Mit einem feinen Pinsel zeichnete Casper eine Blume in Grau auf die Leinwand. Nachdem er sie fertig hatte, wusch er seinen Pinsel aus und holte sich die bunten Farben. Damit setzte er Akzente. Das Bild war ein Kundenwunsch und den erfüllte Casper sehr gerne. Ihm machte so etwas sehr viel Spaß und er freute sich immer, wenn die Kunden ihr Bild liebten. Darum nahm er sich für Kundenwünsche immer besonders viel Zeit. Sie sollten absolut perfekt sein.
Erst spät am Abend beendete er seine Arbeit. Zufrieden trat er einen Schritt zurück und betrachtete das Werk. Die Farben leuchteten regelrecht vor dem grauen Hintergrund. Schnell knipste Casper ein Foto mit dem Handy und schickte es an die Kundin. Wenn es ihr gefiel, würde er es am nächsten Tag per Kurier an sie schicken. Den gönnte er seinen Kunden, da sie für Sonderwünsche mehrere Hundert Euro zahlten. Mittlerweile konnte er von seiner Kunst leben und musste keine Nebenjobs mehr annehmen. Selbst seine Miete in der WG konnte er pünktlich bezahlen, ohne um Aufschub bitten zu müssen.
Kaum dass er aus seinem Zimmer trat, empfing ihn das absolute Chaos. Auf dem Boden lagen jede Menge Popcorn und Gummibären. Zudem hatte jemand seine Klamotten überall verteilt. Dazu tönten die lauten Stimmen seiner Mitbewohner durch die Gänge. Sie stritten sich um etwas.
Ruhig suchte Casper sich einen Weg durch das Chaos. In der Küche standen sich die beiden Männer gegenüber und brüllten sich an. Er wollte gar nicht wissen, was der Auslöser für die Auseinandersetzung war. Darum verhielt er sich unauffällig und schlich an ihnen vorbei zum Kühlschrank. Nur dass der, wie so oft, keinen Inhalt besaß. Deswegen schnappte Casper sich den Stapel Flyer, der in einer Kiste auf dem Küchentresen seinen Platz gefunden hatte. Mit denen machte er sich aus dem Staub. Er gab sich nicht einmal die Mühe, nach dem Haustelefon zu suchen.
Im Vorbeigehen schlug er auf den roten Knopf, mit dem man das Licht auf der Terrasse anschalten konnte. Der Vorbesitzer der umgebauten Fabrikhalle hatte sich wirklich viel Mühe mit der großen Holzterrasse gegeben. Doch nur Casper wusste sie zu schätzen. Manchmal stellte er im Sommer seine Staffelei dort auf und genoss das schöne Wetter. Allerdings nur, wenn er keine Auftragsarbeiten hatte. Der wilde Garten war eine riesige Inspirationsquelle.
Sich in seinen Lieblingshängesessel, der an einem extra aufgestellten Balken hing, einrollend, schmiss er die Flyer auf den Boden, welche er auf keinen Fall benötigen würde. Musste er zwar nachher alles wieder aufräumen, doch das war nicht schlimm. Er war nicht so faul wie seine Mitbewohner. Eigentlich machte nur er Putzdienst. Dafür bezahlte er weniger Miete. Wobei Casper bei solchen Eskapaden wie herumfliegendem Popcorn und verstreuter Kleidung keinen Finger rührte.
Unentschlossen betrachtete Casper die letzten drei Flyer. Pizza, Asiatisch oder Fisch. Eine schwere Wahl. Schließlich entschied er sich für eine Schinkenpizza und bestellte sie per Telefon. Dabei gab er genaue Anweisungen, wo der Bote hinsollte.
Leise vor sich hinsummend lehnte Casper sich so weit zurück, dass er die Sterne sehen konnte. Nach wenigen Minuten verstummte er, genoss die Stille der Nacht. In der Nähe bewegte sich etwas durchs Unterholz, verursachte ein Rascheln und Knacken. Wirklich Sorgen machte er sich nicht. Obwohl sie sehr abgelegen wohnten, passierte nie etwas. Was wohl daran lag, dass sie mitten im Gebiet der Blackwood-Bären lebten. Sie galten als eins der brutalsten Wandlerrudel in der Gegend. Doch Casper konnte das nicht beurteilen. Er hatte bisher nur telefonischen Kontakt gehabt. Die Bären lebten sehr zurückgezogen.
