Emma Bieling
RÜGENGIFT
Ein Rügen-Krimi
Über das Buch:
Nach einer längeren Berufspause freut sich Kriminalhauptkommissarin Luna Maiwald erneut durchzustarten. Doch kaum zurückgekehrt, muss sie sich zunehmend den Problemen des Alltags stellen. Ihre Ehe kriselt, ihre Tochter ist im Selbstfindungsmodus und auch beruflich wird ihr keine Atempause gegönnt, denn auf Rügen geschehen seltsame Dinge. Neben einem fraglichen Reitunfall häufen sich mysteriöse Todesfälle.
Augenscheinlich gesunde und junge Menschen versterben völlig unerwartet. Ihr Todeskampf ist qualvoll und ähnelt sich, aber sonst scheint sie nichts miteinander zu verbinden; außer die Zigarette vor ihrem Ableben. Um dem Täter auf die Spur zu kommen, muss sich Luna ihrer Vergangenheit stellen und Kontakt zu dem Mann suchen, der Gegenstand ihrer Albträume ist, und den sie einst selbst wegen abscheulicher Morde hinter Gitter brachte. Gefangen zwischen routinierter Ermittlungsarbeit und der Angst vor den düstersten Tiefen ihrer Seele gerät sie zunehmend in einen gefährlichen Sumpf psychischer Abhängigkeit und sexuellen Verlangens.
Meine Recherchen wurden hilfreich unterstützt vom Klinikum Chemnitz GmbH – Institut für Pathologie, sowie von Rechtsmediziner Dr. Trauer –Abteilungsleiter, Fachchemiker für Toxikologie an der Uni-Leipzig.
Danke dafür!
Copyright ©Emma Bieling
Neuausgabe 10/ 2020
Deutsche Erstausgabe 2019 ©Luzifer Verlag
unter dem Titel »Möwen, Meer und Tod«
Alle Rechte vorbehalten.
Jede Verwertung und Vervielfältigung, auch nur auszugsweise, sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet.
Personen und Handlungen sind frei erfunden.
Bildmaterialien: VitalikRadko@depositphotos.com
Umschlaggestaltung: Coverdesign by A&K Buchcover
Lektorat/Korrektorat: Sabine Kirste
Satz: Emma Bieling
Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Digital: BookRix GmbH & Co. KG
»Jede Substanz ist Gift, allein die Dosis macht den Unterschied.«
Postulat von Paracelsus
Niemand hätte es voraussehen können, auch sie nicht. Wie auch? Alles lief gut, bis zu diesem Moment, der wie ein unüberwindbares Geschwür über sie hereinbrach und sich an ihre Seele heftete. Sie hatte ihm vertraut, ihre kleine große Welt vollends in seine Hände gelegt und damit ihre aufrichtige Liebe bewiesen. Er war es wert, hatte sie gedacht und keinen Augenblick auch nur im Geringsten an seiner Loyalität gezweifelt. Als würden die wundervollsten blauen Augen auf dieser Welt nicht lügen können. Dachte er ernsthaft, er käme damit durch? Ganz sicher nicht, schrie es aus ihr heraus. Eine Lena Schröder servierte man nicht so einfach ab. Verbittert trat sie einen Ast zur Seite, der ihren Weg kreuzte. Und während sie ihn wegtrat, stellte sie sich vor, dass Er es war. An gewidert spuckte sie hinterher, griff in ihre Collegemappe und kramte die Zigarettenschachtel heraus, die sie ganze drei Tage unberührt mit sich herumgetragen hatte, um ihm zu beweisen, wie willensstark sie sein konnte. Doch nun war alles egal. Ihre Finger fuhren ehrfürchtig über die Kanten der Schachtel, während sie gegen erneut aufkommende Tränen ankämpfte. Dieses Schwein! Dieser elende Hurensohn! Sie öffnete die Schachtel und blickte hinauf zu den Baumkronen, die im aufsteigenden Nebel wie bizarre Fantasiegebilde wirkten. Nach so langer Zeit der Abstinenz würde sie also wieder rückfällig werden und ins Lager der abhängigen Raucher zurückkehren. Ihr Mund formte ein Pfff und ihre Stimme stammelte ein theatralisches »C'est la vie« vor sich hin, bevor sie sich eine Zigarette zwischen ihre vollen Lippen steckte und anzündete. Der erste genüssliche Zug vermischte sich mit dem Geruch von modrigem Holz und feuchter Erde. Er schmeckte alles andere als gut, obgleich sie den Duft des Granitzer Waldes liebte. Erneut zog sie an der Zigarette und blies den Qualm in den dichter werdenden Nebel, der wie ein Geist seine Hände nach jedem Baum und jedem Zweig ausstreckte. Sie verspürte einen kleinen Schwindelanfall, gefolgt vom Gefühl der Rastlosigkeit. Ein seltsames Gefühl durchströmte ihren Körper, ein ungutes Gefühl. War es das Nikotin, das durch ihre Blutbahn schoss? Ihre Schritte wurden schneller. Zügig lief sie den Pfad entlang, der von Binz nach Sellin führte und den sie schon unzählige Male gegangen war. Mit jedem Schritt verstärkte sich ihr Unwohlsein, aber auch die Wut auf ihn. Auf Rache sinnend, zog sie ein weiteres Mal an ihrer Zigarette und blieb erschrocken stehen. Barg der Nebel etwa Schatten? Das Herz pochte heftig gegen ihre Brust. Ein seltsames Kribbeln in ihren Händen verstärkte ihre Angst. Es schien, als verdichtete sich der Wald um sie herum. Das Säuseln des Windes war zu vernehmen, der durchs blattlose Geäst kroch. Einer der Schatten verschmolz zu einer Gestalt und starrte sie an. »Hallo?«, rief sie angsterfüllt. »Ist da wer?« Doch niemand antwortete. Sie wandte sich von den Schatten im Nebel ab und versuchte die aufkommende Panik in sich zu unterdrücken. Noch ein letzter mutmachender Zug an der Zigarette, dann rannte sie los. Ihre Hand umklammerte fest den ledernen Trageriemen ihrer Mappe, die andere hielt den sündigen Glimmstängel fest zwischen den Fingern, nicht fähig, ihn wegzuwerfen. Und obwohl sie den Weg kannte, schien alles mit einem Mal so fremd. Taumelnd kam sie vom Pfad ab und stieß gegen herabhängende Zweige, die ihr den Weg versperrten. Ein knorriger Ast, der sich wie ein gekrümmter Zeigefinger mahnend erhob, kratzte schmerzhaft über ihr Gesicht. Ein anderer schlug bedrohlich wie ein schier unüberwindliches Wurzelgeflecht gegen ihren Körper, als wollte er sie zur Umkehr bewegen. Blut rann ihre Wange herunter. Es schmeckte nach Eisen und machte ihre Zunge taub. Irgendwer war ihr auf den Fersen. Irgendwer verfolgte sie. Verzweifelt suchte sie nach einem Orientierungspunkt, fand aber keinen. Ihre Atmung wurde schwerer und flacher. Schwerfällig schnappte sie nach Luft, während sich ein Schwall Tränen mit dem Blut auf ihrer Wange vermischte. Ihre Beine versagten gänzlich. Nicht mehr imstande, sich auf den Füßen zu halten, sank sie zu Boden. Ihr Körper bebte und zuckte unkontrolliert, als hätte eine andere Macht die Steuerung übernommen. »Bitte, bitte tu mir nichts«, stammelte sie kraftlos mit halb gelähmter Zunge. Doch außer dem Wind antworte ihr niemand. Übelkeit kam auf. Dann erbrach sie sich, immer und immer wieder. War es die Angst, die ihren Magen krampfartig zusammenpresste? Bibbernd und mit letzter Kraft schob sie sich Stück für Stück über den feuchtkalten Boden des Waldes. Irgendwo musste der Pfad doch sein. Doch ehe sie ihn finden konnte, durchbohrte ein immer stärker werdender Schmerz ihren Körper und beraubte sie ihrer Sinne.
Montag
Einundzwanzig Tage später …
Kriminaldienststelle Bergen, 27. März, 08:15 Uhr
Der Winter war noch einmal auf die weißstrandige Insel zurückgekehrt. Eisiger Wind zog übers Meer und ließ den bereits angetauten Schnee gefrieren. Von den Dachrinnen der Kriminaldienststelle hingen malerisch glitzernde Eiszapfen, die Luna zu einem Blick hinauf verführten. Voller Bewunderung blieb sie stehen, zog ihren pelzummantelten Hut tiefer ins Gesicht und atmete mit einem Seufzer aus. Wie lange hatte sie sich auf diesen Moment gefreut, den Moment ihrer Rückkehr. Fast ein ganzes Jahr außer Dienst, daheim bei Mann und Kind. Und nun war es endlich soweit. Ein bewegender Augenblick, der locker eine Zigarette wert war, um ihn vollends zu genießen. Ein heißer Kaffee dazu wäre noch besser, dachte Luna und kramte in ihrer großen ledernen Handtasche nach dem unliebsamen Lasterzubehör. Ob Schröder schon im Büro war? Sie steckte ihre Zigarette an und nahm einen kräftigen Zug. Hach ja, Schröder, er war ein guter Ersatz gewesen, während ihrer Abwesenheit. Doch nun war es an der Zeit, das Ruder wieder selbst in die Hand zu nehmen und Schröder zu entlasten. Aber wollte er überhaupt entlastet werden? Was, wenn er sich ans Chef-sein längst gewöhnt hatte? Luna pustete den Qualm zwischen ihre gespitzten Lippen in den frostigen Morgen hinaus. Ach was, nicht Schröder, verwarf sie ihre Gedanken. Er und Luna waren stets ein gutes Ermittlerteam gewesen. Und ebenso würde sich ihre Zusammenarbeit auch fortsetzen lassen. Lunas Stiefelabsätze schlugen hart auf den Boden der Kriminaldienststelle, als sie am kleinen unbesetzten Schalterfenster vorbeilief. Die finanziellen Mittel, welche eine dauerhafte Besetzung garantierten, waren scheinbar immer noch nicht bewilligt worden. Ein Punkt, der in Lunas To-do-Liste schon länger aufgeführt war. Schritt für Schritt kam sie dem Treppenabsatz näher, der zu ihrem Bürotrakt führte. Alles schien etwas befremdlich. Wo waren die eingestaubten Grünpflanzen, die einst auf dem Gang des Flures standen? Und wo der Kaffeeautomat? Luna eilte die Treppe hinauf. Sie hoffte, dass sich im oberen Teil der Dienststelle weniger verändert hatte. Zumindest hoffte sie, den altbewährten Kaffeeautomaten dort zu finden, der stets gute Dienste bei der Bekämpfung von Müdigkeit geleistet hatte. Ihr Blick fiel den Gang entlang. Nichts. Weder eine Grünpflanze, noch der verbeulte Kaffeeautomat. Eine eher ungewohnte Ordnung schlug ihr entgegen und ließ den Flur unpersönlicher erscheinen, fast sogar etwas kälter als sonst.
