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Prolog

 

Savannah


Dezember 2010.
Die Tropfen, die vom Himmel fielen, donnerten mit aller Kraft gegen die Fensterscheiben des Hauses. Das Glas zitterte unter der Wucht des Aufpralles, vielleicht sollte sie Angst haben, dass es brechen könnte. Aber noch hielt es ja. Es gab also keinen Grund zur Sorge.
Der Regen heute Nacht war so stark, dass sogar die Stromversorgung vor zwei Stunden Kleinbei gegeben hatte. Es war nun kurz vor Mitternacht, vermutlich war Savannah die Einzige in der näheren Umgebung, die den Stromausfall überhaupt bemerkt hatte. Alle anderen hatten sich bestimmt schon schlafen gelegt, was sollte man bei so einem Wetter auch sonst tun?
Die Straße vor ihrem Haus war bereits völlig überflutet: Wasser quoll aus den Kanälen und formte sich zu einer Art selbstständigen Fluss, der alles mitriss, was ihm in die Quere kam. Savannah wusste nicht genau, wieso, aber ihr gefiel dieses Wetter. Das laute Dröhnen des unaufhörlichen Regens wirkte auf sie irgendwie beruhigend. Außerdem gefiel ihr der Gedanke, dass endlich der ganze Unrat mal von den Straßen geschwemmt wurde. Sie war schon auf das Chaos gespannt, das diese Flut morgen auslösen würde. Bestimmt würden die Leute ausflippen, wenn das Wasser den einen oder anderen Gartenzwerg davon gespült hatte. Dabei sollten sie dem Regen dankbar sein, immerhin bereinigte er ihre Gärten von Unrat.
Einen Moment lang blieb Savannah noch am Fenster stehen, bevor sie sich umdrehte und durch das dunkle Wohnzimmer in die Küche marschierte. Hin und wieder hatte sie ihre dicken, schwarzen Kerzen angezündet, um nicht völlig im Dunklen zu tappen. Allerdings wollte sie es mit der Beleuchtung auch nicht übertreiben. Zum einen, weil sie es nicht ausstehen konnte, geblendet zu werden, und zum anderen, weil nicht jeder schon von weitem sehen sollte, dass sie noch wach war.
In der Küche brannte nur eine einzige Kerze, die auf dem Tisch stand. Dicke Wachstropfen rannen daran hinab und sammelten sich auf dem alten Holz. Das gefiel Savannah nicht. Das Wachs machte ihr den Tisch kaputt.
»Aufhören«, befahl sie, woraufhin der Tropfen, der gerade an der Kerze hinabrollte, auf halbem Weg stehen blieb. »Zurück an deinen Platz. Alles.« Es dauerte einen Moment, doch dann zog sich der Tropfen wieder zurück, bis er sich unter das flüssige Wachs direkt unter der Flamme mischte. Auch die bereits angetrocknete Masse am Fuß der Kerze begann, sich langsam wieder zu verflüssigen und sich seinen Weg nach oben zu bahnen.
Zufrieden wandte Savannah der Kerze den Rücken zu, um das zu tun, weswegen sie erst in die Küche gekommen war. Sie griff nach meinem alten Teekessel und füllte etwas Wasser hinein, um es dann über dem Feuer zum Kochen zu bringen.
Kaum hatte sie den Kessel über der Feuerstelle platziert, vernahm sie ein leises Klopfen, das sich vom dröhnenden Regen abhob. Sie sah sich im Haus um, da sie das Geräusch zunächst nicht zuordnen konnte. Dann wurde ihr klar, woher das Klopfen gekommen war, und sie machte sich auf den Weg zur Tür. Wer sollte sie um diese Uhrzeit noch stören? Wer auch immer es war, er würde es garantiert bereuen.
Savannah riss die Tür auf, doch ihr Blick fiel ins Leere. Etwas verwirrt schlang sie ihre Weste enger um meinen Körper, bis sie realisierte, dass sie gar nicht alleine war: Da stand ein Mädchen vor ihrer Tür. Es hatte blondes, völlig durchnässtes Haar und reichte ihr gerade einmal bis zur Hüfte.
»Solltest du um diese Uhrzeit nicht schon längst im Bett sein, Kleine?«, fragte Savannah sie und sah sich dabei in der Straße um. Es konnte doch nicht sein, dass ein kleines Mädchen um Mitternacht alleine in den Straßen Londons herumirrte. Besonders bei diesem Wetter.
»Bist du Savannah?«
