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Kornblume




Lisa Ausmeier



Fantasy



Prolog

 

 

Durcheinander und laut redeten die Stimmen in der Halle, von Prahlerei und vom Wein schallend. Im großen Kamin brannte das Feuer, ließ Flammen in ihrem Rücken lodern. Auch ohne diese war es schon stickig schwül.

Der Geruch von würziger Bratensoße, Kerzenwachs, schwerem Parfüm und Männerschweiß lag drückend in ihrer Kehle.

Ein unangenehmer Geruch, der ihrem aufgewühlten Geist keine Ruhe brachte.

Sie beteiligte sich nicht an den Gesprächen der Männer, die nun zum allseits beliebten Thema Jagd gewechselt waren. Sie saß einfach nur da, trug den Kopf anmutig erhoben.

Wie immer. Nur zur Zierde.

Nur zum Bett wärmen.

Bei diesem Gedanken verkrampften sich ihre Finger in dem ausladenden Stoff des Kleides. Bedacht glättete sie ihn wieder, atmete tief ein und aus und setzte sich gerader hin. Sofort pulsierte es dumpf an ihrem Gesäß und Rücken.

Eine Mahnung, dass sie nicht länger ausharren konnte.

Den Schmerz ignorierend ließ sie den Blick die Tafel entlang schweifen, sah die anderen Frauen, die zurechtgemacht neben ihren Gemahlen saßen, die glücklichen Gesichter, die den Mann an ihrer Seite mit stolzen und von Liebe erfüllten Blicken schmückten. Ob es nur Schein oder der Wahrheit entsprach, konnte sie nicht sagen, spürte bei all dem aber bittere Galle hochsteigen. Ab und an bemerkte sie die Blicke, die die anderen Frauen ihr zuwarfen: neugierig, neidisch, doch von kalter Distanz.

Ihr blondes Haar, auf dem das Diadem saß, war hochgesteckt,

verdeckte so kaum ihre spitzen Ohren. Doch auch so wussten alle

über ihre Herkunft Bescheid. Sie sollte mehr als glücklich sein,

sagten ihr die pikiert dreinschauenden Mienen, sollte dankbar sein, in dieser hohen Position zu stehen.

Wenn sie wüssten, wie es war, in ihrer Haut zu stecken…

Es war kein goldener Käfig.

Es war ihre eigene Hölle.

Während die Männer redeten, legten manche ab und an den Arm um ihre Gattin, tätschelten sie oder warfen ihr Blicke zu, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sein sollten. Schnell sah sie woanders hin. Wie gern würde auch sie davon kosten dürfen. Sie fühlte sich wie eines der Tiere, die ihr Mann reihenweise schoss, und deren Köpfe und Geweihe nun über ihnen an den Steinwänden ein trauriges, stilles Dasein fristeten.

Sie konnte den Bolzen der Armbrust schon in ihrer Brust spüren. Jederzeit könnte sie auffliegend. Und dann wäre sie tot.

Denn das war die Strafe für Hochverrat.

Eine Schweißperle rann langsam an ihrer Schläfe hinab. Der Dampf vom aufgetischten Essen auf den vergoldeten Platten, die die Bediensteten hatten zu zweit tragen müssen, stieg träge empor. Rauch und Gelächter zog bis ins Gebälk ihres Heims.

Es war schon lange nicht mehr ihr Heim. War es nie gewesen.

Unauffällig nahm sie die Servierte, tupfte damit über ihre Haut und merkte, dass ihre Hand zitterte. Eilig umschloss sie den Stoff, tastete ein weiteres Mal zu ihrem Ärmel. Das leichte Gewicht darin zwang sie zur Ruhe, während Flammen hinter ihr über den Sandstein lechzten.

Sie fasste zu ihrem Kelch und nippte an dem schweren Wein, den ihr Gemahl wie Wasser trinken konnte, und verzog kaum merklich den Mund. Trotz der engen Korsage, die ihr Rippen und Bauch bis an die Grenze verengte, versuchte sie ruhig weiter zu atmen. Ihr Mann hatte es für sie ausgesucht. So gefiel sie ihm.

In diesem Moment hörte sie seine Stimme direkt neben sich. Er hatte sie angesprochen. Oh, Götter, was hatte er gesagt?

Ihre Ohren fingen an zu glühen, als sie keine Erwiderung hatte, ihre Muskeln verspannten sich, wartend auf die Folgen ihrer Unachtsamkeit. Sein Knie berührte ihres, ehe seine Hand die ihre nahm und sie sanft, aber bestimmt zu seinem Mund führte.

Nun erlaubte sie es sich, zu ihm aufzusehen, blickte in seine blauen Augen, die sie früher einmal geliebt hatte. Er küsste ihre Fingerknöchel. So sacht.

Kurz wallte vibrierende Wärme durch ihr Blut.

Ein alter Schatten von verblassenden Erinnerungen.

,,Liebste, geht es Euch nicht gut?“ Die anderen Männer raunten teils belustigt über ihre angebliche Schüchternheit, die einer Jungfer in der Hochzeitsnacht gleichen musste, teils als Kompliment für die Avancen ihres Mannes.

Doch nur sie las die Botschaft in seinen Augen.

Sie lächelte kokett, wusste, dass es nichts als Falschheit und Hass in sich trug. Hass für den Mann, der neben ihr saß.

,,Sorgt Euch nicht, Mylord. Mir ist nur etwas warm.“ Den Göttern sei Dank, dass sie ihre Stimme unter Kontrolle hatte.

Er verzog den Mund zu einem angedeuteten Lächeln und entließ sie seiner Aufmerksamkeit. Als er ihre Hand losgelassen hatte, konnte sie verdeckt von der Tafel sich das Fett von der Haut wischen, was an Lippen und Bart geklebt hatte, und musste ihre ganze Beherrschung aufbringen, das Gesicht nicht angeekelt zu verziehen. Wie sehr sie diesen Menschen verabscheute.

Leise seufzend lehnte sie sich zurück und wie von allein wanderte

ihre rechte Hand zurück in den Ärmel der linken, umfasste das

glatte, kalte Glas. Ihre Gedanken schweiften zu der Person zurück, der sie ein großes Stück ihres Herzens einst schenkte.

Vorhin als sie ihn der Zofe übergab, hatte er bereits selig

geschlummert. Am liebsten hätte sie ihn mit hier her nehmen gewollt, damit sie ihn so lange wie möglich bei sich haben konnte. Sie wollte seine Wärme spüren, sein kleines Herz, das tapfer schlug, und seine winzige Hand, die ihre Finger stets fest umklammerte.

Er war noch so klein, doch für sie das Größte und das Einzige, was ihr geblieben war. Ihre Augen füllten sich plötzlich mit Tränen, die sie mit aller Macht zu verbergen versuchte.

Nein, nicht jetzt. Sie musste stark bleiben. Für ihn. Für sie beide.

Das war alles, was noch zählte.

Sie spähte zum Kelch ihres Mannes, der sich minütlich leerte. Wie viel würde er noch trinken, bis er genug hatte? Mit jedem Kelch schwand ihre Chance. Sie durfte nicht länger zögern, musste diesen Abend nutzen, auch um sich wohlmöglich durch die hier Anwesenden ein Alibi zu verschaffen. Nicht jedem hier am Tisch war ihr Mann wohlgesonnen. Manche waren nur der Etikette wegen eingeladen worden und boten ihr wohlmöglich eine falsche Deckung.

Es führte kein Weg dran vorbei. Sie musste es tun. Zu lange plante sie es schon. So eine Gelegenheit durfte sie nicht verstreichen lassen. Sollte irgendetwas schief gehen, wusste die Zofe Bescheid und Erasmus würde auf sie warten. Wenn sie es nicht bis zum Stall schaffen würde, war ihre Flucht ausweglos. Und ihr Schicksal besiegelt.

Mehrmals hatte sie es geprobt, ihre Schritte bis zu ihrem Ziel gezählt, die Wege abgelaufen, hatte sich in aller Heimlichkeit

darauf vorbereitet. Sie durfte nicht versagen! Alles hing davon ab.

Wenn sie es tun wollte, dann jetzt. Ihre Zeit zerrann.

Sie versuchte einen tiefen Atemzug zu nehmen und streckte dann die Hand nach dem Kelch aus. Dass dessen letzte Tropfen Blut glichen, blendete sie aus. Ein fester Griff hinderte sie. Sie riss den Kopf hoch und blickte direkt in das fragende Gesicht ihres Mannes. ,,Lasst mich Euch einschenken, Mylord“, konnte sie mit einem zuvorkommenden Lächeln von sich geben. Der Schweiß brach ihr aus. Unter all den Lagen aus Tüll und Seide begann sie zu zittern.

Er zog bloß die Augenbraue hoch und ließ sie gewähren. Doch dann fiel sein Blick in ihren Schoß. ,,Was ist das?“

Da wusste sie, dass alles verloren war.

Sie wagte es kaum, ihm zu folgen und blickte schließlich auf das Fläschchen. Ihr Ärmel war verrutscht und offenbarte ihr,

von ihren Fingern umklammertes Verderben.

,,Das ist nichts…das…“, versuchte sie es noch, doch einen

Augenblick später wurde es ihr aus der Hand gerissen.

,,Was ist das?“, wiederholte er. Nun bedrohlich.

Mittlerweile waren alle Gespräche an der Tafel verstummt.

Qualvollen Schweigen umgab sie.

Er reichte das Glasgefäß mit seinem dunklen Inhalt an seinen Nachbarn weiter. Der Ältere entkorkte es, roch daran.

,,Gift.“ Mit einer leeren, entgeisterten Fratze starrte er direkt sie an. ,,Das ist Gift, Euer Gnaden.“

Bei diesen Worten sprang sie auf und rannte zur Tür.

,,Wachen!“, schoss seine Stimme donnernd hinter ihr her.

Die Wachsoldaten vor dem Saal erkannten sie, doch verharrten verunsichert, weil sie nicht wussten, was das zu bedeuten hatte. Mit gerafften Röcken rannte sie an ihnen vorbei.

Drei Tropfen hätten gereicht! Er sollte sterben! Nicht sie!

Er wäre krepiert, vor ihrer aller Augen, und sie hätte ihn weinend

an sich gedrückt, hätte Tränen der Freude vergossen und damit alle hinters Licht geführt. Sie war so dumm!

In ihrem Kopf hörte sie das Lachen ihres Babys, das niedliche Glucksen, was er machte, wenn er Schluckauf hatte. Die Liebe einer Mutter drängte sie in ihre Zimmer zu laufen, doch dann würde sie es nicht mehr rechtzeitig hinaus schaffen. Sie musste darauf vertrauen, dass die Zofe ihr Wort halten würde.

Ihr Überlebenswillen verbot es ihr, bei ihrem Kind zu sein. Sie wollte schreien, sie wollte weinen, sich in Arme flüchten, um Schutz zu suchen.

Doch hier war alles, was sie finden würde, ihr Tod.

Blind vor Tränen, die ihr mittlerweile haltlos über die Wangen liefen, rannte sie die Treppe hinab und stieß die große Tür zum Innenhof auf. Die kühle Nacht schlug ihr entgegen, als würde sie jemand in Eiswasser stoßen. Sie stürmte die Stufen hinab, wagte es, sich umzudrehen. Überall in den Fenstern erschienen Lichter. Die Glocke wurde in Aufruhr geschlagen, zerriss die nächtliche Stille. Hunde bellten.

Aus der Stalltür trat ihr eine kleine, krumme Gestalt entgegen. ,,Eure Hoheit, beeilt Euch!“ Erasmus ließ die Doppeltür aufschwingen, die deckungsgebend hinter ihnen wieder zu glitt, und führte sogleich Noctyria aus ihrer Box. Sie keuchte, konnte nicht sprechen vor Panik, die ihr die Kehle zuschnürte. Ihr Brustkorb drohte das Korsett zu sprengen. Im Dämmerlicht der Boxengasse nahm sie die Zügel und klammerte sich an den Sattel, während Erasmus ihr hoch half. Sie brauchte zwei Anläufe bis sie oben saß, was sie undamenhaft fluchen ließ. Sie hörte die Nähte knacken, als sie sich setzte und Schritte und auf den dunklen

Innenhof. Dazwischen laute Rufe.

Man suchte nach ihr.

,,Ich danke dir, mein Freund. Für alles.“ Mehr konnte sie nicht sagen. Im nächsten Augenblick wurde die Stalltür aufgerissen. Fackeln blendeten sie.

,,Da ist sie!“

Was dann geschah, konnte sie durch die hämmernde Angst vor ihrer Bestrafung nicht mehr verfolgen. Alles ging so schnell.

Als man sie versuchte aus dem Sattel zu ziehen, schlug und trat sie um sich. Erasmus kam ihr zu Hilfe und stieß den Soldat zu Boden. Auf einmal zog der alte Stallmeister ein Schwert aus dem

Strohlager und stellte sich dem Schatten auf der Gasse in den

Weg. Ihr Inneres erstarrte zu Eis.

Hauptmann Morris sah ihn bloß bedauernd an.

Starr vor Furcht hörte sie noch das kurz andauernde Klirren des aufeinandertreffenden Stahls, verfolgte die fahlen Bewegungen im Dämmerlicht. Hinter dichtem Nebel in ihrem Kopf nahm sie Tyria wahr, die unter ihr immer panischer tänzelte, den Soldaten, der an ihrem Gebiss zerrte, und musste hilflos mit ansehen, wie die Waffe des Hauptmannes den Leib ihres Freundes durchstieß.

Warmes Blut, das auf Steinboden plätscherte.

Sie öffnete den Mund, schlug sich die Hand davor, doch der Schrei blieb ihr grausam in der Kehle stecken.

Es war ihre Schuld.

Alles ihre Schuld...

Der krumme Körper ihres sterbenden Freundes wandte sich ihr zu. ,,Flieht, Mylady.“ Er stieß einen schrecklich gurgelnden Laut aus, als Morris das Schwert tiefer in ihn drückte und ihn dann wie Unrat zu Boden stieß. Dunkle Augen richteten sich funkelnd nun auf sie. Hart drückte sie ihrem Vollblut die Hacken in den Bauch. Die Stute stieg, riss den Mann vor ihr um und machte einen Satz nach vorn. Der Hauptmann prallte gegen ihre Brust, die blutüberzogene Klinge knapp an ihr vorbei. Die Soldaten, die den Stall erreichten, sprangen zur Seite, um nicht ebenfalls unter die Hufe zu kommen und zusammen jagten sie über den Hof auf das Tor zu. Bei ihrem Anblick wurden die Fallgitter runter gelassen. Sie trieb ihre treue Schimmelstute noch einmal an.

Schwere Ketten ratterten ohrenbetäubend laut über ihnen. Nur Bruchteile von Sekunden später gruben sich hinter ihnen die Metallspitzen donnernd in den Boden. Sie riss die Augen auf, holte japsend Luft, weil sie den Atem angehalten hatte.

Vor ihnen eröffnete sich der Wald.

Sie riss sich das Diadem aus dem Haar und schob es sich in die eingenähte Tasche des Rockes. Auch zögerte sie nicht damit, sich den goldenen Ring vom Finger zu ziehen. Keine Minuten länger hätte sie ihn mehr ertragen können. Tief über den Hals ihres Pferdes gebeugt preschten sie zusammen über den federnden Waldboden.

Die Feste hinter ihnen war hell erleuchtet. Mit Furcht sah sie die Pferde ihrer Verfolger zwischen den Bäumen erscheinen, an ihrer Spitze Hauptmann Morris.

,,Lauf, Tyria! Lauf!“, schrie sie gegen den Wind an, der unbarmherzig an ihr zog, als hätte er selbst seine Hände um ihren Körper geschlungen. Leise säuselte er ihren Namen und immer wieder: ,,Königsmörderin.“ Immer wieder.

Noctyria griff weiter aus, legte sich in die Gurte. Der Wald verschmolz zu einer dunklen Masse, bereit, sie aufzunehmen.

Die Soldaten aber blieben ihnen auf den Fersen.

,,Lauf, oh bitte…Lauf!!“ Sie sah nicht mehr zurück.

Eine nie dagewesene Furcht zerriss sie entzwei.

Sie hatte ihr Leben und das ihres Sohnes den Göttern zum Spiel

vorgeworfen, um die Freiheit zu erhalten.


Kapitel 1

 

21 Jahre später

 

Die Vögel hatten aufgehört zu singen. Jeder einzelne war verstummt. Aufsteigender Nebel verhüllte den Waldboden, der von der jungen Sonne rasch erwärmt wurde. Auf Gräsern und tiefhängenden Zweigen glitzerte noch der Tau und brach das hereinsickernde Licht, wie es kleine Diamanten in einer Schatztruhe taten. Eine Spinne war das einzige Tier, das sich blicken ließ. Die Warnung der Vögel ließ sie kalt, sie hatte nur Augen für den Tau, der ihr Netz beschwerte, als hätte eine Göttin Perlen aus Glas daran aufgefädelt, um ein Collier für ein Bankett zu schaffen.

Hämmern und Rufe störten die morgendliche Stille. Eine lange Reihe von in Leder und Wolle gekleidete Männer erschien zwischen den Bäumen. Mit den Knäufen ihrer Messer klopften sie auf Stämme oder auf ihre Schilde, die manche sich zur Verteidigung gegen Wildsäue um den Unterarm geschnallt hatten. Lanzen waren auf das Unterholz gerichtet, Bögen schussbereit gespannt. Mit Schwertern zerschlugen sie Holz und Geäst. Geschärfte Waffen blitzten auf. Der Krach war ohrenbetäubend, der menschliche Geruch nach Eisen und Schweiß plötzlich allgegenwärtig. Kein Tier war mehr sicher.

Aufgescheucht aus dem Verborgenem brach ein Hirsch durchs Dickicht und verharrte in der Bewegung, Aufgerissene Augen suchten die Umgebung nach den Jägern ab, die Nüstern gebläht, die Ohren zuckend. Das Hämmern aus der Ferne kam schnell

näher und kündigte den Tod an. Von seinen Instinkten getrieben

blieb dem Tier nur die Flucht.

Die Hunde hielten die Nasen dicht über dem Boden, zerrten an

den Leinen, ohne darauf zu achten, ob die Männer an den anderen Enden hinterher kamen. Dann wurden sie langsamer und schnüffelten an Ort und Stelle in allen möglichen Richtungen.

Die Reiter, die in der Nähe der Meute geblieben waren, brachten ihre Pferde zum Stehen. Die Augen des Königs funkelten, als er seiner abgerichteten Meute zusah, die nach der Witterung suchte.

Seine Anspannung ging auf seinen edlen Hengst über, der nervös auf der Stelle zu kreiseln begann. Einer der schwarzen Hund stieß ein Jaulen aus, das wie das Geheul eines Wolfes klang, und versuchte davonzustürmen. Das Rudel wurde von den Leinen gelassen und hetzte davon. Der König nahm mit seinen Reitern die Verfolgung auf.

Umhänge flatterten im Wind, Hufe donnerten über Laub und Moos. Die Jagd beflügelte die Herzen jedes Mannes, ließ ihn sich einbilden, Herrscher über etwas viel Größeres zu sein, auch wenn es nur für ein paar Stunden war.

Der Prinz schoss voran, blieb dicht hinter seinem Vater, dem König, der seine Hunde nicht aus den Augen ließ. Die Männer zu Fuß waren weit zurückgeblieben. Zwei Soldaten, der Hauptmann und dessen Junge waren die einzigen, die ihnen folgen konnten.

Der Ruhm würde ihnen allein gehören.

Durch das Schattenspiel der Kronendächer entdeckten sie das fliehende Tier, dessen Witterung die Hunde aufgenommen hatten. Mit langen Sätzen sprang der Hirsch durchs Zwielicht, um seinen Verfolgern zu entkommen. Während der Prinz die Schönheit und die Anmut des Tieres mit offenem Mund in sich aufsog, hatte der König dessen Waffe erspäht. Als er das mächtige Geweih sah, gab er seinem Pferd die Sporen und schrie seinen Hunden zu, ihn zur Strecke zu bringen. Sie taten, was ihr Herr ihnen befahl und hetzten das Tier bis zur Erschöpfung weiter. Der Hirsch war alt und am Ende seiner Kräfte.

Als der erste Hund zu ihm aufgeschlossen hatte, drehte er unerwartet um und ging auf den Angreifer los. Die spitzen Enden des Geweihs durchstießen den Brustkorb des jämmerlich quickenden Tieres, das mit einem Kopfschlag durch die Luft geschleudert wurde und dort liegend blieb, wo es aufschlug. Ein anderer nutze die Chance, um mit einem Biss in den Hinterlauf seine Flucht zu beenden. Die Reiter erreichten den Kampfschauplatz und sahen, wie die angestachelten Tiere sich in dem Hirsch verbissen, der auskeilte und vor Raserei grunzte. Seine Schreie wurden heiserer. Blut lief ihm bereits von der Zunge. Die Hunde hatten ihm die Beine geschunden, die im Angesicht des Todes bebten, das Fell an der Flanke war von Kratzspuren gezeichnet.

Micael Morris riss sich die Armbrust von der Schulter, schob einen Pfeil in den Lauf. Er blickte zu seinem Vater, doch gerade, als er abdrücken wollte, bemerkte er die eisblauen Augen, die erbost auf ihn gerichtet waren.

,,Heute überlasse ich Euch die Ehre, mein Sohn“, hörte er den König sprechen. Wie paralysiert ließ der Junge die Waffe sinken und sah, wie der Prinz stattdessen seinen Bogen nahm.

Der Hirsch blickte der gespannten Sehne entgegen und noch ehe er einen weiteren Atemzug tun konnte, knickten ihm die Beine ein. Der Pfeil hatte sein Herz getroffen und ihm einen raschen Tod geschenkt.

Micael blickte zu seinem Vater. Kein Lächeln, weder ein Nicken noch eine einzige Aufmunterung kam zurück. Hauptmann Morris lenkte sein Pferd an ihm vorbei, als hätte es nie einen versuchten Schuss von ihm gegeben, hinüber zum König, der abgestiegen war, und das erlegte Tier genauer in Augenschein nahm, während die eingetroffenen Treiber die Hunde fort zogen.

Der Junge umschloss die Armbrust fester, bis seine Knöchel

schmerzen. Die Kimme, an der zuvor noch der Pfeil gelegen hatte, hob sich langsam höher und zeigte schließlich auf den Rücken des Prinzen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 2

 

Das Gluckern und Rauschen des Flusses ganz in ihrer Nähe, wenn er seinen ewigen Weg durch sein Bett und über die Kiesel der nahen Furt nahm, ließ ihn ein wenig wegdämmern.

Die Sonne, deren Strahlen warm und intensiv durch das Geäst über ihn schienen, mahlten dem Prinzen Sonnenflecken aufs Gesicht. Es ging ein leichter Wind, der angenehm zur Sommerhitze war. Mit übereinander geschlagenen Beinen döste er an den Wurzeln gelehnt und hörte dem Zirpen der Zikaden zu. Es war ein herrlicher Tag zum Nichts tun.

