Cover

Lieber Leser


Du hast dieses Buch zur Hand genommen, weil du ein Naturfreund bist.
Du liebst die rauen Berge mit ihrer ewigen Stille und den weiten, fruchtbaren Tälern.
Du magst endlose Wälder, bunte Wiesen mit saftigem Gras und stille Wege durch weite Landschaften.
Du kannst dich am Frühling begeistern, mit all seinem lauten und fröhlichen Liebestaumel, wenn die Natur zu neuem Leben erwacht und das frische, helle Grün Hoffnung und Neubeginn verspricht.
Du magst den stillen, heißen Sommer, mit Erntedüften reifer Getreidefelder und warmen Abenden im Grillenkonzert.
Auch der laute, bunte und manchmal ungehobelte Herbst macht dir Freude, wenn Rauch von Kartoffelfeuern durch die frühe Dunkelheit weht und Erntedank gefeiert wird.
Selbst der harte, raue Winter ist dir lieb, wenn er alles mit eisigem Schweigen überzieht und endlos in seiner Herrschaft zu sein scheint. Er bereitet das Land auf neues Leben vor und gibt ihm mit seiner Ruhe die Kraft, die es dazu braucht.
Für dich habe ich dieses Buch geschrieben, mein Freund. Reich’ mir die Hand, und ich will dir von allem erzählen. Will erzählen von Liebe, Leidenschaft, Treue und Sehnsucht ebenso, wie von Verrat, Hass und Rache. Vom ewig aussichtslosen und doch notwendigen Kampf Gut gegen Böse.
Folge mir in die Berge des Kaukasus, wärme dich am Feuer der Hirten und zieh’ mit der Herde. Steh’ ihnen bei, im Kampf gegen die Wölfe und versuche, den Wolf im Kampf gegen den Hunger zu verstehen.
Lausche dem Lied der Sterne und tröste die Hündin, die ihr Junges verliert. Ihr Schmerz gleicht dem jeder Mutter, der das Kind genommen wird.
Begleite den Welpen auf seinem langen Weg. Erlebe mit ihm die große Stadt, voller Enttäuschung und Einsamkeit und freue dich im Hoffen auf einen neuen Anfang.
Respektiere den Drang nach Freiheit in jedem Tier und steh’ der geschundenen Kreatur bei. Sie empfindet den Schmerz wie du.
Geh’ mit wachen Augen und leisen Schritten durch die Natur, und du wirst des Schauens nicht müde werden. Freue dich am lautlosen Flug des Bussards. Suche den Pirol nach seinen geheimnisvollen Rufen, lausche dem Specht, wenn er seine Wohnung baut und gib acht, dass dich der Rotfuchs bei seinen Streifzügen nicht entdeckt, sonst ist er eins, zwei, drei verschwunden. Tritt nicht unachtsam auf die Rote Waldameise, die emsig ihre Burgen baut und erschrecke nicht die Ricke, wenn sie ihrem Kitz die weite Welt zeigen will.
Ich lade dich ein, Mensch und Tier zu begleiten und mit ihnen Abenteuer zu erleben. Du wirst dabei Orte schauen, die es zwar so nicht gibt, aber durchaus geben könnte.
Einiges ist so geschehen, wie es aufgeschrieben wurde, vieles hätte genauso passiert sein können, und manches, wer weiß, wird vielleicht irgendwann einmal so sein.
Wer kann schon sagen, was geschieht?