»Willkommen zurück, Chefin«, empfing Kommissar Sandiego sie und äugte lächelnd über den Rand seiner Brille. Er trug einen Stapel Papiere unter seinen Arm geklemmt, während er eine dampfende, übervolle Kaffeetasse in seiner Hand jonglierte. »Ganz schön frostig da draußen, nicht wahr?«
»Oh ja, das ist es. Wie ich höre, haben Sie Ihren Ruhestand verschoben«, erwiderte Luna und starrte neidvoll auf den duftenden Kaffee ihres Kollegen, der seine Tasse auf ein angrenzendes Aktenregal abstellte. »Ehrlich gesagt bin ich froh darüber, Sie weiterhin bei uns zu wissen.«
Kommissar Sandiego lächelte verlegen und schüttelte Lunas Hand, die sie ihm zur Begrüßung entgegenstreckte. »Danke, Chefin. Es fiel mir nicht sonderlich schwer meinen Ruhestand noch etwas aufzuschieben, jetzt, wo Sie wieder da sind. Immerhin haben mich die Dienstjahre unter Ihrer Führung jung und vital gehalten.«
Luna lachte. »Oh ja, wir hatten jede Menge Stress und durchzechte Nächte bei Kaffee und Aspirin. Woher haben Sie eigentlich diesen herrlich duftenden Kaffee?« »Aus der Küche.«
»Wir haben eine Küche?«
»Ja, sogar mit Mikrowelle, Wasserkocher und Kaffeemaschine«, erläuterte der ergraute Kommissar und wandte sich um. Mit seiner Hand wies er auf das letzte Zimmer linker Hand im Flur. »In Zimmer Einhundertelf.«
»Schröders Büro?«, entfuhr es Luna.
»Ja, sozusagen. Er meinte allerdings, dass es von größerem Nutzen wäre, daraus eine kleine Dienststellenküche zu machen. Aber wenn ich ehrlich sein soll, ich vermisse den alten Kaffeeautomaten.«
Luna blickte mit Wehmut auf Kommissar Schröders ehemaliges Büro. »Ja, unser alter Kaffeeautomat war toll und schon fast kultig. Ich bin mir noch nicht sicher, was ich von Kommissar Schröders Umbau halten soll, aber gegen einen heißen Kaffee hätte ich definitiv nichts einzuwenden.«
»Na, dann legen Sie mal in aller Ruhe ab, während ich Ihnen einen Kaffee hole.«
Kommissar Sandiego drückte Luna seinen Stapel Papiere in die Hand. »Das sind die mysteriösen Todesfälle, von denen Sie gewiss schon gehört haben«, murmelte er dabei. Luna blickte angespannt auf die Protokolle. »Hat schon irgendwer nach Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen mit älteren und ungeklärten Todesfällen gesucht?«, rief sie Kommissar Sandiego hinterher.
»Ich glaube nicht«, erwiderte er aus der Küche rufend. »Einzig die Tatsache, dass die Opfer allesamt vor ihrem Ableben völlig gesund waren und der Leichenbeschauer keine konkrete Todesursache feststellen konnte, macht diese Fälle für unsere Abteilung interessant. Milch und Zucker?«
»Ja, gerne.« Luna blätterte sich auf dem Weg in ihr Büro durch die medizinischen Untersuchungsberichte. Dann hob sie ihren Blick und ließ ihn durch den Raum gleiten. Ihr Garderobenständer stand noch immer hinter der milchverglasten Tür. Auch ihren Schreibtisch hatte Kommissar Schröder während ihrer Abwesenheit keinen Zentimeter verrückt. Ebenso die Blumentöpfe, die sich auf der Fensterbank aneinanderreihten. Selbst die krumm gewachsene Yucca-Palme zierte noch immer die Fensterecke des Raumes. So befremdlich der Weg zum Büro auch war, so vertraut war dieser Raum geblieben. Über Lunas Gesicht huschte ein Lächeln. Sie war angekommen.
»Nun setzen Sie sich doch erst einmal«, forderte Kommissar Sandiego, der auf einem Tablett den Kaffee nebst einem Stück Torte servierte.
»Es gibt Torte?« Luna legte überrascht die Akten nieder, zog ihren Mantel aus und warf ihn über die Lehne des Bürosessels.
»Ein Geschenk von Bäckerei Steffens mit lieben Grüßen zum Arbeitsstart.«
»Oh mein Gott, ist die lecker«, schwärmte Luna beim ersten Fingertest. »Ist das etwa …?«
»Ja, Kokos-Mandel-Sahnetorte.«
»Hm, Kokos-Mandel-Sahnetorte«, wiederholte Luna wie in Trance. »Meine absolute Lieblingstorte. Erwähnte ich bereits, dass ich dafür sterben würde?«
»Mehr als einmal«, ertönte Kommissar Schröders Stimme hinter ihr. »Und zwar jedes Mal nach dem Verzehr eines dieser delikaten Hüftgoldstücke.« »Schröder, wie habe ich Sie und Ihren Humor vermisst.« Luna wandte sich um und fiel dem Kommissar spontan um den Hals. »Was sind schon ein paar Kilo mehr, wenn man dafür glücklich ist.«
»Sie wissen schon, dass das ein Trugschluss ist?«
»Och Schröderlein, nun rauben Sie mir nicht mit Ihrem wissenschaftlich fundierten Studienwissen die Illusion, die dieses Stück Torte in mir auslöst. Manchmal muss man das Gehirn ausschalten, um Wunder zuzulassen, oder besser gesagt, zu schmecken.«
Kommissar Schröder lachte. »Sie sind die Expertin für Wunder, Sie müssen es wissen.«
Luna entledigte sich ihres Hutes, zupfte ihr Haar zurecht und schwang sich mit einem freudigen »Ach, es tut so gut, wieder hier zu sein« auf ihren ledernen Schreibtischsessel.
»Was ist mit den rechtsmedizinischen Berichten?«, fragte Kommissar Sandiego. »Möchten Sie, dass ich diese an andere Kriminaldienststellen schicke, um sie mit bundesweiten Fällen abzugleichen?«
Luna schüttelte den Kopf, während sie sich durch die obere Mandel-Sahneschicht schlemmte. »Später, Sandiego. Ich will zuerst selbst durchgehen und mir einen Überblick verschaffen.«
»Sie glauben, es war Mord?«
»Ja, tut sie, so wie ich unsere alte und neue Chefin einschätze«, unterbrach Kommissar Sandiego Schröders aufkommende Frage. »Und vielleicht ist da sogar etwas dran. Drei mysteriöse Todesfälle in nur zwei Wochen erscheinen schon verdächtig.«
»Hm, mag sein, obwohl ich persönlich dagegenhalte. Aber gut, eine Vergleichsanalyse kann nicht schaden.« »Wann in all den Dienstjahren haben Sie jemals an eine Serientat geglaubt, Schröder?«, stellte Luna klar und wechselte unverfroren das Thema. »Wie ich höre, haben wir jetzt eine Küche anstelle eines Kaffeeautomaten.« »Ja, das alte Ding hat es nicht mehr getan und nur noch wässrigen Kaffee produziert.«
»Und Sie hatten keine Probleme damit, Ihr Büro dafür zu opfern? Ich meine, jetzt wo ich wieder die Leitung der Kriminalabteilung übernommen habe, gibt es definitiv ein Büro zu wenig. Allerdings könnten Sie sich auch in meinem Büro eine Ecke herrichten.«
»Danke, aber ich habe meinen Schreibtisch bereits ins Büro zu Kommissar Möllemann bringen lassen.«
»Sind Sie sicher?« Luna wollte keinesfalls ihren engsten Kollegen vertreiben, der sie in der langen Zeit ihrer Abwesenheit gut vertreten hatte.
Kommissar Schröder schmunzelte. »Nein, nein, es ist völlig okay, mit Kommissar Möllemann ein Büro zu teilen.«
»Apropos Möllemann, wo steckt er eigentlich?« Kommissar Sandiegos Blicke wanderten hilfesuchend zu Kommissar Schröder, der schulterzuckend stammelte: »Keine Ahnung.«
Aber aus irgendeinem Grund nahm Luna ihm das nicht ab. Ihr beruflicher Partner war einfach ein viel zu schlechter Lügner. Dennoch fragte sie nicht weiter, sondern genoss den wundervollen Augenblick ihrer Rückkehr.
Wenige Minuten später war Kommissar Möllemann mit einer Flasche Sekt eingetroffen. Allerdings kam er nicht allein. Mit ihm betrat Peter Bäriger Lunas Büro, in seinen Händen einen großen Blumenstrauß haltend. »Willkommen zurück im Namen aller Kollegen und des Polizeirates.«
Luna sprang auf und umarmte ihren alten Schulfreund. »Danke, Bärchen.« Dann blickte sie zu Kommissar Möllemann. »Sekt?«
»Na ja, ich kannte Ihren Parfümgeschmack nicht, konnte mich aber noch gut an Ihre Vorliebe für lieblichen Sekt erinnern«, stammelte er etwas verlegen.