Irgendwo hinter ihnen grasten die Pferde. Ab und ab schnaubte eines zwischen dem Peitschen ihrer Schweife gegen die Fliegen. Hier draußen, weit weg von Rabenhall und seinem täglichen Gewusel, hatten sie ihre Sachen ausgepackt und ein wenig mit dem Schwert trainiert. Eine halbhohe Mauer aus aufgeschichteten Steinen, die hier schon seit Generationen stehen musste, war der perfekte Balanceakt gewesen.

Er nahm denjenigen war, der langsam auf ihn zu robbte.

,,Kannst du eigentlich damit das Gras wachsen hören?“ Im nächsten Moment piekte ihn etwas ins Ohr.

Er zuckte zusammen, ,,Lass das, du Idiot!“, und riss Micael den Grashalm aus der Hand. Dieser zeigte nur eines seiner dreckigen Lächeln, die er so gut konnte.

,,Hab doch nur gefragt. Brauchst ja nicht gleich wie ein zickiges Weib zu reagieren.“ Lachend stand er auf und entfernte sich wieder. Auch Krätze lachte, als hätte Micael einen Witz gerissen. Toller Witz. Ganz toll.

Robin fühlte, wie seine Ohren augenblicklich zu glühen

begannen und rieb unauffällig die Stelle, an der der Halm gestochen hatte. Das passierte ihm immer, wenn er wütend war oder sich in Rage redete. Seine dunklen Locken verdeckten kaum das Zeichen seines unterschiedlichen Blutes. Niemand durfte ihn dort berühren. Er hasste es.

Von ihr hatte er schließlich diese verfluchten Dinger.

,,Man sagt, deine Mutter hätte den alten Stallmeister umge-bracht, als dieser sie aufhalten wollte. Hatte sie nicht gehört, dass er da war? Ich mein‘, sie hatte doch bestimmt noch größere Ohren oder wie ist das bei euch Elfen?“

In zwei Sekunden war er aufgesprungen und hatte die Hände um den Kragen seines Wams geschlossen. ,,Pass auf, was du sagst! Sprich nie wieder von Dingen, die dich nichts angehen.“

,,Ist ja gut, schon gut!“ Der Prinz ließ ihn los und Micael

schickte ihm einen vernichtenden Blick, gab ihm jedoch wieder mehr Freiraum.

War auch besser für ihn…

Robin hatte keine Mutter mehr. Sie war für ihn nur noch die Frau, die ihn geboren hatte. Nichts weiter.

Seine Mutter war eine Verräterin aus Arwyn gewesen, die sie jahrelang getäuscht hatte. Sanft und liebenswürdig hatte sie seines Vaters Gunst erschlichen, nur um an seine hohe Position zu kommen und die Krone zu erlangen, solange er selbst noch nicht regierungsfähig war. Dafür war ihr jedes Mittel recht gewesen. Auch einen Mordversuch. Verräterin. Sie war nur noch ein Name ohne Bedeutung für ihn. Alles was sie tat, war seinem Vater das Herz zu brechen und ihn, als er noch ein Säugling war, im Stich zu lassen.

Der Prinz kochte immer noch vor Wut, als er die schwere Hand auf seiner Schulter wahrnahm. ,,Lass ihn reden, Robin“, sagte die tiefe Stimme von Wotan, die nie viele Worte verlor. Oftmals reichten zwei schon aus, um ihn stets auf den Boden zurück zu holen.

Wotan war sein bester Freund und als Schmied ein gefürchteter

Gegner, der sich bestens mit allerlei Waffen auskannte. Robin war schon groß, doch mit seiner gut zwei Meter Statur überragte der blonde Hüne jeden, hatte zudem noch von der Arbeit kräftige Arme und Schultern bekommen, die er einzusetzen wusste.

Robin gestand sich ein, dass Wotan recht hatte. Sich von so einem wie Micael reizen lassen, war lachhaft. Als Sohn des Hauptmanns hatte er sich schon immer aufgespielt, doch mit nichts auf der Welt würde Robin mit ihm tauschen wollen.

Immer wenn er bei Besprechungen des Rates Hauptmann Morris gegenübersaß, überlief ihn ein kalter Schauer. Dieser hatte etwas unheimlich Düsteres an sich. Sein Vater schätzt ihn, er selbst traute diesem Mann kein Stück.

Eigentlich kam Robin mit Micaels Arroganz klar, er kannte ihn und seinen Charakter schließlich seit Kindertagen. Im Moment jedoch war er gereizter als sonst, was Micael für seine Spielchen ausnutzte, als wäre er süchtig danach.

Der Tag des Attentates auf den König jährte sich an diesem Sonntag zum einundzwanzigsten Mal.

Der Tag, an dem er zur Halbwaise wurde.

Robin fuhr mit der Hand kurz durch sein dunkles Haar - eine Macht der Gewohnheit, damit er sicher ging, dass seine halbspitzen Ohren von den Strähnen verdeckt waren. ,,Ich frage mich, was mit diesem Kerl in letzter Zeit los ist. Du etwa nicht?“

,,Vielleicht nimmt Morris ihn wieder hart ran.“

Für Wotan schien damit die Sache geklärt zu sein. Stirnrunzelnd sah Robin erneut zu Micael. Gerade balancierte er

an der Mauer gelehnt sein Schwert mit dem Knauf auf seiner Handfläche, als könnte er kein Wässerchen trügen. Er besaß genauso schwarzes, kurz geschnittenes Haar wie sein Vater. Nur der Vollbart fehlte. Die Ähnlichkeit mit Morris erinnerte ihn daran, wie gut er es hatte, dem Hauptmann die meiste Zeit aus dem Weg gehen zu können.

,,Vielleicht“, antwortete Robin. Micael schaute auf und er verengte die Augen, um ihn seinen finstersten Blick zu schicken. Es hatte Wirkung; Micael drehte sich wieder von ihm weg. Obwohl sie genauso viele Jahreszeiten zählten, war er weder groß noch besonders kräftig und sie wussten beide, dass Robin ihn in einem Kampf jederzeit schlagen konnte.

Am Fuße der Mauer hockte wie sein Schatten Krätze. Alle nannten ihn so und wenn Robin darüber nachdachte, kannte er

seinen richtigen Namen nicht einmal. Er war das Anhängsel von Micael, der zu allem begeistert Ja sagte, was dieser von sich gab. Der Bastard von Rabenhalls Hundeführer war schmächtig und unscheinbar. Seine blonden, stumpfen Haare hingen ihm ständig ins Gesicht.

Umso erstaunter waren alle, als dieser auf stand und in eine Richtung zeigte. ,,Seht mal da.“ Die jungen Männer folgten Krätzes plötzlichem Fingerzeig. Robin brauchte kurz, um sie zu entdecken, denn es war, als schützte die Natur sie vor jeglichen Blicken. Am anderen Flussufer hockte ein Mädchen im Schilf zwischen den Bäumen. Rotes Haar fiel ungebändigt über ihre Arme. Sie hatte einen Pflanzenstrauch in den Händen, den sie mit Eile im Wasser wusch. Sie versuchte sich zwischen den Blättern zu verbergen, doch die jungen Männer hatten sie bereits entdeckt.

,,Das ist doch die Hexe“, raunte Krätze. ,,Die wohnt mit diesem

komischen Mann zusammen im Wald. Die verkaufen doch so

Zeug auf…“

,,Ich weiß, wer das ist!“, gab Micael ihm zu verstehen, dass er endlich den Mund halten sollte.

Bei seiner Stimme schaute das Mädchen auf. Wie sie so zu ihnen hinüber starrte, erinnerte sie Robin an ein Kaninchen, was sich, wenn es könnte, platt ins Gras drücken würde, um unsichtbar zu werden. Auf einmal sahen ihre großen Augen direkt ihn an.

Und ihm war, als trug der Wind ihren schnellen Herzschlag zu

ihm, sodass er ihn seltsamerweise in seiner eigenen Brust spüren konnte.

,,Die gehört mir.“ Micael steckte sein Schwert zurück in seinen Gürtel und rannte zu seinem Pferd.

,,Was hast du vor?“ Die drei starrten ihm hinterher, doch er antwortete Robin nicht. Schon saß er oben.

,,Worauf wartet ihr? Die Jagd ist eröffnet! Heja!“ Er trieb seinen Rappen hart an und preschte los.

Krätze zerrte den Kopf seines Maultiers aus dem Gras heraus und schwang sich laut jauchzend auf dessen Rücken. ,,Lass mir von ihr was übrig!“

Perplex vom Geschehen starrte Robin zu dem Mädchen, welches schutzlos dem Pferd entgegen sah, das auf die Furt zusteuerte. Direkt auf sie zu. Bei allen alten und neuen Göttern… ,,MICAEL!!“ Robin rannte los, dicht gefolgt von Wotan. Sie schwangen sich auf die Pferde und jagten hinterher. Nur schwach registrierte er, dass das Mädchen ins Dickicht verschwunden war, konnte nur auf den Kerl starren, der durch die Fluten galoppierte. Er überholte Krätze. ,,Kümmere dich um den!“, rief er Wotan über die Schulter zu und preschte bereits ins Wasser. Hoch spritze das kühle Nass, durchnässte seine Hose und besprenkelte sein Gesicht.

Im angrenzenden Wald hatte Micael bereits die Verfolgung aufgenommen. Robin stellte sich in die Bügel und schickte sich an, ihn nicht mehr aus den Augen zu lassen. Er hasste es, wenn ich seinen Sam so antreiben musste, doch nun ging es nicht anders. Der konnte was erleben… ,,Komm schon, Großer.“

Sein Brauner wurde noch schneller und näherte sich dem anderen Pferd. Die Bäume rauschten gefährlich nahe an den Männern vorbei, Äste zischten und schlugen wie Peitschen. Zwischen all dem Grün sah Robin schemenhaft die Gestalt des Mädchens. Doch so schnell wie sie aufgetaucht war, verschwand sie auch wieder, als würde sie mit dem Wald verschmelzen. Geschick schlug es Haken, nahm Wege, die für die Pferde unpassierbar waren. Sie mussten scharfe Kurven reiten, brachen durchs Unterholz und sprangen über umgestürzte Stämme hinweg ohne

zu wissen, was dahinter lag.

,,Hey, Robin, wer sie fängt, darf sie haben!“, rief ihm dieser Wahnsinnige über das Donnern der Hufe hinweg zu. Laub und Erde flogen an ihren Köpfen vorbei.

,,Du spinnst doch! Lass sie in Ruhe!“

,,Du willst sie doch nur für dich alleine haben!“

Das durfte doch nicht wahr sein… ,,Hör auf, mach keine Dummheiten!“ Robin sah bereits ihrem sicheren Ende entgegen,

wenn sie in diesem Tempo weiter durch das Gelände jagten und sich die Hälse brachen.

Endlich brachte Micael sein Tier zum Stehen. Doch im selben Moment, wie die erneute Wut über diesen Kerl ihn anstachelte, etwas sehr Unüberlegtes zu tun, dachte Robin an das Mädchen. Was, wenn der Hengst sie erwischt hatte?

Bei Micael angekommen sprang er sofort aus dem Sattel und

packte die Zügel des Rappen, um jegliche Verfolgung für beendet

zu erklären. ,,Hat dich ein Dämon geritten?!“

,,Ach, Spielverderber. Schau mal lieber, wen wir da haben.“ Triumphierend zeigte Micael nach oben.

Robins Blick wanderte den mächtigen Baum vor ihnen hoch. In einer Astgabel hockte das Mädchen, krallte sich schwer keuchend an der Rinde fest, die großen Augen auf die Männer gerichtet. Mit Entsetzen musste er sehen, dass sie barfuß vor ihnen geflohen war. Ihre Füße waren vom Unterholz dreckig und von blutigen Kratzern übersät.

Hinter ihnen schlossen endlich auch Wotan und Krätze auf, der mit seinem Maultier alles andere als schnell war, dafür hellauf begeistert. ,,Gratulation! Du hast sie ja tatsächlich erwischt.“

,,Mir geht so schnell keine durch die Finger.“

,,Und was machen wir jetzt mit der?“

,,Hört auf! Das hier ist doch keine Jagd“, schnauzte Robin immer noch stinksauer gleich beide an. War Micael jetzt von allen guten Geistern verlassen?

,,Da sieht man mal, dass du keine Ahnung von den Weibern hast“, antwortete dieser beim Absteigen. ,,Die mögen‘s, wenn man sich durchsetzen kann. Wenn man’s interessanter macht. Und kleine Spielchen erst recht.“ Micael näherte sich dem Baum. ,,Möchte die währte Lady von alleine runter kommen oder muss ich sie holen?“, richtete er das Wort an das verschreckte Mädchen.

,,Ihr könnt mich mal!“

Fassungslos verzog er das Gesicht.

,,Oh, ‘ne Wildkatze.“ Amüsiert verschränkte Wotan die Arme

auf dem Sattel, um sich bequem auf seinem Gaul sitzend das beginnenden Spektakel anschauen zu können.

,,Ja, und ich kratze jedem von euch die Augen aus, der es

wagen sollte, hier hochzukommen!“, schoss es sofort von ihr zurück.

Robin hob die Augenbrauen. Mit so viel Schlagfertigkeit hatte er nicht gerechnet - Micael neben ihm noch weniger, denn seine Miene verdunkelte sich nun über den ungeahnten Ausgang seiner Eroberung mit jeder Sekunde. Offenbar hatte noch kein Mädchen ihm solch eine Abfuhr erteilt.

,,Ihr hattet euren Spaß! Jetzt lasst mich in Ruhe!“

,,Ich habe gewonnen“, erklärte er ihr ungerührt. ,,Und jedem Sieger gebührt eine Belohnung. Findest du nicht?“ Noch ehe Robin ihn aufhalten konnte, begann er am Baum hochzuklettern. Das Mädchen wurde hektisch, als er sich ihr immer weiter näherte. Sie suchte nach einem anderen Abstieg, doch es gab keinen. Sie saß in der Falle.

,,Fahr zu Hölle!“

,,Eindeutig Wildkatze“, kam die Beobachtung von Wotan aus der zweiten Reihe.

,,Solch böse Worte von so einer Schönheit wie dir? Komm schon, Kleines. Ein Kuss für den Siegreichen?“ Inzwischen war Micael fast auf ihrer Höhe angekommen. ,,Ich verspreche dir, ich bin auch zärtlich.“ Er stemmte sich auf dem Ast hoch, auf dem er stand, und streckte sich zu ihr.

Ein gewaltiger Fehler, wie sich herausstellte.

Biegsam wie ein Wiesel lehnte sich das Mädchen in der engen Astgabel zurück, um ein Bein frei zu bekommen und trat mit voller Wucht zu. Micael verlor den Halt. Rücklings flog er einen Augenblick lang und prallte unweigerlich wie eine faule Frucht auf dem Waldboden auf. Krätze kam sofort angerannt und beugte sich zusammen mit dem Prinzen über ihn.

,,Bleib liegen, du könntest dir was getan haben“, sagte Robin

trotz seiner Dummheit besorgt um ihn.

Mit einem zornerfassten Knurren drückte Micael sie weg und

kam schwankend wieder selbst auf die Beine. Als er am Stamm empor schaute, sah Robin einen nie gesehen Ausdruck in seinen Augen. Und da wusste er, dass dieses Mädchen seine Ehre für immer gebrochen hatte.

,,Du kleine Hure“, zischte ihr Verfolger durch die Zähne. ,,Das wirst du mir büßen. Du wirst noch um Gnade betteln...“ Wutentbrannt stapfte er zum Pferd und zog seine Armbrust vom Sattel. Mit Grauem erkannte Robin, was er vorhatte.

,,Micael, hör auf!“

Kaltblütig zog er einen Pfeil aus dem Köcher und spannte ihn ein. ,,Tritt beiseite, Robin. Ich schieße uns diese Hexe vom Baum.“ Er zielte auf das Mädchen und Robin tat das einzige, was

ihm einfiel.

Von der Wucht des Schlages schnellte sein Kopf nach hinten.

Sogleich ließ Micael die Waffe fallen, presste sich stattdessen die Hände an die Nase, durch deren Finger bereits das Blut schoss und hinab auf das Laub tropfte. Aus dunklen Augen starrte er den Prinzen fassungslos an.

,,Verschwinde. Oder es ergeht dir übel.“ Robin konnte seine Stimme kaum ruhig halten. Seine immer noch geballte Faust bebte. ,,Das ist ein Befehl.“

Micael zögerte. Ein letztes Mal musterte er ihn wie einen Fremden. ,,Das wirst du noch bereuen, Mischling.“ Er wandte sich von ihm ab und begann zusammen mit Krätze den Rückzug.

Sich der soeben gesprochenen Worte bewusst werdend, verharrte Robin unfähig an Ort und Stelle. Etwas war an diesem Tag zwischen den einstigen Freunden zerbrochen, das auch mit

verstreichender Zeit nicht wieder heilen würde.

,,Folge ihnen und seh‘ zu, dass sie auch fort bleiben.“ Er versuchte, sich nichts davon anmerken zu lassen. Auch wenn die Erkenntnis wie bittere Galle schmeckte. ,,Ich habe keine Lust mehr, auf diesen Wahnsinnigen und seinem Frettchen.“

Auf seinem zweiten Befehl hin nickte Wotan nur, warf einen letzten Blick auf das Mädchen im Geäst. Dann wendete er seinen Ackergaul ließ ihn in die Richtung trotten, in die auch die beiden anderen verschwunden waren.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 3


Onkel Amelius hatte immer gesagt, für ein rechtloses Mädchen, wie sie es war, wäre es das Beste, sich dumm zu stellen. Als Kind hatte er ihr regelmäßig solch Predigten gehalten, die sie heute auswendig kannte.

Eigentlich auswendig kennen sollte...

,,Verhalte dich unauffällig und handle stets bedacht, schweigsam. Rede nie zuerst und nur dann, wenn du dazu aufgefordert wirst oder du antworten musst. Rede respektvoll und in Ehre dein Gegenüber an. Egal, wer es ist! Vergiss das nie. Wohlmöglich kann dir das irgendwann einmal das Leben retten.“ Und dann nahm er sie jedes Mal in den Arm und drückte sie an sich, ganz so als fürchte er, sie jeder Zeit verlieren zu können.

All das hatte Isa in den letzten fünf Minuten nicht getan.

Und nun sah sie, was sie damit angerichtet hatte.

Ihrem drohenden Unheil entgegen.

Blut strömte dem Sohn des Hauptmanns von dem gezielten Fausthieb zwischen den Fingern hervor, als er sich abwendete und zusammen mit dem schlaksigen Blonden davon ritt.

Als sie außer Sicht waren, ließ Isa die Stirn gegen den Baum sinken und schloss die Augen. Was hatte sie bloß getan?

,,Folge ihnen und seh‘ zu, dass sie auch fort bleiben. Ich habe keine Lust mehr, auf diesen Wahnsinnigen und seinem Frettchen“, hörte sie den Prinzen zu dem Übriggebliebenen sprechen. Der riesige Kerl sah zu ihr empor. Isa verengte die Augen und schob das Kinn vor, wobei er zu grinsen anfing und dann den zwei anderen Idioten folgte.

,,Sie sind weg. Ihr könnt jetzt herunterkommen.“

Damit er sie für ihre Respektlosigkeit schellen konnte?

Sicherlich nicht.

,,Wieso sollte ich? Vielleicht möchte ich ja hier oben bleiben. Mir gefällt es hier ganz gut“, entgegnete Isa kühl und so selbstsicher, wie sie konnte, und wusste gleichzeitig, dass sie sich mit ihrem Temperament nur noch tiefer in Schwierigkeiten verstricken würde, wenn sie jetzt nicht den Mund hielt.

,,Weil Ihr nicht ewig dort oben ausharren könnt“, antwortete er ihr jedoch mit einem Lächeln. Er nahm ihr die Ausrede kein Stück ab. ,,Kommt, ich helfe Euch.“ Der Prinz trat näher und streckte fast schon symbolisch für seine guten Absichten die Hände empor.

Dachte er ernsthaft, sie wüsste sich nicht zu helfen? Fast ihr ganzes Leben hatte sie auf den Wiesen und im Wald verbracht. Sie war hier aufgewachsen und hatte gelernt, wie man rannte, kletterte oder schwamm, um zu überleben. Der Wald war ihr Zuhause. Nur so hatte das Mädchen den Pferden ihrer Verfolger entkommen können. Sie kannte jeden Pfad, jeden Schleichweg.

Plötzlich kehrte die Panik zurück, als sie erst jetzt an die Folgen ihres Tuns dachte. Wieso war sie nicht einfach umgekehrt oder hatte sich eine andere Uferstelle gesucht, als sie die jungen Männer gesehen hatte? Von Anfang an hatte sie doch gewusst, dass sie nichts Gutes im Schilde führen würden. Dass sie auf ihre Deckung vertraut hatte, war ein Fehler gewesen. Und die Kräuter, die sie für Amelius mitbringen sollte, hatte sie auch liegen gelassen! Isa fragte sich, ob es nicht doch besser gewesen wäre, sich ihnen hinzugeben… Ein Kuss für den Siegreichen?

Was wäre schon dabei gewesen? Außer dass ihr wohlmöglich mehr als dieser Kuss gestohlen worden wäre…

Närrin, schalte sie sich selbst. Wie konnte sie so leichtgläubig denken, wenn sie die Geschichten der namenlosen Dienstmädchen kannte, die regelmäßig zu ihnen kamen und flüsternd mit gesenkten Blicken, damit die Götter es nicht hörten, um Hilfe baten.

Isa presste die Lippen aufeinander und verfluchte sich selbst.

Geschah ihr auch recht. Wieso hatte sie nicht einfach ihren Mund halten können? Was würde man mit ihr anstellen, wenn die Männer es daheim berichten würden? Würde sie nur das Objekt eines dummen Jungenstreichs sein?

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte der Prinz mit seiner

samtwarmen und dennoch rauen Stimme unter ihr: ,,Ihr braucht

keine Angst vor mir zu haben. Ich will Euch nichts tun.“

Isa konnte gerade verhindern, die Augen zu verdrehen. Stattdessen verschränkte sie die Arme und wagte es, sich den Königssohn genauer anzusehen, dem sie seit damals auf dem Markt nie wieder so nah gekommen war.

Und das komische war, dass sie ihm jedes Wort glaubte.

Dunkle Locken fielen ihm in unordentlichen Strähnen in die Stirn. Sein klug ausschauendes Gesicht war glattrasiert. Seine Statur war nicht allzu muskulös, sondern eher drahtig und sehnig von einer Anmut, die von seiner Erziehung oder von seiner elfischen Herkunft stammen könnte.

