Starr vor Kälte kauerte der Späher hinter einem dichten Ginsterbusch. Seit Stunden beobachtete er die Umgebung. Die ungewohnten Temperaturen machten seine Glieder schwer, sein Nacken schmerzte. Vorsichtig streckte er sich, sorgsam bedacht, kein Geräusch zu verursachen. Endlich gab es Bewegung auf dem schmalen Pfad durch den Morast. Sonnenlicht spiegelte sich in Rüstungen aus poliertem Metall. Gut zwei Dutzend Soldaten schoben sich mühsam voran. Unter ihnen befand sich eine Reiterin, deren rote Robe sich deutlich von dem Grau der Umgebung abhob. Der Späher hatte genug gesehen und entfernte sich lautlos.
Hinter einer Biegung hockten Dutzende von Kriegern in langen Übermänteln. Aufmerksam beäugten sie den Späher, der zu einem rotblonden Mann eilte.
»Aitor, mein Anführer, sie kommen auf dem südlichen Weg.«
»Ich wusste es. Diese Narren!« Freudig rieb er sich die Hände. »Was glotzt du so blöd?«
»Eine Zauberweberin reitet mit ihnen, Herr.«
Aitor lachte dreckig. »Ist mir gleich! Ich spucke auf dieses jämmerliche Pack. Bereiten wir ihnen ein schnelles Ende. Ich bin es leid, meine Zeit mit diesem Abschaum zu vergeuden.« Es folgte ein kurzer Wortwechsel mit den Unteranführern, die ihren Männern Handzeichen gaben. Geduckt bezogen die Kämpfer Stellung, Bogenschützen legten ihre Pfeile auf, drei Männer mit Vorderladern bestückten ihre Waffen. Endlich gab Aitor den Befehl. »Angriff!«
Das ohrenbetäubende Knallen der Vorderlader und eine Salve von Pfeilen zeigten die gewohnte Wirkung. Die Soldaten auf dem Pfad gerieten in Panik. Das Pferd bäumte sich auf, warf zwei Männer um und galoppierte weg.
»Holt sie euch!«, schrie Aitor. »Keine Gefangenen!«
Aus heiseren Kehlen drang der schrille Kriegsruf, ihre Klingen hielten blutige Ernte in den Reihen der Soldaten. Wie üblich war Aitor mit den Kriegern losgestürmt. Blut tropfte von seinen Schwertern. Zufrieden beobachtete er, wie der letzte Gegner sterbend niedersank. »Eure Gegenwehr war nutzlos! Los, zwei Mann dem Pferd nach, der Rest sammelt alles ein, was brauchbar ist. Beeilt euch! Der Heermeister will Truppen verlegen. Dieser Feigling verschanzt sich, statt zu kämpfen! Die erste Schar bleibt bei mir, der Rest zieht ab nach Osten.«
»Wie lauten deine Pläne?«, fragte ein Unteranführer.
Aitor lachte verächtlich, während er seine Klingen an einem der Gefallenen säuberte. »Das erfährst du früh genug, Rodas. Du bist und bleibst ein neugieriger Wicht!«
Langsam erlangte Keara wieder das Bewusstsein. Der Geruch von Leder kroch in die Nase der jungen Priesterin. Um sie herum herrschte Dunkelheit. Irgendetwas lastete auf ihr, erschwerte ihr das Atmen. Ihr Kopf schmerzte bei jeder Bewegung. Sie blinzelte, als ein Lichtstrahl zu ihr drang. Vorsichtig betastete sie ihre Umgebung, fühlte Haut mit zotteligen Barthaaren.
»Wer ist das? Runter von mir, ihr Trottel!«
Zu ihrem Erstaunen blieb die erhoffte Reaktion aus. »Habt ihr mich gehört? Ihr sollt verschwinden! Euch gebe ich!«
Sie vollführte eine knappe Geste. Anstelle züngelnder Flammen blieb ihre Hand leer. »Verdammt! Was ist los?« Erschrocken tastete sie nach ihrer silbernen Halskette. An deren Ende fand sie eine abgerissene Schließe. »Mein Medaillon ist weg. Die Allsehende steh mir bei!« Sie zwang sich, ruhig zu atmen, während sie überlegte, was passiert war. Der Überfall! Mein Pferd ist durchgegangen, ich bin gestürzt. Wo verdammt bin ich? Erneut probierte sie es mit einer magischen Geste. Auch dieser Zauber zeigte keine Wirkung. Ohne mein Medaillon kann ich keinen Zauber weben. Verdammt! Panik stieg in ihr auf. Verzweifelt versuchte sie, sich frei zu strampeln. »Hört mich niemand?«
Ein Rabe krächzte und sie hörte ihn davonflattern. Daraufhin vernahm sie knatschende Schritte, die Last über ihr schwand. Ein Gesicht erschien. »Herrin! Der Allsehenden sei Dank! Was bin ich froh. Euer dunkler Haarschopf war kaum zu finden. Kommt, lasst mich Euch helfen.«
Der Mann im zerschlissenen Harnisch wuchtete die Körper zweier Toter weg und streckte Keara seine Hand entgegen. »Ich befürchtete, Ihr seid verloren. Der Überfall kam überraschend. Es gab für Euch keine Gelegenheit, uns mit Euren Zaubern beizustehen. Allzu gerne hätte ich unsere Feinde brennen sehen.«
Angewidert sah Keara auf die Toten. »Sieht wüst aus.« Sie wischte sich den Dreck von der Kleidung. Unterhalb der Insignien ihres Ordens entdeckte sie einen Riss in ihrer roten Robe. »Auch das noch! Ich muss wahrlich schrecklich aussehen. Bleibt mir denn nichts erspart?«
»Dankt der Allsehenden. Ihr seid am Leben. Der Rest von unserem Regiment…«
»Regiment? Welch schönes Wort für unseren kümmerlichen Haufen!« Sie ließ ihren Blick schweifen. Etliche Leichen zeugten von einem Kampf. Die meisten Toten trugen die vertrauten Uniformen der eigenen Soldaten, ein paar die fremdartigen Farben der Feinde. »Azar versuchte, uns in Sicherheit zu bringen. Deshalb sind wir in diesen Sumpf gezogen. Seit drei Tagen Matsch und Elend. Ich warnte ihn, welche Probleme uns bevorstehen, doch dieser Trottel schlug meine Worte in den Wind. Bei der Allsehenden! Warum?«
»Hauptmann Azar blieb keine Wahl, Herrin. Seit dem letzten Gefecht waren wir zu wenige. Er scheute einen offenen Kampf, um Euch zu schützen.«
Eindringlich musterte sie ihn. Der Stofflappen an seinem linken Bein färbte sich zunehmend rot. »Wie ist noch gleich dein Name? Würg, oder?«
»Viruk, Herrin«, erwiderte er ohne zu zögern.
