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Vorwort

Während Russen, von als Helden gefeierten Cyborgs träumen sollen, wurde im Oktober 2023 der erste ukrainische Playboy seit Kriegsbegin herausgebracht. Iryna Bilotserkovets zeigt den Feinden ihrer Gesellschaft, dass Selbstwertgefühl, Lebensfreude und Sexappeal nicht zerbomb bar sind.

 

Mein Beitrag zum 66. Kurzgeschichtenwettbewerb mit dem Thema "Herbst" in der Gruppe: Gemeinsam, gehört zur Reihe der Kurzgeschichten mit dem Namen "Schattenglut" und kann als eigenständige Kurzgeschichte unabhängig von anderen Büchern der Reihe gelesen werden.

 

Klappentext:

Die blinde Protagonistin Mara schnuppert in Begleitung von Marcs Schwester, Nele, am Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität-Berlin zum ersten Mal in eine Sehwerkstatt hinein. Dort gibt es einen Braille-Drucker und Mara kann sich damit ein Vorlesungsverzeichnis ausdrucken, das sie ohne fremde Hilfe und auch ohne die technische Unterstützung von ortsfesten Gerätschaften gut und einfach überall studieren kann. Darin stößt sie auf das Angebot einer Professorin, die an der psychologischen Fakultät, eine Vorlesung mit einem außergewöhnlichen Titel anbietet. Diese verspricht Antworten auf Fragen, die Mara nach ihrer kurzen Romanze mit Leon beschäftigen, die in der Kurzgeschichte "Nebelfreunde" als Vorgeschichte nachgelesen werden kann.

Vertrauen

„Kaum zu glauben, dass auf einen so sonnigen Nachmittag, der fast wie ein verspäteter Sommertag wirkte, eine so nasskalte Herbstnacht folgen kann“, sagte Nele kühl. Sie stand fröstelnd neben mir auf dem kleinen Balkon des Berliner Studentenwohnheims, in dem ich heute bei ihr übernachten wollte und bibberte so sehr unter ihrem wollenen Poncho, dass ich sie dann doch noch spontan in den Arm nahm. Früher nahm ich Nele gern und unvoreingenommen in den Arm. Unzählige Male zuvor freute ich mich darauf, ihr nahe zu sein, diese Nähe zu spüren und zu genießen, aber der heutige Tag, oder viel mehr der heutige Abend hatte völlig unerwartet einen Keil zwischen uns getrieben.

„Ja, das war ein komischer Tag, erst Sonne im Herzen und dann ein Temperatursturz, der es in sich hatte“, sinnierte ich halblaut vor mich hin und wartete auf Neles Reaktion. Die trostlos beißende Kälte dieser besonderen Nacht passte zu der kriselnden Stimmung, die zwischen Nele und mir aufgekommen war. Nur die vielfältigen Klänge der in meinen Ohren auch in der Nacht bunt, strahlend und prickelnd klingenden Großstadtgeräusche hellten mein Gemüt noch etwas auf.

„Ausgerechnet Leon", sagte Nele und sprach gleich mit kraftloser Stimme weiter. „Eigentlich hätte ich gerade bei dir, Mara, meinen Hut dafür verwettet, dass du nicht an deinem ersten Tag in Berlin wie eine Fünfzehnjährige im Schullandheim mit Männergeschichten anfängst", schloss sie frostig und ließ unverhohlen durchblicken, dass ihr das, was sich heute in ihrer Clique zwischen mir und Leon abgespielt hatte, schwer missfiel.

„Höre ich da Eifersucht oder Neid heraus und meinst du echt, dass eine blinde Siebzehnjährige, wie ich, in Berlin eine, wie dich, als Aufpasserin braucht“, entgegnete ich Marcs Schwester. Meine Stimme klang zwar mehr nach Frust, als nach Zorn, aber trotzdem nicht gut. Marc, der bei einem Auslandseinsatz als Bundeswehrsoldat so blind wie ich wurde, ist in unserem Sportverein zu Hause nicht nur als Trainer unserer Inklusionssportgruppe tätig. Darüber hinaus ist er auch, obwohl er älter ist, einer meiner besten Freunde aus unserer Clique geworden und er ist auch derjenige, der mir unzählige Tricks und Kniffe beigebracht hat, die mir inzwischen ein autarkes und selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Dass ausgerechnet Nele plötzlich den Anschein erweckte, mir Vorschriften machen zu wollen, stieß mir mega sauer auf. Leider war es offensichtlich so, dass sowohl Nele als auch ich uns meinen ersten Besuch, hier bei ihr in Berlin, ganz anders vorgestellt hatten. Deshalb hatte ich mir inzwischen auch längst vorgenommen, mich am nächsten Tag mit der Suche nach einer eigenen Bleibe auf den Weg in die Stadt zu machen. Das wollte ich Nele heute Abend aber lieber noch nicht verraten.