Blinzelnd riss sich Isa von seinem Anblick los, der ihr, ohne es zu wollen, gefallen hatte. ,,Wieso sollte ich Euch vertrauen? Ihr seid wie alle anderen.“ Dass es eine Lüge war, brauchte er nicht zu wissen.

Der Prinz ahmte ihre Geste nach und zog spöttisch eine Augenbraue hoch. ,,Woher wollt Ihr das wissen?“

,,Ich weiß, wer Ihr seid.“

,,Aha. Nun, da Ihr wisst, wer ich bin, wäre es nicht an der Zeit,

Euch vorzustellen? Das wäre nur gerecht.“

Isa ignorierte seinen Einwand. ,,Ich weiß, wer Euer Vater ist.“ Ich weiß, was er ist, Robin, fügte sie stumm hinzu.

,,Das Eine und das Andere hängt bei meiner Person so ziemlich zusammen, würde ich sagen“, gab er amüsiert zurück. Lachte er sie aus? Mit einem Nicken wies er zu ihr und ihrer misslichen

Lage hinauf. ,,Nun macht schon.“

Dieser Kerl ließ nicht locker. So stur, wie er schien, würde er die halbe Nacht hier stehen bleiben. Isa seufzte und gab schließlich nach. Weil sie nichts lieber wollte, als sich wieder in den Schutz ihres Waldes zu begeben und endlich verschwinden zu können. ,,Bleibt da. Ich komme runter.“ Vorsichtig machte Isa sich daran, ihren sicheren Zufluchtsort zu verlassen.

Die Frage, was passieren würde, wenn sie unten angekommen war und dem Erbprinzen ihres Landes von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, schob Isa auf und konzentrierte sich lieber auf das Klettern. Sobald sie auch nur einen Fuß von diesem Baum hatte, so entschied sie, würde sie rennen. Sie war sich sicher, ihn schon irgendwie abschütteln zu können und tastete sich weiter abwärts. Als sie es unter ihrem Fuß knacken spürte, war es schon zu spät. Sie stieß einen spitzen Schrei aus, als da nichts weiter war als Luft, begann mit den Armen zu rudern, doch der Erdboden rauschte bereits auf sie zu. Die Farben des Waldes verschmolzen vor ihren Augen. Verworren und so schnell, dass ihr schwindelte, helle Lichtpunkte dazwischen.

Die Sonne, die kaum durch das dichte Blätterdach drang.

Ein Wimpernschlag und ihr Körper wurde von kräftigen Armen aufgefangen. ,,Hab dich!“ Einen Moment schien sie noch zu schweben, dann wurden ihr Füße behutsam auf den Boden gestellt. Die vertraute Erde unter ihnen ließ Isa wissen, dass sie noch lebte. Blinzelnd schaute sie auf ihre dummen Arme, die sich wie selbstverständlich an breite, in weiches Leder gekleidete Schultern festhielten, fühlte den fremden Körper, der sich perfekt an ihre Brust und ihren Bauch schmiegte. Wärme und Sicherheit strömten unerwartet heftig auf sie ein.

,,Das ging schneller, als ich angenommen hatte“, hörte sie jemanden belustigt raunen. So nah, dass sie die Vibrationen in seiner Brust auch in ihrer spüren konnte. Götter…

Ehe Isa es verhindern konnte, fraß sich Angst durch jede einzelne ihrer Venen, ließ sie beten, dass das alles nur ein schlechter Traum war. Langsam hob sie den Kopf und konnte kaum glauben, wem sie ins Gesicht schaute. In wessen Armen sie tatsächlich stand.

Grübchen erschienen in seinen Wangen, als Robin lächelte. Isa

sah ihm direkt in die Augen und spürte ihr Herz seinen Weg, stolpernd wie ein junges Reh, verlieren. Vor Faszination öffnete sie den Mund. Die Iriden seiner Augen waren blau, doch nicht irgendein Blau. Sämtliche Töne dessen strahlten ihr förmlich entgegen; ein tiefgründiges, dunkles wie das eines Sees, stürmisch wie das Meer im Herbststurm, ein Himmelblau wie heute und ein Blau, so schön, wie das einer Kornblume.

,,Ihr habt die gleichen Augen wie Eure Mutter...“


















Kapitel 4


Robins Gesichtszüge entglitten ihm. ,,Was?“ Völlig vor den Kopf gestoßen starrte er sie an und erst jetzt wurde Isa gewahr, was sie da eben gemurmelt hatte.

Götter, was mache ich denn hier?! Eilig versuchte sie sich von dem Prinzen zu befreien. ,,Lasst mich los!“ Sie wollte nur noch verschwinden, doch er packte sie an den Oberarmen und ließ nicht locker.

,,Woher wisst Ihr das? Was wisst Ihr über meine Mutter?“

Isa drehte das Gesicht weg, wollte ihn nicht mehr ansehen. ,,Nichts! Ich weiß gar nichts!“

,,Ihr lügt!“

,,Und Ihr tut mir weh!“ Auf der Stelle ließ er sie los und Isa erkannte, wie verletzt und verwirrt er von ihren Worten war.

,,Ich habe keine Mutter“, knurrte er, die Kiefer zornig aufeinander gepresst. Der Ausdruck seiner Augen wurde hart, als er sich von all dem abschottete.

,,Wieso sagt Ihr das?“

,,Weil es die Wahrheit ist.“

,,Die Wahrheit“, echote Isa, erschüttert über den Hass in seiner Stimme. Dann schüttelte sie den Kopf. ,,Ihr glaubt nur, die Wahrheit zu kennen.“ Fragend sah Robin sie an. Als sie einen Schritt zurück machte, wollte er nach ihr greifen. Seine Hand ließ sie zurückstolpern. ,,Verzeiht mir, mein Prinz“, flüsterte sie, drehte sich um und rannte, so schnell ihre Beine sie trugen.

,,Warte!“, hörte Isa ihn rufen. ,,Bitte, lauf nicht weg!“ Sie rannte weiter. Betend, dass er ihr nicht folgen würde. Der brennende Schmerz an ihren Füßen lenkte sie von ihrem pochenden Herzen und den Schritten ab, die ihr folgten.

,,Komm zurück!“

Isa schlug sich durch junge Sprösslinge, presste sich hinter einen Baum und machte sich so klein wie möglich. Hinter ihr war alles still. Vorsichtig spähte sie über die Wurzeln hinweg. Robin stand dort und suchte nach ihr. Angestrengt stierte er durch das Dickicht, konnte sie jedoch nirgends ausmachen.

Mit einem tiefen Seufzer sackten schließlich seine Schultern nach unten. Ein letztes Mal überflogen seine Augen die Umgebung, ehe er sich umdrehte und zu seinem großen Braunen zurück ging, der brav wie ein Hund seinem Herrn ein Stück nachgetrottet war. Isa beobachtete, wie er dem Pferd über die Stirn strich und wie auf ein unsichtbares Zeichen hin nahm der Wind auf einmal zu. Die mächtigen Baumkronen begannen über ihnen zu rauschen. Verwundert blickte sie nach oben.

Das grüne Meer geriet in Aufruhr. Äste knarrten. Blätter lösten sich zu Dutzenden. Auch Robin hielt inne und sah sich um, als erwartete er jemanden, den niemand anderes sonst sehen konnte. Sachte spielte der Wind mit seinen Haaren, zerrte an seinen weißen Hemdsärmeln.

Sanfte, vorsichtige Berührungen.

Isa kauerte an den Wurzeln und sah mit an, wie Laub und Erde um seine Gestalt getrieben wurden, ihn einhüllten wie in einen Kokon. Sie konnte ihre Augen nicht von diesem außergewöhnlichen Schauspiel abwenden, als sie realisierte, dass sie es sein musste. ,,Kannst du es hören?“, flüsterte sie, hoffend, dass es ihn irgendwie erreichen könnte. ,,Wehr dich nicht dagegen, Robin. Lass es zu.“ Durch den Kokon, der ihn an diesem Ort hielt, konnte sie kaum seine Gestalt erkennen, so dicht trieb der Wind das Laub um ihn.

Leider hielt diese Magie nur Sekunden an. So plötzlich wie es begonnen hatte, so schnell flaute der Wind ab und gab den Prinzen wieder frei. Der Augenblick verstrich und Isa wartete auf seine Reaktion.

Misstrauisch schaute Robin sich um, ehe er lediglich den Kopf schüttelte und nach den Zügeln seines Pferdes griff.

Isa sah ihm nach, bis er verschwunden war, und zog sich enttäuscht zurück.





























Kapitel 5


Erstaunt blieb er stehen. Verdammt, gerade eben hatte er sie noch gesehen! Jetzt, nur einen Augenblick später, war das geheimnisvolle Mädchen wie vom Erdboden verschluckt. Robin versuchte, etwas Menschliches zwischen der Vegetation ausfindig zu machen, musste seine Suche jedoch letztendlich erfolglos aufgeben. Wieder hatte die Natur sie einfach verschwinden lassen.

Frustriert seufzte er auf und entschied, sich auf den Heimweg zu machen. Er konnte eh nichts mehr ausrichten. Als er Sam sah, der sich als kleine Wegzehrung ein Waldmeisterbüschel ausgerupft hatte und genüsslich darauf herum kaute, rieb er ihm schmunzelnd die kleine Flocke auf seiner Stirn.

,,Lass uns nach Hause gehen, Großer.“ Robin bemerkte die Veränderung in der Luft, ehe er sie hörte. Wie die Spannung eines nahenden Gewitters legte es sich über den Wald. Wind kam auf. Ungewöhnlich stark blies es ihm ins Gesicht, sodass er sich die Hand davor halten musste. Sam schnaubte nervös. Er hörte die Geräusche, die die Naturgewalt verursachte, aus allen Richtungen auf ihn einströmen. Zunächst war es nur das gewöhnliche Rauschen und Tosen, doch dann war da noch etwas anderes. Etwas, was er schon einmal in seinem Leben nicht zu verstehen vermocht hatte.

Robin erkannte dieses Gefühl, das durch ihn hindurch zu gleiten schien, an ihm zerrte und zog und ihn ungewollt mit Vorfreude und Leichtigkeit erfüllte. Er versuchte, wieder Herr seiner Sinne zu werden und es, was auch immer es war, zu ignorieren. Dieses Mal aber war es so intensiv, dass der Prinz nicht anders konnte, als hinzuhören.

,,Robin…“

,,Was zum…?“ Er sah sich um, ob er denjenigen sehen konnte, der zu ihm sprach. Da war niemand, bloß der Wald mit seinen Bäumen.

,,Robin“, erklang die freundlich wirkende Stimme der Frau wieder. Nein, er hörte sie tatsächlich. Wer oder was war das, zum Henker? Das ging nicht mit rechten Dingen zu!

Er versuchte die Stimme in seinem Kopf schleunigst loszuwerden. Wie eine Gegenreaktion wurde der Wind noch stärker und gerade, als er sich die Ohren zuhalten wollte, sah er, was geschah, und erstarrte vor Faszination und Unglaube.

Blätter, Flechten und winzige Erdpartikel wurden empor gehoben und um seinen Körper geschleudert. Wie wildgewordene Wirbel zwangen sie ihn hinzusehen. Getrieben von seiner Neugierde, die er nicht zügeln konnte, streckte er die Hand danach aus. Vorsichtig, aus Angst, er könnte die Luftströme stören und dieses empfindliche Geflecht kaputt machen, drehte er sie. Blätter streiften kitzelnd seine Handfläche und die Stimme sprach zu ihm. Ganz nah und gleichzeitig fern.

,,Gut gemacht, Junge... Du hast ein starkes Herz. Doch du

musst lernen müssen, darauf zu hören. Geb Acht und lass dich von ihm leiten… Es weiß, was das Richtige sein wird.“

Als das letzte Wort gesprochen war, sank das Laub zu Boden. Die Stimme verflog mit dem verebbenden Wind, als wäre sie nie dagewesen. Robin runzelte die Stirn, sah noch einmal in die Wipfel, in denen nun wieder Stille einkehrt war, und konnte sich von all dem nichts erklären.

Höchste Zeit, dass er von hier weg kam.


~


Er musste in einen Luftwirbel geraten sein, der zwischen den

Bäumen verursacht worden war. Anders war es nicht zu erklären.

Aber diese Stimme? Bereits in der Vergangenheit hatte er sie gehört und immer gedacht, dass lediglich seine kindliche Fantasie mit ihm durchgegangen war. So intensiv wie eben und so klar und deutlich hatte sie noch nie zu ihm gesprochen. Es war, als wäre ihre Stimme direkt aus dem Wind gekommen… Robin blieb so abrupt stehen, dass Sam fast gegen ihn lief. Bei allen alten und neuen Göttern, das konnte nur eine Art von Magie gewesen sein. Was hatte das zu bedeuten?

So schnell es seine Gedanken zuließen, drängte er alles, was mit der mysteriöse Stimme zu tun hatte, zurück in sein Unterbewusstsein und schloss sie an einem Ort ein, wo nur er den Schlüssel dazu hatte.

Der Prinz schwang sich auf den Rücken seines Pferdes, überquerte den Fluss erneut und ließ Sam am anderen Ufer angaloppieren; ein Versuch, die Gedanken mit dem Wind aus dem Kopf fliegen zu lassen. Es hatte nur wenig Nutzen.

Zu der Stimme kam auch noch die Begegnung im Wald dazu. Dieses barfüßige Mädchen blieb für ihn ein einziges Rätsel. Robin hatte ihre Überraschung gesehen, als sie sich in seinen Armen wiederfand, ihre Scheu und auch ihren Zorn. Sie hatte Kletten von Gräsern im Haar gehabt, ihre Sachen waren alt und verschlissen gewesen, der braune Rock voll Gras- und Erdflecken – nichts anderes hätte besser zu ihr passen können.

Ihre Augen waren wie das Fell eines Rehs gewesen, ihr Haar so schimmernd und schön, dass er nur schwer den Drang unterdrücken gekonnt hatte, hineinzugreifen.

Nie hatte etwas Unperfektes so viel Schönheit in seinen Augen besessen.

Robin dachte darüber nach, was er alles über sie wusste. Sie lebte mit einem Mann zusammen, der das einsame Leben im Wald dem in der Stadt vorzog, vielleicht ihr Vater oder ein anderer Verwandter. Dieser kannte sich mit Medizinen und Heiltränken aus und verdiente sein Geld als Bader. Manche aus der Stadt und den umliegenden Dörfern suchten ihn bei Gebrechen aller Art auf oder warteten, bis er zum Markt kam. Andere sagten, er wäre ein Hexer. Solch Gerede war Robin egal. Er hatte im Moment nur Interesse an dem Mädchen. Er kannte nicht einmal ihren Namen, eins stand jedoch für ihn fest: dieses Mädchen wusste weitaus mehr, als sie selber zugeben gewollt hatte.

Sie war jünger wie ich, keinesfalls älter. Wenn sie also die Augenfarbe meiner Mutter kennt, muss ihr dies entweder jemand, der meine Mutter selbst gut kannte, erzählt haben oder…

Fast verlor Robin die Balance bei seinen nächsten Gedankengängen, die er nur mühsam bremsen konnte, ehe sie eine ungeahnte Geschwindigkeit annehmen konnten.

Wie betäubt zügelte er Sam. Oder sie ist meiner Mutter begegnet. Aber das würde ja bedeuten… Der Prinz starrte in den fernen Horizont, traute sich nur zögerlich, das Gedachte zu Ende zu denken. …dass meine Mutter vielleicht noch lebt.


Rabenhall lag, von einem dichten Wald im Norden gesäumt auf einem Felsmassiv, das einen meilenweiten Blick über die ebene Landschaft bot. Von weitem sah man die schiefergedeckten Dächer und die Türme in den Himmel ragen. Flaggen wehten an den höchsten Turmspitzen, deren Farben im Sonnenlicht nur zu erahnen waren. Zu den Füßen der Königsfeste schmiegte sich die Hauptstadt Elanmors.

Robins Vater regierte über ein großes und fruchtbares, von reichen Flüssen durchzogenes Land. Den Menschen ging es gut. Vor allem die Landwirtschaft bot ihnen ein ertragreiches Leben. Die meisten verdienten als Bauern auf kleinen Gehöften ihren Lebensunterhalt. Die Wälder waren wichtig für die Holzbeschaffung und boten seinem Vater regelmäßig ausgedehnte

Jagdeskapaden mit befreundeten Fürsten und Vasallen.

Ohne einen Gruß abzuwarten nickte Robin im Vorbeireiten den Wachen am südlichen Stadttor zu und fühlte ihre Blicken ihm nachstarren. ,,Eure Hoheit…“, rief ihm einer der Männer hinterher, ,,verzeiht mir, aber Ihr wart ohne Geleitschutz…“

,,Der ist schon da. Mein Fehler. Hab getrödelt“, erklärte Robin knapp und verschmolz mit den Menschen im täglichen Gewimmel der Hauptstraße. Dass er erneut alleine außerhalb der Burgmauern unterwegs war, würde von den Wachen nicht mehr zu seinem Vater getragen werden. Man hatte sich daran gewöhnt, dem Prinzen gewisse Freiheiten zu lassen.

Robin hielt sich nicht lange in der engen, stickigen Stadt auf. Er schlug den direkten Weg nach Rabenhall ein und passierte wenig später genauso unbehelligt das kleinere Nordtor.

Während Sam am langen Zügel den Waldweg zur Feste hinauf trabte, nahm Robin sich vor, noch heute mit seinem Vater zu sprechen. Wenn jemand Antworten wusste, dann würde er es sein. Und diese bräuchte er dringend oder er käme an diesem Tag gänzlich um den Verstand.

Vor der Burgmauer wurde ein Reh gehäutet. Daneben lag ein weiteres bereits auf einer Trage, umringt von neugierigen Küchenjungen. Osberth war also zurück von der Jagd.

Sein Pferd nahm allein seinen Weg zum heimatlichen Stall. Sofort kam der Stalljunge zu ihm, um Sam in Empfang zu nehmen.

,,Guten Tag, Eure Hoheit!“

,,Tag, Oliver.“ Robin stieg ab und strubbelte dem Jungen durch das rote Haar. ,,Kümmere dich gut um ihn.“

,,Könnt Euch auf mich verlassen, Herr.“

,,Gewiss doch.“ Sein Lächeln verschwand, als sein Blick auf den großen Rappen fiel, der angebunden unter dem Vordach stand. Offenbar war wohl Oliver gerade mit ihm fertig geworden. Der kleine Kerl, der kaum an die Rücken der Ritterpferde kam, machte seine Sache stets gut. Er war fleißig und ging mit den Tieren gewissenhaft um, wodurch der Prinz ihn und sein Fachwissen sehr schätzte. Außerdem waren in gewissen Situationen ein zweites Augen- und Ohrenpaar sehr nützlich.

Der Junge schien seine Gedanken erraten zu haben. ,,Der junge Lord Morris sah verärgert aus, Herr. Ist durch das Tor geprescht, als wäre ein Dämon hinter ihm her.“

,,Wo ist er jetzt?“

,,Hat sich in die Burg verzogen. Der Bastard von Alois war bei ihm.“ Oliver streichelte Sam die Nüstern, der dies mit hängenden Ohren genoss. ,,Wenn der Hauptmann herausbekommt, dass er sein Pferd so geritten hat… Oweija. Das riecht nach Ärger, wenn Ihr mich fragt.“

,,Ärger kriegen wird er. So oder so“, versicherte Robin seinem Freund und wollte sich daran machen, seine Sachen vom Sattel loszumachen. Da bemerkte er, dass er alles beim Lagerplatz liegen gelassen haben musste. Musste er jetzt zu allem Überfluss wirklich zurück reiten?

,,Echt? Was hat er den angestellt?“ Der Stalljunge bemerkte den grimmigen Blick des Prinzen und interpretierte das falsch. ,,Oh. Tut mir leid, Mylord. Ich wollte nicht neugierig sein.“

,,Schon gut, Olli“, seufzte Robin. ,,Das Ganze ist verflixt kompliziert.“

,,Erfolgreich gewesen?“

Robin drehte sich zu Wotan um, der am Balken des Unterstandes lehnte. ,,An die Arbeit, Olli.“ Er hätte es gar nicht sagen zu brauchen. Sams Hintern verschwand schon im Stall.

,,Einigermaßen.“ Der junge Prinz mochte es nicht sonderlich, Befehle den Menschen zu erteilen, die er mochte, doch es war notwendig seinen Freund vorhin wegzuschicken.

Sie hätte sonst nie mit ihm gesprochen.

,,Klingt ja toll.“

Er bemerkte die Satteltaschen und die Schwertscheide, die Wotan dabei hatte und ihm nun stumm hin hielt. Dankbar nahm er sein Zeug entgegen und warf sich die Taschen über die Schulter.

,,Und das Mädchen?“

Robin schüttelte den Kopf. ,,Im Wald verschwunden.“

,,Gut.“ Sein Freund trat einen Schritt näher und beugte sich,

ohne die Umgebung aus den Augen zu lassen, zu dem Prinzen.

,,Du hast dir einen Feind gemacht, Robin.“

,,Ja, ich weiß.“

,,Wotan! Wo steckst du schon wieder?“, lenkte sie ein Ruf ab,

der quer über den Burghof ging. ,,Den ganzen Morgen wie ein Junge in den Feldern rumspielen und jetzt das? Glaubst du, die Arbeit macht sich von allein?!“

,,Geh dem Arsch in der nächsten Zeit lieber aus dem Weg.“ Robin sah ihm nach, wie er in betont langsamen Tempo die Schmiede ansteuerte und wie der alte Schmied purpurrot im Gesicht wurde.

,,Mylord, nehmt ihr mich auch mal mit?“ Oliver tauchte wieder an seiner Seite auf.

,,Wohin mitnehmen?“ Ratlos zuckte der Junge mit den Schultern. Robin sah in seinem sommersprossigem Gesicht die Verlegenheit.

,,Weiß nicht“, antwortete er. ,,Irgendwohin, wo man Abenteuer erlebt. Hier ist es manchmal so öde.“

,,Wenn das so ist, dann sollte ich dich wohl besser zu meinem Knappen machen, ehe du mir vor Langweile noch desertierst.“ Robin zwinkerte dem Jungen zu und genoss das Lächeln, das er ihm gezaubert hatte.


Als er über die ausladenden Treppenstufen durch das Eingangs-portal in die Vorhalle kam, übergab er meine Sachen einem Lakaien mit der Bitte, sie in seine Gemächer zu bringen. Später würde er diese wegräumen, sich frisch machen und auch etwas anderes anziehen. So wie er war wollte Robin seinem Vater nicht unter die Augen treten.

Doch es reichte, um jemand anderes zur Rede zu stellen.

Stimmen und Geräusche aus dem Obergeschoss wurden über die Empore von seinen Ohren eingefangen und eine leichte Welle der Wut begann erneut in ihm zu schäumen.

