Mara
„Nanu? Die scheint gar nicht da zu sein", sagte ich zu Leon, mit dem ich gerade an Prof. Grießhaupts Büro angekommen war.
„Bisschen Zeit hat sie ja auch noch, wir sind fast zehn Minuten zu früh dran", antwortete Leon, der sich von mir noch einmal von meinen Erinnerungen an die Diskussion über den Porno berichten ließ, den die Professorin in der Vorlesung laufen ließ, die ich bei ihr besucht hatte. Leon, der Theologe, war wie immer ein aufmerksamer Zuhörer, der Menschen in Gesprächen mit sorgfältig überlegten Zwischenfragen, sein ernsthaftes Interesse und auch ein tolles Gefühl von Wertschätzung vermitteln konnte.
„Schön, dass sie zusammen gekommen sind“, hörten wir kurz darauf die freundliche Begrüßung unserer Gastgeberin, als sie aus dem Treppenhaus in den schmalen Gang einbog, in dem sich sowohl Zimmer der Verwaltung als auch die Arbeitsräume der meisten Lehrkörper, die am Institut von Frau Prof. Dr. Grießaupt tätig waren, befanden.
„Die Freude ist ganz unsererseits, Frau Professor", sagte Leon freundlich, „besonders für Mara, die sich für diesen Termin ja mächtig ins Zeug legen musste, wie ich hörte", und schüttelte der Lehrstuhlinhaberin für Sexualwissenschaften erfreut die Hand.
„Guten Tag, Frau Doktor“, sagte ich und begrüßte sie mit einer winkenden Geste anstatt eines freundlichen Händedrucks, weil ich ein leises Papierrascheln vernommen hatte, das mich darauf schließen ließ, dass sie schon wieder beide Hände voll hatte. Leon hatte sie mit seiner förmlichen Begrüßung möglicherweise in Schwierigkeiten gebracht und sie daran gehindert, die richtigen Schlüssel von dem Schlüsselbund, den ich leise klingeln hörte, in das Schloss ihrer Bürotüre zu stecken. In der Luft lag plötzlich ein verlockender Duft von süßlicher Creme, einer Note, die mich an frisch gebackenen Biskuit erinnerte, und von in Kirschwasser eingelegtem Obst. Die Blume aus zartschmelzender Schokolade und der leicht herbe Geruch frischer Sahne, die noch hinzukamen, ließen mir schon das Wasser im Mund zusammenlaufen. „Wenn sie das für uns geholt hat, stehen wir mit unseren leeren Händen jetzt gleich richtig blöd da“, raunte ich Leon ganz spontan zu und bemerkte den Fettnapf erst, nachdem ich schon mit beiden Füßen hineingetreten war.
„Nehmen sie doch bitte hier an meinem Besprechungstisch Platz“, sagte Frau Grießhaupt und fügte mit einem deutlich hörbaren Lacher hinzu: „Natürlich ist das für uns, Frau Müller, Süßes stimuliert unsere Gehirne und schafft zudem eine entspannte Atmosphäre.“
„Danke, Frau Doktor, und entschuldigen sie bitte das mit der Torte. Aus mir platzen öfter spontane Sätze heraus, die ich dann kognitiv nicht mehr rechtzeitig einfangen kann, weil ich schon auf Sendung bin, bevor ich die Konsequenzenanalyse fertig gedacht habe. „Bisschen tollpatschig halt, aber ich arbeite dran …", entschuldigte ich mich und setzte mich auf den Stuhl, zu dessen Lehne Leon so dezent wie es seine Art war, ohne Worte meinen Handrücken gelenkt hatte.
„Milchkaffee, Cappuccino, Latte …? Was hätten sie denn gerne? Diese Jura lässt heiße Träume mit oder ohne Koffein wahr werden", entgegnete uns unsere Gastgeberin freundlich, ohne auf das, was wir gesagt hatten, näher einzugehen. Dabei klapperte in einem Schränkchen, dessen Schiebetür sie mit Schwung geöffnet hatte, und meine Entschuldigung bezüglich des Lapsus mit der Torte ließ sie ebenfalls unkommentiert im Raum stehen.
„Gerne einen schwarzen Kaffee für mich, vielleicht mit einem Schuss Milch noch, wenn sie haben, aber schwarz ist auch ok", sagte Leon.
„Einen doppelten Espresso vielleicht? … mit viel Zucker?", fragte ich vorsichtig und spürte schon das Aroma auf meiner Zunge, bevor der Duft von frisch gemahlenen Kaffeebohnen aus dem ratternden Mahlwerk der Jura genussvoll den Raum flutete.
***
„Danke für den freundlichen und so leckeren Empfang, Frau Doktor. Ihre Schwarzwälder Kirschtorte war echt voll der Hammer und auch der Espresso ist 'ne Wucht", sprudelte ich ohne Scheu erneut meinen Dank heraus und fühlte mich voll entspannt. Diese Frau hatte nicht nur das Zuhören so gut wie Leon drauf, sondern sie hatte auch eine bemerkenswerte Art zu moderieren, ohne dabei noch unausgesprochene weitergehende Gedanken zu unterbrechen.
