Illusion und Realität
In dieser Abhandlung möchte ich folgende Gedanken allgemeinverständlich erläutern:
Ich denke, dass mein Leben aus einer Aneinanderrei-hung von Gegenwartsmomenten besteht. Diese sind für einen Moment in folgendem Sinne
Realität:
momentane Gegebenheit im Leben, der eine Zukunft vorausging und die danach Vergangenheit sein wird.
Sowohl Zukunft als auch Vergangenheit meines Lebens sind weitgehend, aber nicht ausschließlich, in folgendem Sinne
Illusion:
Insbesondere auf
meinen eigenen Wünschen und Vorstellungen
beruhende Ansichten über Zukunft und Vergangenheit.
Wenn ich somit über mein Leben nachdenke, geht es größtenteils um Illusionen über Zukunft und Vergangenheit im engeren Sinne dieser Begrifflichkeiten.
1. Vorgeschichte
Am 26. Dezember 2010 veröffentlichte ich in der Gruppe „Philosophisches“ unter der Überschrift „Illusion und Realität – philosophische Gedanken dazu am 2. Weihnachtsfeiertag“ folgenden zur Diskussion auffordernden Beitrag:
„Ich meine, fast unser ganzes Leben ist eine einzige Illusion. Denn alles Vergangene ist Erinnerung, und die ist Illusion, weil unser Gedächtnis unzuverlässig ist. Und alles Zukünftige ist reine Vorstellung. Und die ist auch nur Illusion, weil wir darauf spekulieren, was passieren könnte. Damit bleibt uns als vollkommen real nur der Augenblick, der gegenwärtige Moment. Aber der verwandelt sich ständig von einer Vorstellung in eine Erinnerung...Und beide sind lediglich Illusion.“
Am 27. Dezember reagierte als Erster kariokariologiker auf diesen Forumbeitrag. Ihm folgten am 28. Dezember hiltja und helgas. mit Wortmeldungen darauf.
Kariokariologiker hielt eingangs diese Gedanken dann für gut, wenn sie „in meinem Leben eine Bereicherung wären“. Sie sind für mich tatsächlich eine Bereicherung, denn das Nachdenken darüber und der Gedankenaustausch mit anderen dazu, der ein noch intensiveres Nachdenken über Möglichkeiten der Verifizierung fördert, haben ein Umdenken bei mir bewirkt. Ich bin mir jetzt bewusst geworden, dass selbst engste Vertraute von mir eine Gegebenheit, ein Ereignis, welches wir zusammen erlebt haben, in ihrer persönlichen Erinnerung möglicherweise anders bewahrt haben können als ich. Durch diese Erkenntnis ist es mir möglich, bei etwaigen Meinungsverschiedenheiten darüber besonnener zu reagieren als ich das bisher tat. Und das ist in meinen Augen durchaus eine Bereicherung meines Lebens, oder?
Kariokariologiker bewertete andererseits diese Gedanken als schlecht, „weil sie als Postulat einfach zu unsachlich seien.“ Als allgemeingültiger Satz hielte er „keiner Überprüfung stand“. Es „gäbe schließlich in der Philosophie feste Regeln, unter denen ein Postulat seine Verifizierung erhält“. Nur wenn wir noch nichts über die Wechselwirkungen des Lebens wüssten, wäre das Leben eine Illusion. Weil wir aber selbst über viele Details Bescheid wüssten (er wies auf die vielen vergebenen Nobelpreise hin), „sei ein solch polemisches Postulat eher postpubertär“. Er folgerte, dass wir keine Philosophie bräuchten, wenn das Leben nur Illusion wäre.
Es sei „eine schon überhebliche Behauptung“, dass unser Gedächtnis unzuverlässig sei und zweifelte meine Kenntnisse über die Hirnforschung an, weil es „nicht reiche, nur populärwissenschaftliche Blätter zu lesen“.
Er vertrat ferner die Meinung, dass wenn wir wirklich von einem unzuverlässigen Gehirn abhängig wären, nicht alles das meistern könnten, wozu unser „in unendlich vielen Funktionen tätiges Gehirn“ in der Lage ist. Gerade deshalb seien wir überlebensfähig. Abschließend forderte er mich auf, doch mal diese Funktionen, die in Sekundenbruchteilen ablaufen, aufzuzählen.