Prolog



Jana träumt.
Sie hat den Kaukasus zwar noch nie gesehen, doch fließt das Blut ihrer Väter und Vorväter heiß in ihren Adern und bringt sie manche Nacht in die rauen Schluchten, die grünen Täler und in die unendlichen Wälder dieses ursprünglichen Gebirges.
In den dünnbesiedelten Landstrichen treiben die Hirten seit Hunderten von Jahren ihre Rinder- und Schafherden nach der Schmelze hinauf zu den Hochweiden und kommen vor dem ersten Schnee im späten Herbst nicht wieder zurück. Die Tiere haben genug Zeit, sich ein gutes Gewicht zuzulegen. Das brauchen sie auch. Die kalte Jahreszeit steht vor der Tür und nur mit Trockenfutter wird ein hungriges Rind nie richtig satt werden. Da müssen Fettreserven ran. Doch so manches Rind oder Schaf wird die Weide zum letzten Mal gesehen haben. Die Menschen wollen schließlich auch leben.
Die sie begleitenden Hunde haben die Umgebung in allen Himmelsrichtungen kennen gelernt. Nichts ist ihnen fremd, jeder Stein vertraut. Wenn sich unter ihrer dicken Felldecke die puschlige Unterwolle zu vermehren beginnt, wird es höchste Zeit zum Aufbruch.
Manchmal kommt der Winter früher als erwartet. Dann wird es besonders schwer, die Herde zu Tal zu bringen. Für das Rudel ist dies jedesmal eine harte Zeit, denn ringsumher lauert der graue Tod, und so manch tapferer Hund sieht den heimatlichen Hof niemals wieder.
Wenn der kalte Schnee das Land mit einer meterhohen Schicht bedeckt und selbst im Wald nichts mehr an Grün zu finden ist, zieht sich das Wild in die geschützten Täler zurück.
Wenn dann der Wind sein eisiges Lied in den Bergen singt und das Wort gefriert, ehe es ausgesprochen werden kann, überlebt dort oben nichts mehr. Der Frost tritt seine Herrschaft an und zwingt jeden in die Knie, der glaubt, ihm widerstehen zu können oder der so unvorsichtig war, nicht rechtzeitig zu verschwinden.
Die Winterschläfer liegen in dick ausgepolsterten Betten und haben für einige Monate keine Sorgen.
Auch Meister Petz hat sich ordentlich Winterspeck angefressen und dabei sein Gewicht fast verdoppelt. Jetzt liegt er zusammengerollt in seiner Höhle und träumt dem Frühling entgegen. Ihn stört es nicht, wenn der Nordwind durch das Land jagt und der Schnee sich über seinem Versteck auftürmt. Im Gegenteil, je mehr umso besser. Viel Schnee hält viel Kälte ab.
Der Bär friert aber auch so nicht und kann getrost schlafen, bis die warme Sonne die letzten weißen Häufchen aufgeleckt hat. Dann aber heißt es, schleunigst raus und fressen, damit aus dem klapperdürren Fellbündel rasch wieder ein stattlicher Kerl wird. Das Aufwachen hat die letzten Kraftreserven aufgebraucht. Ja, auch schlafen zehrt. Man muss nur lang genug liegen bleiben. Jedoch sollte man es auf keinen Fall übertreiben. So mancher Bär ist gar nicht wieder aufgewacht, wenn der Winter länger als sonst gedauert hat und der angefressene Vorrat mal geradeso für einen normalen Winterschlaf gereicht hätte.
Wölfe schließen sich zu großen Rudeln zusammen, zwanzig, dreißig Tiere sind oft keine Seltenheit, und folgen dem Wild. Auch sie haben Hunger. Auch sie wissen genau, dass die nächste Zeit sehr schwer werden wird. Misserfolge bei der Jagd können sie sich nicht erlauben. Dann reicht die Energie nicht mehr für eine zweite Hatz. So kommt ihnen eine verspätet zu Tal ziehende Schaf- oder Rinderherde gerade recht und scheint leichte Beute. Gute Gelegenheit, sich so richtig den Bauch vollzuschlagen, bevor der Tisch knapper gedeckt sein wird. Auch wenn Schafsfleisch nicht ihre Lieblingsspeise ist.
Die Wölfe wissen, dass die Herden gut bewacht sind. Riesige zottige Hunde beschützen Tiere und Hirten. Das Wolfsrudel muss sich immer wieder etwas Neues einfallen lassen, um an die begehrte Beute zu kommen. Auf einen offenen Kampf mit den Hunden lassen sich die grauen Räuber nur in der ärgsten Not ein und auch nur dann, wenn sie in der dreifachen Überzahl sind, denn die Herdenschutzhunde sind nicht nur größer und stärker als Wölfe, sie sind auch mutiger.
Wenn die Herden schließlich in ihren Ställen sind, beginnen für die Hunde ruhige Tage. Jeder hat seinen Platz, der ihm allein gehört und wird dort in Ruhe gelassen. Um das Futter muss man sich keine Sorgen machen, das gibt es jeden Tag umsonst, und so ist erst einmal Zeit, sich von dem arbeitsreichen Jahr auszuruhen und zu schlafen.
Bis es irgendwann wieder langweilig wird.
Dann bummelt der ausgeruhte Hund durch die Gegend und sucht jemanden, mit dem er einen Streit anfangen kann. Der ist schnell gefunden. Meist handelt es sich um genauso einen Raufbold, und im Handumdrehen ist die schönste Keilerei im Gange. Sofort hat sich die ganze Meute um die beiden Kämpfer versammelt, um sie lautstark anzufeuern.
Der Radau lockt natürlich die Menschen aus ihren Häusern. Sie sehen es nicht gern, wenn sich ihre Hunde gegenseitig zerfleischen. Mit viel Geschimpfe und großer Anstrengung gelingt es ihnen, die Streitenden zu trennen, für die es ein Riesenspaß war.
Somit herrscht wieder Ruhe.
Bis zum nächsten Mal.
Ja, so ein gelangweilter Hund hat nicht viele Möglichkeiten, sich im Winter die Zeit zu vertreiben. Wenn es gelingt, wird natürlich mal aus der Küche ein Leckerbissen gemopst. Dies klappt selten und erzeugt immer großen Ärger, weil man sich meist erwischen lässt.
So geht die Zeit dahin, bis die Nächte wieder kürzer werden.
Die Sonne steigt höher und höher.
Rinder und Schafe, selbst die Hirten werden unruhig.
Die Streifzüge der Hunde werden täglich länger. Keinen hält es mehr so richtig im Dorf. Wenn dann endlich das langersehnte Signal zum Aufbruch gegeben wird, zieht der Treck fröhlich in die Berge.
Raus aus der Enge.
Mit dem warmen Frühlingswind im Rücken kommt die Herde schnell voran. Die Tiere sind nach der langen Winterruhe froh, endlich wieder richtig laufen zu können.
Die Hunde ziehen weit voraus, vergessen jedoch im Überschwang des Frühlings ihre Aufgaben nicht. Alles wird kontrolliert, alles abgesucht, alles geprüft.
Die Wölfe haben Nachwuchs. Ihr Bau ist im unwegsamen Gelände gut versteckt. Hier werden die Welpen großgezogen und unternehmen bald ihre ersten tapsigen Schritte. Freudig quiekend stürzen sie sich auf alles, was die Eltern ihnen mitbringen. Sie wachsen schnell heran und sind nie satt zu bekommen. Futter ist reichlich vorhanden. Fast jeder im Wald hat Kinder zur Welt gebracht und so muss der eine sterben, damit der andere leben kann.

Die Wölfe kreuzen jetzt nicht die Wege der Herden. Es gibt leichtere Beute am reichlich gedeckten Tisch der Natur. Ihre Rudel haben sich wieder aufgelöst und sind für einige Monate keine Gefahr mehr.
Höchstens Meister Petz könnte sich in seinem unersättlichen Frühlingshunger einbilden, eines der Tiere wäre für ihn reserviert. Nicht selten ist solcherart Irrtum einem Bären schlecht bekommen. Die Hunde lassen nicht mit sich spaßen und schon vier, fünf Owtscharki können den zotteligen Gesellen in arge Bedrängnis bringen. Sie müssen sich nur vor seinen messerscharfen Krallen in acht nehmen, die der Bär sehr gut einzusetzen weiß.
Oft haben die Hunde gar keine Lust auf einen Kampf, der bei der kleinsten Unvorsichtigkeit den Tod bringen kann, sondern beschränken sich darauf, den Angreifer zu verjagen. Das machen sie dann allerdings so gründlich, dass dem die Lust aufs Wiederkommen ganz und gar vergeht.
Obwohl der Weg zur Sommerweide viele Tage lang ist, vergeht die Zeit schnell. Die täglichen Sicherungsaufgaben werden sehr ernst genommen. Darüber hinaus ist entlang des Weges alles frisch, alles neu. Auch wenn die gleiche Strecke im vorigen Jahr und im Jahr davor gezogen wurde, sie riecht immer wieder anders, ist immer hochinteressant.
Viel schwere Arbeit ist nicht dabei.
Die Herde macht genug Lärm, um alles Wild zu vertreiben.
Auch jeder Räuber verzieht sich vor dem Stampfen der Hufe. Er kennt die Begleitung nur zu genau und legt keinen Wert auf nähere Bekanntschaft.
Die Weide selbst bringt Zeit zur Ruhe. Obwohl während des Sommers einige Male der Platz gewechselt wird, macht dies keine Hektik. Die einzelnen Wiesen sind nicht weit voneinander entfernt, einen Tag, höchstens zwei.
Das ganze Rudel wird zum Umzug nicht benötigt. Zwei, drei Wachposten genügen. Der Rest streift weit umher, um mögliche Gefahr zu beseitigen, bevor sie der Herde gefährlich werden kann. Schafft es ein Hund nicht allein, wird Verstärkung geholt. Die ist schnell heran. Meist genügt es jedoch schon, wenn sich der Owtscharka breitbeinig aufbaut und die Zähne zeigt. Seinem Gegenüber, Mensch oder Tier, vergeht dabei rasch die Lust auf weitere Demonstration der Kampfbereitschaft. Wo ein Owtscharka ist, sind auch die anderen nicht weit, und die Begegnung mit einem Rudel Herdenschutzhunde geht für keinen Angreifer gut aus.
Der Sommer vergeht wie im Flug.
Manchmal versucht einer aus der Gemeinschaft, die Rangordnung zu seinen Gunsten zu ändern. Meist ein junger Heißsporn, der noch nicht ganz trocken hinter den gestutzten Ohren ist. Hin und wieder gibt es unter den Jugendlichen durchaus einen, der das Zeug zum Führer hat. Dies will er so schnell wie möglich unter Beweis stellen. Schafft er es, setzt sich diese Neuordnung natürlich durch alle Stufen der Rudelhierarchie fort und kann etliche Zeit in Anspruch nehmen, denn jeder möchte die Gunst der Stunde nutzen und auf der Rangordnungsleiter ein kleines Stück nach oben klettern. Zum Glück gibt es dabei keine blutigen Kämpfe. Ein Owtscharka weiß sehr wohl, dass er seine Gesundheit nicht unnötig aufs Spiel setzen darf, weil er für den Schutz der Herde gebraucht wird.
Gar nicht richtig wahrgenommen wird es, wenn das Fell wieder dicker zu werden beginnt. Irgendwann wacht man morgens auf und die Welt ist weiß. Wenn der Zauber auch von der Morgensonne rasch verschlungen wird, so ist dies das Signal:
Der Heimweg steht bevor.

