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Kapitel 5 Teil 1




Kapitel 5 Teil 1

Seit Minuten schon sitzt Denis hier vor mir auf dem Boden und sagt kein Wort. Normalerweise wäre das mein Part, aber an dieser Situation ist nichts normal.

Noch immer frage ich mich, wie unsagbar dämlich ich gewesen sein muss, ihn überhaupt reinzulassen, wo ich doch genau wusste, was er vorfinden würde. Ich könnte mich im Nachhinein dafür verprügeln. Glücklicherweise ist das nicht nötig, da dieser Teil freundlicherweise schon von einem Anderen übernommen wurde. Außerdem würde nur der Versuch mich selbst gebührend zu bestrafen so wehtun, dass das allein als Strafe völlig ausreichend wäre.

Ich muss mit den Konsequenzen meiner Handlungen leben, seinen sie auch noch so unbedacht.
Gnadenlos, mit Freuden und einem süffisanten Lächeln schnürt das Leben mir auf was ich verdient habe, lädt ab was lästig geworden ist, bis mein Rückgrat unter der Last zu knacken beginnt. Bis das Mahlen und Knirschen der überlasteten Wirbel meine Ohren durchdringt und meine geplagten Rückenmuskeln schreien, flehen doch den Kopf aus dem Dreck zu heben, den Rücken zu strecken. Aber ich beuge mich, krümme mich unter der Macht der Folgen, weil ich der Last nicht standhalten kann und hinterlasse dabei eine Schar lechzender Chiropraktiker, von meiner mehrfach ruinierten Wirbelsäule fasziniert.

Ich bin ein Schwächling. Ich habe meine Konsequenzen allein zu tragen, auch wenn sie mich in die Knie zwingen.
So war es immer schon.

Wenn ich es mir Recht überlege, reicht meine Blödheit sogar noch weiter, man könnte sie schon fast als Selbstzerstörung deuten und müsste dafür nicht einmal besonders scharfsinnig sein. Ich hatte meinen Entschluss gefasst, ich wusste, was ich zu tun hatte… und doch habe ich es nicht getan. Hier haben wir den glücklichen Gewinner von Deutschland sucht den super Versager. Er hat uns eine eindrucksvolle Demonstration seines Könnens geliefert.
Als Denis plötzlich vor meiner Tür stand, da habe ich einen winzigen, mikroskopisch kleinen Moment der Schwäche zugelassen. Ich habe ihn nicht, wie es besser für mich gewesen wäre, wie ich es mir geschworen hatte, einfach weggeschickt. Ich bin nicht kalt und abweisend zu ihm gewesen, wie ich es mir vorgenommen hatte.
Nein. Nein verdammt! Ich habe mich, wenn auch nur minimal, gefreut, dass er gekommen ist um mich, mich allein, zu sehen.
Ich habe diesem Gefühl nachgegeben, das ich nie wieder haben wollte.

Und jetzt sind wir Beide hier:
Ich das perfekte Klischee, des vom Vater Geschlagenen. Da habe ich mich immer redlich bemüht keinem Klischee zu entsprechen und nun scheine ich jedes nur denkbare zu erfüllen. Da fragt man sich doch, ob das Leben nicht ein bisschen ungerecht ist.
Wenn schon Klischee, warum kann ich nicht einfach der verzogene Sohn aus reichem Hause, oder der mufflige, einsame Superstreber sein? Ich wäre ja schon mit dem kleinkriminellen Asozialen zufrieden, aber nein. Warum muss da jemand seine dramatische Ader ausleben und mir gleich die volle Dröhnung verpassen. Jeder Verleger würde ein Buch darüber mit den Worten: „Viel zu abgedroschen, zu dramatisch. So was will doch keiner lesen“, ablehnen. Und mal ehrlich er hätte Recht.
War ja klar, dass ich immer den Mist abbekomme, den sonst keiner haben will. Ich hätte hier abgekaute Klischees, prügelnde Väter und nervige Klassenkameraden im Angebot. Zwei zum Preis von Dreien. Einkaufstüte gibt’s gratis dazu.

Auf der anderen Seite Denis. Nun, der ist eben Denis. Er hat noch mehr von meiner hässlichen und schwachen Seite gesehen. Er war entsetzt, geschockt, wütend. Er hat mich angeschrien, mich geschüttelt, nach mir gerufen, mir in fest in die Augen geschaut, Angst gehabt und… um mich geweint.

Das hätte nicht passieren dürfen. Niemals.

