Ein leichter Ruck geht durchs Flugzeug und ich schaue
aus dem Fenster: Wir fahren. Die Gepäckswägelchen, die
Typen mit den grellen Neonwesten, die Busse, die zwi-
schen Fliegern und Terminals pendeln - sie gehören ei-
ner anderen Welt an, der Welt, die ich gerade verlasse,
um nach Indien zu fliegen. Ich fasse es selbst kaum: In-
dien! Um mich herum allgemeines Flugzeug-Gekrusch-
tel. Die Stewardessen eilen die Gänge entlang, klappen
die Fächer zu, beantworten die letzten Fragen, bevor es
losgeht: "Eine Decke? Natürlich." Fach auf, Fach zu.
"Hier, bitte sehr. - Entschuldigung, gehört das Ihnen?
Das muss unter den Sitz."
"Ich verstehe das nicht", sagt Mama. "Warum hat die
Hälfte der Leute ihre Sessel in Liegeposition geklappt,
wenn klar ist, dass wir gleich starten?" Sie dreht sich nach
der Stewardess um. "Wenn die dem Typen da vorne nicht
gleich das Handy wegnimmt, gehe ich selbst hin."
"Mama, beruhige dich."
"Ich will ja nur in Indien ankommen."
Ich auch. Wir sind aus unserer Parkbucht herausge-
fahren und ich wundere mich, wie es dem Piloten ge-
lungen ist, die Flügel der Nachbarvögel heil zu lassen.
Unser Flugzeug steht nun parallel zum Flughafenge-
bäude, in dem sich die Morgensonne spiegelt. Wow,
denke ich und schliesse eine Sekunde lang die Augen.
Jetzt geht es wirklich los. Tausend Ameisen krabbeln
durch mein Herz und es schlägt kräftiger, als das Flug-
zeug nun wirklich losfährt. Bislang sind wir nur rück-
wärts geglitten. Wie auf einem Schlitten oder einer wei-
chen Luftkissenschicht. Aber jetzt macht der Pilot
seinen Check, die Maschinen springen an, auf den Trag-
flächen bewegen sich Klappen, danach hört es sich so
an, als ob der Pilot Gas gibt. Doch wir stehen immer
noch und andere Klappen heben und senken sich.
"Wenn das mal gut geht", murmelt Mama und
stemmt sich in ihren Sitz.
Einmal ruckeln, zweimal ruckeln und wir fahren:
diesmal nach vorne. Von innen fühlt sich das wie eine
gemütliche Spazierfahrt in einer verkehrsruhigen
Zone an, aber ich bin mir sicher, dass wir bereits eine or-
dentliche Geschwindigkeit draufhaben. Wir rumpeln
über ein paar Bodenwellen und schwenken nach rechts,
stoppen, ruckeln weiter, stoppen. Am Horizont hängen
wie an einer Perlenschnur vier Flugzeuge im Landean-
flug. Wie eng die hintereinander wegkommen! Doch
das täuscht, das erste setzt in gleissendem Flimmerlicht
auf und donnert auf der Nachbarrollbahn an uns vor-
bei. Unser Flugzeug bebt und ich schaue wieder zum
Horizont: Das nächste Flugzeug hängt noch gut in der
Luft. Aber trotzdem, ich bewundere diese Massarbeit! In
dem Moment hört das Donnern auf und ich versuche,
einen Blick auf das gelandete Flugzeug zu erhaschen: Es
wendet, dreht schwerfällig die Nase in Richtung Termi-
nal und bewegt sich in genau bemessenem Zickzack auf
gelben und blauen Leitlinien dorthin. Und schon wie-
der donnert es und der nächste Flieger landet, a Hori-
zont die nicht enden wollende Perlenkette.
"Wir haben noch drei Flieger vor uns, bevor wir die
Starterlaubnis erhalten", sagt Mama. Es hört sich so an,
als ob sie aussteigen will.
Soll sie nur, ich bleibe hier sitzen und kralle meine
Fingernägel in die Armlehnen. Und wehe, es ist nur ein
Traum! Wehe, ich wache in zwei Minuten in meinem
Bett auf und alles ist vorbei. Ich klammere mich fester
an die Armlehnen und beobachte meine Knöchel dabei,
wie sie weiss werden. Entspann dich, Martha. Alles wird
gut. Alles ist so, wie du es dir vorgestellt hast, und der Be-
weis dafür ist dieses Flugzeug, die blau bezogene Dreier-
Sitzreihe vor dir, der Klapptisch, das Fach darunter mit
den Flugzeitschriften und der diskreten Papiertüte, falls
der Magen nicht mitspielt. Ich lockere meinen Griff und
lege gleich darauf die Hände in den Schoss. Nicht aufre.
gen, es reicht, wenn Mama herumspinnt. Du sitzt im
Flugzeug, keiner kriegt dich da wieder raus, denn dein
Schicksal ist besiegelt. Es nimmt seinen Lauf und du läufst
mit. Und während du auf diesem sternhellen Schicksals-
strahl an dem blausten aller blauer Morgen nach Indien
fliegst - Indien! -, verändert sich dein leben. Du weisst
nicht wie, aber es verändert sich, es verändert dich.
Das ist ein guter gedanke: Den muss ich sofort fest-
halten. Ich beuge mich nach vorne und ziehe mein Ta-
gebuch und den Stift aus dem Fach unterm Klapptisch
heraus. Mein Herz rast, als ich mich wieder zurück-
lehne. Himmel, bin ich aufgeregt: Wenn ich nur wüsste,
was mich dort erwartet!