Ich entgegnete ihm darauf, dass ich mich schon seit Jahrzehnten mit den Fortschritten in der Gehirnforschung beschäftigen würde und daher dezidiert auf seine Vorhaltungen in einem BX-Buch eingehen werde.
Bereits an dieser Abhandlung arbeitend, las ich ebenfalls am 28. Dezember den Forumbeitrag von hiltja. Er begann einleitend mit den Begriffsbestimmungen von Illusion und Realität, wie auch ich hier begonnen habe.
Unter „Illusion“ verstünde man „Einbildung, Phantasiegebilde, Selbsttäuschung, Wahnbild und Wunschvorstellung“, während „Realität“ definiert sei durch „Faktum, Gegebenheit, Leben, Materie, Praxis, Sein, Tatsache, Tatsächlichkeit, Wahrheit, Wirkliches und Wirklichkeit“.
Mir ist aus meinen – allerdings lange zurück liegenden - Philosophievorlesungen im Studium natürlich bekannt, dass es zuvor der Einigung auf Definitionen bedarf, um nicht nebeneinander her zu reden. Insofern bekenne ich mich zum Mangel im Forumbeitrag vom 26. Dezember, der zur Kritik voll berechtigt.
Hiltja zitiert den ersten Satz aus meinem Forumbeitrag und meint, ich würde „aus meinem Geisteszustand pauschalisierend auf alle anderen Menschen schließen“. Dann aber würde das für mich bedeuten, dass bei anderen Menschen die Kette Zukunft-Gegenwart-Vergangenheit, von der meine Annahme grundsätzlich ausgeht, entweder nicht oder anders verlaufe. Doch das ist wohl eher nicht der Fall. Der zitierte erste Satz wird von mir mit den folgenden in einen Kausalzusammenhang gebracht, d.h. die folgenden sollen ihn begründen. Eine sofortige Kritik ist somit vorschnell. Zwei meiner Aussagen werden von hiltja als korrekt bezeichnet: Alles Vergangene ist Erinnerung und alles Zukünftige ist reine Vorstellung. Der Kritikpunkt setzt ebenfalls bei meiner Annahme an, Erinnerung sei Illusion, weil unser Gedächtnis unzuverlässig sei. Genauso sei meine Aussage, dass „alles Zukünftige nur Illusion sei, weil wir darauf spekulieren, was passieren könne“ eine „verallgemeinernde Pauschalisierung, eine persönliche Einschätzung des eigenen Geisteszustandes“. In diesen Verurteilungen stimmen somit kariokariologiker und hiltja überein. Hiltja führt weiter aus, dass meine Aussage, vollkommen real wäre somit nur der Augenblick, zwar korrekt aber lediglich ein „Allgemeinplatz“ sei. Das sich eine Vorstellung über den Moment ständig in eine Erinnerung wandele, nenne man „Weiterentwicklung“, denn das Leben bestehe aus „Erfahrungen, die wir sowohl in der aktuellen Realität einsetzen, um sie zu bewältigen, als auch für die Zukunft, soweit diese denn planbar ist“. Er schließt damit, dass Illusionen Selbsttäuschungen seien, denen nur jemand unterliege, der sich selbst täuschen wolle. Meine Überlegungen seien somit „nicht seriös“.
Kurze Zeit danach meldete sich helgas. zu Wort und äußerte die Vermutung, dass jedem Menschen ein gewisses, jeweils unterschiedliches Maß an Illusionärem und Realitätssinn zu eigen sei. Man könne Illusionen im Zusammenhang mit Visionen (z.B. von Forschern und Entdeckern) durchaus als „positiv und lebensbereichernd“ ansehen. Allerdings dürfe man den Bezug zur Realität nicht völlig verlieren, sie nicht leugnen wollen. Das halte sie „für gefährlich und falsch“.
Sie stellt zutreffend fest, dass ich mit meinem Beitrag eine Diskussion ankurbeln wollte, was auch gelungen wäre. Allerdings ist für sie meine These nicht haltbar, denn im Sein, Leben, Denken, Altern und Sterben sehe sie keine Illusion. Auch ihre Vergangenheit sei keine, selbst wenn sie sie interpretiere. „Meine Kinder leben. Sie sind keine Illusion.“ schreibt sie und schließt, dass Illusion nur ein „Bruchteil des Ganzen“ sei.