Langsam aber sicher geht mir dieses Geschweige auf die Nerven.
„Bist du hier festgewachsen oder was? Wenn du schon mal hier bist, dann kannst du auch mit hoch kommen.“
Ich erkenne mich selbst nicht wieder. Jemanden in mein Zimmer zu bitten ist das Letzte, das ich je tun wollte. Sagen wir das Vorletzte, denn diese Situation macht eindeutig den letzten Platz. Am liebsten hätte ich ihn sofort nach Hause geschickt, aber er darf unter keinen Umständen ein einziges Wort hierüber verlieren, sonst bin ich geliefert.
Entweder muss ich ihn so lange beschäftigen, bis ich mir den perfekten Mord ausgedacht habe, oder ich muss mit ihm reden. Ich bevorzuge eindeutig die erste Variante; ich fürchte nur, dass er an Altersschwäche gestorben ist, bevor mein Hirn einen genialen Plan ausspuckt. Also Reden…vielleicht sollte ich auch die Möglichkeit eines professionellen Killers in Betracht ziehen.
„Also was ist jetzt?!“, irritiert mustert er mich und macht keine Anstalten sich zu erheben. Ich schenke ihm einen meiner besten Todesblicke und siehe da, er bequemt sich endlich zum Aufstehen.

Langsam gehe ich die Treppe hinauf, immer darauf bedacht mich nicht zu viel zu bewegen. Schmerzen hatte ich in letzter Zeit sowieso schon genug und es ist ja nicht so, dass ich masochistisch veranlagt wäre. Ich kann hören, wie Denis hinter mir immer wieder stehen bleibt und wartet. Ich komme mir vor wie ein hundertjähriger Krüppel. Gott sei Dank ist es im Treppenhaus einigermaßen dunkel. Mein Gesicht hat in letzter Zeit eine ungesunde Affinität zu Ampeln.
„Hast du Stift und Papier dabei?“, kommt es plötzlich von hinten. Ungläubig starre ich ihn an.
„Ich wollte“, eines seiner schiefen Grinsen huscht ihm über den Mund, „nur schon mal mein Testament aufsetzen. Für den Fall, dass ich es nicht mehr bis nach Oben schaffe.“
Ich drehe mich um und krieche weiter nach oben.
„Arsch!“ Einem Zucken um die Mundwinkel gebe ich nicht nach. Wie gesagt ich bin nicht masochistisch. Aber einen schnellen, lauten Herzschlag gestatte ich mir. Wie schafft dieser Mistkerl es nur, dass ich ihm selbst für Beleidigungen unendlich dankbar bin?

Scheiße, ich hab nicht aufgeräumt. Überall liegen meine Klamotten und Bücher rum und ich hätte mir beinahe den Hals gebrochen, als ich mein Zimmer betrete, wenn (verdammt soll er sein!) Denis mich nicht im letzten Moment davor bewahrt hätte. Rettet er mich noch einmal, dann stürz ich mich von der nächsten Parkbank.
Interessiert sieht er sich um; er scheint jeden Zentimeter in sich aufzusaugen und das entschieden zu lange. Was soll denn daran so interessant sein? Obwohl, vielleicht hat er ja eine Art Höhle oder Folterkammer erwartet. Dann tut es mir herzlich Leid, dass ich ihn enttäuschen muss, aber meine eiserne Jungfrau bewahre ich auf dem Dachboden auf. Zusammen mit ausgesuchten Mitschnitten aus Klingeltonwerbung, unter Lebensgefahr gewonnen und die letzte Option falls jede andere Foltermethode unwirksam bleibt.
Ich lasse mich aufs Bett fallen und warte bis seine Augen wieder am richtigen Platz sitzen. Ich hätte ihn nicht mit Hoch bringen sollen. Falsch, ich hätte ihn gar nicht erst rein lassen sollen. Nicht in mein Zimmer, nicht ins Haus und absolut nicht in mein Leben.
Dieses Geheimnis war nicht für Fremde bestimmt und so muss es auch bleiben. Es dürfen nicht noch mehr Leute davon erfahren. Jetzt, wo ich fast soweit bin.
Entschlossen setzte ich mich auf und atme tief durch. Bereit zum Gefecht.
„Wenn du fertig bist mit starren, dann setzt dich endlich hin!“
„Wenn du mich so freundlich bittest.“ Er plumpst neben mich aufs Bett, aber nicht ohne vorher einen demonstrativen Slalom durch mein Chaos zu machen. Ich möchte bloß mal wissen wie es bei ihm im Zimmer aussieht. Wehe man kann dort nicht vom Fußboden essen.