»Gut, Viruk. Gab es Überlebende? Wo sind sie?«
»Außer uns? Ich befürchte das Schlimmste, Herrin. Überall waren Feinde, wir mussten uns zurückziehen. Sie besitzen überlegene Waffen. Ihre Donnerstöcke brachten unsere Reihen ins Wanken.«
»Ich war dabei, falls du dich entsinnst. Mit denen begann das Unheil. Mein Pferd ist durchgegangen. Verdammter Gaul!«
»Der Hauptmann zählt zu den Toten. Ich sah ihn fallen, durchbohrt von zahlreichen Pfeilen.«
»Azar ist tot? Nun, er hat es nicht anders verdient, schätze ich. Du bist geflohen. Hast dich verdrückt, feige das Weite gesucht. Was erwarte ich von einem wie dir? Wahrscheinlich gibst du Fersengeld, sobald du den Feind zu Gesicht bekommst.«
»Ihr seid ungerecht, Herrin! Ich…«
Drohend funkelte sie ihn an. »Was bin ich? Du wagst es, mich zu beleidigen?« Zu ihrer Zufriedenheit wich er einen Schritt zurück.
»Nein, Herrin! Bitte vergebt mir! Ich sage die Wahrheit. Euer Pferd ist durchgegangen. Ich sah Euch stürzen. Die Imorianer plünderten alle Toten aus, warfen sie achtlos auf einen Haufen. Als ich aus meinem Versteck kam, entdeckte ich Euch unter all den Leichen. Dankbarkeit ist offensichtlich keine Stärke von euch Priestern.«
»Ach? Du beleidigst unsere Göttin? Ein Platz in der Verdammnis ist dir sicher.«
Viruk ließ den Kopf hängen. »Warum hoffte ich, das Schicksal Eurer Helfer sei Euch wichtig.«
»Schweig! Dein Geschwätz ist unerträglich.« Sie hielt für einen kurzen Moment inne. Welcher Wahnsinn trieb mich, mit dem Regiment zu ziehen? Beim Hauptheer wäre ich sicher gewesen. Dieser unwürdige Wurm lässt es an Ehrfurcht vermissen. Bin ich eine Gemeine? Nein, ich bin Provostin Keara, die jüngste Oberpriesterin der hochverehrten Allsehenden!
»Mit Verlaub, Herrin, wir einfachen Leute sind es, die Euch das Leben erleichtern. Unsere Anführer versprachen uns Hilfe durch Euch. Gebracht habt Ihr uns den Tod.«
»Ist das so? Meine Hilfe im Kampf verlangst du. Wie sieht es mit einer Gegenleistung aus? Wo ist mein Pferd? Warum stehe ich hier im Nirgendwo, mit Schlamm an den Stiefeln und zerrissener Robe? Keinesfalls, weil es mir Freude bereitet.« Wieso redet er so? Wir Priester sind diejenigen, die das Reich zusammenhalten. Ihr Blick wanderte suchend zu der Stelle, an der sie zuvor gelegen hatte.
»Eure Hilfe ist an der Front vonnöten, Herrin! Die Soldaten benötigen Euren Beistand. Ohne die Zauberweber sind wir dem Untergang geweiht. Es heißt, einzig ihr Priester vermögt das Blatt zu wenden. Der Feind ist überall, unsere Stellungen sind überrannt.«
»Dämliche Geschwätz!« Für einen Augenblick kam ihr Zweifel. Redet er die Wahrheit? Steht es derart schlecht um uns? Nein, Pasemil ist unser Oberhaupt. Er weiß, was er tut. Er weiß es immer. Wäre es wahr, wüssten die obersten Priester davon und ich befände mich nicht auf dieser Mission fernab der Zivilisation. »Sieh zu, dass wir hier rauskommen. Wo geht es zurück zu unseren Leuten?«
Viruk zuckte mit den Achseln. »Der Weg ist versperrt. Der Feind befindet sich sowohl vor als auch hinter uns. Wir sind abgeschnitten von unseren Truppen. Der Sumpf erschien Hauptmann Azar als der einzige Ausweg.«
Wütend sah Keara auf. »Einen verwunschenen Sumpf nennst du Ausweg? Geh, mach dich nützlich. Ich brauche Wasser und Proviant. Falls du mein Pferd findest, fang es ein. Ach ja, beeil dich. Ich werde keinesfalls in diesem Dreck nächtigen.«
»Wie Ihr befehlt, Herrin!« Ohne zurückzublicken, humpelte er weg.
