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Prolog

Jeder Schritt musste gezählt werden. Sieben Schritte nach links. Dann nach rechts wenden und weitere dreißig Schritte die Gasse hinunter. Ein Blinzeln durch die schwarze Stoffbinde um seine Augen, dann weiter geradeaus über den Marktplatz. Vierzehn Schritte. Die Stände waren kürzlich neu geordnet worden und Bran hatte sich eine andere Schrittfolge einprägen müssen. Er war noch unsicher, aber es half, ab und an einen Blick durch seine Augenbinde zu wagen und sich an den Schemen zu orientieren. Fünf Schritte nach rechts. Jetzt konnte er das Zählen sein lassen und sich von den Stimmen leiten lassen. Tante Bedelias Organ, mit dem sie ihre Waren anpries, war jedenfalls nicht zu überhören.

Bedelia verkaufte gefärbte Stoffe. Ihre Arme waren stets bis zu den Ellenbogen tiefblau vom Waid. Jedenfalls beklagte sie sich andauernd darüber, denn Bran wusste nicht genau, was Tiefblau war. Er kannte keine Farben außer Grau, Schwarz und Silber. Die Farben der Nacht. Bran war mit einer Eigenschaft zur Welt gekommen, die man wohl als Tagblindheit bezeichnen musste. Das Licht der Sonne war zu stark für seine Augen, es blendete ihn, bereitete sengende, stechende Schmerzen, die es verhinderten, dass er seine Lider für mehr als ein kurzes Flattern heben konnte. In der Nacht hingegen, wenn der Mond schien und alle anderen Menschen unsicher im Dunkeln tappten, so wie er gerade über den Marktplatz, sah er gestochen scharf. Kein Schatten entging ihm, kein funkelndes Augenpaar in den Büschen. Auch nicht die dunkler gefärbte Haut an Tante Bedelias Armen, die bis zu den Ellenbogen reichte. Aber was Blau war, davon hatte er nur eine sehr vage Ahnung.

»Guten Morgen, Faulpelz«, begrüßte ihn die Tante neckisch. »Wenn du immer so lang in den Vormittag hineinschläfst, wird aus dir nie etwas werden.«

Als ob aus mir jemals etwas wird, dachte Bran, ballte die Fäuste und entspannte sie wieder. Für einen Tagblinden wie ihn gab es keinerlei ernsthafte Verwendung. Nicht einmal in einer finsteren Schmiede konnte er aushelfen, weil ihn die Funken zu sehr blendeten. Bei dem Gedanken an eine Schmiede musste er unwillkürlich seufzen. Seine Mutter hatte einst eine Silberschmiede besessen und war über die Grenzen der Hafenstadt Farolaín hinaus für ihre Künste berühmt gewesen. Aber dann hatte das tückische Schweißfieber sie überfallen und sie in nur einer Nacht zu Grunde gerichtet. Die Tante hatte die Schmiede geerbt und verpachtete sie, weil sie sonst nichts damit anzufangen wusste. Und sie hatte ihn, Bran, zu sich genommen. Bedelia war nett zu ihm, sie sorgte dafür, dass er satt wurde und ein Dach über dem Kopf hatte, aber sie schenkte ihm keine Liebe. Sie hatte ihn bei sich aufgenommen, weil das Testament seiner Mutter für den, der sich um ihren Sohn kümmerte, eine ordentliche Geldsumme vorgesehen hatte. Bedelia tat ihre Pflicht. Mehr konnte niemand von ihr verlangen.

»Bist du gekommen, um mir beim Verkaufen zu helfen, Branceánn, oder willst du hier nur herumlungern?«, fragte sie. Die Tante nannte ihn stets bei seinem vollen Namen, wo alle Welt ihn nur Bran rief.

»Eigentlich wollte ich mir nachher die Parade des Königs ansehen«, gab er zur Auskunft.

»Ansehen?« Sie lachte gackernd wie ein aufgescheuchtes Huhn.

Bran verschränkte gekränkt die Arme. Bedelia verstand einfach nicht, dass er auf seine ganz eigene Art auch ohne Augen sehen konnte. Seine Augen mochten am Tage ihren Dienst nicht tun, aber sein Geruchs- und Tastsinn sowie das Gehör funktionierten umso besser. Das Gemisch aus Düften, Geräuschen und Gefühlen ergab ein Bild, das seine Augen vielleicht noch ergänzen könnten, aber das sie nicht zwingend erforderlich machte. Er wollte zu dieser Parade. Wollte die Fanfaren hören, die von der Ankunft König Balians kündeten. Der hatte seine Hände nach dieser Stadt ausgestreckt, die ihm aber immer wieder wie ein glitschiger Fisch durch die Finger glitt. Farolaín war besonders: sie befand sich auf der Insel, die unter der Herrschaft des Großkönigs Balian stand, und wurde auf drei Seiten vom südlichen Teil des gleichnamigen Landes umschlossen. Die Herrschaft über die große Hafenstadt aber gehörte immer noch Tharog, dem benachbarten Inselreich, und dessen Fürst gedachte auch nicht, seine Rechte an Farolaín oder allem, was sonst noch zu Tharog gehörte, an den Großkönig abzutreten. Letzterer hatte aber dennoch beschlossen, mehr Präsenz in Farolaín zu zeigen. Wohl, um ihnen allen eindrücklich in Erinnerung zu rufen, dass er noch da war und so leicht nicht aufgab. Für Bran spielte das alles nur eine untergeordnete Rolle. Er war gerade fünfzehn Jahre alt und interessierte sich nicht sonderlich für politische Belange außerhalb der Gasse, in der er wohnte. Er wollte zu der Parade, um einen König zu sehen, wenn es die Gelegenheit schon einmal gab. Wie oft erhielt man diese schon?

Er half der Tante, ein paar zerwühlte Stoffballen neu und ordentlich aufzuwickeln. Eine Arbeit, für die er seine Augen nicht brauchte, nur seine tastenden Finger. Anschließend bat er sie um ein paar Münzen, um sich in der Garküche etwas zum Mittagessen kaufen zu können oder an einem der Marktstände eine Pastete zu erstehen. Er spürte Bedelias Widerwillen an dem überschwänglichen Druck, mit dem sie ihm das Geldstück in die Hand drückte, beinahe so, als wolle sie ihn mit der Bewegung von sich stoßen. Bran nahm es hin. Er war es gewohnt, dass die Tante es nicht mochte, wenn er ihr zu nahe kam oder sie ihm Geld geben musste. Wer konnte es ihr verdenken? Sie meinte es ja nicht böse.

»Erwarte nicht, dass ich dich bis zur Absperrung bringe!«, wetterte sie. »Ich habe keine Zeit für so etwas. Ich habe einen Marktstand zu betreuen! Du musst schon selbst sehen, wie du dort hinkommst, wenn du dir dieses sinnlose Gedränge unbedingt antun willst.«

Bran wich ein wenig zurück, weil er an den feinen Luftzügen bemerkte, wie ausladend seine Tante gestikulierte. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie ihm damit versehentlich einen schmerzhaften Streich über die Wange versetzte, weil er nicht rechtzeitig in Deckung gegangen war. »Ich finde schon alleine hin«, beschwichtigte er sie, obgleich er sich nicht so ganz sicher war, ob das stimmte. Er würde den Stimmen folgen müssen. Dem spürbaren Sog der Menge, die sich auf das Ereignis zubewegte. Er würde seine Ellenbogen einsetzen und rempeln müssen wie alle anderen, um bis an die Absperrung zu gelangen. Auch wenn seine Augen nutzlos waren, wollte er in der vordersten Reihe stehen, um alles so nahe wie möglich mitzubekommen. Das Hufgetrappel der königlichen Pferde zum Beispiel, die Schritte der Leibwächtergarde und vielleicht sogar einen Hauch des Duftes, den der Herrscher verströmte. Wie mochte ein König riechen? Sicher nicht wie ein gewöhnlicher Mensch nach Schweiß, gebratenen Zwiebeln und alten Fürzen. Er stellte sich vor, dass König Balian nach Lilien roch. Oder vielleicht nach Lavendel. Sicher konnte er jeden Tag in duftendem Wasser baden, während Bran nur an den Abenden vor großen Feiertagen in den großen Zuber durfte, in dem die Tante ihm dann lauwarmes Seifenwasser mischte. Ansonsten musste er sich mit Katzenwäschen mit eisigem Brunnenwasser begnügen.

Bran hielt inne und versuchte sich zu orientieren. Er gestattete sich ein kurzes Blinzeln durch die Augenbinde und gewahrte einen Pulk von Menschen etwa acht Schritte zu seiner Linken. Er steuerte auf sie zu, die Hände immer vorsichtig tastend nach vorn gerichtet, um etwaige Hindernisse rechtzeitig zu bemerken.

»He da!«, rief einer und rempelte ihn an. »Spielst du Blindekuh?«

Bran kam ins Straucheln und schaffte es gerade so, das Gleichgewicht zu halten und nicht hinzufallen. Der Rempler schien sich zu entfernen. Es war nicht das erste Mal, dass man ihn dergleichen foppte und irgendwann hatte er aufgegeben, sich darüber zu ärgern. Mochten die Leute doch denken, dass er Blindekuh spielte, er tat damit ja niemandem weh. Kaum, dass er den Pulk erreicht hatte, wurde er beinahe wie von selbst mitgezogen. Es ging vorwärts. Bran versuchte, Schritt zu halten und dabei niemandem auf die Zehen oder Fersen zu treten. Mit dem Blick auf den Boden gerichtet konnte er ein wenig länger und öfter blinzeln, weil ihn hier kein direktes Sonnenlicht blendete. Er hatte sich einen trüben Tag für die Parade gewünscht, um vielleicht etwas mehr davon zu erhaschen, aber strahlender Sonnenschein schüttete seinen Hohn über ihn aus. Nun gut, dann eben nicht.

Er brauchte seine Ellenbogen kaum. Sein Glück war, so traurig es auch sein mochte, dass die Leute ganz von selbst vor ihm zurückwichen. Ihnen graute vor ihm. Keiner wollte in der Nähe eines seltsamen, halbwüchsigen Jungen mit einer schwarzen Augenbinde stehen. Er selbst hätte es wahrscheinlich auch nicht gewollt, zumal er wusste, was die Leute zuweilen über ihn erzählten. Dass er unter einer ansteckenden Krankheit litt, zum Beispiel. Oder dass er von bösen Geistern besessen war und man ihm die Augenbinde umgelegt hatte, damit er mit seinem Blick nicht die anderen Menschen verfluchen konnte. Manche sagten wiederum, er besäße überhaupt keine Augen, sondern nur leere, klaffende Höhlen an deren Stellen. Manchmal wünschte Bran, dass es tatsächlich so wäre, denn das würde ihm zumindest den ekelhaften Schmerz ersparen, der sich wie spitze Nadeln in sein Gehirn schraubte, wenn er von gleißendem Tageslicht geblendet wurde.

Mit dem Bauch stieß er gegen ein schmales, nachgiebiges Hindernis, das sich nach kurzem Betasten als Seil entpuppte. Die Absperrung. Erleichtert atmete er auf. Er hatte es geschafft. Nun hieß es abwarten. Immer mehr Menschen drängten sich an die breite Straße, die der König mit seinem Festzug passieren sollte. Bran wurde eng gegen das Seil gedrängt, das unangenehm in seinen Magen drückte. Wenn er nicht aufpasste, würde er bald darüber baumeln wie eines der Wäschestücke, die Tante Bedelia zum Trocknen in den Hinterhof hängte. Und dann ertönten endlich die Fanfaren, die das Eintreffen des Königs verkündeten. Brans Aufregung wuchs. Er hob den Kopf, hielt die Nase in die Luft und versuchte, all die anderen Störgeräusche um sich herum auszublenden, um sich nur auf die Straße vor ihm zu konzentrieren.

Er roch die herantrabenden Pferde, noch bevor er deren Hufgeklapper auf dem Kopfsteinpflaster hören konnte. Es war der typische, süßlich-herbe Geruch der Tiere und ihrer Hinterlassenschaften, gemischt mit Stroh und Erde. Als sie direkt an ihm vorüberschritten, spürte er die Wellen der Wärme, die ihre Leiber aussandten. Bran mochte Pferde. Ihre Gegenwart beruhigte ihn, trotz ihrer Größe und ihres Temperaments. Dann wehte ein Bouquet zu ihm herüber, das er zuvor noch nie gerochen hatte. Es waren keine Lilien und kein Lavendel, sondern viel feiner. Ein pudriger Geruch mit einem Hauch von Maiglöckchen, unterlegt von Moschus. Der Luftzug, der Bran um die Nase wehte, als der König passierte, war kaum stärker als der Flügelschlag eines Schmetterlings. Und doch gab es für einen kurzen Moment nichts anderes als seinen Duft. Mit erschütternder Plötzlichkeit erkannte Bran, dass es ihm nicht reichte, den König zu riechen, zu hören und seine Gegenwart zu spüren. Die meiste Zeit hielt er seinen bei Tage fehlenden Sinn für durchaus verzichtbar, aber nicht heute, nicht jetzt und hier. Konnte er ein Blinzeln riskieren? Er musste es. Ansonsten würde er auf ewig bereuen, dass er es nicht wenigstens einmal versucht hatte.

Langsam hob er den Kopf und wandte ihn in die Richtung, in die der feine Duft ihn führte. Zwang seine Augenlider, sich zu heben. Sachte. Er spürte den Widerstand seiner langen, dichten Wimpern gegen die schwarze Augenbinde. Nur sehr schemenhaft erkannte er eine Silhouette, die kleiner und gebeugter erschien als er es sich vorgestellt hatte. Seine Neugier wuchs ins Unendliche. Nur ein kleiner Blick, ein winzig kleiner, obwohl schon das Blinzeln durch die Augenbinde ein widerwärtiges Ziehen in seinen Augäpfeln verursachte. Er bekam sicher nie wieder die Chance, einen echten König zu Gesicht zu bekommen, und bei Nacht würde kaum einer eine Parade für ihn abhalten. Vorsichtig schob er die Augenbinde nach oben. Allein das Licht, das diffus durch seine geschlossenen Lider schimmerte, war kaum zu ertragen. Trotzdem zwang er sich, sie zu heben. Nicht langsam, denn das würde zu lang dauern, wäre zu schmerzhaft. Er riss sie auf, legte all seine Aufmerksamkeit in diesen einen Wimpernschlag, in der Hoffnung, in die richtige Richtung zu blicken. Er sah eine Flut aus grellem Weiß. Ein Schatten, der sich aus ihr herausschälte. Ein alternder Mann auf einem Pferderücken, gebeugt, in prächtigem Ornat, das ihn wuchtiger erscheinen ließ als er tatsächlich war. Brans schmerzhaft aufgerissener Blick blieb an der Krone hängen, die zu groß und mächtig für das beinahe kahle Haupt erschien. Ein Sonnenstrahl verfing sich in dem blankpolierten Metall und ging in einem gleißenden Blitz auf, der gleich darauf direkt in Brans Kopf zu explodieren schien. Er ließ einen gequälten Schrei los und ging in die Knie. Wimmernd, mit zitternden Fingern, zog er sich die Augenbinde zurück an Ort und Stelle, aber es war zu spät. Der Blitz schien sich in seinem Kopf zu einer Kugel zu ballen, während seine tränenden Augen sich anfühlten, als wären sie mit Säure verätzt worden. Bran heulte vor Schmerz und Enttäuschung. Der Blick auf den krummen Greis mit der viel zu großen Krone war diesen Schmerz wahrlich nicht wert gewesen.

