Copyright: © Helene Elis 2014
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45897 Gelsenkirchen
Dieses Buch widme ich meiner Therapeutin in Gelsenkirchen. Ich bin ihr zutiefst dankbar für alle ihre wertvolle Hilfe. Ohne sie hätte ich dieses Buch niemals realisieren können.
Manchmal sind die Dinge kompliziert. Das liegt im Wesen der Welt begründet, auch wenn noch niemand sicher sagen kann, was das Wesen der Welt eigentlich impliziert - was wiederum sehr deutlich zeigt, wie kompliziert alles im Grunde ist.
Nehmen wir doch nur den menschlichen Körper: Hmmm, kompliziert, verflixt: verdreht, uneinheitlich, wild, wirr. Seit Jahrtausenden versuchen Wissenschaftler, die fleischliche Hülle zu kategorisieren, und anfangs sah doch auch alles leicht aus: außen eine Hülle aus Haut, drinnen Knochen, Blut, Muskeln und Innereien. Ist doch ganz einfach -
Oh nein, doch nicht so leicht, sprach der nächste Gelehrte und stellte fest, dass es Knochen gibt, die gar nicht zum Tragen des Körpers dienen, zum Beispiel im Innenohr. Dass es Muskeln gibt, die nicht zur Ruhe kommen, wie das Herz; dass es Innereien gibt, die anders aussehen, anders riechen und auch anders funktionieren als andere. Selbst die menschliche Haut ist auf der Oberseite der Hände völlig anders als auf der Innenseite!
Der Mensch hat es gern leicht. Er vereinfacht, damit alles, und sei es noch so undurchsichtig, irgendwann in einer elegant anmutenden Formel e=mc2 verpackt wird. Nun ja, die Formel sieht wirklich toll aus, aber verstehen Sie sie deswegen besser? Als nicht-Mathematiker?
Ja, manches sieht einfach aus und ist es nicht, manches sieht schrecklich verwirrend aus auf den ersten Blick und entpuppt sich als nur allzu verständlich, wenn man sich näher beschäftigt mit dem Metier.
Es mag sein, dass ein Anfang verwirrend ist. Ebenso ist es möglich, dass Rätsel sich auftun, wo man sich einfach der Unterhaltung hinzugeben erhofft hatte. Und wenn es um Bücher geht, ist die Verwirrung oft noch größer!
Als Autorin versuche ich, Ihnen Welten zu Füßen zu legen, von denen Sie bisher keine Ahnung hatten. Welten, in sich verdreht wie DNS-Stränge, entstanden in einer Werkstatt, die sich der Phantasie bedient. Und wieder kommen wir in unschiffbares Wasser: Phantasie!
Was ist das eigentlich? Was ist ein Gedanke? Woraus besteht er? Kann ich ihn messen? Kann ich ihn berechnen? Nein, keine Ahnung, tut mir leid. Aber jetzt kommt das Unfassbare: Ich kann einen Gedanken trotzdem erfassen! Ich kann ihn erahnen, begreifen, nachvollziehen und eventuell sogar umsetzen!
Das dünne Eis, auf dem wir Menschen stehen, das Eis aus Überzeugungen und Glauben und wissenschaftlichen Erkenntnissen, es bricht so schnell. Davon handelt dieses Buch.
Sie werden verwirrt sein, denn Sie werden ein Chaoten-Team kennenlernen: Ich bitte Sie, da ist Verwirrung doch das mindeste, was Sie zu erwarten haben! Doch wer sich festbeißt, wer forscht und sich von Neugierde treiben lässt, der wird auf Ungeahntes stoßen. Vielleicht sogar auf Altbekanntes?
Ich wünsche Ihnen viel Entwirrung!
Herzlichst, Helene Elis
Ein schöner Tag im Mai. Bäume blühen schon fast nicht mehr. Pollen fliegen. Bienen summen. Ein laues Lüftchen weht durch die Stadt.
Eine Frau sitzt auf dem Rücksitz eines Motorrads. Man kann sie nicht mehr als „junge Frau“ bezeichnen. Sie ist in dem Alter, in dem man noch nicht behaupten muss, 40 sei die neue 30. Diese Mathematik-feindliche und Logik-fremde Äußerung dient nur dazu, eine Tatsache zu vertuschen, die zu akzeptieren es nur ein Weniges an Gelassenheit bedarf.
Die Frau klammert sich nicht an ihren Vordermann, sie hat keine Angst. Sie strahlt mit allen Fasern ihres Seins nur eines aus: Genuss.
Der Fahrer hat bald die 60 erreicht. Seine Midlifecrisis ist schon lange Vergangenheit. Die Fahrt auf der Landstraße ist ebenfalls nach seinem Geschmack. Er ist ein Alt-Rocker und glücklich, dieses Lebensgefühl, wenn auch nur hier, mit seiner Tochter teilen zu können.
Die Frau hat sich diese Fahrt gewünscht: Hier fühlt sie sich frei, rebellisch, stark! Ein Gefühl, das sich immer einstellt, seitdem ihr Vater sie das erste Mal mitgenommen hat.
An einer Einfahrt endet die Reise. Mit Bedauern, aber noch immer mit aufrührerischen Gedanken im Kopf, steigt die Frau ab. Ihr Vater bockt die Maschine auf und bringt eine schwere Einkaufstasche fort. Er wird alt, denkt sie. Und sieht, wie ihm ein Foto aus der Lederjacke fällt …
Es ist leicht und fällt langsam. Sie wird aufmerksam, ein Bild trifft auf ihre Netzhaut. Sie kann erst nichts erkennen, hebt es auf … Sie sieht genauer hin. Eine Zeitlang starrt sie darauf. Sie schwankt … und sinkt zu Boden, und mit ihr das Bild.
Es ist ein Bild, das lange nicht an der frischen Luft war. Es könnte beinahe denken: Hey, was ist das denn für ein schöner Tag! Ein fieser Windhauch erfasst es, bläst es gemein an den Rinnstein des gegenüberliegenden Hauses der guten Wohngegend … Einen Moment lang könnte auch ein Betrachter das Bild sehen: Es zeigt eine junge Frau, blond mit blauen Augen, einem strengen Zopf nach hinten geflochten … Sie lächelt dem Fotografen auf eine Art zu, die keinen Zweifel lässt an ihrer Beziehung zu ihm. Doch es gibt keinen Betrachter …
Der Mann in Leder ist zurück und hat seine kollabierte Tochter entdeckt. Er hat keine Ahnung, wie das passieren konnte; er weiß nicht einmal, dass er gerade ein Bild verloren hat, das ihm teuer war. Er trägt seine Tochter in den Wohnblock gegenüber der schönen Siedlung. Er beeilt sich.
Das Bild verweht. Der Windhauch ist schlecht gelaunt, es ist ihm deutlich zu wenig los. Gehässig pustet er das Bild in den Gulli am Rinnstein. Doch auch das bringt ihn heute nicht in Schwung.
Vera Velen war attraktiv. Ja! Blond, eine echte, eine natürliche Schönheit. Gewandt und, wenn sie wollte, ein Vamp!
So stand sie da, sagte sich das immer wieder und hoffte, dass diese Worte wie durch Zauberei wahr werden würden. Sie fluchte leise, traute sich noch immer nicht, den Türklopfer dieser protzigen -–nein, dieser wunderschönen Villa auch nur anzufassen.
Wofür hatte sie bloß diesen Kurs an der Volkshochschule belegt, drei Wochen mit frustrierten jungen Müttern und noch frustrierteren älteren Geschiedenen? Und sie war doch wirklich nichts von beidem!
Unsicher zog Vera ihr Abendkleid straff. War es nicht einen Tacken zu kurz? Sah sie damit nicht eher aus wie eine - naja?
Was hätte Renate Bukowski, Expertin auf dem Gebiet „Positives Denken und Fühlen im Beruf", dazu gesagt? Was nur???
Fragen über Fragen! Dabei musste sie es jetzt packen! Falls ihr Bericht wieder einmal in der Redaktion ignoriert werden würde … ja dann …
Sie wusste nicht einmal, was dann sein sollte! Würde der Chef ihren Vertrag kündigen? Würde sie nie wieder eine Chance wie diese heute bekommen? Dabei gab sie sich echt Mühe! Ihr Blattmacher hatte sich klar ausgedrückt:
“Zeig, was du kannst, Schätzchen!”