Sobald er außer Sichtweite war, betastete Keara ihren Hals. Mein Medaillon. Bestimmt hielten sie es für Beute. Oder es liegt zwischen all den Leichen im Matsch. Ausgerechnet mir passiert so was! Oh, Allsehende, warum prüfst du mich?
Mit dem Fuß rollte sie eine der Leichen zur Seite. Der Mann wies einen breiten Schnitt in seinem Brustpanzer auf. Angewidert wandte sie sich der nächsten Leiche zu. »Ihr elenden Versager! Seid ihr alle verreckt? Wo verdammt ist mein Medaillon? Wo? Oh Allsehende, erspare mir diese Schmach!«
Vor sich hin schimpfend zerrte sie eine Leiche nach der anderen zur Seite. »Anstatt die Vorräte zu verteidigen, lasst ihr euch abschlachten.« Sie sah sich weiter um, fand allerdings weder ihr Medaillon, noch einen Überlebenden oder Proviant. Missmutig überdachte sie ihre Lage. »Hoffentlich kommt dieser Nichtsnutz Würg bald zurück. Wie konnte er mich schutzlos alleine lassen?«
Eine Leiche der Angreifer erregte ihre Aufmerksamkeit. Sein vernarbtes Gesicht war mit bunten Symbolen tätowiert. Neben ihm lag ein spitz zulaufender Helm. Ein Stich in den Hals war sein Verderben gewesen. Keara bekam Gänsehaut bei dem Anblick. Unversehens hörte sie Hufgetrampel.
»Würg! Na endlich. Hast wohl meinen Gaul gefunden.« Im nächsten Moment bekam sie es mit der Angst zu tun. »Das sind mehrere Pferde! Verdammt!« Geschwind verbarg sie sich hinter ein paar Büschen, rutschte aus und landete in einer Schlammkuhle. Bevor sie fluchen konnte, preschten mehrere Pferde an ihr vorbei, eines ohne Reiter. Sie wagte kaum zu atmen, bis sich das Getrampel entfernte. Erst danach richtete sie sich auf. Als sie an sich hinabsah, stieg Wut in ihr auf.
»Meine Robe ist endgültig ruiniert. Allsehende hilf! Ich war dir immer eine treue Dienerin. Warum strafst du mich? Ist es eine Prüfung? Ja, das muss es sein. Du möchtest sehen, wie ich ohne deine Gabe zurechtkomme.« Matsch klebte überall. Vergeblich versuchte sie sich, die Kleidung sauber zu klopfen. Widerwillig schlang sie sich den Umhang eines Toten um den Leib. »Er stinkt wie ein Abort. Zumindest wärmt er mich ein bisschen.« Vor sich hin schimpfend ging sie langsam in die Richtung, aus der die Reiter gekommen waren. Jeder ihrer Schritte erzeugte schmatzende Geräusche im Untergrund. Verärgert leerte sie ihre Stiefel aus, erkannte allerdings, es war zwecklos. »Ich muss das alles trocken bekommen. Wo steckt Würg? Er ist an allem schuld!«
In einiger Entfernung sah sie einen Körper auf dem seichten Untergrund liegen. Unbewusst beschleunigte sie ihre Schritte. »Würg? Bist du das? Würg? VERDAMMT! Hörst du mich?«
Sie trat vor den reglosen Körper, entdeckte einen Pfeil, der in seinem Rücken steckte. Ächzend drehte sie den Körper auf die Seite. »Würg? Was ist passiert?«
Viruk blinzelte. »Verzeiht … Herrin…« – sein Blick brach, ein letztes Röcheln drang aus seiner Kehle.
»Wer hat dir erlaubt, zu sterben? Verdammter Nichtsnutz!« Wütend schlug Keara auf den Toten ein, bis ihre Fäuste schmerzten. »Elender Feigling! Ich … ich brauche dich. Lass mich nicht alleine. Bitte!«
Seit Stunden hetzte Aitor die Schar querfeldein. Seine knapp 50 Kopf zählende Truppe flankierte drei Fuhrwerke. Mehrere Späher bildeten die Vorhut und informierten den Rest über die Beschaffenheit des Weges am Sumpf entlang. Ein jeder trug einen Umhang aus Fell dicht um den Leib gezogen, um sich gegen die ungewohnte Kälte zu schützen.
»Ist das der richtige Weg, Herr?«, erkundigte Rodas sich vorsichtig, jederzeit bereit, in Deckung zu gehen. Er wusste aus leidvoller Erfahrung, zu welchen Wutausbrüchen Aitor fähig war.