Das sollte also der mächtige Großkönig Balian sein? Er konnte kaum glauben, dass dieses Großväterchen die fünf Inselreiche in Angst und Schrecken versetzt und jeden Herrscher – bis auf den tharoganischen – dazu gebracht hatte, vor ihm im Dreck zu kriechen. Nun, vielleicht war er früher anders gewesen, ein stattlicher Mann womöglich, aber Bran war zu spät in der Zeit geboren, um das noch mitzuerleben. Er hoffte inständig, sich damit das Augenlicht nicht vollkommen verdorben zu haben. In der Dunkelheit waren seine Augen, so nutzlos sie tagsüber waren, scharfsichtig wie die eines nachtaktiven Raubtiers. Es waren die einzigen Stunden, in denen er ohne die lästige Augenbinde herumlaufen konnte. In denen er kein Kopfweh hatte – außer leichte Anflüge davon bei Vollmond – und in denen er überlegen anstatt hilflos war. So sehr er die Wärme des Sommers mochte, so sehr sehnte er stets den Herbst und den Winter herbei, weil die Sonne dann früher unterging. Weil sie gar nicht erst so hoch an den Horizont stieg, und ihm damit mehr Zeit blieb, in der er sich nicht blind durch die Welt tasten musste.

Vage drangen Schimpfworte zu ihm durch, die ihm galten, aber das Dröhnen in seinem Schädel sorgte dafür, dass sie kaum zu verstehen waren. Ohnehin war es ihm gleich, was die Leute sagten. Er war es gewohnt, dass man ihn beschimpfte. So war es eben: er war anders, und etwas, das anders war, durfte man nicht schön finden.

Er spürte, wie er von der Menge mitgezogen wurde, wie Füße und stoßende Hände ihn von der Absperrung wegtrieben. Er kroch auf Knien, während er sich Daumen und Zeigefinger durch den Stoff gegen die Augen drückte, um dem Schmerz irgendwie Herr zu werden. Endlich schien sich die unangenehme Menschenansammlung um ihn aufzulösen und er konnte sich mühsam aufrappeln. Tante Bedelia würde schimpfen, wenn sie bemerkte, wie schlecht es ihm ging. Tante Bedelia … er sollte zurück zu ihrem Stand gehen und hoffen, dass sie ihn nach Hause schickte. Er sehnte sich danach, sich in sein Bett zu legen, das aus nichts als einer festen Strohmatratze auf dem Boden einer kleinen Dachkammer bestand, und zu schlafen, bis es dunkel wurde. In der Nacht arbeitete er oft in Bedelias Lager und wickelte die Stoffe ordentlich auf, sortierte sie nach Beschaffenheit und Farbe, die er an den unterschiedlichen Helligkeitsgraden erkannte, und bereitete den Marktkarren für den nächsten Morgen vor. So war sein Geburtsfehler, wie ein Medicus seine besondere Kondition zu benennen gepflegt hatte, wenigstens zu etwas nütze.

Bran versuchte, sich zu orientieren und spitzte die Ohren nach bekannten Stimmen und Geräuschen. Ohne Erfolg. »Verdammt nochmal, warum mussten sie gerade jetzt die Stände neu ordnen?«, fluchte er leise vor sich hin. In der alten Ordnung hätte er sich im wahrsten Sinne des Wortes blind zurechtgefunden, aber hier fehlte ihm ein Orientierungspunkt, zumal er es sich nicht leisten konnte, zu blinzeln. Nicht, nachdem ihm die Sonne beinahe die Augen aus den Höhlen gebrannt hatte. Hier konnte er keine Schritte zählen, weil er nicht wusste, wo er sich befand. Langsam, sehr langsam tappte er vorwärts, die Hände tastend nach vorn gestreckt. Jemand schubste ihn und warf ihm eine rüde Beleidigung an den Kopf, bevor er einfach weiterging. Bran kam ins Straucheln und wäre beinahe gefallen, wenn nicht eine kräftige Hand ihn beim Oberarm gepackt und festgehalten hätte.

»Aber Vorsicht, junger Mann«, lachte eine freundliche Stimme, so weich wie der teure Samt, den Tante Bedelia manchmal von einem der ausländischen Händler erstand, um ihn noch teurer weiterzuverkaufen. »Beinahe wärst du gestürzt.«

Bran, dem das Herz noch bis zum Hals klopfte, atmete einmal tief durch. »Ja, das war knapp. Ich danke Euch.« Er erwartete, dass sein Helfer von ihm abließ wie von einem zu heißen Becher mit Honigwein, aber die Hand verharrte. Es fühlte sich eigenartig an, freiwillig von jemandem berührt zu werden, der sich so gar nicht von seiner seltsamen Erscheinung abgestoßen zu fühlen schien.

»Wohin des Weges?«, erkundigte sich der Fremde. »Kann ich dir vielleicht behilflich sein?«

»Ja, ich … wer seid Ihr denn?« Bran war verunsichert. Einerseits freute er sich, dass sich jemand seiner misslichen Lage annehmen wollte, andererseits kannte er die Stimme nicht und wusste sie nicht einzuordnen.

»Mein Name ist Bruder Demetrius«, stellte der andere sich vor. »Warum trägst du eine Augenbinde? Bist du blind?«

»Ich bin tagblind«, entgegnete Bran und atmete durch. Einem hilfsbereiten Mönch war er also in die Hände gefallen. Das war gut. »Die Augenbinde schützt meine Augen vor der Helligkeit.«

»Bei Gott, du Armer«, bekundete Bruder Demetrius sein Mitleid. »Und jetzt hast du dich verirrt? Du wirktest eben sehr orientierungslos. Kann ich dich irgendwo hinbringen?«

»Zum Stand meiner Tante, wenn Ihr so gut wärt«, gab Bran erleichtert zurück. »Sie ist Stoffhändlerin. Ihr Stand befindet sich am nördlichen Ende des Marktplatzes, in Richtung des Gotteshauses.«

»Ah ja, den Stand habe ich gesehen, ich komme gerade aus der Richtung.«

Wieder wurden sie angerempelt und Leute drängten sich rüde an ihnen vorbei, um eilig in besagtes Gotteshaus zu kommen, an dem die Prozession des Königs in einem Gottesdienst ihr Ende finden sollte. Großkönig Balian hatte sich zum Glauben an den einen Gott bekannt, der in den Inselreichen immer mehr Verbreitung fand und den Glauben an die alten, lokalen Gottheiten zu verdrängen drohte. In Tharog nahm man all dies nicht so genau, aber selbst der Fürst erkannte den neuen Glauben als gleichwertig zu den tharoganischen Göttern an, und das mochte etwas heißen.

»Komm, ich bringe dich zu deiner Tante«, verkündete der freundliche Mönch, dessen Stimme klang, als sei er noch verhältnismäßig jung. »Besser nehmen wir einen kleinen Umweg, um aus dem Gedränge hier herauszukommen, bevor uns wirklich noch jemand umrennt.«

Dankbar ließ Bran sich von dem Mann führen, dessen Hand noch immer seinen Oberarm umfasste. Bald wurden die Menschentrauben weniger dicht. Bran bemerkte es daran, dass die Stimmen leiser wurden und man viel leichter atmen konnte. Sie ließen den Marktplatz hinter sich und betraten eine der deutlich weniger belebten Seitengassen. Bruder Demetrius schwieg und schritt sehr schnell aus, aber Bran wagte es nicht, ihn zu bitten, etwas langsamer zu laufen. Der Bruder hatte gewiss nicht den ganzen Tag Zeit, um ihn wieder zu seiner Tante zurückzubringen, und er sollte froh sein, dass ihm überhaupt geholfen wurde. Die nächste Gasse war so leer, dass ihre Schritte von den hohen Häuserwänden widerhallten. Niemand schien hier zu sein, keine Stimmen waren aus der Nähe zu vernehmen, und es roch nach modrigem Abwasser und nassem Stein. Ein seltsames Kribbeln in der Magengegend und in den Fußsohlen ließ Bran unbehaglich werden. »Wo sind wir hier?«, fragte er vorsichtig.

»Ich sagte doch, wir nehmen einen Umweg.« Bruder Demetrius' Stimme klang nicht mehr warm und freundlich wie noch vor wenigen Augenblicken, sondern beinahe unwirsch.

Bran biss sich auf die Lippe. Was sollte er tun? Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass irgendetwas nicht richtig war. »Ich danke Euch für Eure Hilfe«, begann er vorsichtig, »aber ich denke, ich komme ab hier allein zurecht.« Wenn er ganz konzentriert lauschte, konnte er sich anhand der Stimmen in der Ferne vielleicht zum Marktplatz zurück orientieren und dort einen neuen Versuch starten, Tante Bedelias Stand ausfindig zu machen.

»Das denke ich nicht«, entgegnete der andere scharf und zerrte ihn weiter mit sich.

Der Griff um Brans Oberarm fühlte sich mit einem Mal schmerzhaft an, als läge ein grobes, dickes Seil darum, das ihm die Haut wundrieb. »Lasst mich gehen!«, rief Bran und schüttelte den Arm mit einem heftigen Ruck, um ihn Bruder Demetrius zu entziehen. Vergebens.

»Wirst du wohl aufhören, zu zappeln, Missgeburt?« Der letzte Rest Wärme war aus der Stimme gewichen, sie klang wie kaltes Metall.

O ja, sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen, etwas stimmte nicht, etwas stimmte ganz gewaltig nicht und wenn er es nicht schaffte, sich zu befreien, saß er in der Falle. Aber wie sollte er das bewerkstelligen? Dem Mann einen Tritt verpassen vielleicht. Und dann? Wohin laufen, wenn er nichts, aber auch gar nichts sehen konnte? Seine Flucht war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Bei Gott, wenn doch nur Menschen in der Nähe auszumachen wären, die er um Hilfe bitten konnte! Aber alle waren sie zum Gotteshaus gepilgert, um den König zu sehen, und ob man ihm, dem seltsamen Jungen mit der Augenbinde wirklich helfen würde, stand auf einem anderen Blatt geschrieben. Noch während er darüber nachdachte, wie er sich aus der Situation befreien sollte, versetzte der hinterlistige Betbruder ihm einen Stoß. Er keuchte auf, taumelte rückwärts, stieß mit den Fersen an einen Widerstand und fiel auf den Rücken. Die Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst, als er auf steinerne Treppenstufen prallte. Er wurde grob am Hemd gepackt und auf den Bauch gedreht. Ehe er sich fragen konnte, was dieser Bruder Demetrius überhaupt in dieser einsamen Gasse von ihm wollte, wurde brutal ein Knie zwischen seine Beine gestoßen. Bran ließ ein Wimmern los. Die Antwort war offensichtlich.

»So, Bürschchen«, knurrte der Mönch, der vermutlich gar keiner war. »Wollen wir doch mal sehen, ob dein enger Hintern etwas taugt, wenn schon deine Augen zu nichts nütze sind, was meinst du?«

Bran wollte etwas sagen, wollte um Hilfe rufen, aber seine Kehle war wie zugeschnürt und ihm entkam nur ein jämmerlicher Laut. Eine grobe Hand riss an dem Stoff seiner Hose und zog sie ihm bis über die Hüften hinab. Er spürte die Feuchtigkeit der moderigen Gassenluft an seiner nackten Haut und tastete hilflos herum, um irgendetwas zu finden, das er seinem Angreifer über den Schädel ziehen konnte, aber fand nichts als glatten, ausgetretenen Stein unter seinen Fingerkuppen.

Demetrius legte sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihn und Bran hatte das Gefühl, zwischen ihm und der Treppe zerquetscht zu werden. Das Rascheln von dickem Stoff verriet, dass der Kerl eine Kutte hob. Tatsächlich ein Mönch, ging es Bran durch den Kopf, warum vergeht ein Mönch sich an einem schutzlosen Jungen, anstatt ihm zu helfen, wie Gott, der Allvater es gebietet? Fürchtet er sich nicht vor diesem? Raue Finger drangen zwischen seine Hinterbacken. Er konnte nicht stillhalten, wand sich, ließ einen Schrei los, als die Finger in ihn stießen.

Sofort landete die freie Hand des Peinigers auf seinem Mund. »Wirst du wohl still sein?«, knurrte er. »Es ist in deinem Interesse, hier nicht herumzujammern, sonst hast du schneller einen Dolch zwischen den Rippen, als du dafür nach Luft schnappen kannst.«

Bran erstarrte. Der Tonfall machte unmissverständlich klar, dass es Demetrius ernst damit war. Und er selbst hing nun einmal an diesem verdammten Leben, so schwer es ihm auch gemacht wurde. »Warum tut Ihr das?«, wimmerte er gegen die feuchtwarme Handfläche. Seine Stimme bebte.

»Weil ich es kann«, gab der andere kalt zur Auskunft.

Etwas Hartes drückte gegen seine Öffnung, die, wenn es nach den Lehren der heiligen Schrift ging, an die dieser Mönch doch glauben sollte, eigentlich bis zur Ehe unangetastet bleiben musste. Reflexhaft ruckte er den Kopf zurück und biss in die Hand, die über seinem Mund lag. Der Peiniger schrie auf und zog sie hastig zurück, wand sie aber nur einen Augenblick später in sein Haar und schlug ihm den Kopf zweimal heftig gegen den Stein der Treppenstufe. Die Welt vor Brans innerem Auge begann sich zu drehen, während dröhnende Schmerzen seinen Kopf ausfüllten und sich zu dem noch immer nicht ganz verglommenen Blitz gesellten. Er würgte vor Übelkeit und unwillkürlich quollen ihm dabei die Tränen aus den Augen. »Mama ...«, wimmerte er, aber seine Mutter war fort, weit fort, dorthin gegangen, wohin ein Lebender ihr nicht folgen konnte. Etwas Hartes drang in ihn, wie ein Dolch, der sich in seine Eingeweide bohrte. Dann verlor er die Besinnung.