Schritte näherten sich ihm. Casper konnte die Pizza schon riechen und sein Magen meldete sich lautstark zu Wort. Der Bote hielt sich nicht mit Worten auf, sondern reichte ihm die Pizza, grinste ihn an, nahm den Zehneuroschein und verschwand. Er wusste, dass Casper kein Wechselgeld wollte. Darum gehörte er zu den Lieblingskunden der Lieferanten. Gerade als er ins erste Stück beißen wollte, betrat etwas die Terrasse. Es war definitiv kein Mensch, denn Krallen schabten über das Holz. Mit einem dumpfen Laut legte sich ein schwerer Körper in direkter Nähe hin. Nachdem nichts weiter passierte, zuckte er mit den Schultern und biss genüsslich in seine Pizza. In Rekordzeit verputzte er sie, schmiss den Karton einfach aus seinem Hängesessel.
Fast die ganze Nacht verbrachte Casper draußen. Erst als er merkte, dass der Morgen nahte, kämpfte er sich frei. Mit hochgezogener Augenbraue betrachtete er den großen, braunen Bären, der mitten auf der Terrasse lag und zu schlafen schien. Da seine Sinne nicht so wirklich funktionierten, konnte er nur vermuten, dass es sich um einen Gestaltwandler handelte. In der Gegend gab es zudem keine reinen Bärentiere. Deswegen stieg Casper auch einfach über die riesigen Pfoten, anstatt einen Bogen darum zu machen, und verschwand im Haus.
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Die Kundin wollte das Bild. Sie unterstrich ihre Zustimmung mit ganz vielen Herzchen und Smileys. Lächelnd verpackte Casper das Bild und gab einen Auftrag an seine Transportfirma. Sie würden das Bild auch ordentlich verpacken, wenn sie es abholten. Für den Service zahlte er gerne etwas mehr. Leinwände einpacken gehörte definitiv nicht zu seinen Stärken.
Sich genüsslich streckend stand er auf der Terrasse und sah dabei auf den Wald. Hinter den Baumwipfeln ging gerade die Sonne unter. Er hatte fast den ganzen Tag verschlafen. Eigentlich hatte er noch einkaufen wollen, doch das konnte er getrost vergessen. Deswegen wollte er gleich wieder ins Bett und am nächsten Tag früh rauspurzeln. Da er zu den Langschläfern gehörte, würde das zwar schwer werden, aber sicher irgendwie funktionieren. Wobei das Wetter so schön war, dass Casper überlegte, mal draußen zu schlafen. Allerdings eignete sich sein Hängesessel nicht dafür. Er hatte einen sehr unruhigen Schlaf und würde entweder zu Boden stürzen oder sich komplett verheddern. Mehr Möbel hatten sie allerdings nicht auf der Terrasse. Wobei der Plan für eine Sonnenliege schon länger existierte. Bisher hatte es nur an Motivation für die Umsetzung gefehlt.
Vielleicht könnte er das am nächsten Tag erledigen. Er musste mal mit seiner Pinnwand anfangen. An der hingen all die Dinge, welche er mal machen wollte. Von Monat zu Monat verirrten sich mehr Zettel dorthin, doch nur selten konnten welche vernichtet werden. Theoretisch wäre es ein guter Zeitpunkt, um ein paar Punkte abzuarbeiten. Er hatte keine Auftragsarbeiten und auch sonst keinen Stress. Das finanzielle Polster dafür besaß er auch. Wobei er auch noch einige Bilder besaß, die er verkaufen könnte. Sie standen sowieso nur herum. Dafür müsste er sich allerdings aufraffen und sie fotografieren.
Mit einem letzten Blick zum Waldrand hin, wo ein einsamer Bär saß und gähnte, verabschiedete er sich von dem sehr kurzen Tag und schlich zurück ins Bett. Aus einer Laune heraus wandelte er sich und rollte sich zu einem runden Ball ein. Da seine Mitbewohner sich für den Abend außer Haus verabschiedet hatten, würde keiner in sein Zimmer stürmen.