Erst macht sie voll auf Tratschtante und plappert Dinge über andere wie Leon und mich aus und dann setzt sie noch die Rollen der Moralapostel und die der Aufpasser obendrauf – geht’s noch, dachte ich und spürte Zorn in mir aufwallen.

Dabei hatte ich mich so sehr auf den Besuch bei Nele gefreut und war heilfroh, dass ich meine überfürsorgliche Mutter nicht mehr an der Backe hatte. Aber so wie es schien, war das Vertrauen, auf das ich bei Nele gebaut hatte, schwer gebröckelt und Unterstützung für wichtige Angelegenheiten wollte ich unter diesen Bedingungen eher keine mehr von ihr annehmen. Auf der anderen Seite hatte ich schon früh gelernt, dass mir mein Trotz bisher nur begrenzt dabei half, sicher und verlässlich dort anzukommen, wo ich hin wollte. In einer fremden Umgebung half mir mein Trotz bisher eigentlich noch nie weiter, aber Kooperationen schon. Mein Problem dabei ist immer die Kunst, die solche Kooperationen als Kompromisse begleiten müssen, die darin besteht, Hilfe, wenn überhaupt nötig, nur so anzunehmen, dass daraus keine Abhängigkeiten entstehen konnten. Aus bereits gemachten Erfahrungen hatte ich gelernt, dass es für mich immer am einfachsten funktionierte, wenn ich mich bei den wichtigen Sachen, die ich machen wollte, alleine durchgebissen hatte. Mein eigentliches Problem, das erahnte ich schon, war wohl, dass mich all das, das ich mithilfe von anderen machen musste, immer so ankotzte, dass ich dann unkontrolliert pampig wurde. Mich nervte daran total, dass ich in meinem tiefsten Inneren felsenfest davon überzeugt war, immer wenn ich Hilfe in Anspruch nahm, besonders sorgfältig darauf aufzupassen zu müssen, dass meine autarke Eigenständigkeit gerade dann auch gut abgesichert blieb. Die Gefahr, mich von anderen abhängig werden zu lassen, schwebte wie das Schwert des Damokles stets über mir und führte oft dazu, dass ich Leute, die mir ungefragt helfen wollten, oft mehr als nötig blöd dastehen ließ. Ich war mir dessen zwar bewusst, aber wenn es wieder so weit war, konnte ich meist nicht anders als wieder schnippisch blöd zu werden und mehr als nötig auszuteilen.

„Steht dein Angebot mit unserem gemeinsamen Tag morgen an der Uni noch?“, fragte ich in die dunkle Kälte des in der Großstadt trotz später Stunde zwar fernen, aber quicklebendigen Nachtlebens, dessen Geräusche mich richtig anfixten.

„Glaubst du echt, ich würde dich wegen der dummen Sache mit Leon jetzt hängenlassen, Mara?“, hörte ich Nele sagen und spürte den Nebel ihres Atems. Ein Nebel, der sich in der Stimmung, in der ich war, ein bisschen so, wie an einem schwülwarmen Tag herabfallendes Herbstlaub anfühlte, das sich auf mein Gesicht legte, mir meinen Atem raubte und mich unter sich begrub.

„Weiß nicht ... Ich will eigentlich nur wissen ob du es jetzt noch willst, oder ob es für dich inzwischen mehr eine Art Verpflichtung geworden ist", sagte ich in das Gesicht, das vor mir Wärme abstrahlte.

„Klar, will ich", sagte Nele und schlang auch wieder ihre Arme um mich.

„Das mit Leon war echt komisch. Auf dem Rückweg sagte er mir, dass er meint er sei sowas wie ein Fetischist …“, brummelte ich vor mich hin und genoss es, Neles kalte Wange wieder an meinem Hals zu spüren, unter dessen Haut meine Schlagader noch hitzig pochte.

„Mara! ... Leon und ein Fetischist ... Wie kommst du denn daruf?", fragte Nele indigniert.

„Das kommt ja von ihm selbst und gar nicht von mir", entgegnete ich Nele etwas nachdenklich.

„Ach nee? Hat er gesagt wie er darauf gekommen ist, dass er plötzlich einen Fetisch haben will? Aus meiner Sicht, passt das kein bisschen in sein Profil", sagte Nele, die als angehende Psychologin sicher besser als ich wusste wovon sie gerade sprach.