Sein blauer Blick durchbohrt mich. Und plötzlich fällt mir wieder ein, warum sein Hiersein nicht nur in einer Hinsicht katastrophal ist. Meine uneinnehmbare Festung hat unter seinen andauernden Angriffen sehr gelitten und dieses Etwas, was da so gierig an den bröckelnden Mauern kratzt, darf unter keinen Umständen durchbrechen. Jedes Mal, wenn ich mit Denis zusammen bin, wächst es gewaltig. Irgendwann könnte ich nicht mehr stark genug sein, um es zurück zu halten und dann bin ich erledigt…
Im Moment kann ich ganz deutlich spüren, wie es gegen meine Brust rennt. Bumm-bumm, Bumm-bumm. Kapitulation kommt nicht in Frage.

„Denis, du darfst niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen von dem erzählen, was du heute hier gesehen hast. Hast du verstanden!“, meine Stimme wird ungewollt lauter. Das hier ist verdammt wichtig für mich. Sieg oder Niederlage, Leben oder Sterben.
„Das kann ich nicht!“
Tödlicher Schuss. Entsetzen steht mir ins Gesicht geschrieben. Das kann doch nicht sein Ernst sein. Er kann mir doch nicht kurz vor dem Ziel ins Bein schießen.
„Du verdammter…“, ich müsste mich zur Ruhe ermahnen, ich brauch sein Wort jetzt mehr als alles Andere.

Ich kann nicht.

Kalter Zorn brodelt in mir. Habe ich mich so in ihm getäuscht? Ich dachte er wäre nicht so ein Bastard wie alle Anderen, aber genau das war ein fataler Fehler. Ich hätte es besser wissen müssen. Ich wusste es doch eigentlich immer schon. Wusste, dass man niemandem trauen kann, dass sie alle nur Ärger machen, dass sie dir nur wehtun.
Das hab ich jetzt davon, dass ich wieder schwach geworden bin. Ich kann den scharfen Stich in meiner Brust fühlen, der mehr schmerzt als die Wunden, die meinen Körper bedecken, sogar mehr als die Schläge selbst. So weit sollte es nie mehr kommen…

„Verstehe“, meine Stimme ist eiskalt und ruhig, „Verstehe... Wenn das so ist, dann geh doch. Geh doch und erzähl deinen kleinen begierigen Freunden, dass du beim Spinner zu Hause warst. Erzähl ihnen, dass dieser erbärmliche Schlappschwanz sich von seinem Vater Grün und Blau prügeln lässt und dann lach mit ihnen über diesen Versager. Na los g…“

KLATSCH!!!

Die hat gesessen! Die Ohrfeige ist so heftig, dass es mich auf den Boden schleudert. Das hätte ich jetzt nicht erwartet. Ich hielt ihn für einen unverbesserlichen Pazifisten. Noch ein Irrtum. Die Liste meiner Irrtümer könnte ich bald dem Guinnesbuch vorstellen. Ich hätte wirklich gute Chancen auf die längste je angefertigte Liste menschlicher Irrtümer.
In meinem Schädel arbeitet eine Armada von Presslufthämmern und meine Wange schmerzt höllisch. So viel Kraft hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Ich bleibe einfach liegen, fühle mich auf einmal so müde und seine wütende Stimme dröhnt ohrenbetäubend laut in meinen Ohren.
„Du verdammtes Arschloch! Was denkst du eigentlich von mir. Ich meinte…“
Das plötzliche Verstummen dieser Lärmquelle lässt mich die Augen leicht öffnen. Ist er endlich fertig? Endlich weg?
„Oh Gott, das wollte ich nicht! Ich hab nicht mehr dran gedacht… es tut mir so Leid… hab ich dir… geht’s dir Gut?“, sein besorgtes und aufgeregtes Gesicht tanzt verschwommen vor meinem.
„Lass mich allein…“, kommt es schwach über meine Lippen. Mein Körper ist bleischwer; ich kann meine Augen nicht länger offen halten. Eine wohlige Schwärze durchdringt mein Bewusstsein, ich scheine zu schweben. Mit offenen Armen empfange ich das herannahende Nichts…

