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I

Flackernde Schemen tanzten auf den Wänden der Bibliothek von Pendrake Castle, in der man nach einem grandiosen Dinner seinen Tee, Whisky oder sein anderes bevorzugtes Getränk zu nehmen pflegte.

Sir Aleister Pendrake lehnte sich zufrieden zurück und beobachtete von seinem komfortablen Ledersessel aus unauffällig seine vier Gäste.

Dr. James Leverton inhalierte genüsslich die Duftschwaden seines Late Evening Tea.

Ms. Thelma Carrington trank wie immer (und wie immer zu seinem heimlichen Entsetzen!) einen Fruchtsirup, mit heißem Wasser versetzt.

Colonel Reginald Thorne ritt gerade die Attacke auf sein erstes Glas schottischen Whiskys – und es würde nicht die letzte Attacke an diesem Abend bleiben.

Blieb noch Inspektor Nathaniel Dickinson, der einzige der Anwesenden, den er heute Abend erst kennengelernt hatte. Dr. Leverton hatte den aufstrebenden jungen Scotland Yard-Mann mitgebracht.

„Nun, da unsere Mägen bis zum Anschlag gefüllt sind, fehlt uns nur noch eines zur Vollendung des Abends“, konnte sich Ms. Carrington nicht länger beherrschen. Wie so oft. Ihre Wangen leuchteten vor Aufregung.

„Ja, genau!“, grummelte Colonel Thorne. „Los, alter Freund. Erstaunen Sie uns wieder mit einem Ihrer rätselhaften Fälle!“

Inspektor Dickinsons Oberlippe zuckte verächtlich, obwohl er es zu verbergen suchte.

Sir Pendrake tat so, als ob ihm das entgangen wäre, und lächelte. Er schien lange überlegen zu müssen.

„Nun, werte Gäste, wenn Sie so nett darauf bestehen, werde ich Ihnen einen meiner Fälle schildern. Doch ich warne Sie: Das ist nichts für schwache Nerven!“

Ms. Carringtons Kehle entrann ein entzücktes Quietschen. Inspektor Dickinson winkte leicht genervt ab.

Sir Pendrake fuhr fort: „In meinem Archiv führe ich diesen Fall unter dem Stichwort ‚Die Karte’. Man könnte ihn auch ‚Die verschwundene Malerin’ nennen.“

„Erzählen Sie doch weiter. Was verbirgt sich hinter dem allen?“, hakte Dr. Leverton ungeduldig nach.

„Tja, wo fange ich an? Also: Es ist bestimmt schon … über zwanzig Jahre her, als mich Ms. Alice Carter aufsuchte. Ihre geschätzte Freundin, Ms. Verena de Vries, eine dreiundzwanzigjährige Aquarellmalerin, war damals bereits über ein halbes Jahr spurlos verschwunden. Die örtliche Polizei war ratlos und Scotland Yard auch. Deshalb kam Ms. Carter schlussendlich zu mir.“

„Und schon hieß es: Auftritt für den hochbegabten Amateurdetektiv, der den Fall löste, an dem sich alle anderen die Zähne ausgebissen hatten!“, schnaubte Dickinson in plötzlichem Zorn, bevor er seinen Whisky hinunterstürzte.

„Nathaniel!“, wisperte Dr. Leverton mahnend.

Sir Pendrake winkte belustigt ab (obwohl seine eisblauen Augen gar nicht belustigt schauten): „Nur keine Aufregung, mein lieber Inspektor. Die Fälle, die ich in dieser Runde präsentiere, sind ja deshalb so rätselhaft, weil sie offiziell nie gelöst wurden. Kein Wort von Hochbegabung, oder? Ich bin ein Detektiv, der zugibt, auch ungelöste Fälle zu haben. Eher möchte ich den Amateur entschieden von mir weisen.“