„Ja hat er, aber bevor ich dir das sagen will, würde ich gern von dir, Nele, wissen, ob du auch einen Fetisch hast. Musst aber auch nichts sagen, wenn dir meine Frage zu indiskret ist ..."

„Oh Gott, Mara, ... Du stellst Fragen ...", sagte Nele und schlang ihre Arme noch fester um mich und ich fragte mich, ob sie mir Halt geben wollte, oder ob sie selbst mehr Halt suchte.

„Ja, Fragen die mich echt aufwühlen seit heute", fügte ich ganz ehrlich hinzu.

„Hm. einen richtigen Fetisch hab ich nicht, bei mir sind das eher Neigungen und Sachen die ich eben voll gern hab und andere halt nicht so", sagte Nele nachdenklich und ich spürte, dass sie bereit war mir weiter zuzuhören.

„Hast du auch mal mit ihm ...", fragte ich neugierig weiter und war gespannt darauf wie Nele jetzt reagieren würde.

„Nein. Hast du? ... so richtig meine ich?", kam prompt ihre Antwort, aber ohne jegliche Aggresion in Neles Stimme.

„Ja, hab ich, das erste Mal mit einem Mann und es war richtig schön. So richtig natürlich nicht ganz, weil …, also meinetwegen, es lag keinesfalls an ihm, wenn du das damit gemeint hast", sagte ich nachdenklich.

„Und was war das mit dem Fetisch? Oder möchtest du es lieber für dich behalten, Mara? ", hakte Nele, ohne mich  zu drängen, vorsichtig nach.

„Leon sprach für mich in mehrerlei Hinsicht in Rätseln, die mich mehr beschäftigen, als sie mich verletzt haben könnten. Da war ein Satz, der mir immer wieder durch den Kopf geht, Nele. Dieser eine Satz hat für mich die Frage aufgeworfen, ob es bei blinden Menschen, wie mir, überhaupt so etwas wie einen Fetisch geben kann?", antwortete ich ihr in der Hoffnung, dass sie kapierte, dass ich Leon deshalb nicht  böse, sondern eher dankbar für seine Offenheit bezüglich dieses Themas war.

„Leon spricht selten in Rätseln. Diese Seite von ihm kenne ich nicht. Wie kamt ihr denn darauf?", fragte mich Nele mit einer Stimme, die in sich selbst ruhte.

„Klartext war’s schon, aber für mich halt trotzdem ein Rätsel, als er mir sein Faible für mich so locker beschrieb und seine Haltung selbst als Fetisch Outing beschrieb", antwortete ich und setzte mich auf Neles Bettkante.

„Verstehe ich das richtig, dass es ihn anturnt, dass du blind bist? … und das hat er dir einfach so vor den Latz geknallt?", zischte Nele plötzlich alles andere als entspannt.

„Nein, nicht vor den Latz geknallt. Er hat sich in meiner Wahrnehmung damit auch gar nicht wirklich geoutet. Ich hatte eher den Eindruck, dass es eine Art Kompliment sein sollte und er sich bei dem Versuch mir seine Gefühle zu offenbaren, mehr als aus meiner Sicht nötig, selbst im Weg stand. Aus seiner Sicht gesehen hörte sich das für mich so an, dass ich mit meinen beiden Glasaugen für seinen Geschmack einfach nur total sexy für ihn gucke", erklärte ich Nele und bemühte mich darum, dass Leon in unserem Gespräch nicht schlechter weggkam, als er es verdient hatte.

„Das hier hat eine ganz andere Dimension, als ich das vorhin vermutet habe und ich könnte mir inzwischen dafür in meinen eigenen Hintern beißen, dass ich den Braten nicht früher gerochen habe. Ich hoffe, dass ich das wiedergutmachen kann und, dass du nicht nachtragend geworden bist, hoffe ich noch mehr", hörte ich Nele jetzt richtig besorgt sagen.

„Ist richtig ungemütlich geworden, hier draußen in der Herbstkälte, was?“, bemerkte ich vorsichtig und versuchte Nele etwas von ihren Grübeleien, die ich deutlich spürte, abzulenken.

„Ja, komm, wir gehen wieder rein“, sagte Nele und schlüpfte vor mir durch die Tür zurück in ihr Zimmer.

„Willst du auch einen Vodka? Diese Geschichte haut mich jetzt echt um", sagte Nele, die sich schon an einem Schrank zu schaffen machte und dann hörte ich das Klirren kleiner Gläser und ein leises gurgelndes Glucksen.

Frühstück

„Hi Mara, gut geschlafen?", hörte ich, gleich nachdem ich den Speisesaal betreten hatte, Sophies Stimme total nett in meine Richtung fragen und dazu auch gleich das Rücken eines Stuhls aus der gleichen Richtung.