„Gerne, Mara, es waren sechs Stücke, und wenn die Torte erstmal im Kühlschrank war, schmeckt sie nur noch halb so gut wie frisch. „Zurückhalten sollten sie sich bei mir übrigens nie, und das gilt insbesondere auch für das Aufessen der restlichen Torte sowie für die Getränke“, sagte sie und forderte mich dazu auf, mich aus der schlanken Karaffe, in der beim Einschenken im stillen Wasser Eiswürfel klirrten, zu bedienen, während sie mir einen weiteren Doppelten aus der Jura zog. Ohne dass uns das Gespräch wie ein Verhör vorkam, hatten wir damit begonnen, über unsere Gefühle zu reden, die sich aus der Affäre, in die wir zwei hineingeschlittert waren, in unseren Köpfen entwickelt hatten. Auch darüber, dass Nele sich um mein seelisches Gleichgewicht Sorgen machte, nachdem ich meiner Freundin, die hier an der Uni auch Psychologie studierte, von Leons Kompliment über meine beiden blinden Glasaugen berichtet hatte, sprachen wir. Und das alles, ohne dass die Psychologin uns unterbrochen oder irgendetwas kommentiert hatte. Leon thematisierte auch Neles Moralvorstellungen noch einmal, die ihm gegenüber dem Mann, mit dem er verheiratet war, wegen des Sexes mit mir einen Vertrauensbruch unterstellt hatte. Später warf Leon dann auch noch die Frage auf, ob Nele ihm vielleicht gerade, weil er noch in der Pubertät wegen einer Krebserkrankung seine Hoden verloren hatte, eine krankhafte sexuelle Entwicklung unterstelle. Eine, die zur Folge haben könne, dass man sich um mich sorgen müsse, weil sein Fetisch gerade bei mir, die ich aus dem gleichen Grund als Kleinkind meine beiden richtigen Augen entfernt bekommen musste, ein gefährliches Trauma auslösen könnte. Als ich dann mit Leon darüber sprach, dass der Sex, den wir zusammen hatten, mich plötzlich an der Angleichung meines Körpers an den einer Frau zweifeln ließ, wurde es schwieriger für mich. Gerade diese OP, auf die ich mich jahrelang gefreut und deshalb sehnsüchtig meine Volljährigkeit herbeigesehnt hatte, stand just in dem Moment, in dem ich alles alleine entscheiden und umsetzen konnte, plötzlich auf dem Prüfstand. Bevor ich zu sinnieren begann, fiel mir etwas auf, das ich mir nicht anmerken lassen wollte. Das Kratzen des Bleistifts, mit dem sich die Sozialwissenschaftlerin einige Notizen machte, hatte sich von einem Moment auf den anderen verändert und hörte sich plötzlich so an, als hätte sie einen Turbo gezündet. Auch Leon nahm wahr, dass ich von jetzt auf gleich keineswegs mehr entspannt unterwegs war, und grätschte, so soft er es hinbekam, in meinen Redefluss hinein, was sonst eigentlich gar nicht seiner Art entsprach.
„Ach, du hast leicht reden, Leon, aber ich weiß einfach nicht mehr, was ich machen soll. Vorne ist für mich plötzlich hinten, aus oben ist unten geworden, und das alles über Nacht", stöhnte ich verzweifelt und ließ mein Gesicht in meine Hände fallen.
„Sprachen sie gestern nicht von einem Job, den sie an unserem Institut gerne als studierende Hilfskraft hätten, Mara?", fragte die Chefin des Instituts leise in die Runde.
„… oder in der Sehwerkstatt, bei Herrn Rathling …?", antwortete ich mit einem Kloß im Hals. „Da passe ich wohl besser hin. Wie soll ich denn hier Menschen helfen, solange ich nicht mal selber weiß, wer ich bin, wohin ich will und was ich wirklich will?"
„Ich verstehe auch nicht, was du ändern müsstest, wenn für dich im Moment alles gut ist, so wie es ist“, sagte Leon und legte seine Hand auf meine.
„Für einen Job als studierende Hilfskraft an meinem Institut müssten sie sich als Studierende an unserer Fakultät immatrikulieren, Mara. So sind die Regeln. Andere Hemmnisse sehe ich im Moment keine", sagte die Professorin dazu, die mir schon gestern, ohne dass ich sie danach gefragt hatte, sagte, dass sie mir nicht als Therapeutin zur Verfügung stehen könne.
„Meinen sie, das passt für mich?“, fragte ich erstaunt.
„Das könnte ich mir gut für sie vorstellen. Sie haben eine bemerkenswerte Resilienz, Mara. Außerdem wären sie nicht die erste Blinde, die in diesem Beruf Karriere machen würde. Entscheidend ist das, was sie selbst wollen, und dann brauchen sie Fleiß und Leidenschaft für die Sache. Das ist das Wichtigste, was sie selbst als Voraussetzung für einen guten Abschluss zum Studienende einbringen müssen. Studienbegleitend und auch später geht es immer wieder darum, gute Arbeitgeber zu finden, die erkennen, was sie in der Lage sind zu leisten", bemerkte die Lehrstuhlinhaberin mit leiser Stimme. „Mit der Torte helfen sie sich bitte selbst, Mara. Noch einen Espresso dazu?"
„Oh ja, und wie gern“, sagte ich und tastete mich zu der Kuchenschaufel vor, um mir danach aus der Plastikbox, die mit frischem Besteck auf dem Tisch stand, eine unbenutzte Gabel herauszufischen. Mit der konnte ich mich prima zu einem weiteren Stück vortasten, ohne die leckeren Lebensmittel mit meinen Fingern antatschen zu müssen.
„Sie, Leon, würde ich gern als Honorarkraft für ein Seminar gewinnen, das meine Vorlesung ‚Trauma contra Fetisch' praktisch begleiten könnte. Als Seelsorger wären sie dafür prädestiniert, und wer könnte das Thema besser begleiten als ein Betroffener, der sich mit seinem Leben so gut wie sie arrangiert hat? Mit Mara als studierender Hilfskraft an ihrer Seite würde das auch vom zeitlichen Aufwand für sie ganz gut darstellbar sein, und was das Arrangement für ein Leben mit Beeinträchtigung angeht, gilt für Mara das Gleiche wie für sie", eröffnete uns die Leiterin des Instituts, die sich dann auch noch ein weiteres Stück Torte nahm.