Langsam kehrte das Bewusstsein zu Bran zurück und er spürte, wie er grob auf den Rücken gedreht wurde.

»Du wirst mir doch wohl nicht abkratzen, Blindschleiche«, drang die Stimme des Peinigers zu ihm vor.

Bran antwortete nicht, weil übermächtiger Würgreiz ihm die Kehle versperrte und er schon Mühe hatte, den wässrigen Speichel hinunterzuschlucken, der sich in seinem Mund sammelte. Sein Inneres brannte wie Feuer, schlimmer noch als seine Augen gebrannt hatten, als die Krone des Königs sie geblendet hatte. Ein Hieb, beinahe sanft, traf ihn an der Wange.

»Aufwachen.«

Warum war es dem verlogenen Mönch so wichtig, dass er wieder zur Besinnung kam? Hatte er etwa Angst? Aber wovor? Er hatte bislang nicht den Eindruck erweckt, als würde er vor irgendetwas zurückschrecken. Bran bemerkte, dass ihm die Binde von den Augen gerutscht war. Das Licht fraß sich hier nicht so grell durch seine Lider, weil die Giebel der Dächer, die in großen, eng gedrängten Städten wie Farolaín weit in die Gassen ragten, Schatten warfen. Demetrius hockte noch immer über ihm, Bran spürte seine Körperwärme und flüchtige Atemstöße, die ihn trafen. Sehen, war sein einziger Gedanke. Ich will sehen. Ein inneres Drängen beharrte darauf, dass er das Gesicht seines Peinigers sehen musste. Vielleicht auch seinen Habit, der einem bestimmten Orden zuzuordnen war. Nicht, dass irgendjemand seinetwegen einen Geistlichen vor ein Tempelgericht stellen würde, im Gegenteil, man würde mutmaßlich sogar eher ihm unterstellen, den Betbruder zu unsittlichen Handlungen verführt zu haben. Etwas in ihm beharrte jedoch darauf, dem Mann ins Gesicht zu blicken, der seinen schwächsten Moment dazu ausgenutzt hatte, um sich an ihm zu vergehen, auch wenn er seinen Augen heute schon viel zu viel zugemutet hatte. Er brauchte es für seinen Frieden. Falls er diesen überhaupt jemals wieder mit sich machen konnte.

Er zwang seine Lider erneut auf, und obwohl es hier dunkler war, fiel es schwerer als bei der königlichen Prozession. Vielleicht, weil er Angst hatte, was er zu Gesicht bekommen würde. Sie öffneten sich nicht weit, verkrampften praktisch sofort, und er musste noch einmal von vorn beginnen. Er hatte nur einen kurzen Moment Zeit, um zu sehen, was er sehen wollte. Noch einmal blinzelte er. Es schmerzte höllisch. Er erblickte kein Gesicht, sondern etwas, das auf der Höhe seiner Nase direkt über ihm baumelte. Es war silbern wie das Mondlicht, das sich im Durvilsee im Wald hinter der Stadt spiegelte. Ein Amulett. Wie ein Funken brannte sich das Bild in sein Gehirn und wurde erst dann richtig klar, als er die Lider wieder zusammenkniff, weil er es nicht länger aushielt. Ein Amulett mit zwei Schlangen, die sich umeinander wanden. Instinktiv langte er nach vorn, bekam das Schmuckstück zu fassen, das sich glatt und kühl auf seiner Handfläche anfühlte, und riss mit aller Kraft an der Kette. Die Spannung gab nach und er hörte, wie die Kettenglieder mit einem leisen Rascheln über seinen Handrücken fielen.

»Du kleine Missgeburt!«, brüllte der Mönch erbost und versuchte, ihm das Schmuckstück zu entwinden, aber Bran hielt sich daran fest, als ob sein Leben davon abhinge.

Er vernahm Stimmen von Männern, die sich näherten. »He da, was treibt ihr?«, rief einer von ihnen.

Bran rechnete damit, dass Demetrius Anschuldigungen gegen ihn erhob, dass er ihn bestohlen hätte oder was auch immer. Stattdessen schien der Mönch in Panik zu geraten und sprang auf. Bran stöhnte unwillkürlich vor Erleichterung, als sich das Gewicht des anderen endlich von seinem Körper hob. Klatschende Sandalensohlen auf Kopfsteinpflaster kündeten davon, dass Demetrius sich hastig entfernte.

Eine warme, klebrige Flüssigkeit lief aus Bran heraus und ließ ihn schaudern. Er konnte riechen, dass es nicht nur die Säfte des Peinigers waren, denn die metallische Note von frischem Blut war ihnen beigemischt. Mit zitternden Fingern zog Bran seine schwarze Augenbinde zurück an Ort und Stelle. Die andere Hand umklammerte fest das Amulett mit den zwei sich windenden Schlangen.

 

 

Kapitel 1: Gossendreck

»Du hast den Stoff falsch einsortiert! Was hat das Sommerleinen bei den Wollstoffen verloren? Was tut Indigo auf dem Stapel mit Moosgrün? Deine Schlampigkeit kostet mich Zeit, die ich nicht habe, und Zeit ist Geld!«

Bran konnte Tante Bedelias Gesicht nicht sehen, aber er stellte sich vor, wie hektische, dunkle Flecken auf ihren feisten Wangen erschienen. Es war später Vormittag und damit nicht dunkel genug, um seine Annahme zu überprüfen, aber er hatte dieses kleine Naturschauspiel auf ihrem Gesicht schon des Öfteren mitansehen können, wenn sie nachts im Lager gearbeitet hatten. Leidvoll stöhnend setzte er sich auf. Er war gefühlt erst vor einer halben Stunde zu Bett gegangen und der Schlafmangel zog an ihm wie ein bleiernes Gewicht. Sein Mund war trocken, ebenso seine überhitzte Haut, während sein Haar ihm strähnig am Kopf klebte. Bei allen Göttern der Inselreiche, was würde er nicht dafür tun, um einmal wieder richtig ausschlafen zu können? Aber Bedelia kannte keine Gnade. Sie ließ ihn die ganze Nacht durch bis zum Morgengrauen arbeiten und weckte ihn bereits wieder am späten Vormittag. Und das würde sich auf lange Zeit nicht ändern, denn in diesem Jahr sollte in Farolaín ein Konzil stattfinden. Hohe Vertreter des Glaubens an den Allvater und das heilige Lamm wollten sich versammeln und über verschiedenste Angelegenheiten richten, die das Leben der Menschen überall dort betrafen, wo dieser relativ neue Glaube die Vorherrschaft besaß. Was dabei entschieden wurde, war verbindlich, auch hier in Farolaín, darauf würde der Fürst achten, der sich diesem Glauben in den letzten Jahren immer mehr zugeneigt hatte.

Die Stadt jedenfalls war wegen des Konzilsjahres im Ausnahmezustand. Bran verstand nicht, warum die Leute sich selbst so in den Wahnsinn trieben. Die ersten Versammlungen sollten erst zum Hochsommer stattfinden, und es war gerade einmal Frühjahr. Gewiss war ein solcher Konzil eine vortreffliche Möglichkeit für Händler, Wirte, Huren und andere Dienstleister, um große Geschäfte zu machen, weil mehr Leute als sonst in die Stadt gelockt wurden. Aber wenn sie sich jetzt schon alle verausgabten, bevor überhaupt die ersten Gäste eingetroffen waren, wären sie zu Beginn des mehrmonatigen Konzils schon völlig ausgelaugt.

»Steh endlich auf und mach dich nützlich!«, herrschte Bedelia ihn an und er gehorchte. Seine Tage im Hause seiner Tante waren gezählt. Du bist mittlerweile zu alt, um dich von mir durchfüttern zu lassen, hatte sie ihm vor einiger Zeit verkündet und hinzugefügt, dass er noch bleiben dürfe, bis das Konzil vorüber war, weil sie dabei noch seine Hilfe brauchte. Dann aber würde er sein Bündel schnüren müssen.

Bran fragte sich immer wieder, wohin er gehen sollte, wenn Bedelia ihn vor die Tür setzte. In eines der überfüllten Armenhäuser in den schlimmsten, versifftesten Vierteln der Stadt? Davon, dass die Schmiede und damit auch die Pachteinnahmen eigentlich ihm gehörten, war keine Rede. Niemand würde sich für seine Rechte stark machen oder ihn überhaupt anhören, denn er galt wegen seiner Tagblindheit als Krüppel. Und Krüppel genossen nicht die gleichen Rechte wie normale Bürger der Stadt. Sie bekamen nur die Hälfte an Lohn, obwohl sie sich doppelt anstrengen mussten, um ihre Arbeit zu leisten. Sie durften nicht Anklage gegen einen Bürger erheben, weil sie selbst nicht als vollwertige Bürger galten. Sie bekamen nur ein Viertel ihres Erbes ausgezahlt, der Rest ging an vollberechtigte Verwandte oder, wenn diese nicht vorhanden waren, an die Stadt, in der sie lebten. Vielerlei Dinge konnten einen Menschen zum Krüppel machen: Blindheit, Taubheit, fehlende Gliedmaßen, offensichtliche Missbildungen und geistige Zurückgebliebenheit. Als Ausnahmen galten – wie immer natürlich – Klerus und Adel. Für diese Leute von Stand gab es stets mildere Gesetze.

Aber die würden ihm nichts nützen. Er war der tagblinde Branceánn Ládall, Sohn einer Silberschmiedin und eines unbekannten Vaters. Seinen Namen, der Rabenkopf bedeutete, hatte er bekommen, weil er bereits bei seiner Geburt einen Schopf voller pechschwarzen Haares besessen hatte. Das hatte sich bis heute nicht geändert, nur dass besagtes Haar, das er die meiste Zeit zu einem dicken Zopf geflochten trug, inzwischen bis zu seiner Taille reichte. Seine Iriden hingegen waren heller als der Vollmond. Sie machten Menschen Angst, die ihm in der Nacht begegneten und sie erblickten, und manch einer von ihnen behauptete, dass sie im Dunkeln leuchteten. Das war natürlich Unsinn. Aber wann immer Bran sein Spiegelbild auf einer Wasserfläche im Mondlicht erblickte, verstand er die Angst und die Abscheu der anderen Menschen durchaus.

Das Mondlicht weckte seine Lebensgeister. Früher war er dann sogar fröhlich geworden und hatte manchmal zu tanzen begonnen. Er hatte sich im Kreis gedreht und Lieder über die Tiere der Nacht gedichtet. Seine Mutter, die oft bis in die späten Stunden mit ihm wach blieb, um seine wenigen ausgelassenen Stunden zu genießen, hatte lachend dabeigesessen und rhythmisch in die Hände geklatscht. Ihren Mondtänzer hatte sie ihn genannt, Damhsáir-gealach. Aber das war lange her. Als seine Mutter gestorben war, war Bran gerade einmal elf Jahre alt gewesen, jetzt war er dreiundzwanzig. Zu alt für solche Kindlichkeiten. Zu alt, um sich von seiner Tante durchfüttern zu lassen.

Er würde sich irgendwo als Tagelöhner andienen müssen, denn als Krüppel war es ihm nicht erlaubt gewesen, bei einem Meister in die Lehre zu gehen. Abgesehen davon, dass ihn ohnehin niemand hätte haben wollen.

»Warum gehst du nicht in die Minen von Jornavik?«, hatte Daithí gefragt, einer von Tante Bedelias Lehrburschen. »Dort drinnen ist es dunkel und sie können Männer mit gutem Nachtblick gebrauchen. Der Lohn soll gar nicht so übel sein.«

Bran schauderte allein bei dem Gedanken, sich den Rest seines Lebens in den stickig-feuchten, bedrückenden Stollen verdingen zu müssen. Lieber würde er sterben, und das, obwohl er trotz allem so an seiner wertlosen Existenz hing. Er hoffte, stattdessen irgendwo eine Anstellung als Helfer zu finden, wo er auch nachts arbeiten konnte, zum Beispiel in einem Lager wie bei seiner Tante.

»Zieh dich an und geh zu Eadwin dem Gewürzhändler«, befahl sie. »Ich brauche ein Viertelpfund Gelbwurz. Seinen Stand wirst du ja wohl noch erschnüffeln können.«

In der Tat, das war keine allzu schwere Aufgabe. Geräuschvoll schlug Bedelia die Tür hinter sich zu und Bran vernahm das Stampfen ihrer stämmigen Beine auf den ausgetretenen Treppenstufen. Sie bewohnten eines der schmalen Reihenhäuser, die sich eng in die Gassen drängten. Im Erdgeschoss besaß die Tante ihr Ladengeschäft mit dem Lager im Hinterhof, in den Stockwerken darüber befanden sich Küche, Wohn- und Schlafkammern. Bedelia war früh verwitwet und hatte ihr Leben und ihr Erbe – den Stoffhandel – selbst in die Hand genommen. Eine Sache, die Bran versagt blieb, denn im Gegensatz zu seiner Tante hatte er keine Rechte, die ihm das erlaubten, jedenfalls nicht in dieser Art und Weise. Er tastete nach seiner Kleidung und zog sich an. Obwohl Bedelia mit den feinsten Stoffen handelte und sich selbst stets erlesen kleidete, gestand sie ihm nur die unverkäuflichen Reste mit Webfehlern oder von anderweitig schlechter Qualität zu. Bran beklagte sich jedoch nicht, denn seine Garderobe umfasste immerhin deutlich mehr Kleidungsstücke als die meisten Menschen zur Verfügung hatten. Er hatte stets einen Ersatz, wenn er die andere Kleidung waschen und trocknen musste, und war dadurch nie gezwungen nach Schweiß oder schlimmeren Dingen stinkend herumzulaufen.

Er stand auf und ging hinunter. Sein Tritt auf den knarrenden Treppenstufen war vermutlich sicherer als der von Tante Bedelia; zum einen, weil es hier in der Stiege ziemlich dunkel war und er gefahrlos die Augen öffnen konnte, zum anderen, weil er diese Treppe auch blind hinauf- und hinunterfand. Er legte seine Augenbinde um und tastete nach dem Dolch, den er in einer Scheide an der Innenseite seiner Hose zwischen Hemd und Gürtel verbarg und stieß die Tür nach draußen auf. Er ging nicht mehr ohne Dolch in die Stadt. Niemals. Nicht, seit an einem Markttag vor acht Jahren ein Fremder ihn in eine stille Seitengasse geführt und sich an ihm vergangen hatte. Seither gab es keinen Schlaf mehr ohne Albträume. Und keine Mondnächte mit Tänzen mehr, denn seine Füße fanden seit jenem Tag keine Freude mehr am Tanzen.