„Ja, danke wie ein Stein. Kein Wunder nach den Vodkas, die sich Nele und ich gestern noch ohne euch reingeschüttet hatten, bevor wir dann auch endlich in die Kiste gingen", sagte ich und schlug einen Haken in Richtung Buffet.

„Hey, lass nur ..., Espresso mit viel Zucker, oder?", sagte Sophie, die mich schnell eingeholt hatte und kurz darauf viel zu dicht neben mir stand. Um nicht gleich pampig zu werden weil sie mir ungebeten auf die Pelle gerückt war atmete ich ganz langsam mit geschürzten Lippen aus.

„Nee, danke, Sophie, heute ziehe ich mir lieber einen Cappuccino. Das bekomme ich selbst gerade noch alleine hin, aber trotzdem danke für deine Mühe", wies ich sie vorsichtig zurück und orientierte mich weiter am Buffet. Dessen Aufstellung hatte ich mir schon, als alle noch schliefen, in Ruhe zur Vorbereitung angesehen. Zu etwas früherer Stunde war ich heute, während Nele unter der Dusche stand, schon einmal alleine kurz in den noch leeren Speisesaal gehuscht, um mich in Ruhe und ungestört mit allem was es hier im Raum gab etwas genauer vertraut zu machen. Die Knöpfe des Kaffeevollautomaten hatte ich mir schon am Vortag eingeprägt. Käse und Wurst standen unter getrennten Glasglocken bereit und die Butterstückchen waren einzeln verpackt. Irgendwie schien mir hier alles schon fast zu perfekt für welche wie mich zu sein. Es freute mich ungemein, dass ich mich am ganzen Angebot ohne fremde Hilfe unbeschwert austoben konnte, ohne dabei in Gefahr zu geraten, versehentlich irgendetwas Unverpacktes anzutatschen, das andere danach auch noch mit Appetit essen wollten.

„Nele und ich gehen heute zuerst zur Uni, sagte ich nachdem ich vier Minuten später, ein Tablett auf meiner Linken balancierend und mit meinem Stock in meiner Rechten wie von Geisterhand gelenkt auf Anhieb meinen Platz am Tisch gefunden hatte. Auf dem Tablett stand eine große Tasse mit meinem Cappuchino und daneben befand sich auf einem Teller, ein knuspriges Brötchen mit Käse und Schinken. Weil ich ohne fremde Hilfe und ohne Malleur den Tisch der Clique erreicht hatte und das anerkennende Erstaunen in der Luft knistern hören konnte, war ich richtig gut drauf. Die Orientierung über die Stimmen, die ich inzwischen ja schon recht gut von allen in Neles Clique kannte, hatte locker gereicht um sicher an dem freien Stuhl angekommen, auf dem ich gestern schon den ganzen Vormittag mit meinen neuen Freunden verbracht hatte.

„Guten Morgen, Mara. Habt ihr für den Nachmittag auch schon etwas vor?", hörte ich Leon sagen, der offensichtlich auch wieder auf dem gleichen Platz wie am Vortag saß.

„Aber ja, nach der Uni wollen wir noch raus ins Grüne, zum Schlachtensee und vorher vielleicht noch bisschen durch das Museumsdorf Düppel schlendern. Dort könnten wir dann auch was zu futtern und nach netten Kleinigkeiten Ausschau halten. Bisschen shoppen halt. Leider ist es zum Schwimmen im See schon zu kalt, aber wenn der Bootsverleih am See noch offen hat geniesen wir die letzte Herbstsonne vielleicht dann sogar noch auf dem Wasser", antwortete ich ihm entspannt und nippte, gleich nachdem ich saß, an meiner Tasse.