Soweit die Wortmeldungen, auf die ich im Weiteren Bezug nehmen möchte, indem ich meine These verteidige. Ich hoffe, sie im Wesentlichen wiedergegeben zu haben.
2. Verteidigung der These
Als Erstes resümiere ich, dass in vielen Kritiken Illusion zumeist als Selbsttäuschung verstanden wurde. Insofern habe ich überhaupt keine andere Auffassung als die hier geäußerten. Wie oben aber festgelegt, habe ich meine Gedanken in einem fest eingegrenzten Sinne gemeint: Illusion als Ansicht, die auf eigenen Wünschen und Vorstellungen beruht. Damit ist beileibe nicht die idealistische Grundrichtung der Philosophie gemeint, die – vereinfacht gesagt – davon ausgeht, dass die Welt um uns herum nur eine Widerspieglung des persönlichen Wollens sei. Aber was ist nun wirklich damit gemeint? Das möchte ich an Hand von 16 kurzen Merksätzen (A1 bis C4) erläutern und zur Diskussion stellen.
A1 Das Zukünftige ist Vorstellung.
A2 Vorstellungen sind Versuche der gedankenmäßigen Vorwegnahme von Kommendem
A3 Die gedankenmäßige Vorwegnahme von Kommendem ist ein überaus komplexer Prozeß in
unserem Gehirn, der von sehr vielen Faktoren abhängig ist und beeinflusst wird
A4 Die Einflussfaktoren auf die in unserem Gehirn ablaufenden komplexen Prozesse bei der
gedanklichen Vorwegnahme von Kommendem sind bei jedem Menschen unterschiedlich
ausgeprägt und beeinflussen daher das Ergebnis der jeweiligen Vorstellung individuell
Erinnern wir uns, Hiltja hatte mir Folgendes vorgeworfen:
Genauso sei meine Aussage, dass „alles Zukünftige nur Illusion sei, weil wir darauf spekulieren, was passieren könne“ eine „verallgemeinernde Pauschalisierung, eine persönliche Einschätzung des eigenen Geisteszustandes“.
Können wir uns zunächst darauf verständigen, dass es – bis auf die gewinnbedachten Wahrsager – keinen Menschen gibt, der zuverlässig das Eintreten bestimmter wesentlicher, nicht banaler, Ereignisse vorhersagen kann. Selbst Kachelmann zu seinen besten Zeiten hat sich nicht nur einmal bei seinen Wetterprognosen geirrt. Und er hatte sehr viele Hilfsmittel zur Verfügung, von alten Wetteraufzeichnungen bis modernsten elektronischen Modellrechnungen an Hand von Wetterdaten aus aller Welt. Und ich konnte auch nicht vorhersehen, dass beispielsweise nach Weihnachten die Beziehung meines jüngsten Sohnes zerbrechen würde und ungewiss sein wird, ob wir unsere kleine Enkelin weiterhin sehen können. Als wir kurz vor Weihnachten noch bei Ihnen waren, hatten wir die Zukunftsvorstellung aus den vergangenen 9 Jahren gewonnen, dass sie auch weiterhin eine glückliche Familie bleiben würden...es erwies sich nun als Illusion, als eine auf eigenen Wünschen und Vorstellungen beruhende Ansicht. Es kam ein Anderer und schon ist alles anders! Vielleicht hätten andere als wir an bestimmten Verhaltensweisen der Frau bereits Vorzeichen erkannt, dass so etwas sich anbahnt? Das meine ich mit Einflussfaktoren auf die unheimlich komplex ablaufenden Prozesse in unserem Gehirn, auf die kariokariologiker völlig zu Recht hingewiesen hat. Ich vermag dabei keine Pauschalisierung zu erkennen, die mir hiltja vorwirft. Denn jeder, auch wirklich jeder geistig gesunder Mensch hat individuelle Voraussetzungen zur gedanklichen Vorwegnahme von Kommendem. Und wohl niemand wird von sich behaupten können, er wisse mit großer Sicherheit, was ihm die Zukunft bringt. Wir haben die Vorstellung, dass wir unser Alter bei einigermaßen Gesundheit erleben können. Mehr Gewissheit bekämen wir erst, wenn wir unsere genetische Veranlagung untersuchen lassen würden. Bis dahin bleibt es eine Illusion, eine im Sinne meiner These „auf Wünschen und Vorstellungen beruhende Annahme“.