Ihre Augen verengten sich misstrauisch und sie war kurz davor, dem Mädchen die Tür vor der Nase zuzuschlagen, doch etwas hielt sie davon ab. Da war etwas in ihrem Blick, das Savannah zum Zögern veranlasste, allerdings konnte sie noch nicht recht sagen, was sie da sah. »Ich wüsste nicht, was dich das angeht.«
»Ich habe schon viel von dir gehört«, erwiderte das Mädchen ihr unbeirrt. Sie fragte sich, wie alt es wohl war. Neun Jahre? Zehn? Vielleicht älter? »Du bist eine der mächtigsten Hexen Londons. Ich will, dass du mich unterrichtest.«
Savannah verzog das Gesicht. Darum ging es also. »Ich unterrichte nicht«, erklärte sie dem Mädchen und griff bereits nach der Tür, um sie zu schließen. »Jede Hexe muss sich selbst beibringen, ihre Kräfte zu kontrollieren. So etwas wie Hogwarts gibt es nicht, auch wenn es sich schön anhört. Ich kann dir nicht helfen.«
»Mein Name ist Zoey Hensley«, sagte das Mädchen und machte einen Schritt nach vorne, so dass es direkt zwischen Tür und Angel stand und Savannah es nicht aussperren konnte. »Meine Eltern wurden von einer bösen Hexe getötet und heute hat diese Frau auch noch meine Tante umgebracht, bei der ich gelebt habe.«
»Das tut mir ja leid für dich, aber-«
»Ich will, dass du mich lehrst. Ich will so stark werden wie du, damit ich mich an Dhana für das rächen kann, was sie mir und meiner Familie angetan hat.«
Savannah schwieg einen Moment lang und sah das Mädchen – Zoey – dabei unverwandt an. Jetzt wusste sie auch, was ich da in ihren Augen sah: Kampfgeist. Zoey würde sich nicht so einfach abwimmeln lassen, was, angesichts der Umstände, alles andere als klug war. »Du willst dich mit Dhana anlegen?«, versicherte sie sich noch einmal und Zoey nickte entschlossen. »Du wirst niemals eine Chance gegen sie haben, Kleine.«
»Doch«, erwiderte sie ihr. Wie war es möglich, dass sie keinerlei Angst vor Dhana oder ihren Kräften hatte? Sie war eine der stärksten Hexen der letzten Jahrhunderte. »Wenn du mich unterrichtest.«
Ungläubig schüttle Savannah den Kopf. »Nicht einmal ich würde mich freiwillig mit Dhana anlegen. Und jetzt geh nach Hause, du verschwendest deine Zeit.«
»Ich gehe nicht, bevor du mir nicht versprochen hast, mich zu unterrichten!«
Savannah spürte, wie das Blut in ihren Adern zu brodeln begann. Wie konnte dieses einfältige Kind nur so mit ihr sprechen? Es wusste doch, wen es hier vor sich hatte. Etwas Respekt wäre durchaus angebracht.
»Dhana wird kommen, um mich zu töten, so wie sie bis jetzt jedes Mitglied meiner Familie getötet hat«, sprach das Mädchen weiter, als Savannah ihm keine Antwort gab. »Sie wird kommen, egal, ob du mich unterrichtest, oder nicht. Die Frage ist nur, ob ich dann stark genug bin, um mich zur Wehr zu setzen.«
Sie schwieg weiterhin. Sie wusste nicht, warum, aber Savannah fand Gefallen an dem Mädchen. Vielleicht, weil es sie an sich selbst erinnerte. Vielleicht, weil es viel zu erwachsen für sein Alter wirkte. Vielleicht aber auch, weil es ein Kämpfer war. Zoey würde sich Dhana nicht kampflos ergeben, das war schon einmal sicher.
»Wenn es dir so ernst ist«, setzte Savannah an, »dann sollten wir uns langsam auf den Weg machen.«
Sie konnte die Verwirrung auf Zoeys Gesicht deutlich sehen. »Auf den Weg wohin?«
»Du willst doch eine Chance gegen Dhana haben, oder etwa nicht?«, fragte sie sie bereits über ihre Schulter hinweg, da sie sich bereits auf den Weg ins Wohnzimmer gemacht hatte. Savannah ging davon aus, dass Zoey ihr folgte. Sie schien nicht der Typ zu sein, der höflich vor der Tür wartete. »In deinem aktuellen Zustand bist du innerhalb von zwei Sekunden tot. Und da ich keine Wunder bewirken kann, brauchen wir Zeit.«
»Und wenn ich die aber nicht habe?« Zoeys Stimme klang ganz nah. Als Savannah sich umdrehte, sah sie das Mädchen im Türrahmen stehen, sein neugieriger Blick wanderte durch das Wohnzimmer.
»Dann besorgen wir dir Zeit«, erkläre Savannah. »Dhana darf dich nur nicht finden. Das bedeutet, wir verschwinden aus London, jetzt sofort.«