"Nur das beste", hat lucia gesagt, als wir gestern
Abend miteinander telefoniert haben. "Das Beste für
meine beste Freundin und wehe, diese Inder sind doof
zu dir, dann rufst du mich an und ich komme und ver-
haue alle."
Ich lächle und ziehe ihren Brief aus dem Tagebuch.
"Mein Vermächtnis an dich", hat Lucia gemeint und laut
gelacht. Ich soll ihn erst lesen, wenn ich im Flieger sitze.
Gestern Abend kam mir dieser Moment unwirklich und
fremd vor: Ich? Im Flugzeug nach Indien? Ich meine,
was soll ich da? Ich käme doch nie im leben darauf, frei-
willig nach Indien zu fliegen. Sylt - vielleicht. Italien -
unbedingt. Aber Indien?
Es ruckelte und der nächste Schub Aufregung durchflu-
tet mich: Gleich ist es so weit. Gleich. In einer Minute?
Oder bleiben noch 25 Sekunden? Das Flug-
zeug dreht und ich recke den Hals, bis ich die Rollbahn
unter uns sehen kann. Himmel, hinter uns hört die Roll-
bahn auf. Nein, vor uns fängt sie an! Es geht also los,
endlich, in dreissig leise tickenden Sekunden oder weniger.
Der Gedanke durchfährt mich wie ein Blitzschlag:
Startposition bedeutet nur noch wenige Sekunden auf
dem Boden. Noch während ich das denke, fühle ich das
erste leise Zittern, das durch alles hindurchgeht. Das
sanfte Lieber-Passagier-stell-dich-darauf-ein-Vibrieren,
das kontinuierlich intensiver wird, bis die Füsse auf dem
Boden tanzen und die Sitze ruckeln.
"Die Stewardessen sitzen schon seit drei Minuten",
sagt Mama auch prompt. "Das sind die Triebwerke.."
Was sonst? Die Mikrowelle aus der Bordküche? Was
auch immer sie danach sagen will, es geht in wahnsin-
nigem Getöse unter: Wir donnern los. Von nurr auf al-
les. Von Stehen auf Fliegen. Uns kann niemand mehr
einholen, wir brettern mit hundertachzig, zweihun-
dert, dreihundert Sachen über die Startbahn und ich
lauere auf den Moment der Schwerelosigkeit, den Mo-
ment, in dem der Pilot die Flugzeugnase hochzieht. Ich
umklammere meinen Stift, meine Hand zuckt, als ob sie
schreiben will: Schicksal, Schicksal, Schicksal. Ein letz-
tes Rumpeln und die Landschaft kippt: Wir fliegen! Ver-
dammt noch mal: Wir fliegen! Bäume werden zu Baum-
wipfel zu Wäldern zu vagem Grün unter unendlichem
Blau.
Halt! Können wir das bitte noch einmal machen? So
schnell bin ich nicht im Loslassen. Ich schaue nach un-
ten, auf die rasch sich verändernde Landschaft, der Wald
von vorhin ist längst nicht mehr zu sehen und ich fühle
mich aus meinem Martha-Universum geschleudert. Ich
fühle mich haltlos und entwurzelt. Was, wenn doch al-
les anders wird, als ich es mir vorgestellt habe, wenn sich
das Leben auf eine Weise ändert, die ich nicht möchte?
Die Feuchtigkeit in meinen Handinnenflächen ist Angst
und ich wische sie ganz schnell an meiner Jeans ab. Al-
les wird gut. Das Schicksal ist gut und alles, was das
Schicksal bringt und je gebracht hat, ist gut.
"Sind wir bald da?", unterbricht mich mama in mei-
nen Gedanken und ich bin fast sauer. Wie kann sie mir
nur meinen heiligen Moment vermiesen?
"Du weinst ja."
Ja, das tue ich: Ich weine! Vor Glück. Vor Unglaube.
Kann sie das nicht verstehen? Wir sind im Begriff, etwas
völlig anderes in unserem leben zu tun. Wir fahren we-
der zu Oma und zu Opa noch in die Alpen, wir fahren we-
der in die Toskana noch an die Ostsee. Wir tun etwas
völlig Ausgefallenes! Wir sind eine vom Schicksal zu-
sammengschmiedete Abenteuerinnengesellschaft,
Mama und ich, und wir haben beide Angst.
Der Flieger neigt sich nach links und wieder säuselt
die Stimme in mir: Es geht los, Martha, es geht los. Der
Flieger ist auf Osten ausgerichtet. Es geht los...
Ich schlage energisch mein Tagebuch auf, denn ich
fühle, dass ich etwas tun muss, um mit meinen Gefüh-
len klarzukommen. Ich schreibe! Und am besten, ich
fage von vorne an und schaue mir mein Leben seit je-
ner Woche an, als Lucia ihre rauschende Osterfete gefei-
ert hat und mit Jan im Zug verschwunden ist. Drei Tage
danach ist sie wieder da und schwebt auf Wolke sieben.
Ich höre nur noch Jan und 'Ohne dich hätte ich das
nicht geschafft'. Das zermürbt mich, ich sehe es an den
Eintragungen, die nun aufgeschlagen auf meinen Knien
ruhen und mit mir nach Indien fliegen.