»Den Berichten unserer Kundschafter zufolge liegt in der Nähe ein Dorf«, mischte sich Hilario ein. Er war der zweite Unteranführer der Schar. Die Krieger fürchteten ihn. »Wir sind also richtig. Beute ist gut für die Moral.«
»Ihr Narren liegt falsch«, knurrte Aitor. »Was schert mich eine Bande von verlausten Bauern? Sie sind keine Bedrohung für uns. Mir steht der Sinn nach was anderem.«
»Heermeister Julen untersagt alle Kämpfe. Zuerst will er die Hauptstadt mit den Außenposten vor den Toren sichern. Wenn du uns befiehlst, seine Order zu ignorieren, lass uns an deinen Plänen teilhaben«, bat Rodas. »Mir ist aufgefallen, dass du ständig in den Sumpf starrst. Du wartest auf die Kundschafter. Was war ihr Auftrag? Verrate uns, nach welchen Zielen du trachtest. Umso besser können wir dich unterstützen.«
»Das sehe ich ähnlich«, pflichtete Hilario ihm bei. »Die Krieger sind unruhig in diesem Morast. Sie müssen wissen, was du von ihnen verlangst. Dann sind sie auch bereit, für dich in den Tod zu gehen.«
Aitor grinste hämisch. »Kein schlechtes Angebot, ich komme darauf zurück. Eher als ihr denkt. Ihr habt bemerkt, was mich beschäftigt. Hier im Sumpf gibt es Überreste von Bauwerken aus der alten Zeit. Die suche ich.«
»Ruinen?«, fragte Hilario enttäuscht. »Den Kriegern dürstet danach, im Blut ihrer Feinde zu waten. Sie sind auf Beute aus. Altes Steinwerk ist ihnen egal.«
»Zügel dich! Sie können ihre Kampfkraft noch früh genug beweisen. Mein Augenmerk gilt den Bauwerken.«
»Pah! Das ist keine Aufgabe für Krieger«, beschwerte sich Hilario. »Die erste Schar ist die Elite. Sie sollten ihre Zeit sinnvoll nutzen und Feinde töten.«
Aitor baute sich naserümpfend vor Hilario auf. Sein Blick verfinsterte sich. »Ich wählte die erste Schar aus gutem Grund. Es sind tapfere, loyale Kämpfer. Gehörst du zu ihnen oder bist du ein Speichellecker von Heermeister Julen?«
Hilario gelang es, seinem Blick einen Moment standzuhalten. Daraufhin schlug er sich mit der Faust auf die Brust. »Ich erwarte deine Befehle. Führe uns zum Sieg!«
»Das lobe ich mir.« Anerkennend hieb ihm Aitor mit der Hand auf die Schulter. »Ich brauche Männer, die zu ihrem Wort stehen. Ganze Kerle, die sich nicht fürchten. Widerworte sind das Ende jeder Disziplin. Im Kampf ist das tödlich.«
»Ich folge dir ebenfalls«, pflichtete Rodas bei.
»Wie erwartet. Glaubt mir, die Zeit wird kommen und…was sehe ich? Einer der Späher kehrt zurück. Lasst ihn durch.«
Ein mit Schlamm besudelter Krieger baute sich salutierend vor Aitor auf. »Herr! Wir sind fündig geworden.«
»Endlich! Zeig uns den Weg.«
Hilario wählte ein Dutzend Krieger aus, die mit Schaufeln dem Kundschafter und Aitor in den Sumpf folgten. Bald standen sie vor den halb im Sumpf versunkenen Resten einer Mauer, an der eine Steintafel lehnte.
»Wo sind die anderen?«, wunderte sich Aitor. »Ihre Aufgabe war es, zu graben. Das, was ich hier sehe, missfällt mir.«
»Als ich ging, waren sie dabei.« Der Kundschafter trat an die Mauer heran. »Verdammt!«
Aitor sah, was passiert war. Vier Männer lagen tot mitten im Morast, Arme wie Beine seltsam verrenkt. Ihre Haare waren weiß, ihren Gesichtern war der Schrecken anzusehen. Eine schwarze Flüssigkeit schwamm auf der Oberfläche. Der Gestank von Fäulnis lag in der Luft.
»Keine Verletzungen«, stellte Aitor erstaunt fest. »Wer hat das unseren Krieger angetan? Diese elenden Versager sind lieber verreckt, anstatt Bericht zu erstatten. Mögen ihre Kadaver im Sumpf verrotten!«
»Ich verstehe das nicht«, sagte der Kundschafter bekümmert. »Wie ist das möglich?«
Hilario sprach das aus, was keiner zu sagen wagte. »Die Zeichen sind eindeutig. Hier spukt es!«
»Unsinn! Verschone die Männer mit deinem Geschwätz!«, donnerte Aitor los. »Es gibt keine Geister.«
»Was ist mit dem schwarzen Zeug?«, fragte Hilario.
»Schmiert es euch in die Haare, fresst es auf, es ist mir gleich. Fangt an zu graben. Ich kümmere mich um die Steintafel.« Er hockte sich mit einer Schriftrolle an die Mauer. Endlich! Gleich zeigt sich, ob es all das wert war. Mühsam versuchte er, die Symbole zuzuordnen, während die Krieger im Hintergrund zu graben begannen. Leise schimpfte Aitor vor sich hin. Sein Blick wanderte ständig zwischen den Zeichen hin und her. »Mistverfluchter! Verrate mir dein Geheimnis. Es war eine gute Idee, mir die Zeichen aufmalen zu lassen. Das hätte ich mir niemals alles merken können. Hmm, hier war wie es scheint ein Marktplatz. Interessant, aber wenig hilfreich.«
Hilario trat zu ihm. »Herr!«
»Was störst du mich?«, schnauzte Aitor ihn an. »Du siehst doch, wie beschäftigt ich bin?«
»Immer mehr von der schwarzen Masse tritt aus dem Sumpf. Die Arbeiter sind beunruhigt.«
Erstaunt blickte Aitor auf. »Was? Erbärmliche Feiglinge!« Er erhob sich, um einen Blick in die Grube zu werfen. »Habt ihr noch mehr Steintafeln gefunden?«
»Nein, Herr.«
»Kein Wunder. Es ist aus der richtigen Zeit, die Stelle ist falsch. Brechen wir auf. Abmarsch!«
Ein berittener Bote erschien am Horizont und hielt auf den Tross von Aitor zu. Der Reiter fiel mehr von seinem Pferd als dass er abstieg.