Luna klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Danke, Möllemann. Wenn Sie die öffnen könnten, ohne dabei ein Loch in die Deckenplatten zu schießen, wäre der Tag perfekt.«
»Und ich hole derweil unsere Plastikbecher für Sekt-Notfälle«, meinte Kommissar Schröder und verließ das Büro, in das eine lebendige Stimmung eingekehrt war. Als er zurückkehrte, hatte er nicht nur die Becher in der Hand, sondern auch einen kleinen Karton, der mit einem glänzenden Schleifenband zugebunden war. »Ich dachte, dieses kleine Ding könnte vielleicht nützlich sein.«
Luna griff danach, bedankte sich und rüttelte daran herum. »Okay, was ist das?«
»Öffnen Sie es«, erwiderte Kommissar Schröder.
»Es ist ganz sicher etwas Praktisches, so wie ich Sie kenne«, murmelte sie beim Entfernen des Schleifenbandes. Verwundert blickte sie auf den Inhalt. »Ein Pager?«
»Sie haben mir vor sieben Monaten das Leben gerettet. Und sollten Sie irgendwann mal in Gefahr sein, will ich rechtzeitig da sein können und dasselbe für Sie tun.« Tränen schossen in Lunas Augen, so sehr rührten sie die Worte ihres Kollegen. »Was soll ich sagen? Danke, Schröder. Und jetzt sollten wir alle anstoßen und uns danach diesem Stapel Protokollen widmen.« Dabei klopfte sie auf die Unterlagen, die auf ihrem Schreibtisch ruhten.
»Zuvor solltest du aber noch diese beiden Dinge hier entgegennehmen«, sagte Peter Bäriger, schlug seine Lederjacke zurück und zückte Lunas Dienstwaffe inklusive ihres Dienstausweises. »Hans-Jürgen Richter hätte dir das gern selbst übergeben, aber du kennst ja den übervollen Terminplaner unseres Polizeirates.«
»Klar, kein Problem.« Luna steckte den Dienstausweis ein und küsste ihre P6. »Oh Baby, wie habe ich dich vermisst«, murmelte sie ihrer Waffe liebevoll zu, bevor sie sie in den Holstergurt schob, den sie wie üblich über ihrem Kleid trug. Ihre Kollegen kannten die seltsame Zuneigung die Luna ihrer P6 entgegenbrachte und schmunzelten darüber.
»So, meine Herren, dann erhebe ich jetzt meinen Sektbecher und trinke auf eine gute Zusammenarbeit.«
Randgebiet Putbus, Haus Luna Maiwald,
27. März, 18:23 Uhr
Als Luna das Haus betrat, eilte ihr Marcia mit Block und Stift entgegen. »Und, wie war dein erster Tag?«
»Viel zu kalorienreich und ohne besondere Vorkommnisse.«
»Keine Leichen oder Kriminellen, über die es sich zu schreiben lohnt?«
Luna lachte auf. »Kein Kommentar, Süße. Auch wenn du meine Tochter bist, so mache ich dennoch von der Verschwiegenheitsklausel Gebrauch und behandle dich wie alle Presse-Geier.«
»Och, Mom. Wie soll ich jemals eine Star-Reporterin werden, wenn du mir nicht wenigstens einen Happen hinwirfst.«
»Momentan bist du eine Schüler-Reporterin, und das auch nur stundenweise. Also kümmere dich lieber um deine Hausaufgaben, statt über Kriminelle zu berichten. Außerdem schreibst du doch erfolgreich über die Seevogel-Auffangstation deines Großvaters, oder nicht?« »Ja, schon, aber nur über Opas Neuzugänge zu berichten, macht auf Dauer keinen Spaß«, nörgelte Marcia und klappte enttäuscht ihren Block zu. »Eine Leiche mit abgeschlagenem Kopf wäre durchaus reißerischer.«
»Ich frage mich nur, von wem du diesen gruseligen Ehrgeiz geerbt hast«, murmelte Luna kopfschüttelnd, während sie ihre Jacke an die Garderobe hängte und die mitgebrachten rechtsmedizinischen Berichte in einem gesicherten Schrank verstaute, der eigentlich für ihre Waffe angedacht war.
»Dad sagt, von dir.«
»Ja, klar, von wem sonst. Von deinem Vater hast du auch nur die guten Eigenschaften. Wo ist er eigentlich? Noch immer in der Praxis?«
Marcia zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Bin auch erst vorhin heimgekommen. Ich war noch bei Claudia, Englisch pauken.«
»Seit wann paukst du Englisch? Ich dachte, du stehst auf eins.«
»Ich schon, nur bei Claudia hapert es gewaltig. Hast du mal eine Sächsin Englisch sprechen hören? Zum Weghauen, sag ich dir.«
»Nun ärgert sie doch nicht ständig ihres Dialektes wegen. Ein Sachse sächselt eben, so wie ein Bayer bayrisch redet. Ist doch ganz normal.«
»Ja, ja. Moralpredigt angekommen. Ich mach' mir jetzt einen Tee. Dieses Sauwetter hat mir Eisfüße beschert. Magst du auch einen?«
Luna lehnte dankend ab. Sie sehnte sich nach einer schaumgefüllten Badewanne und etwas Entspannung. »Ich geh lieber rauf und lasse mir ein Bad ein. Wenn dein Vater kommt, sag ihm, das Bad sei vorübergehend geschlossen.«
Eine Stunde später
»Luna? Geht's dir gut? Nun sag doch was, oder ich breche die Tür auf.«
Aufgeschreckt vom Fausttrommeln gegen die Badezimmertür fuhr Luna hoch. Sie war eingeschlafen. »Ja, ja, alles okay«, stammelte sie frierend. Das Badewasser war mittlerweile dermaßen abgekühlt, dass sich selbst der Schaum vor Kälte aufgelöst hatte. Mit einem Badetuch bedeckt stieg sie fröstelnd aus der Wanne und öffnete die Tür, vor der Fred und Marcia standen. Mit großen Augen starrten sie Luna an. »Was schaut ihr so komisch? Kann man in diesem Haus nicht mal in aller Ruhe ein Bad nehmen?«
»Du bist eingeschlafen, oder?«, mutmaßte Fred und traf damit ins Schwarze. »Wie oft habe ich dir gesagt, dass das höllisch gefährlich ist, wenn du die Tür verriegelst, während du dein Badewannen-Nickerchen hältst.«
Luna warf Fred einen bösen Blick zu. »Ich habe kein Nickerchen gehalten, sondern ein entspannendes Bad genommen.«
»Ah ja! Und weshalb zitterst du dann so?«
»Ist das ein Verhör oder was soll die ganze Fragerei? Gib mir lieber einen Kuss und erzähl', wie dein Tag war.«
»Er war wie jeder Tag, voller Patienten die sich ihrem Herzen gegenüber nicht gerade herzlich verhalten. Erzähl lieber, wie dein Einstieg war. Gab es eine Willkommensparty oder eine Leiche zum Dessert?« Marcia kicherte. »Der war gut, Dad. Leider wirst du ebenso wenig Erfolg auf eine Antwort haben, wie ich. Mom hüllt sich neuerdings in Schweigen, wenn es um Leichen geht.«
»Ja, und das hat auch seinen Grund, Fräulein Star-Reporterin. Und jetzt will ich nur noch in meinen flauschigen Hausanzug schlüpfen und mich mit meinen beruflichen Unterlagen aufs Bett werfen, also aus dem Weg ihr zwei.«
»Und das Abendbrot?«, fragte Fred.
»Das müsst ihr ohne mich einnehmen. Ich bin auf Diät nach zwei Stücken kalorienreicher Kokos-Mandel-Sahnetorte.«
»Ich dachte da weniger ans Einnehmen, sondern vielmehr ans Machen«, erwiderte Fred enttäuscht. »Aber fein, dann mache ich eben das Abendbrot für unsere Tochter.«
»Die bereits so groß ist, sich ihr Abendbrot durchaus selbst zuzubereiten«, entgegnete Luna. Sie ärgerte sich über Freds altbackenes Frauenbild. Und darüber, dass er stets Marcia vor Dinge schob, mit denen alleinig er ein Problem hatte. Mit einem Seufzer warf sich Luna aufs Bett. Sie griff nach den drei Akten und schlug die oberste auf.
Name: Alexander Wünschler
Alter: 24 Jahre
Größe: 1,79 Meter
Gewicht: 82 Kilogramm
Berufsstand: Restaurantfachangestellter
Zuletzt lebend gesehen: ----
Sterbe-/Todeszeitpunkt: 13.03.2017/ 12.47 Uhr
Tod aufgefunden am: -----
Notiz: Er kollabierte während seiner Mittagspause, nachdem er einen Teller Eintopf gegessen und eine Zigarette geraucht hatte. Vor Eintreffen des Notarztes: Erbrechen, heftiges Zittern, Lähmungserscheinungen – laut Zeugenaussage *1. Proben vom Eintopf wurden gemäß Lebensmittelüberwachungsgesetz gesichert und ausgewertet *2.
Beim Eintreffen des Notarztes: Nicht ansprechbar. Komatöser Zustand, irreversibler Herzstillstand/ Atemstillstand nach erfolgloser Reanimation auf dem Weg ins Krankenhaus.
Luna blätterte weiter.
Leichenschau
1. Veranlasser der Leichenschau: Vergeblicher Notarzteinsatz, Klinikleitung Prof. Dr. Kahjan
1.1. Zeitpunkt der Veranlassung: 14.05 Uhr
1.2. Zeitpunkt der Durchführung: 15.37. Uhr
2. Ort der Leichenschau: Pathologische Abteilung, Klinik Bergen
3. Identifikation des Verstorbenen: Dem Leichenschauer bekannt, nach Angaben von Dritten
4. Zustand der Bekleidung: Geordnet, sauber, Hemd und Weste aufgeschnitten aufgrund Reanimation, keine Verschmutzungen oder Schleifspuren am Schuhwerk, eine Armbanduhr, ein Ring, eine Halskette mit Sternzeichen Stier dem Leichnam entnommen
5. Reanimation: Ja, siehe DIVI-Rettungsprotokoll *3
6. Lage der Leiche: --------
7. Untersuchung des Leichnams
7.1 Leichenerscheinungen: Livores rotviolette, normal der Lageposition ausgeprägt von der hinteren Rumpfwand bis zu den vorderen Achsellinien. Schulter- u. Gesäßbereich sowie Wadenwölbungen und Fersen, vollständig wegdrückbar, postmortales Temperaturplateau, Kerntemperatur 34° Celsius, Körperöffnungen weisen keine Veränderungen auf, Ausprägungsgrad der Leichenerscheinungen mit dem angegebenen Zeitpunkt des Todeseintritts kompatibel.