Über die Treppe gelangte Robin auf den oberen Flur. Am anderen

Ende des großen Raumes, der sich vor ihm eröffnete, sah er das

Kaminfeuer hell und lodernd brennen.

Wie angenommen fand er die beiden im leeren Saal.

Auf seinem Hosenboden sitzend kraulte Krätze einem der Hunde seines Vaters den Kopf. Das kleine Rudel lag nach der Jagd zwar erschöpft, jedoch zufrieden auf dem Steinboden und leckten sich die Lefzen, nachdem sie wie üblich ihren Teil der Jagdbeute abbekommen hatten, während auf einer der langen Tafeln, die rechts und links im Saal standen, Micael saß.

Wie selbstverständlich hatte er die Füße samt Stiefel auf dem

Stuhlpolster vor sich abgelegt und hielt ein schwarzhaariges Mädchen auf dem Schoß. Sein Arm lag um ihre Taille, die andere Hand streichelte ihre Wange und Hals. Robin konnte ihr Gesicht nicht sehen, sie versteckte ihre Augen hinten ihrem Haar, doch er erkannte sie als eine der Küchenmägde wieder.

Unwillkürlich ballte er die Fäuste. Die Hunde wurden auf ihn aufmerksam. Ihr Rudelführer begann zu knurren, doch als sie den Prinzen erkannten, legten sie die Köpfe gleichgültig wieder ab.

Robin trat in den Saal ein und ging auf Micael und seine neuste Errungenschaft zu. Das Mädchen sah ihn kommen und wollte der ihr peinlichen Situation entfliehen, doch Micael hielt sie bei sich, schloss die Hand besitzergreifend um ihr Genick und vergrub die Nase in ihrem Haar.

Erst als ich Robin sich vor ihm aufbaute, schaute er auf.

,,Sieh an, der verlorene Sohn ist heim gekehrt. Hast du dich gut

mit der Hexe amüsiert?“

Sofort stachen ihm die aufgeplatzte Lippe und die Verfärbung am Kinn ins Auge, die vorhin noch nicht da waren. Offenbar war Micael schon seinem Vater über den Weg gelaufen.

Robin spürte, wie seine Ohrenspitzen bei seinem Hohn zu glühen begannen. ,,Ich habe mit dir zu reden.“ Dann sah er das Mädchen an. Sie verstand den Wink und wollte schleunigst verschwinden. Stattdessen drehte Micael ihr Gesicht zu sich und sah sie durch seine dunklen Wimpern mit einem Blick an, den er nicht deuten konnte. Sie senkte die Augen und gab ihm einen Kuss, den innig und intim wirkte. War sie etwa doch freiwillig bei ihm? Das Ganze wurde Robin schleierhaft.

Die jungen Männer sahen ihr nach, wie sie sich eilte, in die angrenzende Küche zu flüchten. Als die Tür hinter ihr geschlossen war, richtete Robin das Wort wieder an den Mistkerl ihm gegenüber.

,,Du gönnst mir aber auch gar keinen Spaß heute“, seufzte dieser ihm zuvor und setzte sich bequemer hin.

,,Spaß? Das eben nennst du Spaß?“ Diesmal war er endgültig zu weit gegangen. ,,Ich werde berichten, dass du ein wehrloses Mädchen fast zu Tode gehetzt hast.“

Völlig gleichgültig sah er ihn an, wofür Robin ihn am liebsten erwürgen wollte. ,,Welches Mädchen? Ich sah nur eine Hure.“

Hinter seiner Stirn explodierte irgendetwas. Abermals krallten sich seine Hände in seinen Kragen, zogen ihn vom Tisch und stellte ihn vor ihm auf die Füße. Im Raum hörte man das Knurren der Meute, während Robin ungeachtet dessen ihn immer noch festhielt, so sehr, dass seine Knöchel weiß wurden und bebten.

Doch Micael schien all das nicht zu interessieren.

,,Ich bekomme sie noch, Robin“, flüsterte er. ,,Wart‘s nur ab.“

Sein Blick erdolchte ihn. Seine Kehle war in diesem Moment wie zugeschnürt. Irgendetwas in ihm sagte ihm, dass er diese Drohung wahr machen würde. In seiner Brust verengte es sich schmerzhaft. Niemals würde er zulassen, dass er sie bekommen sollte. Er kannte ihren Namen nicht, weiß nichts über sie, aber er würde alles daran setzen, sie vor Micael zu schützen.

,,Hast du nicht gesehen, wie hübsch sie war?“

Seine ruhige Stimme ließ mich die Situation wieder erkennen, in

der sie sich immer noch befanden. ,,Ja, sie war hübsch“, konnte er durch die Zähne hinaus pressen. Bildhübsch, fügte eine kleine Stimme in einem Innerem hinzu, die seine Gedanken abermals zurück in den Wald schweifen und sein Herz noch ein paar Takte schneller schlagen ließen, als es ohnehin sollte.

Auf Micaels Lippen bildete sich ein Schmunzeln, als hätte er es

gemerkt. ,,Verrat mir, wie viele Mädchen du schon im Bett hattest.“

Er schwieg und das Schmunzeln wandelte sich in ein allwissendes, dreckiges Grinsen. ,,Ach, so ist das also. Wie süß.“

Hart stieß er ihn weg. ,,Ich würde dir gleich noch eine verpassen, wenn ich nicht schon gesehen hätte, dass dein Vater mir zuvor gekommen war!“

Bei der Erwähnung verschwand sein Grinsen augenblicklich.

,,Keine Bange. Bin ganz anderes gewöhnt“, gab er grimmig als Antwort und rieb sich den Hals. ,,Und das alles nur wegen seinem Gaul und einer Hexe.“

Allermiert wurde Robin hellhörig. ,,Was hast du ihm erzählt?“

Er ahnte Schlimmes. Was hatte er ihm gesagt, und was viel wichtiger war: Wie viel davon entsprach der Wahrheit?

Was würde Morris jetzt tun? Seinem Vater davon berichten? Gewiss. Aber dann? Er fühlte, wie ihm unweigerlich kalt wurde.

,,Kleinigkeiten.“

,,Hör auf mit deinen Spielchen, Micael! Ich meine das ernst!“

,,Da irrst du dich, Robin.“ Er kam ihm nah – zu nah, sah ihm direkt in die Augen. Die wenige Luft zwischen ihnen brodelte vor zurückgehaltener Beherrschung.

,,Ich habe noch gar nicht angefangen, zu spielen.“

Robin erkannte meinen alten Freund, der Micael tatsächlich einmal gewesen war, nicht mehr wieder. Zusammen mit ihm war er großgeworden. Doch sie waren längst keine Kinder mehr.

Wie konnte ein Mensch so besessen von seinem Ehrgefühl sein? Seine Worte von vorhin hallten in seinem Kopf wieder:

Das wirst du noch bereuen, Mischling.

Er hatte schon lange den Respekt verloren. Das und seine offene Drohung ihm gegenüber jetzt machten ihn unheimlich wütend und drohten, das Fass zum Überlaufen zu bringen.

,,Du vergisst, mit wem du sprichst.“

,,Durchaus nicht, Eure Hoheit.“ Er sah ihm noch einen Augenblick in die Augen, ehe er einfach, mit anrempelnder Schulter an ihm vorbei ging und den Saal verließ. Hinter ihm her; sein Anhängsel Krätze, der den Prinzen im Vorbeigehen noch lange ansah.

Als die Beiden weg waren, atmete Robin tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. Ein Räuspern in seinem Rücken ließ jedoch keine Zeit dafür.

Einer der Diener stand im Türrahmen, eine Hand vornehm hinter dem Rücken verschränkt, und machte eine Verbeugung.

,,Mylord, Euer Vater lässt nach Euch rufen. Er erwartet Euch in seinem Arbeitszimmer.“

,,Habt Dank. Ich werde mir etwas anderes anziehen und ihn dann aufsuchen.“

,,Oh.“ Der ältere Herr musterte ihn und zog etwas pikiert die

Nase hoch. ,,Nun ja, Euer Gnaden erteilte den Befehl, Euch sofort

rufen zu lassen, sobald ihr Daheim seid.“

,,Ich verstehe“, lenkte er ein, um dem Mann keinen Tadel einzuhandeln. ,,Lasst meine Aufmachung ruhig meine Sorge sein.“

,,Mylord.“ Der Grauhaarige machte abermals eine Verbeugung ganz nach Etikette und entfernte sich.

Innerlich seufzte Robin. Nun denn.

Hoffentlich konnte sein Vater ihm Antworten geben. Er musste

herausfinden, was Micael berichtet hatte. Und dann war da ja

noch die Sache mit seiner Mutter… Für diesen Tag hatte er nur

noch minimale Hoffnungen auf Besserung.

Vorbei an der Treppe ging der Prinz den Flur in die entgegengesetzte Richtung hinab und bog in einen langen Korridor ein. Mit schnellen Schritten, damit er seinen Vater nicht noch länger warten lassen musste, ging er an den Bleiglasfenstern entlang, die zu seiner Linken Sonnenlicht hinein ließen und die Kälte vertrieb, die die alte Steinfeste von Natur in sich trug.

Es musste irgendetwas Wichtiges sein, wenn sein Vater

unverzüglich nach ihm rufen ließ. Robin zermarterte sich den Kopf. Nicht gerade das Beste für seine Laune.

Er war so in Gedanken versunken, dass er die Person, die ihm

entgegen kam, zuerst gar nicht wahrnahm.

,,Eure Hoheit, wie ich sehe seid Ihr zurück. Wir haben uns bereits über Eure Verspätung Sorgen gemacht.“

Er war eigentlich der Letzte, den er an diesem verkorksten Tag noch sehen wollte. Er ließ sich davon nichts anmerken und nickte ihm zu. ,,Hauptmann Morris.“

Ganz in schwarz gekleidet stand er vor ihm und der Flur schien plötzlich zu eng zu werden. Er trug eine schwarze Hose und eine lederne Jacke. Der Schwergurt saß tief auf seinen Hüften, die zu seiner, von Kampf trainierte Figur passten. Seine Haare waren noch tiefschwarz, sein Bart begann an Stellen bereits silbern zu werden. Er war ein guter Kämpfer, der exzellent mit dem Schwert umzugehen wusste. Die Soldaten befehligte er mit eisenharter Hand, forderte von den Männern absoluten Gehorsam, den er sich wenn nötig holte.

Manchmal auf seine ganz eigene Art.

Diese Woche hatte er einen Mann auf dem Innenhof vor den Augen seiner Kameraden unvorhergesehen hinrichten lassen. Sein Vater und er waren dabei gewesen. Dieser schätzte ihn aus Gründen, die Robin nicht verstand. Früher als Kind hatte er Angst vor diesem Mann gehabt und er dankte den Göttern, dass nicht er sein Kampftraining übernommen hatte. Heute fühlte er eine unerklärliche Abneigung, die tief ihre Wurzeln hatte.

Doch am gefährlichsten war Morris, wenn er nichts sagte.

,,Ich kann Euch versichern, dass Sorge unbegründet war“, hielt er ein Gespräch eher gezwungenermaßen aufrecht, während

Morris wie aus Stein vor ihm stand und zuhörte.

,,Ich musste erst noch etwas geraderücken, was Euer Sohn verursacht hat. Und Ihr könnt unbesorgt sein. Im Ernstfall weiß ich mich zu verteidigen.“

Kaum merklich hob sich sein Mundwinkel, als würde es ihn amüsieren. Seine Augen schauten ihn mit ihrer dunklen Iris an und er musste an die Höllendämonen aus den Schauermärchen denken, die man ihnen als Kindern früher erzählt hatte.

,,Wo wir gerade von ihm sprechen… Mein Sohn kam mit einer

blutigen Nase zurück. Könnt Ihr Euch das erklären, Mylord?“

Robin erwiderte seine Kälte, die er verströmte, und hielt seinem bohrenden Blick stand. ,,Ihr vergesst, dass wir zum Tainieren ausgeritten waren. Da ist eine blutige Nase keine Seltenheit, wie Ihr als Soldat und Vorgesetzter sicherlich am besten wisst. Doch Euer Sohn ist in letzter Zeit überaus tollkühn wie ein junger Hund. Ihr solltet besser ein Auge auf ihn haben.“

,,Wie Ihr befiehlt“, sagte er gewissenhaft.

,,Als ich ihn jedoch soeben traf, gesellten sich zu der blutigen Nase auch eine aufgesprungene Lippe dazu. Könnt Ihr Euch das erklären, Hauptmann?“, echote Robin ihn, obwohl er die Antwort bereits wusste.

,,Wie Ihr schon sagtet, Mylord“, sein angedeutetes Schmunzeln verschwand und ihm kroch eine leichte Gänsehaut über die Arme. ,,Ein junger Hund. Und überaus tollkühn. Er muss erst noch lernen, wo sein Platz ist.“

,,Dann wird es wohl so sein.“ Die Worte hinterließen einen bitteren Nachgeschmack. ,,Würdet Ihr mich entschuldigen, mein Vater wartet sicherlich schon.“

Er machte eine knappe Verbeugung, ging den Flur hinab und nahm die Kälte mit. Robin schüttelte den Kopf und sich selbst ein wenig mit.

Wenige Schritte weiter fand er sich vor der Tür des königlichen Arbeitszimmers wieder. Um mich so gut wie es ging ansehnlicher für den König Elanmors zu machen, klopfte er den Staub von seiner Hose, strich das ärmelloses Wams glatt und versuchte sein weißes Hemd von Pferdehaaren zu befreien. Eilig fuhr er mit den Fingern durch seine Haare, um den wüsten Strähnen entgegenzuwirken. Ein Blick auf seine Stiefel und sein Optimismus verflüchtigte sich. Dreckig wäre eine Untertreibung. Doch in Socken konnte er seinem Vater schlecht entgegentreten und so blieb ihm nur noch Zeit, mit den Händen über die Stiefeloberseite zu wischen, und zu hoffen, dass er seinen Füßen keine plötzliche Aufmerksamkeit entgegen bringen würde.

Robin atmete noch einmal durch und klopfte schließlich in der Hoffnung, endlich Antworten zu bekommen.

,,Herein“, kam eine Stimme aus dem Inneren und er trat ein.





Kapitel 6


Darf ich bei Euch bleiben?“, waren meine ersten paar Worte für die ich meinen ganzen Mut zusammen nehmen musste nach einer langen Zeit des Schweigens, in der ich wie Ballast nur hinterher gezogen wurde. Und genauso fühlte ich mich auch. Wie etwas, wofür man keine Verwendung hatte, was man nicht mehr haben wollte und loswerden musste.

Noch nie war ich so traurig gewesen. Mein ganzer Körper tat mir weh, aber am meisten meine Brust, wenn ich die Hand darüber legte. Meine Mutter fehlte mir so sehr.

Die Mamsell merkte nicht, dass ich weinte. Ihre Stimme war immer laut, schallte mir tadelnd in den Ohren, wo andere mich vielleicht getröstet und in den Arm genommen hätten.

,,Damit ich mich auch noch um ein Bastardmädchen kümmern muss? Wo denkst du eigentlich hin? Ich hab Zuhause selbst ein Arsch voll Kinder, die ich ernähren muss. Was wird mein Mann sagen, wenn ich ein fremdes Balg anschleppe? Sei froh, dass ich dich nicht ins nächstgelegene Waisenhaus bringen lasse.“

,,A-aber ich k-kann doch arbeiten. In der Küche.“ Ich stolperte über einen Ast. Auf den Beinen hielt mich ein Ruck an meinem Arm, der mich schmerzhaft aufstöhnen ließ, mich unerbittlich

weiter zog. Es dunkelte schon und wurde immer kälter.

Die Bäume um uns waren wie mit Tinte gefärbt. Überall schwarze Schatten. Ein Windstoß machte plötzlich ein schrecklich heulendes Geräusch.

,,Komm weiter!“

Meine Mutter hätte mir gesagt, dass ich keine Angst zu haben bräuchte, dass das nur der Wind wäre, aber von der Mamsell erwarte ich so etwas nicht.

Meine Mutter war heute Morgen einfach nicht mehr aufgewacht.

Ich dachte, sie schlief noch und krabbelte zu ihr ins Bett, aber als

ich mich an sie kuschelte war ihr Körper ganz kalt. Ich legte die Decke höher an ihren Hals, der noch ganz verschwitzt war, damit sie nicht fror. Die letzten zwei Tage hatte Mutter hohes Fieber gehabt und war die ganze Zeit im Bett geblieben.

Sie hustete und schrie manchmal auf. Ich hatte Angst um sie, doch sie strich mir über den Kopf, so wie sie es immer machte, und sagte, dass ich keine Angst haben bräuchte und dass ich niemals allein wäre.

Dann machte sie die Augen zu und schlief wieder ein.

Weil ich sie nicht allein lassen wollte, blieb ich bei ihr liegen.

Mir gefiel die Vorstellung, den ganzen Tag im Bett zu bleiben.

Das hatten wir noch nie gemacht.

Allmählich bekam ich aber Hunger und als ich es kaum mehr aushielt, tapste ich mit nackten Füßen und bloß im Nachthemd durch die Kammer und suchte dort nach etwas zu essen, als plötzlich eine Frau in unser Haus kam. Das war die alte Zofe, die Mamsell Talgrund. Sie war groß und dick und garstig.

Mutter sagte, dass sie sich aufspielt, nur weil sie für die Bediensteten in der Burg verantwortlich war. Wenn sie ganz früh morgens, wenn es meist noch dunkel war hoch zur Burg ging, um für den König zu arbeiten, nahm sie mich immer mit. Ich blieb dann mit den anderen Kindern in der Ofenecke der Küche und wir bekamen Hirsebrei von einer der Köchinnen als Frühstück und

halfen dann mit Gemüse schälen.

,,Was ist hier passiert?“

Ich legte den Zeigefinger auf die Lippen. ,,Psst. Mutter schläft.“

,,Um diese Tageszeit?“

Ich machte ein böses Gesicht. Nie sprach sie leise! Immer polterte sie drauf los!

Die Zofe guckte auf einmal ganz erschrocken und kam zum Bett

hinüber. ,,Grundgütiger…“ Sie sah aus, als fürchtete sie sich vor

etwas und bekreuzigte sich mehrmals hintereinander.

,,Friede sei mit dir, Helen.“ Sie faltete die Hände und ihr Blick fiel auf mich. Dann zog sie mich mit sich zu Boden, wo ich mich hinknien musste. ,,Bete, Kind! Bete für ihre arme Seele.“

Ich faltete die Hände, so wie Mutter es mir gezeigt hatte, aber ich musste nicht, warum ich das tun sollte.

Es wurde so komisch still, bis schließlich die Mamsell sagte: ,,Deine Mutter ist jetzt bei den Engeln des Herrn, Kind.“

Verständnislos sah ich sie an. ,,Aber sie ist doch noch hier“, erklärte ich und zeigte auf sie.

,,Dummes Mädchen! Sie ist entschlafen. Deine Mutter ist tot.“

Aber… Das war nicht wahr! Meine Mutter konnte nicht tot sein, weil… weil sie doch meine Mutter war!

Wie konnte sie so etwas sagen?

,,Rühr dich nicht von der Stelle!“ Damit verließ sie eilig unser Haus. Wie ein Häufchen Elend blieb ich allein mit Mutter zurück. Langsam stand ich wieder auf und sah sie an. Sie sah aus, als würde sie schlafen. Ganz blass. Als hätte sie gar keine Schmerzen mehr. Wie eine Puppe. Eine schöne Puppe.

Nach kurzer Zeit kam die Mamsell bereits zurück und fragte mich, wo meine Sachen wären. Ich zeigte auf die Truhe vor meinem Bett und sie klappte den Deckel auf, zog Anziehsachen von mir heraus. ,,Komm, beeil dich.“

Irritiert sah ich sie an, wusste nicht, was sie von mir wollte. Mit einem genervten Geräusch packte sie mein Nachthemd und zog es mir kurzerhand einfach über den Kopf. Nackt wie ich war fühlte ich mich bloßgestellt und schlang mir meine Arme um meinen Körper. Ich musste mich allein anziehen, während die Mamsell ein Tuch ausbreitete, worin sie andere Sachen von mir legte und es dann zuknüpfte. Was sollte das? Was passierte jetzt?

Als ich mich grade fertig angezogen hatte, kam ein Mann in einem schwarzen Kleid und einer Kreuzkette ins Haus und deckte meine Mutter mit einem weißen Tuch zu. Auch andere Leute folgten ihm und traten zu ihr. Manche streichelten mir traurig

über den Kopf, doch ich verstand das alles nicht. Niemand erklärte es mir. Es war, als sah und hörte ich alles, konnte aber nicht reagieren. Als war mein Köper auf einmal wie Luft.

Ich wusste nicht, was jetzt geschehen sollte und wurde allein gelassen, obwohl so viele Leute da waren und wir alle um das Bett herum standen und schon wieder beteten.

Und allmählich realisierte ich, dass es stimmen musste.

Dass meine Mutter nie mehr aufwachen würde.

,,De profundis clamavi ad te Domine…“


Als ich aus dem Haus gezerrt werden musste, weinte und schrie ich mir die Kehle heiser. Erst eine Ohrfeige auf offener Straße brachte mich zum Schweigen.

,,Ich bringe dich zu jemandem, der dich deiner annimmt“, war das Letzte, was die Mamsell von sich gegeben hatte, ehe wir die Stadt verließen. Menschen, die auf den Feldern arbeiteten, sahen uns nach, wie wir auf den Wald zusteuerten, vor dem ich mich immer gefürchtet hatte.

Ein weiterer Ruck an meinem Arm ließ mich aus meinen Gedanken aufschrecken und anhalten. Durch die Dunkelheit konnte ich kaum noch etwas erkennen, aber ich sah Lichter, die warm und mitten im Wald schienen. Irgendwie musste ich an die Elfen und an die Faun denken, von denen mir Mutter immer Geschichten erzählt hatte.

Eine Tür öffnete sich auf einmal im Nichts. Eine Gestalt erschien, in der Hand ein langer Stock. Erschrocken wollte ich zurück weichen, aber die Frau hielt mich mit ihrer groben Männerhand wie in einem Schraubstock fest.

,,Ich bringe dir Helens Tochter“, begann sie sofort ohne eine Begrüßung, was ich sehr unhöflich fand.

,,Helen… Was ist mit ihr?“, fragte der Fremde, der die Mamsell

wohl zu kennen schien. Aber woher kannte er meine Mutter?

Wer war das? Da das Licht aus seinem Rücken kam und ihn in

einen schwarzen, gesichtslosen Umriss verwandelte, konnte ich

ihn nicht erkennen,

,,Sie ist tot. Die Seitenkrankheit wahrscheinlich.“

,,Was sagst du da? Ist das wahr?“

Ich sollte nicht hier zwischen ihnen stehen, wollte mich am liebsten verstecken und nie mehr herauskommen.