Er zählte seine Schritte in Gedanken. Sieben nach links. Dreißig die Gasse hinunter. Dann zum Marktplatz wenden, immer auf den Lärm zu, das Gesicht nach unten gerichtet, dann und wann auf die eigenen Füße blinzeln. Der Geruch von Zimt lag in der Luft, als er sich Eadwins Stand näherte, unterlegt mit Ingwer, Kardamom und einer leicht pfeffrigen Note. Bran fragte sich, wie wohl ein Kuchen schmecken mochte, dem all diese Gewürze beigemischt waren. Er hätte es zu gern ausprobiert, aber er konnte sie sich nicht leisten, und Tante Bedelia wollte immer nur Gelbwurz, um damit Stoffe in ein sattes Gelb einzufärben.

»Ah, Bran, ich grüße dich!«, rief Eadwin ihm entgegen. Das war gut, so konnte er sich an dessen Stimme orientieren. »Was darf ich dir denn heute Schönes verkaufen?«

»Gelbwurz, wie immer«, gab Bran zur Auskunft und kam vor dem Gewürzstand zum Stehen. »Ein Viertelpfund.«

Eadwin seufzte. »Sonst nichts? Kein Zimt, kein Safran, kein Pfeffer?«

»Sie hält das für Geldverschwendung, das weißt du doch.«

Der Gewürzhändler gab ein unwilliges Brummen von sich. »Meinetwegen.«

Der scharfherbe Geruch des Gelbwurzes durchzog die Luft, als Eadwin ihm die gewünschte Menge abwog. Er war ein ehrlicher Kerl. Das wusste Bran, weil die misstrauische Bedelia seine Einkäufe zu Hause immer nachwog, und weil er es spüren würde, wenn der Beutel ein geringeres Gewicht hätte als vereinbart. Eadwin streckte auch seinen Pfeffer und sein Salz nicht mit Wacholderbeeren und Sand, so wie viele andere Händler das taten. Inzwischen hatte man die Strafen für Gewürzfälscher empfindlich erhöht; wenn einer dabei erwischt wurde, ließ man ihm beide Augen ausstechen. Aber ein guter Gewürzhändler, fand Bran, würde seine Waren und deren Qualität auch blind unterscheiden können. Er bezahlte seinen Einkauf, bedankte sich bei Eadwin und machte sich auf den Rückweg.

»Seht nur, seht!«, rief es wenige Schritte vor ihm. »Die Blindschleiche kommt angeschlängelt! Und schaut, wie sie sich windet, ihgitt, ihgitt!« Helle Stimmen lachten auf. Die Gassenjungen.

Es war nichts Neues für Bran, dass sie ihren Schabernack mit ihm trieben, inzwischen war er abgestumpft. Dennoch dachte er manchmal daran, was für ein erbärmliches Dasein es doch war, wenn sich selbst die dreckigen, verlausten Gossenkinder für etwas Besseres hielten als ihn. »Verschwindet, ihr kleinen Ratten, oder ich mache euch Beine«, knurrte er und tat einen abrupten Schritt vorwärts, weil er wusste, dass die feigen Jungen dann auseinanderstoben und den Weg freigaben. Nicht jedoch heute.

»Oho, sie spricht«, höhnte der Stimme nach einer der Älteren. »Sie spricht, doch man versteht sie nicht.«

»Du verstehst mich sehr gut«, zischte Bran. »Aus dem Weg jetzt. Such dir ein anderes Opfer.«

Ein erdiges Schaben war vom Boden zu hören, gleich darauf ein leises Surren, das einen kaum spürbaren, aber dafür ekelhaft stinkenden Luftzug vorausschickte. Bran wusste, was es war, noch ehe es ihn traf, aber es war zu spät, um sich zu ducken. Der Pferdeapfel landete mitten auf seiner Stirn. Das schadenfrohe Lachen der Gassenjungen klingelte in seinem Kopf und sein Zorn wuchs. »Ihr kleinen Mistkäfer, ich werde euch –«

»He da!«, unterbrach jemand seine Drohgebärden und näherte sich. Das Geräusch der Schritte ließ befürchten, dass derjenige Begleitung hatte. »Wirst doch wohl keine unschuldigen Kinder bedrohen, Krüppel?«

»Sie haben mich mit Pferdedreck beworfen!«, verteidigte sich Bran, obwohl er wusste, dass es sinnlos war.

»Harmlose Kleinejungenstreiche«, mischte ein anderer Mann sich ein. »Und womit soll man einen wie dich wohl bewerfen? Mit Rosenblättern?«

»Das wäre eine nette Abwechslung«, fauchte Bran. Normalerweise hatte er sich unter Kontrolle und ließ derlei Bemerkungen an sich abprallen, aber der permanente Schlafmangel und das Herumgescheuchtwerden von Tante Bedelia sorgten dafür, dass er dünnhäutig wurde.

»Sieh an, frech wird er auch noch! Nimm dich in Acht, Blindschleiche, oder wir werden dir eine Lektion erteilen!«

Der Kreis aus Menschen um Bran wurde enger. Er blinzelte durch seine Augenbinde, um zu erkunden, ob sich irgendwo eine Lücke befand, durch die er flüchten konnte, aber er wurde enttäuscht. Ein Pulk aus Männern und Gassenjungen umringte ihn und kam bedrohlich näher. Brans Handflächen wurden feucht und er krallte sich an den Beutel mit seinen Einkäufen. Dass man ihn immer wieder beschimpfte, bespuckte und mit Unrat bewarf, war nichts Ungewohntes für ihn, aber dass man ihn so ohne Umschweife bedrohte, war neu. Offensichtlich war nicht nur er gereizt. Die Anspannung, die wegen des Konzilsjahres auf der Stadt lag, wirkte sich wohl auch auf andere aus. »Lasst mich in Ruhe«, forderte er so fest wie möglich. »Ich habe meine Arbeit zu erledigen.«

»Was hat ein nutzloser Krüppel wie du denn für eine Arbeit?«, fragte einer und alle anderen lachten.

Bran ballte die Hände zu Fäusten. »Ich sagte, Ihr sollt mich in Ruhe lassen!«, brüllte er und machte einen Schritt vorwärts. Ein Fehler. Ein heftiger Schlag traf ihn in den Nacken und ließ ihn in die Knie gehen. Dem folgte ein Tritt in die Flanken und ein weiterer in die Rippen. Bran lag am Boden und krümmte sich, versuchte, mit den Händen seinen Kopf zu schirmen, während Schläge und Tritte auf ihn niederprasselten. Er schrie um Hilfe, aber niemand schien sich dafür zu interessieren. Wie konnte es sein, dass am helllichten Tag, mitten auf dem Marktplatz, ein Mann verprügelt werden konnte? Das wäre früher niemals möglich gewesen! Hatten die Priester des heiligen Lamms recht und die Welt befand sich im Verfall? Stoßwellen aus Schmerz explodierten in seinem Leib, jemand trat ihn in die empfindliche Nierengegend. Warum hörten sie nicht auf? Sie werden mich umbringen, wurde ihm mit erschütternder Plötzlichkeit klar. Sie schlagen mich einfach tot.

»Haltet ein!«, rief jemand, die Stimme so streng und autoritär, dass die Tritte so abrupt stoppten, als habe eine unsichtbare Hand die Schläger von Bran fortgerissen. »Schämt ihr euch nicht, zu fünft auf einen wehrlosen Mann einzuprügeln, der am Boden liegt? Was fällt euch eigentlich ein?«

»Was bist du denn?«, fragte einer der Männer und kicherte nervös, aber niemand schloss sich ihm an.

»Ich bin Bruder Swithin vom höchsten Orden des heiligen Lamms.« Bran hörte das leise Rascheln der Ordenskette, die der Mönch den Männern vermutlich zeigte. »Und wenn ihr nicht vor dem Tempelgericht landen wollt, weil ihr es wagt, direkt auf dem Platz vor dem Gotteshaus einen wehrlosen Mann zu verprügeln, dann lasst auf der Stelle von ihm ab.«

»Mit den Betbrüdern ist nicht zu spaßen«, raunte einer der Kerle einem anderen zu. »Und die Tempelgerichte sind sehr streng, die verbrennen sogar Leute auf dem Scheiterhaufen. Lass uns lieber verschwinden.«

Die Menge zerstreute sich. Bran lag noch immer am Boden und stieß keuchend seinen Atem aus, um dem Schmerz, der wie ein einziges, heftiges Pochen in seinem Körper wütete, einigermaßen Herr zu werden.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte der Mönch und kauerte sich neben ihn.

»Wohl kaum«, brachte Bran mühsam hervor.

»Ja, ich sehe schon. Jemand muss dich untersuchen, womöglich haben diese Mistkerle dir die Rippen gebrochen oder Schlimmeres.«

»Es geht schon«, ächzte Bran und versuchte sich aufzurichten, um Abstand zwischen ihn und den Betbruder zu bringen. Mönche waren nicht unbedingt die Art von Mensch, die Bran gern in seiner Nähe hatte. Als er von dem Konzil erfahren hatte und damit, dass monatelang die ganze Stadt mit Geistlichen gefüllt sein würde, hatte er mehrere Tage lang gegen immer wieder aufkommende Panikattacken ankämpfen müssen. Wahrscheinlich tat er den Betbrüdern unrecht, aber sie waren ihm verhasst, weil einer von ihnen ihn geschändet und seine tanzenden Füße zu Bleiklumpen hatte verkommen lassen.

»Da geht gar nichts«, stellte der andere nüchtern fest. »Komm, lass mich dir helfen.«

Bran spürte, wie sich eine Hand um seinen Oberarm legte, so wie damals, und riss sich mit einem Ruck, der ihm blitzartige Schmerzexplosionen durch den Körper sandte, los. »Nicht anfassen!«, schnauzte er und seine sich blähenden Lungen drückten schmerzhaft gegen seinen pochenden Brustkorb.

»Ist ja gut!«, beschwichtigte der andere und ließ ihn zu seiner Erleichterung augenblicklich los. »Aber deine Wunden muss sich trotzdem jemand ansehen.«

»Nicht nötig.« Bran tastete vor sich auf dem Boden herum, auf der Suche nach dem Beutel mit dem Gelbwurz, den er bei Eadwin gekauft hatte. Er fand nichts. »Seht Ihr hier irgendwo einen kleinen Stoffbeutel liegen?«, bat er den Mönch um Hilfe.

»Leider nein«, entgegnete der, nachdem er sich offenbar kurz umgesehen hatte.

»Verdammt!«, fluchte Bran und tastete an seinen Gürtel, nur um festzustellen, was er bereits befürchtet hatte: auch sein Geldbeutel war fort. »Die Gassenjungen haben mich beklaut!«

»Oh, du Pechvogel.« Die Anteilnahme des Mönches klang ernst, aber Bran ließ sich davon nicht täuschen.

»Man gewöhnt sich daran.« Er versuchte aufzustehen, aber er kam nicht einmal bis auf die Knie. Die Pein, die in jeden Winkel seines Körpers zuckte, war kaum zu ertragen.

»Wie lange möchtest du eigentlich noch darauf beharren, dass du keine Hilfe brauchst? Du wirst morgen noch hier liegen und versuchen, dich aufzurichten, aber ich werde dann nicht mehr da sein, denn mir knurrt der Magen.«

»Soll mir recht sein«, murmelte Bran.

»Was hast du denn für ein Problem?«, gab der andere mit einem deutlichen Anflug von Ungeduld zurück. »Warum lässt du mich dir nicht helfen?«

»Ich habe einmal einem Betbruder vertraut, der mir helfen wollte, und das hatte fatale Folgen.« Bran presste die Lippen zusammen und schaffte es in einem unerträglich langsamen Tempo, auf alle Viere zu kommen.

»Nun ja, was auch immer dir widerfahren ist – wenn es mit einem Angriff körperlicher Art zu tun hatte, dann brauchst du dich vor mir wahrhaft nicht zu fürchten, denn ich reiche dir vermutlich gerade mal bis zum Hintern.«

»Was?« Verdutzt hob Bran den Kopf und blinzelte durch seine Augenbinde, die mehr schlecht als recht an ihrem Platz saß. Er hörte eindeutig die Stimme eines erwachsenen Mannes vor sich – er hatte geglaubt, dass der Kerl hockte, weil sie so nahe war – aber was er vor sich erahnte, war eher die Silhouette eines untersetzten Sechsjährigen. »Ach du meine Güte«, entfuhr es ihm. Jetzt wurde ihm klar, warum einer der Schläger gefragt hatte, was der Mönch denn bitte war.

»Ja, das haben meine Eltern auch gesagt, als ihnen irgendwann aufgefallen ist, dass ich nach meinem sechsten Lebensjahr nicht mehr weitergewachsen bin. Also, was ist nun? Ich habe einen Freund in der Stadt, der Bader ist. Er sollte sich deine Blessuren einmal ansehen, er wird wissen, was zu tun ist.«

»Na schön.« Bran hatte kein allzu gutes Gefühl bei der Sache, weil er schon einmal auf einen gutmeinenden Mönch hereingefallen war, aber im Moment war ihm jedes Mittel recht, das seine Schmerzen linderte und ihm eine Galgenfrist verschaffte, ehe er Bedelia wieder unter die Augen treten und ihr sagen musste, dass er sowohl den teuren Einkauf, als auch den Geldbeutel mit dem Wechselgeld verloren hatte. Vermutlich würde sie ihn postwendend vor die Tür setzen und nicht erst bis nach dem Konzil warten.

»Kannst du aufstehen? Wenn ich dir sage, dass du einen Arm um meine Schulter legen sollst, dann müsstest du auf Knien zum Ziel kriechen und das wäre nicht die optimale Lösung.«

Unter größter Anstrengung stemmte Bran sich in die Höhe und biss sich vor Schmerzen die Unterlippe blutig. Es fühlte sich an, als habe man ihm sämtliche Gliedmaßen und den Brustkorb zertrümmert. Er war nur froh, dass wenigstens sein Kopf nichts abbekommen hatte. Der Betbruder fasste ihn bei der Hand; seine eigene fühlte sich an wie die eines Kindes. Er bezweifelte, dass der Zwerg ihn ausreichend stützen konnte, sagte aber nichts.

Sie bahnten sich ihren Weg durch die Menge und Bran musste immer wieder innehalten, weil die Schmerzen zu groß und der Schwindel zu stark wurden. Bruder Swithin blieb geduldig neben ihm stehen und wartete, bis er ihm ein Zeichen gab, dass es weitergehen konnte.

