Bye, bye, Kalifornien!
Bloß weg hier!
Ich werde dich nicht vermissen!
Keinen hier!
Na ja, höchstens meine Familie.
Es ist wirklich erstaunlich, wie leicht mir der Abschied aus meiner Heimat fällt. Rauf auf die Landstraße, durch das platte Land mit grasenden Kühen, unterbrochen von Korn- oder Maisfeldern. Man kann morgens schon sehen, wer nachmittags zu Besuch kommt – wirklich öde. Doch am Horizont blitzt die Sonne zwischen die Wolken.
Bloß weg von dieser lahmarschigen Küste, an der es viel zu viel regnet. Auf, Richtung Süden!
Dort ist nicht nur das Wetter besser, die Menschen sind auch freundlicher. Überhaupt, das Leben ist dort leichter. Vor allen Dingen, weil ich dort Jan nicht mehr begegnen muss.
Jan.
Dieser Mistkerl!
Wieso schleicht er sich bei jeder Gelegenheit in meine Gedanken?
Das muss aufhören!
Warum hat er mir das nur angetan? Meine Kehle schwillt zu, Tränen steigen auf.
Nein! Nicht schon wieder! Mein Make-up verläuft doch!
Ich halte am Fahrbahnrand und lasse die Scheibe herunter. Der raue Wind bläst ein wenig vom Nieselregen herein und kühlt meinen erhitzten Kopf.
Obwohl es gerade angenehm ist, das norddeutsche Schietwetter werde ich auch nicht vermissen …
Verzweifelt schließe ich die Augen und schlucke den Ärger herunter.
Mann, Mann, Mann! Ich bin echt eine Heulsuse.
Aber was soll’s. Wenigstens eine Sache habe ich richtig gemacht. Ich habe mich auf diese Stelle beworben. Noch vor kurzem wäre sie mir viel zu weit weg gewesen, auch wenn sie verdammt verlockend klang. Wahrscheinlich habe ich irgendwie geahnt, dass da was in der Beziehung zwischen Jan und mir gewaltig schiefläuft.
Egal, ich werde alles hinter mir lassen.
Jetzt bin ich zum Vorstellungsgespräch eingeladen und werde mir den Job schnappen. Noch nie in meinem Leben wollte ich etwas mehr als das. Ich habe mich vorbereitet, aber so was von … Meine Mitbewerber können sich schon mal warm anziehen.
Ich schlucke. Ich bin höllisch aufgeregt, mein Kopf ist leergefegt. Was versuche ich mir da eigentlich vorzumachen?
Verdammt. Es muss einfach klappen!
Inzwischen habe ich die Autobahn erreicht, die Fahrt wird ruhiger. Jetzt kann ich alle Standardfragen für ein Bewerbungsgespräch noch einmal durchgehen:
Erstens: Erzählen Sie etwas über sich.
Natürlich werde ich niemanden hinter die Fassade blicken lassen. Ich bin die perfekte Arbeitnehmerin – versteht sich.
Zweitens: Warum haben Sie sich bei uns beworben?
Meine Hausaufgaben über das Unternehmen habe ich mehr als gründlich gemacht. Ich kenne die Anforderungen in allen Facetten. Natürlich erwarte ich keinen Nine-to-five-Job – versteht sich.
Drittens: Aus welchem Grund wollen Sie Ihren derzeitigen Arbeitgeber verlassen?
Ich suche natürlich eine neue Herausforderung, weil mich die alte nicht mehr genug reizt und ich werde so was von durchstarten. Auf zu neuen Ufern!
Viertens: Was wissen Sie über unsere Firma?
Laut Internet stellt sich die GET SMARTER GmbH & Co. KG als Teil der GET SMARTER-Group dar. Ein kreatives Start-up-Unternehmen mit einem ausgesuchten, kleinen Team auf Augenhöhe. Deshalb sind auch keine Bilder der Führungskräfte auf der Homepage zu finden, sondern nur ein großes Gruppenfoto. Das macht die Firma sympathischer. Wahrscheinlich wird es dort auch nicht so einen narzisstischen Chef geben, wie ich ihn bisher ertragen musste.
Wird schon …
Obwohl ich das Vorstellungsgespräch im Kopf schon zig mal durchgekaut habe, kreisen meine Gedanken während der ganzen Fahrt um das Thema. Hoffentlich kommt spontan auch die richtige Antwort, wenn ich sie benötige.
Ach, es wird schon werden.
Es muss einfach klappen!
Mein Gott, bin ich aufgeregt!
So aufgeregt, dass ich die Anweisungen meines Handys nicht richtig verstehe. Ich kurve verwirrt durch die Straßen der mir unbekannten Stadt, bis ich endlich den Schriftzug der Firma an einem Gebäude entdecke.
Meine Finger sind schweißnass, denn ich bin spät dran, als ich auf den Parkplatz fahre. Er ist voll. Verdammt, hoffentlich sind das nicht alles Mitbewerber. Wie viele Leute sind wohl vor mir dran?
Kurz vor dem Eingang finde ich endlich einen freien Platz. Die Parkbucht ist mit Anstaltsleitung beschriftet. Was ist das denn für ein schräger Verein? Wenn dort nicht der Firmenname GET SMARTER dabeistehen würde, hätte ich Zweifel, ob ich hier richtig bin.
Auf dem zweiten Parkplatz, mit derselben Aufschrift, steht ein Smart mit dem Firmenlogo. Ich werde skeptisch. Womöglich sind die hier gekünstelt locker oder das Gegenteil ist der Fall. Okay, das kann ich nur herausfinden, wenn ich reingehe. Der Manager, dem der freie Platz gehört, scheint nicht da zu sein. Er ist mir bestimmt nicht böse, wenn ich ihn kurzzeitig benutze.
Ich habe den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da schneidet mich ein Mann auf einem Fahrrad darauf und stellt sein Vehikel mitten auf dem Parkplatz ab. Er trägt Jeans und T-Shirt. Das kann unmöglich ein Chef sein! Was für ein Arsch! Warum benutzt er ausgerechnet den reservierten Parkplatz?
Unbeeindruckt davon, dass ich mit laufendem Motor vor der Parklücke stehe, schließt der sportlich aussehende Typ sein Fahrrad ab. Als er sich aufrichtet und mich durch meine Windschutzscheibe mustert, stockt kurz mein Atem. Nicht nur, weil er mit den dunklen, nach hinten frisierten Haaren, dem kantigen Kinn und den tiefblauen Augen ziemlich gut aussieht, sondern weil er mich an irgendjemanden erinnert.
Aber an wen?
Sein hübsches Gesicht wird von einer dicken Nerdbrille dominiert. Den nerdigen Eindruck komplettiert sein T-Shirt, das er trägt. Ich war normal, bevor ich Informatiker wurde, steht darauf.
Arbeitet der etwa hier?
Der Kerl sagt etwas und stutzt plötzlich.