Ich fühle mich ausgelaugt. Seit Tagen flattert Lucia um
mich herum und mit ihr meine Energie. Mein ganzes Seh-
nen, mein Herz, meine Gefühle fliegen mit ihr. Ich durch-
lebe ihre Angst, Jan zu verlieren, kaum das sie ihn gewon-
nen hat, und ihre Angst vorm Alleinesein, wenn sie sich
nach den Wochenenden wieder trennen. Lucia läuft auf
zweihundert Prozent. Sie liebt ihn bis zum Anschlag. Jan hier,
Jan dort. Und ich stehe da und parke. Wo ist mein Jan?
Wo ist der, der zu mir gehört? Ich fühle mich einsam.
Es ist traurig, wenn einen das Glück anderer einsam
macht. Man fühlt sich mies und auf sich selbst zurück-
geworfen. Ich blättere weiter und bleibe an einem Ein-
trag aus den Sommerferien hängen:
Mama muss arbeiten und ich jobbe seit vier Wochen in
ihrer Agentur, herrjemine ist das peinlich: meine Mutter -
der Chef! Und alle machen sich klein vor ihr. Dazu
kommt, das die Typen, die dort arbeiten, zu jung für
Mama und zu alt für mich sind. Es sind zudem Kreative.
Ich langweile mich: von morgens bis abends Kaffee kochen,
brötchen schmieren, kopieren, Telefonzentrale - bin
ich überhaupt noch ein Mensch? Ich weiss nicht, wie
Mama das aushält. Ich will nie erwachsen werden, wenn
das so ist. Denn wo bleibt da die Liebe? Liebe ist alles.
Liebe ist Leben. Lucia ist ziemlich durcheinander, weil um
jan so viele Mädels herumtänzeln. Profi-Eishockeyspieler
eben. Ich mein, das musste ja so kommen. Wer so unver-
schämt gut aussieht, der hat an jedem Finger vier Frauen.
Aber Jan ist Jan. Er liebt Lucia und nach dem, was die bei-
den durchgemacht haben, wird sich daran auch nichts än-
dern! Ich bin also wieder im Auftrag der Liebe im Einsatz.
Das tut mir gut. Besser, ich werde Eheberaterin als Schau-
spielerin.
Ich stöhne, als ich diesen öden Sommer Revue passie-
ren lasse. Arbeiten und, weil Lucia am Wochenende mit
Jan unterwegs ist, alleine ins Schwimmbad gehen. Alle
Schwimmlehrer weg, keine Touristen, alle Studenten in
den Semesterferien - Durststrecke. Und dann eines Ta-
ges, meine Einträge werden immer deprimierter, macht
es Wummm! und das Leben haut mit schicksalsharter
faust hinein: der brief aus Indien! Von Simra, Mamas
bester Freundin aus Studientagen. Wir sollen zur Hoch-
zeit ihres Sohnes kommen und der Termin liegt auch
noch in den Herbstferien! Wir sitzen einen ganzen
Abend am Küchentisch und reden durcheinander. Kurz
vorm Schlafengehen schreibe ich ins tagebuch:
Eine Hand greift nach mir. Sie kommt aus dem osten
und sie zieht mich zu sich heran. Ohne diesen öden Som-
mer würde ich sie jetzt nicht spüren. Ich würde zu Lucia
gehen und sagen: Ich fahre nach Indien. Jetzt gehe ich zu Luica
und sage es mit zitternder Stimme. Noch ist diese
Hand eine vage Berührung, gleich dem Flimmern und
Kitzeln der Abendluft mit jedem Tag, den wir unseren Abflug
näherrücken. Fühlbarer. Immer fühlbarer.
Ich blättere, bis ich auf den Eintrag von heute Morgen
stosse:
Es geht los, es geht los, es geht los! Es klingelt an der Tür,
das Taxi ist da!!!
Wir fahren zum Bahnhof, fahren mit dem Zug, stei-
gen aus, fahren Rolltreppe, fahren endlose Rollbänder,
geben unsere Koffer ab, trinken Kaffee, gehen ungefähr
hundert Mal aufs Klo, lassen uns durchchecken, gehen
shoppen und landen endlich im Wartesaal. Und end-
lich sehe ich unser Flugzeug! Ich stehe sicherlich eine
halbe Stunde vor der Glasscheibe und versuche nach
ihm zu greifen - es steht dort unten und wartet auf uns -
wow! Ich umfahre es gedanklich mit meinem Zeigefin-
ger, dann schliesse ich es in meine Handinnenfläche
und zerreibe es an meinem Herz. Mama gesellt sich zu
mir und will wissen, ob ich aufgeregt bin. Ich sage Nein
und wir lachen wie die kleinen Mädchen los.
"Lufthansa", sagt sie, "Wir hätten auch mit Swiss flie-
gen können."
Ich schaue wieder zum Flugzeug und bin glücklich
über ihre Wahl. Lufthansa trägt das Symbol des Kra-
nichs, der wiederum das Symbol der Sonne ist.
Kranich! Vogel! Trag mich fort,
fort an einen and'ren Ort.
Sonnenvogel - heut vergessen,
früher hat man dich gegessen.
Dich opferte der Pharao
im Heiligtum, sonst nirgendwo.
Schönes, fernes, fremdes Indien! Du bist zu uns ge-
kommen und nicht wir zu dir. Es ist ein Unterschied, ob
ich in ein Reisebüro gehen und sage: "Guten Tag, ich will
ein Ticket nach Indien", oder ob man zu seinem Brief-
kasten geht und eine Einladung aufmacht. Im einen Fall
ist man aktiv, im anderen weckt einen das leben auf. Ich
bin wach wie noch nie! Wenn das Schicksal klopft, will
es, dass man aus seiner bisherigen erdachten Lebens-
bahn herausschaut. Es will, dass man woanders hin-
schaut. In meinem Fall nach Indien, in den Osten, in die
Sonne! Danach kommt die Ansage und das Boarden be-
ginnt.