Oh Mann, er hatte wirklich Schätzchen gesagt! Aber sie hatte ihm nicht widersprochen. Es fiel ihr erst viel später ein, dass sie hätte etwas sagen sollen, vielleicht:
“Was heißt hier Schätzchen?!”
Naja, wenigstens so etwas in der Art.
Der Türklopfer starrte sie an. Veras Hände schwitzten. Mein Gott, das konnte doch nicht so schwer sein: Türklopfer anheben, loslassen, vielleicht mit ein bisschen Schwung, und bums. Und dann würde Herr Habermaaß die Türe öffnen. Und sie, ja sie, sie würde einfach, sie würde … weglaufen, ja, definitiv!
Oh Mann, nein, so kam sie nicht weiter. Sie sah sich um, ob jemand auf der Straße sie beobachtete, vielleicht ein Augenpaar hinter einer dieser unfassbar coolen, teuren Limousinen und Sportwagen? Vera tat so, als ob sie auf jemanden wartete, das würde das beste sein. Und es stimmte ja auch! Sie sah auf die Uhr und verdrehte die Augen. Schielte auf den Türklopfer und hoffte, die Tür würde sich einfach von allein öffnen!
Warum war sie nur so unsicher? Wie mochte sie nun aussehen? Interessierte das überhaupt irgendwen?
“Jemanden wie dich will keiner!”, hörte sie ihre Mutter lachen. Es gab ihr einen Stich und machte sie wütend. Natürlich hatte sie keinen Freund!
Es gab keine Kerle mehr! Echte Männer, erfolgreich und sexy, wie der aus dem Roman, der jetzt verfilmt worden war. Kerle, die ihr, Vera, ihrer Schönheit und ihrem Teint und ihrer Intelligenz und ihrer … ganzen Erscheinung erliegen würden! Kerle, die sie heirateten, um ihr das Leben im Luxus zu schenken, das sie so faszinierte; aber diese Kerle mussten irgendwann von eifersüchtigen, fetten, hässlichen Frauen per Heirat ausgerottet worden sein! Tja, dann musste sie eben selbst erfolgreich und sexy sein. Verdammt!
Neben ihr trat ein Pärchen auf die Treppe. Vera hatte sie gar nicht kommen sehen und zuckte zusammen. Sie in einem beige-weißen Traum aus Fransen und Glitter, er in einem Designer-Anzug, analysierte Vera. Die beiden nickten ihr stumm zu. Vera versuchte, sie nicht allzu offenbar anzustarren. Der Mann kannte die Bedenken nicht, die Vera gerade noch gequält hatten, und so wummerte der Klopfer erhaben auf ein vergoldetes Scharnier. Die Tür schwang auf, und ein gut aussehender junger Mann im Anzug begrüßte sie förmlich und bat dezent um Eintritt: augenscheinlich ein Butler.
Viel zu schnell, das merkte sie sofort, stakste Vera hinein und vergaß, überhaupt irgend etwas zu sagen, nicht einmal “Guten Tag!” So stand sie nun wenig erfolgreich und sexy am Rande des Foyers im „Empfangssaal“ der Villa des reichsten Mannes der Stadt: Florentino Habermaaß, wahrscheinlich ein Abkömmling des Philosophen; ein Architekt, Autor und Kunstsammler. Ja, das sah man deutlich: Die Villa war ein Traum, von innen noch mehr als von außen!
Und Müller? Wo steckte der nun wieder? Immer, immer wieder kam er zu spät, und niemanden in der Redaktion störte das! Man teilte ihn ihr zu, und fertig war man mit Müller. Oh, und auch mit ihr! Der Typ war eine Katastrophe auf zwei Beinen! Obwohl … Seine Bilder hatten eigentlich etwas. Vera konnte den Fotografen nicht einordnen, ebenso wenig verstand sie von Fotografie; aber was immer ihm vor die Linse kam, wirkte spannend, man musste hinsehen. Also, zumindest sie. Was auch immer das bedeuten mochte.
Das Paar gab Jäckchen und Taschen an der Garderobe ab. Vera konnte weder mit dem einen, noch mit dem anderen dienen, und kam sich verloren vor. Ihre Handtasche würde sie bei sich behalten, da war alles drin für das Interview.
„Frau Velen?“
Sie zuckte ein wenig zusammen und bereute es sofort: Bürgermeister Brunner stand wie aus dem nichts vor ihr und lächelte. Vera wusste, warum er ihren Namen kannte. Den Namen Velen kannte jeder hier. Heisingen war ein Dorf.
Der Bürgermeister hatte dieses Treffen arrangiert. Er wollte, dass geschrieben wurde. Nun; Vera würde sich nicht instrumentalisieren lassen, oh nein! Aber sie würde schreiben, keine Frage. Sie hoffte, dass sie blitzschnell genug umschaltete von verwirrtem Monolog auf gekonnte Konversation gehobener Art:
„Ja hallo, Herr Brunner! Welch atemberaubendes Anwesen, nicht wahr?“
Vera bewegte sich mit der Sicherheit einer höheren Tochter über den Marmor der Eingangshalle auf das Parkett des Großen Saals.
Trotzdem fragte sie sich, ob sie nicht etwas zu sehr stakste mit den Stöckelschuhen. Hatte sie nicht auch wieder zu schnell gesprochen? Was würde der Bürgermeister später ihrem Chef wohl stecken?
Ein weiterer Angestellter in Frack und Fliege reichte ihr ein Glas mit Champagner. Sie dankte, nippte nicht sofort, lächelte ein Lächeln, das nie in der Nähe des Herzens gewesen war, und wandte sich der Runde zu, in die der Politiker sie lancierte. Hunderte Gäste murmelten und lachten, verteilt über ein Grundstück, dessen Fläche vielleicht eher in Hektar gemessen werden sollte. Innerlich schimpfte gerade jemand mit Vera, sie solle sich nicht so ungelenk bewegen! Sie räusperte sich und dachte an Rita Bukowski: Leicht sollte es aussehen, wenn sie ging. Leicht und sexy!
„In der Tat und dem Anlass angemessen“, sprach der Bürgermeister. Vera hatte den Faden verloren … ach ja, das Anwesen!
Brunners Blick fuhr über die Menge, der Blick eines Adlers über ein Weizenfeld auf der Suche nach Kleingetier.
„Was tun wir nicht alles für die Kunst … und für die Stadt Essen! Darf ich vorstellen: Joseph Langemann, unser Kämmerer; Beate Friedmann, meine Sekretärin; und last but not least: Herr Habermaaß, unser Gastgeber und Mäzen vieler großartiger Künstler, die wir Ihnen später noch vorstellen werden.“
Brav nickte Vera jedem beizeiten zu. Gott, das sah ja anbiedernd aus! Vielleicht sollte sie etwas weniger lächeln und dafür einen eher kritischen Gesichtsausdruck aufsetzen? Gleichzeitig wurde Vera bewusst, dass so etwas Pubertierende denken … Verflixt, jetzt hatte sie schon den Namen der Sekretärin vergessen! Konzentration, forderte ihre innere Stimme nachdrücklich!
„Walter Zusniak, darf ich vorstellen?“
Vera strahlte noch breiter, verflixt, das sah sicher richtig blöde aus! Macht war anziehend. Und dieser Typ musste eine Menge davon haben! Groß, attraktiv, selbstbewusst, keine fette Gattin in Sicht,–aha?
„Sind Sie auch Kunstsammler?“, fragte sie besagten Herrn Zusniak mit etwas zu hoher Stimme.
„Nur nebenbei.“, kam eine Höflichkeit-Antwort.
„Ah, und was machen Sie beruflich? Auch in der Politik?“
Verflixt und zugenäht, wie ein Geier! Innerlich holte Vera mit einer Geißel aus.
„Gewissermaßen. Ich habe viel dort zu tun … Ich bin Psychiater.“
Vera hielt inne. Von Psychiatern hielt sie absolut gar nichts! Typisch, das war so typisch für sie! Sie erinnerte sich vage daran, wie in ihrer frühen Kindheit einmal jemand versucht hatte, sie zu hypnotisieren … Sie hatte ihn gebissen! Sie fand, er habe absolut nichts in ihrem Kopf verloren!