Verdattert kurble ich die Scheibe herunter. »Bitte, was?«
Wieder stockt mein Atem. Unsere Augen verbinden sich für den Bruchteil einer Sekunde. Was ist das denn? Verwirrt atme ich durch. Das fehlt gerade noch, dass ich mich am ersten Tag in so einen schrägen Vogel vergucke.
»Ich hatte gefragt, ob alles in Ordnung ist«, erklärt er.
»Ja … nein«, stammle ich.
»Kann ich dir helfen?«
»Ich komme zu spät.«
Der Typ nickt. »Ach so, dabei kann ich natürlich nicht helfen.«
»Wie meinen?«
»Na, beim Zuspätkommen.«
Als er grinst, werden zwei Grübchen sichtbar. Wenn ich nicht so nervös wäre, würde mich das charmante Lächeln sofort locker werden lassen.
Ich will mich aber nicht entspannen! Ich muss mich konzentrieren!
»Sehr witzig. Wem gehört der Parkplatz, auf dem du dich breitgemacht hast?«, gebe ich zurück.
Er sieht zu seinem Rad und zuckt mit den Schultern. »Der Firma?«
»Warum stellst du es genau so hin, dass es den ganzen Platz wegnimmt?«
»Warum nicht?«
Wieder dieses verdammte Lächeln. Ich muss einfach zurücklächeln, obwohl er mir den letzten Nerv raubt.
»Kannst du es nicht da hinten in den Fahrradständer stellen?«, bitte ich ihn.
»Klar«, sagt er und wendet sich ab.
Will er etwa gehen? »Ist das dein Ernst?«
»Pardon?«
»Ich dachte, du stellst das Rad weg.«
»Warum?« Er zuckt mit den Schultern. »Du hast nur gefragt, ob ich es kann.«
Auweia! Ich lächle zuckersüß. »Weil ich dich darum bitte?«
Der Fremde hebt die Brauen. »Ach, so ist das. Na dann sag das doch gleich. Nur sprechenden Menschen kann geholfen werden.«
Genervt unterdrücke ich ein Stöhnen. »Stellst du es dann bitte in den Ständer dort drüben? Ich komme zu spät zum Vorstellungsgespräch.«
Sein Grinsen wird breiter. »Aha. Na, wenn du mich so lieb bittest, mach ich es gerne. Ich komm übrigens auch zu spät.«
Meine Gedanken rotieren, während ich ihm beim Umstellen seines Drahtesels zusehe. Könnte er mein Konkurrent sein? Auf einmal fühle ich mich ein bisschen überlegen. So ein Shirt trägt man doch nicht zum Vorstellungsgespräch! Aber möglicherweise hat er schwer was drauf und kann sich so ein Outfit leisten. Warum hat er keine Tasche mit Unterlagen dabei? Nein, er kann kein Konkurrent sein, vielleicht irgendeine Aushilfe.
»Jetzt fahr schon rein, sonst kommst du wirklich noch zu spät«, holt er mich aus meinen Gedanken.
Während ich in meinem Kopf noch nach der passenden Antwort krame, verschwindet er im Firmengebäude. Ob er der Facilitiymanager ist? Aber warum trägt er dann ein Informatiker-Shirt? Na ja, wahrscheinlich ist er einer der EDV-Fuzzis, die müssen sich ja nicht schick machen.
Erleichtert kombiniere ich nach einiger Zeit, dass die Firma wahrscheinlich auch noch eine Stelle für so einen Compi-Freak ausgeschrieben hat. Ich sehe aufs Handy. Jetzt muss ich mich wirklich beeilen. Schnell steige ich aus und mache mich auf den Weg zum Eingang.
Mein Puls rast, trotzdem nehme ich mir die Zeit und kontrolliere kurz mein Outfit in der spiegelnden Glastür. Ich habe mich dazu entschlossen, meine langen blonden Haare zu einem Dutt zusammenzubinden. Gute Entscheidung, das sieht sehr seriös aus. Mein Make-up ist auch gut so. Ich habe nur dünne Wimperntusche aufgelegt und auf Lippenstift verzichtet.
Als ich den Eingangsbereich betrete, ist mir sofort klar, dass hier ein sehr legeres Klima herrscht. Hinter der Theke sitzt ein junger Schnösel mit blonden Engelslocken und Babyface. Leon steht auf seinem Namensschild. Ich vermute, er ist ein Praktikant. Leon trägt ein schwarzes Shirt, auf dem Rechenzentrum steht, darüber sind bunte Abbildungen verschiedener Harken und Laubbesen.
Rechenzentrum – haha, sehr witzig.
Was ist das nur für ein schräger Laden, in dem man so empfangen wird?
Jetzt wäre noch Zeit, zu flüchten, schießt es mir durch den Kopf. Doch ich bin ja gerade erst aus Kalifornien geflüchtet! Nein! Ich werde mich nicht irritieren lassen. Ich zieh das durch!
»Guten Tag«, begrüßt mich Leon.
»Moin«, antworte ich gehetzt, erst da wird mir klar, dass man sich hier gar nicht so begrüßt.
»Alles in Ordnung?«, fragt der Schnulli.
»Ist das ein Code?«, entfährt es mir.
»Hä?«
»Das war ein missglückter Witz, entschuldige.«
»Komischer Humor«, brummelt er.
Dann setzt er plötzlich ein Zahnpastalächeln auf. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Luise Schmidt, ich habe ein Vorstellungsgespräch.«
Er nickt. »Okay, den Gang runter, letzte Tür«, murmelt er, während er in eine Richtung zeigt. Danach sieht er sofort wieder auf seinen Bildschirm.
Noch kann ich flüchten!
Nein, kommt nicht infrage, ich habe mich so über das Vorstellungsgespräch gefreut und jetzt ziehe ich das durch! Meine Absätze klacken über den schwarzglänzenden Fliesenboden, als ich mit festem Schritt den Gang entlanggehe.
»Ja, bitte«, höre ich, als ich an die Tür klopfe.
Merkwürdig, eine ganz normale Antwort auf ein Klopfen. Irgendwie habe ich mich wohl auf etwas Schrägeres vorbereitet.
Ich trete ein. »Guten Tag. Luise Schmidt, ich habe ein Vorst…«
»Hallo, Luise! Schön, dich kennenzulernen«, begrüßt mich der Radfahrer von eben.
Ich schlucke. Das kann doch nicht wahr sein!
»Ich bin Paul«, stellt er sich vor. »Und das ist unser Firmenchef Ben.«
Er zeigt auf einen weiteren Typen, der ziemlich jung für einen Chef aussieht. Und seit wann stellt der Mitarbeiter den Chef vor?
»Paul wird dein Vorgesetzter, wenn wir uns einig werden«, löst Ben das Rätsel auf.
Na ja, es ist ja ein Start-up. Hier sind bestimmt alle total locker.