»Endlich finde ich euch!«, rief er den Kriegern zu. »Wo ist Aitor? Ich bringe Anweisungen von Heermeister Julen.«
Als der Bote später wieder verschwunden war, tobte Aitor. »Was bildet sich dieser Emporkömmling ein? Um ein Haar wäre ich Heermeister geworden. Mir allein stand die Ehre zu. Ich schlug zahlreiche Schlachten, führte unsere Krieger von Sieg zu Sieg. Die Beute war gewaltig. Dessen ungeachtet ernennt unser Klanführer einen Möchtegern zum General. Der führt uns noch ins Verderben. Verdammte Axt!« Wütend schlug er ein Gebüsch in Fetzen.
»Waren es schlechte Neuigkeiten?«, erkundigte sich Rodas, bereit, jederzeit in Deckung zu gehen.
»Das will ich meinen! Er erdreistet sich, mir Befehle zu erteilen. Stell dir das vor? Mir! Dieser elende Wurm! Dieser Holzkopf! Engstirniger Tölpel!«
»Wie lauten seine Befehle? Auch wenn ich mir sicher bin, dass sie unsinnig sind.«
»Er trägt mir auf, Arbeiter zu bringen. Bauern einzufangen und in die Stadt zu schleifen. Obendrein fordert er die erste Schar zurück. Dieser ignorante Bastard! Er hat keine Ahnung.«
»Hast du vor, ihm zu gehorchen?«
»Du beleidigst mich scheinbar gerne. Vielleicht verdiene ich es. Lass mich nachdenken.« Aitor grübelte eine Weile, zerlegte noch ein Gebüsch und bediente sich an den knappen Vorräten an Bier. Drei Trinkhörner später reifte ein Plan in ihm. »Mir kommt eine Idee. Diese Bauern kennen sich aus in der Region. Bestimmt teilen sie uns gerne ihr Wissen mit. Töten können wir sie nachher noch. Hach, das wird ein Schlachtfest.«
»Das Dorf?«, mutmaßte Rodas.
»Richtig. Das ist erst der Anfang. Julen bekommt mehr Arbeiter, als ihm lieb ist.«
Seit dem ersten Angriff waren Stunden vergangen. Der sich lichtende Nebel über den Hügeln östlich der Hauptstadt von Arcala gab ein Bild des Schreckens preis. Die Anhöhe war übersät mit Leichen. Dem ersten Ansturm hatten die Arcalaner tapfer standgehalten. Ihre Angreifer, die Krieger aus den Steppen von Imoria, mussten sich gar zurückziehen. Bei der Verfolgung der flüchtenden Gegner waren die Arcalaner in eine Falle geraten. Bewaffnete Reiter griffen an beiden Flanken an. Unter starken Verlusten waren die Arcalaner in die Hügel zurückgewichen. Als wie gewöhnlich der mittägliche Nebel auftrat, kam es zu einer kurzen Waffenruhe, während der sich beide Seiten neu formierten.
Die erschöpften Krieger der Arcalaner verkrochen sich in den Hügeln. Ein schlanker junger Offizier lief zwischen den Toten umher. Er schien jemand zu suchen.
»Leutnant Kogan, ruhe dich aus. Hinten verteilen sie Wasser und es gibt was zwischen die Zähne«, rief ein älterer Feldwebel gutmütig.
Der Leutnant nahm seinen Helm ab, strich sich die langen braunen Locken aus dem verschwitzten Gesicht. Ein Schlitz zierte seinen Brustpanzer. »Wo ist der Hauptmann? Ich sehe ihn nirgends.«
»Er war mit vorne dabei als die Reiter kamen.« Der Feldwebel spuckte im hohen Bogen aus. »Verdamm mich! Die haben uns den Allerwertesten aufgerissen, sofern mir die Bemerkung erlaubt ist.«
»Ich weiß. Es war ein Fehler, ihnen nachzusetzen. Hauptmann Morgan war sich seiner Sache zu sicher.«
»Uns ließ er bluten«, fluchte der Feldwebel und warf einen Blick auf die Gefallenen. »Das waren gute Jungs.«
»Sie werden uns fehlen, um Calaga zurückzuerobern«, befürchtete Kogan. »Falls das überhaupt möglich ist. Seit unsere Hauptstadt gefallen ist, wandelte sich unsere Lage zum Schlechteren. Allsehende steh mir bei!« Voller Entsetzen entdeckte er einen Helm mit breitem Federbusch. Vor ihm lag der Hauptmann. Eine abgebrochene Lanze stak in seiner Brust. Der Feldwebel trat neben ihn. »Sieht aus, als hättest du das Kommando auf der linken Flanke. Ich gebe den Männern Bescheid.«
»Wie ist dein Name?«
»Radek.«
»Gut, Radek. Such mir ein paar Unverletzte, die sich um die Verwundeten kümmern. Wir brauchen jeden Mann. Die anderen sollen sich sammeln. Die Speerträger nach vorne, die Bogenschützen dahinter. Sobald der Nebel verschwunden ist, kommen die Imorianer. Diesmal kennen wir ihren Trick.« Er sah, wie Radek salutierte und sich zum Gehen wandte.
»Ach, Radek, eines noch.«
»Ja, Leutnant?«
»Danke.«
»Ehrensache«, entgegnete Radek grinsend.