„Erst das Riesenglück gestern, mit einem eigenen Dach fürs Studieren in Berlin über dem Kopf und heute die Chance auf meinen Traumjob an der Uni …", begann ich, brach dann aber abrupt meinen Satz ab und tat so, als müsste ich mich voll darauf konzentrieren, den Happen auf meiner Kuchengabel in meinen Mund zu bugsieren.
„Vielleicht sollten wir doch mal nach einer Therapeutin schauen, die dich im Hinblick auf deine Geschlechtsidentität etwas unterstützen kann“, sagte Leon, während ich genüsslich kaute und dabei angestrengt nachdachte.
„Eine frühe psychologische Begleitung ist immer besser, als ein Problem bis zu einer Therapie zu züchten“, bemerkte Frau Grießhaupt und verstummte dann wieder, um sich auch weiter mit ihrer Torte zu befassen, bevor sie danach wieder zu dem Bleistift griff, der so grässlich über das Papier kratzte.
„Ist das nicht dasselbe?“, fragte ich neugierig mit vollem Mund in Richtung der Expertin.
„Nein, Mara, ganz und gar nicht. Ängste gehören zum Leben genauso dazu wie die Entscheidungen, die zu treffen oft auch nicht einfach ist. Eine Therapie ist nur dann notwendig, wenn die Angst lähmend wird und zuerst die Lebensfreude und in schlimmeren Fällen danach auch noch der Lebensmut von ihr erstickt wird. Mir scheint, dass dich die Libido mit Leon etwas verwirrt, aber ich schätze es so ein, dass keiner von euch beiden im Moment ein Therapiefall ist. Bei dir, Mara, stehen, ungeachtet dessen, dass du dich in deinem tiefsten Inneren immer als Frau gefühlt hast, andere Dinge im Raum, aber darüber sollten dich die Mediziner, die dir seit vier Jahren das Histrelin verschreiben, von dem du mir gestern erzählt hast, hinreichend aufgeklärt haben."
„Das besorge ich mir seit vier Jahren unter der Hand, weil meine Mutter ihren Jungen, den sie nie hatte, nicht loslassen wollte“, erklärte ich völlig trocken, nachdem ich mich wieder eingekriegt hatte.
„Prima, der Kuchen ist aufgegessen und ihren Bewerbungen sehe ich erwartungsvoll entgegen“, sagte die Chefin und setzte das Geschirr in eine Plastikbox, die sie polternd aus dem Schränkchen mit der Schiebetüre herausgezogen hatte. Bei der Verabschiedung gab sie mir noch einen Zettel in die Hand, auf den sie mir den Namen einer Psychologin, die auch Ärztin, also eigentlich eine Psychiaterin war, notiert hatte. Sie sei ihr als Expertin für Menschen mit transsexuellen Anlagen so gut bekannt, dass sie mir diese Frau persönlich empfehlen wolle. Alles Gute Mara und auch für sie Leon, bis bald vielleicht. Es hat mich gefreut, dass sie meiner Einladung zu unserem heutigen Gespräch gemeinsam gefolgt sind. Ach Mara …, bestellen sie der Kollegin gerne einen Gruß von mir. Vielleicht wollen sie mit ihr auch einmal über Triptorelin anstatt ihres Histrelinimplantats reden. Das stellt einen ähnlichen Hormonspiegel wie bei Leon bei ihnen ein, ist aber genauso reversibel wie das Histrelin. Es funktioniert über Depotspritzen und auf Rezept. Nur so können sie auch sicher sein, dass das Richtige drin ist, in dem Medikament", sagte sie zu einem letzten herzlichen Händedruck, bevor sie die Tür hinter uns schloss und ich mich an Leons Arm zum La Martina führen ließ.
***
„So Frau Müller, das hätten wir dann schon mal, nur noch hier auf dem Display die Unterschriften und dann bekommen sie die Unterlagen für das Homebanking ihres neuen Girokontos sowie die PIN in den nächsten Tagen mit getrennter Post zu sich nach Hause geschickt“, sagte der Angestellte der Berliner Volksbank und schob mir das Gerät zum digitalen Unterschreiben entgegen. Das Ding war dummerweise nicht barrierefrei, weshalb ich Hilfe brauchte, um den digitalen Stift auf dem Plastik an der richtigen Stelle anzusetzen, und wo die grüne Fläche mit dem Häkchen war, konnte ich auch nicht ohne Assistenz feststellen.
„Die hätten ja wenigstens außen irgendwo Markierungspunkte anbringen können“, mümmelte ich vor mich hin, während ich mich bei dem Angestellten bedankte, der mir nach jeder weiteren Unterschrift wieder mit diesem blöden Häkchen helfen musste. Dass ich es nicht alleine treffen konnte, wurmte mich, aber wenigstens mit dem Fenster für die Unterschriften klappte es nach dem ersten Mal ohne fremde Hilfe.
„Ab wann kann ich denn über die vierhunderttausend aus der Baufinanzierung verfügen?“, fragte ich etwas geistesabwesend, weil ich gerade im Kopf überschlug, dass ich mit ein paar Sondertilgungen und mit etwas Glück in etwa zehn Jahren alles abgestottert haben könnte.