,,Was glaubst du, warum ich hier mit ihrem Gör stehe?“

Nun reckte der Fremde eine Laterne und sah direkt in meine Richtung. Mir wurde bang, wollte mich aber nicht an die Mamsell drücken, weil ich mich das nicht traute. Ich hatte Angst, dass sie mich wieder schlagen würde.

,,Wieso hat sie nicht nach mir rufen lassen?“, fragte er nun so leise, sodass ich ihn kaum verstehen konnte.

,,Ein Fieber hat sie in nur zwei Tagen dahingerafft. Sie schien

gewusst zu haben, dass selbst du ihr nicht helfen kannst. Willst du

sie nun oder nicht?“

,,Natürlich will ich sie! Wie kannst du so etwas noch fragen? Das bin ich Helen schuldig, trotz allem. Und jetzt verschwinde von hier, elendige Furunkel, ehe ich dir Beine mache!“ Mit diesen Worten packte er den Stock fester und die eingeschüchterte Mamsell mich, drehte mich eilig an den Schultern zu sich.

,,Du hast gehört. Sei artig und höre auf deinen Onkel.“

Onkel?! Dieser Mann war mein Onkel?

,,J-ja, M-mamsell“, konnte ich von mir geben und nahm mein Bündel entgegen. Es gab keine Umarmung oder dergleichen als Abschied. Sie sagte einfach ,,gut“, sah ein letztes Mal zu diesem Fremden dort drüben, der also mein Onkel sein sollte, und ging dann einfach. Ließ mich allein im Wald zurück.

Obwohl sie so gemein zu mir war, wollte ich ihr nachlaufen,

wollte zurück nach Hause. Ich konnte mich aber nicht von der

Stelle bewegen und hörte, wie der Mann immer näher kam und schließlich hinter mir stand, mit tiefer Stimme meinen Namen sagte: ,,Ina.“

Ich traute mich nicht, mich umzudrehen, sondern nickte nur, um

ihm zu zeigen, dass ich das auch war.

,,Dir muss schrecklich kalt sein.“

Trotzig schüttelte ich den Kopf, wollte nichts mit diesem Fremden zu tun haben. Alles, was ich wollte, war wieder bei Mutter sein.

Meine klappernden Zähne mussten mich jedoch verraten haben,

denn die alten Lumpen, die mir die Mamsell rausgesucht hatte, wärmten kaum. Stoff und Leder raschelten leise und ich sah im Augenwinkel, dass er sich neben mich hockte. Mit einem metallischen Quietschen wurde die Laterne neben uns abgestellt.

Neugierig drehte ich nun doch den Kopf und sah sie mir an, denn so eine Laterne hatte ich noch nie gesehen. Die Fenster waren mit blauen Schnörkeln durchzogen, ließen das Kerzenlicht bläulich schimmern. Es sah wunderschön aus.

,,Ich heiße Amelius. Aber du kannst zu mir auch Onkel sagen, wenn du das magst.“

Langsam sah ich ihn an. Er hatte keine Haare auf dem Kopf, dafür einen braunen, kurzen Rauschebart. In seinem linken Ohr hing ein silberner Ring, aber so furchterregend sah er gar nicht mehr aus. Im Gegenteil. Er lächelte sogar richtig lieb.

,,Lass dich mal anschauen.“ Sanft legte er mir große Hände auf die Schultern, die darunter verschwanden, um mich von Kopf bis Fuß zu mustern. ,,Du siehst aus wie ihr Ebenbild...“ Ein wehmütiger Ausdruck hing sich an seine Mundwinkel. In seinen Augen begann es zu schimmern.

,,Nun gut“, umständlich räusperte er sich, ,,du brauchst auf jeden Fall noch Speck auf den Rippen. So ein dürres Kind kann ja keiner mit ansehen.“ Er kniff mir in die Wange, sodass ich unweigerlich grinsen musste. Er jedoch sah sehr traurig aus, weshalb mein Lächeln ebenfalls wieder verschwand.

,,Wie die Zeit doch vergangen ist… Als ich dich das letzte Mal sah, trugst du noch Windeln. Weißt du…ich hatte lange Zeit Streit mit deiner Mutter. Deshalb waren wir lang nicht gut aufeinander zu sprechen. Nun gut“, wiederholte er unbeholfen, als wüsste er nicht, was er sagen sollte, ehe sein Blick auf mein Bündel fiel. ,,Zeig mal, was du da mitgebracht hast.“

Ich hielt es ihm hin, was in seinen Händen winzig aussah.

,,Und was ist da drin?“

,,Meine Sachen.“

,,So wenig?“

Ich zuckte mit den Achseln. ,,Mehr hat mir die Mamsell nicht

eingepackt.“

,,Verstehe. Es wird sich sicherlich etwas Besseres für dich finden.“ Er gab es mir zurück, was ich sehr nett fand, dass er es nicht behielt. ,,Und was hast du da?“ Geradezu behutsam nahm er meinen Arm und schob den zerrissenen Ärmel beiseite. Ich sah genau wie er die blauen Flecke und zuckte mit den Achseln, konnte ihm auf einmal nicht mehr ins Gesicht sehen.

,,Die Mamsell hat mich festgehalten...“

,,Die kommt nicht mehr wieder und die hässlichen Flecken da werden auch wieder weggehen. Ich verspreche dir, dass sie dir nie wieder weh tun wird. Und falls doch“, er nahm seinen Stock neben sich auf und wog ihn in der Hand, ,,dann ziehe ich ihr hiermit eins über. Darauf kannst du dich verlassen.“

Ich kicherte. Mir gefiel mein neuer Onkel immer besser.

,,Darf ich etwas zu trinken haben, bitte?“, fragte ich und ein breites Lächeln erschien nun inmitten des wüsten Bartes.

,,Natürlich, meine Kleine. Ich habe gerade eine Kanne heißen Apfeltee über dem Feuer. Magst du so etwas?“

Eilig nickte ich, hatte ich doch seit gestern nichts mehr gegessen. Mein Magen hing mir an den Knien und machte sich lautstark bemerkbar. Schnell legte ich mir eine Hand darüber.

Mein Onkel lachte, als er das hörte. ,,Und Hunger scheinst du mir auch zu haben. Herrje, so ein lautes Knurren aus so einem kleinen Bauch. Bist du sicher, dass du keinen Bären verschluckt

hast?“

,,Nein!“, rief ich lachend und schlang die Arme um mich.

,,Das ist gut, denn gegen einen Bären würde ich mich ordentlich ins Zeug legen müssen, aber gegen Hunger lässt sich natürlich was machen.“ Er zwinkerte mir zu.

,,Na dann komm, kleine Ina.“ Er stand auf, nahm die Laterne in die eine und streckte mir seine andere Hand entgegen. Zögerlich nahm ich sie und drückte meinen Beutel ganz fest an meine Brust.

,,Ich werde mich von jetzt an um dich kümmern. Du brauchst keine Angst mehr zu haben, mein Kind. Bei mir wirst du in Sicherheit sein“, sprach er leise mit mir, als er mich durch die Dunkelheit führte.

An diesem Morgen hatte ich alles verloren, was mir je etwas bedeutet hatte. Ich hatte gedacht, mein Leben hinter mir gelassen zu haben, doch nun, als wir auf die warmen Lichter zugingen, die die Fenster eines Hauses erleuchteten, wurde mir klar, dass mein Leben, meine Zukunft hinter dieser Tür erst beginnen sollte.








Kapitel 7

Oh, nein. Ahnungsvoll öffnete ich die Augen und setzte mich sofort auf. Ich hatte sie doch nur für einen winzigkleinen Moment zugemacht - naja, das hatte ich jedenfalls gedacht!

Ich hörte schon den Tadel meines Onkels, ich hätte meinen Kopf ständig in den Wolken. Wohl oder übel musste ich ihm so langsam recht geben.

Der Tag hatte mich doch mehr erschöpft, als ich angenommen hatte. Wie lange mochte ich wohl geschlafen haben? Für mein nichtsnutziges Träumen schlug ich mir gegen die eigene Stirn.

Auf jeden Fall länger, als ich es mir hätte erlauben können, das stand schon mal fest.

Seufzend fuhr ich mir durch die Haare und legte mich resigniert wieder auf meinem hölzernen Bett zurück, sah in den Himmel, der sich hinter den Ästen wie ein Zelt über mir erstreckte. Trotz der vertrödelten Zeit musste ich über mich selbst schmunzeln, als

mein Blick durch den hohlen Baum wanderte, in dem ich mich

wieder fand. Meinem Geheimnis.

Es war mein Rückzugsort, wenn ich allein sein, wenn ich mich

der Welt dort draußen für ein paar Minuten entziehen wollte.

Schon als Kind war ich regelmäßig hier hergekommen, seit ich diesen Ort entdeckt hatte. Ein unvorstellbarer Blitz musste die mächtige Eiche auf ungewöhnliche Art und Weise ausgehöhlt haben, die ihrer Größe nach schon seit Jahrhunderten an diesen Ort stehen musste. An ihrer Außenseite hatte sich einst ein Sprössling von ihr einen Weg gebahnt und seine Äste in ihr Herz ausgestreckt. Einer war besonders kräftig und außergewöhnlich gewachsen und bot mir eine perfekte Chaiselongue im hohlen Baum, so bequem wie eine echte mit edlen Polstern und geschwungenen, goldenen Füßen wie reiche Fürsten sie haben mussten.

Abermals richteten sich meine Augen in den Himmel und seinen feinen, malerischen Wolken, die sich allmählich schon verfärbten und ich musste plötzlich wieder an meine Mutter denken. Um es wirklich zu verstehen, war ich damals noch zu jung gewesen, knappe acht oder neun. In den Nächten ohne sie hatte ich oft geweint, doch mein Onkel war für mich da gewesen, obwohl er mir völlig fremd gewesen war.

Er fing mich auf, gab mir ein neues Zuhause und Liebe, als ich sie am meisten gebraucht hatte.

Ein paar Wochen nach dem Tod meiner Mutter Helen ging Onkel Amelius mit mir nach St. Nemos. Hinter der Kapelle lag der Friedhof und wir suchten Mutters Grab. Unter einer Linde fanden wir das kleine Holzkreuz, in den man Name und Datum geritzt hatte. Es war schlicht, aber trotzdem hübsch anzusehen. Wer es in Auftrag gegeben hatte, wussten wir nicht.

Als alleinstehendes Zimmermädchen hatte meine Mutter ein sehr

einfaches Leben gehabt, doch wir waren glücklich gewesen, soweit ich mich erinnern konnte.

Damals hatte ich mich nicht einmal richtig verabschieden können

und so holten Onkel Amelius und ich dies nach, legten Blumen nieder und zündeten eine Kerze an. Als ich sah, dass ihm eben-falls ein paar Tränen über die Wangen liefen, nahm ich seine Hand und sagte ihm, dass sie jetzt im Himmel wäre und dass Gott und die Engel jetzt auf sie aufpassen würden. Er hatte zu mir hinabgesehen und lächelnd noch ein paar Tränen mehr vergossen.

Die Erinnerungen an meine Mutter bewahrte ich in meinem Herzen wie einen heiligen Schatz, denn sie waren das Einzige, was mir von ihr geblieben war.

Helen war eine schöne, kleine Frau gewesen, die bei allen Zofen und Dienern in der Burg für ihre Offenherzigkeit beliebt gewesen war. Meine kurvenreiche und zugleich graziöse Figur hatte ich von ihr, verdankte ihr meine braunen Augen. Sie hatte braune Haare gehabt, doch Onkel sagte, dass meine roten in der Familie lägen, dass ihr Vater und deren Vater ebensolche Haare

gehabt hatten.

Von der Mamsell hörten wir nie wieder. Gott vergib mir, aber ich wäre nicht traurig darüber, wenn die alte Frau, die sie heute sein musste, schon tot wäre. Ich war mir sicher, dass einige andere ebenso dachten. Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn ich tatsächlich im Heim gelandet wäre.

Dankbarkeit beschrieb es nicht mal annähernd, was ich für meinen Onkel empfand. Er war meine Familie, der Einzige, den ich noch hatte. Ich liebte ihn wie einen Vater, verdankte ihm alles. Er lehrte mir sein Wissen über die Pflanzen des Waldes, der Wiesen und der Gärten und ihre heilenden Wirkungen, wie man ein Feuer ohne Zündhölzer machte oder wie man sich einen Unterschlupf baute, wenn es anfing zu regnen. Durch ihn wusste ich, wie man kochte, nähte, was man bei verstauchten Gelenken tat und wie ein gebrochenes Bein zu schienen oder Tiere auszu-

nehmen waren. Das schiere Überleben.

Wer mein Erzeuger war, wusste ich nicht. Meine Mutter hatte

nie von ihm gesprochen und ich wusste ebenfalls nicht, warum ich gerade jetzt daran denken musste. Die Antwort auf die Frage nach meiner Herkunft hatte ich in eine Schublade getan und für mich selbst vergessen.

Mit meiner Vergangenheit hatte ich abgeschlossen.

Hatte ich früher noch Angst vor alles und jedem gehabt, so war ich heute nicht mehr die Selbe. Das verschreckte Waisenkind von einst, war eine junge Frau geworden, eine Tochter der Natur.

Ich kannte jeden Baum und jeden Stein im Umkreis unserer Hütte, wusste, wie die Quellen, die Lebensadern des Waldes, verliefen, und schreckte nicht mehr zusammen, wenn der Wind sein Lied in den Blättern spielte. Ich verlief mich nie, laß in den Spuren in der Erde wie in Büchern. Die Zeichen der Jahreszeiten waren meine Schrift, denn richtiges Lesen und Schreiben konnte ich nicht.

Ich hatte mir geschworen, niemals wieder schwach zu sein, wollte mein Schicksal selbst in die Hand nehmen und dazu fähig sein, mein Leben und das derer, die ich liebte, zu schützen.

Für mich selbst wollte ich stark sein und einstehen können.

Als ich nun an meine weiteren Geheimnisse dachte, zog sich ein

Schmunzeln über meine Lippen. Ich setzte mich auf und robbte auf meiner natürlichen Chaiselongue, über die ich so stolz war, als hätte ich sie selbst geschnitzt, zum anderen Ende, wo

Wurzelwerk der Tochter-Eiche Fächer geformt hatten, in denen

sich prima Sachen lagern ließen.

Behutsam zog ich meinen Bogen und Köcher heraus und legte sie mir über den Schoß. Nach tagelangem Betteln hatte mir mein Onkel meinen ersten Bogen aus einer Haselnussrute gebastelt. Den lieben langen Tag war ich als Kind durch das Unterholz gestreift und hatte mich im Schießen geübt, doch mit diesem Stück Holz und einem krummen Pfeil war jegliche Jagderfolge ausgeblieben.

Als ich älter geworden war, bat ich um einen richtigen Bogen.

Zähneknirschend erfüllt er mir diesen Wunsch zu meinem fünf-

zehnten Geburtstag und musste mir auch zeigen, wie ich eigens Pfeile herstellte. Er hatte es nicht gern gesehen, wenn ich, seine Prinzessin, wie er mich manchmal leider nannte, wie ein junger Knappe damit trainiert hatte. Aber die Sorgen waren unberechtigt und mit den Jahren und den regelmäßigen Braten auf dem Tisch abgeebbt.

Ich war keinesfalls eine nörgelnde Person, doch ich war noch nicht zufrieden und so bat ich eines Tages um einen Dolch aus Metall und Stahl, um mich auch im Nahkampf verteidigen zu können. Nach meiner Offenbarung hatte sich Onkel Amelius jedoch halb tot gelacht. Was daran so witzig sein sollte, hatte ich nicht verstanden und gekränkt die Arme verschränkt.

,,Du und ein Dolch? Ina, möchtest du auch noch Schild und Kettenhemd? Oder ein Schwert? Pass nur auf, bald wächst dir

noch ein Bart und etwas zwischen den Beinen, wenn du so weitermachst.“

Bei dieser Vorstellung war mein Gesicht rot vor Scham und Zorn geworden. Er hatte mich überhaupt nicht ernst genommen!

Als er endlich gemerkt hatte, dass ich es wirklich ernst meinte, da war er es, der die Arme verschränkte und sich gegen die Stirn tippte. ,,Das kommt überhaupt nicht in Frage! Ich kauf‘ doch nicht meiner lebensmüden Nichte einen Dolch! Ein Mädchen trägt keine Waffen. Schlag dir diesen Unsinn ganz schnell aus dem Kopf.“

Niedergeschlagen wie ich war, erregte ich trotz Tadel sein Mitleid.

,,Ina, jetzt hör mir mal zu. Auch wenn ich dir eine solche Waffe kaufen würde: hast du dir schon einmal überlegt, wie viel so etwas kostet? Wir haben nicht viel, das weiß du doch. Außerdem möchte ich nicht, dass du dich verletzen tust.“

,,Ach, Onkel…“, hatte ich nur geraunte und ihn beschwichtigend in den Arm genommen. Das war so typisch. Ständig sorgte er sich um mich.

Ein hinterlistiges Lächeln stahl sich nun auf meinen Mund, als

ich mich ein zweites Mal vorbeugte und einen Waffengurt aus dem Versteck heraus holte, an dem eine kleine Scheide befestigt war, die meinen Dolch in sich trug.

Verzeih mir, Onkel.

Über ein Jahr musste ich jede Kupfermünze von den kleinen Löhnen sparen, die wir manchmal von den Leuten bekamen, zu denen wir gerufen worden oder die uns aufgesucht hatten, um mir dies kaufen zu können. Diesen Tag würde ich nie vergessen.

In Qwynns Hemd und Hosen war ich nach St. Nemos gegangen. Meine Haare hatte ich unter einer Mütze gesteckt, Strähnen lediglich als Pony herausschauen lassen. Kurz vor den ersten Häusern hatte ich den eingeübten Gang eines jungen Mannes gemimt und mich in meiner Verkleidung wacker bis zur Schmiede durchgeschlagen. Dort hatte ich mit hämmernden Herzen und verstellter Stimme einen Dolch aus dem Waffenarsenal, der zum Verkauf stand, ausgesucht und mich damit, wie ein Honigkuchen-pferd grinsend, zurück in mein Versteck geschlichen.

Ich zog den Dolch ein Stück aus seiner ledernen Hülle, um ihn mir anzusehen. Er war fast eine Elle lang und bestand aus einer schmucklosen, zweiseitigen Schneide und einem Griff aus bronzefarbenem Metall, welcher mit Leder umwickelt war. Qwynn hatte mit mir geübt, sehr zum Missfallen meines Onkels. Ihn werfen konnte ich mittlerweile ziemlich gut und traf so manches Ziel aus Entfernung.

Kopfschüttelnd war meinem Onkel nichts anderes übrig geblie-ben, als meine Waffen und mein Temperament zu akzeptieren.

Vielleicht wäre die Begegnung heute mit den jungen Männern anders ausgegangen, wenn ich ihn dabei gehabt hätte…, grübelte ich, während ich über das kalte Metall strich und verwarf diesen Gedanken wieder. Höchstwahrscheinlich hätte ich mich noch tiefer in Schwierigkeiten verstrickt. Hätte ich gar den Mut gehabt,

ihn auch zu benutzen? Ich hatte ja noch nie jemanden damit

ernsthaft gedroht, geschweige denn verletzt…

Was nützten mir meine Waffen, wenn ich mich nicht damit verteidigen kann?

Abermals seufzend räumte ich die Klinge zurück, legte mir den

Gurt des Köchers und die Bogensehne über die Schulter und stand in einer Bewegung auf. Über die inneren Äste kletterte ich in die kahle Baumkrone der toten Eiche hinauf, richtete mein Blick gen Horizont und musste meine Augen etwas zukneifen.

Ein leichter Wind spielte mit meinen Haaren, als ich in die Sonne schaute, die bereits hinter den Wipfeln als roter Feuerball versank und den Himmel glühen ließ. Nördlich, hinter den ausgedehnten Feldern deren oberen Ränder ich von hier aus erkennen konnte, ragte das Felsmassiv aus dem Nadelwald heraus, welcher sich in Richtung Westen weiter erstreckte und ausgedehnter wurde.

Burg Eulensteins graue Dächer und Türme sah man zwischen den dunklen Wipfeln. Dorthin war Robin verschwunden.

Wie liebevoll er schien, dachte ich, als ich das Bild in meinem Kopf herauf beschwur, wie er alleine auf der Lichtung stand und sein Pferd gestreichelt hatte.

Ich wusste noch, wie meine erste Sternschnuppe ausgesehen hatte, die ich als Kind am Himmel verfolgt hatte. Wie dieses winzige Licht hatte sich unser Zusammentreffen aufgelöst. Wie einer dieser kleinen, weit entfernten Funken, musste ich für ihn verschwunden sein.

Was muss er von mir denken? Eine plötzliche Traurigkeit überkam mich, als ich daran dachte, wie er mich in seinen Armen gehalten hatte. Warum hatte ich nicht einfach meinen Mund halten können? Dann hätte dieser schöne Moment vielleicht sogar

noch ein klein wenig länger angehalten. Seufzend lehnte ich meinen Kopf gegen den Ast, an dem ich mich festhielt. Ich würde alles dafür tun, wenn er nicht der wäre, der er war.

Wenn er nur der Sohn eines einfachen Bauern wäre… ja, dann

wäre diese Welt ein Stück perfekter.

Ina, was soll das?, schallte ich mich selbst, als meine Gedanken

sich immer mehr darin verstrickten und diese Begegnung vor und

zurück durchgingen. Warum schmachtete ich diesen fremden

Mann so an, dessen Gunst ich eh nie erreichen würde?

Der nie das Selbe für mich empfinden könnte, wie ich für ihn.

Nein, ich empfinde überhaupt nichts für ihn!, korrigierte ich mich selbst und presste fest entschlossen die Lippen aufeinander.

Schluss damit.

Ich stieg zurück in die hohle Eiche, hing mich an einen der Äste und schwang mich zu Boden. Am Fuße war ein Teil der Rinde durch den Blitzschlag wie eine Tür aufgebrochen. Gebückt trat ich ins Freie, verschloss die Rinde, indem ich den Stein wieder davor schob, und nahm meinen Bogen vom Rücken. Länger wollte ich Amelius und Qwynn nicht warten lassen, doch wollte auch nicht ohne ein Mitbringsel zurückkehren. Wenn ich schon die Kräuter am Flussufer liegen gelassen hatte, so wollte ich jedenfalls etwas zu Essen mit nach Hause bringen.

Um diese elendigen Träumereien, von denen sich keine je wiederholen würden, zu vertreiben, rannte ich los.














Kapitel 8



Robin, mein Junge.“ Als er mich sah, verstaute mein Vater etwas in einer Schublade unter dem Schreibtisch.