"Das du jetzt schreiben kannst!", sagt mama und
guckt mir bewundernd auf die Hände. "Wir sind nicht
einmal ganz oben."
In dem Moment senkt sich die Flugzeugnase und die
Anschnallzeichen erlöschen. Oben - im himmelblauen
Himmel. Wenn das keine guten Vorzeichen sind für ei-
nen Wahnsinnsflug, einen Wahnsinnsurlaub und ein
Wahnsinnserlebnis? Ich schliesse die Augen und über-
lege, was das Schicksal von mir will. Stärke, Mut und Le-
benserfahrung - das habe ich alles. Es kann also nur ein
Mann sein: der eine Mann, der wahre Mann, der für
mich bestimmt ist, der mich ruft. Er steht an einem in-
dischen Strand und schaut auf die Arabische See.
Wo ist sie, meine Liebe?, denkt er.
Hier, flüstere ich.
"Wenn die nicht bald mit dem Getränkewagen vor-
beikommen, verdurste ich." Mama klappt genervt das
Tablett herunter. "Würde ich meinen Job so machen,
hätte ich mich schon längst rausgeschmissen."
Ich verdrehe die Augen und vertraue meinem Tage-
buch an, dass ich mir nichts mehr als eine lockere Mut-
ter wünsche. Unterdessen meckert Mama weiter:
"Hätte ich gewusst, dass diese Tussi für uns zuständig
ist, wäre ich erster Klasse geflogen."
Ja, und ich hätte achteinhalb Stunden am Stück ge-
lacht. Ich reisse Luicas Brief auf und überfliege ihre Zei-
len:
Liebste Martha, jetzt sitzt Du in Deinem Flugzeug nach
Indien und ich reise in Gedanken mit. Ich habe mit Jan
darüber gesprochen und Du weisst, wie Männer sind, na-
türlich sieht er da nichts Aufregendes dahinter. Ist halt 'ne
Reise, hat er gesagt. Aber das ist Blödsinn. Ich denke näm-
lich auch, dass es in allem einen tieferen Sinn gibt.
Manchmal versteht man ihn sofort, meistens erst Jahre
später, und wenn man Pech hat, nie! Das wollen wir mal
nicht hoffen, aber ich glaube, dass Dir etwas ganz Wun-
derbares passiert!
"Die zwei Männer - hast du die auch gesehen?", un-
terbricht mich Mama.
Ich schaue sie einen Augenblick verwirrt an.
"Na! Du weisst schon, wer.." Sie kichert.
Ach so, die! Ich nicke und will weiterlesen.
... etwas ganz wunderbares passieren wird, die In-
der..
"Ich mag es. Es hat so etwas Aristokratisches."
Ich lasse den Brief sinken und gucke Mama entgeis-
ter an. "Die zwei Deppen von vorhin? Mama, ich bitte
dich."
"Es sind keine Deppen, nur weil sie Kniebundhosen
tragen."
Was sonst? Ich meine, ich stehen im Frankfurter Flug-
hafen in einem Wartesaal, überall Menschen mit Reise-
führern nach Indien, dann kommen so zweu Hansel
daher, die so aussehen, als ob sie aufs Oktoberfest wohl-
len, und einer davon trägt einen Baum quer vorm Ge-
sicht.
"Ich jedenfalls mag das."
Ich schaue Mama an und verstehe, dass wir ihr drin-
gend einen Mann besorgen müssen. Ich notiere das so-
fort im tagebuch unter Punkt drei. Nach 'offen sein für
alles' und 'der Liebe zulächeln'.
"Hat Simra noch andere Europäer eingeladen?", frage
ich sie und schaue mich unauffällig im Flieger um. Falls
ja, dann doch hoffentlich jede Menge gut aussehende, erfolg-
reiche Geschäftstypen: Zuerst zählen sie einander ihre
Erfolge auf, danach diskutieren sie über Hotels. Wenn
sie mit allen Sheraton-Häusern dieser Welt durch sind,
bearbeiten sie die Sterne-Restaurants. Geht auch das
gut, bleiben ihnen dreissig Minuten ohne Gesprächs-
stoff bis zur Landung. In diesen Minuten ist alles mög-
lich!
Mama reckt ihren Hals und löst das Seidentuch aus
ihrem Haar. "Logisch sind wir nicht die einzigen Gäste.
Vielleicht gehört ja der Herr da hinten dazu?"
Ich lache, weil der Herr da hinten genau Mamas Kra-
genweite ist. Sie hätte sich auch den Typen in der Armee-
hose oder den Proll daneben herausspielen können,
aber die passen nicht ins Beuteschema. Graue haare, ad-
lige Ausstrahlung, Stil - ist das nicht vorhanden, kön-
nen die Männer einpacken.
"Wie wär's mit dem da?", halte ich dagegen und zeige
auf den schwarzhaarigen Mann mit dem Backenbart.
Mama runzelt die Stirn: Schwarze Haare sind böse,
schwarze Haare erinnern an Papa. Also schreibe ich un-
ter Punkt vier 'unvoreingenommen Chancen erken-
nen' und unter Punkt fünf 'dem Schicksal Hallo sa-
gen.'
"Hallo?"
Wir fliegen seit zweieinhalb Stunden und hinter mir
räuspert sich jemand, weil ich vor der Flugzeugtoilette
den Gang blockiere. Ausser mir und einer Dame steht
niemand da - die Leute sind mit Essen beschäftigt und
ich bin froh, nicht zu denen zu gehören, die mit dem
ersten Verschwinden der Anschnallzeichen aufspringen
und die Toiletten auf Stunden belegen.