Thelma Carringtons leuchtende grüne Augen brachten Sir Pendrake dazu, Dickinson fürs erste zu ignorieren. Er erzählte weiter: „Ms. de Vries hielt sich zum Zeitpunkt ihres Verschwindens in Cornwall auf. An der Küste – und das, wohl wenig überraschend, zum Malen. Bemerkenswert war höchstens, dass sich die junge Künstlerin erstmals mit Landschaftsbildern beschäftigte. Sie war der Portraits und Stillleben überdrüssig geworden. Sie schickte ihrer Jugendfreundin Alice mehrere Karten aus Seathorpe, dem winzigen Ort, in dem sie logierte. Warten Sie … Cedric, bringen Sie mir doch bitte die Mappe!“

„Sehr wohl, Sir“, entgegnete Cedric, der vollendete Butler, und eilte geräuschlos hinaus. Nach einer Minute war er zurück und überreichte Sir Pendrake eine in altes, dunkelbraunes Leder gebundene Mappe.

„Was haben Sie da drin, alter Gauner?“, polterte der Colonel, während er gleichzeitig Cedric heftig zuzwinkerte, sein Whiskyglas erneut – und großzügig – zu füllen.

„Tja, was hab ich da wohl drin?“, erwiderte Pendrake – und klappte die Mappe blitzschnell auf. Das erzeugte ein unwirklich lautes Schnappgeräusch, ganz so, als ob ein Krokodil die mörderischen Kiefer auseinandergeklappt hätte. Ms. Carrington verschüttete vor Schreck ihren Sirup auf dem alten Eichentisch. Cedric, der Butler, begann sofort dezent damit, die Bescherung mittels eines Tuches zu beseitigen. Er kannte die Stammgäste genauso gut wie sein Herr, der nun seinen mächtigen, grauen Schnurrbart vergnügt mit der Linken zwirbelte, während seine rechte Hand einen Umschlag aus der Mappe nahm und auf den Tisch legte.

„Dies ist die erste Ansichtskarte, die Verena de Vries an Alice Carter schickte. Als leidenschaftliche Künstlerin fertigte sie selbstredend das Motiv der Karte eigenhändig an. Sehen Sie bitte selbst.“

Die Karte machte die Runde und landete schließlich wieder beim Gastgeber.

„Ein Strandbild mit Leuchtturm zur Rechten. Das Meer im Hintergrund. Recht ansprechend“, bemerkte Dr. Leverston und sah Sir Pendrake erwartungsvoll an.

„Sie alle, werte Gäste, waren so von dem Bild gefangen, dass Sie die Rückseite der Karte nicht beachtet haben. Deshalb werde ich das für Sie nachholen und sie Ihnen vorlesen:

 

Meine liebste Alice,

 

viele herzliche Grüße aus Seathorpe. Ich hoffe, dir geht es gut.

Ich male und male. Ich muss üben und nochmals üben. Wie findest du diese Karte? Sie ist das erste meiner Landschaftsbilder, das ich überhaupt als vorzeigbar erachte. Die anderen … ich decke den Mantel des Vergessens gnädig über sie. Ich hoffe inständig, dass dich mein Bild des Strandes bei Seathorpe nicht zu sehr abstößt.

Ich sehe dich gerade lachend vor mir, während du meinen vorigen Satz liest.

Du weißt, ich war und bin mir stets die gnadenloseste Kritikerin.

Eines muss ich dir zu diesem Bild jedoch noch erzählen. Halte mich bitte nicht für überspannt, aber es stimmt tatsächlich: Etwas fehlt darauf.

Es gelang mir nicht, es zu malen, weil mir die schwarze Farbe ausgegangen ist und ich in diesem kleinen Nest keine neue erwerben konnte. So ließ ich es unvollendet, denn ich möchte mein Versprechen halten, dir spätestens alle drei Tage zu schreiben, und habe es so abgeschickt.

Da war jemand – oder etwas – auf oder nahe des Leuchtturms. Eine pechschwarze, undeutliche Gestalt. Kaum erahnbar. Und ich kann sie noch nicht einmal recht beschreiben. Sie war … unheimlich. In der Tat.

Glaub mir, Liebes, inzwischen bin ich richtig froh, dass ich keine Farbe mehr hatte. Das Bild ist viel schöner ohne diese … Gestalt.

Nun hältst du mich gewiss für leicht verrückt. Keine Angst. Mir geht es wirklich gut.

Wahrscheinlich bekommt mir als waschechter Londonerin die viel zu reine Meeresluft einfach nicht.