 

1

Savannah


September 2015.
»Ich bin draußen, wenn du mich suchst!« Nur Sekunden, nachdem Zoeys Stimme durchs Haus gehallt war, konnte Savannah auch schon schnelle Schritte die Treppen hinuntereilen hören. Die Haustür war nicht abgeschlossen, das wusste sie. Zoey spekulierte also darauf, weg zu sein, noch bevor Savannah es verhindern konnte. Da kannte sie sie aber schlecht.
Savannah führte die Tasse an ihre Lippen, um einen Schluck Tee zu nehmen. Er war noch ziemlich heiß, aber das störte sie nicht. Zu heißer Tee war immer noch besser, als Kalter. Savannah schloss die Augen und atmete den Geruch der verschiedenen Kräuter ein, die ihrem heißen Wasser Geschmack verliehen. Sie dufteten köstlich. Teezeit war eindeutig Savannahs Lieblingstageszeit.
Es dauerte einen Moment länger, als Savannah erwartet hatte, bis sie ein dumpfes Krachen und ein lautes »Au!« aus dem Erdgeschoss vernehmen konnte. Erst dann stellte sie seufzend die Tasse ab und stand auf, um sich auf den Weg nach unten zu machen. Der Tee würde wohl warten müssen. Wehe, er war dann kalt.
Der alte Holzboden knarrte bei jedem Schritt, den sie machte, leise. Dagegen würde Savannah wohl etwas tun müssen, überlegte sie. Andererseits, wie sollte sie es dann hören, wenn Zoey sich wieder einmal aus dem Haus schleichen wollte?
»Savannah!« Ihre trotzige Stimme klang durch das Treppenhaus bis zu ihr durch, doch sie ließ sich Zeit. Langsam ließ Savannah ihre Hand über das glatte, hölzerne Geländer wandern, während sie die geschwungene Treppe hinunter in den Eingangsbereich spazierte. Als sie um die letzte Ecke bog, konnte sie Zoey auch schon vor der Tür stehen und sich die Stirn reiben sehen. Als sie die ältere Hexe bemerkte, verfinsterte sich ihr Blick und ihre hellblauen Augen wurden fast schwarz. »Was sollte das, Ann? Willst du, dass ich eine Beule bekomme?«
»Wenn du dadurch lernst, dich an Regeln zu halten, ja.«
Genervt verdrehte Zoey die Augen, doch das war Savannah egal. Von ihr aus konnte sie schmollen, solange sie wollte, durch so etwas ließ ich sie nicht weichklopfen. Wenn Zoey hinauswollte, musste sie Savannah um Erlaubnis fragen. So waren die Regeln, das sollte sie eigentlich bereits wissen.
»Würdest du mir jetzt bitte die Tür öffnen?« Ihre Stimme klang so ungeduldig wie auch genervt. Zoey wollte hinaus und durch den Wald schweifen, nur Savannah stand ihr noch im Weg.
Geduldig verschränkte sie ihre Finger ineinander, während sie Zoey eingehend musterte. Ihre langen, blonden Haare hatte sie hochgebunden. Sie sollte zumindest ein Stirnband aufsetzen, sonst würde sie sich in der kalten Herbstluft noch erkälten. »Hättest du deine Aufgaben gemacht, dann wüsstest du, wie du die Türe ganz einfach aufbekommen würdest«, erklärte ich ihr.
Zoey stöhnte und ließ sich mit dem Rücken gegen die Tür sinken, die sie so schnell nicht öffnen können würde. Zumindest nicht, wenn sie sich weiterhin so anstellte. Ihre hellen Augen betrachteten Savannah wehmütig, als auch ihr das klarwurde. »Bitte, Ann.« Sie kam auf sie zu und griff nach ihrem Arm. »Es ist doch so schön draußen. Es wäre doch schade, die letzten sonnigen Tage hier drin zu verschwenden. Zaubersprüche lernen kann ich immer noch heute Abend. Da bin ich auch viel aufnahmefähiger, versprochen!«
Savannah hob skeptisch eine Augenbraue. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Zoey, nachdem sie den ganzen Tag im Wald herumgetollt war, heute Nacht noch genug Energie hatte, um Magie zu praktizieren. So wie sie sie kannte, würde sie heute Nacht todmüde ins Bett fallen und keinen Gedanken mehr an Magie verschwenden. »Es steht dir frei zu gehen«, sagte Savannah dann und drehte sich um, um wieder nach oben zu gehen und endlich ihre wohlverdiente Tasse Kräutertee zu sich nehmen – vorausgesetzt, das Wasser war noch nicht kalt. Schon zu oft war das passiert, nur weil sie hier mit Zoey hatte diskutieren müssen.
»Sehr witzig, Ann!«, hörte sie noch, wie Zoey ihr hinterher rief, und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Irgendwie war es ja schon witzig.
Zoey

 