"Entschuldigung..?"
Die Stimme klang fest und ich merke sofort, wie sie
auf meiner Haut einen leichten schauer hinterlässt, um
sich danach durch mich hindurchzuarbeiten, Schicht
für Schicht. Wow - wie ich das mag! Ich gebe viel auf
Stimmen. Sie sind Teil des Charakters. Politisch korrekt
ist das nicht, ich weiss. So mancher Kerl sieht wie ein
Kleiderschrank aus und kombiniert das mit unspekta-
kulärem Durchschnittsgemurmel. Um so mehr fahre
ich darauf ab, wenn etwas anders klingt. So wie das hier
direkt hinter mir, das mich nun anschweigt und so viel
Aura hat, dass ich mich nach vorne geschoben fühle.
Wow. Ich schliesse die Augen und stelle mir den Men-
schen dazu vor: Er ist energisch, männlich, gross, er trägt
blaue Jeans einen einfarbigen Pullover mit V-Aus-
schnitt und hat riesige, aber schöne Hände. Er ist keiner
dieser pickeligen jungen, die sich auf sich selbst konzen-
trieren müssen, bevor sie einen Ton herausbekommen.
Dieser Mann hier weiss, was er will, und ich brauche ihn
nicht erst anzugucken um das zu wissen. Ich grinse.
Möglicherweise wartet ja doch keiner an der Arabischen
See auf mich, sondern hier in der Schlange vor der Flug-
zeugtoilette? Zwischen Motorengebrumm und Klospü-
lung! Was wohl passiert, wenn ich einfach stehen
bleibe? Ein weiteres Räuspern oder schiebt er sich hin-
ter mir durch? Ich könnte mich doch einfach mal räkeln
und dabei mit dem Ellenbogen ausversehen ausfahren!
Mist. Es passiert nichts.
Dann strecke ich eben noch den Arm aus.
Ein Hauch von irgendetwas streift meinen nach oben
gereckten Arm und ich stelle zufrieden fest, dass die
Stimme wirklich so gross ist, wie ich es vermutet habe.
Ein halber Zentimeter nur - ein hocherotischer halbter
Zentimeter! Ich grinse fast, als sich die Stimme materia-
lisiert. Erst spüre ich ihn an der Schulter, danach legt
sich eine Hand kurz um mein Handgelenkt.
"Pardon", sagt die Stimme und schiebt mich ein we-
nig nach vorne.
Jetzt muss ich nur noch gucken und überrascht tun,
ich Luder. Aber ich komme nicht dazu: Die Spülung
röhrt, die Tür geht auf und der ältere der beiden Okto-
berfest-Kandidaten kommt heraus: Edelweiss-Hemd,
unrasierte Beine graue Wollsocken, Wanderstiefen. Hol-
lerodiö! Der Augenblick ist futsch.
"Möchten Sie?", fragt er die Dame vor mir und ich
frage mich, was sie denn sonst hier wollen soll: die Ei-
ger-Nordwand besteigen?
Er hält elegant die Tür auf und die Dame schrabbt an
seiner krachledernen Hose vorbei.
"Na?", sagt er dann zu mir.
Zu mir! Und ich bin ganz verwirrt. Kenne ich den
Mann? Haben wir uns beim Einsteigen unterhalten?
O.K, er hat Mama angeguckt, als wir an ihm vorbei zu
den billigin Rängen der Economy-Class gegangen
sind - gewissermassen gehört auch er zur allgemeinen
Abenteurergemeinschaft dieses Flugzeugs, aber..
"Gut geschlafen?" setzt er nach und schaut so fröh-
lich, so umgehemmt gut gelaunt, als ob ihm auf der Toi-
lette der beste Witz des Lebens begegnet wäre.
Ich will schon antworten, da sagt die maskuline
Stimme hinter mir: " Man tut, was man kann."
"Nein!", entfährt es mir und ich reisse die Augen auf.
Herr Hollerodidö hat gar nicht mit mir gesprochen! Die
Besteigung der Nordwand, der beste Witz des Lebens -
alles nicht wahr! Die Stimme, sexy, rau und franzö-
sisch - alles gelogen! Hinter mir steht der Typ mit der
Monsterbrille, die bayrische Antwort auf Frankenstein,
die mich gerade am Ellenbogen zur Seite zieht, weil eine
Stewardess mit dem Wägelchen vorbeirumpelt.
"Wolltest du nicht auf die Toilette gehen?", fragt mich
Mama, als ich mich neben sie auf den Sitz fallen lasse.
"Ich will nicht darüber reden."
Mama nickt kurz und vertieft sich wieder in ihre
Cosmopoliton. Ich bin ganz zittrig vor Schreck und
Wut auf mich. Da waren doch diese good vibrations!
Nun stellt sich heraus, dass ich mir das alles nur einge-
bildet habe: die Stimme, die aufgestellten Härchen auf
meinem Arm, das Kribbeln - alles ein riesengrosses Ver-
sehen. Ich bin das Opfer einer haarsträubenden Ver-
wechslungsgeschichte. Eigentlich steht nämlich James
Bond hinter mir, er will durch, sagt Hallo - Spannung!