Eben jene Feindseligkeit galt es nun, nicht nach draußen sickern zu lassen. Herr Zusniak konnte schließlich nichts dafür, dass er einen Beruf hatte, den sie verachtete, und dass er nicht so mächtig war, wie er aussah …
„Ah, Psychiater! Wie interessant“, lächelte Vera.
„Warum sage ich das?!“, fügte sie in Gedanken hinzu. Sie stellte es sich schrecklich anstrengend vor, dauernd Leuten zuzuhören und dabei nett zu bleiben. Obwohl sie ja auch immer nett war, gut erzogen eben. Zwar nicht von ihrer Mutter, das war schlichtweg unmöglich, denn ihre Mutter war das ungezogenste Miststück, das sie kannte; aber ihr Daddy, ja, der war einfach klasse.
Sie wandte sich wieder Herrn Habermaaß zu:
„Sowas, die ganze Stadt ist ja hier, was für ein Wahnsinn! Und sagen Sie, Herr Habermaaß, sind Sie nun der Abkömmling von …“
„Nein“, kam ihr der kleine, dicke Mann zuvor. Er schien in Sekundenbruchteilen von dieser Frage abgeturnt zu sein. Augenscheinlich hielt er sich selbst für einen großen Künstler: Sein hoher Haaransatz verschwand unter einer eher albern wirkenden Schottenmütze, die er nun zurechtrückte. Dazu trug er ein weites, türkisfarbenes Satinhemd, das über einer 70er Jahre Bluejeans flatterte; an deren Röhrenenden steckten nackte Füße in braunen Sandalen. Vera taten sofort die Augen weh, sie fühlte sich wehrlos.
„Schicke Hose“, entfuhr es ihr.
Zusniak neben ihr konnte auch durch rasches Abwenden ein Grinsen nicht mehr verbergen. Himmel, wie taktlos! Vera wurde puterrot.
„Danke”, konstatierte Habermaaß, “Ich konnte bisher jedenfalls noch keinen Erbschaftsanspruch bei den Philosophen erheben!“
Habermaaß hatte beschlossen, auf das einzugehen, das ihn etwas weniger nervte. Sein Blick schweifte dabei über die Vielzahl der Gäste, er schien Ausschau zu halten nach etwas Interessantem! Dann lachte er grunzend.
Vera schloss die Augen und lachte auch, obwohl der Witz überaus übel war, falls das überhaupt einer gewesen sein sollte, und obwohl sie sich gerade schrecklich fühlte, ohne zu ahnen, warum. Etwas in ihr hatte das Gefühl, übergangen worden zu sein. Sofort drückte Vera diesen Gedanken beiseite!
Sie beschloss, zwar nicht die fragliche Pointe zu genießen, dafür umso mehr das Lachen wichtiger Menschen um sich herum, den mächtigen Tenor in der Lache des Bürgermeisters, den satten Bariton des Schatzmeisters ihrer Lieblingspartei, das klirrende Gackern des Psychiaters … Sie hob das Sektglas an ihre Lippen, schmeckte saure Perlen auf der Zunge und öffnete die Augen wieder. Sie sah -
- einen sanft ansteigender Hügel mit wildem Gras. Es roch nach Erde. Warmer Wind wehte. Das Licht schien weich und milchig, wie es das an verregneten Sommertagen zu tun pflegte. Und tatsächlich: Leichter Regen rieselte sanft auf eine vernachlässigte Wiese. Das Lachen war weg. Ebenso die wichtigen Menschen. Vera kippte nach vorn, denn unter ihr war kein ebener Boden mehr. Sie fing sich ab trotz der unbequemen silbernen High Heels, ärgerte sich aber sofort darüber, hier in lockeres Erdreich zu treten, anstatt über das wundervolle Parkett zu schreiten … Mit Mühe hielt sie das körperliche Gleichgewicht; das seelische hingegen glitt ihr ebenso aus den Fingern wie das Glas, das mit bescheidener Stille den Champagner in die Wiese rieseln ließ. Vera fluchte leise und zu ihrem eigenen Bedauern wie ein Bauer!
Wo zu Henker war sie denn eigentlich plötzlich? Wo waren die anderen? Der Bürgermeister? Die Villa?
Sie drehte sich wieder und wieder um. Im Grunde war sie sich sicher, dass das ein sehr übler Scherz war. Sie stand im kleinen, etwas zu knappen Schwarzen in einem riesigen Garten an einem Hang im Regen. Apfel- und Steinobstbäume, eine kleine Bank neben einer hübschen Laterne luden zum Verweilen ein, schienen aber nicht wirklich das Publikum für ihr ausgesuchtes Parfum zu sein. Auch nicht für ihre Ohrringe mit Akoya-Perlen - die in Wahrheit zwar von einem namhaften Internet-Versand stammten, aber gelungene Kopien waren, jawohl! Sie seufzte. Sie wartete.
Nichts geschah.
Ja, wirklich, sehr witzig! Hatte sie gerade noch gelacht? Sie wusste nicht mehr, worüber, aber Humor war nun definitiv nicht mehr angesagt! Vera bemerkte einen kaputten Zaun. Es war ein plumper, dunkelbrauner Jägerzaun, den ein bäuerlicher Trottel sicher besser um sein Vieh herum ziehen sollte, als um sein Gut. So einen ähnlichen hatte ihr Vater früher um ihr Elternhaus gebaut. Dieser war merkwürdig, er stand sehr nah am Haus, so dass der Garten weniger umzäunt war, als eher das Haus selbst. Etwas sagte ihr, das alles hier sei nicht wirklich, nicht echt. Da war zum Beispiel das Gefühl, über sich keinen Himmel zu haben. Keine Lichtquelle, und doch war es hell. Eine andere Stimme aber plästerte entschieden darüber: Unsinn! Ich muss nur den Verantwortlichen finden!
Merkwürdig, der Geruch, der Zaun … Kam es ihr bekannt vor? Unsinn, dröhnte es wieder in ihrem Kopf.
Entschlossen zog sie die High Heels aus und marschierte barfuß auf dies rustikale Zeichen von Zivilisation zu, sicher, den nächsten, der eine dumme Bemerkung machen würde über nasse Kleidung oder dreckige Füße, kräftig vor sich her zu schubsen bis zu demjenigen, der verantwortlich war für ihren Zustand, für ihre … Entführung? Nein! Wer sollte sie schon entführen? Lächerlich … Sie hatte sich sicher einfach wieder verlaufen! Typisch, einfach typisch!
Doch niemand war in der Nähe, den sie hätte schubsen können. Stattdessen knickte sie um und landete auf ihren Knien und Händen. Bitte, ein kleines Schwarzes zahlt sich eben immer aus: keine Grasflecken, nur dreckige Knie! Damit konnte sie leben. Gut, dass Hochsommer war!
Ohne Schuhe war sie etwa acht Zentimeter kleiner. Nein, es machte ihr nichts aus, überhaupt nichts! Sie war gern klein. Und ein Meter fünfzig war an und für sich auch gar nicht so superklein. Gut, es hatte nicht sollen sein mit der Model-Karriere. Egal! Inzwischen waren diese Jahre vorbei. Sie war blond und intelligent, attraktiv und eine angesagte Journalistin. Für den Stadtteil-Anzeiger! Die Körbchengröße war unwichtig, sie war selbstbewusst und … und … Doch, die Körbchengröße war schon wichtig … Verwirrt blieb sie stehen, und mit ihr ihre Gedanken.
***
Die Gouvernante stutzte: Das ging zu weit! Eindeutig zu weit! Wo war sie denn nur? Dies hier schien eine Party zu sein. Solche Partys gab es im Innen nicht. Sie schluckte.
"Ein kleiner Umtrunk, Madame?"
Der große Kellner sah auf die kleine Frau hinunter und hielt ihr ein Tablett vor die Nase.
"Nein, danke", sagte die Gouvernante, "ich trinke niemals!"
Der Blick, der den Mann traf, hätte einen Tyrannosaurus Rex dazu gebracht, sich auf den Rücken zu werfen.
"Entschuldigung", hauchte er verlegen.