Als ich wieder zu mir komme, liege ich in meinem Bett. Wie bin ich denn hier her gekommen? Mein Blick wandert durchs Zimmer und da sitzt er. Auf einem Stuhl direkt neben dem Kopfende, die Augen starr auf mich gerichtet. Sie sehen rot und verweint aus. Bei meiner Bewegung zuckt er zusammen.
„Du siehst echt scheiße aus.“ Ich sehe ihn dabei nicht an. „Was willst du noch hier?“
„Elija, bitte hör mir zu. Es tut mir so Leid. Ich weiß auch nicht, was da in mich gefahren ist. Ich… ich hab einfach die Kontrolle verloren.“
Hör auf, ich will keine Entschuldigungen hören. „Schon gut, ich bin das ja gewöhnt und jetzt verpiss dich!“ Vielleicht sollte ich ihn noch bitten mein Zehnerkärtchen abzustempeln. Zehn mal und ich krieg eine umsonst. Das darf ich mir doch nicht entgehen lassen.
„Nein, es ist nicht gut! Ich hab dich geschlagen…“, ein leises Schluchzen ist zu hören, „Das wollte ich nicht…“
Er sieht erbärmlich aus, so zusammengesunken auf seinem Stuhl. Ein Anblick, der mir wider Willen ein schlechtes Gewissen beschert. So bescheuert muss man erst mal sein, immerhin hat er mich geschlagen und nicht ich ihn; immerhin ist er der Bastard und nicht ich. Mit Sicherheit bin es also nicht ich, der ein schlechtes Gewissen haben sollte und doch nagt es an mir, reißt kleine Bröckchen aus mir heraus. Ein Grund mehr ihn so schnell wie möglich loszuwerden. Auf Dauer ist das echt zermürbend.

„Ich möchte, dass du jetzt gehst“ und das will ich wirklich.
Er schluckt trocken und wischt sich mit dem Ärmel über die Augen.
„Gut, aber vorher muss ich dir noch was erklären. Du hast mich gebeten nichts davon zu erzählen, dass dein Vater dich verprügelt. Dich verprügelt, dass du am Ende so... so aussiehst.“ Der Blick der mich dabei trifft, gefällt mir überhaupt nicht. „Das kann ich nicht! Das kann ich nicht und will ich nicht, weil ich mir Sorgen um dich mache. Dir geht’s hundsmiserabel und ich soll so tun als ob Nichts passiert wäre? Das läuft wahrscheinlich schon seit Jahren und wird auch so weitergehen, wenn niemand etwas ändert und ich soll einfach weg sehen? Ich soll einfach ruhig stehen bleiben und zusehen, wie du dich jeden Tag weiter quälst?“
Unsere Augen treffen sich. Aus seinen sprechen echte und ehrliche Sorge und Wut, aus meinen nur Abweisung und Kälte.

„Tut mir Leid, das kann ich nicht. Dazu bist du mir nicht egal genug.“

Ohne ein weiteres Wort steht er auf und verlässt mein Zimmer. Ich lausche seinen Schritten auf der Treppe und höre, wie die Haustür zufällt.
Ich bin wieder allein.

Die untergehende Sonne wirft lange Schatten durch mein Fenster und taucht alles in ein goldenes Licht. Ich sehe zu, wie der Glanz sich langsam zurückzieht und nichts als kalte, vertraute Schwärze zurücklässt, die mir langsam meine Brust hinaufkriecht und ihre besitzergreifenden Arme um mich schließt, mir die Luft abschnürt. Die Stille drückt unerträglich auf meine Ohren. Ich habe das Gefühl, als würde dieses kalte, leere Haus mich erwürgen und ich bin gefangen, wie die Ratte in der Falle.
Ich spüre sie schon, wie sie eine nach der andern meine Wange hinunterrollen und sich unbemerkt in der Dunkelheit verlieren. Ein nicht enden wollender Strom, der mich, wie so oft in den Schlaf begleiten wird.

Ganz klein rolle ich mich zusammen, ziehe die Decke über mich, die mir doch keinen Schutz geben kann, vor der Alles verschlingenden Schwärze, schlinge die zitternden Arme um meinen Oberkörper, die mich doch nicht wärmen können, in dieser Alles durchdringenden Kälte und warte. Warte auf den betäubenden Schlaf, der mich in ein paar Stunden, vielleicht aber auch gar nicht, für kurze Zeit von all dem erlösen wird.


Imprint

Publication Date: 10-29-2011

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Dedication:
Für alle schwarzen Leben, die noch darauf warten, ihr Blau zu entdecken

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