Sehwerkstatt

„Du hättest mir aber schon mal vorher sagen können, dass wir in die Georgenstraße müssen“, bemerkte ich etwas angefressen. Währenddessen ging ich mit meinem Stock neben Nele her und war froh darüber, dass ich wenigstens bis zur U-Bahnstation Herrmannstraße noch alleine gehen konnte.
„Ja, hätte ich, aber vielleicht übertreibst du es ja manchmal auch ein bisschen mit deinem Selbermachkomplex, Mara? Du könntest wirklich mehr als ich Marcs Schwester sein", entgegnete mir Nele und knuffte mich flapsig in meine Rippen.
„Übertreiben? … ganz bestimmt nicht. Solange ich Berlin nicht so gut wie meine Westentasche kenne, kann ich mir da wirklich keine Kompromisse erlauben, Nele!"
„Wir können ja in der Bahn noch bisschen mit deinem Handy planen. So wie ich dich kenne, wird es sowieso wieder darauf hinauslaufen, dass ich nach dem Aussteigen hinter dir herlaufe und nicht du hinter mir“, sagte meine Begleiterin und mit diesem Vorschlag konnte ich prima leben. Die U8 Richtung Wittenau zu finden schaffte ich mit Stock und Navi auf meinem iPhone auf Anhieb, ohne dass Nele einen Piep machen durfte. Bevor wir den Alex erreichten, hatte ich auch schon die Verbindung mit dem 150er von der Osloer Straße bis zum Karower Damm in Pankow gefunden. Da war dann auch schon die Georgenstraße und von dort waren es nur noch drei Minuten zu Fuß bis zur Uni, an der dort das Institut für Rehabilitationswissenschaften untergebracht war, in dem sich die Sehwerkstatt, die wir besuchen wollten, befand.
„Endstation für mich“, brummelte ich und tastete nach Neles Ellenbogen. Im Inneren von unbekannten Gebäuden ging es ohne Assistenz so gut wie nie weiter. Die Navigationssysteme, wie sie am Markt für Blinde als Apps für iPhones zur Verfügung standen, konnten dort drinnen bis auf seltene Ausnahmen wie wenige Theater, oder einige Arenen leider nicht mehr weiterhelfen.
„Ach nee? … schon müde", zog Nele mich auf und ich drückte ihr dafür die übelste Grimasse hin, die ich drauf hatte.
„Schau mal, das wird dir gefallen, Mara“, sagte Nele grinsend und führte meine Hand zu einem taktilen Modell, auf dem alle Gänge des Gebäudes ertastbar waren und die Räume in Braille beschriftet waren.
„Wow, wie irre ist das denn!“, schrie ich leise vor Begeisterung auf und schob dann noch bisschen Kritik an Neles Adresse hinterher.
„Wenn du mir rechtzeitig gesagt hättest, wo wir hinwollen, hätte ich die Informationen zu dem coolen Ding im Internet auch ohne deine Hilfe gefunden.“
„Siehst du, wie du schon wieder übertreibst, Mara“, kicherte Nele und ich musste laut mitlachen, bevor ich mit meinem Stock entlang des Leitsystems lostrabte und ihr über die Schulter zurief, „Kannst ja mal probieren wie es so für dich läuft ohne mich, wir sehen uns dann in der Sehwerkstatt.“


***

„ … können sie lassen, mit den Dingern kann ich nichts anfangen, aber Braille ist voll ok", beendete ich meinen Satz als ich hörte, dass Nele auch angekommen war. Dem dampfenden Kaffeeduft, der sich um sie herum im Raum verbreitete, entnahm ich, dass sie noch einen Abstecher in die Cafeteria gemacht hatte.
„Das ist Herr Rathling, einer der Assistenten, der sich hier gleich Zeit für mich genommen hat“, sagte ich zu Nele und stellte sie Herrn Rathling als meine Assistentin vor.
„Wenn du dich noch bisschen hier umsch …", sagte ich noch zu Nele, bis mir der anlaufende Braille-Drucker so gründlich das Wort abschnitt, dass eine weitere Unterhaltung unmöglich war.

"krrr … rrii … iikr … grrrrrriiii … kkrrrrr …“
„So, das war’s schon, hier ist dein Vorlesungsverzeichnis, Mara. Wenn du Scanner zum Lesen von Büchern, oder Unterstützung für Bilder, Grafiken, Handschriften, Tabellen oder für Fotos auf deinem iPhone brauchst, bist du hier jederzeit gerne gesehen", sagte der Assistent zu mir und Nele wartete geduldig im Hintergrund.
„Ich habe übrigens zwei Kaffee dabei und könnte noch einen dritten holen, wenn Interesse besteht“, sagte Nele dann plötzlich und schob sich neben mich.
„Danke, danke, aber nicht für mich, wir haben hier auch eine Kaffeemaschine, eine sprechende sogar. Außerdem sind wir, also ich meine genaugenommen Mara und ich, fürs Erste jetzt auch fertig“, sagte der freundliche Mann zu Nele.
„Danke, Herr Rathling, das Angebot nehme ich gerne an und mit dem Vorlesungsverzeichnis haben sie mir ja auch schon super weiterhelfen können. Damit werde ich mich heute Nachmittag im Grünen intensiv beschäftigen und dabei die Herbstsonne genießen", sagte ich und winkte ihm während meines Aufstehens noch einmal etwas scheu nett zu, bevor ich mich mit meinem Stock wieder in Richtung Tür aufmachte.