„Das Geld dürfte in etwa drei bis vier Wochen verfügbar sein und wird dann auf ihrem Tagesgeldkonto gutgeschrieben. Aber das sehen sie ja dann …, sorry, ich meine natürlich, dass sie das dann über ihren Onlinezugang von Zuhause aus am PC feststellen können", sagte der freundliche ältere Herr und ich schenkte ihm, ohne blöd zu werden, ein freundliches Lächeln. Das fiel mir bei dem Berater meiner Berliner Bank, der bei unserem ersten Termin hier mehr Probleme mit meinem Namen Marvin als mit meiner Blindheit hatte, auch nicht schwer. Seine steife, korrekte Art passte zu ihm und ich mochte ihn. Er war ganz anders als der schleimige Braunstein, der meine Mutter und mich bei unserer Sparkasse zu Hause immer so machohaft und nur auf den Vorteil seines Geldinstituts bedacht beraten hatte.
„Wenn sie keine weiteren Fragen mehr haben, bleibt mir heute nur noch, ihnen viel Erfolg für ihr Vorhaben zu wünschen, und ansonsten wissen sie ja, wo sie uns finden.“
„Ja, klar, und vielen Dank für ihre freundliche Beratung und ihre geduldige Unterstützung, Herr Kämmerer“, sagte ich und fand dann auch die Hand recht zügig, die er mir so statisch wie eine Wachsfigur geduldig entgegengestreckt hatte.
***
„Hi Lissi, darf ich reinkommen?“, fragte ich durch den kleinen Spalt der angelehnten Abschlusstür, die Luises Wohnung von dem Treppenhaus trennte, in dem die Treppe aus dem Obergeschoss nach einem Linksbogen endete.
„Natürlich, Mara, du weißt ja, wie froh ich darüber bin, dass ich nicht mehr alleine in diesem großen Haus wohnen muss und wie sehr ich mich immer über jeden deiner Besuche freue. Oh, wer ist denn das, den du hier mitgebracht hast?", fragte sie, nachdem sie gesehen hatte, dass noch ein Handwerker in meiner Begleitung ihre Küche betrat, die zwar sauber, aber schon ziemlich abgewohnt war.
Das ist der Mann vom Küchenstudio, von dem ich dir erzählt habe. Er möchte hier ein bisschen was ausmessen, bevor wir nächste Woche den Beratungstermin zusammen wahrnehmen wollen, den wir beide am vergangenen Freitag telefonisch im Ausstellungsraum des Möbelhauses ausgemacht haben", antwortete ich ihr gut gelaunt.
„Das trifft sich gut, denn ich habe frischen Tee gekocht und wollte gerade raus auf die Terrasse. In der Wohnung rauche ich ja nicht mal im tiefsten Winter. Nimmst du die Tassen für uns mit und den Zucker für dich?", fragte sie mich und trottete mit der Kanne und den Gauloises, die sie immer rauchte, voraus in die Kälte. Schon seit Wochen kochten wir oft zusammen und ich kannte mich in ihrer Küche so gut aus, dass wir uns dabei ohne Unterbrechung mega gut unterhalten konnten, weil ich genau wusste, was hier wo zu finden ist.
„Kindchen, mir ist das richtig peinlich, wie viel Geld du hier ausgibst und dann auch noch für meine Wohnung, die mir so wie sie ist noch lange gut genug gewesen wäre“, fing sie nach dem ersten Zug mit ihrer momentanen Lieblingsstory an.
„Lissi, das ist doch der Deal, den sich der liebe Dr. Pflaum für uns hat einfallen lassen. Mit dem Nießbrauch kannst du hier alt werden und brauchst nicht in ein betreutes Wohnen umzuziehen. Genau deshalb soll doch auch für dich alles moderner, komfortabler und leichter werden mit der Modernisierung. Lass das mit dem Geld einfach meine Sache sein und genieße dein Leben, dann haben wir beide das meiste davon", antwortete ich und zündete mir auch eine an.
„Morgen hab ich übrigens den Termin bei dieser Wiesenfels, die mir die Grießhaupt empfohlen hat“, sagte ich, während ich den Rauch ausstieß.
„Weißt du inzwischen, wo du hin willst, Kindchen?“, fragte Lissi mich ganz offen mit einem fürsorglich interessierten Unterton und ganz anders, als ich solche Gespräche mit meiner Mutter in Erinnerung hatte.
„Na ja, vielleicht erstmal nur die Hormone auf ein anderes Präparat umstellen …“, und nahm den nächsten Zug.
„Du wirst das schon alles gut machen …“, antwortete Lissi, drückte ihre Zigarette aus und trank einen Schluck Tee.
„Kommst du mit dem vom Küchenstudio alleine klar, Lissi? In zwei Stunden beginnt meine erste Vorlesung in Entwicklungspsychologie und ich sollte ein bisschen früher da sein, weil ich den Raum noch nicht kenne."
„Ja, Kindchen, geh nur und viel Erfolg!“, sagte sie und gab mir mit dem Arm, den sie mir kurz um meine Hüfte geschlungen hatte, einen flüchtigen Drücker.
***
„Nach der Ulla bist du dann dran, Mara“, sagte der nette medizinische Fachassistent, der sich in der Praxis von Frau Dr. Wiesenfels um die Termine, den Ablauf, die Ausfertigung von Rezepten und eigentlich um alles außer die Durchführung der Beratungsgespräche kümmerte. Kurz darauf war es dann auch schon so weit.
„Guten Tag Frau Müller“, begrüßte mich eine nüchterne Stimme sachlich, während der Nette mich so weit zu dem Besucherstuhl führte, der vor dem Schreibtisch der Ärztin stand, bis ich die Position der Sitzgelegenheit mit meinem Stock selbst erfasst hatte.