Wenn unsere Hündin vom Leben ihrer Ahnen und Urahnen träumt, zucken ihre Pfoten, als laufe sie mit dem Rudel durch die unendlichen Wälder des Kaukasus. Sie quietscht und wufft dabei, als kämpfe sie mit Wölfen und Bären, als läge sie am Feuer der Hirten, als erlebe sie alles selbst.
Ich setze mich dann neben sie und lege ihr leicht eine Hand auf den Bauch. Langsam wird sie ruhig. Die andere Hand lege ich ihr ganz sanft auf den Kopf. Sie entspannt sich nach wenigen Sekunden, ihr Atem geht gleichmäßig und mir ist, als strömen Bilder aus fernen Zeiten und fernen Ländern in mich.
Ich schließe meine Augen, und wir jagen Seite an Seite dahin, hetzen die Meute, begleiten die Herden, ruhen am Lager.
Wir sind zusammen, und wir sind glücklich.


Boris



Der Sommer endete früher als sonst.
Boris spürte es an seinem Fell. Die Wolle unter den störrischen Deckhaaren wurde dicker, bevor der Erntemond rundete.
Boris kannte den Kalender nicht. Aber er wusste, dass die Herde nach dem ersten vollen Mond, der auf die Schneeschmelze folgte, in die Berge zog und dass der erste volle Mond nach der großen Sommerhitze das Signal zum Abstieg gab. Wenn Boris zählen könnte, hätte er ganz einfach gesagt:
„Nach dem fünften Vollmond beginnt der Heimweg.“
Boris war ein Hund und Rudelführer der Owtscharki. Sie hatten die Herden im Frühjahr hinauf zu den Hochwiesen und im Herbst wieder hinunter ins Tal und schließlich bis zum Dorf zu begleiten.
Während des Sommers war nicht viel zu tun. Die üblichen Rundgänge und Erkundungen. Allgemeine Vorsichtsmaßnahmen, wie sie bei jeder Weide immer gemacht wurden, nichts Aufregendes.
Ganz eindeutig kam der Winter zu früh.
Der Mond war noch nicht einmal halb, da pfiff der Wind bereits grimmig durch die Berge und zwickte die Hunde in ihre dicken Nasen. Eines Morgens lag der erste Schnee.
Aufgeregt liefen die Hirten im Lager umher und begannen, in Windeseile alles einzupacken und für den Rückweg fertig zu machen. Viel war es bei keinem. Jeder hatte rasch seine Habseeligkeiten zusammengesucht und in den Satteltaschen verstaut.
Decken wurden zusammengerollt, Bündel geschnürt, Packpferde beladen. Jeder Handgriff musste sitzen. Eine Nachlässigkeit konnte sich später bitter rächen. Zuletzt wurden die Zelte abgebaut und aufgeladen.
Es war nicht gut, überhastet den Heimweg anzutreten. Um den Abtrieb gründlich vorzubereiten, brauchten sie eigentlich ein, zwei Tage. Aber wie es aussah, hatten sie nicht einmal mehr einen Tag. Der Wind blies immer heftiger und brachte von Stunde zu Stunde mehr Schnee. Wenn sie länger warteten, kamen sie gar nicht mehr weg. Das bedeutete den sicheren Tod für alle. Boris spürte das und war bereit. Das Rudel hatte sich zusammengefunden. Alle waren gesund und kräftig.
Das Aufbruchsignal fand jeden an seinem Platz.
Tschaika und Ina, die beiden dunklen Hündinnen, liefen mit Igor der Herde voraus. Ein Angriff von vorn war zwar kaum zu befürchten, doch musste man auf alles vorbereitet sein. Boris hatte seine beiden älteren Schwestern an die Spitze geschickt. Tschaika war fast so stark wie er und wesentlich größer als die etwas zierlichere und jüngere Ina.
Zierlich ist bei der Beschreibung eines Kaukasischen Owtscharkas allerdings der falsche Ausdruck. Diese Hunde sind ausnahmslos breitbrüstig und wuchtig ohne schwerfällig zu wirken. Voller Kraft und Selbstbewusstsein kennt jedes Mitglied des Rudels seine eigene Stärke und ordnet sich nur dem Rudelführer unter.
Boris duldete keinen Widerspruch und bestand auf Durchführung aller Anordnungen, denn davon hing das Schicksal der Herde ab. Das Rudel erkannte seine Überlegenheit in jeder Beziehung an.
Wäre Boris heutzutage auf einer Ausstellung gezeigt worden, hätte er sämtliche Preise errungen. Er war ein Prachtexemplar, das Musterbeispiel eines Herdenschutzhundes. Mit knapp ein Meter Schulterhöhe und fast zwei Zentner Körpergewicht war er der größte, stärkste und wohl auch der klügste Hund im Rudel. In seinem langhaarigen Fell wetteiferten schwarze und braune Strähnen miteinander um die Vorherrschaft auf grauem Grund. Zwei kurze Stummel standen als Ohren an seinem breiten Schädel.
Die ursprünglich schönen, langen Schlappohren, mit denen Owtscharki auf die Welt kommen, sind sehr gut durchblutet und brauchen nach einer Verletzung lange Zeit zum Heilen. Diesem Problem gingen die Hirten aus dem Weg, indem sie den jungen Hunden kurzerhand die Ohren abschnitten.
Boris befand sich im besten Alter. Ein Pferd in vollem Galopp warf er mühelos zu Boden und nahm es leicht mit drei, vier Wölfen gleichzeitig auf. Aber nicht allein seine überragende Kraft machte ihn zum Rudelführer. Er war auch sehr klug, konnte jede Situation blitzschnell einschätzen und entsprechend reagieren. Ein einziges Mal nur hatte Boris eine falsche Entscheidung getroffen. Allerdings hatte er damals noch nicht das Rudel geführt.
Igor war mit seinen vier Jahren gerade erwachsen und ab und an noch ein rechter Heißsporn. Boris war sich sicher, dass seine beiden Schwestern gut auf ihn achtgaben und ihn, wenn nötig, mit einem kräftigen Stups zur Ordnung rufen würden.