7.2 Systematische Untersuchung des Leichnams: Keine aromatischen Gerüche wahrnehmbar, keine Narben, Ödeme, Stich- oder Injektionsverletzungen, Gebiss i. O, Zähne festsitzend, Fingernägel i. O, keine Abwehrverletzungen.
8. Anamnese/ Umstände des Todeseintritts: Ungeklärter Todesfall 9. Wer hat die Leichenschau durchgeführt: Dr. Zimt, Zeuge: Dr. Demir
So schnell konnte das Leben enden, dachte Luna und schluckte den aufkommenden Kloß in ihrem Hals herunter. Dieser junge Mann war von jetzt auf gleich in einen Zustand verfallen, der auf Drogen, Gift oder eine schwere Erkrankung schließen ließ, wobei letzteres auszuschließen war. Sein Todeskampf dauerte nicht lange, schien aber von starkem Schmerz zu sein. Und am Ende versagte sein Herz – einfach so. Luna schauderte bei dem Gedanken an seine Familie. Das Kind von einem Tag zum anderen aus dem Leben gerissen, völlig ohne Vorerkrankung. Die Familie will ganz sicher Antworten, will wissen, wer oder was für diesen sinnlosen Tod verantwortlich ist, genau wie Luna selbst. Sie gähnte und rieb sich ihre Augen. Der Text verschwamm zunehmend im Licht der kleinen Tischlampe. Nicht einschlafen, mahnte sie sich selbst und blätterte sich Seite für Seite durch die Akte nebst Anhängen. Dann war der nächste Todesfall dran und der nächste Leichenschau-Bericht, dessen Inhalt dem vorherigen ähnelte.
Dienstag
Randgebiet Putbus, Haus Luna Maiwald,
28. März, 02.20 Uhr
Ein konstantes Summen erfüllte die Räume. Ein Summen, das von den auf Hochtouren laufenden Brennkammern des Verbrennungsofens stammte. »Willkommen im Krematorium, in der Vorwelt zur Hölle«, sagte eine im Licht des Feuers stehende Person, die neben dem Ofen stand und Luna wie magisch anzog. »Rund 400 Leichen pro Monat werden hier eingeäschert. Nichts, außer einem Kehrblech Asche bleibt übrig.«
Luna blinzelte gegen das grelle Licht, gegen die unerträgliche Hitze, der sie mit jedem Schritt näherkam, und erstarrte. »Du, Ingmar?« Sie spürte seine kräftigen Hände an ihrem Hals, die sie packten und langsam ihre Kehle zudrückten, während seine Zunge über ihr verschwitztes, angsterfülltes Gesicht zum Ohrläppchen glitt.
»Ich sagte doch, ich werde immer in deiner Nähe sein«, hauchte er ihr ins Ohr.
Sie spürte wie ihre Beine versagten, dann das kalte Metall der Selektionsliege unter sich, auf die Ingmar Wolff sie presste. Der Geruch von verbranntem Fleisch war unerträglich. Atemnot, gefolgt von einem pulsierenden Druck, der ihr mit jedem Herzschlag zunehmend den Verstand raubte. Luna schnappte verzweifelt nach Luft. »Bitte, Ingmar. Bitte nicht!« »Luna! Luna, wach auf! Kommissar Sandiego ist am Telefon. Er meint, sie hätten dich schon mehrfach angepiepst«, hörte sie Freds verzerrte Stimme.
»Geh weg! Verschwinde aus meinem Leben!«, röchelte sie und schlug um sich, immer noch mit einem Teil ihres Körpers im Albtraum steckend.
»Luna, aufwachen! Du hast wieder schlecht geträumt. Und außerdem ist es wichtig.«
Ein unsanfteres Rütteln folgte und beförderte Luna zurück in die reale Welt, weit weg von Ingmar Wolff. Vorsichtig öffnete sie ihre Augen. »Was ist denn los?«
Fred setzte sich auf die Bettkante und strich besorgt über Lunas verschwitzte Stirn. »Kommissar Sandiego ist dran. Er sagt, es sei wichtig.«
»Meinetwegen, gib her. Was gibt's denn, Sandiego?«
»Tut mir leid, Sie um diese Zeit zu stören, aber es gibt eine weibliche Leiche am Strand von Göhren. Wir haben Sie auch schon mehrfach angepiepst.«
»Mich angepiepst?«
»Über Ihren Pager. Sie wissen schon, das kleine praktische Ding, das Ihnen Kommissar Schröder geschenkt hat.«
»Ja, ja, ich weiß, Sandiego.«
»Sie haben ihn doch eingeschaltet?«
»Aber natürlich, was glauben Sie denn. Gibt es Hinweise, die auf ein Fremdverschulden hindeuten?«
»Bisher sieht alles nach einem Sturz vom Pferd aus. Aber völlig auszuschließen ist es nicht.«
»Inwiefern? Sichtbare Verletzungen?«
»Die Tote liegt bäuchlings im Sand in einer Wassermulde. Sichtbare Verletzungen befinden sich im Gesichtsbereich, linker Hand an Schläfe und Stirn. Eine Art U-förmiges Hämatom. Im unmittelbaren Umfeld wurden Hufspuren gesichert, die auf einen Sturz vom Pferd deuten könnten.« »Verstehe. Wurde der Veterinärmediziner schon verständigt, um das Pferd zu begutachten?«
»Ja, er wurde angepiepst. Jedoch fehlt vom Pferd bislang jede Spur.«
»Ist zufällig ein Reiterhof in der Nähe?«
»Eine Ranch, um genau zu sein. Die Blue Sea Ranch wird gerade von Kommissar Schröder überprüft.«
»Alles weiträumig absperren, Sandiego. Die Spurensicherung soll jede einzelne Hufspur sicherstellen. Und ich will Flutlicht im Umkreis von einhundert Metern.«
»Okay, Boss.«
»Gut, ich bin dann gleich vor Ort. Wurde der Rechtsmediziner schon informiert?«
»Ja, er ist ebenfalls auf dem Weg hierher.«
Als Luna aufgelegt hatte, saß Fred immer noch auf der Bettkante und sah sie mit ernster Miene an. »Was?«, fragte sie, den Bericht des Leichenschauers glattstreichend.
»Du hattest wieder diesen Traum, stimmt's?«
Luna stöhnte genervt auf. »Ich hatte gar nichts. Lass mich einfach aufstehen und meinen Job tun, okay? Und mach' dir nicht ständig Sorgen um mich.«
»Du trägst einen Abdruck vom pathologischen Untersuchungsbericht im Gesicht und ich soll mir keine Sorgen machen?«
Luna wischte sich mit der Hand über die Wange. »Ich bin eingeschlafen, habe geschwitzt, nichts weiter. Und ja, mit dem Gesicht auf einem pathologischen Befund. Kein Grund, deshalb gleich den Doktor heraushängen zu lassen und mich anzustarren, als sei ich einer deiner todkranken Patienten.« »Schön, wie du meinst.« Fred sprang auf und ging zur Tür. Dann drehte er sich noch einmal um. »Wenn du nicht darüber reden willst, gut. Aber vergleiche meine Fürsorge nie wieder mit meinem Job als Arzt. Ich lege den weißen Kittel ab, bevor ich nach Hause komme, im Gegensatz zu dir.«
Die Tür flog mit einem lauten Krachen ins Schloss. Dann war für einige Sekunden vollkommene Stille. Luna rang nach Worten. Sie verspürte eine tief in sich sitzende Wut, welche versuchte, nach außen zu dringen. »Wow! Das ist es also!«, rief sie. »Mein Job ist das Problem!« Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und schlug ins Kopfkissen. Tränen, die sich aus ihren Augen lösten, rannen bachartig die Wangen hinunter. Luna hätte am liebsten laut geschrien, unterdrückte diese ihr unbekannte und angstmachende Emotion jedoch, um den Konflikt nicht weiter anzuheizen. Sie stand auf, lief zum Schrank und suchte ein passendes Kleid für den nächtlichen Einsatz. Draußen schien es winterlich kalt, aber trocken. Der Wind rüttelte ordentlich an den Fenstern, während sie sich anzog. Dann legte sie ihren Waffengurt an, überprüfte die Dienstwaffe, die wie üblich unter ihrem Kopfkissen lag, und steckte sie ins Holster. Ein letzter Blick in den großen Standspiegel, bevor sie leise die Tür öffnete und die Treppe barfüßig hinunterschlich. Fred saß wortlos in der Küche über einem Tee. Luna überlegte, ihn anzusprechen, sich in irgendeiner Weise von ihm zu verabschieden, bevor sie hinaustreten und mit dem Schließen der Haustür alle privaten Probleme hinter sich lassen würde. Sie zweifelte jedoch daran, dass dies ein guter Moment für einen Abschiedskuss oder dergleichen sei. Ebenso wortlos wie Fred schlüpfte sie in ihre Stiefeletten, zog die Jacke über, griff nach ihrem fellummantelten Hut und trat ins Dunkel der Nacht hinaus.