Sex! Erotik! -. doch dann verkrümelt er sich wieder,
weil er feststellt, dass er seine Walther PPK 7,65 mm
unterm Sitz vergessen hat. Nur deshalb rückt Lederho-
sen-Frankenstein auf: erster Klasse fliegen, zweiter
Klasse pinkeln, dritter Klasse aussehen, das hab ich
gerne. Ich zücke grollend mein Tagebuch und lasse
meinem Ärger freien Lauf. Er stand hinter mir - die
ganze Zeit - Hollerodidö Junior! Ich hätte mich ein-
fach nur umdrehen müssen und es wäre klar gewesen.
So kann man sich den Urlaub auch versauen!
Liebe lucia,
beginne ich meinen Brief an sie. Wir ha-
ben ausgemacht, dass ich ihr fortlaufend schreibe, dass
ich meinen ersten Brief im Hotel in Mumbai abgebe,
den nächsten in Hyderabad. Danke für deine lieben
Worte. Ich sitze im flieger und mir passierem gerade die
ersten wunderbaren Dinge - haha. Die Inder werden mich
hoffentlich mögen. Wenn du das schreibst, wird das be-
stimmt so sein. Was die anderen Fluggäste angeht, hoffe
ich, dass sie mich nicht mögen. Das wäre nämlich grau-
enhaft. Ich hatte gerade eine Begegnung der dritten Art:
Erinnerst du dich noch an die riesengrossen Chemiebril-
len? Stell dir diese Ausmasse an einem einsachzig grossen
Typen vor, in erstens: Lederhose mit röhrendem Elch auf
dem Latz, zweitens: graue Ledersandalen, drittens: rot-
weiss kariertem Hemd. Da retter der rattenscharfe Herren-
haarschnitt nichts mehr. Vor allem, wenn man einen bart
zwischen Lippe und Nase hat und sonst auch unrasiert ist.
Jeder Rübezahl sieht im Bayernjankerl besser aus!
Ich setze den Stift ab, weil ich mich ausgepowert fühle.
Lästern ist anstrengend und widerspricht meinen
Grundregeln der Nächstenliebe. Also ändere ich das
Thema und erkläre Lucia, was es mit dem Kranich auf
sich hat: Unterstamm Vertebrata, Klasse Aves, Ordnung
Gruinformes, Sonnenvogel in der ägyptischen Mytholo-
gie, Firmenzeichnung der Lufthansa seit 1926, mein Schick-
salsvogel seit heute: Kranich wie Sonne wie Sonnen-
schein wie Zukunft wie Glück wie Leben wie Schicksal.
Alles ist miteinander verwoben, alles hat miteinander zu
tun und ich stecke mittendrin! In vier Stunden sind wir
da, Lucia, in vier Stunden sehe ich Indien, in vier Stun-
den habe ich Frankenstein vergessen.
Wir sind da. Unter mir indischer Boden, um mich
herum indische Luft, schwül, klebrig, feucht wie ein gros-
sses, in der Mikrowelle heiss gemachtes Badehantuch,
Schlappschlapp legt es sich um mich herum und saftet
mich ein. Ich fange sofort an, mich auszuziehen. Und
wie es hier riecht! Ich halte meine Nase in die Luft und
rieche gar nichts. Vielleicht werden die Gerüche Indiens
ein wenig überbewertet. Trotzdem versuche ich es gleich
noch einmal, atme schwer durch die Nase, ziehe und
ziehe und fühle, wie sich die warme Luft in mir aus-
dehnt.
"Hast du Schnupfen? Hier hast du ein Taschentuch."
Mama hat für solche Annäherungsversuche an ein
Land kein Verständnis. Sie drängelt sich durch die Rei-
senden hindurch, stellt sich an allen Schlangen vorne
an, lächelt weder beim Immigration-Officer noch bei
den Security-Fritzen, die unsere Tickets checken. Mama
ist im Ankomm-Modus. "Wir werden abgeholt", sagt sie
hektisch und zieht unsere Reiseunterlagen aus der
Handtasche. "Ich kann es kaum erwarten, eine heisse
Dusche zu nehmen. Wenn sich der typ vom Hotel aller-
dings Zeit lässt, wird das heute nichts mehr und das
würde mich ehrlich nerven."
"Mama, lass uns wenigstens mal ankommen", versu-
che ich sie zu bremsen.
"Wieso? Wir sind doch da!"
Sie vielleicht - ich nicht. Ich muss mir erst darüber
klar werden, dass wir gelandet sind. Dass die Lichter un-
ter uns die von Mumbai waren. Dass wir aus dieser
Halle heraus und in Mumbais tiefste Nacht treten wer-
den. Mumbai - wie sich das schon anhört!
"Jetzt trödel doch nicht so herum."
"Mama, hier ist alles indisch!"
"Na, so was!" Sie wirft mir einen genervten Blick zu
und rennt plötzlich los. Ich komme kaum noch mit
dem Koffer hinterher, dabei will ich doch Inden gu-
cken.
"Man muss immer beschäftigt aussehen", sagt sie. "So
tun, als ob man ganz genau weiss, wo's langgeht. Geld
ist gewechselt. Also auf in den Kampf!" Dabei richtet sie
sich zu voller Grösse auf und rennt auf den Ausgang zu.
Moment! Das geht so nicht. Mama kann doch nicht
einfach da rausgehen! Muss man nicht vorher Sektkor-
ken knallen lassen? Einander in die Arme fallen und
Postkarten kaufen? Meditieren und den Sinn des Lebens
für sich ausbaldowern? Was ist tue, will ich bewusst
tun. Ich möchte jeden Augenblick wissen, was ich fühle
und warum ich es so fühle. Die Glastür schwingt auf
und ich sehe fünfundachzig Inder hinter einer Absper-
rung stehen. Meine ersten echten Inder! Und sie sehen
alle so aus, als ob sie nur meinetwegen wach geblieben
sind!