„Guten Tag, Frau Doktor“, antwortete ich genauso sachlich und kramte eine Art Arztbrief aus meinem Rucksack heraus, mit dem mich meine neue Chefin überrascht hatte. Als ich meinen ersten Arbeitstag als studierende Hilfskraft in ihrem Institut antrat, hatte sie sich während der Begrüßung in einem Nebensatz, den ich zunächst nur für eine höfliche Floskel hielt, auch kurz über mein persönliches Befinden erkundigt. Dass ich mit dem Problem, das ich mit meinem Körper hatte, noch nicht weitergekommen war, hatte sie gar nicht kommentiert. Etwas enttäuscht hatte ich ihr knapp darüber berichtet, dass ich auch bei Frau Dr. Wiesenfels auf der Warteliste gelandet war und halt noch warten musste. Zwei Tage später fand ich dann eine E-Mail von meiner Professorin mit dem Betreff „Termin“ in der Kopfzeile und mit nachfolgendem Text in meinem Postkorb:
Liebe Mara,
Deinen Termin hast du jetzt.
In der Anlage findest du eine verschlüsselte PDF-Datei.
Das Passwort dafür habe ich dir per SMS geschickt.
Du bist weder krank noch meine Patientin und von der ärztlichen Schweigepflicht, die trotzdem gilt, bin ich nicht befreit. Es ist kein klassischer Arztbrief, geht aber in diese Richtung.
Lies dir den Text in Ruhe durch und nimm ihn, nur wenn du das willst, als Ausdruck mit zu dem Termin bei meiner Kollegin, Frau Dr. Wiesenfels.
Du darfst sie gerne auch nett von mir grüßen.
Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit mit dir und mit Leon.
Freundliche Grüße
Prof. Dr. Karin Grießhaupt
Institut für Sexualwissenschaften
Institutsleitung
Fakultät für Psychologie an der freien Universität Berlin
„Das hier darf ich ihnen von meiner Chefin geben und sie auch nett von ihr grüßen“, sagte ich, während ich der Ärztin die ausgedruckten zweieinhalb Seiten über den Schreibtisch hinweg in die Richtung streckte, aus der die Begrüßung kam.
„Sind sie nur hier, um sich das Histrelinstäbchen ziehen zu lassen, um ihre Hormongaben auf eine Depotspritze mit Triptorelin umzustellen?“, fragte sie mich mit knappen Worten.
„Nicht nur. Hier habe ich auch noch die Gutachten dabei, die ich für die Geschlechtsangleichung brauche, der ich schon seit ich dreizehn Jahre alt bin, entgegenfiebere", antwortete ich und fummelte einen schmalen Ringbuchordner aus dem ledernen Beutel mit den zwei Tragriemen heraus, den ich lieber als schicke Handtaschen mochte.
„Wo ist denn ihr Problem, wenn sie, wie ich hier sehe, schon alles zusammen haben, was sie für die Umsetzung ihrer Entscheidung brauchen?“, hakte sie nach.
„Nach der Affäre, die in dem Schreiben, das ich ihnen von meiner Chefin gab, auch kurz angesprochen wird, sind mir Zweifel gekommen, ob ich die Angleichung immer noch wirklich so will?“, antwortete ich etwas niedergeschlagen. „Seit dem Sex, den ich mit Leon hatte, weiß ich überhaupt nicht mehr so richtig, was ich will und was ich nicht will.“
„Dass sie die Hormone, die ihre Pubertät aufschieben, nicht auf Dauer nehmen dürfen, wissen sie aber schon, oder? Das Triptorelin bekommen sie von mir noch längstens für weitere sechs Monate. Diese Zeit kann ihnen bei der Überleitung zu einer Vaginoplastik helfen und ist aus meiner Sicht nicht als verlängernde Zeit für eine aufgeschobene Entscheidung gedacht", führte sie in einer Art aus, die mich schockte.
„Und wenn ich einfach alles so lassen will, wie es jetzt ist?“, fragte ich mit einem bockigen Unterton.
„Dann wären sie nicht die erste und auch sicher nicht die letzte Frau, die gern glücklich in einem männlichen Körper lebt. Nur müssen sie dann die verspätet eintretende Pubertät in ihre Überlegungen mit einplanen, in der sie nach dem Wegfall der Hormongaben zeitlich verschoben einen männlichen Körper entwickeln werden. Aus rein medizinischer Sicht wäre das sogar die beste aller Alternativen, weil sie danach wieder über einen gesund ausgeglichenen Hormonspiegel verfügen würden", erklärte sie mir mein Problem mit anderen Worten so, dass ich mich in ihren Händen schon wieder etwas wohler fühlte.
„Dass ich mich in einem voll entwickelten männlichen Körper wohlfühlen würde, kann ich mir überhaupt nicht für mich vorstellen. So als Frau mit Bart und mit tiefer Stimme – igitt, das ist gar nichts für mich“, sagte ich sehr selbstbewusst.
„In Südostasien und in Südamerika gibt es schon seit langer Zeit Menschen, die dort in einem auch optisch femininen Körper leben wollen und sich aus diesem Grund häufig auch nur für eine Kastration anstatt für eine komplette Angleichung entschlossen haben. Hormongaben sind in diesen Fällen nicht mehr zwingend nötig, dennoch sind geeignete Präparate, die dann viel geringere und auch andere Hormondosierungen enthalten, zur Vorbeugung gegen Osteoporose hilfreich. Diese Hormongaben sind aber nicht mit den Wirkstoffen vergleichbar, mit denen sie ihren Körper zur Aussetzung ihrer Pubertät belastet haben", waren die mahnenden Worte, mit denen die Ärztin mir zu verstehen gab, wie hoch ich schon ohne ärztliche Begleitung gepokert hatte. So wie sie das erklärte, verstand ich langsam, dass ich mit dem Zeug, das ich die ganze Zeit illegal nahm, schon Schlimmeres als ich mir das je vorgestellt hatte angerichtet haben könnte.
