation gestern habe ich einfach nicht daran gedacht.
Doch ein weiteres Highlight befindet sich auf dem Boden. Gerne würde ich einen Blick riskieren, aber meine Motivation fürs Bewegen ist noch nicht so erwacht wie mein Geist. Aber das Bild hat sich in mein Gedächtnis gebrannt. Keine Ahnung wie er das Geschafft hat, aber als wir gestern das Hotelzimmer betraten, lag ein Meer aus Blüten auf dem grauen Teppich.
Zweierlei Sorten von Blüten konnte ich vorfinden. Rosa Tulpenblätter, seine Lieblingsblumen. Und, was die größte Überraschung für mich war, weiße Schneeglöckchen. Wir haben November und dieser Mann zaubert Schneeglöckchen herbei.
Verträumt verfalle ich erneut meinen Gedanken…
***
Zwei Tage nachdem wir unsere Nummer tauschten, klingelte dann endlich mein Handy. Auf den Anruf habe ich sehnlichst gewartet. Schnell war klar, dass wir uns treffen wollten. Zwanglos auf den erwähnten Kaffee. Schnell war ein Termin gefunden. Der nächste Freitag, gegen 16 Uhr in einem Café. Da Montag war, hatte ich genug Zeit mich auf das Date vorzubereiten.
Mein letztes Date war schon Monate her, und ich war aus der Übung. Eigentlich hatte ich nie Talent für solche gesellschaftlichen Bräuche gehabt. Somit musste Sabine herhalten. Sie versuchte, in den paar Tagen alle Möglichkeiten mit mir durchzuspielen und mir Tipps und Tricks zu geben. Sabine konnte schon immer besser mit solchen Sachen umgehen als ich.
Doch Freitagmorgen klingelte dann erneut mein Handy und die Nummer auf dem Display war Ullrich seine.
„Hey Neal“, hörte ich dumpf die Stimme aus dem Hörer.
„Ullrich, ist alles in Ordnung?“, fragte ich, und versuchte mich schon auf eine Abfuhr vorbereiten. Vielleicht hatte er erkannte, welchen Fehler er mit mir machen würde.
„Neal, es tut mir Leid. Können wir unser Date verschieben? Mich hat die Grippe erwischt“, schniefte es von der anderen Seite.
„Aber du möchtest dich trotzdem noch mit mir treffen?“, fragte ich unsicher.
„Natürlich!“, kam es wie aus der Pistole geschossen.
„Wo wohnst du denn?“, fragte ich.
„Nipperstraße 23, wieso?“ kam es fragend zurück. Doch da legte ich schon auf. Ich musste Ullrich einfach sehen. Und einen Menschen kennenzulernen, wenn er krank ist, zeigte mir einen wesentlichen Charakterzug von ihm.
Also ging ich in den nächsten Supermarkt mit angrenzender Apotheke und kaufte ein ‚Neal-Notfallpaket für Grippepatienten‘.
Nach einer guten Stunde stand ich dann in der Straße, vor der Eingangstür. Dabei fiel mir ein, dass ich nicht mal Ullrichs Nachnamen kannte.
Aber das sollte mich nicht hindern. Schnell kramte ich mein Telefon hervor und rief bei meinem Patienten an.
„Ja?“, hüstelte Ullrich in den Hörer.
„Machst du mir auf?“, fragte ich.
„Wie meinen?“, hörte ich die Verunsicherung in der angegriffenen Stimme.
„Na ich steh vor deiner Tür. Habe dir was mitgebracht“, packte ich ein sonniges Lächeln in meine Stimmlage.
Und es klappte. Keine fünf Minuten später stand ich im letzten Obergeschoss vor der Tür.
Ein bleicher Ullrich öffnete mir in Bademantel bekleidet die Tür.
„Darf ich reinkommen?“, fragte ich.
„Du steckst dich nur an.“, entgegnete mir mein Schwarm.