Rechts und links der Herde ging jeweils ein Rüde mit einer Hündin, alles kluge und erfahrene Hunde.
Die Nachhut bildeten vier Owtscharki, zwei Paare. Sie hatten die verantwortungsvollste Aufgabe. Wenn es zu einem Angriff kommen sollte, so würde der von hinten erfolgen. Das war bisher immer so gewesen. Boris hatte die erfahrensten Rudelmitglieder an diesen Posten beordert. Bei einem Überfall der Grauen war Klugheit wichtiger als Stärke.
Und sie würden kommen.
Nicht heute, nicht morgen, aber kommen würden sie.
Boris hatte schon einmal einen Abtrieb im Schnee mitgemacht. Damals noch jung und unerfahren wie Igor heute, aber genauso stark und mutig wie dieser, hatte er im Kampfesrausch einen entscheidenden Fehler begangen. Wieviel Zeit auch ins Land gehen mochte, er würde es niemals vergessen.
Es war der Tag an dem sein Vater starb.
Sechs Wölfe waren damals gleichzeitig über den Rudelführer hergefallen. Nannuk, sein Vater, hatte heldenhaft gekämpft und drei der Angreifer mit in den Tod genommen, bevor er, aus hundert Wunden blutend, zu Boden gegangen war. Blind vor Wut war Boris mit dem gesamten Rudel heran gerast gekommen. Wieder sah er den riesigen, einäugigen Wolf vor sich, als dieser den Kopf hob, die Schnauze rot von Nannuks Blut. Er sah Triumph in dem kalten Auge, der ungläubigem Staunen wich, als ihn die Wucht des Aufpralls zu Boden riss und Boris seine Kehle zerfetzte.
Im Handumdrehen machten sie nieder, was sich ihnen in den Weg stellte und verfolgten den Rest der Angreifer, die als scheinbar unbeteiligte Zuschauer dem Gemetzel zugesehen hatten und nun ihr Heil in der Flucht suchten.
Was für eine Dummheit!
Wer fragte später noch danach, dass sie jeden der Flüchtigen eingeholt und getötet hatten? In seiner Wut hatte sich das führerlose Rudel von der Herde weglocken lassen. In der Zwischenzeit war die Hauptmacht der Wölfe über die Rinder hergefallen, hatte sie in Panik versetzt und in alle Winde zerstreut. Die Hirten konnten zwar etliche der Angreifer töten, waren dem Chaos aber machtlos ausgeliefert. Als Boris mit dem Rudel zurückgekommen war, war alles schon vorbei. Ein Drittel der Tiere war tot oder verschwunden. Der Rest fand sich nach und nach wieder ein, wurde von den Hütehunden herangetrieben, von den Hirten eingefangen.
Ein schwerer Schlag.
Alles nur, weil sie auf den ältesten Trick der Wölfe hereingefallen waren. Das durfte nicht noch einmal passieren. Sollten sie nur kommen. Das Rudel war bereit und stark wie nie zuvor.
Als die Herde aufbrach, hatte die Sonne ihren Abstieg bereits begonnen. Viel Zeit blieb nicht mehr bis zur Dunkelheit. Die Hirten hofften, heute noch etliche Meter nach unten zu kommen und so dem Schnee davonzulaufen. Alles klappte wie am Schnürchen. Die ausgeruhte Herde lief willig mit. Ringsumher blieb alles ruhig. Zwar tat Eile Not, doch hüteten sich die Hirten, die Herde zu hetzen. Bei einem Treck im Eilmarsch werden die Tiere rasch nervös. Dann genügt oft eine kleine Unvorsichtigkeit, ein laut brechender Ast, ein polternder Stein, und alles gerät in Panik. Nichts und niemand kann die dann ausbrechende Herde aufhalten.
Durch ein zu hohes Tempo würden die Tiere auch unnötig geschwächt. Schließlich lagen noch gut zwölf Tage anstrengender Weg vor ihnen. Wenn das Wetter so weiterging, konnten es leicht fünfzehn Tage oder sogar noch mehr werden.
Während sich die anderen nicht direkt an der Herde aufhielten, sondern mehr oder weniger ausschwärmten, um so eine mögliche Gefahr rechtzeitig zu erkennen, lief Boris mit den Tieren, dicht neben Kasim, dem alten Hirten. Wie Boris war dieser Mann ebenfalls ein erfahrener Führer. Seinen schmalen Augen, die wachsam unter buschigen Brauen hervorblitzten, entging nicht die geringste Kleinigkeit. Boris konnte sich darauf verlassen, wenn das Rudel etwas übersah, was allerdings sehr unwahrscheinlich wäre, der Alte würde es bemerken.
Der erste Tag ging rasch zur Neige. Sie waren nicht sehr weit gekommen. Ohnehin sollte es nur ein Anlauf sein, ein Schwungholen. Wie die Herde wirklich lief, würde sich morgen zeigen. Boris ging die Runde ab und fand jeden an seinem Platz. So musste es sein, er war zufrieden. Bis zu ihrer Ankunft im Dorf würde sich das Rudel nicht wieder zusammen finden.
Die Hirten stiegen steif von ihren Pferden. Nach der langen Sommerpause war so ein anstrengender Ritt doch recht ungewohnt. Auch die Reittiere mussten sich erst dem veränderten Rhythmus anpassen. Aber schon bald würden alle wieder ihre alte Form gefunden haben.
Unter der dünnen Schneedecke fand sich noch reichlich Grün, so dass die Herde ihren Hunger stillen konnte. Am flackernden Feuer sprachen die Hirten über die nächste Zeit.
Schwere Tage standen bevor, aber wenn nicht viel mehr Schnee fiel, der Wind nicht allzu heftig blies und die Wölfe nicht kämen, schafften sie es noch, bevor die große Kälte hereinbrach.
Alle Anzeichen sprachen für einen sehr langen und strengen Winter.
Boris lag neben dem Alten. Er hatte die Augen geschlossen. All seine Sinne waren in die Nacht gerichtet. Ihm entging kein Geräusch. Die Hand des Alten fuhr liebkosend durch sein dichtes Fell. Boris streckte sich zufrieden. Alles blieb ruhig. Die Herde schlief.