»So schaffen wir es heute nicht mehr zum Bader«, bemerkte der andere zerknirscht, »ich werde einen Karren mieten müssen.«

»Macht Euch keine Umstände meinetwegen«, wiegelte Bran ab, dem das Ganze ziemlich unangenehm war. »Bringt mich einfach zu meiner Tante.«

»Zu deiner Tante werde ich dich bringen, wenn du verarztet bist«, versetzte der Mönch, »und ihr dann gehörig den Marsch blasen, was ihr eigentlich einfällt, einen Blinden ohne Begleitung zum Markt zu schicken.«

»Ich komme allein zurecht«, erwiderte Bran gekränkt.

»Ja, das habe ich gesehen.« Swithin machte sich nicht einmal die Mühe, den Sarkasmus aus seiner Stimme herauszuhalten.

»Das war der erste Vorfall dieser Art«, gestand Bran ein. »Beschimpft, bespuckt oder mit Dreck beworfen werden, das kenne ich alles, aber verprügelt worden bin ich noch nie.«

Der andere gab ein tiefes Seufzen von sich. »Es tut mir leid, dass du all dies in deinen jungen Jahren schon erfahren musstest. Ich kenne das nur zu gut.«

»Man bespuckt Euch und greift Euch an? Einen Mönch?« Bran konnte das gar nicht glauben. Niemand legte Hand an einen Geistlichen, schon gar nicht an einen vom höchsten Orden des heiligen Lamms.

»Nun, wenn ich im Habit auftrete, dann nicht. Niemand traut sich natürlich, auszusprechen, was er denkt, wenn er einem Gottesmann gegenübersteht, aber die scheelen Blicke sagen mehr als tausend Worte. Früher jedoch … letztendlich habe ich die geistliche Laufbahn vor allem deshalb eingeschlagen, weil ich die Nase voll davon hatte, nur als halber Mann zu gelten. Es war der einzige Weg, mir in der Gesellschaft Anerkennung und Respekt zu verschaffen.«

»Falls Ihr mich für ein Kloster anwerben wollt, Bruder, dann kann ich Euch gleich sagen, dass Ihr auf dem Holzweg seid«, erklärte Bran entschieden, fragte sich aber im gleichen Augenblick, warum ihm der Gedanke so abwegig erschien. In einem Kloster hätte er ein Dach über dem Kopf, eine Arbeit und niemand würde ihn wegen seines Gebrechens ausgrenzen. Die Sache mit der Enthaltsamkeit stellte ohnehin kein Problem für ihn dar, da ihm nach dem Zwischenfall vor acht Jahren jegliches Interesse an körperlicher Nähe vergangen war.

»Nein, nicht für ein Kloster«, fuhr ihm die Stimme des Mönchs in die Gedanken. »aber … nun ja, lassen wir dich erst einmal vom Bader anschauen. He, du da! Was kostet es mich, wenn du uns mit deinem Karren in die Nordstadt zu Jethro dem Bader fährst?«

»Für Euch eine viertelste Silbermünze«, gab der Kerl, den Swithin angesprochen hatte, zur Auskunft.

»Eine Viertelmünze? Du willst mich wohl auf den Arm nehmen, Junge!«

»Aber Bruder, ich bitte Euch, ich muss dafür meine Arbeit unterbrechen und das Pferd will ja auch etwas fressen.«

»Einen Kupferpfennig würde ich dir zahlen«, begann Swithin zu verhandeln. »Alles andere ist Halsabschneiderei.«

»Das ist wirklich sehr wenig Geld, Bruder«, gab der andere zu bedenken.

»Für einen Kupferpfennig bekommst du ein halbes Brot, also erzähl mir nicht, es sei wenig Geld. Ein Kupferpfennig und der Erlass deiner Sünden, Junge, das ist mein letztes Angebot.«

»Also gut, weil Ihr es seid«, gab der Bursche zerknirscht zurück.

»Unglaublich«, murmelte der Mönch, »die werden ja immer gieriger.«

Bran bewunderte das Selbstbewusstsein, mit dem Swithin verhandelt hatte, während dieser ihm auf den Karren half. Er selbst hätte viel zu viel Angst gehabt, von dem Kerl beschimpft zu werden und wohl lieber den überteuerten Preis gezahlt.

Als der Karren sich in Bewegung setzte, stöhnte Bran vor Schmerz auf. Sein Körper wurde tüchtig durchgerüttelt, als sie mit ungefederten Rädern über das Kopfsteinpflaster rumpelten, aber es war immer noch besser, als die ganze Strecke in die Nordstadt zu laufen, wo er sich doch kaum aufrecht halten konnte. Seine Gedanken flogen zu Tante Bedelia und dem Donnerwetter, das ihn erwartete, wenn er grün und blau geprügelt, ohne Geld und Einkauf und obendrein auch noch viel zu spät zurückkehrte. Ob sie sich wohl schon fragte, wo er abgeblieben war? Ob sie sich sorgte? Nicht um ihn, vermutlich, sondern eher um ihre Einkäufe.

Der Weg in die Nordstadt erschien Bran endlos, wohl weil er bald nicht mehr wusste, wie er sich noch hinsetzen sollte, um die Fahrt einigermaßen erträglich für sich zu machen. Aber dann hielt der Karren endlich und man half ihm, abzusteigen. Er hörte das Rascheln eines Geldbeutels, der nach einer Münze durchsucht wurde.

»Hier, bitteschön«, sagte der Mönch zu dem Karrenfahrer. »Und Gottes Segen.«

»Aber das ist ja eine viertelste Silbermünze!«, gab der andere erstaunt zurück. »Ich dachte, Ihr wolltet nur einen Kupferpfennig bezahlen?«

»Nimm die Münze und freue dich darüber, Junge«, mahnte der Betbruder streng. »Und du hast mich hier nie gesehen, verstanden?«

»Verstanden«, stimmte der Bursche zu, »Gott vergelt's Euch.« Mit knarrenden Rädern setzte sich der Karren in Bewegung und fuhr davon.

»So, da wären wir«, verkündete Swithin. »Ich hoffe, Jethro ist zu Hause.« Er klopfte an die hölzerne Tür.

»Bruder, ich … ich weiß nicht, wie ich Euch das Geld zurückzahlen soll. Ich habe keine Ersparnisse und meine Tante –«

»Halt den Mund. Ich will kein Geld von dir zurück. Ah!« Die Tür öffnete sich mit quietschenden Scharnieren. »Ich grüße dich, Dvora. Ich möchte zu Jethro. Der junge Mann hier ist verletzt.«

»Oh, Swithin!« Die Frau klang äußerst erfreut und klatschte in die Hände. Bran wagte ein Blinzeln durch die Augenbinde und erkannte eine schmale, fast magere Silhouette. »Wie schön, dich wiederzusehen. Es muss eine Ewigkeit her sein! Kommt rein, ihr beiden, kommt rein.« Die Frau namens Dvora trat zur Seite und ließ sie hinein.

Der Vorraum war so dunkel, dass kein diffuses Leuchten durch Brans geschlossene Lider drang, so dass er es wagte, die Augenbinde nach oben zu schieben und die Augen zu öffnen.

»Ich –«, wollte Swithin gerade ansetzen, aber stockte, als er sich zu Bran umdrehte. Auch Dvora schien in ihrer Bewegung zu erstarren.

»Oh, verzeiht«, brachte Bran hervor, der für einen Moment vergessen hatte, wie beängstigend seine weißsilbernen Iriden auf andere Menschen wirkten, und wollte die schwarze Binde wieder über die Augen ziehen, aber Swithin bedeutete ihm mit einer Geste, innezuhalten.

»Du kannst sehen?«, fragte er und machte keinen Hehl aus seiner Verwirrung.

»Nur im Dunkeln«, erklärte Bran. »Das Tageslicht blendet meine Augen zu sehr, ich bekomme meine Lider nur kurz geöffnet und es bereitet mir große Schmerzen.«

»Interessant«, mischte sich eine dritte Stimme ein und der Mann, zu dem sie gehörte, trat aus einer Seitentür. »Ich habe schon einmal von einer solchen Kondition gehört. Sie kommt in den Ostlanden hin und wieder vor, wenn Menschen und Malakot miteinander Kinder zeugen.«

»Malakot?«, fragte Bran verständnislos. Er hatte dieses Wort noch nie zuvor gehört.

»Engelsmenschen«, erklärte der Mann, bei dem es sich wohl um Jethro handeln musste. »Man nennt sie in meiner Heimat so, weil sie eine Zwischenstufe aus Mensch und Gott sein sollen. Sie sehen aus wie wir und sind doch ungleich schöner, und sie werden sehr viel älter.«

»So ähnlich wie Alvaei?«, mischte sich Swithin ein.

»Alvaei, Malakot«, sinnierte Jethro, »zwei Wörter für die gleiche Sache.«

»König Balian und sein Sohn sollen Alvaei sein, habe ich die Leute reden hören«, bemerkte Swithin nachdenklich. »Aber ich weiß nicht, ob das stimmt.«

»Ich dachte, Alvaei gehören ins Reich der Legenden«, warf Bran ein. »Es heißt, dass sie in den Wäldern Tharogs leben und man immer wieder Jagd auf sie gemacht hat, weil man sich von ihrem Blut Unsterblichkeit erhoffte, aber in Wahrheit hat doch kein Mensch je so ein Geschöpf zu Gesicht bekommen.«

»Oh, da täuschst du dich, mein junger Freund«, widersprach Jethro. »Alvaei, Malakot, wie auch immer man sie nennen mag, sind sehr real. Was weißt du über deine Eltern?«

»Meine Mutter war eine ganz normale Frau«, erklärte Bran, dem dieses Gerede eher unangenehm war. »Mein Vater … ich weiß nicht, wer er ist, aber er war sicher kein Alvaeon oder Malakot

»Malak«, korrigierte Jethro und legte eine Hand an sein bärtiges Kinn. »Sehr interessant.«

Interesse war es auch, das Bran empfand, als er Jethro in der Düsternis des Vorraums musterte, der nur von einer einzelnen Kerze in einem Wandhalter erhellt wurde. Die Haut des Baders erschien dunkler als die aller anderen Menschen, die er kannte, und die scharf geschnittenen, wenn auch schon ein wenig gealterten Gesichtszüge wirkten fremdländisch und exotisch.

»Wo ist Eure Heimat?«, fragte er aus einem Impuls heraus.

»Yishkaron«, gab der andere zur Antwort.

»Wo ist das?«

»In den Ostlanden. Wenn du an der östlichen Küste Balians in See stichst, den großen Meeresarm überquerst und dann auf der anderen Seite an Land gehst, dann bist du in Yishkaron.«

»Ich konnte mir nie vorstellen, dass es jenseits des Ostmeeres überhaupt irgendetwas gibt«, gestand Bran.

»Oh, doch, da gibt es unendlich viel. Aber wie kann ich dir jetzt behilflich sein, mein junger Freund?« Die sonore, dunkle Stimme des Mannes weckte Brans Vertrauen.

»Er wurde auf offenem Marktplatz verprügelt«, berichtete Swithin an seiner Stelle. »Ich will sichergehen, dass man ihm nichts gebrochen oder zertrümmert hat.«

Ein Schatten huschte über Jethros Gesicht. »Es wird wirklich immer schlimmer. Ich traue mich kaum noch aus unserem Viertel heraus. Als ich vor einigen Wochen zum Markt ging, um meine Apotheke aufzustocken, weigerte sich der Händler, mir etwas zu verkaufen. Wir brauchen hier keine Yishkarer, hat er gesagt, und dass ich dorthin zurückgehen soll, wo ich hergekommen bin, dabei bin ich hier in Farolaín geboren und mein Vater ebenfalls. Manchmal erwäge ich, meine Zelte hier abzubrechen und drüben in Tharog-Land anzusiedeln.«

»Das wird nichts nützen«, entgegnete Swithin matt. »Es ist drüben nicht anders als hier. Der Fürst ist das Problem. Unter Fearghas wird sich nichts ändern, fürchte ich. Sein Bekenntnis zum Glauben an den einen Gott in allen Ehren, aber man nennt ihn nicht umsonst den verrückten Fürsten. Sein Eifer hat jedes gesunde Maß längst überschritten. Man kann nur hoffen, dass sein Nachfolger es besser macht.«

»Sein Sohn Ferghil? Dumm und einfältig soll der sein, habe ich gehört, ich mache mir da nicht viele Hoffnungen.«

»Wer weiß, ob Ferghil tatsächlich der nächste Fürst wird. Fearghas soll einen Favoriten haben, den er mit einer seiner Töchter verloben möchte. Der Sohn eines seiner Statthalter. Ich habe den Namen leider vergessen.«

»Das ist jetzt auch nicht so wichtig. Erst einmal wollen wir uns deinen Freund hier ansehen. Da fällt mir ein, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Jethro ben Mardukaj.« Er streckte Bran eine Hand hin und der ergriff sie.

»Ich bin Bran … Branceánn Ládall.«

»Sehr erfreut. Folgt mir bitte. Und leg deine Augenbinde um, in meinem Untersuchungszimmer ist es sehr hell.«

Bran tat wie ihm geheißen und folgte Jethro an Swithins Hand in das Zimmer.

»Zieh dich bitte aus«, bat der Bader.

Schlagartig wurde Brans Mund trocken wie eine Wüste und er stand stockstarr. »Nein«, krächzte er.

»Brauchst du Hilfe?«

»Nein«, wiederholte Bran noch einmal. Sein Herz pochte so rasend, dass es eher an ein panisches Flattern erinnerte. »Ich ziehe mich nicht aus.«

»Aber wie soll ich dich denn dann untersuchen? Ich habe keinen magischen Blick, der durch Kleider sehen kann.«

»Ich werde mich nicht ausziehen. Ihr seid Fremde für mich.«

»Junge, ich bin Bader, ich sehe nackte Leiber jeden –« Er verstummte plötzlich, als Swithin sich räusperte.

»Ist es vielleicht möglich, dass er immer nur ein Stück entblößt?«

»Ja, natürlich«, entgegnete Jethro und klang, als habe er begriffen, wo das Problem lag. »Wäre das in Ordnung für dich, Branceánn?«

»Nur Bran«, erwiderte er. »Ja, das … das ginge.« Er war erstaunt über Swithins feines Gespür für seine Befindlichkeiten, aber gleichzeitig davon befremdet. Merkte man ihm so sehr an, was ihm widerfahren war? Auf einmal fühlte Bran sich nackt, obwohl er noch kein einziges Kleidungsstück abgelegt hatte. Er wollte nicht, dass es ihm auf der Stirn geschrieben stand. Andererseits war es Jethro ja erst aufgefallen, nachdem Swithin ihn darauf aufmerksam gemacht hatte.