„Wenn das so ist, kann ich mir auch gleich die Vagina machen lassen, die ich mir so gesehen immer noch wünsche und mit der ich mich auch viel besser identifizieren könnte als mit meinen männlichen Attributen", sagte ich spontan.
„Kann es sein, dass sie deshalb zweifeln, weil sie befürchten, danach schlechteren Sex in Kauf nehmen zu müssen?“, fragte mich die Ärztin sehr direkt.
„Ja, ich glaube, das trifft genau den Punkt, der mich im Moment so verwirrt“, gab ich ihr zur Antwort und war froh darüber, dass sie mir dabei geholfen hatte, den Grund für meine Zweifel zu konkretisieren.
„Dann rate ich ihnen jetzt zum temporären Umstieg auf das Triptorelin und schreibe ihnen eine Überweisung zu einer Chirurgin, die sie über die sexuellen Möglichkeiten und auch die Folgen nach einer möglichen Angleichung besser als ich beraten kann. Danach sehen sie das Ganze vermutlich viel klarer und können sich dann immer noch entscheiden, ob sie eine Pubertät zu einem männlichen Körper der Alternative vorziehen, einen weiblichen Körper entwickeln zu wollen.
„Hier Mara, deine Überweisung. Das Rezept für die Depotspritze, die du gerade bekommen hast, rechnen wir direkt mit deiner Krankenkasse ab“, sagte der freundliche Praxismanager zu mir. „Soll ich dir ein Taxi rufen?“
„Oh danke, nett von dir, aber das ist nicht nötig. Bisschen frische Luft tut mir jetzt bestimmt gut und mit den Öffentlichen komme ich in Berlin auch ganz gut klar", und streckte ihm meine Hand hin.
„Schönen Tag noch für dich und die nächste Spritze dann wieder in vier Wochen, falls du dann noch weitere brauchst.“
***
„Hi Leon, Mara hier. Hast du schon was zum Abendessen geplant oder sonst was vor?", fragte ich ihn ohne Umschweife, gleich nachdem er am anderen Ende der Verbindung meinen Anruf angenommen hatte.
„Eigentlich wollte ich heute ein bisschen fasten. Wolltest du mich zu etwas Kalorischem verführen?", fragte er so, dass es kein klares ‚Nein' war.
„Ich war gerade bei dem Termin bei der Wiesenfels und würde gern ein bisschen reden …", antwortete ich dem Theologen, den ich so gern mochte.
„Und wo, und wann …?", hörte ich seine Stimme sanft aus meinem Phone fragen.
„Im La Martina? … in ’ner halben Stunde vielleicht?", erwiderte ich voller Vorfreude.
„Das wird eng, lauf mir bitte nicht weg, wenn ich mich etwas verspäte", war Leons Antwort.
„Schön, dass du kommst, ich warte gern auf dich", beendete ich das Telefonat.
***
„Guten Tag, Frau Müller, sie haben Fragen zu einer möglichen Geschlechtsangleichung?“, fragte mich Frau Dr. Seelblatt, die Chirurgin.
„Ja und ob, eigentlich hätte es ja schon passiert sein sollen bei mir“, sprudelte ich los.
„Passiert sein? Das klingt ja so, als würden sie von einem Unfall oder von einer ungewollten Schwangerschaft sprechen“, antwortete mir die Ärztin und fragte mich, ob die Gutachten, die ich ihr zur Vorbereitung der heutigen Beratung bei ihr eingereicht hatte, denn noch aktuell seien.
„Ja, vom Prinzip her schon, aber ich sorge mich inzwischen, ob ich dadurch meine Libido verlieren könnte?“, antwortete ich gleich mit einer Gegenfrage, die meine Zweifel offenlegten.
„Die Libido ist eine zarte Pflanze, die im Kopf gedeihen und auch dort verkümmern kann, also eher eine Frage der Psyche. Sollten ihre Zweifel eher technischer Natur sein, kann ich ihnen dazu schon mehr sagen", war eine Antwort, die ich von einer Chirurgin gar nicht so einfühlsam erwartet hätte.
„Eher technisch, denke ich, weil ich von einer Vaginoplastik ja mehr haben will als nur die Optik. Also keine rein kosmetische Lösung, wie bei meinen Augenprothesen, sondern eine, die auch so funktioniert, dass ich danach nicht auf die Wahrnehmungen verzichten muss, die mir den Spaß beim Sex bereiten", erklärte ich ihr voller Emotion.
„Schauen sie mal, Frau Müller“, sagte die Chirurgin und schob mir ein taktiles Modell einer weiblichen Scham zwischen meine Hände, das sich nach sterilem Silikon anfühlte und völlig unbehaart war. „Aus ihrer Akte geht ja hervor, dass sie früh erblindet sind, und deshalb habe ich für diese Beratung verschiedene Modelle aus unserer Anatomie besorgt. Sie können sich alles, worüber wir reden, in aller Ruhe mit ihren Händen ansehen und mich alles fragen, was ihnen dazu einfällt“, hörte ich meine Gesprächspartnerin in aller Ruhe sagen und entspannte mich.
„Das hier ist ein Schnittmodell der männlichen Geschlechtsteile. Auf der Rückseite sollten sie auch das Innere des Skrotums sowie die Schwellkörper, die den Penis steif werden lassen, taktil wahrnehmen können. Wenn sie von hier unten hinter die Peniswurzel tasten, können sie die Prostata spüren, die dort unter der Haut von Fettgewebe umgeben ist. Von den Hoden, die hier im Skrotum hängen, kommen sie zur Samenblase und von dort weiter bis zur Eichel“, erklärte die Ärztin und half mir, mit meinen Fingerkuppen die richtigen Stellen zu ihren Erklärungen zu finden.