S-Bahn

„Da bist du ja", begrüßte mich Nele, die noch schnell unsere geleerten Kaffeebecher zum Abräumband in der Cafeteria gebracht hatte und danach im Freien auf der Treppe vor dem Gebäude wieder zu mir stieß. Noch mit meinem Handy in der Hand, hatte ich mir unsere nächste Etappe schon eingeprägt.

„Ja, ich hab auch schon ne Route nach Zehlendorf gefunden. Wir müssen drei mal umsteigen, zuerst vom 154er in die S8 bis zur Schönhauser Allee. Von dort dann weiter mit der Ringbahn zum Hohenzollerndamm und zum Schluss noch mit dem 115er, aus dem wir dann in der Ludwigsfelder Straße aussteigen müssen", erklärte ich Nele voller Elan.

„Wow am zweiten Tag schon allein quer durch ganz Berlin und ich auf der ganzen Strecke nur als dein pasiver Schatten? ist das nicht bisschen viel?", entgegnete Nele und ich spürte, dass sie sich von mir etwas auf das Abstellgleis manövriert fühlte.

„Hey Freundin, der erste Tag! Den mit dem Taxi und die Kuscheltour mit Leon streichen wir lieber", da hab ich ja selbst so gut wie nichts Neues üben können", korrigierte ich sie, erwischte sie an ihrer Hand und zog sie einfach mit mir fort.

 

***

 

„Schon krass, die Öffentlichen in Berlin", sagte ich begeistert als der Bus ein paar Minuten später in Richtung Havel mit uns losbrauste.

„Ja, und nicht nur für Blinde“, antwortete Nele darauf und erzählte mir damit nichts Neues. Dass die meisten sehenden Berliner wegen der guten ÖPNV-Infrastruktur und wegen der wenigen Parkplätze auch kein Auto brauchten und hier immer mehr junge Leute nicht mal mehr einen Führerschein machten, hatte ich schon während meiner Reisevorbereitung selbst recherchiert.

„Blankenburg", krächtzte der Lautsprecher und ich sprang auf. Flugs zog ich Nele mit zur Tür, die schon, bevor unser bremsender Bus an der Haltestelle stillstand, anfing zu zischen. Den Bahnsteig der S8 fand ich prompt mit meinem Navi und welches die Treppe Richtung Grünau war, konnte ich aus dem Gemurmel der vielen Leute, die hier unterwegswaren so herausfiltern, dass ich Nele nichteinmal danach fregen musste.

„Du bist ein echtes Phämomen, Mara", sagte Nele als die S8 Fahrt aufnahm.

„Ach Quatsch, Recherchen zur Reisevorbereitung kann jeder, der Rest ist halt dann Intuition", lachte ich und kramte das Vorlesungsverzeichnis aus meinem Rucksack heraus, in dem ich während des Smalltalks mit Nele, neugierig wie ich war, etwas schmökern wollte.

„Die schönen Wiesen und Weiden entlang der Havel, hatte ich während meines ersten Sommers in Berlin noch genausowenig entdeckt, wie die coole Liegewiese im Paul-List-Park und den Bootsverleih den es dort in der Nähe gibt", sagte Nele.

„Danke Nele, schönes Kompliment. Ich freu mich immer, wenn blinde Hühner die Körner vor den ...", sagte ich und stockte.

„Was hat dir denn jetzt so plötzlich die Sprache verschlagen", fragte Nele verduzt.

„Schönhauser Allee", quäkte es aus dem Lautsprecher und mir glitten als der Zug sofort danach anfing zu bremsen im gleichen Moment in dem ich überhastet nach Neles Hand greifen wollte auch schon all die dünnen Pappblätter meines Vorlesungsverzeichnisses aus der Hand.

„Verfickte Scheiße", brüllte ich und stürzte, weil ich wegen des Bremsens mein Gleichgewicht verloren hatte, bei dem Versuch mein Zeug wieder aufzuheben auch noch zwischen die Beine von fremden Leuten, die hier auch aussteigen wollten.

 

***

 

„Oh Mara, das tut mir leid", wimmerte Nele total überfordert und ich hielt krampfhaft die Blätter fest, die mir alle möglichen Leute aufgehoben und wieder in meine Hände geschoben hatten.

„Braucht's aber gar nicht. Siehst du hier irgendwo ne Bank zum hinsetzten?", fragte ich Nele, so als ob nichts passiert wäre, raffte das Verzeichnis zusammen mit meinem inzwischen wieder zusammengeklappten Stock in meine linke Hand und griff mir Neles Ellenbogen.

„Danke, Nele, wie gut, dass auf Bahnsteigen immer wo Bänke rumstehen, wa", sagte ich grinsend und war gespannt wie mein erstes Berliner "wa" so ankam.„

„Was war denn überhaupt los?", fragte Nele noch immer völlig betröppelt.