Zufrieden beobachtete Kogan, wie der Feldwebel die Männer aufscheuchte. Langsam formierten sich erste Gruppen. Verwundete wurden versorgt, Pfeile und Speere bereitgelegt. Gewissenhaft starrte der junge Leutnant in den sinkenden Nebel. Der Wind trug lediglich ein Flüstern zu ihm. Geschwind eilte er den Hügel hinauf. »Sie kommen! Haltet euch bereit. Bogenschützen, wartet auf mein Kommando.«
Geisterhafte Schemen schälten sich aus dem Nebel. Breitschultrige Krieger mit gebogenen Schwertern näherten sich der Hügelkette. Gut vier Dutzend von ihnen stampften über die Toten des vergangenen Kampfes. Hinter ihnen kamen mehrere Kämpfer mit Vorderladern. Sorgsam beobachteten sie die Umgebung, bewegten sich leise flüsternd vorwärts. »Wo sind die feigen Hunde?«, raunte der Vorderste.
Im nächsten Moment ragten zwei Pfeile aus seiner Brust. Sterbend brach er zusammen.
»Attacke! Nehmt den Hügel!«, schrie der Anführer der Imorianer. Krakeelend rannten seine Krieger los. Ein Hagel aus Pfeilen und Speeren empfing sie, forderte zahlreiche Tote. Beißender Pulverdampf der Vorderlader hüllte das Schlachtfeld ein. Ein paar Arcalaner fielen, der Rest schleuderte Speere, die Bogenschützen schickten ihre Pfeile.
»Haltet die Linie!«, rief Leutnant Kogan. »Wir müssen standhalten!« Mit seinem Schwert schlug er einen der ankommenden Angreifer nieder. Sogleich duckte er sich unter dem Schlag eines zweiten hinweg, um ihm mit seinem Schwert den Wanst aufzuschlitzen. »Für Calaga!«, schrie Kogan. Zufrieden hörte er, wie die Männer in seinen Schlachtruf einstimmten. »Für Calaga!«
Fluchend schlug er um sich. Ständig erklommen mehr Angreifer den Hügel. Einer von ihnen zwang ihn mit seiner umherwirbelnden Axt zurück. Der Leutnant rutschte auf dem Untergrund aus, sah sein letztes Stündlein gekommen. Über ihm blitzte die Axt auf, doch sein Angreifer erstarrte in der Bewegung. Ein Speer stak in seiner Brust. Kogan sah eine vertraute Gestalt neben sich.
»Radek?«, rief er erstaunt.
»Meine Mutter ihr Ältester wollte den Leutnant nicht bei seinem ersten Kommando verrecken lassen«, murmelte er und reichte ihm die Hand. »Ehrensache.«
»Ich danke dir. Schlagen wir sie in die Flucht!«
»Verdamm mich, Leutnant. Dein Wunsch ist mir Befehl.«
Irgendwann war Keara trotz der Kälte eingeschlafen. Zitternd erwachte sie bei Sonnenaufgang. »Oh Allsehende! Schenke deiner treuen Dienerin deinen Segen.« Mit knurrendem Magen trottete sie los. Der morgendliche Dunst stand über dem flachen Sumpfland. Vereinzelte Bäume ragten geisterhaft hervor, wirkten wie verlorene Seelen der Verirrten im Sumpf.
Die grauen Wolken teilten sich allmählich, ließen dünnes Sonnenlicht hindurch, das sich auf den nassen Flächen des Sumpfes spiegelte. »Morast und Matsch! Vermag diese Gegend mein Leid bloß zu vergrößern? Ich sollte an einem warmen Kamin sitzen. Einen heißen Kräutersud an meiner Seite, Liturgien studieren, Predigten ausarbeiten. Nein, Pasemil beauftragte mich mit dieser heiklen Mission. Noch dazu legte er mir auf, mit niemandem darüber zu reden. Sein Vertrauen in mich in allen Ehren. Doch das habe ich keineswegs erwartet. Ob ich jemals wieder trockne? Kein Mensch wohnt in dieser götterverlassenen Gegend. Immerhin gibt es keine Kämpfe.«
Sie hielt auf einen Baum zu, in der Hoffnung, der Untergrund sei trockener, als sie ein leises Wimmern zu hören glaubte. »Ist da wer?«
Augenblicklich verstummte das Geräusch. Aufmerksam ging sie voran. Inmitten des dichten Buschwerks entdeckte sie eine Gestalt, die kopfüber am Boden kauerte. Ein nackter Fuß hing in einem Fangeisen fest. Seine Größe ließ Keara an ein Kind denken. Verwundert trat sie näher. »Hallo! Kleiner, hörst du mich?«
Die Gestalt hob zitternd den Kopf. Der Anblick ließ Keara zurückweichen. Zu ihrer Überraschung besaß der Kleine spitze Ohren. Ein weißer Bart zierte sein Gesicht. Im nächsten Moment sah sie einen Jungen, der sie ängstlich anstarrte. Die Priesterin blinzelte verwirrt, sah wieder die bärtige Gestalt. »Wer bist du? Was bist du?«
Die Gestalt guckte sie wehmütig an. »Helfen! Bitte!«
Für einen Moment stockte die Priesterin. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen. »Bist du ein … nein, das ist unmöglich. Andernfalls … bist du ein Sumpfling?«
Eine Zornesfalte bildete sich auf der Stirn ihres Gegenübers. »Kein Sumpfling. Bogfolk!«
»Bogfolk? Nennt ihr euch so?«
Erneut schüttelte sich der Kleine. »Nadochosunoda.«
»Nadobu … was?«
»Nadochosunoda. Bogfol.«
»Ich verstehe, das ist dein Name. Du bist ein Bogfol und gehörst zum Bogfolk. Oh, verdammt, na klar, in den alten Büchern nennt man euch Sumpflinge. Ich hielt es für ein Märchen. Jetzt sehe ich, euch gibt es wirklich.«
Er wackelt mit seinem Bein in dem Fangeisen. »Helfen!«
»Ach so, klar, lass mich sehen, was ich machen kann.« Sie machte sich an dem Fangeisen zu schaffen, bis es sich öffnen ließ. »Das war leicht. Du bist frei.«
Er zog sein Bein mit einer blutigen Fleischwunde zurück und strahlte sie mit schief gelegtem Kopf an.