Ich versuche, ein Kopfschütteln zu unterdrücken, als ich Bens T-Shirt Aufdruck entziffere: Ein Chef ist wie ein normaler Mensch – nur smarter. Die Worte Chef und smarter sind so groß geschrieben, dass sie sich mir regelrecht in die Netzhaut brennen.
»Gefällt dir das Shirt? Das Wortspiel mit dem Firmennamen ist eine eigene Kreation«, verkündet Ben stolz.
Werbefirma, Luise! »Ähm … ja, sehr kreativ … und witzig«, antworte ich verdattert.
»Setz dich doch«, fordert mich Paul auf und zeigt mit der flachen Hand vor sich.
Ich stolpere zum freien Stuhl, der vor dem riesigen Schreibtisch steht. Die beiden Freaks mustern mich eingehend. Ob das ein Resilienztest ist? Widerstandsfähigkeit ist ja heutzutage wahnsinnig wichtig. Ich merke, ich kann mich nicht auf alles vorbereiten, was in so einem Vorstellungsgespräch auf mich zukommen kann. Natürlich macht mich das noch nervöser. Um mich abzulenken, krame ich die Bewerbungsmappe aus der Tasche, lege sie auf den Tisch und schiebe sie in Richtung meiner Gesprächspartner.
»Vergiss den ganzen üblichen Kram, wir sind keine normale Firma«, murmelt Paul.
Er nimmt die Mappe und wirft noch nicht einmal einen Blick darauf, bevor er sie zu Ben schiebt.
Ich lächle freundlich. Die Tatsache, dass das hier keine normale Firma ist, ist mir nicht entgangen.
Ben sieht nur flüchtig auf die Bewerbung. »Du kommst aus Kalifornien in Schleswig-Holstein?«
»Ja, ein winziger Ort an der Ostsee, nur circa einen Kilometer von Brasilien entfernt«, witzle ich, um genauso locker rüberzukommen wie meine Gesprächspartner.
»Echt jetzt?«, fragen die beiden im Chor.
Ich nicke. »Ja, dort gibt es mehrere solcher Orte mit Namen, wie Grönland, England oder Russland.«
»Schräg.« Die beiden lachen, während Ben die Bewerbung wieder zu mir zurück schiebt.
Ich muss unverständlich gucken, denn offensichtlich fühlt er sich zu einer Erklärung genötigt.
»Bla bla bla, da steht sowieso nicht das drin, was wir brauchen.«
Mit zusammengepressten Lippen nicke ich.
»Wie kommt es zu so schrägen Ortsnamen?«, erkundigt sich Paul.
»Keine Ahnung. Grön ist Plattdeutsch, bedeutet Grün. Eng ist dänisch und bedeutet Wiese. Vielleicht hat es damit zu tun.«
»Und was heißt Kalifornien auf platt?«
Was ist das für ein Vorstellungsgespräch? »Ähm … weiß nicht … California?«, antworte ich irritiert.
»Immerhin gibt sie es zu, wenn sie etwas nicht weiß«, sagt Ben zu Paul.
Der nickt wichtig. »Du weißt nicht, wie es zu den Ortsnamen gekommen ist?«
Ich krame fieberhaft in meinem Hirn. »Das hat die Gemeinde wohl einem Fischer zu verdanken, der vor etwa dreihundert Jahren Wrackteile eines Segelbootes vor dem Schönberger Strand entdeckt hat. Er holte die Planken aus dem Wasser. Auf einem der Bretter stand California, vermutlich der Name des Schiffes. Der Fischer dekorierte seine Hütte mit dem Brett und nagelte es über seinen Eingang. Ein neidischer Nachbar machte es nach und schrieb Brasilien über seine Fischerhütte. Aus diesem Scherz entwickelten sich schließlich die Namen der Ortsteile«, erinnere ich mich vage.
»Tolle Geschichte«, bemerkt Paul.
»Also sind es Ortsteile von Schönberg«, hakt Ben nach.
»Jupp, aber immerhin mit einem eigenen Ortsschild. Ist sicher auch ein Gag für die Touristen.«
»Wie groß ist denn der Ort?«, fragt Paul.
»Keine Ahnung, müsste ich googeln.«
»Hab schon«, sagt Ben und sieht auf seinen Bildschirm. »Hier steht: Heute leben in Kalifornien vierhundertsechsundzwanzig und in Brasilien neunzehn Einwohner.«
»Haha, neunzehn Einwohner in Brasilien«, amüsiert sich Paul.
»Mit eigenem Ortsschild – versteht sich«, ergänze ich schmunzelnd. »Aber was hat das jetzt mit meiner Bewerbung zu tun?«
»Gute Frage«, erwidert Ben. »Sagen wir, wir sind keine normale Firma, deshalb führen wir auch keine normalen Bewerbungsgespräche.«
»Wir brauchen spezielle Mitarbeiter, mit speziellen Eigenschaften«, sagt Paul.
»Selbstredend«, entfährt es mir.
»Genau. Talente die … sagen wir … unsere ergänzen«, führt Ben weiter aus.
»Aha«, antworte ich befremdet. »Die da wären?«
Paul lehnt sich zurück und legt die Fingerspitzen aufeinander. »Aaaalso. Wir sind Männer und deshalb beherrschen wir Frauenlogik nicht. Leider sind die Algorithmen, die in den sozialen Medien generiert werden … manchmal zu verwirrend.«
»Sagen wir, zu unlogisch. Wir brauchen eine Frau, die Bauchentscheidungen nachvollziehbar macht und nicht mit ihren Gefühlen hinter den Berg hält«, erklärt Ben weiter.
Ich schnappe unauffällig nach Luft und erinnere mich an mein Mantra:
Ich lass mich nicht irritieren. Ich lass mich nicht irritieren. Ich lass mich nicht irritieren.
»Dann bin ich ja genau richtig«, gebe ich so cool wie möglich vor.
»Möglicherweise. Wir haben auf jeden Fall schon gemerkt, dass nicht jede Frau mit uns klarkommt.«
Oh Mann, ich ahne Schlimmes, aber ich brauche diese Stelle! Leider gab es nicht gerade viel Auswahl bei meiner Qualifikation und diese Ausschreibung klang perfekt. So leicht lasse ich mich nicht kleinkriegen.
Solche Typen schlägt man am besten mit ihren eigenen Waffen. »Okay … Wie soll ich es beweisen?«
»Was?«, fragt Ben verblüfft.
»Dass ich mit euch klarkomme.«
»Nenne die sieben Todsünden«, fordert Paul.
»Waaas?«, entfährt es mir.
»Die kennst du nicht?«, fragt Ben überrascht.