Sie ignorierte es, denn hier ging Unerhörtes vor. Im Außen - wie zum Henker sollte das überhaupt möglich sein? Die Gouvernante wusste, was sie war. Gewisse Rückschlüsse konnte man nicht einfach so ziehen, ohne den Verstand zu verlieren!
Wo war die Außenfrau?
Sie wusste es nur zu gut: Dahinter konnte nur einer stecken! Einer, der schon immer nur Ärger gemacht hat! Und diesmal, diesmal war er zu weit gegangen!
Nun, zuerst würde sie herausfinden, wie er das angestellt hatte. Dazu hatte sie ja ihre Leute. Und dann wurde es Zeit, Konsequenzen zu ziehen.
"Vielleicht aber ein Appetit-Häppchen?"
Die Gouvernante riss sich zusammen. Sie merkte, dass sie hier bereits deutlich dem Underdressing anheim fiel. Hier schien Abendgarderobe anzustehen; sie aber war, wie immer, denn es war ihr ausgesuchtes Markenzeichen, im hochkragigen Kleid eines Kindermädchens aus dem Biedermeier gekleidet. Manche Leute schauten schon! Wenn sie nun auch noch pädagogische Maßnahmen ergriff - nicht auszudenken, was das hier für ein Aufsehen erregen könnte … Sie nahm einen Toast mit Lachs entgegen von einem Kellner, der anscheinend gerade sein berufliches Eden gefunden hatte.
"Danke", zischte sie mit solchem Nachdruck, dass der Mann sofort überlegte, was er falsch gemacht hatte. Das Tablett in seiner Hand zitterte ein wenig.
"Sie dürfen jetzt gehen", bellte sie.
Der Kellner legte Betonung auf Geschwindigkeit beim Verlassen der Szene. Er sah dabei nicht undankbar aus.
Missgünstig kaute die Gouvernante auf dem Toast herum und wartete. Sie war sich sicher, dies könne kein Zustand von Dauer sein.
"Hallo, darf ich mich vorstellen?"
Vor ihr stand ein Kerl in einem lächerlichen Hemd und mit einer lächerlichen Mütze.
"Nein", befahl die Gouvernante und kaute stur weiter. Das fehlte noch, hier im Außen Kontakte zu knüpfen!
Erstaunlicherweise machte der Gastgeber sich daraufhin aus dem Staub. Auch er sah erleichtert aus, wenn auch etwas irritiert.
Sie entschied, sich umzudrehen und auf ein Bild zu starren, das an einer Wand hing. Ein Schild darunter zeigte die Aufschrift:
"Wind mit Hund"
Die Pädagogin betrachtete die braunen Kleckse auf der gelben Leinwand. Das musste ein Irrtum sein, da war sie sich sicher. Aus einer Tasche in ihrer Strickjacke holte sie einen Kugelschreiber. Rasch korrigierte sie, um dann zufriedener das Werk zu beäugen. Ja, das kam schon eher hin!
Sie wollte sich gerade dem nächsten Bild zuwenden, da -
… stand sie wieder in ihrem Büro! Gott sei Dank! Sie hoffte inständig, dass nun wieder alles normal wäre - und wusste im Grunde, dass nichts mehr normal war. Die Göre war entwischt, der Rocker gefährdete die Ordnung: Jetzt würden Köpfe rollen! Entschlossen entnahm sie ihrer Jacke einen goldenen Schlüssel und stapfte damit auf ihren Schreibtisch zu.
***
Vera hatte vermutet, die Villa irgendwo hier am Zaun zu sehen. Aber die Villa … die Villa war irgendwie … weg! Stattdessen war nur ein Haus zu sehen und der Zaun, vor dem sie stand; Dickicht und Gestrüpp hatten jeden Weg hier unsichtbar gemacht. Das sah sie also: Haus, Zaun, Garten mit Bäumen, Gestrüpp und Hang. Keine Party. Kein Habermaaß. Und alles schien extrem unwirklich …
Welche verdammte Droge war in dem Champagner gewesen?! Jemand hatte ihr K.-o.-Tropfen in den Schampus gemischt, dann musste sie ohnmächtig geworden sein …
Aber verflixt nein, so war es nicht gewesen! Sie bekam gerade Hybris, wer sollte sie schon unter Drogen setzen!
Erneut rekapitulierte sie die letzten Minuten, aber sie kam zu nichts Neuem. Sie hatte doch nur einen Moment die Augen geschlossen, so wie man es nun einmal tut, wenn man lacht oder blinzelt. Das ergab alles einfach keinen Sinn …
„Genau: Ich habe eine allergische Reaktion auf Champagner, ein neuer von Gottes besten Scherzen“, überlegte sie ohne große Überzeugung.
Sie lief am Zaun entlang, suchte und suchte - und wunderte sich … Teufel, sie musste aufpassen, was sie redete! Nur falls doch jemand hier war …
„Hallo“, sagte plötzlich genau so ein Jemand nah hinter ihr. Aus dem Stand schoss sie achtzig Zentimeter in die Höhe und schrie noch immer, als sie schon längst wieder Boden unter den Füßen hatte.
Zum einen stand dort ein Mann. Interessanterweise war er weder zwergwüchsig, noch größer als Vera selbst. Physik und Logik hatten anscheinend gerade beschlossen, diese merkwürdige Situation nicht weiter zu verkomplizieren und gemeinsam den Nachmittag in der Kneipe ausklingen zu lassen.
Zum anderen sah er eigentlich aus wie … ja, wie eine Frau! Eine verkleidete Frau! Schwarzes Leder! Und Rocker-Klamotten. Sonnenbrille und ein Bart, der jedem Zwerg zur Ehre gereicht hätte, er franste bis zum Bauch hinunter und war, wohl eher versehentlich, in einen dicken Ledergürtel mit silberner Schnalle geklemmt worden.
Vera kam der Gedanke, dass dieser Kerl … diese … Kreatur vielleicht ein Verursacher ihrer misslichen Lage war. Die Ähnlichkeit mit einer Frau kam ihr entgegen, besonders wegen der Körpergröße. Sie entschloss sich daher kurzerhand, ihrem merkwürdigen Gegenüber zunächst einmal das Gegenteil von Wehrlosigkeit zu demonstrieren und holte mit der Handtasche aus. Doch dann stoppte sie - hallo?! Was sollte das? Was tat sie da gerade? Der Gnom oder was für ein Wesen es auch immer war, sah nicht so aus, als ob er sie überfallen wollte … oder? Hier war sonst niemand!
Weiter als bis zum Ausholen mit der Tasche kam Vera nicht. Der Rocker hob die Hände abwehrend und rief:
„Hallo?!“
Seine Augen verfolgten die ausholende Tasche, als er intuitiv einer Idee nachgab, und mit tadelndem Ton fügte er hinzu:
„Vera Konstanze!“
„Vera Konstanze“, echote Vera und ließ verdattert die Handtasche sinken.
Eine Woge klarer Verunsicherung durchwühlte ihr Gesicht auf der Suche nach Falten, die Botox nicht zuließ.
„So nannte mich mein Vater immer …“, hauchte sie misstrauisch.
Wie zum Teufel konnte dieser Zwerg das wissen?!
„Harley“, rief plötzlich eine Kinderstimme.
Ein Mädchen in einer blauen Latzhose und mit einer Zopf-Frisur aus den 80er Jahren rannte herbei. Auch sie war barfuß. Wann hatte Vera das letzte Mal eine blaue Latzhose gesehen? Zuletzt an einem Klempner …
„Harley, hey! Mein Rocker …"
Die Kleine war im Begriff, sich dem Zwerg an den Hals zu werfen - da bemerkte sie Vera, die noch immer mit erhobener Handtasche da stand.
„Hat die Dich gehauen?“
„Nein“, antwortete der Rocker unsicher. "Kleines! Wie geht es Dir?"
„Wollte die dich haun?“
Der Rocker zögerte, als er nach Worten suchte; das reichte der Göre anscheinend. Ihre Miene verdunkelte sich in einem für eine Zehnjährige erstaunlichen Maß. Dann hob sie etwas auf. Im nächsten Moment flog es auf Vera zu.