„Keine Sorge. Bin geimpft und abgehärtet“, versicherte ich ihm.
Darauf bat mich Ullrich dann hinein. Ich folgte ihm in seine geschmackvolle, moderne Wohnung. Eine sehr große Wohnung.
Ich ließ mir von Ullrich die Küche zeigen. Schnell packte ich meine Mitbringsel aus und in Null-Komma-Nichts zauberte ich eine nahrhafte Hühnerbrühe. Rasch füllte ich die Suppe in eine Schüssel und brachte sie dem geschwächten Mann. Er hatte sich auf die Couch gelegt, mit einem kalten Waschlappen auf der Stirn und in eine dicke Daunendecke gekuschelt.
Nachdem Ullrich sich aufrappelte aß er schleppend die Suppe. Die Zeit nutzte ich, ihm eine heiße Zitrone zu kochen und seine Wasserschüssel frisch zu wechseln.
Dann bat ich ihm die heiße Zitrone zu trinken. Nachdem auch das erledigt war, verabreichte ich ihm noch eine Paracetamol und kümmerte mich weiterhin, dass es ihm an nichts fehlte.
„Schlechtestes erstes Date der ganzen Menschheitsgeschichte“, krächzte Ullrich.
„Bestes Date aller Zeiten“, versicherte ich ihm.
Ich wartete, bis er einschlief, wechselte weiterhin seinen Stirnlappen und versorgte ihn mit ausreichend Flüssigkeit.
Der Tag verstrich und ich musste auf Arbeit. Doch vorher brachte ich meinen armen Schnuffel, wie ich ihn derweil nannte, ins Bett.
Ullrich bekam davon nicht mehr viel mit. Ich wollte gerade die Wohnung verlassen, da blitzte mir im Flur ein gerahmtes Dokument entgegen. Neugierig warf ich einen Blick darauf.
Ullrich Tegler … Doktor … Astronomie, blitzten mir die Worte in den Verstand.
Ich hatte es hier mit einem Doktor zu tun. Einem Doktor über die Sterne, Planeten und das Weltall. Und der sollte nicht wissen, welchen Planet der sechste von der Sonne ist? Der hat mich einfach gewinnen lassen. Doch verärgert war ich ganz und gar nicht. Ich fand es süß…
Die Atmung der anderen Person in meinem Bett verändert sich. Nicht viel, aber so viel, dass ich weiß, dass er wach ist. Ich drehe meinen Kopf und blicke in seine Augen. Direkt in die Seele des Mannes neben mir.
Diese haselnussbraunen Augen schauen mich direkt an. Gütig und sanft blicken sie in mein Gesicht. Ein leichtes Lächeln umspielt seine Lippen. Kein Wort verlässt seinen Mund. Auch ich schweige. Wir kommunizieren mit unseren Gefühlen.
Mit meinem Daumen, fahre ich die Kontur seines Kinns nach. Danach sanft seine Lippen. Vorsichtig haucht er einen Kuss dagegen. Dann nimmt er seine Hand, führt sich sachte zu meiner und verschränkt unsere Finger miteinander. Wir sind verbunden: körperlich, geistig und seelisch.
Ich fühle mich wohl, meine Gedanken kreisen nur um ihn. Seine Stimme schallt mir in die Gedanken. Der Klang, wenn sie Töne von sich gibt. Nicht nur Wörter. Dieses erleichterte Seufzen, wenn ich ihn im Arm halte. Oder das aggressive Brummen, wenn er sauer ist. Oder das verlegene aufschreien, wenn ihm gerade etwas Peinliches passiert.
Es sind all diese Facetten, die seinen Ton so unwiderstehlich für meine Ohren machen.
Doch jetzt sehen wir uns an und wärend wir seit Tagen das erste Mal richtig friedlich Schweigen ist uns beiden eines klar: Wir bleiben an der Seite des anderen.