»Dann ziehe bitte zuerst dein Hemd aus. Oder willst du lieber nur die Ärmel hochkrempeln und es nachher nach oben ziehen, wenn ich deine Rippen untersuchen möchte?«

»Nein, das geht schon in Ordnung.« Bran löste die Schnürung an seinem Halsausschnitt und zog sich das dicke Wollhemd über den Kopf. Noch war es zu frisch, um in dünnem Leinen zu gehen, aber an Tagen wie heute, an dem der Frühlingswind eher mild wehte, auch wenn es bewölkt war, brauchte man zumindest keinen Mantel mehr.

»Ich muss dich anfassen, um dich zu untersuchen, Bran«, erklärte Jethro mit ruhiger Stimme. »Wenn es dir zu unangenehm wird, dann sage es mir bitte sofort.«

»Ist gut.«

Sie halfen ihm, sich auf einen weich gepolsterten Stuhl zu setzen. Warme, trockene Finger streiften seine Haut, betasteten vorsichtig die Blessuren.

»Ich schätze, es sieht schlimmer aus als es ist«, stellte Jethro fest, traf aber im nächsten Augenblick einen Punkt an Brans Rippen, der ihn vor Schmerz fast an die Decke gehen ließ. Tränen schossen ihm in die Augen und wässriger Speichel sammelte sich vor Übelkeit in seinem Mund. »Die Rippe ist wohl gebrochen.« Der Bader seufzte. »Du brauchst eine Auszeit. Keine schwere Arbeit, gesunde Kost, am besten Bettruhe. Du bist sehr mager. Bekommst du genug zu essen?«

»Meine Tante gibt mir gerade so viel, dass ich nicht mit knurrendem Magen ins Bett muss«, erklärte Bran, während er noch immer versuchte, den vernichtenden Schmerz zu veratmen.

»Zu wenig«, resümierte Jethro. »Du brauchst stärkende Brühen. Fleisch mit Fettrand.«

»Ich esse keine Tiere.« Langsam verkam die Qual zu einem dumpfen Pochen in seinem Brustkorb.

»Dann stärkende Getreidebreie. Gutes Öl, Honig, Hülsenfrüchte, Eier.«

Das können wir uns nicht leisten, wollte Bran erwidern, stellte dann aber fest, dass das eigentlich nicht stimmte. Bedelia könnte es sich sehr wohl leisten, ihm mehr als dünne Suppe mit einer kargen Einlage aus Rüben und Gartenbohnen zu servieren, schließlich war sie selbst ziemlich fett, aber sie wollte nicht. Ich bin es ihr nicht wert, erkannte er. Vermutlich war das Geld, das seine Mutter ihr dafür hinterlassen hatte, dass sie sich Bran annahm, mittlerweile verbraucht. »Davon kann ich nur träumen«, flüsterte er mehr zu sich selbst.

»Ich werde den Eindruck nicht los, dass deine Tante dich nicht sonderlich gut behandelt«, bemerkte Swithin.

»Ich will nicht klagen«, gab Bran zurück. »Sie gibt mir ein Dach über dem Kopf und etwas zu tun. Zumindest noch bis nach dem Konzil.«

»Und dann?«

»Weiß ich nicht. Jetzt sollte ich jedenfalls wieder nach Hause gehen, denn sie wird sicherlich schon ganz ungeduldig auf mich warten. Wer weiß, vielleicht bricht sie mir ja auch noch die anderen Rippen, wenn sie erfährt, was passiert ist.« Es sollte der Versuch eines Scherzes sein, aber er misslang, denn niemand lachte.

Swithin gab ein Seufzen von sich. »Ich habe das dumpfe Gefühl, dass das alles gar nicht so spaßig ist, wie du es darstellen willst. Du kannst so nicht gehen. Vor allem nicht dann, wenn dir auch noch Ärger bevorsteht.«

»Bruder Swithin hat recht«, mischte sich Jethro ein. »Es besteht immer noch die Gefahr, dass du innere Verletzungen hast. Eine falsche Bewegung und du könntest innerlich verbluten.«

»Aber was soll ich denn machen? Mich vor ihr verstecken, bis meine Blutergüsse wieder weg sind? Und wo bitte? Im Wald?«

»Gar keine schlechte Idee«, bemerkte Swithin.

»Ich habe ein Krankenzimmer«, erklärte Jethro und gab Bran sein Hemd zurück. »Dort kannst du bleiben, bis du wieder auf den Beinen bist.«

»Und wer soll das bezahlen? Ihr werdet mich ja wohl kaum umsonst behandeln.«

»Ich schulde Bruder Swithin noch einen Gefallen«, sagte Jethro leise. »Vielleicht wäre er damit abgegolten.«

Bran konnte es nicht sehen, aber er wusste, dass Swithin nickte. »Akzeptiert. Ich werde mich jetzt auf den Weg machen.«

»Wohin geht Ihr?«, wollte Bran wissen. Ihm gefiel der Gedanke nicht, dass Swithin sich davonmachte und ihn hier allein zurückließ, obwohl Jethro eine vertrauenswürdige Aura ausstrahlte.

»Zu deiner Tante«, erklärte der Mönch. »Ich werde ihr erklären, dass du vorerst nicht nach Hause zurückkehren kannst.«

 

 

Kapitel 2: Ein neuer Anfang

Nach dem fünften Krug Bier hatte Garbhán aufgehört zu zählen. Sie wurden nicht weniger gehaltvoll, wenn man sie zählte und er hatte ohnehin nicht vor, sich zu bremsen. Genau so war es mit den Lebensjahren. Niemand zählte seine Lebensjahre in Tharog, Geburtstage hatten keine Bedeutung, die meisten Leute konnten nur schätzen, wie alt sie waren.

Nicht so Garbhán. Er wusste genau, wann sein Geburtstag war, denn an diesem Tag war ein seltenes Dreigestirn am Himmel erschienen, das Glück verheißen sollte. Für die Kinder, die an diesem Tag geboren worden waren, hatte man Großes im Leben erwartet, auch für Garbhán. Jetzt, über vier Jahrzehnte später, wusste er es besser. Glück war nicht unbedingt die Sache, die ihm im Leben besonders hold gewesen war. Wenn man es genau nehmen wollte: hinter ihm lagen heute auf den Tag genau dreiundvierzig Jahre Pech. Das war eine beachtliche Zahl, gemessen daran, dass die meisten Leute sich schon vor den obligatorischen sieben Pechjahren durch einen zerbrochenen Spiegel fürchteten. Nun ja – eigentlich stimmte das nicht ganz. Er hatte einmal Glück gehabt, sogar eine ganze Reihe von glücklichen Zufällen, aber er hatte es allzu sehr ausreizen wollen und dann war es ihm samt und sonders durch die Finger geglitten. Jetzt war er an einem Punkt in seinem Leben angelangt, an dem er es nicht einmal mehr schaffte, sich alles schönzusaufen. Der gute Name seiner Familie, der Iarainns von Dunegal, würde in der Bedeutungslosigkeit versinken. Denn ein guter Name allein bezahlte keine Kosten. Er unterhielt keine Burg und gab den Bauern, die auf seinen Ländereien arbeiteten, weder Lohn noch Brot. Er war ärmer als so mancher einfache Kaufmann aus dem Norden des Landes. Der letzte Rest seines kümmerlichen Vermögens war verspielt. Er stand vor dem Nichts. Und dieses Nichts trieb ihn in die Arme von Bier, Honigwein und Lebenswasser, das wie Feuer in der Kehle brannte, wenn man es schluckte. Wie es weitergehen sollte? Er hatte nicht den Hauch einer Ahnung. Er war fertig. Fertig mit sich und dem Leben.

Die Tür zu dem stickigen Wirtshaus in Tharogs Hauptstadt Tharobaile, in dem Garbhán seine Abende verbrachte und entweder die Zeche prellte oder sich von jemandem aushalten ließ, schwang auf und zwei junge Männer traten ein. Sie waren wie Tag und Nacht, der eine breitschultrig, bärtig und dunkelhaarig, der andere, der sich wie eine Klette an dessen Arm klammerte, silberblond und mit ausnehmend lieblichen Gesichtszügen.

»Oho, hochwohlgeborene Gäste!«, rief einer und die anderen hoben grölend ihre Krüge und klopften damit auf die hölzernen Tische.

Der Bärtige, der mit seiner Größe und den dicken Muskeln dem Idealbild eines tharoganischen Mannes entsprach, schenkte ihnen ein dröhnendes Lachen, während der engelhafte Blonde sich nicht so ganz wohl zu fühlen schien, jedenfalls ließ er keinen Moment vom Arm seines Begleiters ab und seine eisblauen Augen streiften unruhig durch die Schänke.

»Wer ist das?«, lallte Garbhán einem der Männer zu, die mit ihm am Tisch saßen.

»Riaghán, der Günstling des Fürsten. Der andere ist sein Liebhaber, Halvor, der Kronprinz von Balian.«

»Der Kronprinz?« Garbhán lachte auf. »Und was haben die hier verloren, in dieser Absteige?«

»Riaghán mischt sich gern unters Volk.«

»Der andere nicht so sehr, wie mir scheint.« Garbhán drehte den leeren Bierkrug in seiner Hand. »Der Günstling des Fürsten, den hübschen Kronprinzen des Nachbarlandes als Liebhaber, mir scheint, der Kerl zieht die mächtigen Männer geradezu an. Oder aus, je nachdem.«

»Nun, wer weiß«, gab der andere zurück, »vielleicht ist er bald selbst einer dieser mächtigen Männer. Wundern würde es mich nicht. Die beiden Liebhaber hier sollen in der Krise stecken. Es heißt, Riaghán habe nebenher einen anderen Gespielen und außerdem möchte der Fürst ihn allzu gern mit einer seiner Töchter vermählen.« Er senkte die Stimme. »Bei den Göttern, es ist nur zu hoffen, dass der verrückte Fürst Fearghas bald abtritt und den Thron für jemanden freimacht, der noch klar in der Birne ist.«

Garbhán gab ein unwilliges Brummen von sich. Ihm war es gleich, wer auf Tharogs Thron saß, und für Emporkömmlinge wie diesen Riaghán hegte er eher wenig Sympathien, weil sie all das repräsentierten, was er nicht war. Jemand schenkte ihm nach, ohne überhaupt zu fragen, ob er das bezahlen konnte. Da sich niemand weiter mit ihm unterhielt, ging er erneut dazu über, die beiden Neuankömmlinge zu beobachten. Der Bärtige glotzte jeder drallen Schankmaid hintendrein und jedem Laufburschen dazu, und der Blonde schien jede seiner Bewegungen mit Argusaugen zu überwachen.

Und morgen heulst du herum, weil er dir fremdgegangen ist, dachte Garbhán und schüttelte sachte den Kopf. Wenigstens diesen Schwachsinn hatte er sich im Leben erspart, eine goldrichtige Entscheidung. Er hatte nie geheiratet. Wozu auch? Mit einem anderen Mann streiten konnte er auch im Wirtshaus, und für Frauen hatte er sich niemals interessiert. Die eisblauen Augen des Kronprinzen streiften ihn und ließen ihn frösteln. Dass der sich hier ohne Wache hereintraute, wo Balianer in Tharog doch beliebt waren wie Mistwetter am Hochzeitstag und jederzeit einer auf die Idee kommen könnte, das Engelsgesicht zu meucheln! Aber wahrscheinlich fühlte er sich am keulenhaften Arm seines Begleiters sicher genug. Als er allerdings auch noch begann, verträumt in dessen langem Haar herumzuspielen, wurde es Garbhán zu viel. Mochten diese beiden jungen Kerle sich nachher kopulierend auf dem Tisch wälzen, er war für heute hier fertig.

Er erhob sich und kam schwankend zum Stehen. Das Bier hatte eindeutig mehr Umdrehungen gehabt als erwartet. Mal sehen, ob ich es bis in die Herberge schaffe, dachte er und setzte sich träge in Bewegung. Es wäre nicht das erste Mal, dass er vorher in irgendeiner Gasse zusammensackte und dort schlief, bis ihn jemand wachrüttelte oder wahlweise ausraubte. Letzteres würde allerdings schwierig werden, denn aus leeren Taschen war nichts zu holen. Wenn er es nicht bis zur Herberge schaffte, wäre das allerdings ärgerlich, denn er hatte seinen Schlafplatz bereits bezahlt. Nicht mit Geld, sondern mit einer kleinen Gefälligkeit dem Herbergswirt gegenüber, bei deren Erinnerung er am liebsten noch einmal kräftig mit starkem Lebenswasser gurgeln würde. Wie tief war dieses Land gesunken, in dem ein verdienter Krieger aus einem altehrwürdigen Clan sich einem Wirt auf eine solche Weise andienen musste, weil er sonst den schäbigen Strohsack in einer noch schäbigeren Kammer nicht bezahlen konnte?

Eigentlich hatte es zur tharoganischen Tradition gehört, dass ein Fürst seinen Kriegern Geschenke in Form von Land, Geld oder anderen Wertsachen machte, um sie bei Laune zu halten. Aber Fearghas war geizig mit solchen Dingen. Garbhán hatte mehrmals für ihn gekämpft, als Heere aus Balian, dessen König passenderweise ebenfalls Balian hieß, in Tharog einmarschiert waren. Er hatte Truppen angeführt und mit dazu beigetragen, den Feind zurückzuschlagen und Tharog vorerst vor der endgültigen Vorherrschaft des Großkönigs zu bewahren. Der Dank? Ein Schultertätscheln des Fürsten, ein »Mögen der Allvater und die Götter Tharogs es dir vergelten« und eine alberne Medaille, die er nicht einmal verhökern durfte, weil das als Hochverrat galt. Er hatte seinen Kopf umsonst hingehalten und sehnte sich nach den guten, alten Zeiten zurück, in denen ein Fürst und seine Krieger noch wie Brüder gewesen waren und alles miteinander geteilt hatten. Ob solche Zeiten unter Fearghas' Nachfolger, wer auch immer dieser sein mochte, wieder anbrachen, war fraglich.

»He, Syr Garbhán Iarainn!«, rief jemand, als er schon fast an der Tür angelangt war.