Veras Mund hatte gerade Tag der offenen Lippen. Ihr Hirn wiederum bekam ganz fürchterlich Migräne. Sie kannte dieses Mädchen! Sie kannte ihre Verlogenheit, ihre Gehässigkeit und ihren außerordentlichen Einfallsreichtum, wenn es darum ging, Leute zu dizzen. Deshalb wusste sie auch, was jetzt zu tun war: Sie duckte sich schnell! Der Stein war sehr sorgsam und dazu reichlich flott auf ihr Auge gezielt und flog nur Millimeter über ihren Kopf hinweg.
Vera starrte in gebückter Haltung auf das Mädchen. Mehrere Gedanken wetteiferten gleichzeitig um eine Aufmerksamkeit, die jedoch dafür benötigt wurde, weiteren Attacken auszuweichen. Die Latzhose konnte nicht nur Steine und griff wahllos vom Boden, was sie fand: alte Kastanien, Erdklumpen mit halbem Regenwurm - buäh! -, Stöcke und Teile des Jägerzauns.
„Geh weg! Geh weg von meinem Beschützer!“, keifte die Kleine. „Geh weg von meinem Haus!“
Der nächste Gedanke, der im Wettbewerb um Veras Aufmerksamkeit gewann, war:
„Sie ist ganz schön mutig!“
„Nicht doch! Göre! Nicht!“
Harleys Stimme kletterte gerade geschwind wie ein Eichhörnchen einen Baum hinauf.
In Vera machte sich langsam ein Gedanke breit. Das merkten die anderen Gedanken - und wurden feindselig: Das hier war ihr Auftritt! Beinahe gleichzeitig enterten daher alle Gedanken das Bewusstsein der Journalistin:
„Pass auf, der Zwerg kommt auf Dich zu!“, und:
„Jetzt ist das kleine Schwarze hin, Mist!“, und:
„Ich weiß jetzt, wo ich bin!“, und:
„Das kann nicht sein! Das Haus ist abgerissen!“, und:
„Womit wirft sie denn jetzt?“
Bevor die Murmel, eine wunderschöne und außerordentlich große Glaskugel mit grünem und blauem Farbstreifen in der Mitte, sie an der Schläfe traf, kam der Gedanke, den sie nicht hatte hören wollen. Er konnte sich durchsetzen, weil Veras Wille sich auf Sauftour begab - zusammen mit Logik und Physik! Das Letzte, was sie wahrnahm, war ein Gedanke, der so obskur war, so irreal und wahnwitzig, dass Vera sich ganz sicher war, dass sie jetzt gleich wieder aufwachen müsste! All das war sicher ein Alptraum!
Der Gedanke aber machte es sich nun gemütlich. Er rückte sich einen mentalen Sessel zurecht, winkte den hinderlichen Instanzen auf ihrem Weg ins Nirwana fröhlich hinterher und begab sich mit einem verträumten Lächeln in die Welt:
„Das Mädchen, das bin ich selbst!“ -
- „Auaaa!“
Der Schrei erschreckte alle Gäste im Umkreis von fünf Metern. Bürgermeister Brunner schüttelte den Kopf: Grundgütiger! Was war in diese Frau gefahren? Wo kam sie nun wieder so plötzlich her?
„Frau Velen, um Gottes Willen, was ist?!”
Vera starrte wie vom schlag getroffen vom einen zum anderen. Der Psychiater bestaunte sie wie einen kuriosn Fall in seiner Karteikärtchensammlung, der Bürgermeister schien etwas wie Fremdschämen zu kennen. Seine Sekretärin lächelte etwas boshaft.
Wie konnte das sein? Wie war sie denn jetzt … so schnell … verflixt!
„Entschuldigen Sie … mich bitte!“, stotterte sie.
Sie blickte vom einen zum anderen. Florentino sah Vera mit einem Ausdruck an, der nichts mit Freude oder Wohlwollen zu tun hatte. Das war Zauberei! Das musste Zauberei sein!
Flucht, schoss es ihr wiederholt durch den Kopf: weg hier!
Aus irgendeinem Grund meinte sie, mit High Heels zu laufen, was sich aber beim Versuch, sich elegant aus der Runde zu entfernen, als fataler Irrtum erwies, und im Fallen zog sie noch einen Kellner und gewiss zehn Sektgläser mit sich. Sie sah noch oben in dutzende Gesichter, die nun wiederum besorgt nach unten blickten und die Verschwendung des Schaumweins bedauerten: Es wurde getuschelt!
„Entschuldigung?“, wiederholte sie. „Ich … ich fühle mich nicht so gut?“
Sie rappelte sich auf und schaffte es nur mit Mühe und nicht wenigen inneren Selbstvorwürfen, das Gäste-WC aufzufinden.
„Das ist also Deine Starreporterin?“, flüsterte das Stadtoberhaupt dem Kämmerer zu, der sich zu ihm gesellt hatte.
„Was soll ich sagen“, wand sich der. „Sie gilt als launisch, aber intelligent. Wie hat sie denn das gemacht mit dem Verschwinden?“
„Keine Ahnung. Die Leute halten es für einen arrangierten Trick. Wird sie denn schreiben, worüber wir gesprochen haben?“
Die beiden Männer sahen sich nicht an. Bürgermeister Brunner lächelte dem jungen Chef einer Baufirma zu. Der Kämmerer öffnete den Mund kaum:
„Das wollte ich ja gerade regeln.“
Aus dem Stimmgewirr erhob sich irgendwo lauthals der Protest von Florentino Habermaaß:
"HUND MIT WINDEN??? Wer bitte war hier so unverschämt!!!"
„Ja“, lächelte Karl Brunner, „Regle das bitte. Ich finde diese hyperaktive, farblose Wichtigtuerin ohnedies unerträglich. Sie geht mir auf die Nerven! Wenn nicht bald Wahlen wären …“
Wieder lachten die beiden. Die Umstehenden lachten mit. Die Pointe würden sie sich später woanders erklären lassen.
Vera stand mit zitternden Knien im luxuriösen Gäste-WC und war damit beschäftigt, mehrere Gefühle, die miteinander rangen, unter Kontrolle zu bekommen. Sie war außer sich! Mit zitternden Händen und wackligen Beinen lief sie auf und ab in der Hoffnung zu begreifen, was da gerade passiert war.
“Also, nochmal in Zeitlupe: Ich stehe da zwischen Habermaaß und blubb-blubb-blubb. Ich trinke einen Schluck, ich schließe die Augen, lache, öffne die Augen …”
Sie wiederholte die Prozedur ohne Getränk in der vagen Befürchtung, das ganze könnte wieder passieren - doch nichts geschah. Sie blickte auf Mauerwerk, Naturstein, womöglich Quarze darin? Die schwarze Dampfdusche für Zwei in glitzernd-weißem Marmor hätte ihr vorhin noch den Atem geraubt; doch–der kam jetzt stoßweise aus ganz anderen Gründen.
Was war das denn gewesen? Eine Halluzination. Aber eine mächtig realistische! Was, wenn das wieder passieren würde? Hier, unter all den Leuten, denen bereits sehr übel aufstößt, wenn man das falsche Puder auf der Nasen hat? Undenkbar! Im Grunde hatte sie es bereits verbockt! Wie peinlich das gewesen war!
Im Wust ihrer chaotischen Gedanken suchte Vera Halt in Altbekanntem, in etwas, das sie im Hier und Jetzt fest hielt: Wände in Perlweiß, über den vier Waschtischen jeweils wieder Naturstein. Normalerweise wäre Vera ehrfürchtig in die Knie gegangen. Stattdessen überlegte sie, wie viel Wasser sie sich ins Gesicht werfen könnte, ohne dass ihr sehr teures Make-up verschmierte. Nun, die Wimperntusche war angeblich wasserfest …
Das durfte nicht noch einmal passieren, ihr Chef hatte sich klar ausgedrückt! Es ging um ihre Karriere, um ihren Job!
Erst nach fünf oder sechs Handvoll Wasser bekam sie wieder ein Gefühl für Temperatur, sehr kalt, und für Person und Orientierung: Sie war 30 Jahre alt, auf der Party von Habermaaß - nicht dem Philosophen! Ihr Termin für das Interview mit Bürgermeister Brunner und den anderen renommierten Gästen war gerade im Begriff, flöten zu gehen in einer ihr unbekannten Tonart! Super!