Zoey blieb einen Moment lang stehen und sah Savannah hinterher. Sie erwartete, dass diese jeden Moment umkehren und den Zauber von der Tür nehmen würde, damit sie hinaus in den Wald konnte. Schon bald war ihre schmale, dunkle Gestalt nach oben verschwunden und Zoey war alleine im Vorzimmer. Sie würde wohl nicht zurückkommen.
Als die Sekunden verstrichen, spürte Zoey, wie eine ziemlich ausgewogene Mischung aus Wut und Verzweiflung in ihr hochstieg. Sie wollte da raus. Mehr, als sie im Moment alles andere wollte. Aber wie? Savannah würde ihr den Spruch bestimmt nicht verraten, sie musste ihn also selbst herausfinden. Dabei wusste sie doch nicht einmal, wo sie nachsehen sollte! Ann hatte geschätzt dreihundert Zauberbücher in der Bibliothek stehen, es würde Stunden dauern, bis Zoey den richtigen Spruch gefunden haben würde. Bis dahin war es doch längst Nacht ...
Resigniert sah Zoey sich um, bevor sie den Gang entlang bis zum nächsten Fenster lief, an dem sie verzweifelt rüttelte - erfolglos. Natürlich, es war dumm, anzunehmen, dass Savannah nur die Eingangstür verzaubert hatte. Es hatte also auch keinen Sinn, einen Fluchtversuch durch die Hintertür zu probieren.
Erneut seufzte sie tief. Na schön, es gab keinen anderen Weg: Sie musste dir Tür mit Magie öffnen.
Während Zoey zurück zur Haustür schlich, versuchte sie sich ins Gedächtnis zu rufen, was Ann mir über das Entsperren von Dingen beigebracht hatte. Das fiel ihr unheimlich schwer. Sie war nicht gut darin, Theorie auswendig zu lernen, sie machte alles eher nach Gefühl. Das würde sie auch jetzt probieren, einen Versuch war es zumindest wert. Und eine andere Wahl hatte sich schließlich nicht.
Zoey legte beide Hände sowie ihre Stirn gegen das massive Holz und versuchte, ihre Gedanken abzustellen, so wie sie es immer tat, wenn sie zauberte. Sie durfte sich von nichts ablenken lassen, alles, woran sie denken durfte, war das, was sie mit ihrer Magie erreichen wollte. Sie wollte hinaus in den Wald. Jede Faser ihres Körpers wollte das. Zoey hörte den Wind außerhalb des Hauses durch die Bäume pfeifen, sie hörte Vögel und Hasen, die sich ihren Weg durch das wild wachsende Gebüsch suchten. Sie strich jeden einzelnen Gedanken aus meinem Kopf, bis nur noch ein Einziger übrig blieb: Ich will da raus.
Mit geschlossenen Augen drückte ich die Türklinke nach unten und lehnte mich stärker gegen das Holz. Augenblicklich spürte ich den kalten Wind und die warmen Strahlen der Sonne auf meiner Haut, als ich einen Schritt nach vorne stolperte. Zoey atmete tief die frische Herbstluft ein, bevor sie die Augen öffnete. Anstatt der dunklen Holztür sah sie nun nichts außer meterhohen Bäumen, Sträuchern und Gräsern.
»Ja!« Begeistert riss sie die Hände in die Luft. »Ich hab’s geschafft!«
»Um sechs Uhr bist du zuhause«, hörte sie Anns Stimme von oben, und hob den Kopf, um ihr gegen die Strahlen der Sonne zuzublinzeln. Sie stand an dem Erkerfenster, das zum Wohnzimmer gehörte, ihre nachtschwarzen Locken wehten sanft im Wind und die Septembersonne machte sie noch blasser, als sie eigentlich war.
Zoey konnte nicht anders, als sie anzugrinsen, auch wenn sie sie mit einem strengen, schwesterlichen Blick bedachte. Zoey sah Savannah nur äußerst selten lächeln, doch sie wusste, dass sie bei weitem nicht so kühl war, wie sie sich gerne gab. »Versprochen!«, rief Zoey ihr zu, bevor sie loslief.
Als sie sich nach einigen Metern noch einmal zu unserem Haus umdrehte, musste sie feststellen, dass Ann bereits wieder vom Fenster verschwunden war. Zoey fragte sich, warum sie nicht gerne rausging. Schon so oft hatte sie Savannah angefleht, sie und Charlie auf eine ihrer Entdeckungstouren durch den Wald zu begleiten, doch sie hatte jedes Mal entschieden abgelehnt. Also entweder, sie hasste die Natur, oder sie hatte etwas dagegen, sich zu amüsieren. So oder so verbrachte Savannah die meiste Zeit in ihrem Haus und arbeitete an neuen Zaubersprüchen.
Zoey blieb stehen. Eigentlich war ihr Zuhause ziemlich klein, überlegte sie, doch durch den Turm auf der linken Flanke und das spitze Dach sah es aus, wie ein Märchenschloss in Miniaturform. Und genauso einsam und verlassen war es auch. Zoey verstand, warum die beiden hier versteckt im Wald leben mussten. Sie wollte ja auch nicht von Dhana gefunden werden, bevor sie für einen Kampf gegen sie bereit war, doch manchmal war die Einsamkeit hier draußen kaum zu ertragen. Sie hatte ja nur Savannah und Charlie ... Apropos.
Sie sah sich im Wald um. Das laute Zwitschern der Vögel machte es ihr schwer, etwas wahrzunehmen. »Charlie!«, rief sie, ohne richtig zu wissen, in welche Richtung sie schreien musste. »Charlie, wo bist du? Ich konnte Ann überreden, doch noch rauskommen zu dürfen.«