„Das erinnert mich an einen Biologieunterricht, den ich in der Blindenschule in Marburg ertragen musste“, rutschte mir die Erinnerung an eine schlechte Erfahrung heraus.
„Mobbing von transsexuellen Menschen ist schlimm, aber diese Diskriminierung beschränkt sich nicht auf Blindenschulen“, erwiderte die Ärztin weise.
„Wohl wahr“, kommentierte ich und fragte ganz direkt: „Wie würden sie das denn konkret bei mir machen? Also so, dass danach alles schön weiblich aussieht und auch so wie bei einer Frau, die gerne Freude am Sex genießen will, funktioniert?“
„Schauen sie mal hier“, sagte die Ärztin, griff behutsam die Finger meiner Hände, legte sie auf das Modell, das die äußeren, unteren Geschlechtsorgane einer Frau verkörperte, und lenkte mich so durch für mein Vorhaben wichtige Details der Anatomie. Danach wiederholte sie mit mir das Gleiche an dem männlichen Pendant und erklärte mir dabei, wie die Schwellkörper umgestaltet und verlegt die Funktion der Muskeln einer sich vor Lust kontrahierenden Vagina übernehmen konnten. Sie ließ mich auch ertasten, wie die Eichel an den Platz der Klitoris verlegt werden würde. Auch wie sie chirurgisch so modelliert werden konnte, dass sie sich als passendes Lustorgan einer Frau gut in das Gesamtbild eines weiblichen Geschlechtsteils einfügen könnte, durfte ich in Ruhe so lange ertasten, bis ich alles verstanden hatte. Wie ein viel dickerer Peniskopf so umgestaltet werden konnte, dass der hervorstehende Knubbel danach dem Bild einer biologischen Klitoris zum Verwechseln ähnlich sehen würde, verdeutlichte sie mir anhand einer Knetmasse, die sie für das Beratungsgespräch mit mir bereitgelegt hatte. Die Verkleinerung des sichtbaren Kügelchens könnte durch eine Art Einschnürung so vorgenommen werden, dass dabei keine Nervenenden so geschädigt werden würden, dass deshalb Orgasmusprobleme zu erwarten wären. Der größere Rest würde im Schamhügel verborgen, so über dem Eingang der Scheide unter der Schleimhaut versteckt, eingenäht werden, dass er seine Funktion beim Sex auch unsichtbar weiter erfüllen konnte. Dass die Prostata nach entsprechender Stimulation auch ohne die Keimdrüsen noch Unmengen von Sekret ausstoßen konnte, wusste ich schon aus der Erfahrung mit Leon. Dennoch ließ ich mir diesen wichtigen Aspekt von der Ärztin noch einmal interessiert im Zusammenhang mit der bei mir möglichen Operation erklären.
„Danke, das hat mir jetzt echt sehr geholfen, Frau Doktor. Nur das mit den Hormonen versteh’ ich noch nicht so richtig“, sagte ich und lenkte das Gespräch auf die Fragen, auf die ich weder in den Gesprächen mit meiner Chefin noch in jenen mit der Psychiaterin Antworten gefunden hatte, die ich verstand.
„Was wollen sie denn wissen?“, fragte die Chirurgin geduldig.
„Ihre Kollegin, die Frau Dr. Wiesenfels, hat mir wegen des Histrelins, das ich über vier Jahre als Stäbchen unter der Haut in meinem linken Oberarm implantiert hatte, irgendwie Angst gemacht. Durch die Umstellung auf die Depotspritze mit Triptorelin fühlte ich mich irgendwie in Richtung der OP gedrängt. Also in eine Richtung, die ja eigentlich gegen das Ziel der Beratungspflicht geht, die mich zwar vier Jahre lang total genervt hat, aber die ja verhindern soll, dass Betroffene irreversible Entscheidungen später bereuen", berichtete ich weiter ausholend, als ich das eigentlich vorhatte.
„Solange sie leiseste Zweifel in sich verspüren, rate ich ihnen von der OP dringend ab, und das hat überhaupt nichts mit den Hormonen zu tun, die sie im Moment brauchen, um die Zeit dafür zu gewinnen, die sie brauchen, um sich darüber klar zu werden, was sie wirklich wollen und wie sie ihr Sexleben so gestalten, dass sie damit glücklich leben können“, sagte Frau Dr. Seelblatt zuerst. „Zu dem Histrelin und dem Triptorelin gibt es nicht viel zu erklären, weil sich diese beiden Medikamente in ihrer Wirkung kaum unterscheiden. Sie schieben beide die Pubertät auf, und genau das ist das Problem, das meine Kolleginnen ihnen zu erklären versucht haben. Vielleicht versuchen wir es mal mit einem Vergleich. Einem Mädchen, das mit vierzehn Jahren darunter leidet, im Körper eines Jungen leben zu müssen, die Keimdrüsen zu entfernen, ist genauso schlecht wie die Pubertät einer achtzehnjährigen Frau bis weit in das Erwachsenenalter hinein mehr als nötig aufzuschieben. Sowohl das Histrelin als auch das Triptorelin sind beides Medikamente, die den Eintritt der Pubertät verhindern, und sie haben die Nebenwirkung, dass ihr Körper, abgsehen von dem beschränkten Wachstums zusätzlichen Brustfetts, so wie der eines Kindes bleibt und die Entwicklung der Geschlechtsattribute quasi eingefroren worden ist. Der wesentlichste Unterschied ist nur, dass das Histrelin sich als Stäbchen für eine unkomplizierte Langzeittherapie bei jüngeren Jugendlichen eignet und das Triptorelin bei PatientInnen ihres Alters besser für das Ausschleichen geeignet ist, weil dann einfach die Gabe weiterer Depotspritzen nicht mehr erfolgt.“
„Dann verstehe ich das jetzt so, dass ich mich, wenn ich mir sicher bin, dass ich nie in einem männlichen Körper leben will, noch vor der Absetzung des Triptorelin wenigstens so wie Leon kastrieren lassen sollte?“, fasste ich das Gehörte mit eigenen Worten im Ergebnis zusammen.