"Sollen wir nicht lieber drinnen warten?", frage ich
vorsichtig.
Mama lacht eine Mischung aus Chef- und Kolonial-
herrenlachen. "Wo bleibt dieser kerl?", fragt sie und ich
ahne, dass sie in drei Mimuten alle funfündachtzig Inder
entlassen wird. Einfach so.
"Wir können doch laufen", schlage ich vor und gucke
aus sicherer Entfernung in die Inder-Menge. "Da drau-
ssen ist Indien." Man könnte ausserdem ein wenig gu-
cken und sich anklimatisieren, man könnte versuchen,
den Augenblick der Ankunft zu verinnerlichen. Ich
schliesse die Augen und verinnerliche: Danke, dass ich
hier sein darf!
Ich unterdrücke meinen spontanen Im-
puls, um die Absperrung herumzulaufen und jedem die
Hand zu schütteln. Danke, dass ihr auf mich wartet.
Danke, dass es euch gibt.
"Laufen? Bist du verrückt?", fährt mich Mama an.
"Wieso? Die sehen doch alle ganz harmlos aus. Und
wenn wir sie darum bitten, helfen die uns bestimmt."
"Du bleibst schön da."
In Ordnung. Aber das ist kein Grund, gestresst auszu-
sehen. Ich meine, wir sind achteinhalb Stunden geflo-
gen, vor uns liegt Mumbai in tiefster Abendruhe, es ist
22 Uhr, wir sind unter Menschen, die Welt ist gut. Da
kann man schon mal den Koffer unter den Arm nehmen
und drei Schritte laufen.
"Da!", schreit Mama plötzlich und spreisselt auf einen
Typen mit Schild zu. Er sieht aus wie der Fahrer von
Prinz Charles und hält ein Schild mit unseren Namen
in die Höhe. Ich sehe, wie Mama ein Stein vom Herzen
fällt. "Der bringt uns aus der Hölle hier heraus."
Was für eine Hölle? Ich schaue mich um und regis-
triere, dass Mumbai doch nicht in so grosser Abendruhe
liegt wie angenommen: Ständigt hupt es, die Lautspre-
cheranlage grölt und irgendwie schreien auch alle
durcheinander. Aber so schlimm ist das auch nicht, man
muss sich eben darauf einstellen: Danke, Schicksal, für
die Reise. Danke für den guten Flug. Danke für die
Wärme, mit der du mich empfängst.
"Sieh an. Die Rogoffs sind auch gerade angekommen.
Simra hat mir geschrieben, dass wir ihnen voraussicht-
lich heute oder morgen über den Weg laufen werden."
Ich mache die Augen wieder auf: Neben der Tafel mit
unseren Namen hält Prinz Charles eine weitere Tafel
über den Kopf.
"Wir können doch den Bus nehmen", schlage ich vor.
"Anstatt hier herumzustehen und auf die Rogoffs zu
warten. Möglicherweise hat unser Fahrer noch mehr
Schilder und wir warten, bis wir schwarz werden." Noch
während ich das sage, verändert sich Mamas Gesichts-
ausdruck. Manchmal sieht man im Glanz eines Augen-
paares, wie die Welt sein könnte. Bei Mama: fremd,
distanziert, beherrschbar. Ich schwöre, die kalten Enden
dieses Blickes gesehen zu haben. Doch nun ziehen über
ihre Augenfelder Blitz-Regenschauer und eine kom-
plette Landschaft wäscht sich binnen Sekunden weiss
und färbt sich neu: strahlend, froh und unwiederstehlich.
Ich sehe Mamas Lippen lächeln, sehe die Verwandlung
ihrer Augen von reinen Wahrnehmungsorgan zum
dunkelbraunen, geheimnissvollen Mandelblick und ich
verstehe, dass dieser Augenblick der letzte meiner unbe-
rührten Indien Träume ist. Das alles, was jetzt kommt,
zum grossen Flügelrauschen des Schicksals gehört, das
in dieser mächtigen Zeiteinheit über uns hinwegfliegt
und unser Denken und Streben in eine neue Richtung
lenkt. Danach hörte ich die Stimme:
"Michael von Rogoff, ich bevorzuge Mike, wenn es
nichts ausmacht."
"Monika Bach."
Zwei Hände berühren sich und die Leuchtstoffröhre
beginnt über uns zu flackern. An, aus - an, aus.
Ja, Schicksal, ich habe es gemerkt. Mama und Rogoff.
Kannst jetzt aufhören zu flackern.
Mit einem Seufzen
drehe ich mich der ausgestreckten Hand zu und streiche
zeitgleich Punkt drei von meiner To-Do-Liste: Mama ei-
nen Mann finden. Hat sich erledigt. Ich greife nach der
Hand, blinzle - wohlan, Schicksal gib's mir - und öffne
danach die Augen: der Lederhosen-Terror von Mumbai!
Die Münchner Aktivisten Gruppe zur Einführung der
Weisswurst!
"Hallo", sagt Rogoff und drückt mir die Hand. "Das
hier ist mein Sohn Nikolai."
Sohn Nikolai, also. Wohlan, Schicksal, du prüfst mich.
Ich erweise mich als würdig.