„Warte, ich lese es dir gleich vor, wenn ich es wieder gefunden habe", antwortete ich meiner Begleiterin und suchte mit meinen Fingerkuppen erneut die Textstelle, die mich so aufgeschreckt hatte.

„Wie, das Vorlesungsverzeichnis ist so spannend, dass dir plötzlich alles um dich herum völlig egal ist?", fragte Nele mich in einem Ton der zum Ausdruck brachte, dass ich aus ihrer Sicht im Moment vielleicht etwas überdreht unterwegs sei.

„Hey bring uns einfach in die Ringbahn zum Hohenzollerndamm und lass mich einfach machen was mir wichtig ist, ok", blaffte ich Nele an und dachte wärend ich hinter ihr hertrottete angestrengt weiter nach. Lesen und geführt werden, verträgt sich genausowenig wie sehend durch die Stadt zu laufen und dabei lesen zu wollen, dachte ich und musste bei diesem Gedanken, den ich situationskomisch fand, innerlich grinsen.

 

***

 

„Ich hab die Stelle wieder gefunden", sagte ich zu Nele, kurz nachdem die Ringbahn angefahren war.

„Jetzt bin ich aber gespannt", kam von Nele wie aus der Pistole geschossen voll neugierig zurück.

„Hier gibt es eine Vorlesung mit dem Titel 'Traumata contra Fetisch', schon mal davon gehört?", fragte ich ungeduldig.

„Nee, nicht direkt. Kommt das von der Grießhaupt? ... Prof. Dr. Grießhaupt, wenn ja, solltest du wissen, dass die Frau in Fachkreisen als sehr umstritten gilt", warnte mich Nele.

„Klingt aber gar nicht langweilig. Die Vorlesung ist morgen für 13:00 h im Wolfgang Köhler Haus, in der Rudower Chaussee 18 angesetzt. Kommst du mit? Wenn nicht, probiere ich es auch gern allein", dazu feixte ich Nele über mein ganzes Gesicht ginsend an, das vor Aufregung bestimmt sogar ein bisschen gerötet ausschaute.

 

***

 

„Besser du gehst allein", sagte Nele langsam.

„Hast du keine Angst um mich?", fragte ich überrascht zurück.

 „Doch, aber nicht weil du dich verlaufen könntest, sondern wegen dem was hinter der Sache mit Leon stecken könnte", antwortete mir Nele und schlug vor bis auf Weiteres das Thema zu wechseln.

 

Feldmark

„Echt toll, hier am Havelufer“, sagte ich und atmete die frische Waldluft ein, während ich mit meinem Stock dem Wanderweg folgte, der sich entlang des Ufers durch das Mischgebiet von Wiesen, Feldern und Wäldchen schlängelte.

„Ja, sehr idyllisch und bis zu dem Bootsverleih ist es auch nicht mehr weit“, sagt Nele. Sie schien echt froh darüber gewesen zu sein, dass sich über so vieles neu Erlebtes das andere Thema mit Leon und der Vorlesung der schrägen Professorin von selbst erledigt zu haben schien. Als ich kurz darauf mit meinem Stock ein altes Tor entdeckte, das sich, nachdem ich es neugierig mit meinen Händen inspiziert hatte, schon sehr angerostet anfühlte und an dem mit Draht provisorisch ein Schild befestigt war, blieb ich stehen.

„Nele, was steht da drauf?“, fragte ich meine Freundin so sachlich und trocken wie eine fremde Assistentin.

„Hey, … war das gerade nicht bisschen zu schrullig?“, warnte mich meine innere Stimme, die offensichtlich gerade dabei war, mir gegenüber die behütende Rolle meiner Mutter zu übernehmen.

„Ich war halt abgelenkt von der Idylle der Feldmark, die mich gerade mega inspiriert“, blaffte ich zu mir selbst und erschrak, als ich mir darüber bewusst wurde, dass am helllichten Tag Selbstgespräche wie eine Irre mit mir führte.

„Renovierungsbedürftige Wohnung in ruhiger Lage zu vermieten oder zu verkaufen. Anfragen an Immobilien Mayer Zehlendorf", sagte Nele und ich hörte das Stirnrunzeln, das ihre Information begleitete, deutlich aus ihrer Stimme heraus.

„Sorry Nele, das war grad nicht so gemeint, wie sich das für dich im ersten Moment angehört haben mag, aber dieser Ort wirkt auf mich wie ein Märchenschloss und ich fühlte mich gerade bisschen wie verzaubert“, sagte ich etwas kleinlaut.

„Hm, dass du manchmal bisschen schroff bist, weiß ich ja, aber Selbstgespräche … bist du dir wirklich sicher, dass alles ok ist mit dir“, äußerte sich Nele sichtlich besorgt.