Sehr langsam wandte Garbhán sich um, weil alles Schnellere zu gefährlich für seinen Magen und dessen Inhalt werden konnte. Ein düsterer Kauz, die Kapuze tief in das Gesicht gezogen, winkte ihn aus einer dunklen Ecke der Schankstube zu sich heran. Taumelnd setzte er sich in Bewegung und durchmaß mühevoll den überfüllten Raum. Immerhin schaffte er es, sich ohne zu stolpern zwischen Tischen und Stühlen durchzuschlängeln, was wohl bedeutete, dass er doch nicht ganz so betrunken war, wie er angenommen hatte. »Was?«, fragte er kurz angebunden.

Der Kerl, dessen Gesicht er schon einmal gesehen hatte, aber nicht zuordnen konnte, packte ihn am Ärmel und zog ihn näher. »Ich bin erfreut, Euch hier vorzufinden, ich habe schon die ganze Stadt nach Euch abgesucht.«

»Wer seid Ihr?«

»Ein Bote«, erwiderte der andere geheimnisvoll. »Und ich habe Euch ein Angebot zu unterbreiten, das Ihr nicht ausschlagen werdet.«

Garbhán spürte eine Welle von säuerlicher Luft in seiner Kehle aufsteigen und schluckte sie mühsam wieder hinunter. »Wenn Ihr mir einen Karren voller Geld bietet, um meine Schulden zu begleichen, dann werde ich in der Tat nicht ablehnen, selbst wenn ich mich die nächsten zehn Jahre täglich von Pól, dem fetten Holzhändler in den Arsch ficken lassen müsste.«

Der andere lachte gekünstelt und schien von dem derben Scherz eher befremdet. Garbhán war es gleich, der Kerl sollte nur endlich zur Sache kommen. »Genau das möchte ich Euch offerieren«, erklärte der, »also natürlich nicht die Sache mit dem Holzhändler, aber eine Möglichkeit auf die Begleichung Eurer Schulden, dazu eine kleine Aufstockung Eures Vermögens.«

Jetzt begriff Garbhán: der Kauz hielt ihn zum Narren. »Das ist nicht witzig, Mann«, knurrte er. »Sucht Euch einen anderen, über den Ihr Euch lustig machen könnt.« Er wollte sich abwenden, aber der mysteriöse Bote hielt ihn an der Schulter fest.

»Wartet, wartet. Ich scherze nicht. Natürlich bekommt Ihr all dies nicht umsonst. Ihr müsst etwas dafür tun, das versteht sich von selbst.«

»Und was schwebt Euch dabei vor? Ich kann mir kaum vorstellen, wie ich in diesem Leben noch so einen Schuldenberg abarbeiten soll.«

»Ihr müsst nur einen Brief überbringen«, erklärte der Bote, langte unter seinen Umhang und ließ einen neutral versiegelten Umschlag hervorblitzen. »An den obersten Hirten des heiligen Lamms, Rabanus, auf dem Konzil in Farolaín. Keine schwere Aufgabe.«

Garbhán fühlte sich schlagartig nüchtern und war sich nicht ganz sicher, ob ihm das gefiel. »Wenn es keine schwere Aufgabe ist, warum erledigt sie dann kein gewöhnlicher Bote?«

»Weil es eine Aufgabe von höchster Priorität und Vertraulichkeit ist. Es muss sichergestellt werden, dass der Brief unbeschadet ankommt und nur an Rabanus persönlich übergeben und von niemandem vorher geöffnet wird.«

»Was macht den Brief so besonders?«, wollte Garbhán wissen. »Was stimmt mit ihm nicht? Ich habe so eine leise Ahnung, dass es kein freundliches Grußwort an den Gottesmann ist.«

»Ein Teil der Bedingungen ist es auch, dass Ihr keine Fragen zum Inhalt des Briefes stellen, geschweige denn ihn selbst öffnen dürft. Absolute Vertraulichkeit.«

»Klingt, als sei dieses Schreiben ziemlich brisant.« Der andere antwortete nichts, aber sein Blick sprach mehr als tausend Worte. »Und Euch fällt für diese Aufgabe kein Besserer ein als ich?«, fuhr Garbhán fort und schnaubte. »Ich tue mich ein wenig schwer damit, daran zu glauben.«

»Ihr seid der perfekte Mann dafür«, gab der Bote ungerührt zurück. »Ihr habt Euch in den Kriegen verdient gemacht und als verlässlich erwiesen. Und, unter uns gesagt, Eure Situation ist verzweifelt genug, so dass man mit Sicherheit davon ausgehen kann, dass Ihr Eure Aufgabe zu aller Zufriedenheit erledigen werdet, um Euren Lohn nicht zu gefährden. Also sagt mir, Garbhán Iarainn ná Dunegal: Werdet Ihr den Brief überbringen?«

Nachdenklich strich Garbhán sich erst über den Vollbart und dann durch das Haar, das er sich nach caorganischer Mode hatte kurzschneiden lassen, weil er es zu dünn fand, um es lang zu tragen. »Woher weiß ich, dass Ihr mich nicht betrügt? Bekomme ich irgendwo schriftlich, dass mein Lohn tatsächlich die von Euch genannten Dinge beinhaltet?«

»Selbstverständlich«, erwiderte der andere. »Mein Auftraggeber hat ein beglaubigtes Schriftstück dafür ausfertigen lassen, das Euch die Begleichung Eurer Schulden und damit die Herausgabe der gepfändeten Ländereien garantiert. Ihr könntet Eurem Haus wieder zu echter Größe verhelfen, Syr Garbhán ...«

»Schon gut, schon gut. Gebt mir den Brief und ich werde im Morgengrauen ein Schiff nach Farolaín besteigen und ihn überbringen.«

»Rabanus wird im dritten Sommermonat in Farolaín erwartet«, erklärte der Bote, »aber niemand hindert Euch freilich daran, schon vorher in die Hafenstadt zu reisen und Erkundigungen darüber einzuziehen, wie Ihr zum passenden Zeitpunkt zum Hirten vorgelassen werden könntet.«

»Wird es denn kein Siegel geben, mit dem ich mich ausweisen kann?«

Der andere schüttelte den Kopf. »Das ist aus Gründen der absoluten Geheimhaltung nicht möglich.« Er langte wieder unter seinen Umhang und zog den Brief und ein weiteres Schriftstück hervor, um sie Garbhán zu reichen.

Der streckte die Hand danach aus, hielt dann aber inne. »Wer ist Euer Auftraggeber? Zumindest das muss ich doch wohl wissen, um mich … absichern zu können.«

Unbehaglich sah der Bote sich um und neigte sich, als er sich offensichtlich vergewissert hatte, dass niemand sie belauschte, etwas weiter nach vorn zu Garbhán. »Athanasius.«

»Atha – wer?«

»Athanasius, der oberste Gottespriester von Farangis.«

Garbhán kramte in seinem Gedächtnis nach diesem Namen, aber er sagte ihm nichts, was auch daran liegen mochte, dass er mit dem Glauben und seinen Priestern schon lange nichts mehr anzufangen wusste. »Ich weiß nicht, wer das sein soll.«

Der Bote schnalzte ungeduldig mit der Zunge und kam noch näher, so nahe, dass sein faulig riechender Atem direkt auf Garbháns Gesicht traf. »Athan Cladách.«

Natürlich, dachte Garbhán und fasste sich verstohlen an die Stirn. Der Athanasius. Der Cladách-Clan. Wer auch sonst hätte genug Geld, um ihn so fürstlich für diese Aufgabe zu entlohnen, außer der Fürst selbst? Er hasste den Gedanken, von den Almosen eines Cladáchs abhängig zu sein, aber er war nicht mehr in der Situation, in der er sich solcherlei Stolz noch leisten konnte. Dann fiel ihm etwas ein. »Wenn Athan der oberste Gottespriester von Farangis ist, wird er dann nicht selbst bei dem Konzil zugegen sein?«

»Gewiss, Syr Garbhán, gewiss.«

»Wozu dann der Brief? Kann er seine Botschaft Rabanus dort nicht selbst überbringen?«

Der Bote schüttelte den Kopf. »Athanasius wird aus verschiedenen Gründen erst etwas später bei dem Konzil zugegen sein. Deshalb ist es so besonders wichtig, dass der Brief möglichst zügig an Rabanus überbracht wird, denn sein Inhalt duldet keinen Aufschub.«

Garbhán seufzte und nahm den Brief und das Papier entgegen. Was hatte er schon zu verlieren? Nichts. Aber wenn er es geschickt anstellte, konnte er womöglich alles zurückgewinnen.

Bran erwachte in vollkommener Dunkelheit. Das war gut. Denn es war sehr angenehm, sich träge und langsam wachblinzeln zu können, ohne befürchten zu müssen, dass das Sonnenlicht schmerzhaft in seine Augen strahlte.

Er konnte förmlich spüren, wie seine Pupillen sich weiteten und das wenige, durch den Türspalt hereinfallende Licht dazu nutzten, um ihre volle Sehkraft zu entfalten. Er setzte sich auf und sah sich um. Abgesehen von dem weichen Bett, in dem er saß, befanden sich in dem fensterlosen Raum nur noch ein Stuhl und eine kleine Anrichte. Vorsichtig hängte er die Beine über die Bettkante und wollte gerade aufstehen, als die Tür sich öffnete. Hastig kniff er die Augen zusammen, weil das Licht von draußen den Raum flutete und atmete auf, als Jethro eintrat und hinter sich zumachte.

»Guten Morgen, Bran«, begrüßte der Bader ihn. Die kleine Kerze, die er in den Händen hielt, um sich einigermaßen orientieren zu können, warf gruselige Schatten auf sein dunkles, bärtiges Gesicht. »Hast du gut geschlafen? Wie fühlst du dich?«

»Wie neugeboren«, gestand Bran zu seinem eigenen Erstaunen. »Ich weiß nicht, wann ich das letzte mal so tief und fest geschlafen habe.«

»Und so lange.« Jethro lächelte. »Begleitest du mich in das Untersuchungszimmer? Ich würde mir gern den Fortschritt deiner Wundheilung ansehen. Ach, und Swithin ist hier.«

Bran verspürte eine Freude über die Rückkehr des Mönches, die ihn selbst überraschte. Vielleicht, weil dieser seit seiner Mutter der Erste gewesen war, der je so etwas wie ehrliche Sorge um ihn gezeigt hatte. Seine Tante hingegen … bei dem Gedanken an Bedelia durchfuhr ein ängstliches Kribbeln seine Magengegend. Sie würde ihn einen Kopf kürzer machen, wenn er nach Hause kam. Dann fiel ihm ein, dass ja Swithin zu ihr hatte gehen wollen. Hatte er es tatsächlich getan? Bran legte seine Augenbinde um, stand auf und folgte Jethro über den Gang in das Untersuchungszimmer. Als sie es betraten, spürte er die Anwesenheit von Swithin, ohne ihn zu sehen. »Guten Tag, Bruder Swithin«, grüßte er ihn.

»Guten Morgen wäre wohl eher angebracht«, neckte der andere und Bran stutzte.

»Habe ich etwa den halben Tag und die ganze Nacht geschlafen?«

»Anderthalb Tage und zwei Nächte«, gab Jethro zur Auskunft.

»Was?« Geschockt ließ sich Bran auf den Stuhl plumpsen, den man ihm hinschob. »Aber wie kann das sein?«

»Ich habe dir einen Trank verabreicht, der dich in einen tiefen Schlaf versetzt hat. Schlaf ist die beste Medizin, der Körper kann sich ganz auf die Heilung seiner Wunden konzentrieren, weil er sich nicht mit anderen Aufgaben beschäftigen muss.«

»Aber meine Tante ...«

»Darüber müssen wir reden, ja«, erklärte Swithin und seine Stimme verhieß keine guten Nachrichten. »Ich war bei ihr.«

»Und?« Bran zog sein Hemd aus, damit Jethro ihn untersuchen konnte. Mittlerweile war er sich sicher, dass die beiden Männer ihm nichts Böses wollten, sondern nur helfen – auch wenn ihm nicht wirklich klar wurde, welche Beweggründe sie dazu antrieben.

Swithin räusperte sich umständlich. »Ich möchte, dass du vorab weißt, dass ich mich furchtbar schuldig fühle. Ich dachte, sie ließe mit sich reden, aber –«

»Sie hat mich in meiner Abwesenheit hinausgeworfen, nicht wahr?«, unterbrach ihn Bran.

»Ich fürchte, so ist es.« Swithin stieß einen langen Atemzug aus. »Sie hat geschimpft und gewettert und war keinen vernünftigen Argumenten zugänglich. Immerhin hat sie mir ein Bündel mit deinen Habseligkeiten mitgegeben.«

»Nun ja«, entgegnete Bran ernüchtert. »So ist das Unvermeidliche eben früher eingetreten als erwartet.« Er fühlte nicht einmal Zorn in sich, keine Verzweiflung, nur eine dumpfe Leere. »Ich werde in Jornavik in den Minen arbeiten müssen.«

»Bist du des Wahnsinns?«, fuhr Swithin auf. »Keiner überlebt in den Minen länger als drei, vier Jahre!«

Bran zuckte mit den Schultern. »Und wenn schon.«

»Dir haben sie wohl doch an deinen schwarzen Kopf getreten. Du wirst in keine Minen gehen, Junge, im Leben nicht.«

»Was soll ich denn dann machen?« Bran hielt den Atem an, während Jethro ihn betastete. Es fühlte sich nicht so schmerzhaft an wie beim letzten Mal. »Betteln?«

»Nein. Du bist noch so jung, es muss eine andere Lösung für dich geben.« Eine Weile schien der Mönch nachzudenken. »Ich habe da den einen oder anderen Gedanken im Hinterkopf. Vielleicht kann ich etwas für dich aushandeln.«

»Das ist sehr freundlich von Euch, Bruder Swithin, aber ich fürchte, mir bleibt keine Zeit, um auf Verhandlungen zu warten. Ich werde mir, sobald Ihr mich hier entlasst, einen Platz im Armenhaus suchen und dann weitersehen.«

»Im Armenhaus gehst du unter«, gab der andere nüchtern zurück.