Bis bald, mein Schatz.

Es grüßt dich deine liebe Freundin

 

Verena de Vries

 

„Herrje! Wie aufregend. Und auch etwas schauderhaft!“, ächzte Ms. Carrington.

„Künstler!“, grollte der Colonel ungnädig.

„Das sind doch Hirngespinste! Eine hysterische Person erster Güte“, stieß der junge Inspektor angewidert hervor.

„Nur nicht so schnell mit deiner Diagnose, Freund Nathaniel. Ein guter Arzt sollte erst einmal alle Symptome untersuchen“, rügte Dr. Leverston.

„Ich bin zwar kein Quacksalber wie du, Franklin, aber der gute Ermittler sichtet ebenfalls zuerst alle Hinweise“, entgegnete Nathaniel Dickinson nach kurzem Zögern. Es war deutlich, wie schwer ihm selbst dieses leichte Einlenken fiel.

„Genau so wollen wir es halten, liebe Gäste. Alle Fakten sollen auf den Tisch. Deshalb zeige ich Ihnen als Nächstes die Karte Numero Zwo!“

Sir Pendrake schob die Karte Thelma Carrington zu.

„Oh – darf ich sie vorlesen, bitte?“, hauchte sie nervös.

„Nicht so hastig! Erst bitte das Bild zeigen, Gnädigste!“, grollte Colonel Thorne fordernd.

„Verzeihung. Wie ungeschickt von mir!“

Die Karte zitterte in Ms. Carringtons Hand. Dennoch konnte jeder erkennen, was die verschwundene Malerin darauf festgehalten hatte: Eine stille Wasseroberfläche, am rechten Rand des Bildes Strand und vereinzeltes Schilf – und im Hintergrund ein grünes, schattiges Waldgebiet.

„Dies ist eine Bucht, die westlich von Seathorpe beinahe sieben Meilen ins Landesinnere dringt, also bis weit in die Wälder hineinreicht“, bemerkte Aleister Pendrake.

 

Meine liebste Alice,

 

hier mein neuestes Werk.

Entschuldige meine knappen Worte, aber so langsam fürchte ich, dass ich erkrankt bin. Nervenfieber oder so etwas.

Sicherlich wirst du nichts Auffälliges an meinem Motiv entdecken.

Wie denn auch?

Mr. Taylor vom Krämerladen hat zwar die Bestellung abgeschickt, aber das vermaledeite Schwarz ist noch nicht angekommen.

In dieser abgelegenen Gegend mag das noch Wochen dauern.

Und selbst dann bin ich mittlerweile ganz sicher, dass schwarze Aquarellfarbe niemals intensiv genug ist, um … du erinnerst dich doch an die seltsame Gestalt, von der ich dir geschrieben habe.

Mein Gott, Alice, sie ist immer noch da!!!

Und jedes Mal, wenn ich gemalt habe, ist sie näher gekommen!

Stück für Stück. Auf dem ersten Bild hätte ich sie noch weiter weg malen müssen. Inzwischen jedoch – halte mich für wahnsinnig, aber ich fürchte, es sind weniger als 50 Yards. Niemand außer mir sieht sie. Ich habe mehrere Personen gefragt. Keiner wusste, was ich meine. Und jeder sah mich so eigenartig an. Deshalb traute ich mich auch nicht, jemand um Hilfe zu bitte.

Was geschieht nur mit mir?

Was ist da hinter mir her?

Ein grässlicher Schatten … und ich fürchte, es ist noch nicht einmal der Schatten eines Menschen. Da sind Dinge an ihm, die ich nicht einmal annähernd beschreiben kann.

Ein Wogen … ein Pulsieren …

Gleich morgen früh werde ich abreisen. Heute Abend fährt leider keine Kutsche mehr, denn draußen tobt ein fürchterlicher Küstensturm.

Oder … will ES mich nicht weglassen.

MEIN GOTT!

Ich fürchte mich so sehr!

Und niemand hier kann mir helfen!

 

Deine dich auf immer liebende Freundin

 

Verena de Vries

 

Ms. Carrington liefen die Tränen die Wangen hinab, so ergriffen war sie vom Vorlesen. Der treue Cedric ersetzte still das Sirup- durch ein gut gefülltes Sherryglas.