Göhren, Südstrand, 28. März, 03.34 Uhr
Von weiter Ferne waren die Lichter des Ermittlerteams erkennbar, die in die sonst so friedliche Idylle des Ortes eine befremdliche Unruhe projizierten. Prof. Dr. Schönborn kniete vor dem Leichnam, als Luna schnellen Schrittes auf die Fundstelle zueilte. Sie hatte das Gesicht tief in den Kragen ihrer Jacke versenkt, um dem ausgesprochen kühlen Morgen gefühlsmäßig zu entfliehen. Wie immer trug sie Gummistiefel, die sie zuvor im Wagen gegen ihre Stiefeletten getauscht hatte. Sie hoffte, dass sich das Ableben der Toten als bedauerlicher Unfall erweisen würde, der schnell aufgeklärt wäre. Aber umso näher sie der Toten kam, desto mehr zwickte es in ihrer Magengegend. Luna seufzte. Dieses Zwicken verhieß nichts Gutes. »Guten Morgen allerseits. Was habt ihr für mich?«
»Den Namen der Toten«, erwiderte Kommissar Schröder, der mit aufgeschlagenem Notizblock neben dem Rechtsmediziner Prof. Dr. Schönborn stand. »Pamela Caroll, dreiunddreißig Jahre, aus Texas. Laut Aussage ihres Schwagers war sie zu Besuch auf Rügen und ist mit einem der Pferde gegen Mitternacht ausgeritten.«
Luna verzog ihr Gesicht zu einer nachdenklichen Mimik. »Um diese Uhrzeit? Ich meine, wer reitet schon mitten in der Nacht am Strand entlang?«
Kommissar Schröder zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ein spontaner Ausritt, der mit einem Sturz vom Pferd endete.«
»Nee, Schröder, so recht will mein Magen nicht an einen mitternächtlichen Reitunfall glauben.«
»Wäre aber durchaus denkbar«, mischte sich Prof. Dr. Schönborn in das Gespräch. »Der Schlag gegen ihre Stirn könnte meiner ersten Einschätzung nach von einem Pferdetritt stammen. Das Pferd könnte gescheut, sie abgeworfen und ihr mit dem Huf ins Gesicht geschlagen haben.«
Luna hockte sich neben den Professor und betrachtete die Verletzung des Opfers, die sich über dem linken Auge befand und bis zur Schläfe zog. »Und an dieser Verletzung ist sie gestorben?«
»Nicht unbedingt«, erwiderte Prof. Dr. Schönborn. Er wies auf eine danebenliegende Vertiefung im Sand, die mit Wasser gefüllt war. »Immerhin wurde sie in dieser Wassermulde mit dem Gesicht liegend gefunden, was ein Ertrinken nicht ausschließt.«
»Ich weiß nicht«, murmelte Luna sich umblickend. »Die einzige und nicht komplett zugefrorene Wassermulde weit und breit, und ausgerechnet darin landet unsere Reiterin? Das wäre ein wirklich großer Zufall.«
»Den man keinesfalls ausschließen sollte«, sagte Kommissar Schröder. »Jedenfalls solange nicht, bis es Beweise dagegen gibt.«
»Sie hätte mal besser einen Helm getragen«, meinte Kommissar Sandiego. »Meine Nichte, die Karen, reitet nie ohne Helm ins Gelände.«
»Helm hin, Helm her, ich brauche die genaue Todesursache, bevor ich die Akte als Unfall schließe oder als Mord anlege. Wann kann ich mit ersten Ergebnissen rechnen?«
»In zwei Tagen, denke ich«, antwortete der Professor. Luna wandte sich den forensischen Experten zu, die mit Sorgfalt alle sichtbaren und von den Wellen nicht zerstörten Hufabdrücke sicherten. »Und bei euch, Jungs?«
»Könnte gut ein paar Tage dauern, bis wir alle Spuren ausgewertet haben«, meinte einer der Forensiker und schüttelte enttäuscht seinen Kopf. »Bei diesem Wetter ist es ja nahezu ein Glücksfall, überhaupt vernünftiges Beweismaterial zu sichern.«
»Hm, gut«, murmelte Luna immer noch grübelnd. Neben aufkommenden Zweifeln vermisste sie den Chef der forensischen Abteilung. »Wo ist eigentlich Bärchen?« »Der Chef ist kurzfristig zu einer Konferenz nach Mainz geflogen. Ein Seminar über forensische Anthropologie. Morphologische und osteometrische Begutachtung von Knochenfragmenten«, rief ein anderer Kollege, der gerade Gips zum Ausgießen der Hufspuren anrührte.
»Ah ja, verstehe. Und wann wird er zurückerwartet?« »Wir gehen davon aus, dass er morgen wieder im Kriminallabor sein wird.«
»Wunderbar. Dann sagen Sie ihm, er möge mich sofort anrufen, wenn die ersten Auswertungen der Hufspuren durch sind. Und Jungs, ich möchte, dass ihr jeden noch so kleinen Krümel aus dem Umfeld der Toten eintütet und mitnehmt, möge er noch so unwichtig erscheinen.« Luna wandte sich wieder zu Kommissar Schröder. »Und wir beide sehen uns noch einmal auf dieser … ähm, wie hieß die Ranch noch einmal?«
»Blue Sea Ranch«, antwortete Kommissar Sandiego.
»Ja, genau … auf der Blue Sea Ranch um.«
»Zeitverschwendung«, erwiderte Kommissar Schröder. »Es gibt da nichts, was unsere Ermittlungen weiterbringt. Ganz normale Familie mit zwei Kindern, die sich vor sechs Jahren auf Rügen niedergelassen hat. Er kümmert sich um alles Geschäftliche, seine Frau um die Pferde und die Urlaubsgäste. Es gibt zwei Angestellte, die beide zum geschätzten Zeitpunkt des Reitunfalls nicht auf der Ranch waren. Die Kinder schliefen und haben vom Ausritt ihrer Tante ebenso wenig mitbekommen wie ihr Vater. Lediglich das Bellen der Hunde weckte den Hausherren, als diese das zurückgekehrte und durchgeschwitzte Pferd ankündigten.«
Luna lauschte den Ausführungen ihres Kollegen und lächelte theatralisch. »Schön, dass Sie diesen Fall schon als Unfall eingeordnet haben, obgleich die Untersuchungen der Spuren noch ausstehen.«
»Ich habe lediglich erörtert, was meine Befragung ergeben hat«, rechtfertigte Kommissar Schröder seine mündliche Ausführung. »Zweifelsohne schätze ich aber den Tod der jungen Frau als unglücklichen Reitunfall ein, ja.«
»Menschen lügen, Schröder. Das sollte Ihnen doch nicht fremd sein. Mein Bauch hingegen tut dies nicht. Und er sagt mir, dass dieser Reitunfall, so wie Sie den Tod der Amerikanerin bezeichnen, zum Himmel stinkt.« Kommissar Möllemann, der sich mittlerweile hinzugesellt hatte, positionierte sich. »Ich denke auch, dass es Probleme mit dem Pferd gab. Die gebündelten, vertieften Hufspuren im Sand, die Gesichtsverletzung des Opfers und das Blut im Wasser der Mulde, das alles spricht für einen Sturz vom Pferd mit unglücklichem Ausgang. Außerdem gibt es keine Hinweise, die auf eine weitere Person schließen lassen. Keine Schuh- oder sonstigen Abdrücke, nichts, außer offensichtlich den Spuren des Pferdes.«
»Was aber nicht bedeutet, dass niemand ihren Tod herbeigeführt haben könnte«, erwiderte Luna. »Und außerdem sollten wir uns lieber auf die Ergebnisse der forensischen Auswertung stützen statt eines Todesfalls mit Offensichtlichkeiten, wie Sie es nennen, abzuschließen.« Lunas Blick wanderte zu Kommissar Schröder. »Wer hat eigentlich die Polizei informiert?«
»Eine Forschungsgruppe, die die nächtliche Aktivität von Meerestieren in Strandnähe erforscht. Sie sahen den leblosen Körper durchs Fernglas am Strand liegen und gaben sofort einen Funknotruf ab.«
»Hm, eine Forschungsgruppe also.« Luna zog den Kragen ihrer Jacke höher. Bei dieser Kälte fiel es ihr schwer, die bildlichen Zusammenhänge klar zu deuten, die sich in ihrem Kopf zusammenbrauten. Und sie tat etwas, das sie nie zuvor getan hatte: Sie gab vorerst ihren Kollegen nach und ignorierte ihr Bauchgefühl. »Also meinetwegen. Schröder. Ich erwarte Ihren Bericht Punkt zehn Uhr auf meinem Schreibtisch.«
Randgebiet Putbus, Haus Luna Maiwald,
28. März, 05:15 Uhr
Im Haus war alles still, als Luna eintrat. Sie überlegte, sich noch einmal hinzulegen, bevor sie in einen weiteren arbeitsreichen Tag aufbrechen würde. Doch ihre Gedanken mochten nicht mitspielen. Sie zwangen Luna das Bild der Toten auf, deren Augen glanzlos ins Leere starrten. Ein Reitunfall, nichts als ein unglücklicher Reitunfall, versuchte sie die aufkommende Unruhe in sich zu besänftigen. Doch so recht wollte es nicht gelingen. Ihren Gedanken kapitulierend setzte Luna Kaffee an, schlüpfte in bequeme Haussocken und hing ihre Jacke an die Garderobe im Flur. Wenn sie schon nicht schlafen konnte, wollte sie doch die unchristliche Zeit sinnvoll verbringen und noch einmal gründlich die Akten der ungeklärten Todesfälle durchgehen, die sie aus dem Büro mitgenommen hatte und über denen sie eingeschlafen war. Dazu verteilte sie die Seiten der Berichte in der Küche nach augenscheinlichen Gemeinsamkeiten, Örtlichkeit des Ablebens und Berufen der Verstorbenen, sowie aufgenommenen Zeugenaussagen. Und es waren jede Menge Seiten, die es zu verteilen gab. Am Ende gab es kaum noch einen Platz in der Küche, der nicht mit einer Seite belegt war. Zuvor hatte sie jede Seite farblich markiert, um sie später wieder der jeweiligen Akte zuordnen zu können.
»Gibt es noch einen Kaffee to go?«, fragte Fred, der unbemerkt in die Küche getreten war.