*****



Brummig lief der alte Wolf hin und her.
Er war schlecht gelaunt, sehr schlecht gelaunt sogar. Seit Tagen schon gab es nichts Vernünftiges zu beißen und obendrein hatte es angefangen zu schneien. Das bedeutete, sie konnten hier bald gar nichts mehr finden, kein Reh, keinen Bock, nicht einmal mehr einen Hasen.
Es würde grimmig kalt werden und erst wieder aufhören zu schneien, wenn das Land unter einer dichten, weißen Decke begraben war. Also mussten sie hinunter ins Tal, wo noch einigermaßen Aussicht auf Beute bestand. Allerdings drohte im Tal die Gefahr, von den Hirten oder ihren grässlichen Hunden erwischt zu werden, falls sie sich zu sehr in deren Nähe begaben.
Wenn der Schnee später meterhoch lag, trauten sich die Menschen mit ihren zottigen Ungeheuern nicht mehr weit von den Dörfern weg. Dann waren die Wölfe uneingeschränkte Herrscher der Berge und Täler. Bis dahin musste man auf der Hut sein.
Nahe den Menschen und ihren Häusern war es aber immerhin möglich, dass sich eine Ziege, ein Schaf oder eine andere leckere Beute nach draußen verirrte.
Noch besser wäre es allerdings, wenn sich einer dieser verhassten Hunde allein und weitab vom Dorf erwischen ließe. Den würden sie bei lebendigen Leibe auffressen, ganz egal wie stark er auch sein mochte. Auch um den Preis vieler Verwundeter und sogar Toter wäre es ihm ein Fest, über so einen Teufel herzufallen.
Einauge zog unwillkürlich die Lefzen hoch und knurrte.
Als junger Wolf hatte er aus der Ferne mit ansehen müssen, wie diese Hunde über seinen Vater und andere Wölfe hergefallen waren und sie gnadenlos getötet hatten. Damals hatte er blutige Rache geschworen, und im Laufe der Jahre waren etliche Hunde diesem Schwur zum Opfer gefallen. Wenn er nur daran dachte, kam Wut in ihm hoch. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Aus dem Knurren wurde ein tiefes Grollen, das an ein noch fernes, langsam heranziehendes Sommergewitter erinnerte.
Der Wolf war ein ungewöhnlich großes Tier und erinnerte in seiner Erscheinung eher an einen nordamerikanischen Timberwolf als an einen Grauen dieser wilden Berge. Unter der breiten Brust spielten kräftige Muskeln. Seine dicken Pfoten hinterließen tiefe Abdrücke im frischen Schnee und weckten keine Lust auf nähere Bekanntschaft.
Von Geburt an nur ein Auge, kam er mit dieser Behinderung sehr gut zurecht. Er kannte es nicht anders. Das tiefschwarze, zottige Fell verlieh ihm, auch wenn er gut gelaunt war, ein furchterregendes Aussehen. Wenn dem ahnungslosen Wanderer die mächtigen Reißzähne entgegenblitzten und ihm übelriechender Atem anwehte, glaubte jener, die Hölle habe sich aufgetan und der Leibhaftige wäre gekommen, ihn zu holen. So mancher hatte den kalten, gelben Blick des Wolfsauges als letztes Bild mit in eine andere Welt genommen
Einauge spürte einen leichten Stups an der Seite. Die Wölfin, angelockt von seinen Tönen, war herbeigekommen und versuchte, ihn zu beruhigen. Sie kannte diese Stimmung bei ihm. Immer wieder leckte sie dem Wolf über die Schnauze, bis sich dieser mit einem kurzen Niesen abwandte und zum Waldrand lief.
Schon vor Tagen hatten sie begonnen, das Rudel zusammenzurufen. Zwar kamen von allen Seiten Antworten, aber noch war keine der Familien eingetroffen. Dabei wurde es langsam Zeit.
Der alte Wolf hasste solche Trödelei. Bei ihm musste alles zügig gehen. Das begriff die Jugend nicht.
Wieder hob er den Kopf zum Himmel und ließ ein langes Heulen hören. Dann lauschte er. Nichts. Nur der Wind blies ihm eine kalte Antwort um die Ohren. Einauge wollte sich schon abwenden, als er in der weißen Ebene vor sich dunkle Punkte bemerkte, die sich bewegten.
Na endlich!
Zufrieden trottete er zum Lager zurück, um es sich an einem windgeschützten Platz gemütlich zu machen.
Jetzt hieß es warten. Vor dem Abend waren sie bestimmt nicht hier. Im Laufe der Nacht und des nächsten Tages kam sicher der größte Teil des Rudels an. Es galt, keine Zeit zu verlieren. Wer noch fehlte, würde hoffentlich unterwegs zu ihnen stoßen.
Einauge wusste, dass die große Herde, die während des Sommers weiter unten auf den saftigen Wiesen geweidet hatte, schon vor einigen Tagen losgezogen war. Der Schnee hatte auch sie überrascht. Weit dürften sie aber noch nicht gekommen sein, und der Weg war lang. Wenn das Rudel morgen beisammen war, konnten sie noch in der Nacht aufbrechen und die Herde einholen, bevor diese das Tal erreichte. Das bedeutete Fleisch und nochmals Fleisch. Vorausgesetzt, es waren nicht so viele Hunde dabei und die Hirten nicht so flink mit ihren Gewehren.