„Und das war alles?“, fragte Dr. Leverston nach einer Minute bleiernen Schweigens.

„Nicht ganz“, antwortete Sir Pendrake kopfschüttelnd. „Am nächsten Morgen war Verena de Vries verschwunden. Spurlos. Doch ihr angemietetes Zimmer sah aus, als ob eine Kanonenkugel eingeschlagen hätte. Ohne jedoch die Bausubstanz des Hauses anzugreifen. Im Inneren des Zimmers war nichts heil geblieben. Alles war übersäht mit mysteriösen Kratzspuren, die sich durch die Tapeten tief in den Putz gefressen hatten. Zum Teil zwei bis drei Zoll tief. Die Zimmertür war von innen abgeschlossen und die Fenster waren verriegelt. Dennoch war Verena de Vries nicht mehr im Zimmer. Und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass das freiwillig geschah.“

„Ein hübsches Rätsel, mein lieber Sir Pendrake“, stieß Inspektor Dickinson aus. „Gibt es nicht sogar Kriminalschriftsteller, die sich auf solche Geschichten mit Verbrechen in völlig geschlossenen Räumen spezialisiert haben?“

„In der Tat, Sie haben ganz recht, mein lieber Dickinson. Wenn es sich doch bloß um eine reine Erzählung drehte und nicht um das tatsächliche Wirken unbekannter Mächte, dann hätte ich gleich gewusst, was damals geschehen ist. Doch leider handelt es sich um keine Fiktion, sondern um die bittere Wahrheit. Deswegen tappte ich die ganzen Jahre über im Dunkeln und konnte Ms. Carter bedauerlicherweise nicht helfen …“

„Ach was! Ich werde mir das Ganze gern mal ansehen. Ich bin zwar ein vielbeschäftigter Mann, aber …“, verkündete Nathaniel Dickinson, ohne bemerkt zu haben, dass er gerade seinem Gastgeber ins Wort gefallen war. Sir Pendrake revanchierte sich und übertönte ihn nun seinerseits mühelos mit seiner tiefen Stimme: „Bis man vor kurzem etwas fand. In einer Höhle in den Klippen am Strand wurde es entdeckt.“

„Etwa noch eine Aquarellkarte der bedauernswerten Verena de Vries? Eine, die nie abgeschickt worden war und die den Missetäter nach all den Jahren überführt hat?“

„Beinahe, liebe Thelma. Beinahe. Jedoch handelt es sich um eine Photographie. Bevor ich diese Aufnahme präsentiere, möchte ich Sie alle nochmals eindringlich warnen. Dieser Fall wird bald aus dem Archiv der rätselhaften Fälle in das meiner gelösten Fälle wandern … doch die Auflösung zu kennen, wird Ihnen schlaflose Nächte bereiten. Selbst den Hartgesottenen unter Ihnen!“

Eine drohende Stille breitete sich in der Bibliothek aus. Selbst die flackernden Schatten schienen innezuhalten … selbst das Knistern des Kaminfeuers schien zu verstummen …

Inspektor Dickinsons eintöniges Applaudieren brach den Bann. „Bravo, werter Sir Pendrake. Sie haben sich Ihren Beifall mehr als verdient. Mir ist noch nie solch ein begnadeter Erzähler von Geistergeschichten begegnet. Es fehlt lediglich noch ein Gewitter draußen und etwas Wolfsgeheul, um das Ganze perfekt zu machen.“

Aleister Pendrake ignorierte den Inspektor und sein impertinentes Klatschen und sagte: „Wie haben Sie sich entschieden, liebe Gäste? Ihr Wohlergehen liegt mir sehr am Herzen. Dies gilt besonders für meine langjährigen Freunde und ganz besonders für Sie, liebe Thelma. Also: Möchte jemand diese Runde verlassen, bevor ich die Photographie aus dieser Mappe hole?“

Seine Gäste reagierten alle durch entschlossenes Kopfschütteln. Thelma Carrington sah sich sogar zu einer zusätzlichen Anmerkung genötigt: „Liebster Aleister, danke für Ihre gut gemeinte Warnung. Ich bleibe dennoch. Lieber einige Nächte ohne Schlaf, weil man die Wahrheit kennt, als aus Unwissenheit.“

„Vielleicht sehen Sie das später anders, Thelma. Doch Sie alle haben Ihren Entschluss gefasst. So sei es denn …“

Mit dramatischer Geste zog er die Photographie heraus und übergab diese – um ein Durcheinander danach grapschender Hände zu vermeiden – rasch Dr. Leverton.