Ich lächle tapfer als mir Nikolai in die Augen schaut
und die Leuchtstoffröhre zu flackern aufhört. Ich lächle
mich tapfer durch Bart und Panzerglas hindurch. Nur
nichts anmerken lassen. Nikolai ist ganz arg nett. Er
kann nichts für sein Aussehen. Da, wo er herkommt,
kennt er das bestimmt nicht: dass die Leute nett zu ihm
sind, insbesondere Frauen. Wahrscheinlich stürzt ihn
das in so grosse Verlegenheit, dass er den Rest der Hoch-
zeit traumatisiert und verliebt hinter mir hertrottelt.
"Wir hatten schon das vergnügen", sagt Nikolai
knapp und wendet sich sofort ab.
Da bin ich dann doch sprachlos. Schlechtes Aussehen
und gute Manieren gehören zusammen wie das Amen
und die Kirche. Nikolai hätte mich also mindestens
zehn Minuten mit Schuljungen-Themen vollschwätzen
müssen, stattdessen winkt er zwei Inder her und zeigt
auf unser Gepäck. Ich meine, was macht er da? Eine
halbe Minute später sehe ich Mama mit einem zahnlo-
sen Opa um ihr Gepäckstück ringen. Ich will gerade
denken: Hoffentlich hat sie ihr Geld in der Handtasche,
da lässt Mama los, weil ihr Alt-Rogoff seine Hand auf
den Arm legt. Es ist wie in einem Traum: Die Neonröhre
flackert wieder, Menschen rechts und links, Mama und
Rogoff untergehackt, bis sie das Dunkel jenseits der fünf-
undachtzig Inder verschluckt - ein wunderschöner, un-
wirklicher Traum, wäre nicht Jung-Rogoff, der mir im
Befehlston "Lass das stehen" sagt.
Ich sage Nein, er sagt Doch, ich sage Nein, er drückt
einem zweiten Opa seine Tasche in den Arm, er sagt Ja,
ich sage Nein, dann nimmt er mir den Koffer ab und
drückt ihn einem dritten Opa in die Hand und ich
denke: Verdammt, da ist mein Strickzeug drin. Idiot,
will
ich sagen und kümmere dich gefälligst um deinen Kram.
Dazu komme ich aber nicht, denn er befiehlt: "Komm
mit", und läuft einfach so zur Absperrung. Ohne sich
ein Mal nach mir umzuschauen.
Herrgottnochmal!
Wenn ich so aussehen würde! Mit so einer Brille - ich
mein', hat er die selbst gezimmert? Wir leben im 21.
Jahrhundert, es gibt Stylisten es gibt Männerzeitschrif-
ten, es gibt Frauen mit Ansprüchen, und wenn's nur An-
sprüche an gutes Benehmen sind! Alles an ihm vorbei-
gegangen! Und dem soll ich nun hinterherlaufen?
Ich werfe mir die Jacke über die Schulter und schlen-
dere meine ersten Meter auf indischem Boden: Ich bin
in Indien. Mama hat einen Mann. Mein Stiefbruder hat
einen Schnauzbart wie ein Walross. Ich bin in Indien.
"Geht's ein bisschen schneller?"
Na also. Er kann sich doch umdrehen. Ich schlendere
weiter und denke an Mamas Lieblingsspruch: Vater so,
Mutter so, Kind ballaballa. Ich bin in Indien.
"Da lang."
Ich bin in Indien. Ich schlendere, ich lasse mich nicht
herumkommandieren.
Wir passieren die Absperrung und ich bin überwäl-
tigt. Das ist also mein erster Indischer Himmelsfetzen,
die erste indische Erde zu meinen Füssen. Während ich
den Boden berühre, steigt ein Taxi in die Bremsen und
ein Paar kugelrunde Scheinwerferaugen schlittern direkt
auf mich zu. Was danach kommt, geht viel zu schnell,
als dass ich es verstehen würde: Etwas packt mich, etwas
reisst mich von den Füssen, danach stehe ich auf einem
abgerissenen Bordsteinsims und sehe eine schwarze Ta-
xitür an mir vorbeiziehen.
Ich bin völlig schockiert. Ich meine, ich will dieses
Land grüssen und werde als Erstes von einem ollen Taxi
umgenietet! Wenn das mein Karma ist, dann herzlichen
Dank.
"Tu mir einen Gefallen und schau nach rechts, wenn du
über die Strasse gehst - Linksverkehr", sagt in dem Mo-
ment Nikolai und ich registriere seinen Stahlgriff an
meinem Oberarm. Ich schaue ihn an, ich schaue in das,
was die Brille von seinen Augen übriggelassen hat. Ein
fester Blick? Habe ich das wirklich gesehen, bevor er sich
wegdreht und weitergeht? Ich betrachte seine Silhouette
in der Dunkelheit. Sie passt sich nahtlos an die Umge-
bung ein, smart, ungezwungen und elegant. Ein Mann
mit zwei Seiten, schiess es mir durch den Kopf. Ich will
weiterdenken, merke aber meinen Widerwillen dage-
gen. Es ist alles nur Masche! Er weiss, wie es um ihn
steht, und wendet es zu seinem Vorteil: Knapp und
weg - das ich nicht lacheè Er will mich in seine Höhle
locken. Er denkt, ich fühle mich beleidigt, weil er anders
reagiert als normal-hässliche Männer, und zack
, denkt
er, beisse ich an und werde neugierig. Vergiss es! Es gibt
Wichtigeres im Leben.
Als ich am Auto ankomme, bin ich genervt. Ich freue
mich für Mama. Sie hat ihr Netz ausgeworfen und Mike
-30 Vortsetzung folgt! (:
Publication Date: 01-16-2012
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