Zoey bemühte sich, so ruhig wie möglich zu atmen, und ihre Hexeninstinkte zu nutzen. Sie wusste ja, dass Charlie die Angewohnheit hatte, sich einen Spaß daraus zu machen, sie zu erschrecken. Aber heute nicht. Mit geschlossenen Augen achtete sie auf jedes noch so kleine Geräusch: jedes wehende Blatt, jedes Knacken der Äste.
Schnell wirbelte sie herum und schlug die Augen auf. Zoey konnte nicht anders, als zu grinsen. »Da bist du ja, du Schlingel.«
Sie hockte sich auf den Boden und streckte die Hand nach dem Fuchs aus, der zwischen zwei Sträuchern aufgetaucht war und sie nun fragend musterte. Vermutlich überlegte er gerade, wie sie es angestellt hatte, ihn zu bemerken, ohne dabei die Augen offen zu haben. »Da schaust du, was? Du bist nicht der Einzige mit ausgeprägten Instinkten.«
Charlie legte den Kopf schief und betrachtete Zoey einen Moment lang, bevor er auf sie zugetrabt kam und an ihrer Hand schnupperte. Die beiden trafen sich fast jeden Tag hier draußen, außer Zoey verirrte sich kaum ein menschliches Wesen in diesen Wald, und trotzdem musste Charlie jedes Mal erst vorsichtig an ihr schnuppern, bevor er sich sicher war, dass sie wirklich sie war. Das führte ihr immer wieder schmerzhaft vor Augen, dass er eben kein Mensch, sondern ein Tier war.
Als Charlie sich davon überzeugt hatte, dass es sich bei ihr sicher um keinen Fremden handelte, begann er, Zoey über die Finger zu lecken. Auch, wenn ihr nicht danach war, musste sie kichern, da seine trockene Zunge auf ihrer Haut kitzelte.
»Also«, sagte Zoey dann, als sie ihm über das weiche, rötliche Fell streichelte. »Was machen wir heute?«
Als Antwort legte Charlie sich vor Zoeys Füßen auf den Boden und streckte sich ausgiebig. Hatte er etwa keine Lust, etwas zu unternehmen? Das konnte sie sich nicht vorstellen, es war doch so ein schöner Tag. Der Wald war im Herbst immer ganz anders, als das restliche Jahr über. Er war irgendwie schöner. Die Blätter verfärben sich in alle möglichen Farben, keine davon glich der anderen. Außerdem war die Luft ganz anders, viel frischer.
Als Zoey so durch den Wald lief, sah sie sich immer wieder um, ob Charlie ihr auch folgte. Eigentlich ging sie davon aus, dass er ihr nicht von der Seite weichen würde, aber sicher war sicher. Zoey wollte kein Risiko eingehen und auf einmal alleine dastehen. Sie konnte von Glück sprechen, dass sie über keine Wurzeln oder Steine stolperte, so oft, wie sie sich nach Charlie umsah.
Nach einem ungefähr zehn Minuten dauernden Lauf quer durch den Wald kamen sie an einer alten, abgelegenen Ruine an, die sich in der Mitte eines kleinen Sees befand. Gut, fast der gesamte Wald war abgelegen und menschenleer, aber dieser Steinhaufen war eben besonders verlassen. Zoey kam hier immer gerne her, um ihre Kräfte zu trainieren. Mit Steinblöcken konnte sie gut üben, feste Gegenstände zu zertrümmern. So wie Dhanas Knochen zum Beispiel.
Langsam streckte sie die Hand in Richtung des Sees aus und konzentrierte sich. Das letzte Mal hatte es fünfzehn Sekunden gedauert, bis ihre Magie gewirkt hatte, das galt es, zu übertrumpfen. Allerdings war es ziemlich schwierig, gleichzeitig zu zählen und sich zu konzentrieren.
Mit geschlossenen Augen atmete Zoey tief durch und begann dann, zu zählen: Eins, zwei, drei ... Sie fragte sich, ob Savannah schneller zaubern konnte. Vermutlich, immerhin ließ sie sich nicht so schnell ablenken, wie sie. Aber wie sollte sie ihre Gedanken auf den See fokussieren, wenn Charlie gelangweilt an ihrer Jeans zerrte? Vier, fünf, sechs, sieben ... Noch immer passierte nichts. Das konnte doch gar nicht sein. Irgendwann musste sie sich doch verbessern. Acht, neun, zehn ...
Zoey stöhnte genervt und öffnete die Augen wieder, jedoch ohne den Arm sinken zu lassen. »Komm schon«, murmelte sie. »Elf, zwölf ...« Doch noch, während sie das sagte, merkte sie, wie sich die Wasseroberfläche zu bewegen begann. Ein freudiges Prickeln machte sich bei diesem Anblick in ihrem Bauch breit. Zehn Sekunden, das war ein neuer Rekord. Das tägliche Training machte sich also doch bezahlt. »Na endlich!«
Sie ließ den Arm sinken und hob Charlie hoch, damit er nicht hier drüben blieb, während sie von einem Stein auf den anderen hüpfte, der sich eben aus dem See erhoben hatte. Durch das Wasser waren sie unheimlich glatt und rutschig, deswegen trug sie Charlie lieber. Schließlich wollte Zoey nicht, dass einer von ihnen nass wurde. Zum Glück war der Weg bis zur Ruine nicht weit, bisher hatte sie es immer dorthin geschafft, ohne ins Wasser zu fallen. Und hoffentlich würde das auch so bleiben.
Auf der kleinen Insel angekommen, setzte sie Charlie wieder auf dem Boden ab und ging ein paar Schritte auf die Ruine zu. »Was sagst du, Charlie? Aufbauen oder niederschmettern?« Ihr Blick wanderte zu dem Fuchs, der mit der Schnauze einen kleinen Felsbrocken anstupste. So lange, bis dieser umfiel und Charlie erschrocken zurückzuckte.
Zoey lachte. »Also niederschmettern, wie immer.«