Soweit sie es wusste, gab es in ihrer Familie keine Geisteskrankheiten. Aber sie hätte schwören können, gerade von sich selbst im Kindesalter in einem Garten vor einem Haus und in Gesellschaft eines völlig bizarren Rocker-Zwerges, der sie mit ihrem Zweitnamen angeredet hatte, den niemand außer ihr und ihrem Vater kannte, mit Steinen und … Dingen beworfen worden zu sein. Und sie war barfuß, cool!
Moment -–wieso dachte sie „cool“? Die Schuhe waren sündhaft teuer gewesen!
Besorgt sah sie in einen der riesigen Spiegel und erschrak entsetzlich: von wegen! Das auf ihrem Gesicht, das war … nun, okay, die Aufschrift auf der Flasche log nicht: Es war zwar nicht wasserfest, aber es war ein Wasserfest! Schwarzgraue Rinnsale strömten ihr bis zu den Mundwinkeln und bildeten das Nil-Delta in Miniatur auf ihren Wangen. Sie sah aus wie aus einem Slim-Burbon-Film entstiegen! Oh Gott und verflixt noch einmal!
Fieberhaft hielt sie Ausschau nach Trockentüchern. In ihrer Handtasche war ein für Frauen normales Chaos: Sie fand nichts darin, jedenfalls nichts, das sie gerade suchte. Wenigstens das war normal! Dennoch gingen ihr noch einmal die bizarren Bilder des gerade Erlebten durch den Kopf. Sie hatte das Gras gerochen! Den Wind gespürt! War umgeknickt!
Vor ihrem inneren Auge entstand das Bild einer Praxis, in der sie auf einer Couch lag. Davor saß ein alter Kauz mit Bart und Brille - ja, sie glaubte an Clichés! Ihr wurde sofort übel, zudem kochte eine Wut in ihr auf, die sie nicht wirklich erklären konnte! Nur so viel war ihr klar: Nein, das kam so überhaupt nicht in Frage! Lieber würde sie sterben! Tränen mischten sich mit allem möglichem auf ihren Wangen.
Sie fand Trockentücher, ja sogar Abschmink-Milch in einem kleinen Schränkchen aus massivem Holz -–war das Wahlnussholz? Tropenholz wäre ja eine Story Wert gewesen!–Vera war eine klare Verfechterin für den Schutz der Umwelt, der Tiere und des Weltfriedens! Ihre Schminke beinhaltete keine Tiere, ihre Trockentücher waren recycelt. Sie war schon immer tierlieb gewesen. Obwohl sie als Kind auch mal Steine nach einer Katze geworfen hatte … Oh Gott: Ihr Verstand war gerade dabei, sich in Luft aufzulösen!
Nein, sie fühlte sich nicht so verheult, wie ihr Make-up es glauben lassen wollte! Sie war schockiert!
Sicher hatte sie etwas Übles gegessen. Wobei das eine Halluzination dieser Art nicht erklärte … Pilze? Hatte sie Pilze gegessen? Nein, auch nicht … Drogen nahm sie nicht … Vielleicht hatte ihr doch jemand etwas Verbotenes in den Champagner gemischt?
Sie fluchte wieder.
„Und Müller ist auch nie da, wenn man ihn mal braucht!“
Der Fotograf tauchte dafür immer zu eher privaten Gelegenheiten wie ihrem Geburtstag auf, zu dem sie ihn definitiv nicht eingeladen hatte! Müller könnte ihr jetzt zumindest sagen, was da passiert war … Aber er war ja nicht da! Mistkerl!
Abschmink-Milch geriet ihr ins Auge, es brannte wie die Hölle! Das würde sicher wieder eine Allergie geben, dachte sie und fluchte nun, was das Zeugs hielt, ja, es schossen Worte aus ihr heraus, für die sich ein Tourette-Kranker beschämt tagelang entschuldigt hätte. Sie hüpfte auf und ab, knickte um, der Schmerz nahm ihr Sicht und Beherrschung für eine lange Minute. Sie schimpfte auf die Party, auf den beschissenen Bürgermeister und auf seine Brut für die kommenden 20 Generationen! Endlich klang es ab; manchmal half sinnlose Beschuldigung prima, um Dampf abzulassen! Abschmink-Milch war ein Teufelszeugs, dachte sie und öffnete die Augen.
- Und starrte in ein Gesicht. Erst verschwommen, aber dann immer klarer, erkannte sie die Frau vor sich:
„Frau Brunner, hallo! Tolle Party, nicht?“
Vera blinzelte benommen. Sie merkte, dass sie viel zu breit lächelte. Wie mochten wohl Knie und Schuhe aussehen?
Die Frau des Bürgermeisters wiederum betrachtete Vera. Ein kaum merkliches Flackern glitt über ihre Gesichtszüge. Dann grüßte sie höflich, vielleicht ein wenig kühl:
„Frau Velen. Wie schön, dass Sie auch hier sind. Alles in Ordnung?“
Sie lächelte professionell. So als wäre jedwede Antwort willkommen.
„Ja, klar“, log Vera und grinste immer breiter.
Dabei war ihr gerade nichts mehr wirklich klar. Sie fühlte sich, als habe jemand ein Loch in ihr Innerstes gesprengt.
„Wie ich sehe, haben Sie die Abschmink-Milch meiner Freundin Vanessa Habermaaß gefunden?“
„Ja, ja“, lächelte Vera ideenlos, „danke dafür. Äh, war nötig, habe sie hier gefunden, stand so rum …“
Frau Brunner sah sich nicht einmal um.
„Wirklich“, sagte sie.
„Ja“, log Vera.
Eine dicke Träne mit achtzigprozentiger Abschminkmilch-Füllung rann ihr über das Gesicht.
„Ist verschmiert, sehen Sie … ich würde gern … dürfte ich?“
Vera winkte mit der Packung, die sie bereits benutzt hatte. Ihr IQ sah vorwurfsvoll dabei zu.
Carola Brunner gab sich einen Ruck. Es war im Grunde herrlich, einmal eine aus diesem Paparazzi-Volk so zu überraschen. Viele dachten Übles über ihren Mann. Und obschon sie solcherlei Verfluchungen wie gerade eben aus Vera Velens Mund noch nie zuvor live gehört hatte, war eines klar:
Verarmter Adel! Es war bekannt, dass die Velens Anfang der 80er alles verloren hatten und Vera seither versuchte, an Glanz und Glamour alter Tage wieder anzuknüpfen. Bislang ohne Erfolg.
Und dann: nachgemachter Schmuck, billiges, nuttiges Kleid, kein Selbstbewusstsein! All das war Mitleid-erregend! Nein, Carola Brunner hatte ein Herz für Tiere. Zum Beispiel für kleine Kobras oder Alligatoren.
Sie beugte sich hinunter zu der kleinen Frau. Sie selbst war gut einen Meter achtzig, aber eine von den Frauen, die ihre Größe stolz und aufrecht trugen, ohne sich zu ducken:
„Herr Müller ist nicht gekommen, stimmt's?“
Vera nickte bereits, als sie begriff, wohin das Gespräch sie gerade führte.
„Kein Mann ist das Wert, Frau Velen. Naja, vielleicht kommt er ja noch?“
„Müller?!“, fragte Vera …
Dann lachte sie, und das war sogar echt. Sie winkte ab:
„Nein, ach was nein …“
Carola nahm Veras Hand und drückte sie kurz. Die Wirkung war enorm: Von außen sah es richtig Anteil-nehmend aus, in Vera aber läuteten die Alarmglocken, als Carola hinzufügte:
„Keine Sorge, ich für mein Teil kann schweigen.“
Die Reporterin schüttelte verzweifelt den Kopf:
„Nein nein, es geht nicht um Müller … es geht um überhaupt keinen Mann … auch um keine Frau …“, fügte sie eifrig hinzu.