Doch auch wenn jetzt alles perfekt scheint, es war nicht immer so. Wie in einer entfernten Welt winkt die Erinnerung an unsere erste Herrausforderung…
***
Ullrich war also ein Doktor der Astronomie. Nicht nur, dass er als angesehener Forscher an einer bekannten Institution seinen Forschungen nachging, er war außerdem ein gern gesehener Gastdozent an der hiesigen Universität.
Ullrich und ich wurden ein paar Wochen nach unserem ersten Date ein Paar. Alles war wie auf rosa Wolken gebettet. Doch umso höher man fliegt, umso tiefer kann man fallen. Und die Welten, die Ullrich und mich trennten, lagen so weit auseinander, dass die Distanz jeden Fall tödlich enden lassen würde.
Anfang war mir das gar nicht so bewusst, und Ullrich schien mit meinem Job auch sehr gut klarzukommen. Die unterschiedlichen Arbeitszeiten stellten auch kein Problem dar. Wir stimmten unsere Leben aufeinander ab. Wie man das halt in einer gesunden Beziehung machen sollte.
Jedenfalls vergingen ein paar Monate und Ullrich wurde von seiner Fakultät zu einer kleinen Feier eingeladen. Ich war sein ‚Plus 1‘ und freute mich riesig, einen weiteren Teil von Ullrichs Welt entdecken zu dürfen.
Also warf ich mich in Schale. Ein schickes hellblaues Hemd, dazu eine dunkelblaue Jeans. Sogar vornehme Schuhe hatte ich mir bei einem Herrenausstatter besorgt. Wie viel Geld man für Schuhe ausgeben konnte, war mir vorher gar nicht bewusst gewesen. Aber Ullrich war es wert.
So kam der Abend und Ullrich holte mich mit seinem Wagen ab. Als ich in das Auto einstieg lächelte mir mein Traumprinz in einem klassischen Anzug entgegen. Binnen Sekunden verwandelte sich mein Outfit von meinem größten Stolz zu einem Kartoffelsack.
Ullrich bemerkte meinen Stimmungsumschwung und versuchte mich zu beruhigen.
„Hey, du sieht in allem tausend Mal besser aus, als jedes Supermodel in dem teuersten Anzug. Außerdem hasse ich diesen Anzug und wünschte, ich könnte mit dir tauschen“, gab er mir einen Kuss und fuhr los.
Also gut. Meine Klamottenauswahl war nun nicht mehr zu ändern. Also musste ich einfach versuchen das Beste aus dem Abend zu machen. Ullrich zu liebe.
Eine halbe Stunde später erreichten wir das Theater. Die Vorstellung hatte bereits begonnen, so mussten Ullrich und ich leise im Dunkeln unseren Sitzplatz suchen.
Nachdem das Stück vorbei war. Führte mich mein Prinz in einen gesonderten Bereich. Hier schien die Feier erst richtig loszugehen. Kellner reichten uns beim Eintreten jeweils ein Glas mit Champagner. Ullrich lehnte dankend ab, er musste immerhin Auto fahren. Er war ja so verantwortungsbewusst. Leider übernahm meine Nervosität die Kontrolle und da trank ich einfach für uns beide mit.
So zwitscherte ich mir das Prickelwasser rein, während wir durch die Gästemenge liefen. Ullrich schien hier jeden zu kennen. Er schüttelte fleißig die Hände und begrüßte die Leute. Alle sahen so wichtig aus, in ihrem schicken Herrenanzügen und den vornehmen Abendkleidern.
Wir blieben an einem Pärchen hängen. Rainer und Kordula, wie mir Ullrich sagte. Ich begrüßte sie. Rainer trug einen Nadelstreifenanzug, der seine Figur exzellent betonte. Seine Frau Kordula ein elegantes, smaragdgrünes Cocktailkleid.