„Klar, blind und jetzt auch noch ein Fall für die Klapse, oder was?“, brach völlig unkontrolliert meine Wut auf mich selbst aus mir heraus und traf die arme Nele mit voller Wucht. Ohne einen Kommentar dazu abzugeben, setzte ich mir auf meinem iPhone einen Merker auf den aktuellen Standort und hängte den Sprachkommentar ‚Nähe Trassenstraße‘ dazu.

„Klapse wohl nicht, aber wenn du so weitermachst, darfst du dich nicht darüber wundern, wenn du hier, so wie du mit den Leuten um dich herum umgehst, keinen Fuß auf den Boden bekommst“, sagte Nele recht kühl. Danach blieb sie eine gefühlte Ewigkeit, die sich von Sekunde zu Sekunde unangenehmer für mich anfühlte, wortlos neben mir vor dem jetzt auch etwas modrig riechenden Grundstück stehen.

„Du Nele, eigentlich hätte ich jetzt viel mehr Bock auf Party, als auf Bootfahren. Und du? …", fragte ich sie dann so zuversichtlich wie ich es hinbekam, klappte meinen Stock zusammen und hakte mich bei meiner Freundin Nele einfach zwanglos unter. Etwas Besseres wollte mir nicht einfallen, um die peinliche Situation beenden, die aus Angst nicht ernst genommen oder von jemand zu abhängig zu werden, gerade selbst mit meiner selbstherrlichen Tolpatschigkeit unnötigerweise geschaffen hatte.

„Na ja, also ich find’s hier zwischen den Bäumen, oder auf den Wegen durch die Felder und die Wiesen, die trotz der aufkommenden Kälte noch so schön frisch duften, auch ganz schön“, sagte Nele.

„Ich ja auch, aber nicht heute, ok?“, fasste ich nach und ruckelte dabei aufmunternd an Neles Arm, währenddessen ich sie schon vorsichtig drehte und in Richtung Haltestelle drängte.

„Ok, dann, ich hab eine Idee. Bring uns in die Auguststraße, das ist in Berlin-Mitte, von der Oranienburger Straße noch kurz zu Fuß bis zum Rosenthaler Platz, dann sind wir da", sagte Nele und blieb nach einem aufmunternd frechen Rippenstoß bei mir, der so fest war, dass er fast schon bisschen weh tat einfach weiter neben mir stehen.

Clärchens

„Echt jetzt, das ist ein Ballhaus?", fragte ich voller Neugier und spitze meine Ohren. Trotz der herbstlichen Kälte war, als wir ankamen, sogar im Freien des gut besuchten Inpoints noch reger Betrieb.

„Ja, hier geht es, für Leute die lieber das Tanzbein oder sonstwas schwingen anstatt die Nacht im Bett zu verschlafen, seit über hundert Jahren voll ab", sagte Nele und schlug vor, dass wir uns lieber drinnen, wo es wärmer war, ein gemütliches Plätzchen suchen sollten.

„Wow, wie gut das riecht. Zum Glück ging es total schnell mit dem Essen, ich hab nämlich mächtig Hunger. Dir auch einen guten Apetit, Nele!", sagte ich und erkundete mit Messer und Gabel wo sich die riesige Portion Sauerkraut mit der herzhaft duftenden heißen Blutwurstkrone auf meinem Teller befand. Der live gespielte Swing beflügelte mich total und die Klänge aus Saxophon, Trompete und Klavier waren genau die richtige Musik um meinen ersten Tag mit Nele in Berlin richtig ausklingen zu lassen.

„Danke für die Einladung, Mara. Jetzt hab ich ein richtig schlechtes Gewissen, mich von Dir hier sogar noch zum Essen einladen zu lassen", sagte Nele und machte sich, so hungrig wie ich, über ihr veganes Schnitzel mit warmem Kartoffelgurkensalat und die Preiselbeeren auf ihrem Teller her.

„Kein Problem, lass es dir einfach schmecken und keine Sorge wegen dem Essen. Ich hab da so ne Art Stipendium bekommen", sagte ich lässig und sprach sie dann, das Thema wechselnd, nochmal auf diese Professorin, diese Frau Dr. Grießhirn, oder wie die auch sonst heißt, an.

 

 

Vorgeschichte

Nebelfreunde

Imprint

Text: ©Lisa Mondschein
Images: ©pixabay
Cover: ©Fizzy Lemon
Publication Date: 10-10-2023

All Rights Reserved

Dedication:
Für alle, die immer wieder neuen Mut brauchen um sich selbstbewusst zu behaupten

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