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Er hatte vergessen, seinen Wecker zu stellen. Brummend wandelte Casper sich und kämpfte danach mit der Jeans, die er anziehen wollte. Dabei hüpfte er von einem Fuß auf den anderen und zerrte an dem Stoff. Schließlich schaffte er es, dass er sie trug. Als Nächstes kam ein rotes Shirt. Socken ließ er einfach weg, denn saubere hatte er nicht mehr. Dazu müsste er erst wieder Wäsche waschen. Deswegen schlüpfte er einfach so in seine Turnschuhe und schlurfte los.
Der erste Punkt auf seiner To-do-Liste war schnell erledigt. Die Männer der Transportfirma kamen pünktlich und verpackten das Bild innerhalb weniger Minuten so gut, dass es garantiert keine Schäden davontrug. Casper musste nur ein paar Papiere unterschreiben, schon befand sich das Bild auf dem Weg zu der neuen Besitzerin. Die hatte auch schon das Geld überwiesen. Sie hatte sogar schon einen Platz ausgesucht, wo es hängen sollte.
Der zweite kostete ihn schon etwas mehr Zeit. Trotzdem putzte er alles gründlich, bis auf die Zimmer seiner Mitbewohner. Auch die drei Waschmaschinen füllte er mit seinen Klamotten und schaltete sie an. Da seine Mitbewohner garantiert nicht in diesem Moment ihre Sachen waschen wollten. Was sie sowieso erst machten, wenn die Klamotten absolut untragbar waren.
Zufrieden mit seiner Arbeit wollte er seinen Autoschlüssel nehmen, doch der hing nicht mehr am Schlüsselbrett. Wenn er überhaupt je dort gehangen hatte. Sicher war sich Casper nicht. Es konnte auch sein, dass er den Schlüssel irgendwann in eine Ecke geworfen hatte. Das passierte regelmäßig.
Gerade als er sich auf die Knie begeben wollte, um unter die Flurkommode schauen zu können, klingelte es an der Tür. Für den Moment ließ Casper sich ablenken und öffnete die Haustür. Davor wartete ein Holzfäller. Anders konnte er ihn nicht beschreiben. Der dunkelbraune Bart bedeckte das halbe Gesicht und hatte dieselbe Farbe wie das etwas längere Kopfhaar. Goldene Augen musterten ihn, während Casper das Gleiche tat. Ein rot-schwarz kariertes Hemd offenbarte aber nicht sehr viel, während die Jeans durchtrainierte Beine zeigte.
„Genug gestarrt?“ Amüsiert drängte sich der Mann in den Flur. Nachdem er sich kurz umgesehen hatte, verschwand der Fremde in der Küche. Perplex folgte Casper ihm.
Wie selbstverständlich suchte der Mann in den Schränken, bis er das Kaffeepulver in der Hand hielt. Das füllte er in die Maschine, genauso wie Wasser, und schaltete sie an. Der Mann vor ihm war ein Bärenwandler. Er war sich nicht ganz sicher, vermutete aber, dass es der war, welcher regelmäßig auf der Terrasse schlief.
„Du müsstest mal einkaufen, Zwerg. Die Schränke sind leer.“ Als ob das zu übersehen wäre. Die Augen verdrehend sprang Casper auf eine der Arbeitsflächen.
„Ich bin Casper. Mit wem habe ich denn die Ehre?“ Seelenruhig richtete der Bär sich eine Tasse her.
„Samir. Ich bin der Vollstrecker des ortsansässigen Rudels und soll dich endlich mal standesgemäß begrüßen.“ Aus einem verborgenen Eck zauberte Samir Zwieback hervor. Nach einem kurzen Schnuppern nahm er sich einen und biss hinein, hielt danach die Packung Casper hin. Da er Hunger hatte, griff er zu. Schweigend knabberten sie an dem trockenen Zwieback.
Schließlich sprang Casper vom Schrank, machte sich ein weiteres Mal auf die Suche nach seinen Schlüsseln. Tatsächlich fand er sie sofort unter der Kommode.
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Josephine Wenig
Images: pixabay.com,, Bearbeitung: Caro Sodar
Editing: Bernd Frielingsdorf
Publication Date: 07-31-2017
ISBN: 978-3-7438-2586-4
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