Erst schienen die beiden mich gänzlich zu ignorieren, was mich noch weiter ärgerte und meinen Alkoholkonsum nicht minderte. Doch dann nippte die Dame vornehm an ihrem Gläschen. Die Tropfen perlten von der Glaswand und ihr Blick fixierte mich. Er sagte alles und sollte schnell klarstellen, dass ich ein unterwürfiger Wurm in ihren Augen war.
„So und sie sind also der berühmte Neal Strauss.“, wurde ihre Stimme beunruhigend hoch, „Was machen sie denn so beruflich.“
„Ich arbeite an der Kunsthochschule“, antwortete ich ihr mit zitternder Stimme.
„Oh, sie Unterrichten?“, schaute die Frau überrascht.
Ullrich nahm meine Hand und drückte sie fest. Er wollte mir damit signalisieren, dass es OK ist, dass er bei mir steht, mich unterstützt und für mich da ist.
Dankend nahm ich seine Kraft an und antwortete der versnoppten Frau: „Ich arbeite jede erste und dritte Woche im Monat im Hausmeisterteam und jede zweite und vierte Woche in der Mensa als Küchenhülfe.“
„Oh“, war das einzige was der Frau aus der Kehle kam und schon ignorierte sie mich wieder und wendete sich Ullrich zu.
Das war mir zu viel. Ich ließ Ullrichs Hand, entschuldigte mich murmelt bei ihm und flüchtete nach draußen. Auf meinem Fluchtweg rempelte ich einen Kellner um. Der Alkohol schien seine Wirkung entfaltet zu haben. Die Gläser klirrten auf den Boden. Aber ich lief weiter. Einfach raus. Raus aus dieser Welt, aus Ullrichs Welt.
Draußen viel mir dann auf, dass meine Beine nicht mehr in der Lage waren mich nach Hause zu bringen. Die Welt drehte sich. Alles war Nacht. Der Himmel war dunkel, die Laternen strahlten nicht annähernd genug Licht und meine persönliche Sonne hatte ich gerade vor seinen Leuten so dermaßen blamiert, wer könnte ihm verübeln, wenn er mich nie mehr sehen wollte.
Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Aus meinen Augen brannten sich die Tränen. Eine heiße Spur salziger Flüssigkeit rann meine Wangen hinunter. Wimmernde Schluchzer krächzten aus meiner Kehle. Meine Beine gaben endgültig nach. Ich brach auf der Straße zusammen. Meine nackte Hand presste sich auf den dreckigen Bordstein. Kleine Steine pickten wie tausend Nadelstiche.
Noch vor ein paar Minuten lag die Hand noch schützend in der von Ullrich und nun küsst sie den Boden, den sie nicht wert war zu berühren.
Doch da legten sich schützend ein paar Hände an meinen Rücken. Sanft drückten sie meine Schulter. Ich drehte mich um und da war es: das Gesicht von Ullrich. Es zierte ein Lächeln und strahlte so viel Verständnis und Wärme aus.
Meine Tränen versiegten, mein Schluchzen verstummte. Ich presste meinen Körper so fest an Ullrich seinen, als ob ich mich in ihm verkriechen könnte. Wie ein Kängurujunges, das in den schützenden Beutel seiner Mutter halt sucht.
„Lass uns fahren“, flüsterte Ullrich an mein Ohr.
„Aber…“, versuchte ich zu wiedersprechen. Ich wollte nicht der Grund sein, dass sich Ullrich zwischen zwei Welten entscheiden musste.
„Aber…“, wiederholte Ullrich meine Worte um mich zu unterbrechen, „… ich liebe dich.“
Er hatte sich schon längst entschieden. Erneut schossen mir Tränen in die Augen. Aber diesmal nicht aus Trauer, sondern aus tiefster Glückseligkeit…
Ein zarter Hauch holt mich wieder aus den Gedanken. Noch immer ist es still in unserem Reich. So still, als ob man in den endlosen Weiten des Weltraums treiben würde. Nur dort ist man Einsam. Hier haben wir uns. Zusammen sind wir stark. Haben alles gemeistert. Unsere Liebe macht uns zu einer Einheit.