*****



Seit Stunden hetzten sie auf der Spur dahin. Die Herde kam schneller voran als ihnen lieb war. Jedoch verringerte sich die Distanz mehr und mehr. Sie konnten die Tiere schon riechen. Das machte ihren Hunger noch größer als er ohnehin schon war.
Gestern rissen sie ein verirrtes Rind.
Es kam selten vor, dass ein Tier alleingelassen, aufgegeben wurde. Sicher hatte keiner der Hirten und der Hunde sein Zurückbleiben bemerkt. Sein Pech.
Das Fleisch reichte nicht für alle. Einige Wölfe bekamen nur Knochen ab. Auch um diese wenig begehrten Beutestücke wurde erbittert gestritten.
Es war eine schwere Zeit.
Der Wind wehte beständig von der Herde zu ihnen. Das war gut. So konnten die Hunde keine Witterung aufnehmen.
Jetzt nur keinen Fehler machen.
Würden sie entdeckt, wäre es mit einem Überraschungsangriff vorbei, und nur der versprach Erfolg.
Das Rudel hatte eine beachtliche Größe erreicht. Wenn Einauge hätte zählen können, wäre er auf achtundzwanzig Wölfe gekommen. Auf einen offenen Kampf mit Hirten und Hunden durften sie sich aber nicht einlassen. Dazu müssten sie doppelt so viele sein. Selbst dann wäre es sehr riskant.
Einauge wollte seine alte, bewährte Taktik anwenden. Einen Scheinangriff von der Seite her, um die Hirten abzulenken, eine Flucht, um die Hunde wegzulocken und dann mit aller Macht versuchen, einen Teil der Herde abzudrängen, in die Berge zurückzujagen.
Den Rest der Tiere mussten sie in Panik versetzen, damit diese in wilder Flucht davonrannten. Das hatte schon oft funktioniert.
Zum Überleben brauchten sie mindestens fünfzehn Rinder. Hauptsache, seine Wölfe fingen nicht an, in wilder Gier die Beute an Ort und Stelle zu reißen und zu fressen. Dazu war später Zeit.
Einauge hoffte immer noch, Verstärkung zu erhalten. Offenbar hatten weniger Wölfe den Sommer überlebt als angenommen. Jungtiere sah er kaum. Nun, das war kein Nachteil. Die hatten ohnehin keine Erfahrung und brachten in ihrem Übereifer alles durcheinander. Nur wenn sie schnell handelten und Glück hatten, gab es bald genug Fleisch für alle. Damit keiner die List durchschaute, mussten für das Ablenkungsmanöver mindestens acht bis zehn Wölfe eingesetzt werden. Viele aus dieser Gruppe würden nicht zurückkommen.
Einauge lag auf einem Felsvorsprung und sah den Abhang hinunter. Weit unter ihm lagerte die Herde. Die Feuer der Hirten flackerten als winzige, rote Punkte durch die Nacht. Er roch den Rauch. Zwei, drei Stunden schneller Lauf, und sie wären da.
Der Wolf dachte nach.
Brachte es Erfolg, die Herde bei Nacht in ihrem Lager anzugreifen? Die Menschen sahen in der Dunkelheit nicht gut. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Aber sie konnten mit Feuer nach ihnen werfen. Vor dem Feuer hatten die Wölfe eine unergründliche Angst. Wo ein Feuer brennt, wagt sich selten ein Wolf hin. Das war seit Urzeiten so. Also blieb es bei dem alten Plan.
Wenn sie am Laufen war, ließe sich leichter ein Teil von der Herde abdrängen. Sie brauchten nur deren Schwung auszunutzen, ihnen eine neue Richtung geben und fertig. So einfach war das. Leider gab es zwei Dinge, die alles etwas schwierig machten; Hunde und Hirten.
Der Wolf beging nie den Fehler, seinen Gegner zu unterschätzen. Dadurch erkannte er einen Hinterhalt schon von weitem. Er roch die Falle förmlich. Diese Fähigkeit rettete ihn immer wieder aus scheinbar auswegloser Situation. Er wusste auch, wann es besser war aufzugeben und zu fliehen, statt weiter zu kämpfen.
Einauge legte seinen Kopf auf die Vorderpfoten. Er ließ den Eindruck des fernen Lagers auf sich wirken. Seit dem letzten Morgen schneite es nicht mehr. Der Wind wehte zu ihm hoch und brachte den Geruch des Lagers mit. Tief sog er die Luft in seine Lungen. Nein, heute Nacht würden sie die Herde nicht angreifen. Auch morgen nicht. Es war einfach besser, zu warten.
Die Luft war kalt und klar. Über den Bergen spannte sich in tiefstem Schwarz der Himmel von einem Ende der Welt zum anderen und war übersät mit tausend und aber tausend Diamanten. Hier oben schienen die Sterne zum Greifen nah. Mit ihrer Pracht verzauberten sie das Land. Bis zum Morgen würde die Temperatur weiter gefallen sein. Die Berge wollten Mensch und Tier aus ihrem Reich vertreiben und riefen dafür den Nordwind zu Hilfe. Der eilte auch bereitwillig herbei und sang seit Tagen sein eisiges Lied.
Die Wölfin kam heran. Sie legte sich neben Einauge auf den Fels. Beide schauten mit funkelnden Augen in die Tiefe. Die Kälte machte ihnen nichts aus. Für die Schönheit der Nacht hatten sie keinen Blick. Dort unten war Fleisch, das sie schon bald aus warmen Leibern reißen und gierig hinunterschlingen konnten. Unter ihren starken Kiefern würden Knochen brechen und heißes Blut würde fließen.
Heute nicht, morgen nicht - aber bald.