Wir bekommen doch gegenwärtig die widerstreitenden Auffassungen der höchstausgebildeten Wissenschaftler in Bezug auf den Klimawandel mit. Vernachlässigen wir dabei diejenigen, die im Sold der skrupellosen Energielobby Gutachten fertigen, die diesen zu Munde reden. Es bleiben aber immer genug, die ausgehend von ihrer Ausbildung, ihrer praktischen Erfahrung und anderen Einflußfaktoren bei ihren Zukunftsprognosen zu entgegengesetzten Vorstellungen kommen. Bereits Mitte der 70er Jahre wurde von ihnen eine neue Eiszeit in etwa 10 Jahren vorhergesagt....
Bei all den angeführten Beispielen soll man nicht davon sprechen können, das Vorstellungen über die Zukunft in hohem Maße individuell geprägte Illusionen sind? Den Beweis ihres Wahrheitsgehaltes treten sie nach meiner Auffassung erst im jeweiligen aktuellen Moment an. Jeder Leser kann genügend andere Beispiele im Persönlichen und gesellschaftlichen Leben finden, wenn er denn ernsthaft gewillt ist.
Aus A1 bis A4 folgt somit für mich, dass das Zukünftige eine Vorstellung ist, die solange illusionär in dem von mir eingegrenzten Sinne bleibt, bis sie sich im jeweils aktuellen Moment als Realität bewahrheitet.
B1 Der gegenwärtige Moment ist Realität.
B2 Dieser Moment ist zuvor Zukunftsvorstellung und nachher Erinnerung.
B3 Der Moment ist weitgehend unabhängig von eigenen Wünschen und Vorstellungen, kann
aber durch zielführendes Handeln in gewissem Maße beeinflusst werden
B4 Das menschliche Handeln in der Realität ist von überaus vielen individuellen
Faktoren abhängig und unterschiedlich ausgeprägt.
Landläufig bekannt ist, dass „ was die Hand ausführt, zuvor durch den Kopf gedacht werden muss.“ In seinem 2001 veröffentlichten spektakulären Aufsatz „Der emotionale Hund und sein rationaler Schwanz“ geht der amerikanische Professor Jonathan Haidt jedoch davon aus, dass unsere Gefühle unserem Verstand voraus gehen. Die von ihm vertretene These ist provozierend (insofern ähnlich wie meine, wobei ich mich natürlich in keinster Weise mit einem Psychologieprofessor an der Virginia University vergleiche). Er meint nämlich, dass wir, weil wir bestimmte gefühlte Überzeugungen, Haltungen und Weltanschauungen haben, uns dazu die passenden Argumente suchen. Anders gesagt, bei unserem Handeln würden wir uns weniger vom rationalen Verstand als vom „Bauchgefühl“, einer „gefühlten Wahrheit“, leiten lassen. In seinem Buch „Die Kunst, kein Egoist zu sein“ schreibt R.D.Precht mit Bezug auf dieses Beispiel: „Das Schlechte an der Macht der Intuition ist, dass wir weit weniger vernünftig sind, als wir gemeinhin glauben. Das Gute ist, dass auch unsere Intuitionen lernfähig sind: durch Bestätigungen oder durch Enttäuschungen und vor allem durch Anregungen und Meinungen anderer. Unsere Gefühle lassen sich demnach verschieben und passen sich mitunter den Umständen an.“ Ich habe diesen Exkurs eingefügt um deutlich zu machen, was alles unser Handeln im Moment der Realität, zum Beispiel bei einer zu treffenden Entscheidung, beeinflusst. Nicht immer ist es unser so von kariokariologiker gelobtes Gehirn, dass uns dabei lenkt, eben manchmal auch die Intuition, die wir fälschlicherweise im „Bauch“ ansiedeln .
Wir sind uns sicher einig, dass die Proportion zwischen Intuition und Verstand bei jedem von uns völlig unterschiedlich ausgeprägt ist. Daher ist auch das menschliche Handeln in vergleichbaren Situationen differenziert. Beispiele dafür kennt bestimmt jeder.
Wie auch immer, aus B1 bis B4 folgt, dass im aktuellen Moment sich die Realität zeigt, fern jeder Illusion. Die Realität bestätigt entweder unsere Vorstellung von der Zukunft mehr oder weniger oder führt sie ad adsurdum. Das von vielen Faktoren abhängige menschliche Handeln kann dieses in gewissem Maße beeinflussen.