»Weshalb denn to go? Musst du gleich in die Praxis oder bist du mir noch böse? Außerdem hatte ich vor, mich zu entschuldigen, wegen meiner barschen Art heute Morgen. Tut mir leid, hörst du?«
Fred nickte versöhnlich.
»Gut, dann lass uns das mit einem ehelichen Guten-Morgen-Kuss besiegeln, so wie es unter Verheirateten üblich ist«, freute sich Luna erleichtert.
Fred blickte sich um. »Wenn du mir erklärst, wie ich durch dieses Chaos komme, gerne. Was ist das überhaupt?«
»Auseinandergepflückte Untersuchungsberichte«, erwiderte Luna und schob einige der Seiten vom Fußboden zur Seite. »Voilà, du kannst die Hausherrin jetzt küssen.«
»Untersuchungsberichte, sagst du?«, wiederholte Fred und schlurfte missmutig hindurch. »Das heißt, du bist schon wieder völlig in deine Arbeit vertieft. Mich daran zu gewöhnen, fällt mir ehrlich gesagt nicht leicht.« Etwas zurückhaltend gestimmt umarmte er Luna und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Und?«
»Was und?«
»Ob du jetzt gleich ins Büro musst«, murmelte Luna mit einem Stift im Mund. In ihren Händen ruhte der pathologische Bericht des letzten ungeklärten Todesfalls. »Würde es dir denn überhaupt auffallen?«
Luna nahm den Stift aus dem Mund und musterte Fred über den Rand ihrer Lesebrille. »Natürlich würde mir das auffallen, was denkst du denn? Nur, weil ich mich meinem Job widme, verliere ich noch lange nicht den Mann meines Herzens aus den Augen.«
»Ich würde es eher stürzen nennen. Du stürzt dich auf dieselbe fanatische Art hinein, wie du es immer getan hast.«
»Tu ich nicht!«
»Doch, tust du! Du kannst nämlich gar nicht anders.« »Und ob ich anders kann. Erst heute früh, am Fundort des Leichnams, habe ich mich den Einschätzungen meiner Kollegen ergeben.«
Fred wurde hellhörig. »Du hast tatsächlich auf irgendwen anderes als auf dich und deinen Bauch gehört?«
»Ja, das habe ich«, verkündete Luna stolz und klemmte den Stift erneut zwischen ihre Zähne. »Und wenn du mir nicht glaubst, dann frag Schröder«, murmelte sie, bevor sie sich erneut dem Bericht in ihren Händen widmete. »Allerdings weiß ich immer noch nicht, ob du jetzt gleich losmusst.«
Fred blickte zur Uhr. »Ich hätte noch eine Stunde, vorausgesetzt, du hast etwas Außergewöhnliches mit mir an diesem noch jungfräulichen Morgen vor.«
Luna tippte auf den Bericht in ihrer Hand. »Na ja, ich könnte eine fachmännische Meinung gebrauchen.«
Fred, der sein Angebot zu bereuen schien, schüttelte lachend den Kopf. »Oh nein! Vergiss es!«
»Ach, komm schon, du bist Arzt. Nur das eine Mal. Und he, heute ist der Tag, an dem unsere Tochter nicht vor acht Uhr die Küche betritt. Wir hätten also eine ganze Stunde für uns alleine.«
Fred gab Luna nach, holte sich einen Kaffee und hockte sich zu Luna auf den Boden, zwischen all die markierten Seiten. »Meinetwegen, auch wenn ich diese Stunde gern anders mit dir verbringen würde.«
»Also«, begann Luna. »Auf dem Tisch liegen die Zeugenaussagen. Auf den Stühlen die pathologischen Berichte und Anhänge. Und auf dem Boden alles Übrige.«
»Ach herrje«, stöhnte Fred und nippte am Kaffee. »Und für welches dieser Papiere brauchst du jetzt meine Unterstützung?«
Kriminaldienststelle Bergen, 28. März, 10:00 Uhr
Pünktlich auf die Minute stürmte Kommissar Schröder in Lunas Büro und legte wortlos seinen Bericht auf den Tisch.
»Danke, Schröder«, flüsterte Luna, die mit ihrem Ohr am Telefon hing und sich mit verdrehenden Augen ins Rückenpolster ihres Sessels fallen ließ. »Polizeirat Richter«, fügte sie leise hinzu.
Kommissar Schröder nickte und zeichnete fragend einen Kaffeepott mit seiner Hand in die Luft.
»Ja, mit doppelt so viel Zucker wie üblich«, flüsterte Luna und formte ein lautloses »Danke« mit ihrem Mund, während sie der Polizeirat in hörbarer Lautstärke von der Wichtigkeit einer sinkenden Statistik im Bereich des Verbrechens zu überzeugen versuchte. »Ich verstehe Ihren Einwand, Herr Polizeirat. Aber das ändert nichts an meiner ersten Analyse bezüglich der ungeklärten Todesfälle. Sollen wir die etwa alle als Herzstillstand einstufen und den Angehörigen erklären, dass ihre Liebsten einfach so ohne gesundheitliche Einschränkung aus dem Leben geschieden sind? Ich persönlich denke, wir sollten alle uns zur Verfügung stehenden Mittel aufwenden, um die genauen Todesumstände dieser Menschen herauszufinden und lückenlos aufzuklären. Immerhin konnte die Pathologie einen Tötungsvorsatz nicht zweifelsfrei ausschließen, Statistik hin oder her.«
»Also schön! Dann erteile ich Ihnen hiermit grünes Licht, solange mir die Position als Polizeirat noch vergönnt ist.«
»Ich danke Ihnen. Und grüßen Sie Ihre Frau von mir. Der Friseur-Tipp war wirklich ein Volltreffer.«
»Ja, ja«, murmelte Hans-Jürgen Richter, als ahnte er nicht im Geringsten, wie wichtig die Frisur für eine Frau war.
Kurz darauf kam Kommissar Schröder zurück. »Ich habe mir erlaubt, Ihren Kaffee in die Zuckerdose zu füllen«, witzelte er über Lunas extra Zuckerwunsch.
Luna lächelte ihn an und wies mit ihrer Hand zum Stuhl gegenüber. »Setzen Sie sich.«
Kommissar Schröder ließ sich mit dem Kaffeepott auf dem Stuhl nieder und reichte ihn Luna.
»Hm, danke für den extra Zucker«, murmelte Luna beim ersten Schluck aus der übergroßen Tasse. »Genau das, was ich jetzt gebraucht habe.«
»So schlimm?«
»Na ja, nennen wir es mal eine mittelschwere Katastrophe. Sie wissen ja, wie schwierig es derzeit für den Polizeirat ist, zumal im nächsten Monat die Statistiken an die Öffentlichkeit gehen. Die Presseanfragen häufen sich bereits jetzt auf dem Tisch des Polizeirates.«
»Verstehe. Das Schönreden hat damit ein Ende, sobald Sie die Ermittlungen in Richtung Verbrechen lenken. Das schmeckt den Obrigen gewiss nicht.«
»Ja, so ist«, seufzte Luna. »Und mal wieder bin ich der unliebsame Stein, der einer vorzeigbaren Kriminal-Statistik im Wege liegt.«
»Ach was, Sie sollten das nicht so eng sehen. Immerhin tun Sie Ihren Job, nichts weiter.«
»Und wenn ich mich täusche? Was, wenn diese Todesfälle doch keine Verbrechen sind?«
»Dann haben Sie trotzdem Ihren Job gemacht und sind den Hinweisen nachgegangen, die sich nach einer ersten Analyse ergeben haben.«
»Und habe dem Polizeirat vielleicht eine weitere Amtszeit verbaut«, fügte Luna fast reumütig hinzu, als würde sie an ihrer eigenen Überzeugung zweifeln. Luna stellte den Kaffeepott ab und griff nach Kommissar Schröders Bericht. Sie blätterte sich durch die Seiten und murmelte unentwegt ein »Hm, okay« vor sich hin. Dann blickte sie ihren Kollegen an, mit dem sie seit vielen Jahren eng zusammenarbeitete. »Gut, ich lege ihn dann zur Akte Pamela Caroll.«
»Und Sie sind sicher mit allem einverstanden?«, fragte Kommissar Schröder skeptisch.
»Ja, ich denke schon.«
»Kein Bauchgrummeln?«
Luna schmunzelte ertappt. »Keines von Bedeutung.«
»Auch wenn ich das nicht glauben kann, bin ich doch froh über Ihr Vertrauen. Obgleich mich das auch etwas verunsichert, zugegebenermaßen.«
»Es verunsichert Sie?«
»Ja, auf eine unschöne Art. Bisher hat Ihr Bauchgefühl immer recht behalten. Sollte ich mich geirrt haben, werden Sie es mir jahrelang aufs Butterbrot schmieren.«
Luna lachte auf. »Und ob ich das werde, Schröder! Sie kennen mich doch. Aber jetzt sollten wir erst mal dringend daran arbeiten, mein Gesicht beim Polizeirat zu wahren, und zusehen, dass diese ungeklärten Todesfälle ohne jeden Zweifel im Sinne der Angehörigen aufgeklärt werden.«
Rechtsmedizin Stralsund, 28. März, 14.00 Uhr
Luna war mit Kommissar Schröder nach Stralsund gefahren, um die Untersuchungsberichte der Leichenschau mit Prof. Dr. Schönborn und seinem neuen Kollegen und viel gelobten Rechtsmediziner durchzugehen und einige Dinge zu hinterfragen. Ihr war aufgefallen, dass allen Todesopfern zuvor vom herbeigerufenen Notarzt Plötzlicher Herzstillstand als vorläufige Todesursache attestiert wurde, die spätere Leichenschau jedoch die Todesursache als Unbekannt deklarierte. In all ihren Dienstjahren hatte sie noch nie mit derartig mysteriösen Todesfällen zu tun gehabt, in denen scheinbar völlig gesunde junge Menschen nach Lähmungserscheinungen umfielen und starben. Trotz ihrer Abneigung dem rechtsmedizinischen Gebäude gegenüber, versuchte sie sich beim Eintreten nichts anmerken zu lassen. Sie war froh, Kommissar Schröder an ihrer Seite zu wissen, als der Ton des Aufzuges erklang und in ihr dieses manifestierte Gefühl des Unwohlseins aufkommen ließ. In diesem Moment dachte sie an Peter Bäriger und das Ergebnis seiner internen Untersuchung, ohne welches sie bis heute noch nicht wüsste, wer Marcias Vater ist. Sie lächelte bei dem Gedanken. Ja, ihr langjähriger Schulfreund Peter Bäriger hatte ihr unerlaubt eine Last von der Seele genommen. Und dafür war sie ihm unendlich dankbar.