Sacht streichle ich mit meinem Daumen über seinen Daumen. Ich schließe meine Augen. Denke, dass dieser Moment nur ein Traum wär. Ich würde nie wieder aufwachen wollen. Noch einmal lasse ich alles auf mich wirken. Die Wärme unter der Bettdecke ummantelt mich. Die Stille im Zimmer beruhigt meinen Geist. Die Kraft, die ich durch den Kontakt mit dem Menschen neben mir bekomme fließt durch meinen Körper. Jede Faser ist erfüllt von Glück und Zufriedenheit.
Sacht kann ich Wärme spüren, sie kommt immer näher an mein Gesicht. Der sachte Atem haucht mich an. Ich höre das Rascheln des Kopfkissens. Und dann spüre ich einen sachten Kuss auf meinem Mund. Wie eine Brise über einer Frühlingswiese, ein zarter Flügelschlag eines Schmetterlings oder eine Schneeflocke, die zaghaft zu Boden gleitet.
Flatternd öffne ich die Augen. Schon treffen sich wieder unsere Blicke, wir verschmelzen für eine Ewigkeit, die nur eine Mikrosekunde anhält.
Denn schon lassen die Lippen von mir ab. Auf meinem Mund zeichnet sich ein Lächeln ab und auch die Mundwinkel gegenüber blitzen nach oben.
Noch einmal nehme ich alles in mich auf: Wärme, Schutz, Glück, Geborgenheit.
Dann richte ich mich auf. Die Decke gleitet von meinem Körper. Die Daunen rascheln und knistern. Ich ziehe meine Beine hervor und lasse sie über die Bettkante gleiten. Meine Arme wandern nach oben und mit einem langen saufzer strecke ich mich. Dann stehe ich auf.
Mein Körper geht ein paar kleine Schritte. Meine Hände strecken sich suchend nach dem silbrigen Gestell, das um der Ecke steht. Sie greifen danach und ziehen das silbrige Metall hervor.
Während sich die Rollen bewegen und in Richtung andere Bettseite bewegen, richtet sich der Oberkörper des Mannes in meinem Bett auf. Die Zeit scheint in Zeitlupe zu laufen und ich denke an den Tag zurück, welcher der schönste und zugleich der schlimmste Tag in meinem Leben war…
***
Ich schaute an mir runter.
Nur dieser Mann kann es schaffen, mich in solch eine Hose zu bringen, wunderte ich mich in Gedanken noch immer über meinen Aufzug.
Ein weißer Anzug zierte meinen Körper. Weiße Schuhe, weiße Hose, weißes Hemd, weißes Sakko. Der einzige Tag, in dem ich solch ein Outfit trug. Und der letzte, an dem ich weiß an hatte.
Ich stand also in diesem Gewölbe von Steinen. Vor mir eine riesige, hölzerne Tür. Hinter mir erhellte die Sonne einen wunderschönen Garten in dem mittig ein Steinweg zur Straße führte. Es hätte mich keine Mühe gekostet, meinen Körper zu drehen und zurück zu laufen, wegzulaufen.
Doch nichts da. Hinter mir lag meine Vergangenheit, vor mir lag die Zukunft. Also öffnete ich die riesigen Holztore. Mit einem lauten knarzen schoben sich die braunen Kolosse zur Seite. Kaum war das Hindernis aus dem Weg geräumt, ertönte die Musik. Eine Orgel stimmte in tiefen Klängen das Lied an, welches ich nie in solch einer Situation für mich gedacht hätte.
Es erklang der Hochzeitsmarsch. Ja, ich war auf einer Hochzeit. Um genauer zu sein, auf meiner Hochzeit.
Rechts und links sah ich, wie sich die Gäste von den hölzernen Bänken erhoben. Ullrichs Familie und Freunde, gemischt mit meiner Familie und Freunden. Rainer und Kordula waren nicht eingeladen.