Bei meiner Vorbereitung auf das Vorstellungsgespräch habe ich schon von Fragen gehört, die den Bewerber aus dem Konzept bringen sollen. Damit soll die Belastbarkeit getestet werden. In dem Artikel wurde spekuliert, dass so etwas meistens von narzisstischen Persönlichkeiten gefordert wird, die in der Chefetage leider nicht selten sind. Aber – bei aller Liebe – Narzissten habe ich mir anders vorgestellt. Ich mache das Spiel einfach mal mit.
»Mord?«, spekuliere ich ins Blaue.
»Was Mord? Wie kommst du da drauf? Mord ist keine Todsünde«, erklärt Ben.
»Klar ist Mord eine Todsünde. Mit Todsünde werden in der katholischen Kirche besonders schwerwiegende Arten der Sünde bezeichnet, durch die der Mensch die Gemeinschaft mit Gott bewusst und willentlich verlässt. Dazu gehört natürlich auch Mord«, berichtigt ihn Paul.
Ich schnappe unauffällig nach Luft. Wer hat den beiden die Zwangsjacke ausgezogen?
»An dieser Diskussion kann ich mich leider nicht beteiligen, denn da wo ich herkomme, sind die meisten evangelisch oder Heiden«, erwidere ich und unterdrücke ein Grinsen.
Paul hebt die Hände. »Okay, okay. Dann lösen wir es auf.«
Ben holt Luft. »Die Todsünden sind …«
»Charaktereigenschaften, er meint Charaktereigenschaften«, berichtigt ihn Paul.
»Meinetwegen … auf jeden Fall sind es Hochmut, Geiz, Wollust.«
»Wollust? Wer sagt denn noch Wollust?«, ereifert sich Paul. »Begehren geht schon eher.«
Jetzt verdreht selbst Ben die Augen.
»Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit«, führt Paul unbeeindruckt weiter aus.
»Aha«, werfe ich amüsiert ein.
Das ist das schrägste Vorstellungsgespräch aller Zeiten!
»Und was hat das jetzt mit meiner Stelle zu tun?«, kann ich mir nicht verkneifen.
»Na ja, wir zählen das jetzt auf, weil es die Grundlagen der Verführung sind. Bei diesen Eigenschaften greift die Werbung, um die Kunden zum Verkauf zu verführen«, löst Ben Paul ab.
»Genau«, bestätigt Paul. »Die Kenntnis dieser Charaktereigenschaften ist elementar, um erfolgreich zu werben. Das Grundprinzip ist ja, die Leute neidisch zu machen.«
Ich nicke, irgendwie ist da sogar was dran. »Verstehe, Sex sells, Geiz ist geil. Mein Haus, mein Auto, mein Boot.«
»Genau. Auch dieses ganze Influencer-Gedöns zielt darauf ab. Du fragst dich jetzt sicher, wann die Standardfragen kommen«, vermutet Paul.
»Die beantwortet kaum einer ehrlich, deshalb verzichten wir drauf. Die Kurzbewerbung mit Lebenslauf reicht«, ergänzt Ben.
»Wie ihr meint«, erwidere ich mit einem angestrengten Lächeln.
»Wie findest du so ein unkonventionelles Gespräch?«, fragt Paul.
Ich zucke mit den Schultern. »Unkonventionell? Es ist eher schräg.«
Ben nickt. »Finden wir auch. Aber jetzt wissen wir schon mal, dass du keine Angst hast, deine Meinung zu sagen.«
»Solche feigen Jasager können wir hier nämlich nicht gebrauchen«, versichert Paul.
»Kreativ, ehrlich und klug, damit kommen wir viel besser klar. Und zur Not gibt es ja noch die Probezeit.«
Paul nickt. »Wir wollen nicht ständig neue Leute einarbeiten.«
Ich frage mich ernsthaft, ob die beiden als Arbeitgeber zu gebrauchen sind. Obwohl … kreativ, ehrlich und klug klingt jetzt eigentlich nicht so schlecht.
»Eine Standardfrage hätten wir aber noch«, holt Ben mich aus den Gedanken.
»Genau, wie hoch sind deine Gehaltsvorstellungen?«, führt Paul weiter.
Warum wittere ich bei normalen Fragen jetzt eine Falle? »Fünfunddreißigtausend im Jahr«, presche ich vor. Mein Wunsch lag in der oberen Spanne, runterhandeln lassen kann man sich ja immer noch.
»Laut Purdue University liegt das perfekte Gehalt zwischen fünfzig- und sechzigtausend Euro. Sobald das Gehalt fünfundsiebzigtausend Euro übersteigt, kommen Faktoren ins Spiel, die das Glück untergraben könnten«, verkündet Ben.
»Wir wollen nur zufriedene Mitarbeiter, die sind kreativer«, kommentiert Paul. »Also fangen wir mal mit fünfzigtausend an.«
Meine Augenlider klimpern nervös. Erwarten die jetzt eine Reaktion?
»Okay … also bin ich jetzt eingestellt?«, frage ich ungläubig.
Für so viel Geld will ich es auf jeden Fall versuchen. Wer weiß, vielleicht wird es ja ganz lustig, hier zu arbeiten. Das könnte ich gut gebrauchen – neben dem Geld, versteht sich.
»Wenn du willst«, kommt es im Chor.
»Habe ich keine Mitbewerber?«, frage ich verblüfft.
Paul kratzt sich am Kopf. »Keine weiblichen. Die, die da waren, wollten nicht.«
»Wahrscheinlich haben die Angst bekommen«, vermute ich forsch.
Ben nickt. »Unser Betriebsklima ist schon … speziell. Aber wir haben ja gerade eine Frau gesucht, um die weibliche Seite einfließen zu lassen. Warum bekommen die Angst?«
»Versteh ich auch nicht. Wir sind doch wirklich locker«, ergänzt Paul.
»In der Tat«, bestätige ich.
»Ist wohl so ein Frauending. Sie sagten, es wären zu viele Männer hier«, vermutet Ben.
»Verstehe.« Aber so was von!
Egal, Hauptsache das Geld stimmt und ich muss nicht mehr zurück nach Kalifornien.
Zwei Jahre später
Meine Freundin Mia fuchtelt wild mit den Händen. »Wo sind meine Socken?, fragte ich. In diesem Drecksloch findet man nichts!«
»Kann ich mir vorstellen, ich brauche ja nur eure Schreibtische anzusehen«, antworte ich amüsiert.
»Und er antwortete betont gelassen: Willst du schon gehen? Der Tag ist noch fern. Es war die Nachtigall und nicht die Lerche, die eben noch dein banges Ohr durchdrang«, fährt sie gestikulierend fort.
Ich muss lachen. »Echt jetzt?«
»Aber hallo! Ist ja echt super, so was zu hören, wenn man es eilig hat«, murrt Mia.
»Na der hat Humor …« Den braucht man hier auch. Allerdings hat meine Freundin den eigentlich auch – eigentlich.
»Vielleicht will er romantisch sein?«, fällt mir ein.
»Sehr romantisch.«
»Und weiter?«, frage ich.