,,Da bist du ja endlich.“

,,Vater.“ Ich machte eine tiefe Verbeugung vor meinem König, der mich einlud, auf dem bereitgestellten Stuhl ihm gegenüber Platz zu nehmen. Ich nickte dankend und tat, wie geheißen.

So konnte er immerhin meine Drecksstiefel nicht sehen...

Neben dem Fenster, welches zu meiner Rechten lag, stand ein festgenagelter Ast auf dem ein dicker Uhu hockte. Sein Kopf ruckte zu mir und die gelben Augen leuchteten noch stärker auf, ehe sie sich wie immer in meiner Anwesenheit grimmig verzogen.

Sein leises Huhu klang eher wie eine Drohung als ein Willkom-mensgruß.

,,Verzeiht meine Verspätung“, erklärte ich mich, als ich diesen Vogel nicht länger beachtete, der mich genauso sehr hasste, wie ich ihn. ,,Ich führte noch eine Unterhaltung mit Hauptmann Morris.“

,,Er war eben bei mir.“

Ich nickte und spürte, wie das Blut schneller durch meinen Körper schoss. Das Mädchen, war mein einziger Gedanke.

,,Wie verlief euer Training?“, fragte er dann jedoch.

Ich runzelte die Stirn. Mein Vater war zwar an den Sachen, die ich tat, interessiert und bei den gemeinsamen Abendessen erzählte ich schon in einer Art Gewohnheit von meinem Tag, doch genau das war der Haken. Eigentlich fragte er mich so etwas nur am Tisch. Hier in seinem Arbeitszimmer taten wir dies höchst selten, eigentlich nie, wenn ich so darüber nachdachte.

Hier wurde Politik gemacht, ein Reich geführt. Die Aufgaben

eines Königs ließen keinen Platz für Privates.

Die Frage war ganz beiläufig gestellt, doch ich wusste, dass er immer etwas beabsichtigte.

Mein Vater war in seinen Vierzigern. Einzig ein paar Fältchen um die grauen Augen besaß er, was ihn sehr weltgewand wirken ließ. Er war etwa so groß wie ich und hatte blondes, halblanges Haar, das in sanften Wellen seine Schultern berührte. Anders als ich hatte er Gesichtsbehaarung in Form eines Bartes um den Mund und am Kinn, den er sorgfältig stutzte. Sein blaues Wams war mit silbernen Fäden durchzogen, die ein verschnörkeltes Muster darstellten.

,,Nun?“ Er lehnte ich zurück und trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. Da wurde mir bewusst, dass ich ihm immer noch eine Antwort schuldig war.

,,Unser Training war gut. Mir gelangten einige Siege. Wotan hat mich gefordert. Ein paar Mal hat er mich ins Gras befördert.“

,,Und Micael?“

,,Auch den“, antwortete ich zögernd unter seinem strengen Blick. Wir näherten uns dem Problem. ,,Ich besiegte ihn. Mehrmals. Aber immer knapp“, fügte ich hinzu, damit ich Micael vor unserem König nicht absichtlich niedermachte, um mich besser dastehen zu lassen. Als er nicht antwortete, wurde mir mulmig. Schon die ganze Zeit über lag eine Spannung im Raum, die jetzt wieder deutlich zu spüren war.

Gerade als ich ihn fragen wollte, was es war, das er mit mir besprechen wollte, setzte sich mein Vater in dem goldverzierten Stuhl zurecht, strich sich über die Stirn, ehe seine Hand an seinem Mund ruhte. Eine typische Geste von ihm.

,,Du enttäuscht mich, Robin Osberth.“

Seine plötzlichen Worte trafen mich hart. Nie nannte er meinen Zweitnamen, der von ihm stammte.

Die Situation war mehr als ernst.

Pflichtbewusst senkte ich den Kopf, als er wütend die Stimme

erhob: ,,Offenbar verschweigst du mir absichtlich den Vorfall mit

diesem Waldmädchen. Nicht nur das, nein, ich musste es von Morris schwächlichen Jungen erfahren, und nicht von dir! Meinem eigenen Sohn.“

Dass er Micael so vor mir nannte, war das erste Mal. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass er so von ihm dachte. Micael war kein großer Schwertkämpfer, das stimmte schon, doch war sein Charakter dies keinesfalls.

,,Ich hätte mehr Ehrlichkeit von dir erwartet.“

Ich konnte nicht anders, als aufzuschauen, und sah, wie er den Blick von mir abgewandt hatte. Er schien wirklich zornig und enttäuscht zu sein. Wenn seine Absicht gewesen war, mir ein schlechtes Gewissen zu bereiten, so war ihm das gelungen.

,,Es tut mir leid, Vater. Ihr habt recht, ich hätte es Euch erzählen sollen.“

Er stieß den Atem aus und erhob sich. Ich tat es ihm gleich, da man nicht saß, wenn der König stand, und legte die Hände hinter meinem Rücken, um Haltung zu bewahren, während mein Vater hinter dem Schreibtisch entlang und zum Fenster hinüber ging. Wie in Gedanken strich er seinem Uhu über den Kopf, sodass die flauschigen Federohren vor Verzückung wippten.

Dann seufzte er. ,,Ich werde heiraten, Robin.“

Meine Augenbrauen schnellten in die Höhe. Überrascht sah ich auf seine Rückenansicht. ,,Dann darf ich gratulieren. Meine Glückwünsche. Ich freue mich für Euch, Vater.“

Mit einem Schmunzeln sah er über die Schulter zu mir. ,,König Thorban hat seinen Segen gegeben“, sprach er und schaute wieder aus dem Fenster in den Hof hinunter. ,,Die Hochzeit ist zwar noch nicht auf einen Tag festgelegt, doch ich habe Prinzessin Aurelia eingeladen, das Wochenende hier zu verbringen. Sie wird schon Übermorgen uns einen Besuch abstatten. So wird es für das Mädchen später einfacher sein, sich hier wohl zu fühlen.“

Prinzessin Aurelia war die jüngste Tochter aus dem benach-

barten Königshaus Cerengals. Und ein Jahr jünger als ich.

,,Ich bin mir sicher, dass sie sich über Eure großzügige

Einladung gefreut hat“, meinte ich ehrlich, denn so etwas war sehr ungewöhnlich, zumal sicherlich Zweifel über die Absicht dessen aufgekommen sein mussten.

Ich hatte Prinzessin Aurelia noch nicht kennenlernen dürfen, da mein Vater mir erst von ihr erzählt hatte, als die Frage auf eine Verlobung bereits vollstatten gewesen war. Da das Ganze so schnell gegangen war und mein Vater bald eine neue Frau ehelichen würde, war ich jetzt ziemlich überrumpelt, doch freute mich wirklich für ihn. Vielleicht würde sie ihm helfen, über den alten Schmerz hinwegzukommen, der ihn manchmal auch heute noch heimsuchte. Er hatte es verdient, wieder eine Frau an seiner Seite zu haben. Eine treue und aufrichtige.

Nicht so wie meine Mutter… Durch meinen wieder neu aufkom-menden Hass für sie, erinnerte ich mich daran, weswegen ich noch hier war.

,,Das denke ich auch“, kam die Stimme vom Fenster und führte mich erst mal auf unser jetziges Gespräch zurück. ,,Es wird eine gute Allianz zwischen unseren Ländern sein, die uns stärkt. Gerade jetzt in diesen Zeiten.“

Bei diesen Worten sah ich an die Wand hinter dem Schreibtisch, an der eine riesige eingerahmte Karte von Melinor hing, und mein Blick fiel auf einen großflächigen Flecken, der dunkel und bedrohlich auf die Häute gemalt wurde. Vereinzelt waren Bäume zu erkennen, tiefe, klaffende Schluchten. Dazwischen wenige dünne Rinnsale von Bächen.

Meine Gedanken wurden genauso tiefschwarz wie die Tinte, als ich an den Herrn dieses Waldes dachte. ,,Cerxus“, troff sein Name leise und voller Abscheu von meinen Lippen.

,,Ja“, antwortete mein Vater genauso kalt. Besorgnis schwang in seiner Stimme mit, die er zu verbergen versuchte.

Ich aber hörte sie.

,,Er und seine Scharen sind wieder aufgetaucht.“ Er schüttelte

den Kopf, als würde er mit seinen Gedanken an dem Ort des Geschehens sein. ,,Für Monate bleiben sie untergetaucht und dann greifen sie an. Aus dem völligen Nichts.“

,,Wie viele Tote?“

,,Ein paar dutzend. Die Menschen dort hatten noch Glück, dass man ihnen die Kehlen nicht im Schlaf durchgeschnitten hat. Sie konnten sich noch rechtzeitig in Sicherheit bringen und die gelegten Feuer rasch löschen. Es war ein Dorf Cerengals.“

Nun trat mein Vater vom Fenster fort und sah mich an. ,,Darum ist eine stärkere Allianz zwischen Elanmor und Cerengal umso wichtiger. Thorban und ich werden Pläne für die Zukunft vorbereiten. Wir müssen achtsam bleiben und dürfen Cerxus nicht mehr Größe geben als er ohnehin schon besitzt. Ich fürchte jedoch, dass wir ihm bald zeigen müssen, wessen Recht er hier bricht.“

Ehrfürchtig nickte ich, als ich verstand, dass vielleicht schon bald ein neuer Krieg drohte. Ich ballte die Fäuste, konnte es gar nicht erwarten, bis es so weit war, gegen die Cechas in den Kampf zu ziehen. Die Zeit, wo ich mit den kleinen Jungen zuhause geblieben war, war vorbei. Ich war alt genug, um in einer Schlacht zu stehen. Ich war bereit, jene Unschuldigen zu rächen, welche diese Monster den Tod brachten.

Vor zwanzig Jahren fand der Krieg zwischen Cechas und Elfen sein Ende. Über zweihundert Jahre hatte der Kampf zweier völlig verschiedener Völker angedauert.

Obwohl sie nach eigenen Angaben mit den Elfen verwandt waren, waren Cechas viel muskulöser und kräftiger gebaut als Elfen, hatten aber ebenfalls spitze Ohren. Manchmal besaßen sie helle, fast schon weiße, oder schwarze Zeichnungen auf der Haut. In weiter Vergangenheit mussten sie einmal friedvoll gewesen sein, doch Machtgier und Blutdurst hatten sie zu dem Volk gemacht, das heute über alle Landesgrenzen für Grausamkeit und Meuchel bekannt war. Schauergeschichten rankten sich um deren

Krieger, die in der dunkelsten Stunde der Nacht angriffen.

Lautlos. Schattengleich.

Doch jedes Mal Tränen von Angst und Leid hinterlassend. Sie machten kein Halt vor Kindern und Frauen, für Letztere sie eine besondere Vorliebe besaßen.

Besonders für die noch Unberührten.

Ich hatte die Chroniken des Ewigen Krieges studiert und wusste, dass die Cechas nach der Niederlage sich zurück in den Schattenwald gezogen hatten, aus dessen Tiefen sie vor Jahrhunderten gekommen waren. Seit dem Beenden des Krieges war ihre Zahl stark dezimiert. Dabei war Cerxus, der letzte Sohn einer ganzen, dunklen Dynastie von Clanherren, der einfluss-reichste und mächtigste Cecha des ganzen Schattenwaldes und nahm die Stellung eines Königs ein.

,,Die Cechas sind nicht die Einzigen, die mir Gedanken bereiten.“

Stirnrunzelnd sah ich meinen Vater an. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass er neben mich getreten war, und ebenfalls die Wand hinauf blickte. Ein Funkeln lag in seinen Augen, die eine Stelle auf der Landkarte fixiert hatten.

Als ich diesen folgte, blieb ich im Nordwesten Melinors stehen.

Auf der Fläche des dort eingezeichneten Reiches stand Arwyn und in meinem Magen verknotete sich etwas.

,,Ich verstehe nicht, Vater. Was meint Ihr damit?“

In fast ganz Melinor lebten Elfen und Menschen friedlich beieinander. Nur nicht bei uns. Mein Vater hatte sie aus Elanmor verbannt. Die Meisten gingen freiwillig.

Mit dem Verschwinden meiner Mutter entflammte eine verbitterte Fehde zwischen unserem Haus und König Belios‘, Herrscher über das Elfenreich Arwyn. Meinem Großvater.

Der Tod seiner Tochter hatte das Verhältnis unserer beiden Völker tief erschüttert und jegliche Bündnisse gebrochen.

,,Wenn Belios…“, begann ich, doch mein Vater schnitt mir das

Wort ab.

,,Dieser alte Narr sitzt seit Jahren festgewachsen auf seinem

Thron und teilt sich mit seiner Hure von Ältesten die Krone. Die

Scharmützel an unseren Grenzen sind kleinlich. Nein, seine ver-fluchte Sippschaft ist mir gleichgültig. Es sind die Sympathisanten in meinem Reich, die immer noch zu diesen Heiden halten. Nach all dem!“ Seine geballt Faust knallte auf den Schreibtisch vor ihm, sodass ich fürchtete, das Holz würde bersten. Gespannte Muskeln seines Rückens zeichneten sich unter dem Stoff ab, als er sich mit Händen darauf abstützte.

,,Ich muss mit Euch noch über etwas sprechen, Vater. Es ist wichtig.“

Er drehte sich zu mir und nickte dann. Wir setzten uns wieder und mein Vater verschränkte die Hände auf der Arbeitsplatte und schaute mich aufmerksam an. ,,Dann sprich.“

Vielleicht war der Zeitpunkt am Ungünstigsten, doch ich musste es ansprechen. Und zwar heute noch.

Es würde mir ansonsten keine ruhige Minute lassen.

Ihr glaubt nur, die Wahrheit zu kennen

Ein letztes Mal atmete ich tief ein, damit mein Mut nicht verflog. Denn diese Bitte hatte ich noch nie ausgesprochen.

,,Erzählt mir von meiner Mutter.“

Ich hatte mit Ungläubigkeit oder einem Wutausbruch gerechnet, aber nicht mit der Stille, die nun eintrat.

Mein Vater saß mir gegenüber und atmete nicht mehr.

Es verging eine gefühlte Minute bis er sich endlich regte und mich mit dem Ausdruck, der auf sein Gesicht trat, Reue spüren ließ. Seine grauen Augen senkten sich unter den schweren Erinnerungen einer vergangenen Liebe. Er lehnte sich zurück und rieb sich die Stirn. ,,Darf ich nach dem Grund fragen?“

,,Neugierde“, log ich so gut ich konnte. Mein Inneres aber

zitterte vor Nervosität wie das Vibrieren einer gespannten

Bogensehne zwischen den Fingern. Kurz vor dem Schuss.

,,Was möchtest du wissen?“

Ich zuckte mit den Schultern. ,,Ein wenig. Das würde mir schon

genügen.“ Um ihn zu erweichen, versuchte ich mich an einem

möglichst schüchternem Lächeln. Ich musste einfach wissen, ob es wahr war, was das Mädchen im Wald gesagt hatte.

Und ob meine Mutter wohlmöglich noch lebte.

,,Rowána Aluur“, flüsterte er die Worte, die nicht in diesen Mauern ausgesprochen wurden. Und ich hielt den Atem an.

Rowána Aluur. Der Name meiner Mutter.

,,Sie war… Bei Gott…“ Mein Vater legte den Kopf in den Nacken und lächelte verträumt, als würde er von einem Engel sprechen. ,,Sie war die schönste Elfe, die ich je kannte. Die jemals auf dieser Erde gewandelt ist. Als ich sie das erste Mal sah, da wusste ich: diese oder keine. Ich war der glücklichste Mann, als wir uns das Eheversprechen gaben und kurz darauf du das Licht der Welt erblicktest. Ich laß ihr jeden Wunsch von den Augen ab.“ Plötzlich erstarrten seine Züge, in seinen Augen loderten Flammen auf. Nach einem Geist trachtend, der ihm genommen wurde.

,,Doch ich ließ mich täuschen“, raunte er, Schmerz und Zorn in ihm schmorend. ,,Von ihrer Schönheit. Von ihrem Sanftmut. Ihren gesäuselten Worten für mich. Ihrem ganzen, falschen Ich.“

Seine geballten Fingerknöchel knackten. ,,Sie wollte mich töten, um an die Krone zu kommen. Das war schon immer ihr Ziel gewesen…und dafür hat sie mich benutzt.“ Nun sah er wieder mich an und schien um Jahre gealtert. Vor mir saß nicht mehr mein König sondern ein Mann, dem man vor langer Zeit das Herz gebrochen hatte.

,,Bei ihrem missglückten Attentat floh sie und ließ dich zurück.“ Ich hatte einen Kloß im Hals, als er weitersprach: ,,Ich liebte sie, Robin. Bei Gott, ich liebte sie so sehr...“

,,Ich weiß“, sagte ich leise.

,,Du erinnerst mich sehr an sie. Ja, du hast die gleichen Augen,

die auch sie besessen hatte. Deren ich erlegen war.“

Dann ist es also wahr, dachte ich und sah ebenfalls ein

Augenpaar vor mir, welches groß und starr zu mir herauf sah, während mich Wärme flutete. Doch jene waren nicht blau sondern rehbraun und besaßen eine Aufrichtigkeit, wie sie mir noch nie begegnet war.

,,Wie ist sie gestorben?“, lenkte ich ab, als ich selber merkte, dass mir die Gesichtszüge entglitten waren.

,,Cechas“, sagte mein Vater nur. Und mir wurde eiskalt.

,,Ich erspare dir die Einzelheiten.“

Ich nickte einfach und versuchte die Bilder von Überfällen zu verdrängen, die mein Kopf heraufbeschwor.

Es musste ein Irrtum sein. Ich musste mich einfach getäuscht haben, wenn ich gedacht hatte, das Mädchen wüsste mehr über sie. Meine Mutter war tot. Cechas lassen niemanden am Leben.

Mit dem, was ich nun wusste, war ich nicht zufrieden, doch erkannte auch, dass ich viel mehr heute nicht herausbekommen würde, weil mein Vater nicht gern darüber redete.

Ein solches Gespräch wie eben war schon ein großer Schritt.

,,Ich liebe dich, das weißt du hoffentlich.“

,,Natürlich“, antwortete ich und streckte die Hand über den Tisch nach der seinen aus, um den Sorgenfalten entgegenzuwirken, die auf sein Gesicht getreten waren.

Er erwiderte die Geste fest und kraftschenkend und schien beruhigter zu sein.

,,Danke, Vater. Dass Ihr es mir erzählt habt.“

,,Du hast ein Recht darauf.“ Versöhnlich klopfte er mir auf den Arm und wir erhoben uns. ,,Ich weiß, dass Aurelia ein reines Herz hat. Ich habe meines ihr versprochen und bin bereit, es ihr zu geben.“ Er lächelte, als er an meine Seite trat. ,,Am Sonntag wird es einen Ball geben - nichts Großes. Ich hatte wohl vergessen, es dir zu sagen. Du scheinst jedoch einer der wenigen zu sein, die nicht erbost darüber sind. Das Küchenpersonal war jedenfalls nicht begeistert. Soweit ich weiß, ist der Koch immer noch nicht gut

darauf zu sprechen...“

,,Nein, ich freue mich. Auch darüber, Aurelia kennenzulernen.

Der Tag ist perfekt, um auf dein Wohl zu trinken.“

,,Was für einen gescheiten Sohn ich doch hab“, sagte er und gab mir einen Knuff in die Schulter. ,,Bis dahin versuche ich, das

Problem schnellstmöglich aus dem Weg zu schaffen.“

Auf einmal spürte ich ein mehr als ungutes Gefühl in der Magengegend. ,,Welches…Problem?“

,,Ich habe Morris den Auftrag gegeben, das Mädchen und ihren Onkel ausfindig zu machen.“

Hätte er mir jetzt ein Messer an die Kehle gehalten, wäre es nicht überraschender gewesen. Keine Worte wollten mir über die Zunge kommen. Zu tief saß die Kälte, die mich erfasst hatte.

Der Raum begann sich vor meinen Augen zu drehen, mich mit sich reißend. Ertrinkend. Ich konnte nur an Morris denken und an das, was er mit ihr anstellen würde, wenn er sie fände.

Wieder sah ich sein Schwert, das den Kopf des völlig ahnungslosen Soldaten von den Schultern trennte…

Irgendwie fand ich meine Stimme wieder, die sich so gar nicht, wie meine eigene anhörte. ,,Vater, das kannst du nicht tun.“

Abermals stand er am Fenster und schaute in den bereits dämmernden Himmel. Als würde er schon darauf warten, dass man sie durchs Tor führte. Dieses Bild war mir zutiefst zuwider. Verachtung regte sich in mir, ließ die Kälte dahin schmelzen.

,,Ihr Onkel ist ein Sympathisant der Elfen“, sagte er völlig gleichgültig, als würde er übers Wetter reden, während er den Uhu kraulte. ,,Man munkelt in St. Nemos, er habe sich ihren Mächten bedient, indem er einem Elf bei sich Unterschlupf gewährt. Es ist die Rede von heidnischen Zaubern und schwarzer Magie.“

Das darf nicht wahr sein. Lass das bitte nicht wahr sein…

,,Vater… Vater, bitte, ich flehe dich an. Sie ist unschuldig, das

weiß ich genau.“ Er sah mich noch nicht einmal an. Am liebsten

wollte ich auf ihn einschlagen. Solange bis er mir zuhörte.

,,Ich bin mir sicher, es werden nur Heilsprüche der Elfen sein und

ganz bestimmt kein...“

Mein Vater fuhr herum. ,,NUR? Sie sind gleichzusetzen mit der schwarzen Magie, die die Cechas nutzen! Ihm wird der Prozess wegen Hexerei und wegen Unterstützung des Feindes gemacht werden. Dann wird sich zeigen, ob er wirklich unschuldig ist.“

,,Ist es wegen dem, was Micael erzählt hat?!“ Plötzlich schrie ich, ohne dass ich es wollte. An seinem Blick erkannte ich, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. ,,Egal, was Micael gesagt hat: es ist eine Lüge! Er ist in seiner Ehre verletzt, weil sie sich gegen ihn gewehrt hat. Er hat sie bedroht, sie fast umgebracht“, ich stolperte über meine eigene Zunge, jegliche formvolle Anrede vergessend.

Mir war egal, was ich damit anrichtete.

,,Du darfst ihm nicht glauben!“

,,Hast du Beweise, dass es nicht so ist?“

,,Ich… Nein, aber...“

,,Also! Und jetzt schlag dir dieses unbedeutende Mädchen aus dem Sinn.“

,,Gegen einen Hexenprozess haben sie keine Chance!“

,,Der Befehl ist bereits gegeben worden, die Papiere für die Festnahme unterzeichnet. Stell dich mir nicht in den Weg, Robin…“ Doch seine Warnung hatte die gleiche Wirkung wie Öl in Feuer. Ich fühlte wie Verachtung und Wut glühend heiß durch meine Venen rauschten. ,,Das kannst du nicht…!“ Mit einem Schritt war er bei mir, packte mich am Arm, um jeglichen Widerstand zu ersticken. Es tat verdammt weh und ich konnte gerade noch die Zähen aufeinander pressen, um einen Laut zu unterdrücken.