Alle Augenpaare richteten sich auf mich. Ich überflog rasch die Gesichter. Überall erkannte ich nur Freundlichkeit und die besten Glückwünsche. Als mein Blick Sabine traf, kommentierte sie es mit einem lauten: „Wooohoooo!!!“
Es war mir nicht peinlich. So kannte ich sie und so liebte ich sie.
Nachdem das erledigt war, fixierte ich den Mann, der vorne vor dem Altar stand. Ullrich, ebenso in glänzendem Weiß gehüllt, wie ich. Nur sah er natürlich noch viel besser aus.
Seine Haselnussaugen glänzten mich an. Seine dunklen Lippen zeigten mir das schönste Lächeln was sie hatten und sein Herz strahlte heller als tausend Sonnen.
Wie auf Wolken schwebte ich zum Altar. Ein Schritt nach dem anderen. Der Gang dauerte gefühlt ein paar Stunden. Doch zu schnell war er vorbei und ich stand neben meinem geliebten Menschen.
Der Priester fing mit seiner Rede an. Ich verstand nur vereinzelte Wortfetzen, denn mein Geist war Abgelenkt. Ullrich vor Gott zu meinem Ehemann zu nehmen flashte mich weg. Einzelne Glückwünsche konnte ich vernehmen. Kurze Anekdoten aus unserem Leben. Nennung von unseren Unterschiedlichen Welten und wie wir sie zu einer Verschmolzen. Und die Tatsache, dass wir das erste gleichgeschlechtliche Paar in Deutschland waren, das sich vor Gott, und mit der kirchlichen Zustimmung das Ja-Wort geben durfte.
Ein ungemein berauschendes Erlebnis.
„Wollen sie, Herr Neal Strauss, den hier anwesenden Herr Dr. Ullrich Tegler zu ihrem angetrauten Ehemann nehmen? Ihn Lieben und Ehren, in guten, wie in schlechten Tage, bis das der Tod euch scheidet?“, fragte mich der Priester.
„Ja, ich will“, antwortete ich ihm, sah aber nur Ullrich an. Eine winzige Träne stahl sich aus meinem Auge.
„Und wollen sie, Herr Dr. Ullrich Tegler, den hier anwesenden Herr Neal Strauss zu ihrem angetrauten Ehemann nehmen? Ihn Lieben und Ehren, in guten, wie in schlechten Tage, bis das der Tod euch scheidet?“, war nun Ullrich dran die Frage aller Fragen zu beantworten.
„Ja, das will ich“, antwortete ihm Ullrich und ich konnte nicht mehr an mich halten. Die Freudentränen tropften mir von der Nase.
„Wenn einer der hier Anwesenden etwas gegen die kirchliche Verbindung der hier stehenden Männer hat, so soll er jetzt reden oder für immer schweigen“, wand sich der Zeremonienmeister nun an das Publikum.
Totenstille. Man hätte eine Nadel fallen gehört. Ich glaubte sogar, manche würden den Atem anhalten, nur um nicht ausversehen einen Ton von sich zu geben.
„Das dachte ich mir“, witzelte der Priester, „somit erkläre ich euch hiermit zu Ehemann und Ehemann. Sie dürfen sich jetzt küssen.
Oh und das taten wir. Ich dachte sogar, Sabine hätte vom Zusehen einen Orgasmus gehabt, so wie sie seufzte, stöhnte und jubelte.
Und dann nahm ich meinen Ehemann an die Hand. Wir verschränkten unsere Finger und richteten uns zur Tür. Die Menge applaudierte und jubelte. Langsam schritten wir den Gang entlang. Im Schoße unserer engsten Freunde und der liebsten Familie traten wir als Ehepaar den Weg in unsere Zukunft an.