»Wer weiß, vielleicht unterschätzt Ihr mich auch. So oder so: ich habe keine Wahl.« Er meinte, Swithins Zähne knirschen zu hören, bevor dieser antwortete:

»Vielleicht doch. Ich würde dich bei mir aufnehmen, bis sich eine angemessene Lösung gefunden hat.«

»In ein Kloster?«

»Kein Kloster, wohl aber auch ein Ort der stillen Einkehr und Abgeschiedenheit.«

»Und wer bestreitet dort meinen Lebensunterhalt? Meine Tante hat sicher kein Geld in mein Bündel gepackt.«

»Gott«, gab Swithin nüchtern zur Auskunft, »im weitesten Sinne jedenfalls. Du kannst deinen Lebensunterhalt selbst bestreiten, indem du dich nützlich machst, ob am Tag oder in der Nacht spielt keine Rolle.«

Bran zweifelte, dass er auf Dauer wirklich nützlich sein konnte. Wahrscheinlich würde der Mönch bald bereuen, ihn bei sich aufgenommen zu haben, so wie Tante Bedelia. »Ich würde Euer Angebot ja gern annehmen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich Euch wohl nicht eher eine Last sein werde als von Nutzen.«

»Darüber kannst du mich getrost selbst entscheiden lassen. Mein Angebot steht.«

»Beantwortet mir nur eine Frage«, bat Bran. »Ihr beide. Warum tut Ihr das für mich?«

»Weil wir wissen, wie hart es ist, zu den Ausgestoßenen der Gesellschaft zu gehören«, erklärte Jethro bitter und reichte Bran sein Hemd zurück. »Das Einzige, was wir dem entgegensetzen können, ist, wie Brüder zusammenzustehen.«

Bran musste sich voll und ganz auf Swithin verlassen, denn es war helllichter Tag und er konnte nicht sehen, wohin sie gingen. Er wusste, dass sie durch das Nordtor die Stadt verlassen hatten und sich auf die ausgedehnten Wälder dahinter zubewegten. Er hielt sich die ganze Zeit dicht hinter dem kleinwüchsigen Mönch, der ihm immer wieder Anweisungen gab wie »nach links« oder »Vorsicht, Hindernis«. Im Wald konnte er es wagen, die Augen hinter der Augenbinde ab und an zu öffnen, denn hier war es ausreichend schattig. Das hielt Swithin allerdings nicht davon ab, ihm weiterhin Kommandos zu erteilen, obwohl Bran ihm versicherte, genug zu sehen, um etwaigen Hindernissen ausweichen zu können.

Sie verließen den Hauptweg und beschritten einen kleinen Pfad, der in das Dickicht führte. Ständig wurde Bran von herabhängenden Zweigen gestreift und riss sich dabei sogar einmal versehentlich die Binde von den Augen. »Ist es noch weit?«, fragte er, während er blinzelnd das Stück Stoff von dem widerspenstigen Zweig rupfte.

»Nein«, gab Swithin zur Auskunft. »Wir sind gleich da.«

Tatsächlich dauerte es nur noch wenige Momente, bis helle Sonnenstrahlen davon kündeten, dass der Wald sich lichtete. Bran schloss die Augen, hob den Kopf und hielt die Nase in die Luft. Bei allen Göttern, wie gut es hier draußen roch. Nach nasser Erde, nach Moos, dem ätherischen Duft von Kiefernnadeln, herabgefallenem Laub und … Wasser. Einer Menge Wasser. »Der Durvilsee?«, fragte Bran überrascht.

Er hörte Swithin lächeln. »Ein Seitenarm davon.«

Bran nahm noch einen tiefen Atemzug. Die Luft hier war viel geschmeidiger, viel reiner und leichter zu atmen als in der Stadt, wo sie ständig von einem Potpourri aus verschiedensten und oftmals nicht sonderlich guten Gerüchen erfüllt war. Es war Jahre her, dass Bran im Wald gewesen war, etliche Jahre. Beim letzten Waldspaziergang hatte seine Mutter noch gelebt; ansonsten hatte er ihn nur einmal mit einem Karren durchquert, als Tante Bedelia in dem Jahr, in dem seine Mutter gestorben war, das einzige Mal mit ihm zu einem Jahrmarkt nach Lundium gefahren war.

»Komm mit«, forderte Swithin ihn auf und führte ihn noch ein Stück weiter. Sie hielten an und der Mönch machte sich an irgendetwas zu schaffen. Bald darauf erklang das hölzerne Knarren einer Tür. »Willkommen in meinem bescheidenen Heim. Es hat keine Fenster, du kannst da drin also deine Augenbinde abnehmen.«

»Euer – Euer Heim?«, wiederholte Bran verdutzt, während Swithin ihn durch die Tür schob.

»Ganz recht«, erwiderte der andere.

»Lebt Ihr hier ganz allein? Seid ihr ein Einsiedlermönch?«

»So ähnlich, ja. Kann ich eine Kerze anzünden, oder wird dir das zu hell?«

»Nein, eine Kerze geht in Ordnung.«

Sogleich erfüllte der schwefelige Geruch eines Zündholzes den Raum und ein warmer Schimmer drang durch Brans Lider, nachdem Swithin die Tür geschlossen hatte. Vorsichtig öffnete er die Augen. Hier drin herrschte eine angenehme, heimelige Dunkelheit, die von den dunklen Holzwänden noch verstärkt wurde. Sie befanden sich in einer Hütte, die etwa zwei Manneslängen in der Tiefe und drei Manneslängen in der Breite fasste. Es gab eine Art Bett – ein mit Fellen und Decken gefüllter Kasten – und einen Tisch mitsamt dazugehörigem Stuhl. In der Mitte der Hütte befand sich eine kalte, mit Lehm umrandete Feuerstelle, über der ein ausgebeulter Kessel ohne Inhalt baumelte.

Swithin räusperte sich ein wenig peinlich berührt. »Da das Bett eindeutig zu klein für dich ist, werden wir ein paar Felle für dich auf den Boden legen und demnächst in der Stadt nach einem Strohsack Ausschau halten, damit du weicher liegst.«

»Das ist nicht nötig, vielen Dank. Mit etwas, das die Feuchtigkeit des Bodens von mir fernhält, bin ich schon zufrieden. Aber sagt, warum lebt Ihr hier draußen in der Hütte? Ich dachte, Ihr seid ein Mönch vom höchsten Orden des heiligen Lammes. Habt Ihr ...«, ein flaues Gefühl kroch in seine Magengegend, als er den Satz beendete, »habt Ihr mich etwa angelogen?«

»Nein!«, beschwichtigte der Mönch und hob die Hände. »Es ist nur ein wenig komplizierter.«

Das erste Mal seit ihrer Begegnung nahm Bran den Betbruder genauer in Augenschein. Ein wenig weiter als bis zum Hintern reichte er ihm durchaus, aber nicht viel, etwa bis zur Taille. In sein Haupthaar, das bis zu den Ohren reichte, war eine runde Tonsur geschoren. Er besaß das Gesicht eines erwachsenen Mannes mit erkennbaren Bartstoppeln und seine Statur wirkte untersetzt, allgemein so, als habe Gott ihm schlicht und ergreifend zu kurze Arme und Beine gegeben. Die Kutte, die er trug, wies ihn tatsächlich als Mönch aus, aber wo war die Ordenskette, die er den angriffslustigen Männern auf dem Markt gezeigt hatte?

»Mit Augenbinde gefällst du mir besser, denn dann starrst du mich nicht so an«, knurrte Swithin ein wenig ungehalten.

»Entschuldigt. Ich wollte nur sehen, mit wem ich nun vorerst unter einem Dach lebe. Erlaubt Ihr mir eine Frage?«

»Meine Geschlechtsteile sind normal groß«, versetzte der Mönch ein wenig ungehalten und machte sich daran, Felle auszuschütteln und sie auf den Boden zu legen.

Bran gab ein entsetztes Keuchen von sich und wich einen Schritt zurück. »Warum erzählt Ihr mir so etwas?« Ihm wurde übel. »Seid Ihr etwa auch einer von diesen … diesen ...« Er brachte den Satz nicht zu Ende, weil er würgen musste.

Swithin blickte auf und schien verwirrt. »Was? Ach du meine Güte, nein, natürlich nicht!« Er ließ das Fell fallen und machte einen Schritt auf Bran zu, der noch weiter zurückwich. »Das war nur die Antwort auf die Frage, von der ich sicher war, dass du sie gleich stellen würdest.«

»Wieso um alles in der Welt sollte ich Euch so etwas fragen?« Bran begann zu zittern und fragte sich, warum er schrie.

Der Mönch neigte das Haupt und senkte seine Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern. »Weil es stets das Erste ist, was die Leute von mir wissen wollen. Ist dein Schwanz normal groß, Zwerg, oder ist er so klein wie der eines Säuglings? Du glaubst nicht, wie demütigend das ist.«

Bran atmete auf und ließ die Anspannung mit einem leisen Zischen aus seinem Körper weichen. »Doch, ich kann es mir vorstellen. Ihr habt ja gesehen, dass mir die Leute auch nicht gerade schmeichelhafte Dinge an den Kopf werfen. Ich wollte jedenfalls nicht nach Euren Geschlechtsteilen fragen.«

»Wonach dann?«

»Nach Eurer Ordenskette. Ihr hattet eine auf dem Marktplatz, aber jetzt sehe ich sie nicht mehr.«

Swithin fasste sich unter den Kragen und holte die Kette hervor. »Da ist sie.«

»Warum tragt Ihr sie nicht offen?«

»Weil ich das strenggenommen nicht mehr darf.« Er wandte sich ab und tat wieder geschäftig mit dem Fell.

»Wurdet Ihr etwa verbannt?«, fragte Bran erschrocken. »Lebt Ihr deshalb hier draußen?«

»Ich bin selbst aus dem Orden ausgetreten. Die Kette hätte ich eigentlich abgeben müssen, aber ich ließ sie mitgehen … für alle Fälle. Hier draußen ziehe ich mich gewissermaßen von der Welt zurück.«

»Aber in einem Mönchskloster lebt man doch eigentlich schon von der Welt zurückgezogen, oder nicht?«

»Viel weniger als du denkst«, gab der andere zurück und legte das Fell auf den Boden. »Weltliche Belange wie Macht und Geld haben viel zu sehr Einzug in den Glauben gehalten. Das hat mir, neben ein paar anderen Dingen, nicht sonderlich gefallen.«

Bran nickte verständnisvoll. »Kann ich Euch irgendwie behilflich sein? Ich komme mir gerade so unnütz vor.«

»Du kannst probeliegen«, schlug Swithin vor und als Bran zögerte, fügte er hinzu: »Du musst keine Angst vor mir haben. Meine ganze Liebe gilt hochgewachsenen, vollbusigen Frauen. Und, mit Verlaub, von einem vollen Busen bist du sehr weit entfernt.«

Einen Augenblick sah Bran vollkommen verdattert drein, dann brach er in schallendes Gelächter aus, in das der Mönch einstimmte. »Ihr seid mir ein komischer Betbruder, wenn ich das mal so sagen darf.«

»Und du bist ein komischer Blinder, der ja eigentlich doch sehen kann.«

Noch immer lachend ging Bran hinüber zu dem Fell. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal Fröhlichkeit verspürt hatte, aber Bruder Swithin schien keine Schwermut in seiner Gegenwart zu dulden, und das war gut. Sehr gut sogar. Er beugte sich über den etwas muffigen Schafspelz und wollte mit den Fingern darüberstreichen, als leise klirrend etwas aus seiner Tasche fiel. Er erstarrte in seiner Bewegung. Das Amulett. Die immerwährende Erinnerung an das, was geschehen war und gleichzeitig das Einzige, das ihm ein Gefühl der Macht über den Mann verlieh, der ihm das angetan hatte. Auch wenn ein simpler, silberner Anhänger nüchtern betrachtet keine Macht besitzen konnte. Er trug das Amulett stets bei sich. Es war zu einem Teil von ihm geworden, so wie seine schwarze Augenbinde.

»Was ist das?«, fragte Swithin und griff schneller nach dem Anhänger, als Bran ihn wieder einstecken konnte. Seine Augen weiteten sich voller Überraschung, als er es betrachtete. »Wo hast du das her?«

Bran schluckte und starrte geradeaus. »Gefunden.«

»Wo?«, insistierte Swithin und kam einen Schritt näher.

Bran schwieg und atmete heftig. Er wollte nicht darüber reden. Nicht die Bilder wieder heraufbeschwören, die nicht seine Augen, sondern sein Gehör, sowie sein Geruchs- und sein Tastsinn ihm in das Gedächtnis gebrannt hatten. Und sein Schmerzempfinden.

Swithin schien zu verstehen. »Es ist ein Ordensanhänger«, erklärte er leise. »Vom Orden des ewigen Gartens. Die Schlangen in dem Symbol sind so ineinander gewunden, dass man nicht erkennen kann, wo ihr Anfang und wo ihr Ende ist. Genau so ist es mit Gott.« Er reichte Bran den Anhänger zurück. »Es gibt kein Ordenshaus des ewigen Gartens in Farolaín. Wer auch immer den Anhänger … verloren hat, er kam nicht von hier.« Er räusperte sich unbehaglich. »Hast du einmal auf die Rückseite geschaut?«

»Ja«, antwortete Bran, dessen Stimme sich in ein heiseres Krächzen verwandelt hatte. »Da steht ein Datum von vor über zwanzig Jahren.«

»Das ist das Ordenseintrittsdatum des Besitzers.«

Bran nickte langsam. Der Mann war also wirklich und wahrhaftig ein Mönch gewesen. Die schiere Tatsache steigerte Brans Entsetzen noch mehr als ohnehin schon. Wenn man nicht einmal mehr einem ach so mildtätigen Betbruder vertrauen konnte, wem dann? Selbst Swithin gegenüber hatte er immer noch Vorbehalte, obwohl dieser sich nie anders als freundlich und hilfsbereit gezeigt hatte. Er wollte darauf hoffen, dass der Mönch, der ebenso ein von der Gesellschaft Ausgestoßener war wie er, den Vertrauensvorschuss wert war, den er ihm entgegenbrachte. Aber ob er in der Gegenwart des anderen einschlafen könnte, das wusste er noch nicht.

»Hast du Hunger?«, fragte Swithin

»Ja«, gestand Bran.

»Gut, dann gehe ich jetzt angeln. Du kannst dich ja inzwischen eine Runde hinlegen.«

»Ich esse doch keine Tiere«, sagte er leise, weil er dem anderen mit seinen Sonderwünschen eigentlich nicht zur Last fallen wollte. Früher hatten Fleisch und Fisch ihm durchaus gut geschmeckt, aber seit diesem einen Tag vor acht Jahren konnte er den Gedanken nicht mehr ertragen, für seinen Genuss einem anderen Lebewesen zu schaden, wenn es auch irgendwie ohne ging.

»Dann sammle ich dir ein paar Pilze«, schlug Swithin vor.

Bran atmete erleichtert auf, weil der andere Verständnis zeigte. »Das wäre sehr freundlich von Euch.«

Swithin nickte kurz und wandte sich dann zur Tür. »Fühl dich wie zu Hause, Branceánn. Dies ist ein Ort der Stille, an dem niemand dich schubst und bespuckt und mit Schmährufen belegt.«

 

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Publication Date: 02-27-2017

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