Sie merkte, wie ihr Grinsen zur erkannten Maske geriet. Die große Frau lächelte auf sie herab. Vera klammerte sich im Meer der Verlorenheit auf dem Schiff der Verdammten an den Mast der Ablenkung:
„Im Gesicht habe ich eine Allergie … hehe … tut weh. Haha.“
Ganz klar: Sie war verloren. Verflixt, sie sollte besser schweigen, sie machte alles immer schlimmer … Stattdessen fügte sie hinzu:
„Das mit den 20 Generationen habe ich nicht so gemeint!“
„Wie schön. Ich hoffe, Sie bekommen eine gute Story, nicht wahr? Bis gleich!“
Die Politiker-Ehefrau verschwand hinter einer weißen Holztür mit sündhaft teuren Zierleisten und goldenem Griff. Die Art, wie sie dabei lächelte …
Veras Hände ballten sich zu Fäusten. Ganz ruhig, dachte sie. Das macht nichts. Das ist morgen alles vergessen. Außerdem ist nicht sie Bürgermeister! Vera biss sich auf die Lippe und flüsterte ihrem Spiegelbild zu:
„Nein, es war nicht der Bürgermeister, nur seine verschissene Ehe…“
Die Tür öffnete sich erneut. Frau Brunner stand wieder vor ihr, hob eine Braue und sah sie an.
„…frau“, beendete Vera ihren Satz matt.
Eine Packung Wattepads flog ihr ins Gesicht, die Tür knallte zu. Vera sah in den Spiegel. Dort erkannte sie eine Frau, die sich gerade selbst erfolgreich aus ihrem Job bugsiert hatte mit einem Faible für hohe Bögen!
Jetzt heulte sie richtig! Mit zitternden Händen wischte sie die Reste der Katastrophe aus dem Gesicht. Nun war sie nicht mehr hinreißend. Die rote Nase könnte sie mit ihrem Heuschnupfen erklären. Sie maulte ihr aufgelöstes Spiegelbild an:
„Stell Dich nicht so an! Du bist schön!“
Es klang nicht nach Rita Bukowski. Es klang nach ihrer Mutter! Sie atmete tief durch und versuchte, sich zusammenzureißen. Wahrscheinlich war sie einfach kurz vor einem Burnout! Auch das klang nach Therapie - und wieder schüttelte sie energisch den Kopf.
„Wenn du meinst, so bekommst du mich zum Seelenklempner, dann hast du dich geschnitten!“, ranzte sie ihr Spiegelbild an. „Ich werde jetzt da rausgehen, und ich werde das verdammte Interview führen! Schluss mit dem Selbstboykott, okay!“
Ja, in dieser Prachtvilla verpasste sie gerade das, was sie in ihrer Karriere endlich voran bringen könnte! Endlich war sie einmal unter wichtigen Leuten, endlich hatte sie ihre „Zusammenfassung der Woche“ verlassen dürfen!
Sie verzichtete auf Puder und Lippenstift. Wenn ihre Psyche ihr so kam, dann würde sie ihr zeigen, wo es lang ging! Energisch schob sich ihr Kinn vor. Wahrscheinlich hatte sie sich das eingebildet. Sekundenschlaf … Es gab für alles eine Erklärung!
„Also, lass den Scheiß, ich mache nämlich jetzt ein Interview!“, zischte sie den Spiegel an. Na bitte, ein Vamp, jawohl!
Sie öffnete die Tür zur Halle mit der Treppe und schritt erhaben aus dem Raum in die Öffentlichkeit zurück, nicht aber ohne zu überprüfen, ob Herr oder Frau Brunner in der Nähe standen.
Hier würdest Du gern leben, Vera Velen, sagte sie zu sich selbst, um sich abzulenken und wieder sicheren Boden unter die Füße zu bekommen. Sie betrachtete die Eingangstreppe mit aufrechter Bewunderung: ein gewaltiger, gewundener Treppenkasten mit Stoßflächen und Nut aus Mahagoni, die Stufen selbst wahrscheinlich wieder Walnuss, Geländelauf Mahagoni, Wand- und Freiwangen aus jenem erlesenen Naturstein, über allem strahlend eine hellgelbe Decke mit weißer Stuckatur, prächtig und erhaben … Vera atmete tief ein. Es roch nach Reichtum!
Auf der Hälfte des Stockwerks teilte sich die Treppe in zwei wenig schmalere Äste nach links und rechts, die oben in eine Brücke mündeten. Es waren zwei Galerien, nicht eine, die die Brücke miteinander verband, und die sich kreisrund an die Turmwände um das Foyer und den Eingang schlängelten. Ein Kristall-Lüster erhellte Veras Gesicht weniger durch Licht, als durch das Farbspiel seiner Gold eingefassten Kristalle … Langsam fühlte sie sich wieder etwas sicherer. Ja, das war ihre Welt!
Sie hatte mit offenen Augen geträumt gerade! Ja, peinlich! Und noch peinlicher ihr Auftritt vor der Frau des Bürgermeisters! Wie sie solche Emporkömmlinge hasste! Mächtig mochte diese Frau sein, Benimm hatte sie nicht. Eine echte Dame hätte sich nicht so aufgespielt! Vera bedauerte, dass ihr eigener Adelstitel, den irgendein Vorfahr getragen hatte, niemanden interessierte.
Dennoch: Sie war sich sicher, dass ihr tadelloses Betragen, ihre reine, weiße Haut (die gerade Pusteln bekam - egal, Mann!), ihr fein geschnittenes Gesicht und ihre beinahe perfekte Figur irgendwann auf den Richtigen Eindruck machen würden. Vielleicht heute, vielleicht hier?
Sie erschrak ein wenig, als eine Türglocke sie aus den Gedanken riss. Natürlich, Big Ben! Wie einfallslos! Ihre Türglocke würde wahrscheinlich „Let it be“ von den Beatles spielen oder „Who let the dogs out?“ Das wäre doch mal witzig!
„Pardon?“
Zumindest der Butler war wohl gut erzogen. Er passierte Vera mit freundlichem, unterwürfigem Lächeln. Recht so, dachte sie, und gleich danach: Bin ich etwa derart hoffärtig?!
Herein kam Müller. Ach was: Müller! Sie seufzte.
„Schön, da bist du ja!“
Sie lächelte sogar! Nur in Gedanken fügte sie hinzu: „Endlich, Du Blödmann!“
Die Arme verschränkt, die Hüfte nach links gestreckt, die blonden Strähnen aus der Hochsteckfrisur nach oben pustend, stand Vera da und brachte es fertig, die Verkörperung eines allgemeingültigen Vorwurfs an die Gegend zu sein.
„Hallo - oh, gut!“
Wie immer funktionierte Veras nonverbale Kommunikation nicht: Der Fotograf strahlte sie an. Aus irgendeinem Grund tat er das immer. Doch diesmal gefror plötzlich sein Zahnpasta-Lächeln:
„Irgendetwas ist anders an dir!“
„Ja?“, schreckte Vera sofort hoch. „Ist zu kurz, ne?“
Sie straffte einmal mehr ihr Kleid.
„Was?“
Er trat irritiert etwas näher, dann grinste er breiter denn je:
„Du bist nicht geschminkt!“
Vera sah den Brillenträger an und verzweifelte innerlich. Müller würde es nie weit bringen im Verlag. Damit betonierte er seiner Attraktivität für Frauen wie sie die Füße und warf sie in den nächsten See.
„Sieht besser aus!“, fügte er hinzu.
Als ob Vera sich je so stark geschminkt hätte! Außerdem, sah er die Pusteln nicht?
„Danke“, lächelte sie, „aber ich sehe aus wie immer!“
Das hatte nicht gerade cool geklungen. Verflixt! Heute war kein cooler Tag.
„Nö“, widersprach Müller mit der ihm anhaftenden Sturheit. „Es sieht natürlicher aus. Du nimmst sonst zu viel Make-up, wie ich finde …“
Super, ja, einfach super, dachte Vera! Der Tag war einfach nur noch super!
Der Butler hatte Müllers Jacke genommen und schlurfte gerade vorbei zur Garderobe hinter der Wahnsinns-Treppe. Du meine Güte: Müller trug einen roten Pullunder! Typisch! Im August! Er hatte wahrscheinlich autistische Anlagen, denn der Sinn für Ironie ging ihm schlichtweg ab. Für ignorant hielt Vera ihn nicht, denn dafür war er irgendwie zu infantil - wie alt war der überhaupt? Egal, außerdem war er dafür zu einfach und eindeutig auch zu ehrlich. Und zu aufdringlich! Meist konnte er seinen Mund nicht halten, ein weiterer Karriere-Hemmer. Und frech wie hulle!