»Dritte Etage, Obduktionssaal Dreihundertdrei«, las Kommissar Schröder vom elektronischen Notizblock seines Smartphones ab. »Der neue Rechtsmediziner heißt Dr. Lars Schramm.«
Luna nickte, während sie die aufkommenden Ängste zu unterdrücken versuchte. Diese Gänge, die Geräusche und die vor sich hin dudelnde Musik aus den Hallen ließen in ihr erneut die Schatten der Vergangenheit Oberhand gewinnen. Lunas Schritte verlangsamten sich. Sie begann zu schwitzen, obwohl die Temperatur im Inneren des Gebäudes sich kaum von der Außentemperatur unterschied.
»Ist alles okay?«, fragte Kommissar Schröder und blickte seine Vorgesetzte mit besorgtem Blick an.
»Alles in bester Ordnung«, log Luna und lächelte etwas verspannt. »Allerdings bin ich, um ehrlich zu sein, ungern in den Hallen des Todes. Sie bereiten mir gewissermaßen eine Gänsehaut. Aber wer ist schon gern an so einem Ort.«
»Ich zum Beispiel«, erwiderte eine ihr nicht bekannte Stimme. Ein etwa Mittdreißiger dunkelhaariger Mann, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war, stand plötzlich hinter den Ermittlern. »Sie müssen Kriminalhauptkommissarin Luna Maiwald sein«, redete er weiter und reichte Luna die Hand. »Ich bin Dr. Lars Schramm. Der Professor hat wahrlich untertrieben, was Ihre wunderschönen Augen anbelangt.«
Luna starrte geschmeichelt auf seine Hand, die mit einem blauen Gummihandschuh überzogen war.
»Oh, verzeihen Sie. Ich vergesse jedes Mal, diese Dinger auszuziehen«, entschuldigte er sich verlegen, während er sich des Handschutzes entledigte. »Manchmal esse ich versehentlich mit diesen Dingern. Alles schon vorgekommen.«
Luna ließ sich den Ekel, der in ihr aufkeimte, nicht anmerken. »Kein Problem. Jeder Beruf hat so seine Eigenheiten, nicht wahr, Schröder?«, versuchte sie die ungewöhnliche Situation aufzulockern und stieß ihren Ellenbogen gegen seinen Arm. Kommissar Schröder nickte und reichte dem Rechtsmediziner ebenfalls die Hand.
»Sie haben Fragen zu den Berichten der Leichenschau?« »Ja, wir würden dahingehend gern noch etwas mehr Hintergrundwissen sammeln wollen«, erwiderte Luna. »Aber gern. Was genau interessiert Sie?«
»Auf dem vorläufigen Totenschein aller drei Verstorbenen steht zweifelsfrei Plötzlicher Herzstillstand als Todesursache. Die anschließende Leichenschau ergab keine eindeutige Todesursache, schließt allerdings einen natürlichen Tod durch eine KHK aus. Wie ist das möglich?«
Dr. Schramm lächelte. »Wissen Sie, bei mir als Rechtsmediziner und vielleicht letzten Anwalt der Toten schrillen immer sofort die Alarmglocken, wenn ein SCD auf dem Totenschein steht, und sei es auch nur ein vorläufiger. Insofern kann ich meinen ehemaligen Studienkollegen und Pathologen Dr. Zimt gut verstehen, etwas genauer hingeschaut und im Zweifelsfall die Todesursache mit Unbekannt deklariert zu haben bei einem nicht zweifelsfrei nachweisbaren Todesumstand. SCD ist übrigens die Abkürzung für …«
»Ich kenne den Fachbegriff dafür«, unterbrach Luna den Mediziner. »Mein Mann ist Kardiologe müssen Sie wissen.«
»Ah, verstehe. Um auf Ihre Frage zurückzukommen; bei einem unerwartet eingetretenen Tod kardialer Ursache wird von einem Plötzlichen Herztod, also einem Sudden Cardiac Death kurz SCD gesprochen. Tritt der Tod etwa durch eine Vergiftung, innere Blutung oder Lungenembolie ein, wird zunächst bisweilen ebenfalls ein SCD angenommen und oft erst in einer Autopsie festgestellt, dass nicht Herzversagen die Todesursache war. Diese Tatsache ist für jeden gewissenhaft arbeitenden Mediziner Grund genug, bei einem Plötzlichen Herzversagen etwas genauer bei der Leichenschau hinzuschauen. Leider tut das nicht jeder, glauben Sie mir.«
»Heißt, hinter vielen Plötzlichen Herzstillständen steckt ein Gewaltverbrechen?«
»Das habe ich nicht gesagt. Der Plötzliche Herzstillstand kann auch durch einen Stromunfall, Blitzschlag, Schock oder einen Sturz ins kalte Wasser ausgelöst werden. Aber eben auch durch einen heftigen Schlag in den Bauch, bestimmte Gifte wie Drogen oder Medikamente. Das Spektrum ist groß und wird immer größer. Wichtig ist, dass die Todesursache festgestellt und niedergeschrieben wird, um die Akte ordnungsgemäß schließen zu können. Aber wem erzähle ich das.«
»Ja, ich kenne derartige Prozeduren nur zu gut«, pflichtete Luna Dr. Schramm bei, der seine medizinischen Erörterungen weiterführte.
»Ebenfalls nicht auszuschließen ist aber auch oftmals die Tatsache, dass hinter einem Plötzlichen Herzstillstand eine Koronare Herzerkrankung steckt, bei der es infolge Sauerstoffmangels zu Rhythmusstörungen kommt, die einen Herzstillstand auslösen können. Aber auch das dürfte Ihnen als Frau eines Kardiologen geläufig sein.«
Luna stimmte dem außergewöhnlich ehrgeizig erscheinenden Rechtsmediziner kopfnickend zu. »In der Tat ist mir diese Art der Herzerkrankung nicht fremd. Allerdings wundert es mich, dass trotz genauer Leichenschau bei keinem dieser Todesfälle eine genaue Todesursache ermittelt werden konnte.« »Das stimmt. Laut Berichten konnte lediglich in allen drei Fällen ein natürlicher Tod durch eine KHK ausgeschlossen werden. Dazu bedarf einem spezifischen toxikologischen Screening, so auch der Hinweis von der Leichenschau durchführenden Arzt. Mich wundert, dass nicht schon viel früher die Polizei und der Staatsanwalt eingeschaltet wurden.«
Luna warf Kommissar Schröder einen selbsbestätigenden Blick zu, bevor sie sich wieder dem Rechtsmediziner zuwandte. »Unsere Dienststelle wurde erst am vergangenen Sonntag mit den Fällen betraut.«
»Ja, die Wege der Bürokratie sind manchmal unergründlich«, antwortete der Rechtsmediziner und wandte sich hastigen Schritten zu, die über den Gang schallten. »Ah, da kommt ja der Professor. Wenn Sie beide mich jetzt entschuldigen würden? Eine Autopsie muss vorbereitet werden, oder gibt es noch Fragen, die ich Ihnen beantworten kann?«
»Nein, vielen Dank, Dr. Schramm, Sie waren uns eine große Hilfe«, erwiderte Luna und schüttelte dem Mediziner zum Abschied die Hand. »Alles Weitere können wir mit Prof. Dr. Schönborn besprechen, was die rechtsmedizinischen Untersuchungen der Todesfälle anbelangt.«
»Ich muss meine Verspätung entschuldigen. Eine Inaugenscheinnahme in Schwerin hielt mich länger auf, als mir lieb war. Und dann noch der Verkehr, ein Graus kann ich nur sagen«, fluchte der Professor und schnappte nach Luft. Dabei stützte er seine Hände auf die angewinkelten Knie, wie ein Asthmatiker, der seinen Brustkorb entlasten will.
»Geht's Ihnen auch wirklich gut?«, fragte Luna besorgt.
»Nur eine kleine Atempause für einen alten Mann, dessen Pumpe nur noch auf Sparflamme läuft«, lachte er und hustete.
»Ihr neuer Kollege war so nett und hat uns in der Zwischenzeit beratend beigestanden«, sagte Kommissar Schröder.
»Ja, er ist ein außergewöhnlich guter Rechtsmediziner, auf den ich keinen Tag mehr verzichten möchte. Und er ist mein Fahrschein in die längst überfällige Rente. Einen besseren Nachfolger kann ich mir gar nicht wünschen. Aber genug der Worte. Lassen Sie uns erst einmal in mein Büro gehen. Ich benötige dringend einen heißen Tee.«
Nachdem sich Prof. Dr. Schönborn seines Mantels entledigt hatte, schaltete er den Wasserkocher an, setzte sich in seinen in die Jahre gekommenen Schreibtischstuhl und faltete die Hände ineinander. »Wie ich bereits erfuhr, hat der Polizeirat grünes Licht im Falle der drei ungeklärten Todesfälle erteilt.«
»Ja, das hat er«, bestätigte Luna, sich dem Professor gegenübersetzend. Kommissar Schröder zog es vor, angelehnt am Türrahmen stehenzubleiben.
»Wir hoffen natürlich auf eine lückenlose Aufklärung der Todesumstände«, untermauerte er das Interesse der aufgenommenen Ermittlungen, die sich ohne rechtsmedizinische Hinweise in einem ruhenden Zustand befanden. »Sobald die richterliche Anordnung eintrifft, beginnen wir mit der Obduktion der Leichen. Bis dahin können wir uns nur auf die Berichte der Leichenschau im Krankenhaus stützen, aus denen nicht viel hervorgeht«, erörterte der Professor.