,,Sie geben einen Elf bei sich Unterkunft“, knurrte er mir direkt ins Gesicht. ,,Und das dulde ich nicht, Robin, das weißt du genau.“ Auf einmal loderte Hass in seinen sturmgrauen Augen auf, die meinen entgegen funkelten. Hass für ein ganzes Volk, der

so groß war, dass auch ich davon zu spüren bekam.

Ich riss mich von ihm los, brauchte mehr Abstand zwischen mir

und diesem Mann, für den ich nichts mehr übrig hatte.

,,Und was bin ich dann für dich?!“ , schrie ich ihn an, ehe mir die Stimme versagte und ein Zittern durch meinen ganzen Körper kroch. ,,Was bin ich…?“

Er drehte mir den Rücken zu und starrte auf einen Punkt in der

Ferne, als wäre ich es nicht mehr wert, weiter Zeit mit mir zu verbringen als unbedingt nötig.

,,Geh“, befahl er. ,,Ich will dich für heute nicht mehr sehen.“

Als ich mich umdrehte, fühlte ich mich wie ein misshandeltes Tier, dem man sein Heim genommen hatte.

Wie konnte in nur zwei Minuten alles zerstört sein, woran ich einmal geglaubt hatte?

,,Ach, und Robin…“

Ich wollte es nicht, doch drehte mich noch einmal um und bekam augenblicklich eine schallende Ohrfeige zu spüren.

Der Schlag war so hart und zielsicher, dass mir schwindelte, mich gerade noch so auf den Beinen halten konnte. Der eiserne Geschmack von Blut trat mir auf die Zunge. Dann packte man mich im Genick, zog meinen Kopf an den Haaren nach hinten, sodass ich aufschauen musste.

,,Das war das einzige und letzte Mal, dass du meine Befehle in Frage gestellt hast. Tu das nie wieder“, drohte mein Vater mir so nah, als wollte er die Worte mir unauslöschbar einzuverleiben.

Ich stöhnte unter dem Druck meiner Kopfhaut und dem Dröhnen in meinem Trommelfell. Sein Blick blieb an meinem Ohr hängen, das durch seine Hand, die meine Haare in sich hielt, ungeschützt dar lag. Dann spürte ich, wie sich sein Daumen löste und die Form entlang meines Ohres strich.

Ich musste die Augen schließen, drehte das Gesicht weg.

Die Berührung war für mich kaum zu ertragen.

,,Es tut mir leid, Robin. Du hast mir keine andere Wahl gelassen.“

Langsam ließ er mich los und zog mich zu sich. Wie bei einem Kind legte er mir die Hand auf den Hinterkopf, fuhr mir übers Haar, während meine Wange auf seine Schulter sackte.

Ich ließ alles mit mir geschehen.

Er flüsterte mir beschwichtigende Dinge zu, während meine Gedanken mich davon trugen.

Ich hatte immer gedacht, ich war mehr Mensch als Elf.

Heute hatte mir mein Vater etwas ganz anderes zu verstehen gegeben.
























Kapitel 9



Ich war fast Zuhause angekommen, als ich merkte, dass ich verfolgt wurde. Anfangs war es nur ein Rascheln irgendwo im Laub gewesen, von irgendeinem Tier verursacht, das dort in der Dämmerung auf Nahrungssuche war. Zwischendurch hatte ich jedoch den Eindruck, als lief etwas neben mir her.

Nun war ich mir sicher, dass mir jemand folgte.

Ich hatte mein Tempo nicht angezogen, damit mein Verfolger nicht merkte, dass ich über seine Anwesenheit im Klaren war.

Wenn ich jetzt losrennen würde, könnte mich wohlmöglich ein Pfeil niederstrecken.

Egal, was ich tat: ich durfte ihn nicht zu unserer Hütte führen.

Deshalb blieb ich ruhig stehen, legte meine Jagdbeute neben mir ab, zog den Gurt von der Schulter und tat so, als ob ich am Boden etwas suchte. Vorsichtig zog ich einen Pfeil und spannte ihn ein, spürte mein Herz gegen meine Rippen pochen und unterdrückte das Zittern meiner Finger; den Gedanken, jemanden töten zu müssen.

Dann ein Rascheln direkt hinter mir.

In der Hocke fuhr ich herum, hob den Bogen…

Hinter mir war niemand.

Ich hielt den Pfeil gespannt, ein zittriges Flattern an meiner Wange, und durchkämmte die Umgebung. Nichts zu finden machte mich noch nervöser als etwas zu finden. Oder jemanden.

Plötzlich ein weiteres Geräusch in unmittelbarer Nähe. Dort im Farnkraut vor mir bewegte sich etwas.

,,Zeig dich oder ich schieße!“

Die Blätter teilten sich und eine Schnauze kam zum Vorschein.

Ich erhob mich, wobei sie sich blitzschnell wieder zurück zog und

als ich mit dem Bogen den Farn teilte, hockte dort vor mir, vor

Angst winselnd und zitternd, ein kleiner Fuchs.

Vergeblich versuchte er sich vor mir zu verbergen, kauerte sich

unter ein Blatt, den Körper flach auf die Erde gepresst.

,,Du schleichst mir also hinterher.“ Ich legte den Bogen beiseite und hockte mich hin. Der Welpe winselte.

,,Keine Angst… Ich tu dir nichts“, flüsterte ich und streckte die Hand nach ihm aus. Sein kleines Näschen hob sich und schnüf-felte an meinen Fingern, die er auf einmal ganz interessant zu finden schien. ,,Du riechst wohl den Hasen.“

Wie zur Bestätigung wedelte sein Schwanz.

,,Hast du Hunger?“ Ich nahm den Hasen, den ich sowie ein Eichhörnchen erwischt hatte, suchte die Wunde, wo der tödliche Pfeil eingedrungen war, und riss etwas Fleisch heraus.

Der Welpe schnüffelte daran, vergaß seine Angst vor mir und fraß mir direkt aus der Hand. Wenn er mir gefolgt war, musste er am Verhungern sein.

,,Du hast keine Mama mehr, ist es nicht so?“

Der Kleine zerrte mittlerweile am Eichhörnchen herum und versuchte durch das Fell an das Schmackhafte zu kommen.

Ich nahm es ihm weg und hob ihn auf meinen Schoß. Der kleine Wirbelwind blieb nicht still sitzen und begann mir die Hand zu lecken. Sein Fell war schon wie das eines erwachsenen Tieres gefärbt, doch die Zähnchen waren noch klein, die Knopfaugen groß und golden.

Ich hob den Kopf und sah mich um. Es war schon fast dunkel.

Ich brachte es einfach nicht übers Herz, diesen kleinen Kerl hier draußen sich selbst zu überlassen. So nahm ich meine Sachen und setzte den Welpen wieder ab. ,,Kommst du mit mir?“

Tatsächlich lief er mir auf tapsigen Pfötchen hinterher. Und ich hatte vor Rührung ein breites Grinsen im Gesicht.

Wie ich das Onkel Amelius erklären sollte, wusste ich jedoch noch nicht.


Beinahe unsichtbar und gut versteckt für Fremde lag unser

Haus, das eher einer Hütte glich. Der Anblick der Lichter, die durch die beiden Fenster drangen, empfing mich stets mit einem Gefühl des Glücks und der Geborgenheit und als ich auch die blaue Laterne entdeckte, die mein Onkel immer ins Fenster stellte, wenn ich abends draußen war, fühlte ich, wie Liebe mich wärmte.

Hier waren wir sicher. Mein Onkel und ich und Qwynn, der seit ein paar Monaten zur Familie gehörte. Ich hatte ihn auf einer Straße gefunden. Räuber hatten sein Hab und Gut und sein Pferd mitgenommen und ihn halb tot liegen gelassen. Wir kümmerten uns um ihn und er entschied, zu bleiben, trotz der ständigen Gefahr, die ihm als Elf in unserem Land drohte.

In dieser Zeit war er mir sehr ans Herz gewachsen. Nicht zuletzt wegen seiner liebenswürdigen Art und seiner großen Klappe. Nachdem er mich halb ohnmächtig als Erste auf der Straße erblickt hatte, meinte er noch tagelang, ich wäre so schön gewesen, ich könnte nur eine Elfe sein.

Qwynn war der Bruder für mich, der mir immer gefehlt hatte.

Ich nahm das Füchslein auf den Arm und überlegte, wie ich es anstellen sollte, ihn vor den Augen meines Onkels ins Haus zu schmuggeln. Der Welpe fand das Anfassen gar nicht mehr schlimm. Wahrscheinlich war er auch einfach zu erschöpft, um sich gegen mich zu wehren. Erstaunlich wie viel Vertrauen er schon zu mir gefasst hatte, dass er in meinem Arm entspannte.

Gähnend legte er den Kopf auf meinem Arm ab und ich war unwiderruflich verliebt.

,,Ina, bist du das?“

Onkel Amelius stand in der offenen Tür und ich musste unweigerlich an unsere erste Begegnung zurück denken. Schnell schüttete ich im Dunkeln die Pfeile aus dem Köcher und packte stattdessen das Füchslein hinein und das Eichhörnchen hinterher.

,,Mach bitte keinen Mucks.“ Dann ging ich zu meinem Onkel hinüber, der sichtlich erleichtert war, mich zu sehen.

,,Himmel Herrgott, Ina, wo warst du? Weißt du eigentlich…

Wie schaust du überhaupt aus?“

Ehe er weitersprechen konnte gab ich ihm einen flüchtigen Kuss

auf die Wange und schlüpfte an ihm vorbei ins Haus.

,,Verzeih, ich habe nicht auf die Zeit geachtet. Dafür hab ich aber

was mitgebracht…“ Stolz hielt ich mein Jagdglück in die Höhe.

Das Ablenkungsmanöver nützte nichts. ,,Und die Kräuter?“

,,Die hab ich liegengelassen“, gestand ich kleinlaut und bemühte mich um ein Lächeln, ,,Ich habe gehofft, ich kann dich hiermit trösten“, und wackelte mit einer Hasenpfote.

Kopfschüttelnd nahm Amelius ihn mir ab.

,,Wurde aber auch Zeit, dass du wiederkommst.“ Neben mir lehnte Qwynn an der Treppe. Gut aussehend und lässig wie immer. ,,Dein alter Herr hier ist stundenlang wie ein nervöses Huhn hin und her gelaufen. Wenn du mich fragst, ist sein Bart noch grauer geworden…“

,,Der alte Herr gibt dir gleich eine. Und jetzt halt den Mund und mach dich mal nützlich.“ Amelius drückte ihm den Hasen gegen die Brust und stapfte hinüber in die Kochecke.

,,Hab mir Sorgen um dich gemacht, Süße“, sagte Qwynn, als wir unter uns waren.

,,Tut mir leid. Es kommt nicht wieder vor.“

,,Versprich nichts, was du nicht zu halten vermagst.“ Er zwinkerte mir zu, nahm sein Messer vom Gürtel und verließ das Haus, um das Abendessen vorzubereiten.

,,Hilf mir, den Tisch sauberzumachen“, bat Amelius vom andern Ende des Raumes.

In diesem Moment begann es sich im Köcher zu regen.

Schnell stahl ich das Messer, das noch zwischen Kräuterhäufen auf dem Esstisch lag, und lief auf Zehenspitzen hinauf in mein Zimmer, ehe er bemerkte, dass ich noch da war.

,,Dieses Mädchen…“, hörte ich ihn unten raunen und konnte förmlich sein Lächeln sehen.

Leise schloss ich meine Zimmertür und lehnte Pfeile und Köcher

gegen die Wand. Dann griff ich in letzteren hinein, zog das zappelnde Bündel Fell heraus und musste mein Lachen unter-drücken. Das Füchslein hatte überall rotbraune Flusen hängen vom Versuch, das Eichhörnchen zu rupfen. Ich befreite ihn davon und versuchte, ihm seine Beute wegzunehmen. Er knurrte mich an. ,,Ja, das gehört doch schon dir. Lass dir helfen.“ Unter seinem bettelndem Blick und wuseligem Fiepen zwischen meinen Füßen ging ich zum geöffneten Fenster, wo ich das Tier für ihn häutete und ausnahm. ,,Da hast du, du Quälgeist.“ Sofort verschwand er mit dem Fleisch unterm Bett. Lächelnd warf ich das Fell und die Reste aus dem Fenster und hörte einen angeekelten Schrei, gefolgt von einem äußert wütendem: ,,INAAA!!“

,,Oh, Mist…“ Unter dem Fenster stand Qwynn und zupfte sich Gedärme von der Schulter. Mir war als könnte ich selbst im Dunkeln seine grasgrünen Augen blitzen sehen. ,,Tut mir leid!“ Mit hochrotem Kopf schloss ich eilig das Fenster und suchte gehetzt nach einem Versteck. Außer meinem Bett auf der einen Seite und einer Kommode gegenüber der Tür gab es nur noch das Fenster. Wo sollte ich bloß einen Fuchs verstecken?!

Es dauerte keine zwei Minuten mehr bis Qwynn in mein Zimmer stürmte. ,,Kannst du mir mal verraten, was…“

Ich presste ihm die Hand auf den Mund. Er wehrte sich und wurde unter heftigen Protest ins Zimmer gezogen.

Rasch schloss ich die Tür. ,,Weiß Amelius darüber Bescheid?“

Er riss sich von mir los. ,,Was? Dass du mich mit Gedärmen bewirfst?“

,,Beantworte mir die Frage.“

,,Und du meine.“

,,Ich hab nicht weit genug geworfen.“

Mit in die Hüfte gestemmten Armen stand er breitbeinig vor mir und bemaß mich mit einem äußerst skeptischen Blick.

,,Soll das eine Entschuldigung sein?“

,,Nein… Ja, schon. Tut mir leid. Ich hab dich nicht gesehen.“

Eine von Qwynns Leidenschaften war das Essen. Er konnte riesige Portionen verschlingen ohne seine umwerfende Figur einzubüßen. Er war schlank, jedoch an Stärke nicht zu unterschätzen. Als er gesund gepflegt wurde, hatte ich tägliche Sicht auf den gut proportionierten Körper eines Elfen. Da er ein Mann war, hatte mein Onkel ein besonderes Auge auf mich in der Zeit und schickte mich einige Male weg, wenn es am interessantesten wurde. Sein rot und lila geprügeltes Gesicht war narbenlos verheilt. Heute würde man ihn kaum wiedererkennen.

Wie immer standen seine blonden Haare, aus denen ein Paar spitze Ohren hervor schauten, wirr von seinem Kopf ab, als wäre er gerade aufgestanden und verleiteten immer wieder aufs Neue dazu, ihm durchs Haar zu fahren. Jedes Mädchen würde sich mit mir anlegen, ihn als Mitbewohner zu bekommen.

,,Gut, Entschuldigung angenommen“, antwortete er etwas milder gestimmt. ,,Ich hab das Karnickel unten abgegeben und bin gleich hoch. Zufrieden? Und hör auf mich so anzusehen. Ich weiß, dass ich umwerfend bin.“

,,Angeber.“

Er grinste wie ein kleiner Junge. ,,Also, wie kam ich nun zu der Ehre?“ Im nächsten Augenblick war es schon geschehen.

Sein Kopf ruckte wie der eines Habichts herum. Seine Ohren waren einfach besser als meine und hörten das leise Schmatzen.

Ich stellte mich zwischen ihm und das Bett. ,,Mäuse. Die sind überall im Holz…“ Kommentarlos schob er mich beiseite, legte sich auf den Boden, um unters Bett zu spähen, und ich ergriff die letzte Chance und setzte mich direkt vor seine Nase.

,,Mäuse! Riesige Mäuse! Nicht, du scheuchst sie noch auf…“

Als er anzüglich grinste, merkte ich, in welch unvorteilhafte

Position ich mich gebracht hatte. Mir schoss die Hitze ins Gesicht. Rasch drückte ich meinen Rock wieder runter.

,,Danke für den netten Einblick. Aber jetzt hör auf mit dem

Theater.“ Er warf mich um und legte sich einfach über mich, als

er unters Bett langte.

,,Qwynn!“ Ich schlug auf seinen Rücken ein, doch sein Gewicht drückte mir die Luft ab. ,,Geh sofort runter von mir!“

,,Was treibt ihr Kinder denn da oben?“, rief Amelius, der unser Gepolter gehört haben musste. Ich hatte ganz vergessen, dass man uns durch die groben Dielen unten hören konnte.

,,Nichts!“, rief Qwynn gedehnt als Antwort, der fast unter dem Bett verschwunden war und ich wie ein Maikäfer halb von ihm zerquetscht auf dem Rücken lag.

,,Qwynn, du verdammter Idiot, ich schlage dich zu Brei, wenn du nicht gleich…“

,,Ich werde dich gleich zu Brei schlagen“, antwortete er und begann den Rückzug. ,,Wirklich, eine sehr große Maus, die du hier hast.“ Unvermeidbar zog er den Fuchs am Genick gepackt hervor.

,,Hör auf, du machst ihm Angst!“ Ich nahm ihn ihm ab und drückte das Füchslein an mich.

,,Ina… “, sagte er im strengen Tonfall, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt. ,,Das ist ein wildes Tier.“

,,Er heißt Minou“, entschied ich spontan. ,,Und er ist mir hinterhergelaufen. Freiwillig.“

,,Das ist doch egal. Du wirst ihn sofort wieder dorthin bringen, wo du ihn her hast!“

,,Psscht! Sprich leiser.“

,,Selber psscht!“

,,Du bist gemein! Er hat niemanden mehr. Wahrscheinlich hat Osberth seine Mutter getötet. Du hast doch selbst gesagt, dass er heute wieder zur Jagd war. Qwynn, bitte. Du weißt doch, dass er alles schießt, was vor seinen Bogen kommt.“ Ich sah, wie er den Kopf schief legte und den Welpen betrachtete. ,,Sieh ihn dir doch

an. Wie niedlich er ist. Er vertraut mir schon und hat auch gar keine Scheu mehr.“

,,Süße, hör mal…“

,,Ich werde mich um ihn kümmern. Versprochen.“

Qwynn blieb hart. ,,Das musst du mit deinem Onkel klären, nicht mit mir.“

,,Bitte erzähl ihm nichts davon!“

,,Manchmal benimmst du dich echt wie ein kleines Mädchen. Weißt du das eigentlich?“

,,Ich bin ein Mädchen.“

,,Hab ich gesehen.“

Ich schlug nach ihm. ,,Qwynn, bitte tu mir doch den Gefallen.“ Ich spielte meine letzte Karte und zog schmollend die Unterlippe vor, um ihn zu erweichen. ,,Bitte. Bitte, bitte…“ Es funktionierte.

,,Also schön, aber…“ Ich fiel ihm um den Hals und er drückte mich lachend an sich. ,,Mädchen, Mädchen… Du bringst dich noch irgendwann mit deinem Dickkopf in Schwierigkeiten. Und ich werde derjenige sein, der deinen hübschen Hals aus der Schlinge zieht. Ich seh’s noch kommen.“

In diesem Moment verstummte irgendetwas in mir.

Meine Gedanken trieben mich aus dieser Hütte, hinaus aus diesem Wald. Ich merkte nicht, wie Minou über Qwynns lange Beine purzelte und dieser ihn hochhob. Das Gefühl, als würde mir jemand ein Seil um meine Kehle legen, war übermächtig.

Es verbot mir das Atmen, bis es sich rückartig…

Ich fuhr zusammen, als eine Hand über mein Haar strich.

,,Er passt zu dir“, hörte ich Qwynn gerade sagen und tauchte aus diesem Albtraum auf. Schrecklich nah an der Realität.

Wie sollte er denn wissen, dass seine Vermutung sich vielleicht bewahrheiten kann?

Qwynn merkte, dass ich ihm nicht zugehört hatte, beugte sich in mein Blickfeld hinein. ,,Alles in Ordnung?“

Nein. Nichts war in Ordnung.

Ich hatte nicht nur mich, ich hatte auch ihn und Amelius mit

meinem Temperament in Gefahr gebracht. Meine Familie.

Mir wurde schlecht vor Angst.

Was hatte ich nur angerichtet?

Ich warf mich an Qwynns Brust, um nicht in Tränen auszu-brechen. ,,Süße…“ Er hielt mich fest und ich schlang meine Arme um seinen Nacken. Wald und Erde umgaben mich.

Ein Geruch, welcher mir so vertraut war…

Sein Haar war heller als das von Robin und es tat weh, als ich ausgerechnet jetzt auch noch an ihn denken musste.

,,Was ist denn passiert?“

Ich schüttelte den Kopf, presste das Gesicht an ihn, damit ich nicht laut losschluchzen musste und spürte, wie er mir sanft über den Rücken strich.

,,Was bedrückt dich, Schwesterchen?“, flüsterte er liebevoll.

Es war ihm schon immer egal gewesen, wer ich war oder woher ich kam oder wie ich aussah. Mit oder ohne Erde auf dem Rock und verschmierten Händen.

Genau deshalb liebte ich ihn.

,,Ich hab wohlmöglich etwas sehr Dummes getan.“

,,Noch etwas?“

,,Es ist ernst, Qwynn.“

Als er schwieg, wusste ich, dass er meine Lage verstand. Er rückte etwas von mir ab, nahm einen Fuß von mir und legte eine Hand darüber und darunter. Direkt auf die dreckigen Schrammen. Ich wusste, warum er das tat und ließ ihn.

,,Sorelior cárna…“, flüsterte er und ein feines, helles Licht glomm zwischen seinen Händen auf. Es war warm und fühlte sich gut an. Von Mal zu Mal spürte ich, wie die Kratzer weniger wurden und sich die Haut erneuerte.

Elfen konnten kleinere Heilzauber wirken. Leider vollführten sie keine Wunder. Auch mächtige Elfen, die in diesen Zaubern gelehrt wurden, waren nur imstande oberflächliche Wunden zu heilen. ,,Sie schließen nicht nur Wunden sondern beruhigten auch eine aufgewühlte Seele“, hatte er mir einmal erklärt.

Ja, es musste stimmen. Das flaue Gefühl in meinem Hals wich.

Mein Herz schlug wieder langsamer.

,,Ich höre dir zu“, sagte Qwynn ruhig und fuhr dann mit dem anderen wie mit dem ersten fort. Und ich erzählte ihm alles.

Vom Fluss, wo ich entdeckt wurde, von der Flucht durch den Wald und von dem Prinzen, der mir das Leben gerettet hatte.

Als ich schließlich an die Stelle angelangte, wo Robin und ich alleine waren, spürte ich ein Flattern in meiner Brust.

,,Dann sind sie verschwunden“, endete ich und verschwieg, was dann geschah.

Es fühlte sich falsch an, mit Qwynn darüber zu reden.