»Bist ein putziger kleiner Kerl. Was machst du hier?«
Ohne zu antworten, rieb er sich über die Wunde, murmelte seltsame Worte in einem ihr fremden Tonfall.
»Was tust du? Lass mich dir helfen. Die Wunde sieht böse aus. Ich…« Erstaunt sah sie, wie die Wunde sich unverzüglich schloss. Der Bogfol erhob sich vollkommen unbekümmert.
»Das war ein Zauber, oder? Du bist ein erstaunliches Geschöpf. Seid ihr alle so?«
»Wie?« Nadochosunoda mustert sie verwirrt mit schiefgelegtem Kopf.
»Dein Zauber. Magie. Wie machst du das?«
Er legte seine rechte Hand auf seine Brust, danach auf seinen Kopf. »Fühlen hier. Kraft fließen von innen. Melodie stark. Tsogha im Einklang.«
»Ich verstehe kein Wort.«
Erneut fuhr er sich an Herz und Kopf, dabei nickte er ihr fröhlich zu.
Kopfschüttelnd folgte sie seinem Beispiel. Ihr Versuch blieb erfolglos. »Nein, nein, nein. Weißt du, ich webe meine Zauber mit einem Medaillon. Es dient mir als Fokus.« Sie zeigte ihm ihre Halskette mit der leeren Schließe.
Neugierig streckte er seine Hand aus, berührte ihre durchnässte Kleidung. »Du kalt? Traurig?«
»Ich? Nein, es ist nur … wo bin ich?«
»Du hier. Bei mir.«
Sie lächelte gequält. »Verstehe doch. Ich bin fremd im Sumpf. Meine Begleiter zogen es vor, zu verrecken, statt mir zu Diensten zu sein. Ach, warum erzähle ich dir das alles? Ich stehe hier mitten im Nirgendwo, um mich herum, ist haufenweise Dreck und ich rede mit einem Sumpfling. Bis vor kurzem hielt ich euch für ein Märchen.«
»Bogfolk!«
»Was hast du?«
»Bogfolk«, wiederholte er. »Wohnen in Sumpf.«
»Ist mir gleich. Von mir aus esst den Matsch. Ich will zu meinen Leuten zurück. Verstehst du? Ich muss die anderen Menschen finden, sonst krepiere ich.«
»Andere Menschen böse.«
»Verdammt, wie erkläre ich dir das. Ich bin eine Priesterin, wir reden mit der Allsehenden, unserer Göttin. Unsere Gabe ist das Weben von Magie. Ohne sie bin ich verloren.«
»Magie?«
»Ja, verstehst du das endlich. Magie. Das, was du vorhin gemacht hast. Um deine Verletzung zu heilen. Das ist Magie, jedenfalls glaube ich, es war welche. Vollkommen anders als bei uns. Wir weben Zauber. Auf diese Weise zeigen wir die Macht unserer Göttin.« Unwillkürlich griff sie sich an die leere Stelle an ihrem Hals.
Seine Hand wanderte zu ihrer Brust. Erbost klopfte sie ihm auf die Finger. »He, lass das!«
»Du traurig?«
»Nein, ich bin höchstens einsam. Ich bin es satt, einem unbeholfenen Wesen wie dir die Welt zu erklären. Meine Leute sind gut, die anderen Menschen böse. Verstehst du?»
Er wog den Kopf hin und her.
»Ich vermute, du hast keine Ahnung von dem, was ich dir erzähle. Die Allsehende stehe mir bei! Versuchen wir es anders. Weißt du, wie ich aus dem Sumpf komme?«
Er nickt eifrig. »Nadochosunoda zeigt Weg. Ja?«
»Nadobu…, weißt du was, ich nenne dich Nado. Das ist kürzer. In Ordnung?«
»Nado«, wiederholte er lachend.
»Gut. Du darfst mich Herrin Keara nennen. Verstanden?«
»Keara?«
»Nein, ich sagte, nenn mich Herrin Keara.«
»Keara.«
»Du ungebildeter Wilder hast offensichtlich keine Ahnung, warum du mir Respekt zollen sollst. Das üben wir noch. Ach egal. Also, sag mir, wie komme ich zu meinen Leuten? Wobei, wo kommst du her? Wohnst du hier?«
Eindringlich schüttelte er den Kopf. »Kein Mensch darf zu Dorf. Menschen böse.«
»Du liegst falsch. Ohne meine Hilfe wärest du noch immer gefangen. Wie kann ich also böse sein?«
Er griff nach ihrer Hand. »Komm. Weg aus Sumpf.«
Verwundert über sich, ging sie mit ihm. »Mir bleibt keine Wahl. Vielleicht kennst du ein großes Dorf aus Stein. Dorthin will ich.«
Tatsächlich spürte sie nach einer Weile trockenen Boden unter den Füßen. Plötzlich ließ Nado ihre Hand los. »Warten.« Er verschwand in einem Gebüsch und kam mit einer Wurzel zurück, gab ihr eine Hälfte ab. »Gu’an lecker.« Lächelnd rieb er sich den Bauch. »Ist gut für hier. Machen stark.«
Zögerlich folgte sie seinem Beispiel. »Hmm, schmeckt besser als es aussieht.«
»Keara weniger traurig?«
Für einen Moment hellte sich ihre Stimmung auf. Sie erkannte, es hätte schlimmer kommen können.