*****



Die Herde befand sich seit Tagen auf dem Marsch und hatte ein gutes Stück des Weges zurückgelegt. Es ging zügig voran. Bis zum Dorf brauchten sie keine sieben Tage mehr.
Der Treck fiel nicht besonders schwer. Achtgeben musste man freilich. Unter dem frischen Schnee ließen sich die knotigen Wurzeln der Bergkiefer, die kleinen Löcher der Murmeltiere und alle anderen Hindernisse nicht erkennen. Ein Fehltritt konnte böse Folgen haben.
Am Rand einer weiten Ebene, die Berge im Rücken, schlugen die Hirten das Lager auf. Ganz in der Nähe floss ein Bach. An seinen Rändern hatte sich eine dünne Eisschicht gebildet.
Ehrfurchtsvolle Stille lag über dem Land. Die Luft war klar. Am wolkenlosen Himmel funkelten die ewigen Sterne und mahnten zur Demut.
Schweigend saßen die Hirten am Feuer. Wenn sie morgen das vor ihnen liegende Plateau überquert hatten, begann der letzte Abstieg. Dann waren die Ausläufer des Gebirges erreicht und der Weg wurde leichter. Die Menschen hingen ihren Gedanken nach, rauchten und sahen dem Flammenspiel zu.
Boris lag neben dem Alten, hatte die Augen geschlossen und lauschte dem Knacken der Äste im Feuer. Nahe wagte er sich nicht an den heißen Ring. Dort war es ihm zu ungemütlich.
Mit dem Hirten verband ihn eine stille Freundschaft. Er kannte diesen Menschen seit seiner Geburt. Von Anfang an hatte er sich zu ihm hingezogen gefühlt. Wann immer es die Arbeit erlaubte, hielt er sich in seiner Nähe auf und wurde oft mit einem Blick, einem Wort, einer Liebkosung bedacht.
Boris war ein aufmerksamer Beobachter. Schon nach kurzer Zeit verstand er die Worte und Gesten des Alten. Es erfüllte ihn mehr und mehr mit Freude, wenn dieser ihn zufrieden lobte. Gern lag er, so wie jetzt, neben ihm am Feuer und lauschte auf seine Gedanken.
Plötzlich hob er den Kopf.
Was war das?
Der Hund kam hoch, ging ein paar Schritte vom Feuer weg und schaute sich aufmerksam um.
Jemand sah ihn an. Jemand, der nicht zur Herde gehörte, der sein Feind war. Boris spürte den brennenden Blick. Es war unangenehm, fast bedrohlich. Er entfernte sich weiter von dem schützenden Lichtkreis und lauschte in die Nacht. Außer dem Knistern der unberührten Schneedecke war nichts zu hören.
Obwohl er seine Runde heute schon gemacht hatte, lief der Owtscharka noch einmal das Lager ab. Er kontrollierte jeden Posten, lauschte, schnupperte, spähte.
Nichts!
Vor ihm türmten sich die Berge bis in den Himmel. Weit darüber leuchteten die Sterne.
Hatte er sich getäuscht?
Nein!
Sie wurden beobachtet, er spürte es ganz deutlich. Etwas geschah.
Die aufgehende Sonne fand die Herde wach. Jede Stunde des knappen Tageslichtes musste genutzt werden. Kasim gab das Signal zum Aufbruch. Die Herde lief los.
Zwei Stunden später kamen die Wölfe!
Sie verzichteten auf Scheinangriff und Ablenkung. Ihr Rudel war stark genug, es mit Hirten und Hunden aufzunehmen.
Boris hatte nie geglaubt, dass es so viele Wölfe auf einmal geben könnte. Sie waren überall.
Die Angreifer fielen gleichzeitig von beiden Seiten in die Herde ein und drängten im Handumdrehen einen Teil der Tiere ab. Bevor sich die Hirten von ihrem Schreck erholen konnten, sahen sie zwei Herden vor sich. Die größere von beiden rannte in panischer Angst den eingeschlagenen Weg weiter. Igor und die beiden Hündinnen konnten sich gerade noch rechtzeitig vor den Rinderhufen in Sicherheit bringen.
Die Tiere waren nicht aufzuhalten. Sollten sie rennen! Irgendwann würden sie von selbst stehen bleiben. Zum Glück führte der Weg nur noch leicht bergab, keine Schluchten, keine Spalten, nur Wald und dichtes Unterholz. Jedoch durften sie die fliehenden Rinder nicht völlig ihrem Schicksal überlassen. Wer weiß, wohin sie dann schließlich laufen würden. Einige der Hirten und alle Hütehunde galoppierten den Flüchtenden hinterdrein. Die anderen stellten sich dem Feind zum Kampf. Einem Kampf auf Leben und Tod.
Das war nicht übertrieben. Die Wölfe waren weit in der Überzahl. Sie waren stark, und sie waren ausgehungert. Das machte sie doppelt gefährlich. Ein vor Hunger fast wahnsinniger Wolf kämpft bis zum Tod um die Beute. Wenn er die nicht bekommt, muss er sowieso sterben. Darum kann er nicht aufgeben.
Jedoch ließen sich die Grauen nicht sofort auf einen Kampf ein und rissen auch trotz ihres fürchterlichen Hungers keines der Tiere. Sie mussten einen sehr klugen Führer haben.
Mit der Masse ihrer Leiber rannten sie die vierbeinigen Wachtposten kurzerhand um, spalteten die Herde und zwangen den hinteren Teil zur Umkehr.
Zwanzig, fünfundzwanzig Tiere drängten sie ab und jagten diese auf der eigenen Spur zurück in die Berge. Drei, vier Wölfe genügten, die Rinder am Laufen zu halten. Die restlichen Angreifer blieben stehen, bereit zum Kampf.
Die Pferde waren nicht zu beruhigen und somit das Schießen unmöglich. Wie leicht wäre ein Rind oder einer der Hunde getroffen.
Wo blieben nur Tschubuk und die anderen drei der Nachhut? Boris konnte sie nirgends entdecken. Vor sich sah er nur graue Wolfsleiber. Aus den Augenwinkeln erspähte er Igor mit Tschaika und Ina. Auch die beiden Paare, die rechts und links die Herde begleitet hatten, kamen heran. Die Wölfe bildeten eine dichte Mauer. Eine Mauer aus Krallen und Zähnen, aus Hass und Tod. Auf jeden Owtscharka kamen mindestens fünf Graue.
Boris rannte los.
Gleichzeitig mit ihm griffen die anderen Hunde an. Der Kampf begann.
Wie ein Rammsporn drang Boris tief in das Rudel der Angreifer ein und brachte die Mauer ins Wanken. Zwei Wölfe schleuderte er kurzerhand beiseite, zerriss einem dritten im Sprung die Kehle und rammte den vierten, dass dieser sich überschlug und betäubt liegen blieb. Boris schnappte nach rechts und links, war überall und nirgends, riss einen Wolf nach dem anderen zu Boden.
Er sah Tschaika und Igor kämpfen, hörte die Rufe der Hirten, das Wiehern der verängstigten Pferde. Es war ein Knurren, Bellen, Beißen und Sterben.
Plötzlich versank alles um ihn herum im Nichts. Er stand dem Anführer der Räuber gegenüber.
Es war der Wolf aller Wölfe.
Ein riesiges Tier, schwarz wie die Nacht, mit nur einem Auge und Mordlust in seinem Blick. Diesen Blick, da war sich Boris sicher, hatte er während der letzten Tage gespürt.
In seiner Erinnerung tauchte der einäugige Wolf auf, der seinen Vater getötet hatte. Er musste auferstanden sein. Boris war sich sicher, dem Mörder damals die Kehle durchgebissen zu haben.
Er sah und hörte nichts mehr. Er spürte nicht, wie ihm die Flanke aufgerissen wurde und sein heißes Blut in den Schnee floss, nahm nicht wahr, dass Tschaika den hinterlistigen Angreifer niedermachte, hatte keinen Blick für Ina, die mit aufgerissenem Bauch liegen blieb.
Der Schwarze stand vor ihm, und Boris wusste, in dieser Welt war kein Platz für sie beide.
Dumpfes Grollen drang aus seiner Kehle. Er spannte die Muskeln an und machte sich bereit für seinen größten Kampf.
Plötzlich fielen Schüsse. Der Schwarze Wolf sah hoch und erkannte sofort die veränderte Situation.
Der Kampf war verloren!
Er wandte sich zur Flucht.
Bevor er sich umdrehte und davon stürmte, senkte er seinen Blick in die Augen des Hundes. Boris spürte eine Nadel aus Eis in seinen Körper dringen.
Einauge jagte davon, und sein Rudel mit ihm.
Überall waren plötzlich Hunde und Menschen, die gnadenlos töteten, was nicht rechtzeitig das Heil in der Flucht suchte. Mit Äxten und langen Messern hieben die Hirten auf die Grauen ein. Die Hunde rissen sie zu Boden und brachten die Sache zu Ende.
Die Rettung kam in letzter Minute.
Das Dorf besaß zwei fast gleichgroße Rinderherden, die sich während des Sommers auf weit voneinander liegenden Hochweiden ihren Winterspeck anfraßen. Die zweite Herde hatte den Abstieg ins Tal früher begonnen und war schon einige Tage im Dorf. Die Hirten hatten alle Tiere untergebracht und sich, den Hunden und Pferden etwas Ruhe gegönnt. Als dann die Zeichen des nahenden Winters immer deutlicher wurden, beschloss man, der anderen Herde entgegenzueilen, um die Arbeit leichter zu machen und das letzte Stück Weg schneller zu bewältigen.
Unterwegs trafen die Männer auf die talwärts stürmenden Tiere. Sofort war allen klar, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Sie überließen die Rinder ihrem Schicksal. Die würden sich schon müde laufen.
Der Weg war nicht zu verfehlen. Die in Todesangst galoppierende Herde hatte eine breite Schneise durch das Unterholz getrampelt. Die Hirten trieben ihre Pferde an und schickten die Hunde voraus.
Viel später hätten sie nicht kommen dürfen.
Der Platz war übersät mit toten Tieren. Zwanzig, fünfundzwanzig Wölfe lagen in ihrem Blut, aber auch sieben Hunde waren dabei. Zwei fremde und fünf aus dem eigenen Rudel. Ein hoher Preis. Traurig leckte einer Inas Schnauze. Sie würde nie wieder aufstehen. Auch Tschubuk und die drei anderen der Nachhut waren tot. Alle Hunde des Rudels hatten mehr oder weniger schwere Wunden davongetragen und konnten nicht an der Verfolgung der Räuber teilnehmen, zu der jetzt die Hirten aufbrachen. Mit ihnen liefen die Wächter der zweiten Herde.