»Na ja … ich so: Das ist dein dämlicher Tageslichtwecker mit Naturgeräuschen.
Und er so: Der sorgt für ein liebliches Erwachen, oder?
Und ich so: Ich will eine Putzfrau.
Und er so: Ich nicht. Die bekommst du erst, wenn du hier richtig wohnst.
Und ich so: Wenn ich hier wohne, kannst du das nicht allein bestimmen. Außerdem wohne ich hier.
Und er so: Falsch, du übernachtest hier. Heirate mich!«
»Wow!«, kommentiere ich tief beeindruckt.
»Kannst du dir einen romantischeren Heiratsantrag vorstellen?«, fragt Mia ungläubig.
Ich zucke mit den Schultern. »Na ja, immerhin bekommt man nicht jeden Tag einen Heiratsantrag. Er sieht gut aus, ist schlau, sportlich … und Millionär. Was willst du noch?«
»Und manchmal ziemlich anstrengend.« Bei Mia bildet sich eine steile Falte auf der Stirn.
»Aber Ben ist doch immerhin … close to perfection.«
»Findest du? Wenn ich den Antrag annehme, ändert er sich garantiert nicht. Dann muss ich das bis zur Scheidung ertragen. Jetzt kann ich noch jederzeit abhauen, wenn ich genervt bin. Aber das ist danach nicht mehr so leicht möglich. Er ist definitiv zu unordentlich.«
»Sagte die Frau, die selbst nicht besser ist.«
Mia grinst. »Das ist es ja gerade. Gegensätze ziehen sich an.«
»Ach, du willst jemanden, der deine Mutter ersetzt?«, frage ich und zwinkere.
»Hast du’n Clown gefrühstückt, oder was?«
»Genervt von einem Heiratsantrag, das muss man erst mal bringen«, beharre ich und biete meiner Freundin etwas von meinen Apfelschnitzen an. »Sauer macht lustig.«
Mia nimmt sich einen.
»Wieso muss man das bringen?«, fragt sie, bevor sie hineinbeißt.
»Ja, liebst du ihn denn gar nicht?«, frage ich und denke: ›Dann überlass ihn mir‹, bevor ich auch einen Bissen nehme. Ich kann ihre Bedenken nicht nachvollziehen. Ben ist längst nicht so speziell wie einige andere Kandidaten hier in der Firma … wie zum Beispiel Paul.
Mia schluckt ihren Bissen hinunter. »Natürlich, aber er ist und bleibt nun mal ein Chaot.«
»Jeder hat doch eine Macke. Hat dich deine Mutter nicht mit ihrem Putzfimmel genervt?«
»Na ja«, antwortet Mia grinsend. »Das ist ja Teil des Problems.«
Ich lächle, schließe die Augen, recke mein Gesicht in die Sonne, die gerade in den Firmenhof scheint. »Sieh’s nicht so eng.«
Mia lacht auf. »Dass ich das nochmal aus deinem Munde höre …«
Ich schaue auf. »Was meinst du?«
»Behauptest du nicht immer, du bist allein unter Nerds?«, fragt sie und schnappt sich noch ein Stück Apfel.
»Na ja. Außer Ben gibt es in unserer Firma doch kein heiratsfähiges Material. Du bist mit ihm schon länger zusammen. Also, worauf wartest du?«
Mia zieht die Stirn kraus. »Vielleicht. Aber kennst du das mit den Puzzleteilen? Zwei gleiche passen nicht zusammen.«
Ich winke ab. »Blödsinn. Du hast nur Angst, dass es ernst wird. Die Braut, die sich nicht traut.«
»Und wenn schon«, mault sie. »Das liegt in unserer Familie, wir sind eben freiheitsliebend. Meine Oma war auch so.«
»Also ich würde da nicht lange fackeln. Niemand ist perfekt.«
»Sagte die Perfektionistin schlechthin.«
Ich rolle mit den Augen. »Nun übertreibst du aber.«
Mia hat mir einmal gestanden, dass sie mich am Anfang ziemlich eingebildet fand, als sie hier in die Firma kam. Zum Glück haben wir uns mittlerweile besser kennengelernt.
»Du vermittelst aber den Eindruck, dass du niemanden so richtig an dich ranlässt. Mein erster Eindruck damals war auch, dass du zickig bist. Weißt du noch?«
Gelassen recke ich mein Gesicht wieder in die Sonne. »Mag sein, wir Norddeutsche wirken manchmal so. Ich bin eben vorsichtig bei der Wahl meiner Freunde. Was ist daran falsch?«
Mia, die wie ich nie mit ihrer Meinung hinter den Berg hält, entlässt ein verächtliches Geräusch. Manchmal ist das anstrengend, aber dafür weiß man immer, woran man bei ihr ist. Das weiß ich zu schätzen und Ben wahrscheinlich auch.
»Eine Perfektionistin hat mich großgezogen. Aber seit meine Mutter mit Gerrit zusammen ist, redet sie ganz anders. Da sagt sie auf einmal, dass es nicht perfekt aussehen, sondern sich perfekt anfühlen muss.«
Ich sehe meine Freundin an. Gerrit ist Mias Ex-Freund und ein paar Jährchen jünger als ihre Mutter. »Perfekt anfühlen? Wie alt ist deine Mutter? Glaubt sie, dass sie sich immer noch perfekt anfühlt?«
»Natürlich meint sie es bildlich gesprochen.«
»Ist perfekt anfühlen eine Metapher?«, frage ich grinsend. »Dann könntest du perfekt aufgeräumt auch dazuzählen.«
»Willst du mich ärgern? Ich habe den Spruch nicht abgelassen«, beschwert sich Mia.
Ich grinse sie an. »Ist nur ein Wortspiel.«
»Hm, ich glaube, du arbeitest schon zu lange hier«, neckt sie mich.
»Möglich. Ich weiß wirklich nicht, ob ich mit dir weiter über diese Themen reden soll, sonst tauche ich noch in einem deiner Bücher auf.«
»Aber nicht doch! Und wenn, dann ändere ich zumindest deinen Namen. Versprochen.«
»Warum tröstet mich das nicht? Du hast natürlich leicht reden, mit deiner Sahneschnitte von Millionär. Und behaupte jetzt nichts anderes, das hast du in deinem Buch selbst so zugegeben.«
»Da war ich auch noch frisch verliebt.«
»Ben ist mit Abstand der beste Millionär, den ich kenne«, behaupte ich.
»Ist er nicht auch der einzige Millionär, den du kennst?«
»Touché. Aber das heißt nichts.«
»Na, wenn das so ist … Was ist zum Beispiel mit Paul? Der sieht doch ganz passabel aus, ist klug und offensichtlich in dich verliebt … Ganz davon abgesehen, dass er bei uns nicht schlecht verdient.«
»Paul? Das meinst du nicht ernst! Der hatte gestern ein T-Shirt an, auf dem Frauen an den Nerd stand!«, entrüste ich mich.