»Nein, aber es geht mir besser. Trotzdem missfällt mir die Gegend. Ist es weit?«
»Weit?«
Keara rollte mit den Augen. »Zu den anderen Menschen. Ist der Weg lang?«
»Weg von Sonne, viele Male schlafen.«
»Es klingt definitiv nach einem langen Weg. Möge die Allsehende mir beistehen!«
»Nado beschützen. Keara kein Kummer.«
»Wie um alles in der Welt willst du mich beschützen? Ach, egal. Komm, beeil dich lieber.«
Mühsam schleppte Keara sich die sumpfige Landschaft voran, ihre Füße schmerzten vom Laufen. Mittlerweile war es Nachmittag. Vor ihr schlenderte der Bogfol, summte vor sich hin oder streichelte Pflanzen. Unentwegt schien er sie zu beobachten. In seiner erdfarbenen Kleidung verschmolz er geradezu mit der Landschaft. Mehrfach war er in dem Dunst verschwunden, um dann hinter ihr aufzutauchen. Während einer kurzen Rast hockte er neben ihr. Angewidert wich sie ein Stück zur Seite. »Hast du bald genug gegafft? Normalerweise lasse ich alle strafen, die mich anstarren.«
Er deutete auf ihre Finger, an denen sie Ringe trug. »Keara viel Metall.«
»Findest du?« Ihr fiel auf, selbst sein Messer bestand aus einem schwarz glänzenden Stein. »Ihr Sumpflinge scheint kein Metall zu nutzen?«
»Bogfolk mit Natur. Niemals gegen Mutter Tsogha.«
»Ist das eure Anführerin? Ach nein, ich verstehe. Ihr verehrt Mutter Tsogha. Mein Glaube gilt der Allsehenden.«
»Tsogha überall ist.«
»Dein heidnisches Geschwätz ist mir gleich. Erzähl mir lieber von deiner Magie. Du hast gesagt, Kraft fließt von innen. Wie zauberst du?«
»Tsogha im Einklang. Gehen«, drängelte er.
»Gut, behalte es für dich. Bringst du mir noch mehr von dieser Wurzel? Ich bin hungrig.«
Ehe Keara reagieren konnte, war Nado verschwunden.
»Was tust du? Ach verdammt! Warum verlasse ich mich auf diesen Sumpfling? Ich finde den Weg alleine.«
Nach ein paar Schritten versank Kearas linker Fuß in einem Schlammloch. »Auch das noch!« Mühsam befreite sie ihr Bein und angelte nach dem Stiefel, bevor sie ihren Weg fortsetzte. Unsicher ob der Richtung versuchte sie sich zu orientieren. »Es ist sinnlos! Wie komme ich hier raus?«
Plötzlich tauchte der Bogfol vor ihr auf. Er hielt einige Pflanzen in den Händen. »Warum weglaufen? Keara hungrig?«
»Du hast mir Essen geholt? Ich dachte, du hättest mich verlassen!« Gierig griff sie nach einer der ungewohnten Pflanzen und biss hinein, spuckte allerdings umgehend aus. »Ekelhaft! Ich bin besseres gewohnt. Deinen Fraß kannst du behalten.«
Nado kratzte sich am Bart. »Essen gut?«
»Nein! Ach, was rede ich mit dir? Wo geht es aus dem Sumpf? Zu den Menschen?«
»Folgen«, antwortete Nado. In der Ferne erschienen die Umrisse mehrere Büsche in dem Dunst, dahinter ein Baum. Das leise Rauschen eines Flusses war zu hören.
»Hoffentlich sind wir bald da. Obwohl, du verstehst wahrscheinlich nicht, was ich meine. Ich…«
Nado trat auf sie zu, legte ihr einen Finger auf den Mund. »Leise!«
Irritiert schob sie seinen Finger zur Seite. Stimmen waren zu hören. Keara erschrak. »Wer ist das?«, flüsterte sie.
»Menschen«, war seine Antwort. Geduckt huschte er voran, hockte sich hinter ein Gebüsch. Die Priesterin folgte ihm. Zu ihrem Missfallen entdeckte sie am Flussufer mehrere feindliche Kämpfer. Sie verkniff sich einen Fluch und wich langsam mit dem Bogfol zurück. Als sie außer Hörweite waren, platzte es aus ihr heraus. »Du erbärmlicher Wicht hast mich absichtlich zum Feind geführt? Ich sollte dich auf der Stelle töten.«
Erschrocken wich Nado zurück. »Keara böse?«
»Ich, nein, ich freue mich, endlich meine Feinde zu sehen. Natürlich bin ich böse, du nichtsnutziger Sumpfling!«
Betrübt ließ Nado den Kopf hängen. »Alle Menschen böse.«
Keara dachte angestrengt nach. »Die lagern hier im
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Text: Das Copyright des Textes liegt beim Autor ©2023
Cover: Das Copyright des Covers liegt beim Autor ©2023
Publication Date: 04-15-2021
ISBN: 978-3-7487-8037-3
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