Am Ende des festlich dekorierten Pfades waren wieder die großen Holztor. Doch zu zweit gingen sie leichter auf denn je. Draußen standen weitere Freunde und Kollegen. Klassisch bewarfen sie uns mit Reis, riefen uns Glückwünsche zu und klatschen Beifall.
Unser Glück war perfekt. Somit schritten wir durch den Garten in Richtung Zukunft. Draußen wartete schon eine Limousine, die uns zu unserem Hotel bringen würde. Dort sollte unsere Hochzeitsfeier stattfinden. Eine eigene Suite war auch für uns reserviert. Für die Hochzeitsnacht, welche ich schon voller Sehnsucht erwartete.
Am Ende des Gartens angekommen, trennte uns nur noch der Bordstein von dem weißen, langen Gefährt. Hinter uns die Menschen die uns liebten und vor uns lag die Welt offen.
Plötzlich kamen aus dem nichts eine kleine Gruppe Menschen gerannt. Sie brüllten und hielten Schilder nach oben. Hassparolen, welche uns mit der Hölle drohten. Ein paar Sicherheitsleute, welche wir für einen Notfall wie diesen engagierten, eilten ebenso herbei. Sie versuchten die Meute in Schach zu halten. Ebenso kamen unsere Familien und versuchten uns zu helfen. Es entstand ein Menschengemenge. Panik stieg in mir hoch.
Und plötzlich sah ich ihn. Einen Mann. Er flutschte einfach durch die Menschen. In seinem Blick erkannte ich Wut und Wahnsinn. Ullrich sah ihn ebenfalls. Da zückte der Angreifer auch schon ein Messer aus der Tasche. Ullrich trat vor mich, schlang seine Arme um mich und hielt mich schützend im Arm.
Dann riss er seine Augen auf. Sein Gesicht wurde kreidebleich und aus seinem Mundwinkel tropfte roter, dickflüssiger Saft.
Dumpf höre ich mich noch seinen Namen rufen, sehe ihn zu Boden sinken. Rieche den Schweiß, das Kupfer, die Angst. Auf dem weißen Anzug bildete sich ein roter Fleck. Er wurde immer größer und auf dem Bordstein bildete sich eine Blutlache.
Meine Welt zerbrach. Just in dem Moment fingen die Hochzeitsglocken an zu leuten. Dem Glöckner traf keine Schuld, woher sollte er auch wissen, dass sein Timing das denkbar schlechteste der Welt war. Doch es war wie ein makabrer Scherz des Universums. Alles verschwamm, meine Sicht verzerrte sich. Mein Kopf war leer und explodierte zugleich. Die Stimmen der Menschen hallten Dumpf, wie aus einer fernen Welt und dann ertönten die Sirenen…
Liebevoll helfe ich Ullrich auf. Wie ich, hat er nackt geschlafen. Also suche ich seine Boxershort und ziehe sie im an. Dann rolle ich den Rollstuhl an sein Bett und helfe ihn, sich hineinzusetzten.
Nach einem Jahr Reha, aber vor allem ein Jahr der Angst, der Wut, der Verzweiflung, des Hassens und des Liebens konnten wir nun endlich unsere Hochzeitsnacht vollziehen. Der Angreifer erwischte Ullrichs Wirbelsäule. Seit diesem Zeitpunkt kann er seine Beine nicht mehr bewegen. Doch ich bin einfach nur jeden Tag dankbar, dass er lebt.
Das Teil zwischen seinen Beinen funktioniert aber noch, wie er es gestern äußerst erfolgreich bewiesen hat.
Langsam beuge ich mich zu ihm runter.
„In guten, wie in schlechten Tagen. Für immer“, sehe ich meinem Mann in die Augen.
„Danke“, ist nun Ullrich dran seinen Gefühlen und den Tränen freien Lauf zu lassen, „danke für alles, Neal.“
ENDE
Text: Rolf Weller
Images: Bookrix
Editing: unlektoriert
Publication Date: 12-04-2015
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