 

2

Savannah


»Savannah!«
Savannah schwieg, und das, obwohl Zoeys Stimme klang, als hätte sie etwas sehr Dringendes zu erzählen. Aber das hatte sie immer. Ann hätte nicht gedacht, dass das Leben im Wald so spannend war. Um ehrlich zu sein, hatte Savannah gerade deswegen dieses verlassene Herrenhaus mitten im Wald ausgesucht – sie war davon ausgegangen, hier Ruhe und Frieden zu finden, um Zoey zu unterrichten. Sie hatte ja nicht ahnen können, dass dieses Mädchen alles andere als ruhig war. Fünf Jahre lebten die beiden nun bereits im Wald, und sie fand jeden Tag wieder etwas Neues, worüber sie sich freuen konnte.
»Savannah, hast du gesehen, wie bunt die Blätter sind?«
»Ich war nicht draußen«, gab Savannah zurück, ohne von ihrem Buch aufzusehen, damit sie die Zeile nicht verlor. Schon möglich, dass Zoey den Wald furchtbar faszinierend fand, doch da war sie die Einzige: Savannah hatte Besseres zu tun, als ihre Zeit im Wald zu verschwenden. Und Zoey eigentlich auch.
Sie hörte, dass Zoey stöhnte, doch das ignorierte Savannah. Sie wusste, dass sie noch unheimlich jung und ihr die Konsequenzen ihrer Taten noch nicht bewusst waren. »Du gehst nie raus, Ann. Wann hast du das letzte Mal das Haus verlassen?«
Nun warf Savannah ihr doch einen kurzen Blick zu. Sie musterte die junge Hexe eingehend, um ihr klarzumachen, dass dieses Gespräch zu nichts führen würde. »Ich wüsste nicht, was dich das angeht.«
»Natürlich geht es mich etwas an.« Zoey kam näher und setzte sich auf den Tisch vor Savannah. Sie schien nicht vorzuhaben, so schnell aufzugeben. »Ich mache mir nur Sorgen, Ann. Du kannst nicht den ganzen Tag hier drin sitzen und in deinen Büchern lesen. Kannst du sie nicht langsam auswendig?«
Und wie sie den ganzen Tag hier drin verbringen konnte. Dieses Haus zu verlassen kam auf keinen Fall in Frage. »Wenn ich die Sprüche in diesen Büchern auswendig kennen würde, müsste ich sie nicht noch einmal lesen, oder nicht?«
Zoey verdrehte die Augen. »Du weißt, was ich meine. Warum ist es dir überhaupt so wichtig, alle Sprüche zu können? Ich dachte, ich sollte sie lernen.«
Wieder hob Savannah den Blick. Es war eindeutig, dass Zoey gerade klar wurde, das sie einen Fehler gemacht hatte. Sie hätte das nicht sagen sollen.
Vorsichtig ließ Zoey sich von der Tischkante rutschen und schlich in Richtung Ausgang. »Ich ... sollte dann langsam gehen. Charly wartet draußen auf mich, ich wollte auch nur sichergehen, dass du uns nicht begleiten willst.«
»Will ich nicht«, versicherte Savannah ihr. »Ich will nur, dass du deine Sprüche lernst.«
Zoey nickte schon fast ungeduldig. »Das mache ich, wenn ich wieder da bin, versprochen!«
Woran lag es nur, dass Savannah das nicht glaubte? Vielleicht an der Tatsache, dass Zoey niemals lernte, wenn sie zurückkam. Nie.
Savannah hatte kein gutes Gefühl. Zoey wurde von Tag zu Tag nachlässiger und das, obwohl sie noch lange nicht bereit für einen Kampf war. Besonders nicht gegen Dhana. Zwar hatten sich ihre Kräfte in den letzten Jahren rasant entwickelt, doch das reichte noch lange nicht. Um es mit der stärksten Hexe Londons – wenn nicht sogar ganz Englands – aufnehmen zu können, fehlten ihr noch einige Jahre intensiven Trainings. Leider schien Zoey das anders zu sehen. Sie sprach zwar ständig davon, stärker zu werden, aber sie tat nichts dafür. Von nichts kam nichts, das sollte Zoey eigentlich wissen.
Mit einem letzten kurzen Blick auf das Buch in ihren Händen klappte Savannah es zu und legte es auf dem Tisch ab. Stattdessen näherte sie sich dem Fenster, von dem aus sie den Wald und auch Zoey beobachten konnte, die vergnügt mit ihrem Fuchs-Gefährten durch das Dickicht stolperte. Von wegen, Zoey würde heute Abend noch trainieren. Jedes Mal, wenn sie nachts nach einem Tag im Wald nach Hause kam, war sie völlig erschöpft und nicht mehr dazu in der Lage, Zaubersprüche zu lernen. Wenn sie so weitermachte, würde sie niemals stark genug werden ...
Bei diesem Gedanken schloss Savannah einen Moment lang die Augen und atmete tief durch. Warum nur machte sie sich etwas vor? Zoey würde nie stark genug sein, um Dhana zu besiegen. Nicht einmal sie selbst war sich sicher, ob sie es mit ihr aufnehmen könnte ... Vermutlich aber eher nicht.
Immer wieder frage Savannah sich, was sie sich dabei gedacht hatte, zuzustimmen, Zoey zu trainieren. Sie hatte doch gewusst, dass das nie etwas werden würde. Das war, als würde man ein Ferkel mit der Hand aufziehen, nur um es dann zum Schlachthof zu schicken.
Unwillkürlich erinnerte Savannah sich an den entschlossenen Ausdruck auf Zoeys Gesicht, als diese sie um Hilfe gebeten hatte. Sie war so jung gewesen, und trotzdem der festen Überzeugung, dass sie das Zeug dazu hatte, eine große Hexe zu werden. Damals war Savannah sich sicher gewesen: Wenn jemand den Mut hatte, sich Dhana zu widersetzen, dann war es dieses Mädchen. Wo war dieses Gefühl nur hinverschwunden?
Sie mochte Zoey doch, sehr sogar. Sie war wie eine kleine Schwester für Savannah. Sie wollte das Vertrauen in sie nicht verlieren, doch manchmal machte Zoey es ihr wirklich, wirklich schwer. Hin und wieder hatte sie das Gefühl, sie nahm die ganze Ausbildung nicht ernst genug. Und manchmal erwischte sie sich dabei, wie sie hoffte, Zoey würde die Ausbildung abbrechen. Die Vorstellung, sie würde gegen Dhana antreten, war beinahe unerträglich. Savannah kannte Zoey, so wie sie auch Dhana kannte. Sie war das komplette Gegenteil von ihr: Dhana, eine der mächtigsten Hexen ihrer Zeit, war einer der skrupellosesten Menschen, die Savannah jemals angetroffen hatte, und sie hatte über die Jahre viele Menschen und auch magische Wesen angetroffen.
Dhana tötete mit reinster Freude, gegen diese rohe Gewalt kam man nicht so einfach an, besonders nicht jemand wie Zoey. Sie war ein Sonnenschein, und so sehr Savannah das auch hin und wieder nervte, das war eine gute Eigenschaft. Nur eben nicht, wenn es hart auf hart kam. In diesem Fall würde Zoey nicht den Hauch einer Chance haben, vorausgesetzt, sie riss sich nicht endlich einmal am Riemen.
Wenn das so weiterging, würde Savannah sich wohl oder übel etwas überlegen müssen ...