Der erfahrene Mediziner warf einen kurzen Blick darauf. Dann einen längeren. Beinahe gleichzeitig wurde er kreidebleich. Er, der in seiner langen Laufbahn schon so manches Widerwärtige geschaut hatte, war von dieser Photographie wie gebannt.

Thelma Carrington hielt die Spannung nicht länger aus und stellte sich hinter den Doktor – und sie sah

Ihr markerschütterndes Kreischen ließ die Bibliothek erzittern. Ohnmächtig sackte sie über dem Mediziner zusammen. Dr. Leverton fing sie auf und ließ dabei die Photographie fallen. Die Aufnahme schwebte geradezu hämisch langsam zu Boden. Colonel Thorne griff danach –und ins Leere. Der Whisky hatte nicht gerade zur Steigerung seiner Koordinationsfähigkeiten beigetragen. Ebenso wenig Thelma Carringtons Schrei.

Inspektor Nathaniel Dickinson fischte die Photographie mühelos vom Teppich auf und erlaubte dem alten Soldaten gnädigerweise, sie mit ihm zusammen zu studieren.

Sie erblickten ein Zimmer … ein Bett … in dem eine junge Frau schlief. Aber das war nicht das Schockierende. Man sah es nicht sofort … entdeckte es erst auf den zweiten oder dritten Blick: Da war ein kleiner Spiegel an der Wand gegenüber – und in ihm spiegelte sich der Photograph dieser Aufnahme – und was auch immer er, sie oder ES sein mochte, es war einfach unbeschreiblich.

„Hölle und Haubitzen!“, fluchte der Colonel und wandet den Blick rasch ab. „Diese vielen Arme … Beine … was weiß ich. Wie Schlangen aus Pech! Wie Gedärme aus Teer!“

„Wie Tentakel aus … aus … nein, wie elastische … Spinnenbeine … mit Krallen!“, quälte Dr. Leverton hervor.

Der Inspektor betrachtete als einziger noch die Photographie. Auch er war fahl geworden. Auch er begann nun zu sprechen. Da die anderen Gäste verstummt waren, erschienen seine Worte überlaut: „Wie … wie … meine Güte, wie sag ich es bloß … wie eine … wie eine … absolut brillante Fälschung! Mein Kompliment, solch eine hervorragende Arbeit ist mir bisher noch nicht begegnet.“

Fassungslos starrten ihn die anderen an.

Lediglich Sir Aleister Pendrake und sein Butler Cedric bewahrten stoisch die Ruhe.

„Nathaniel! Das geht eindeutig zu weit! Ich habe dich nicht mit hierher gebracht, damit du mich mit deinen unverschämten Reden vor meinem Freund und Gastgeber derart blamierst! Weißt du überhaupt, was für eine Ehre es ist, auf Castle Pendrake zum Dinner geladen zu werden? Wie kannst du Sir Pendrake vorwerfen, eine Aufnahme zu fälschen?“, ereiferte sich Dr. Leverton. Hätte Ms. Carrington nicht auf ihm gelegen, wäre er glatt aufgesprungen.

„Beruhige dich, werter James. Ich habe nicht unseren großzügigen Sir hier der Fälschung bezichtigt. Er ist lediglich einer aufgesessen – und das kann selbst den klügsten Köpfen passieren. Ich bitte um Entschuldigung, falls ich mich in diesem Punkt missverständlich ausgedrückt habe.“

Er erntete unverständliches Murmeln der anderen Gäste und ein leichtes Nicken von Aleister Pendrake, auf dessen Gesicht ein Lächeln wie festgefroren lag.

Die Stimmung war ruiniert und kehrte auch nicht wieder.