„Ja, wollen wir uns beeilen? Zum Bauleiter oder zum Gastgeber? Wo müssen wir hin?“
So! Eine halbe Stunde verspätet aufkreuzen und dann Tempo und Druck verbreiten, alles klar! Wie sollte sie diesen Abend nur überleben?
„Wir holen uns den Zepterträger. Ich war schon ganz nah dran vorhin.“
Die kleine Frau straffte abermals ihr Kleid und rückte dort etwas zurecht, wo bei üppigeren Frauen das Dekolleté gewesen wäre.
„Zepterträger?“
Müller, war ja klar, keine Ahnung von deutscher Geschichte:
„Den Kämmerer!“
Sie lief los und fügte hinzu, ohne ihn anzusehen:
„Den BdH unserer Kommune! Wenn der nicht weiß, was er tut, dann steht es übel um uns. Kommst du?!“
Müller seinerseits straffte seinen Pullunder, während er sich mühte, mit Vera Schritt zu halten. Seine Kamera hing ihm baumelnd am Hals.
„BdH, keine Ahnung. BH kenne ich … Wie heißt der BdH denn?“
„Beauftragter des Haushalts der Stadt, Müller. Er heißt Joseph Langemann. Sei so lieb und knipse nicht pausenlos, ja?“
Einen kleinen Moment lang sah sie einen Bart vor ihrem inneren Auge; doch mit einem ärgerlichen Brummen schob sie die Erinnerung beiseite - und vergaß.
Ein rothaariger kleiner Mann saß vor seinem PC in einer unaufgeräumten Werkstatt. Doch während er blind häckselte, sah er immer wieder auf die qualmende Maschine mitten im Raum. Der Rauch kletterte in kleinen grauen Schwaden durch die Durchreiche. Das war sicher nervtötend für die Gouvernante. Sie saß im Büro, warf ihm gelegentlich einen bitterbösen Blick zu und kontrollierte die Fenster, eins nach dem anderen. Nein, sie sah nicht glücklich aus!
Nun hatte er zum ersten Mal eine Außenmission wieder nach Innen gebracht! Wobei, die Gouvernante war ja im Grunde keine „Mission“ … Verstohlen sah er sich um und zog den Kopf dabei ein: Sie hatte Ärger gemacht, owei! Aber er hatte sie zurückholen müssen, auch wenn er sich durchaus ein Gouvernante-freies Leben vorstellen konnte. Ja, der Gedanke gefiel ihm sogar! Aber was half es; denn ohne sie hätten alle hier ein mega-mega Problem! Ein Glück, dass sie gerade beschäftigt war …
Und dann dieser bärtige Kerl! War einfach wahnsinnig! Die Porta hatte sich jetzt überheizt! Dieser Zwerg! Fürchterlich uneinsichtig und cholerisch und … und deshalb auch nicht vorhersehbar, nicht berechenbar …
Zum Henker, die Außen-Frau war im Innen gewesen! Im Garten mit dem Haus, er kannte es von seinem PC. Durch seine Erfindung, durch seine Porta war sie gekommen! Wobei ihm noch immer nicht klar war, wie das hatte passieren können. Etwas in ihm erwachte. Ein nie gekanntes Gefühl. Und er mochte es. Ja, er würde alles tun, um sich schnell an dieses neue Gefühl zu gewöhnen!
***
Perry Page saß ebenfalls an ihrem Arbeitsplatz. Streng überflogen ihre Augen unüberblickbare Berge von Papier. Andere Leute kämen hier nicht durch. Aber Perry war schließlich Perry! Sie kannte kein anderes Wesen, das in ihrer Art und Weise Kontrolle hatte. Nun, die Gouvernante hatte Kontrolle, okay. Aber sie hatte Wissen und Kontrolle: Das waren ihre besten Freunde hier, an diesem unfassbaren, kaum zu beherrschenden Ort. Perry regierte durch Blätter, Seiten und Bindungen.
Unsicher sah sie auf. War da wieder ein Knarren gewesen? Doch auch nach langen Sekunden innigen Lauschens hörte sie nichts. Diese Stille nagte an ihr. In diesen Momenten hatte Perry den Eindruck, die Bibliothek beherrsche sie!
Die Bücher waren in nach ihrem Eindruck völlig wirren Kürzeln sortiert, bis sie sich ihrer annahm. Was sollte das bedeuten: „Reihe der Ereignisse danach - RDED“?? Ein Jahr lang hatte sie versucht, die Kürzel zu ändern und die Bücher nach Thema und Autor zu sortieren. Es gab Bücher von einer geheimnisvollen „V.V.“, Bücher von „V1“, „V2“ bis „V4“, Bücher einer Autorin, die sich „Göre“ nannte … Sie hatte aufgehört, darüber den Kopf zu schütteln. Sie arbeitete schnell und fleißig; und dann kam eine Notiz rein, die fast alles über den Haufen warf. Im Grunde nahm sie nur alles zur Kenntnis und ärgerte sich. Das war ihr Job. Wie konnte man so schuften und sich dabei derart nutzlos fühlen?!
Perry sah auf von ihrer Arbeit. Vielleicht war alles Zufall. Perry glaubte jedoch nicht daran. Und zwar aus Prinzip! Der Zufall war ihr einfach zu zufällig! Sie glaubte an Schicksal, an Romantik, an Zahlen und Buchstaben, an Ordnung, Disziplin und an alles, das ihr helfen könnte, in diesem Job Kategorien zu finden und Ordnung zu schaffen. Diese Bücher … Manches war einfach zu wild. Manches schrie nach einem neuen Namen! Sie hatte sich angewöhnt, wenn ein Buch oder eine Notiz hereinflog, die sie nicht zu kategorisieren wusste, dem Buch oder Zettel schlichtweg eine einfache, eigene Überschrift zu geben. Sonst würde man ja verrückt werden!
Sonderbar, dass ihr dieser Gedanke gerade jetzt kam. Perry war tief auf dem Grund ihrer Papyrus-Seele sicher, verrückt zu sein. Sie hatte lange recherchiert und geforscht. Sie hatte gesucht, gesucht nach Antworten auf Fragen, die ihr bereits völlig absurd vorkamen! Gelegentlich fand sie etwas. Eine neue Reihe Regale, eine ganze Reihe!
Sie wusste nicht, wie oft sie sich beschwert hatte beim Betriebsrat. In der Chef-Abteilung.
Sie hatte sogar gebetet! In Perry-Art klang ein Gebet dann etwa so:
Sehr geehrter Herr Gott,
Beschreibung: Diese Abteilung ist in einem, ich möchte sagen: desolaten Zustand, der die beste Bibliothekarin der Welt überfordern würde, und das bin ja wohl ich, denn sonst hätten Sie schon längst von anderer Stelle davon gehört!
Konsequenz: Jedwede Verantwortung dafür kann ich daher mit großem Bedauern abgeben. Mit Beschwerden diesbezüglich wenden Sie sich also bitte an die zuständigen Fachabteilungen für Logistik, Architektur und, mit einem freundlichen Gruß von mir, an die Archivierung.
Fußnote: Es wäre schön, das eine oder andere Werk wieder an Ort und Stelle im Regal zu haben! Und noch schöner wäre es, wenn man mir das vorher vielleicht einmal sagen könnte, wenn man eins ausleiht! Wenn es keine Umstände macht!
Forderung: Auch wäre es eine Freude, allen genannten Instanzen einmal ordentlich vorgestellt zu werden. Denn außer einer deutlich unterbelichteten Helferin, die mir beim Ein- und Ausräumen zur Hand geht, und einer Dame in unserem Büro, die sich in abnormer Selbstherrlichkeit einfach nur „die Gouvernante“ nennt, habe ich hier noch niemanden zu Gesicht bekommen. Und das grenzt an eines Ihrer so genannten Wunder, denn wir sind hier nicht klein, ganz und gar nicht!
Chaos: Die bislang von mir gescannten Abteilungen umfassen Tausende Gänge, so dass ich mich manchmal frage, wie groß das ganze Gebäude eigentlich wirklich ist. Im Ernst, Herrgott!
Basics:
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Helene Elis
Images: Isabell Schmitt-Egner
Publication Date: 12-16-2014
ISBN: 978-3-7368-6529-7
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Copyright: © Helene Elis 2014
Umschlaggestaltung: Isabell Schmitt-Egner
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