 

3

Savannah


Es war bereits spät, als Zoey endlich nach Hause kam, aber immerhin war sie pünktlich. Immer wieder fragte Savannah sich, was sie so lange im Wald tat. Es konnte doch nicht sein, dass sie Stunden lang nur fröhlich kichernd zwischen ein paar Bäumen Slalom lief, in der Hoffnung, sie würde über keine Wurzeln stolpern – obwohl das natürlich auch bereits oft genug vorgekommen war. Aber das gehörte vermutlich zum Erwachsenwerden ...
Trotzdem konnte Savannah nicht anders, als sich Sorgen zu machen, sobald Zoey das Haus verließ. Sie konnte sie nicht einsperren, das war ihr klar, auch wenn das vermutlich das Sicherste für die Kleine gewesen wäre. Zwar hatte Savannah einen Zauber über den Wald gelegt, damit Dhana sie nicht finden konnte, doch wohl fühlte sie sich bei dem Gedanken, dass Zoey da draußen ganz alleine war, immer noch nicht.
»Wieder da?«, sagte Savannah, ohne dabei von den Papierstücken aufzusehen, die vor ihr auf dem Küchentisch lagen. Sie war damit beschäftigt, ihre eigenen Zaubersprüche zu verbessern, so dass sie auch gegen die vermutlich stärkste aller Hexen ankamen – was alles andere als eine leichte Aufgabe war.
Zoey gähnte ausgiebig, als sie um den Küchentisch schlich, und sich ein Glas Wasser nahm. »Und das sogar pünktlich«, fügte sie hinzu, bevor sie einen Schluck nahm.
Das stimmte zwar, aber Savannah war mit Zoeys Antwort nicht ganz zufrieden. Immerhin sollte sie nicht hier herumstehen, sondern ihre Sprüche lernen, wie die beiden es vereinbart hatten. »Hast du nicht etwas vergessen?«
Zoey stöhnte, woraufhin die ältere Hexe nun doch den Blick von ihrer Arbeit hob und sie eingehend musterte. Sie stellte das Glas auf dem Tisch ab, bevor sie sich neben Savannah auf einen der hölzernen Stühle sinken ließ. »Ich lerne ja noch«, versicherte Zoey ihr. »Aber ich bin doch gerade erst zurückgekommen, und ich bin müde. Ich will mich vorher noch ausruhen.«
»Dann wirst du nie etwas lernen«, erwiderte ihr Savannah so ruhig wie möglich, auch wenn sich Wut in ihrem Magen breitmachte. Sie hatte es doch gewusst: Nach einem Tag im Wald war Zoey alles andere als in der Stimmung, zu lernen. Warum nur konnte sie den Ernst der Lage nicht begreifen? Hatte sie bereits vergessen, was Dhana ihrer Familie angetan hatte? Warum sie sich hier im Wald vor ihr verstecken mussten? »Aber es ist schließlich deine Entscheidung. Du bist alt genug.«
Zoey verdrehte genervt die Augen und schob ihren Stuhl zurück. »Ich habe doch gesagt, dass ich lernen werde, Ann. Was ist dein Problem?«
Savannah schwieg, während sie ihren Blick über das Papier vor ihr schweifen ließ, auf der Suche nach der Zeile, die sie eben verloren hatte. Es hatte ohnehin keinen Sinn, mit Zoey zu diskutieren.
Wieder stöhnte das Mädchen. »Weißt du was, Ann? Du solltest auch hin und wieder mal rausgehen, das würde dir bestimmt gut tun. Hier den ganzen Tag herumzusitzen und Zaubersprüche zu studieren, führt doch auch zu nichts.« Mit diesen Worten wandte Zoey ihr den Rücken zu und stürmte davon, vermutlich auf ihr Zimmer.
Savannah spürte, wie jeder einzelne Muskel in ihrem Körper sich anspannte. Nicht aufregen, beschwor sie sich selbst. Sie wusste ja, was passierte, wenn sie sich aufregte: brennende Häuser, Dauerregen, Stürme ... Ihre Gefühle brachten die Elemente durcheinander, darum war es auch so wichtig, sie im Zaum zu halten.
Dieses dumme Kind, dachte Savannah. War Zoey überhaupt klar, dass sie das alles nur für sie tat? Damit sie sich verteidigen konnte? Es war bestimmt nicht Savannahs Wunsch, die Tage versteckt im Wald zu verbringen. Es gäbe tausend Orte, an denen sie lieber gewesen wäre, aber sie musste hier bleiben, um Zoey zu schützen.
Vermutlich hatte sie sich darüber noch nie Gedanken gemacht, weil es sie gar nicht interessierte. In den letzten Monaten hatte Zoey ihr Ziel immer weiter aus den Augen verloren, als wäre es plötzlich gar nicht mehr so wichtig, sich mit Dhana zu beschäftigen. Als wäre sie nicht die Nächste auf ihrer Abschussliste.
Savannah schloss die Augen. Es tat weh, doch sie musste eine Entscheidung treffen. Eine Entscheidung, die sowohl für Zoey als auch für sie selbst das Beste war. Sie konnte ihr nicht helfen, wenn Zoey das nicht zuließ, und sie hatte keine Lust mehr, ihre Energie und Zeit in ein Mädchen zu stecken, das es nicht zu schätzen wusste.
Mit einem tiefen Seufzen öffnete sie die Augen wieder und griff erneut nach ihrer Schreibfeder und einem leeren Stück Papier, bevor sie zu schreiben begann. Es ging einfach nicht mehr, sie konnte Zoey nicht weiter trainieren. Aber sie kannte jemanden, der das sehr wohl konnte.
»Komm zu mir«, sagte sie, als sie den Brief beendet und die Feder beiseitegelegt hatte. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie das schwere Schlagen von Flügeln vernehmen konnte, und etwas an das Küchenfenster klopfte. Sorgfältig faltete Savannah den Brief zusammen und steckte ihn in ein Kuvert, bevor sie aufstand und sich auf den Weg zum Fenster machte. »Bring das nach London. Du weißt, wohin«, wies Savannah dem großen, tiefschwarzen Raben an, der auf der Fensterbank saß und sie eingehend musterte, nachdem sie das Fenster geöffnet hatte.
Sie hielt ihm den Umschlag entgegen, den er unverzüglich in den Schnabel nahm. In der nächsten Sekunde war er auch schon wieder verschwunden und Savannah schloss das Küchenfenster wieder.
Nun hieß es warten.