Etwa eine halbe Stunde später – Thelma Carrington war inzwischen wieder durch Einsatz von Riechsalz zur Besinnung gebracht worden – verabschiedeten sich die Gäste.

 

 

II

„Sir, darf ich mein tiefstes Bedauern darüber ausdrücken, dass der Abend solch eine unschöne Wendung genommen hat?“, bemerkte der treue Cedric, während er seinem Herrn einen weiteren Whisky einschenkte.

„Vielen Dank, mein guter Cedric. Immer wenn ich einem meiner langjährigen Freunde gestatte, eine mir unbekannte Person probeweise zu unserem monatlichen Dinner mitzubringen – als Joker sozusagen – ist das Resultat spannend. Manchmal erfreulich, manchmal langweilig und manchmal ärgerlich. Keine Manieren, dieser junge Kerl.“

„Der arme Dr. Leverton, Sir.“

„Allerdings, Cedric. Es ist ihm sicherlich furchtbar peinlich. Ich werde ihm gleich morgen eine Nachricht schicken, dass ich ihm nichts nachtrage. Ich habe es ihm zwar vorhin beim Abschied bereits versichert, aber ich kenne James Leverton gut genug, um sicher zu sein, dass ich da noch einmal eine Intensivierung in Schriftform folgen lassen muss.“

„Ich erlaube mir Ihre Meinung zu teilen, Sir, falls es nicht zu vermessen ist.“

„Ist es nicht. Den Whisky werde ich später trinken. Erst gilt es etwas zu erledigen. Etwas Unappetitliches. Teilst du nicht nur meine Meinung, sondern auch das, was jetzt getan werden muss?“

„Gewiss, Sir. Wie immer in solchen Fällen. Ich werde mein Bestes tun“

Der Butler ergriff ein ganz bestimmtes Buch ganz unten links im Bücherregal und zog daran. Der dadurch ausgelöste Mechanismus öffnete eine verborgene Geheimtür, die in die unterirdischen Gänge von Pendrake Castle führte. Das Gangsystem war überraschend weit verzweigt, aber Aleister Pendrake und sein Butler kannten sich hier unten perfekt aus. Nach ein paar Minuten gelangten sie in einen geräumigen Gewölbekeller.

Ein schrilles Geräusch – gleichzeitig Pfeifen, Röcheln, Singen und … noch etwas – empfing sie, kaum dass sie den Raum betreten hatten. Und ein absolut unvorstellbarer Gestank! All das ging von einem namenlosen, sich ständig verändernden Ding aus, das in einem massiven Käfig gefangen war.

„Ein Wunder, dass wir dies überhaupt fangen konnten, Sir“, bemerkte Cedric mit ungewohnt bebender Stimme, die in dem Lärminferno kaum vernehmbar war.

„Wäre die Höhle bei Seathorpe nicht vor zwei Monaten durch den Felsrutsch teilweise eingestürzt und wäre das Monstrum nicht unter den Felsblöcken eingeklemmt worden, hätten wir niemals von seiner Existenz erfahren. Zum Glück verständigte mich meine Informantin vor Ort, ohne andere einzuweihen.“

„Es ist eine kluge Strategie von Ihnen, Sir, jeweils mindestens eine Vertrauensperson am Ort eines ihrer ungelösten rätselhaften Fälle auszusuchen und ihr ein fürstliches, lebenslanges Salär für die Überwachung der unmittelbaren Umgebung zuzuwenden.“

„Plus die Zusicherung einer fürstlichen Erfolgsprämie für entscheidende neue Informationen. Gier, mein treuer Cedric, ist ein Garant für bleibende Motivation.“

„Es gibt auch hehrere Motivationsgründe, Sir, wie ich mir an dieser Stelle anzumerken erlaube“, entgegnete der Butler.

Das Konzert der grauenhaften Laute steigerte sich derweil zu einem infernalischen Crescendo. Das schattenhafte Ungeheuer warf sich pulsierend und in sich selbst schlängelnd gegen die Gitterstäbe aus bestem Stahl.