»Gibt es wenigstens Zeugenaussagen in diesen Fällen?« »Ja, die gibt es, Gott sei Dank«, bestätigte Luna. »Und in allen drei Fällen gibt es meines Erachtens ausreichend Übereinstimmungen, sodass ich derzeit diese drei Fälle auch im Zusammenhang betrachte. Einige Zeugen und Ersthelfer berichteten von Lähmungserscheinungen, zitternden Gliedmaßen und Erbrechen.«
Prof. Dr. Schönborn nickte. »Ich vermute, wie bereits der Arzt, der die Leichenschau durchführte, eine toxische Wirkung. Allerdings bleibt festzustellen, wie die toxisch wirkende Substanz aufgenommen wurde, und vor allem, welcher Art sie ist. Das Rätsel kann nur ein spezieller Tox-Screen lösen.«
»Ja, das sagte uns bereits Dr. Schramm. Ich verstehe nicht, weshalb man keinen Tox-Screen in der Klinik gemacht hat.«
»Oh, das hat man«, erwiderte der Professor. »Die üblichen Tests eben, nur waren diese scheinbar ergebnislos, sodass nunmehr ein LC/MS, HPLC-MS notwendig ist, eine Flüssigchromatographie mit Massenspektrometrie-Kopplung, die ausschließlich durch die Rechtsmedizin erfolgt.«
Luna starrte Prof. Dr. Schönborn an, als spräche er in einer ihr unbekannten Sprache. Dabei murmelte sie ein »Aha« vor sich hin.
»Hm, wie erkläre ich es am besten?«, brummte der Professor in die Innenfläche seiner Hand, die er grübelnd an sein Kinn geführt hatte. »Das ist quasi ein analytisches Verfahren zur Trennung und Bestimmung von Molekülen durch eine Kombination der Flüssigchromatographie, also LC, bzw. HPLC mit der Massenspektrometrie, MS genannt. Dabei dient die Chromatographie zur Auftrennung von Molekülen in einem Gemisch. Die anschließende Massenspektrometrie zur Identifikation oder Quantifizierung der Substanzen. Das Ergebnis des Screenings muss daher kritisch im Hinblick auf die klinische Symptomatik beurteilt werden und sollte in Fällen wie den unseren immer mit einem spezifischeren Verfahren, also dem LC-MS, GC-MS, HPLC in der Rechtsmedizin bestätigt werden.«
Luna pustete aus. »Puh, das klingt hochkompliziert aber einleuchtend. Kann man die Substanzen aufgrund der Symptome wenigstens einschränken?«
»Ich befürchte nein, da bei fast allen Vergiftungserscheinungen ähnliche Symptome auftreten. Wir können vorerst nur mit den gängigsten Giften, Drogen und Medikamenten beginnen und uns über das Ausschlussverfahren in der Tabelle der toxischen Gifte vorarbeiten. Leider ist mittlerweile zu viel Zeit vergangen, als dass wir an den Körpern noch verwertbare Spuren sichern könnten, falls welche vorhanden gewesen sein sollten.« Prof. Dr. Schönborn strich sich kopfschüttelnd durchs ergraute Haar. »Man hätte viel eher die Polizei einschalten und eine umfassende Autopsie anordnen sollen. Aber nein, stattdessen wird herumgedruckst und notfalls ein Verbrechen unter den Teppich gekehrt, aus Kostengründen.« Er schwang sich aus seinem Sessel und übergoss den Teebeutel in seiner Tasse mit kochendem Wasser. »Die Dunkelziffer von unerkannten Giftverbrechen ist höher als sie beide sich vorstellen können. Möchte jemand einen Tee?« Kommissar Schröder und Luna verneinten.
»Wie schon gesagt, da heißt es nur Abwarten und Tee trinken«, setzte der Professor das Gespräch fort. »Mit Spekulationen kommen wir in diesem außergewöhnlichen Dreier-Fall nicht weiter.« Er nippte am Tee. »Hm, heiß. Aber wenigstens ist es keine Epidemie, so wie zuerst im Krankenhaus befürchtet.«
»Gibt es schon Ergebnisse im Falle unserer Toten vom Strand?«, fragte Luna abschließend und stand auf. Sie hoffte ein wenig hingegen ihres Magengefühls auf einen Unfalltod, um die Akte schnell schließen und sich auf eventuell anstehende Ermittlungen im vorangegangenen Fall konzentrieren zu können.
Der Professor räusperte sich. »Immer drängelig und drei Schritte ihrem eigenen Schatten voraus. So kenne und kannte ich Luna Maiwald schon immer.« Er wandte sich zu Kommissar Schröder. »Schon früher besaß diese Frau den Ehrgeiz einer Löwin und biss sich regelrecht fest, bis sie ihre Antworten bekam.« Dann blickte er wieder zu Luna, die seinen Worten lächelnd lauschte. »Leider kann ich auf diese Frage nicht die gewünschte Antwort liefern und muss dieses Mal um noch etwas Geduld bitten.« Kommissar Schröder schmunzelte verlegen. Ihm schien es unangenehm zu sein, mit der Vergangenheit seiner Vorgesetzten konfrontiert zu werden.
»Also schön«, sagte Luna und klopfte ihrem Kollegen freundschaftlich auf die Schulter. »Dann werden wir uns wohl noch ein wenig in Geduld üben müssen, nicht wahr, Schröder?«
Kommissar Schröder pflichtete seiner Chefin bei. »Ja, das müssen wir wohl. Auf Wiedersehen, Herr Professor, wir wollen Sie nicht länger von der Arbeit abhalten.«
Mittwoch
Randgebiet Putbus, Haus Luna Maiwald,
29. März, 07:00 Uhr
Als Luna die Küche betrat, hob Fred seinen Blick, lächelte sie an, um kurz darauf wieder mit seinem Gesicht hinter der Tageszeitung zu verschwinden. »Morgen, Schatz«, stammelte er fast beiläufig.
»Ich habe von der Toten in der Zeitung gelesen«, begann Marcia, während sie genüsslich in ihre Kornschnitte biss, die sie mit veganer Pastete bestrichen hatte. »Schon komisch, findest du nicht auch?«
Luna, die sich einen Kaffee eingoss, wandte sich erstaunt um. »Was soll daran komisch sein?«
»Na ja, ich bin kein Kriminalist, aber dass ausgerechnet diese Caroll vom Pferd gefallen sein soll wäre quasi vergleichbar mit einem Rüden, der beim Pissen umfällt und sich dabei das Genick bricht.«
Fred blickte grinsend über den Zeitungsrand. »Ein interessanter Vergleich.«
»Danke, Dad.«
Luna griff ihren Kaffeepott und ließ sich auf einen Stuhl nieder. »Was starrt ihr beide mich so an? Ich werde mich zum Fall nicht äußern.«
»Fein, wie du meinst«, erwiderte Marcia. »Die Sache stinkt dennoch zum Himmel, ob du es nun hören willst oder nicht. Aber hey, ich bin ja nur eine nichtwissende Gymnasiastin, die lediglich die Schülerzeitung leitet.«
»Und die ihre Nase in Angelegenheiten steckt, die sie nichts angehen«, fügte Luna hinzu. »Außerdem, woher weißt du, wie die Tote hieß? Meines Wissens sind keine Informationen zur Identität der Toten an die Presse rausgegangen.« Lunas Blick huschte prüfend zu Fred. »Würdest du mir bitte mal die Zeitung reichen?«
»Nicht nötig, Mom. In der Zeitung steht der Name nicht.«
»Schön. Und woher kennst du ihn?«
»Na ja, ich habe eben meine Kontakte«, offenbarte Marcia. »Allerdings fallen die unter den journalistischen Quellenschutz und somit unter die Verschwiegenheitsklausel.«
Fred grinste. »Tja, wo sie recht hat, hat sie recht.«
Luna konnte nicht glauben, dass ausgerechnet Fred Marcia in dieser Situation beipflichtete. Sie warf ihm einen frostigen Blick zu, der ihn dazu veranlasste, erneut hinter der aufgeschlagenen Zeitung abzutauchen. Dann wandte sie ihren Blick zu Marcia, die siegessicher an ihrem Tee nippte. »Weshalb sollte sie nicht vom Pferd gestürzt sein? Reiten ist immer auch mit Risiken behaftet.«
»Du glaubst nicht ernsthaft, dass eine dreifache Weltmeisterin im Cutting einfach so vom Pferd fällt, oder?«
Luna horchte auf. »Profi-Reiterin sagst du?«
»Ja, eine verdammt Sattelfeste sogar.«
»Und woher hast du dieses Wissen?«
Marcia stöhnte auf. »Ach, Mom, Quellenschutz, schon vergessen? Außerdem gibt es auch Google, wo sich jede Menge über eure Tote herausfinden lässt. Ihr letztes gewonnenes Preisgeld betrug übrigens einhunderttausend Dollar.«
»Und das hast du übers Internet herausgefunden?«
»Ja, und einiges mehr. Wenn du willst, kann ich dir …«
»Nein, du lässt schön deine Finger davon. Die Aufklärung dieses Todesfalls obliegt nicht einer fünfzehnjährigen Nachwuchsreporterin, sondern der zuständigen Behörde.« Lunas Blick glitt zur Uhr an der Wand. »Solltest du nicht längst auf dem Weg zur Schule sein?«
»Ronny holt mich heute mit der Vespa ab.«
»Welcher Ronny?«
Marcia lachte, sprang auf und drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. »Ronny Wagner aus der Parallelklasse. Und keine Angst, er ist weder schizophren, noch hat er eine kriminelle Vergangenheit.«
Luna blickte ihrer Tochter wortlos hinterher. Sie
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Emma Bieling
Images: VitalikRadko@depositphotos.com
Cover: Coverdesign by A&K Buchcover
Editing: Sabine Kirste
Layout: Emma Bieling
Publication Date: 09-29-2020
ISBN: 978-3-7487-5902-7
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Dedication:
Meinem Fels in der Brandung. Danke, Junior!