»Ja, er hat einen seltsamen Humor. Aber er ist sehr klug … und sportlich.«
»Stimmt, auch wenn man es nicht meinen sollte.«
»Als ich Ben kennenlernte, stand auf seinem niveablauen T-Shirt: Niveau ist keine Creme.«
»Das hat doch noch Stil.«
»Findest du? Es ist nun mal so, dass unsere Spezialisten eine Vorliebe für seltsame Kleidung haben.«
»Ja, leider. Die sind manchmal so albern, dass ich nur noch mit den Augen rollen kann.«
»Vielleicht wollen sie dir ein Lachen entlocken. Du lachst so wenig«, gesteht Mia.
»Gibt es hier denn so viel zum Lachen? Ist mir noch gar nicht aufgefallen.«
»Und er sieht gut aus«, lässt sie nicht locker.
»Wenn er mal die Brille absetzen würde … und diese komische Frisur … also, ich weiß nicht.«
»Er ist entspannt, witzig und klug. Was brauchst du noch, um ihm eine Chance zu geben«, preist sie ihn weiter an.
»Warum bist du eigentlich so hartnäckig? Ich kann doch wohl am besten beurteilen, bei welchem Typen es funkt, oder nicht?«
»Als er kürzlich auf einen Drink bei uns war, hat er gestanden, dass er dich gut findet, seit er dich das erste Mal gesehen hat. Paul hat Angst, dir seine Gefühle zu zeigen, weil du immer so spröde bist – vor allem gegen ihn.«
»Wirklich?«, frage ich ungläubig.
»Warum sollte ich lügen?«
»Na ihr beiden? Pause beendet. Wie wär’s mal mit ein paar Brötchen verdienen?« Frech grinsend wirft Mias Ben einen Schatten auf uns.
»Hey«, entrüstet sich Mia. »Geh uns aus der Sonne.«
Obwohl Ben tatsächlich unser Chef ist, und wieder einmal sein Chef-T-Shirt trägt, meint er es natürlich nicht ernst. Er ist ein total lockerer Boss, das weiß ich mittlerweile zu schätzen. Die verrückte Horde meiner Kollegen würde ihn nicht ernst nehmen, wenn Ben es mit der Führungsrolle allzu ernst nähme. Ich habe die schräge Truppe mittlerweile ins Herz geschlossen, auch wenn es manchmal ziemlich anstrengend ist. Das gute Gehalt hilft mir, das zu übersehen. Und ich weiß nicht nur die Toleranz, sondern auch die Freiheiten hier im Medienunternehmen sehr zu schätzen. Zum Beispiel, dass man auch mal ohne weiteres die Arbeitspause verlängern darf.
»Wir führen gerade wichtige Grundsatzgespräche«, erklärt Mia grinsend.
Bens Augenbrauen heben sich. »Über die Arbeit?«
»Geht es nicht irgendwie immer um die Arbeit?«
»Fast«, antwortet ihr Freund. »Worum ging es denn?«
Mia schürzt die Lippen. »Na, was Frauen so gefällt …«
»Aha. Aber das könnt ihr jetzt gleich in die Besprechung einbringen. Kommt ihr?«
Als Antwort erhält Ben ein unzufriedenes Brummeln.
»Mädels, ihr seid systemrelevant. Wer soll sonst das Protokoll führen?«
Die Frage ist leider zu fünfzig Prozent ernst gemeint. Und zu hundert Prozent meint er mich, weil es mir meistens zu blöd ist, dass immer um diesen notwendigen Job gestritten wird. Ich lasse einfach das Handy mitlaufen.
»Möchtest du, dass ich kündige?«, knurrt Mia solidarisch.
Bens Augen werden zu skeptischen Schlitzen. »Sehr witzig.«
»Dein Humor auch«, gibt sie zurück.
»Wir müssen Dringendes mit unseren amerikanischen Freunden besprechen. Also rafft euch auf und kommt in den Besprechungsraum. Für die ist es noch mitten in der Nacht, da ist es gar nicht lustig, wenn wir nicht da sind«, erklärt er.
»Okay, wir kommen ja schon«, erwidere ich.
»Heute steht viel auf dem Zettel«, sagt Ben im ernsten Ton, dreht sich um und geht.
»Na komm.« Mia tippt mich an und steht auf.
»Geh schon mal vor, ich komme nach. Ich muss mich noch präparieren.«
Mia reißt die Augen auf. »Was?!«
»Du hast keine Ahnung, oder?«
»Wovon?«
»Wie die virtuellen Meetings mit den Amis so ablaufen.«
»Nein, beim letzten Mal hatte ich Urlaub. Ben hat noch gar nichts davon erzählt. Klär mich auf.«
»Weißt du denn, warum er nie Dienstreisen dorthin macht?«
»Spuck’s schon aus«, antwortet Mia ungeduldig.
»Er hat dir noch nichts von seiner Flugangst erzählt?«, frage ich ungläubig.
Mia grinst breit. »Echt jetzt? Er hat Flugangst?«
»Joh.«
»Und was ist das andere, von dem ich keine Ahnung habe?«
»Oooch … da lass dich mal überraschen.«
Mia sieht mich seltsam an.
»Was ist?«, erkundige ich mich verunsichert.
»Nichts, ich hab grade ein Memo an mich selbst geschickt.«
Als ich in den Besprechungsraum komme, ernte ich staunende Blicke. Die Gespräche verstummen sogar, weil bisher niemand erlebt hat, dass ich diesen T-Shirt-Wahnsinn mitmache. Das hätte keiner von mir gedacht.
Bisher habe ich immer an meinen Blümchenblusen als Gegengewicht zu den Shirts mit den semilustigen Sprüchen festgehalten. Sozusagen als blühende Oase in der Wüste. Jetzt, da ein Treffen in Englisch abgehalten wird, sind die dummen Sprüche wörtlich ins Englische übersetzt. Mich wundert ja, dass es so etwas überhaupt zu kaufen gibt, aber selbst bei den Damenshirts hatte ich die Qual der Wahl.
Stolz drücke ich den Brustkorb durch, während ich zu meinem Platz gehe. Auf meinem roten Shirt steht: I know how the bunny is running.
Ich sehe mich um. Selbst Ben hat sich schnell ein neues Shirt übergestreift, auf dem steht: I have much around the ears.
Ich muss grinsen, als ich Noah sehe. My english ist onewallfree steht auf seinem Shirt. Der ist doch noch gar nicht so lange hier. Woher kennt er die Gepflogenheiten?
Ich kann nur mit den Augen rollen, als ich Paul erblicke. Er schmückt sich in natürlicher Bescheidenheit mit der Aussage: No one can reach me the water.
Jessi, unsere Programmiererin, hat With me is not good cherry eating auf der Brust stehen.