„Das könnte ein sinnvoller Schritt sein, weil die Orchiektomie so durchgeführt werden kann, dass die ganze Haut und auch das vollständige Gewebe, das für eine auch später noch mögliche Vaginoplastik gebraucht wird, durchaus erhalten werden können“, sagte die Ärztin, die mir alles so erklärt hatte, dass ich es gut verstanden hatte. „Denken sie über das alles in Ruhe nach, und wenn sie noch weitere Fragen haben, dürfen sie auch gerne zu einem weiteren Beratungsgespräch wiederkommen, bevor sie sich für die Operation entscheiden, die für sie die richtige ist, oder sie die Gedanken an eine der möglichen OPs ganz verworfen haben, nachdem sie sich die Folgen in Ruhe durchdacht haben.“
***
Treffpunkt: Sushido Teltower Damm 26, Notare Pflaum & Blitzer
„Hi, Lissi! Magst du Sushi? Greif zu …", begrüßte Mara ihre neue ungleiche Freundin und bedeutete ihr mit einer einladenden Handbewegung, sich ihr gegenüber an den Tisch zu setzen. Auf dem Tisch stand eine Platte, die mit einer Menge bunt dekorierter Reisstückchen belegt war, von denen jedes der kleinen Kunstwerke schöner als das andere aussah.
„Essen kann ich vor lauter Angst und Lampenfieber jetzt wirklich nichts. Sorry, Mara“, sagte Lissi und setzte sich, ohne ihren Mantel auszuziehen.
„Kein Problem, dann lassen wir uns das einfach alles einpacken und essen es nach dem Notartermin in Ruhe zusammen bei dir zu Hause“, antwortete Mara, die sich in den zurückliegenden Wochen nicht nur als Organisationstalent gewaltig ins Zeug gelegt hatte.
„Die Kanzlei des Notars, also von unserem Dr. Pflaum, ist fast genau gegenüber, und wenn wir etwas früher da sind, kann das nicht schaden. Komm häng dich einfach bei mir ein, den Weg dorthin kenne ich schon so gut wie meine Westentasche“, sagte Mara, und der Körperkontakt wärmte der alten Dame voller Zuversicht ihr Herz, während Mara sie am Arm hatte, um mit ihr, ihren Stock voraus, sicher die Straße zu überqueren.
„Guten Tag Frau Schulte, nett sie kennenzulernen“, begrüßte Dr. Pflaum die verschüchtert wirkende ältere Frau sehr herzlich und ergriff danach zur Begrüßung auch Maras Hand, die er ebenfalls herzlich drückte. „Alle überpünktlich, sogar Herr Mayer ist auch schon da, also können wir gleich zur Tat schreiten.“
„Prima, Herr Pflaum, und vielen Dank für die gute Vorbereitung und für ihre hervorragende Beratung“, sagte ich und schnappte mir seinen Ellenbogen so selbstverständlich, wie ich das bei Nele tat und wie bei anderen Leuten, denen ich gerne vertraute.
„Da schau her, wie ein Engelchen, das kein Wässerchen trüben wolle, schaut sie aus, die reizbare Frau Müller, wenn sie betuchte ältere Damen wie ein treusorgendes Enkelkind begleiten darf“, stänkerte der Mayer in seiner schleimigen Art los, als er mich erblickte. Mit einer schnellen Kopfbewegung warf ich mir meine schulterlangen Strähnen so in den Nacken, dass sie sich sanft über all die feinen Härchen legten, die sich mir dort vor Ekel über diesen Typen sträubten. Weil ich den aalglatten Großkotz keines Blickes würdigen wollte, konzentrierte ich mich auf die Stelle über Dr. Pflaums Mund, an der ich seine Stirn vermutete, und drückte Lissi dazu aufmunternd ihre Hand.
„Das sollte sie nicht bewegen, Herr Mayer. Die beiden Damen legen vor der heute anstehenden Protokollierung Wert darauf, dass ich sie noch vorher darüber belehre, dass alle dafür anfallenden Kosten zu den Kaufnebenkosten gehören, deren Übernahme sie vertraglich zugesagt haben“, eröffnete der Notar sachlich.
„Kaufnebenkosten im Budget einer Courtage? Niemals …!", brauste Mayer auf.
„Nein, in der Courtage nicht, die hat Frau Müller ihnen, wie mir berichtet wurde, bezahlt, ohne Ihre Leistungen in Anspruch genommen zu haben. Es geht um Ihr Leistungsversprechen, das sie gegenüber der hier anwesenden Frau Schulte schriftlich erklärt haben. Da ihre Kundinnen um Diskretion gebeten haben, muss ich sie nun dazu auffordern, sich zu verabschieden.“
Text: ©Lisa Mondschein
Images: ©pixabay
Cover: ©Fizzy Lemon
Publication Date: 06-23-2025
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Für alle, die Courage zur Selbsthilfe für andere und für sich selbst entwickeln wollen.