,,Was passiert jetzt mit mir?“, murmelte ich nach einer Pause, in der wir beide über das Geschehene nachdenken mussten.

Neben uns lag Minou und fraß sein Eichhörnchen.

,,Morris‘ Sohn, sagtest du?“

Ich nickte unglücklich.

Qwynn ließ mich meine Füße zurück ziehen, lehnte sich mit dem Rücken ans Bett und schwieg. Ein äußerst ungutes Zeichen.

,,Elfen haben eine…“, begann ich und musste neuen Atem holen. Wenn das, was ich im Wald beobachtet hatte wirklich das war, was ich dachte…

,,Wie nanntest du es, innere Verbindung zur Natur?“

,,So in etwa. Für euch Menschen ist es schwer zu erklären, weil ihr es nicht fühlt. Wir spüren die immer währende Kraft, die in unserer Umwelt existiert. Die Kraft, die vom Schöpfer kommt. In den Pflanzen, in Tieren. In besonderen Menschen.“ Seine grünen Augen sahen mich an und glänzten. ,,Wir können sie nicht nur fühlen sondern auch nutzen. Heilzauber als Beispiel“, setzte er seine Erklärung fort. ,,Es ist ein Teil der Magie, die wir in uns tragen.“ Sein Blick verdunkelte sich. ,,Und genau deswegen werden wir verachtet.“

,,Nicht alle Menschen denken so.“

,,Es werden immer mehr.“

Ich sagte nichts dazu. Denn Qwynn hatte Recht.

,,Und der Wind?“

,,Alle Naturelemente. Starke Elfen können sich über ihn Botschaften schicken. Aber es ist schwer. Der Wind ist launisch und unbezwingbar.“

,,Können diese Botschaften auch Halbelfen erhalten?“

,,Durchaus möglich.“ Plötzlich sah er mich eindringlich wie hoffnungsvoll an. Er verstand es. ,,Hat sie…?“

Mein Herz klopfte auf einmal wieder schneller. ,,Ich glaube.“

,,Und?“

Ich zuckte mit den Achseln und wir trieben beide in unserer Ratlosigkeit weiter.

,,Ich hab Angst, Qwynn…“

Dieser zog mich erneut in seine Arme und auf seinen Schoß. ,,Dir wird nichts geschehen“, murmelte er nah an meinem Ohr. ,,Dir wird nichts geschehen…“

,,Und was ist mit euch?“ Nun konnte ich die Tränen nicht mehr länger unterdrücken.

,,Wir werden in den nächsten Wochen wachsam sein.“

,,Es ist alles meine Schuld. Wäre ich nicht so dumm gewesen…“

Er hob mein Gesicht und strich mir die Wangen trocken. ,,Du warst mutig, nicht dumm. Gut, vielleicht ein wenig hitzig. Und voreilig…“, räumte er ein, nur um mich ein weinig aufzumuntern.

,,Aber dumm bist du keinesfalls, Schwesterchen. Du hast getan, was richtig war.“ Er strich mir über die Wange, über mein Haar und ich sah einen Schmerz in seinem Gesicht, der meinem so sehr ähnelte. ,,Wäre ich nur in der Nähe gewesen…“

,,Dich darf niemand sehen, Qwynn. Sie würden dich töten.“ Ich fasste nach seinem Arm, drückte ihn in der Hoffnung, ihn dadurch hierbehalten zu können. ,,Bitte, tu nichts Unüberlegtes. Wenn du im Kerker sitzt, nützt uns das gar nichts.“

,,Und für dich gilt nicht dasselbe?“ Wieder sah er mich streng

an, die Augen zwei glühende Feuer. ,,In der nächsten Zeit verlässt

du den Wald nicht und bleibst im engsten Umkreis der Hütte. Das

war kein Rat, sondern ein Befehl.“

Ich nickte und wischte mir die letzten Tränen weg. Noch immer streichelte Qwynn mein Gesicht und kam mir auf einmal ganz nah. „Ich lasse nicht zu, dass sie dich bekommen…“

Und dann küsste er mich.

Dieses völlig neuartige Gefühl, fremde Lippen behutsam auf meinen zu spüren, ließ mich erstarren.

Das passierte gerade nicht wirklich, oder?

,,Qwynn…“ Er interpretierte es falsch und wollte seine Küsse forscher werden lassen. Ich aber stieß ihn heftig von mir, sodass ich von seinem Schoß rutschte. ,,Bist du verrückt geworden?“

Er starrte mich aus großen Augen an.

,,Warum tust du das?“

,,Ina, ich…“ Erst jetzt begriff er, was für einen Fehler er gemacht hatte. ,,Es ist mit mir durchgegangen.“

,,Das glaube ich auch.“ Ich drehte mich von ihm weg, wischte mir über den Mund, als könnte ich es dadurch ungeschehen machen. Das war also mein erster Kuss gewesen.

Aber doch nicht von Qwynn! Mir war zum Schreien zumute.

Er berührte meine Schulter. ,,Ina, hör zu, ich…“

Ich schlug seine Hand beiseite, konnte meine Wut darüber, dass er alles zwischen uns kaputt gemacht hat, nicht runterschlucken. Ehe ich es wollte, waren die Worte gesprochen: ,,Ich dachte, du wärst anders als die Männer vom Fluss. Da habe ich mich wohl getäuscht.“

Bitteres Schweigen legte sich zwischen uns.

,,Es ist wohl besser, ich gehe jetzt…“

Das richtige wäre gewesen, ihm zu sagen, dass mir meine Worte leid taten, dass es nicht so schlimm war, dass er sich nicht dafür schämen bräuchte… Aber ich fühlte mich so tief in unserem Vertrauen betrogen und antwortete nichts. Ein schwerwiegendes Vergehen, worüber ich erst nachdenken musste.

Konnte er überhaupt noch mein Bruder sein?

,,Kommt endlich runter!“, rief da Amelius.

Langsam erhob sich Qwynn. ,,Kommst du?“

,,Hab‘ keinen Hunger.“

Als er sich umdrehte, sah ich aus dem Augenwinkel, wie nieder-

geschlagen er tatsächlich war. Es tat mir weh, ihn so zu sehen.

Doch ich konnte ihn nicht trösten.

Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, stand ich auf, entledigte mich meiner Kleidung und verkroch mich ungewaschen ins Bett. Das Füchslein ließ seine abgenagte Beute liegen und begann indes das Zimmer zu erkunden. Ich sah ihm dabei zu, versuchte mich an seiner Anwesenheit zu trösten.

Tapsig lief er hier und dort hin, beschnüffelte alles und spitze die Ohren. Zwischen den Dielen stieg die Wärme vom Wohnraum in mein Zimmer hinauf. In der Stille hörte man die Stimmen.

,,Wo ist Ina?“

,,Schon im Bett“, murmelte Qwynn und ich fühlte einen Stich im Herzen. ,,Minou“, rief ich leise und klopfte gegen den Bettkasten. Er kam zu mir, schmiegte sich wie eine Katze an meine Hand, ehe er mit einem Satz zu mir ins Bett sprang. Der Welpe schob seinen Kopf unter die Decken, krabbelte darunter, suchte meine Nähe und rollte sich an meinem Bauch zusammen.

Diesmal hielt ich mein Schluchzen nicht zurück.


















Kapitel 10



Das Pferd keuchte und lief immer schwerfälliger, doch ich trieb es gnadenlos weiter. Immer weiter. Nur voran, durch den dunklen Wald. In Bewegung bleiben. Unerbittlich.

Nur so hatte ich eine Chance zu Entkommen.

Wie viele Meilen wir zwischen Eulenstein und uns schon gebracht hatten, wie lange wir unterwegs waren, wusste ich nicht.

Zeitweise dachte ich, ich erstickte. Helle Flecken sprangen vor meinen Augen, als mein Bewusstsein mir im gestreckten Galopp immer wieder zu entgleiten drohte. Gehetzt schaute ich mich nach meinen Verfolgern um. Schon längst gab es keinen Weg mehr.

Wir waren auf uns allein gestellt.

Mondlicht drang nur schwach durch die Bäume, ehe es wieder verschwand. Überall waren Schatten, die einen in die Irre führten. Ich lenkte Tyria so gut ich konnte durch die Dunkelheit, meist aber ließ ich sie ihren eigenen Weg finden, um mich selbst im Sattel zu halten. Abermals sah ich über meine Schulter, ob meine Verfolger aufgeholt hatten. Die Lichter ihrer Fackeln waren verschwunden, die Nacht zu dunkel, um weiteres zu erkennen.

Als Tyria plötzlich ins Leere trat, war mir klar, es würde hier enden. Der Aufprall auf dem Erdboden kam hart und schnell. Dunkelheit drohte, mich zu verschlingen. Ich versuchte zu atmen. Vergeblich.

Mein Instinkt zum Überleben schrie mich an, wieder auf die Beine zu kommen. Wenn ich liegen blieb, war ich tot.

Mit aller Macht kämpfte ich gegen die Ohnmacht an, hörte orientierungslos, wie Tyria vor Schmerz schrill wieherte, doch konnte ihr nicht mehr helfen.



Kapitel 11



Mit erhobener Hand signalisierte ich den Männern, anzuhalten. Schnaubend parierten die Pferde durch und kamen zum Stehen. Ich ballte die Hand zur Faust und keiner verlor mehr ein Wort.

Am Rande des Lichtkreises sahen wir das Pferd.

Ich saß ab und gab Elvan neben mir ein Zeichen, mir mit der Fackel zu folgen. Wir näherten uns dem völlig erschöpftem Tier, welches mit hängendem Kopf und bebenden Flanken am Rande der Lichtung stand, die sich vor uns auftat. Ich hockte mich hin und tastete das Bein ab, welches die Stute nicht belastete.

,,Gebrochen“, sprach Elvan meine Gedanken aus.

,,Wir werden ihr den Gnadenstoß geben müssen.“ Missmutig sah ich mir die zurückgelassenen Satteltaschen an, fand in ihnen neben Proviant und anderen Dingen auch eine Decke.

Wie lange hat sie das schon geplant?

Als ich meinen Handschuh auszog und die Sattelfläche berührte, fühlte ich Wärme. Sie konnte noch nicht lange fort sein.

,,Verteilt euch“, befahl ich den Männern. ,,Sucht nach der Königin. Niemand krümmt ihr ein Haar. Und seid leise“, schärfte ich ihnen nochmals ein. Der Trupp stieg ab und begann die Umgebung zu erkunden. Nachdenklich sah ich in die Dunkelheit.

Die kleine Lichtung war von einem Felsmassiv begrenzt, das sich pechschwarz vom Nachthimmel abhob. Die Dämmerung war nicht mehr weit. Die ganze Nacht waren wir durchgeritten. Bald würde das Zwielicht diese vertreiben und Rowána keinen Schutz mehr bieten. Spätestens dann würden wir sie finden.

Eine erschöpfte Frau zu verfolgen war trotz Vorsprung ein

Kinderspiel. Das würde selbst sie wissen, weshalb ich annahm,

dass sie noch irgendwo ganz in der Nähe ausharrte.

Ich überlegte, ob ich sie töten sollte, wenn sie gefunden werden würde. Der Tod, den ich ihr geben würde, würde gnädig sein.

Warum hatte sie es auf diese Weise getan, warum heute Nacht?

Weshalb sie das Kind zurückgelassen hatte, war mir ebenfalls ein Rätsel. Sie hatte alles auf eine Karte gesetzt und verloren.

Warum hast du nicht auf mich gehört, Elfe?, sprach ich in

Gedanken zu ihr, obwohl ich wusste, dass es nichts mehr brachte, als plötzlich ein unmenschlicher Schrei ertönte.

Blut schoss aus einer offenen Halswunde der Stute. In Sekunden war das weiße Fell getränkt. Als ihr die Beine nachgaben, schrie sie in ihrem Todeskampf, dass es von den Felsen wiederhallte. Mit zuckenden Gliedern lag sie auf dem Waldboden, ehe sie verstummte und endlich starb.

In der wieder einkehrenden, hohlen Stille rührte niemand einen Muskel. Einzig das nervöse Stampfen der restlichen Tiere war zu vernehmen.

Ich verdrehte die Augen und fasste mir an die Nasenwurzel, um nicht gleich jemandem den Schädel einzuschlagen.

,,Hauptmann, ich…“, begann eine piepsige Stimme.

Doch da ging ich bereits auf den Bengel los, der das blutige Schwert in der Hand hielt. Mit schreckgeweiteten Augen sah dieser mich an und ließ die Waffe fallen, hob stattdessen die Hände schützend über den Kopf. Als ob ihm das helfen würde…

,,Du einfältiger Idiot! Jetzt weiß jeder, dass wir hier sind!“ Wie eine erbärmliche Maus zog er den Kopf zwischen die Schultern. Fehlte nur noch der Rattenschwanz.

,,Ich dachte… Sir, ich hab doch nur…“

,,Du dachtest? Hatte ich dir befohlen, das Tier jetzt zu töten? Ich kann mich nicht daran erinnern.“

,,Hauptmann, bitte verzeiht mir, ich…“

,,Halt dein Maul. Nicht mal ein Pferd kannst du richtig töten.

Und du willst Soldat werden? Du würdest nicht mal dein eigenen

Schatten finden, wenn er an deinem Arsch klebt.“

Elvan zog dem Burschen für mich eins über den Hinterkopf.

,,Und jetzt bleib bei den Pferden und pass auf. Wenigstens das sollte dir gelingen.“

,,Ja, Sir.“

Während die anderen die Suche fortsetzten, sah ich dem Jungen hinterher und atmete tief ein und aus, um mein Gemüt zu beruhigen. Nicht nur einmal hatte ich mit dem Gedanken gespielt, ihn zurück nach Hause zu schicken. Eigentlich müsste ich es tun.

Dort würde sein Leben als armer Rübenbauer auf ihn warten.

Verdammte Scheiße.

Und mit so etwas muss ich mich herumschlagen…

,,Raban“, sagte jemand.

Abseits mit einer Fackel in der Hand verharrte Elvan bewegungs-los. Auch als ich zu ihm gekommen war, starrte er nur weiterhin zu Boden. Beunruhigt folgte ich seinem Blick.

Und meine Augen weiteten sich.

Wir gingen in die Hocke, um besser zu sehen.

Abermals beschleunigte sich mein Puls, als ich vorsichtig die Mulde befühlte, die der riesige Pfotenabdruck hinterlassen hatte. Er war größer als meine Hand samt gespreizten Fingern.

,,Wolfsbär…“

,,Dort drüben ist noch eine Fährte.“ Elvan hob die Fackel, sodass die Abdrücke der Pranken erkennbar wurden.

Allermiert folgte ich den Spuren mit den Augen bis sie aus dem Lichtkreis verschwanden, hob dann den Blick zu den Felsen, die in undurchdringlicher Dunkelheit vor uns lagen.

,,Ruf die Männer zurück“, flüsterte ich mit rauer Kehle.

,,Beeil dich.“





Kapitel 12



Machtlos musste ich mit ansehen, wie man mein Pferd tötete. Ich schloss die Augen, doch die Geräusche, die zu mir hinauf drangen, konnte ich nicht ausblenden.

Es tut mir so leid, Tyria...

,,Du einfältiger Idiot!“, hörte ich Morris brüllen.

Nein, er wird mich nicht finden.

Verborgen von Zweigen und Felsen konnte man von meinem Versteck aus die Schlucht überblicken, auf deren Lichtung meine Verfolger sich als kaum erkennbare Schemen unter den Fackeln bewegten.

Wie ich den Hang hinauf geklettert war, wusste ich nicht mehr.

Mein Verstand klärte sich erst, als ich mich hier oben wiederfand.

Auf blankem Fels kauernd versuchte ich gleichmäßig weiter zu atmen. Die Enge des Korsetts spürte ich mehr denn je.

Jeden Augenblick rechnete ich damit ohnmächtig zu werden.

Schmerzhaft drückten sich meine Knie auf den Fels, doch ich merkte es kaum. Mein ganzer Körper brannte vor Schmerz.

Ich musste einfach still bleiben, mich nicht rühren. Irgendwann würden sie aufgeben und dann könnte ich entkommen.

Sie werden mich nicht finden, sprach ich mir immer wieder selbst zu. Ich musste es einfach schaffen.

Ich hatte meine Fluchtpläne kaum zu Ende gebracht, als meine Elfenohren bei dem Geräusch hinter mir zuckten. Ich schaffte es nicht mehr, den Kopf zu drehen, denn eine riesige Hand presste sich bereits auf meinem Mund und erstickte meinen Schrei.

,,Schschsch… Wir wollen doch nicht, dass sie uns finden…“

Eine Stimme, so tief wie Donnergrollen.

Im nächsten Moment presste sich jemand von hinten an mich.

Kälte berührte meinen Hals. Panik erfasste mich mit jeder Faser.

Urplötzlich war mir wieder schlecht vor Angst.

Die Hand schob sich von meinen Mund, sodass ich wieder atmen konnte, und legte sich an meine Kehle. Raue Finger strichen über die empfindliche Haut über meiner Halsschlagader.

,,Atmen nicht vergessen.“

Ich gehorchte und spürte mein Herz rasen. Der Geruch von ungewaschenen Körpern wehte mir um die Nase.

Muskeln regten sich an meinem Rücken. Bei dem hellen Schaben einer Klinge, die weggesteckt wurde, versteifte ich mich noch mehr. Hatte er die ganze Zeit ein Messer griffbereit gehabt?

Da erinnerte ich mich. Das kalte Gefühl an meinem Hals…

Oh, Gott…

,,Ganz ruhig, meine Schöne. Das ist, denke ich, nicht länger nötig.“ Seine frei gewordene Hand legte sich um meine Taille und drückte meinen Körper noch enger an seinen.

Mir schoss die Röte ins Gesicht als ich merkte, dass der Fremde kein Hemd trug. Seine warme Brust fühlte sich steinhart an.

,,Ruhig... Wir haben sie im Blick. Entspannt Euch.“

,,Wir?“ Meine Stimme; kaum mehr als ein Fiepen.

Ich konnte förmlich sehen, wie er darüber amüsiert grinste, ehe er zwei Mal leise knackend schnalzte.

Für einen Moment geschah nichts.

Doch dann bewegte sich etwas rechts von uns. Langsam drehte ich meinen Kopf und sah eine Gestalt sich zwischen den Fels-brocken erheben, wo sie eben noch wie einer von ihnen gekauert hatte. Dann noch eine. Und noch eine…

Auch auf unserer anderen Seite regte sich etwas im Unterholz. Lautlos traten sie aus den Schatten, wo sie gewartet hatten.

Das Blut stockte mir in den Adern, als die Wolkendecke aufriss und ich die Krieger erblickte.

Sie waren die ganze Zeit hier gewesen.

,,Sch…“, zischte derjenige sanft, der hinter mir kniete, hielt mich weiterhin fest umschlungen. Er beugte den Kopf und langes Haar fiel über meinen rechten Arm, was im Mondlicht silbern schimmerte. Sein Atem streifte meine Wange…

Und mir wurde klar, wer mich im Arm hielt.

,,Cerxus“, sagte ich und er lachte leise in mein Ohr.



























Kapitel 13



Wie lauten die Behle?“ Elvan lenkte sein Pferd dicht neben meines, damit wir uns ungestört unterhalten konnten.

,,Zurück nach Eulenstein“, gab ich die Antwort, während ich noch schnell den Sattelgurt nachzog. ,,Dann sehen wir weiter.“

,,Was wirst du dem König sagen?“

,,Dass sie fort ist.“

Natürlich gab der Kerl drauf keine Ruhe. ,,Osberth wird außer sich sein.“ Als ich nichts antwortete, beugte er sich näher zu mir. ,,Du weißt, was das heißt, Raban. Ich habe keine Lust, dich wieder nach Hause schleppen zu müssen, um mir von deiner Alten die Ohren voll jammern zu lassen.“

An manchen Tagen hasste ich diesen Jungspund über alle Maßen, dem gerade einmal ein Bart gewachsen war und sich weder von meinen Blicken noch von sonst etwas abbringen ließ.

,,Verflucht.“ Er zerzauste sich das braune Haar. ,,Ob du willst oder nicht, ich werde für dich ein gutes Wort einlegen.“

Ich erwiderte nichts, sondern stieg auf. Sagte ihm nicht, dass gegen Osberths Zorn gar nichts auszurichten war. Man könnte sich genauso gut mit einem Zahnstocher in einen Sturm stellen.

,,Elendige Schlampe…“

Wir sahen zu den zusammengescharrten Männern, die müde und schlecht gelaunt vor sich hin murrten, die geplünderten Sattel-taschen inspizierend und sich ihre eigenen Theorien über das Attentat der Königin zusammen spannten.

,,Ich hoffe, die Verräterin verreckt irgendwo...“ Ein Soldat namens Edward spuckte aus. ,,Sollen die Wölfe sie doch holen.“

,,Ich wette mit euch, dass sie bei jemanden anderen gelegen hat.“

,,Ein Jammer. Sie hätte mich doch nur fragen zu brauchen.“

,,Du bist nicht der einzige, der sie gern geritten hätte.“

Gelächter kam auf.

Elvan blendete den Hohn und Spott der Männer aus, doch ich sah, wie seine Kiefer mahlten, während er einen imaginären Fussel auf seiner Hose wegzupfte. Wir beide schwiegen, denn wir waren die einzigen, die die Wahrheit kannten.

Von den anderen ignoriert fiel mir der Jüngste vom Trupp auf. Wie ein Sack Kartoffeln hockte er in sich zusammengesunken auf seinem Pferd.

,,Sei nicht zu hart zu dem Jungen.“

,,Bist du heute der Moralapostel?“, gab ich gereizt zurück.

Elvan grinste. ,,Ratzegrün hinter den Ohren waren wir alle mal. Er muss noch ein bisschen zu Recht geschliffen werden.“

,,Leck mich. Du hättest doch Pfarrer werden sollen, anstatt mir die Ohren voll zu säuseln.“

,,Enthaltsamkeit ist nicht so mein Ding.“

,,Ach, wirklich?“ Aber mein Sarkasmus verflog.

Ich würde es nie zugeben, doch er hatte ja recht.

,,Solch einen Fehler wird er hoffentlich kein zweites Mal tun. Doch es ist zu spät, um daran noch etwas zu ändern. Sie wissen schon längst, dass wir hier sind“, sagte ich noch leiser und sah zu den Felsen hinüber, über denen der Morgen schon graute.

,,Machen wir, dass wir endlich von hier weg kommen.“ Ein kurzer Pfiff und ein ,,Vorwärts!“ und wir setzten uns in Bewegung.

,,Ich hoffe, sie schafft es“, hörte ich meinen Freund murmeln.

Ein letztes Mal schaute ich zurück zur Lichtung.

,,Lauf, Mädchen“, flüsterte ich. ,,Bis dich keiner mehr findet.“






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Publication Date: 05-14-2023

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