Bei dieser Sitzung ist auch Lia, die Controllerin aus der Buchhaltung, dabei. Anscheinend freut sie sich, aus ihrer trockenen Abteilung mal in die Kreativabteilung zu kommen. Tell me nothing from the horse ist bei ihr zu lesen.
Mia sieht mich irritiert an, damit habe ich gerechnet. Ich zwinkere ihr zu, während ich ihr mein Ersatzshirt mit I think my pig whistles gebe. »Damit du dich nicht als Außenseiter*in fühlst«, erkläre ich grinsend mit Genderpause.
Die Aufmerksamkeit wendet sich von mir ab, als Peter, unser Mann in Kalifornien, mit einem triumphierenden Lächeln auf dem Bildschirm erscheint.
Er trägt ein blaues Shirt mit den Worten: Es ist erst zu Ende, wenn die dicke Frau singt. »Ich dachte mir, was ihr könnt, kann ich auch«, erklärt er stolz dazu.
»Lets get the cow off the Ice«, antwortet Ben.
Was für ein Kindergarten! Heute ist wirklich ein Höhepunkt. Ich weiß selbst nicht, wie ich es ohne Beißbrett aushalte. Und ich verstehe nicht, warum ich bei diesen Meetings unbedingt dabei sein muss. Es geht hier sowieso nicht um konkrete Projekte. Was soll ich als Spezialistin für visuelles Marketing bei grundsätzlichen Strategiefragen mitreden? In Kalifornien hat Peter natürlich seine eigenen Leute am Start. Was bei den Kunden vor Ort ankommt, ist ohnehin in den Ländern unterschiedlich. Aber nein, Paul meint, dass mein Horizont nicht weit genug sein kann. Na schön, wie er meint.
Beim Verlassen des Besprechungsraumes fühle ich mich wie durchgenudelt. Ich hatte die meiste Zeit etwas anderes im Kopf und frage mich immer noch, warum ich dabei sein musste.
»Dein Shirt bringe ich dir demnächst gewaschen wieder mit. Ich mach Feierabend, tschüss!«, wirft Mia mir zu.
»Alles klar, ich bin dann auch weg«, erwidere ich winkend. »Schönen Feierabend. Bis morgen.«
Unsere Wege trennen sich und ich gehe in mein Büro, um die Tasche zu holen.
Als ich aus der Tür komme, steht auf einmal Ben vor mir.. »Luise, hast du noch einen Moment?«
Ich zucke zusammen. »Nur ungern«, antworte ich wahrheitsgemäß, schließlich wird hier Ehrlichkeit großgeschrieben. »Das Meeting hat mir den letzten Nerv geraubt. Ich bin ziemlich fertig.«
»Und ich erst! Du musst mich unbedingt beraten.«
»Doch nicht etwa bei deinem Kleidungsstil? Da seid ihr doch alle beratungsresistent.«
»Nein, ich muss jetzt endlich Mia verstehen. Sie treibt mich mit ihrem Dickkopf in den Wahnsinn.«
»Ja, es ist immer etwas Wahnsinn in der Liebe«, seufze ich. »Aber ich glaube, bei mir bist du da an der falschen Adresse.«
»Jupp, es ist aber auch immer etwas Vernunft im Wahnsinn. So lautet jedenfalls der zweite Teil. Komm in mein Büro, ich geb ein Wasser aus.«
»Ich glaube, ich brauch was Stärkeres«, seufze ich.
»Kaffee?«
»Kaffee kling gut.«
»Dann lass uns doch in mein Lieblingscafé gehen. Die Kanne ist leer.«
»Da, wo du Mia kennengelernt hast?«
Er nickt.
»Nö, lass mal. Dann nehme ich doch lieber ein Wasser.«
Inzwischen sind wir in Bens Büro angekommen. Er deutet an, dass ich mich hinsetzen soll. Eigentlich will ich das nicht, weil ich keine Lust zum Plauschen habe, aber er hat diesen Blick …
»Okay, schieß los«, fordere ich ihn auf, während ich Platz nehme.
Ben setzt sich auch. »Du musst mir irgendwie helfen, damit Mia endlich meinen Antrag annimmt.«
»Und dafür soll ich jetzt Überstunden machen?«, frage ich mit unterdrücktem Entsetzen.
»Och, komm schon. Mia darf das nicht mitkriegen. Ich weiß wirklich nicht, was ich falsch mache.«
»Hm, ich denke, du bist nicht romantisch genug.«
»Das kann ich mir nun gar nicht vorstellen. Mia ist doch gar nicht der Typ für Rosenblätterherzen auf dem Bett.«
»Bist du dir sicher?«
»So ziemlich«, stammelt er unsicher.
Ich unterdrücke ein Stöhnen. »Okay, dann gehst du nicht genug auf sie ein … oder sie will einfach nicht heiraten. Such dir was aus.«
Ben zieht die Schultern hoch und streckt dabei die Arme. »Na toll, da hätte ich mir auch gleich einen Beziehungsratgeber kaufen können. Was da drinsteht, verstehe ich auch nie.«
»Versuchs doch mal mit einem speziellen Buch, in dem verschiedene Heiratsanträge vorgeschlagen werden, und dann nimmst du das, was dir gefällt.«
»Und wenn sie das Buch kennt oder findet, weiß sie genau, woher die Idee ist. Hast du nichts Besseres auf Lager?«
Ich beiße genervt auf meine Unterlippe. »Wieso sollte sie Bücher über Heiratsanträge lesen, wenn sie gar nicht heiraten will?«
Ben kratzt sich am Kopf. »Klingt logisch. Die Frage ist berechtigt.«
Hilfe! Ich möchte nach Hause. »Ich sag dir mal was. Bevor du ihr den Antrag machst, räumst du auf, wäschst die Wäsche und putzt die Wohnung. Danach machst du den Antrag. Glaub mir, dann kann sie gar nicht nein sagen.«
»Das klingt ziemlich anstrengend. Was ist, wenn es nicht funktioniert?«
»Dann hast du etwas Arbeit zu viel investiert.«
»Ich könnte doch eine Putzfrau engagieren.«
»Das ist nicht dasselbe.«
»Warum nicht?«
»Weil du dich anstrengen sollst. Umsonst ist nur der Tod.«
»Und wenn ich mich umsonst anstrenge?«
»Keine Rose ohne Dornen. Vertrau mir, sie erkennt dann dein Bemühen und kapiert, dass es dir ernst ist«, versichere ich und zwinkere. »Kann ich jetzt gehen?«
»Ja … ja, ja. Aber ich kann dich nochmal konsultieren, wenn es nicht klappt.«
»Meinetwegen«, seufze ich.
Gott sei Dank, es ist Freitag. Nur noch ein paar Stunden Arbeit überstehen, dann ist Wochenende.
»Guten Morrgeeen«, begrüße ich meine Kollegen gut gelaunt.
»Sag mal, spinnst du?«, entrüstet stürmt Mia im Flur in der Firma auf mich zu.