C1 Das Vergangene ist Erinnerung
C2 Erinnerungen sind in unserem Gedächtnis gespeichert
C3 Die Zuverlässigkeit unseres Gedächtnisses ist u.a. von der Merkfähigkeit und vom
Erinnerungsvermögen abhängig
C4 Merkfähigkeit und Erinnerungsvermögen sind bei jedem Menschen unterschiedlich und
werden durch viele Faktoren beeinflusst
Im Modell der geistigen Fähigkeiten werden drei verschiedene Bereiche unterschieden: Bereich der Merkfähigkeit, der Intelligenz und der Kreativität (Quelle: Peter Lauster „Intelligenz“).
In unserer Frage geht es um den Bereich der Merkfähigkeit, der sich auf vier Formen des Gedächtnisses verteilt: Optisches Gedächtnis, praktisches Gedächtnis, Sprachgedächtnis und rechnerisches Gedächtnis. Alle vier Formen fließen auch ein in den bekannten Intelligenztest zur Messung des IQ. Peter Lauster stellt in seinem o.a. Buch dar, dass die geistigen Fähigkeiten im täglichen Leben durch positive und negative Faktoren beeinflusst werden. Positiv natürlich durch Lob, Interesse, Selbstbewusstsein, Vitalität, mittlerer Ehrgeiz und Ausgeglichenheit. Demgegenüber beeinflussen Tadel, Interesselosigkeit, Minderwertigkeitsgefühle, Depression, geringer Ehrgeiz und geringe Belastbarkeit die geistigen Fähigkeiten negativ. Das hat bestimmt schon fast jeder von uns mal feststellen müssen.
Was nun das Erinnerungsvermögen betrifft, könnte man meinen, dass es lediglich eine Umschreibung der Merkfähigkeit sei. Ich verstehe im Sinne meiner These darunter das Vermögen, gezielt individuelle Erinnerungen zu bestimmten Gegebenheiten, Ereignissen o.ä. aus dem Gedächtnis abrufen zu können. Die Merkfähigkeit dagegen möchte ich auf das Merken bestimmter Fakten, Daten u.ä. begrenzen. Es ist ja bekannt, dass man mittels bestimmter Techniken und intensiver Einübung dieser, seine Merkfähigkeit enorm erhöhen kann und dass dennoch die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns damit nicht annähernd an seine Grenzen stößt.
Aus der unbestrittenen Tatsache, dass sich die Merkfähigkeit verbessern lässt, folgt im Umkehrschluss, das fehlendes Training auf diesem Gebiet unser Gedächtnispotential im Gehirn nicht annähernd ausschöpft. Dieser Ausschöpfungsgrad ist bei jedem Menschen unterschiedlich, wie sich beispielsweise durch Fragen aus dem IQ-Test zur Merkfähigkeit nachweisen lässt. Um die individuelle Merkfähigkeit geht es mir jedoch weniger, sondern mich beschäftigt das unterschiedliche Erinnerungsvermögen.
Sowoh kariokariologiker als auch hiltja warfen mir ja vor, dass ich pauschalisiert gesagt habe, das menschliche Gedächtnis sei unzuverlässig. Damit habe ich keineswegs an ihrer Merkfähigkeit zweifeln wollen oder bei ihnen irgendwelche Gedächtnislücken vermutet. Nie im Leben!
Wovon ich aber ausging war die Erfahrung, dass unsere Erinnerung an Vergangenes sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Ich stelle fast täglich bei Gesprächen fest, dass es keine Garantie gibt, bestimmte Erinnerungen – weiter zurück liegend – aus dem Gedächtnis abzurufen. Mal funktioniert es tadellos, mal verzögert und auch manchmal leider nicht. Nun könnten die beiden meinen, bei mir setzen sicher schon Altersausfälle ein. Wenn sie noch nicht in vergleichbarer Lage waren, können sie sich riesig freuen, denn sie sind eine rühmliche Ausnahme. Bei all meinen Freunden und Bekannten jedenfalls habe ich diese Erinnerungslücken auch schon bemerkt und zwar in jeder Altersstufe.