„Was ist das nur für ein Wesen? Und wieso konnte es … photographieren?“

„Einige Jahre vor Verena de Vries verschwand ein begabter Photograph in Seathorpe. Ein Photograph, dem man nachsagte, mit seinen Aufnahmen Dinge festhalten zu können, die dem normalen Auge entgingen. Ich schätze, es hat von ihm gelernt, während es sich ihm näherte, ihn beobachtete. Bevor es ihn dann tötete. Erinnere dich daran, dass in der Höhle auch mehrere Aquarelle gefunden wurden. Wer mag sie wohl gemalt haben? Vielleicht braucht diese Monstrosität solch begabte – oder verfluchte – Menschen, um soweit stofflich zu werden, dass es Macht in unserer Welt erlangt. Ich bin überzeugt, dass auch Verena de Vries dazu fähig war. Denk daran, dass sie auf der zweiten Karte schrieb, dass niemand außer ihr das Wesen sehen konnte. Das wurde ihr zum Verhängnis.“

„Und warum vermögen dann wir beide diese Ungeheuerlichkeit zu sehen, Sir?“

„Beantwortet sich deine Frage nicht von selbst, Cedric? Ich sagte doch, dass es besonders begabte Menschen braucht, um dieses Etwas zu sehen. Ich sagte nicht, dass nur Künstler diese Gabe besitzen.“

Cedric nickte schwer.

„Und nun lass es uns hinter uns bringen. Verena de Vries muss – und wird! – endlich Gerechtigkeit widerfahren. Du schüttest oben das heiße Pech hinein und entzündest es. Der Rauch wird durch die alte Kaminöffnung nach oben abziehen. Ich werde derweil mit diesen vorgeladenen Flinten Silberkugel um Silberkugel in das unheilige Fleisch feuern!“

„Ich hoffe, es wird ausreichen“, sagte der Butler, straffte sich und machte sich entschlossen an sein grauenhaftes Werk.

Sir Aleister Pendrake griff sich das erste Gewehr, legte an und schoss …

 

 

III

Am darauf folgenden Tag las Inspektor Dickinson folgende kurze Notiz in der Abendausgabe der Times:

 

Pendrake Castle. Eine in den Morgenstunden aufgebrochene Gruppe von drei Wanderern berichtete, dass sie in der Nähe des Castle eine aufsteigende, schwarze Rauchsäule beobachtet und Schüsse sowie durchdringendes Geschrei und Geheul vernommen hätten.

Die besorgten Wanderer alarmierten die Polizei im nächst gelegenen Ort Thumbuckington.

Trotz des mittlerweile ausgebrochenen Sturms sprachen zwei Beamte sicherheitshalber im Castle vor.

Sir Aleister Pendrake, der berühmte Amateurdetektiv und Hobbywissenschaftler, wurde in bester Gesundheit angetroffen und konnte die Beamten beruhigen.

Man darf an dieser Stelle spekulieren, dass vielleicht ein zu guter Tropfen die Phantasie der Herren Wanderer beflügelt hat.

 

„Wirklich: Der alte Knabe ist schon eine Nummer für sich. Bestimmt hat er die Wanderer bezahlt, um mal wieder in der Presse erwähnt zu werden. Was für ein eitler, alter Gockel!“

Nathaniel Dickinson warf die Zeitung mit einem meckernden Lachen in den Papierkorb und widmete sich dann seinem ersten ungelösten Fall …

 

 

IV

Am gleichen Tag erhielt Alice Carter einen Brief.

Einen Brief, den sie seit über zwanzig Jahren sehnsüchtig erwartet hatte …

 

Liebe Ms. Carter,

 

es ist erledigt.

Seien Sie versichert, dass die Schuld vollständig beglichen wurde und dass die Ausmerzung lange dauerte.

Ich entschuldige mich dafür, dass es so lange gedauert hat und verbleibe

 

Mit hochvorzüglichen Grüßen

 

Ihr Sir Aleister Pendrake

 

 

 

Imprint

Text: Mike Vulthar
Images: Bilder auf dem Cover von Angelika - https://www.bookrix.de/-vielleser9
Cover: Angelika - https://www.bookrix.de/-vielleser9; Einfügung 'Mike Vulthar' dankenswerter Weise durch Phil Humor
Editing: Gwenypher
Publication Date: 07-13-2018

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