»Dir auch einen guten Morgen«, wünsche ich und bleibe stehen. »Warum spinne ich?«
Meine Freundin baut sich vor mir auf. »Ben hat mir einen Heiratsantrag gemacht … so mit allem Pipapo.«
»Das ist doch toll!«, versuche ich meine Verwunderung zu überspielen. Warum ist sie so schlecht gelaunt? »Und? Was hast du gesagt?«
»Das war so romantisch, ich konnte gar nicht nein sagen.«
»Herzlichen Glückwunsch!« Mit einem Strahlen strecke ich ihr meine Hand hin.
Mia kräuselt die Lippen. »Ich konnte mich gerade noch retten, aber musste mir dazu etwas einfallen lassen.«
»Wieso?«
Inzwischen haben wir unser Büro erreicht und drücke die Klinke zur Tür.
Geladen schmeißt Mia ihre Handtasche auf den Platz. Wir setzen uns an unsere Schreibtische, die gegenüberstehen. Sie wirkt immer noch verärgert.
»Also, erzähl, was ist passiert?«, frage ich seufzend und fahre meinen Computer hoch.
»Gleich, ich brauch erst mal einen Kaffee.«
Es klopft.
»Ja?«
Ben öffnet die Tür und sieht durch den Spalt. »Kaffee?«
»Seit wann verteilst du Kaffee?«, knurrt Mia.
»Seit ich aufmerksamer werden will. Aber ich kann auch wieder gehen.«
»Nein, bitte, ich nehme gerne eine Tasse«, werfe ich eilig dazwischen.
Ben kommt herein und stellt mir den Becher mit der dampfenden braunen Flüssigkeit hin. Natürlich steht auch auf unseren Firmentassen ein dummer Spruch. Auf meiner steht: Ja Boss. Mias ist neu, auf ihrer steht: Ich werde dich für den Rest deines Lebens nerven. Diese Drohung zaubert Mia tatsächlich ein Lächeln auf die Lippen.
»Mein Instinkt sagt mir, dass ich jetzt besser wieder gehe«, säuselt Ben und entfernt sich aus dem Raum.
Mia nickt, als sie ihm hinterherschaut.
»Was hat er denn angestellt?«, frage ich, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hat.
Mia bläst über ihre Tasse. »Nichts, das ist es ja. Er hat alles perfekt gemacht, mit aufgeräumter Wohnung, Lichterherz auf dem Boden und klassischem Kniefall.«
Ich lehne mich zurück und verschränke die Arme. »Es ist ihm wirklich ernst.«
Mia nickt. »Leider. Ich tu mich wirklich schwer, noch eine Ausrede zu finden.«
»Warum willst du eine Ausrede, wenn ein heißer Millionär, der dich offensichtlich ehrlich liebt, dich heiraten will?«
Mia sieht mich gequält an. »Ich weiß auch nicht. Ich habe Angst, schätze ich. Ich komme aus einer Familie, in der die Frauen nicht zur Ehe taugen.«
»Wer sagt das?«
Sie bläst immer noch nervös über ihre Tasse. »Ich. Meine Oma hat gar nicht geheiratet und die Ehe meiner Mutter war die reinste Katastrophe.«
»Aber das sagt doch nicht, dass es bei dir genauso sein muss. Du liebst ihn doch, oder nicht?«
»Ja, aber was heißt das schon? Das ist doch nur ein hormoneller Zustand, der ein paar Jahre anhält. Ich bin meiner Oma ziemlich ähnlich; und die wollte sich auch nichts vorschreiben lassen.«
»Warum vorschreiben?«
»Na, sie sollte mit meinem Opa nach Kalifornien kommen. Dessen Familie hat dort ein Weingut«, sagt sie und nimmt einen Schluck vom Kaffee.
»Und das wollte sie nicht?«
»Genau. Sie wollte ihr Ding machen und nicht die Gutsbesitzerin spielen.«
»Aber damals waren die Zeiten anders, auch in Amerika.«
Mia schüttelt den Kopf. »Kann sein. Auf jeden Fall möchte ich weglaufen können, wenn Ben etwas will, das ich nicht will. Immerhin hatte ich mich schon von Gerrit damals breitschlagen lassen, was auch in die Hose gegangen ist.«
Ich sehe meiner Freundin in die weit aufgerissenen Augen und lege den Kopf schief. »Du vergleichst jetzt nicht Ben mit dem Lackaffen, oder?«
»Warum nicht? Sind Männer nicht irgendwie alle gleich? Es soll immer nach deren Kopf gehen.«
»Ja, vielleicht«, erkenne ich seufzend. Schließlich habe auch ich schlechte Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht gemacht. »Ich weiß nicht, wie ich reagieren würde. Es braucht Vertrauen in den anderen, aber auch in sich selbst.«
»So sehe ich das auch.«
»Und was hast du dann gemacht? Du hast doch gesagt, du konntest nicht nein sagen.«
»Ich habe mich rechtzeitig daran erinnert, dass du vor ein paar Tagen von Bens Flugangst erzählt hast.«
Mir schwant, das war ein Fehler. »Und?«
»Ich habe ihm gesagt, ich heirate ihn nur in Kalifornien. Am Stand.«
»Oh«, entfährt es mir. »Und was hat er darauf gesagt?«
»Blöd geguckt.«
»Das kann ich mir vorstellen«, antworte ich nickend.
»Aber was ist, wenn er seine Flugangst für mich überwindet?«
»Vielleicht ist das gar nicht so schlecht, denn dann kannst du deinen Opa kennenlernen und ihn fragen, wie das damals war.«
»Das hoffe ich nicht. Ich hoffe, dass mich Bens Flugangst jetzt vor der Heirat verschont.«
»Ich versteh’s zwar immer noch nicht ganz, aber du musst ja wissen, was du tust.«
Mia sieht mich ratlos an. »Und ich versteh nicht, wieso Ben auf einmal so … perfekt ist. Als hätte er sich von einer Frau beraten lassen.«
Ich zucke mit den Schultern. »Glaubst du? Vielleicht seine Schwester?«
Meine Freundin schüttelt energisch den Kopf. »Eher nicht. Wenn ich die erwische, die mir das eingebrockt hat.«
Fast verschlucke ich mich am Kaffee. »Na ja, jetzt muss ich was tun, sonst kann ich nicht pünktlich Feierabend machen.« Ich lächle gekünstelt und wende mich meiner Arbeit zu.
»Jupp, du hast recht. Bloß schnell fertig werden und dann nichts
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Mia Benton/Alica H. White. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. Dieses Buch ist rein fiktiv. Ähnlichkeiten zu lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Images: Coverbild: Pixabay
Cover: Kooky Rooster
Editing: Christine Hann
Proofreading: Christine Hann
Publication Date: 05-03-2022
ISBN: 978-3-7554-1305-9
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