Zoey

 

Zoey schloss die Tür hinter sich und ließ sich augenblicklich ins Bett fallen. So erschöpft wie heute war sie schon lange nicht mehr gewesen, trotzdem half es nichts: Sie musste Savannahs Zaubersprüche üben, wenn sie nicht noch mehr Zorn auf sich ziehen wollte.
Stöhnend drehte Zoey sich auf den Bauch und tastete unter ihrem Kopfkissen nach dem kleinen Buch, das sie dort versteckt hielt. Darin notierte sie alle Zauber, die ihr schwierig erschienen. Auf diesem Weg konnte sie sie nicht vergessen und so oft üben, bis sie sie durchführen konnte. Savannahs Zaubersprüche waren alles andere als einfach, aber das mussten sie vermutlich sein, um effektiv zu wirken. Jede Hexe konnte einfache Zauber sprechen, aber nur starke Hexen brachten auch solche Sprüche zustande.
Zoey fragte sich, warum Savannah noch nie versucht hatte, etwas gegen Dhanas Schreckenherrschaft zu unternehmen. Jedes magische Wesen in ganz London zitterte schon bei der reinen Erwähnung ihres Namens – zumindest die, die Dhana noch nicht umgebracht hatte. Savannah könnte es mit ihr aufnehmen, da war Zoey sich sicher. Sie war unheimlich stark, auch wenn sie ihre Kräfte vor dem Rest der Welt versteckte. Vor ihr konnte sie das nicht verheimlichen, Zoey hatte immer schon gewusst, wie stark Ann war. Ansonsten hätte sie sie damals doch niemals um Hilfe gebeten ...
Gedankenverloren schlug Zoey die letzte Seite des Buches auf. Dort dokumentierte sie, wie sich ihre eigenen Kräfte mit der Zeit verbesserten, das motivierte sie jedes Mal aufs Neue. Dass es heute nur zehn Sekunden gedauert hatte, sich eine Brücke über das Wasser zu bilden, war gut. Aber sie musste noch besser werden. Zehn Sekunden waren unheimlich lange, wenn man so darüber nachdachte. Innerhalb von zehn Sekunden konnte so viel passieren. Innerhalb dieser Zeit könnte man schon tot sein, wenn man nicht genug aufpasste ...
Mit einem tiefen Seufzen schrieb Zoey ihre heutigen Ergebnisse in das Buch und blätterte dann wieder nach vorne, um Savannahs Sprüche zu lernen. Wie jedes Mal fragte Zoey sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis sie sie endlich durchführen konnte. Bisher waren ihre Versuche immer kläglich gescheitert, doch irgendwann musste es doch so weit sein. Irgendwann musste es klappen ... Zumindest hoffte sie das. Trotzdem schlichen sich immer wieder Zweifel zu ihrer Zuversicht: Was, wenn das ganze Training völlig umsonst war und sie niemals gut genug sein würde, um diese Zauber auszuführen?
Ein Gefühl der Panik beschlich Zoey bei diesem Gedanken. Wenn es wirklich so war, dann war sie doch schon von Anfang an dem Tode geweiht gewesen. Wozu hatte sie sich dann so viel Mühe gegeben? All das Training und die schlaflosen Nächte erschienen ihr mit einem Mal so nutzlos ...
Nein. Sie schüttelte den Kopf. Wenn sie wirklich keine Chance gegen Dhana gehabt hätte, dann hätte Savannah ihr das bestimmt schon längst gesagt. Ann war niemand, der ein Blatt vor den Mund nahm – wenn Zoey schlecht war, dann sagte sie es ihr auch. Doch sie hatte ihr noch niemals Grund dazu gegeben, an ihren Kräften zu zweifeln. Savannah wusste, dass Zoey stark genug war, und Zoey wusste es auch.

 

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Publication Date: 01-20-2015

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