Meine Überlegung ist folgende: Unser Bewusstsein speichert Erinnerungen an reale Momente, Ereignisse usw. in verschiedenen Gedächtniskategorien ab: sehr wesentlich, wichtig/bedeutsam, weniger wichtig und unwichtig. So wie einige Programme im PC aus unseren gehörten Musikkategorien bestimmte Schlüsse ziehen und uns ähnliche Musik vorschlagen, so zieht unser Bewusstsein aus den bislang abgerufenen Erinnerungen Schlüsse für die jeweilige Einordnung in die einzelnen Kategorien. Das geschieht unbewusst, also ohne uns zu „fragen“. Die Erinnerungsmomente aus den drei erstgenannten Kategorien stehen uns bei Abruf in der Regel sofort zur Verfügung. Bei den anderen dauert es länger oder klappt gar nicht. Manchmal werden Erinnerungen aber auch auf – aus unserer Sicht - falschen „Speicherplätzen“ positioniert. Wir haben ja keine Kontrolle darüber, wundern uns vielleicht nur, warum wir uns an das tolle Konzert von „X“ nicht mehr erinnern können, wann und wo es stattfand, wie die Stimmung war. Das ist ein weiterer Grund, warum ich verallgemeinernd davon schreibe, das unser Gedächtnis nicht immer zuverlässig funktioniert: Manchmal erinnert man sich nur noch an dröge Fakten, hat die Empfindungen von damals vergessen. Bei anderen Gegebenheiten hat man sogar noch die Gerüche oder anderes parat. Das meine ich mit „unzuverlässig“. Wir haben keine Garantie, dass wir uns an Vergangenes wirklich so wieder erinnern können, wie wir es gerne möchten. Natürlich gibt es Hilfsmittel, wie Tagebuchaufzeichnungen, Fotos oder Videos. Warum haben wir sie denn? Weil wir damit rechnen müssen, das unser Gedächtnis genau bei dieser Situation nicht auf der Höhe war. Wenn es nur mein „Geisteszustand“ wäre, der das so sieht, dann würde es nicht so viele Fotoapparate und Videos geben. Bei jedem Pop-Konzert gehen Hunderte Blitze los und surren Videocams, nur um sich diesen tollen Moment wieder lebhaft in Erinnerung rufen zu können.
Nein, liebe Kritiker, ich bleibe dabei: Unser Gedächtnis ist oft nicht so zuverlässig, wie wir es uns wünschen. Es vermittelt uns ein Abbild von etwas Vergangenem, das in Abhängigkeit von vielen Faktoren beeinflusst ist, Ich sage dazu illusionär, weil es oft von unseren individuell differenzierten Wünschen und Vorstellungen „gefärbt“ wird. Nicht umsonst wird doch beispielsweise die „Ostalgie“-Welle so kritisiert, weil dabei die Vergangenheit je nach Erleben der DDR verklärt wird. Die sogenannten „Goldenen Jahre“ waren bestimmt für viele wunderschön, doch viele Zeitzeugen haben ganz andere Erinnerungen.
In diesem Sinne habe ich Erinnerungen als Illusion charakterisieren wollen. Damit ist doch nicht gesagt, dass es alle sind. Ich habe „fast“ geschrieben.
3. Fazit
Nun habe ich ausführlich dargelegt, wie ich meinen Forumbeitrag zu Illusion und Realität begründe. Ich hoffe, dass deutlich geworden ist, dass ich kein Mensch bin, der Illusionen über das Leben nachhängt, sondern der mit beiden Beinen in der Realität steht. Der den jeweiligen realen Moment seines Lebens in vollen Zügen genießt. Denn das Leben ist einem nur ein Mal gegeben, und man sollte es so leben, dass man an seinem - unwideruflich kommenden – Ende zu sich sagen kann, das man nicht umsonst gelebt hat. Und dazu gehört für mich auch, größere Klarheit darüber zu bekommen, was mir die Zukunft bringen könnte und was in meiner Vergangenheit war. Dabei muss ich mir bewusst sein, dass ich in Bezug auf die Zukunft zwar bestimmte Vorstellungen habe, aber nicht sicher sein kann, dass sie Realität werden. Und was meine Erinnerungen an die Vergangenheit angeht, bin ich bemüht, sie so realistisch wie möglich in mein Gedächtnis zurück zu rufen, wohl wissend, dass das nicht immer zu 100% so war.............
Ich stelle mich Eurer Kritik, mir wünschend, dass ich einige Vorbehalte ausräumen konnte.
Publication Date: 12-28-2010
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Dedication:
Gewidmet meinen Kritikern helgas., kariokariologiker und hiltja