*****



Außer sich vor Wut floh Einauge dem Rudel voran, weiter und weiter. Sie liefen um ihr Leben.
Dem schwarzen Wolf hing die Zunge seitlich aus dem Maul, und der Wind holte weiße Schaumflocken aus seinen Lefzen. Von den scharfen Krallen seiner schweren Pfoten wurden kleine Erdstücke aus dem gefrorenen Boden gerissen und weit nach hinten geschleudert. Mehr als je zuvor glich er einem Dämon. Schwarz und riesig jagte er dahin.
Wehe dem, der sich ihm in den Weg stellte. Er schnappte nach rechts und nach links, wenn ihm einer seiner Gefährten zu nahe kam. Selbst die Wölfin erhielt einen Biss, weil sie ihn versehentlich im Lauf berührte.
Als der Tag erwacht und die Sonne am Himmel hochgeklettert war, schien alles noch so einfach. Sie hatten keine Zweifel an ihrem Sieg, der ihnen Fleisch bringen würde.
Und nun?
Besiegt, verwundet und mehr tot als lebendig flohen sie vor dem Feind.
Dabei hatte alles wunderbar begonnen. Sein Plan funktionierte ausgezeichnet. Es war gut, dass sie noch einen Tag gewartet hatten. Drei Familien kamen noch zu ihnen und verstärkten das Rudel erheblich. Sie waren jetzt so viele, dass sich Einauge entschloss, sofort und mit aller Macht die Herde anzugreifen, ohne erst viel Zeit mit Ablenkungsmanövern zu vergeuden. War dies ein Fehler? Nein, sie hatten keine Fehler gemacht!
Die Überraschung gelang. Zwei der vier Hunde hinter der Herde ließen sich in eine Falle locken. Mit ihnen hatten sie leichtes Spiel. Die beiden anderen wehrten sich verzweifelt, waren aber gegen die Übermacht chancenlos.
Wie ein Blitz aus heiterem Himmel waren sie in die Herde eingebrochen.
Die Formation zu teilen und davonzujagen war ein Kinderspiel. Doch dann war alles schiefgelaufen. Auf einmal waren da viel mehr Menschen und Hunde als vorher. Sie schossen in das Rudel, erschlugen viele graue Brüder und hätten wohl alle getötet, wären sie nicht geflohen. Dabei hatte Einauge kurz davor gestanden, seinen Racheschwur mit dem Tod des Mörders seines Vaters zu krönen. Aber das war nur aufgeschoben. Er würde ihm wieder einmal begegnen!
Die schon sicher geglaubte und dringend benötigte Beute besaßen sie zudem auch nicht mehr. Etliche Rinder stürzten einen steilen Abhang hinunter. Vielleicht konnte man sie später holen. Die anderen blieben vor Erschöpfung einfach stehen und mussten aufgegeben werden, weil ihnen die Verfolger dicht auf den Fersen waren.
Was für ein hässlicher Tag!
Mindestens zwei Drittel des zuvor so stolzen und starken Rudels war getötet worden. Der Rest hetzte blutend und hinkend in die Berge zurück, wo es nichts zu fressen gab. Einauge hielt an. Sie konnten einfach nicht mehr laufen. Auch der stärkste Wolf wird irgendwann müde, noch dazu wenn der Hunger schmerzhaft in seinen Eingeweiden wühlt.
Schon lange hatten sie die letzten Bäume hinter sich gelassen und waren durch die Krummholzzone höher und höher gelaufen. Jetzt trafen ihre Pfoten schmerzhaft auf kantigen Fels unter dem Schnee.
Der Wolf kletterte auf einen Gesteinsbrocken und spähte zurück. Weit und breit war nichts zu sehen. Seit Stunden schon spürte er keine Verfolger mehr. Er glaubte auch nicht, dass die Menschen noch weiter in die Berge ritten. Die mussten ihre Rinder wieder zurückbringen. Wenn Einauge daran dachte, lief ihm das Wasser im Maul zusammen und sein Magen meldete sich wieder. Falls sie nicht schnellstens etwas zwischen die Zähne bekamen, würden sie bald gar nichts mehr brauchen. Der Kampf und die Flucht hatten ihre letzten Kraftreserven aufgebraucht.
Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Tief mit sich selbst und den vergangenen Stunden beschäftigt, hatte der Wolf nicht auf die Umgebung geachtet. Sein sonst so perfekt funktionierender Organismus reagierte zu spät. Er wurde von der Lawine erfasst und viele hundert Meter in die Tiefe gerissen.
Die Lawine kam überraschend, und sie war viel zu schnell. Den müden, verletzten Tieren blieb keine Zeit, sich vor ihr in Sicherheit zu bringen. Der Schnee riss sie von den Beinen, trug sie den Hang hinunter und begrub sie unter sich. Nach ein paar Sekunden war alles vorbei.

*****



Langsam und vorsichtig schlich ein grauer Schatten über den frischen Schnee. Er schien etwas zu suchen. Immer wieder hielt er an, schnupperte und kratzte Löcher in die weiße Decke.
Die Wölfin war verletzt. Ihr Körper wies Bisswunden auf, die eben erst verschorften. Das Fell war verdreckt und mit geronnenem Blut verklebt. Damit aber nicht genug. Die Lawine hatte sie mehrere hundert Meter weit zu Tal gerissen. Dabei war sie einige Male hart gegen Felsbrocken geprallt und hatte sich mindestens drei Rippen gebrochen. Jeder Atemzug tat ihr weh.
Trotz der Schmerzen gab sie die Suche nicht auf. Schließlich wurde ihre Ausdauer belohnt. Durch die Schneeschicht roch sie Leben. Sie begann zu graben. Mehr und mehr Schnee flog aus dem größer werdenden Loch. Tiefer und tiefer drang sie in die feste, weiße Decke ein. Ihr Atem ging immer schneller. Die Schmerzen in der Brust wurden unerträglich. Plötzlich sah sie schwarzes, zottiges Fell und fiepte aufgeregt. Das Fell bewegte sich.
Einauge erwachte in völliger Dunkelheit. Über ihm lag meterhoher Schnee. Er konnte sich nicht bewegen, sah nichts, roch nichts, fühlte nichts. Ihm war nicht einmal kalt. Er lag gefangen im Schneebrett, das vor Stunden vom Gipfel gekommen war und ihn begraben hatte.
Einauge machte die Erfahrung der absoluten Hilflosigkeit. Nicht einmal die Pfoten konnte er bewegen. Der Wolf dachte an nichts. Er wartete.
Ein leichtes Geräusch ließ seine schläfrig gewordenen Sinne hellwach werden. Das Kratzen und Schaben wurde lauter. Einauge spannte alle Muskeln an, versuchte, sich zu bewegen.
Plötzlich spürte er am Rücken eine Berührung.
Ein kurzer, kräftiger Ruck: Der Wolf war frei!
Vor ihm stand seine Wölfin.
Ihre Freude war offensichtlich. Immer wieder leckte sie ihm die Schnauze und gab leise, quiekende Töne von sich. Der Wolf versuchte, die steifen Glieder zu bewegen. Nur langsam kehrte das Gefühl in seinen Körper zurück. Mit dem Gefühl kamen die Schmerzen. Jeder einzelne Knochen, jeder Muskel tat ihm weh. Ernsthaft verletzt war er nicht, aber übersät mit Beulen, Prellungen und Blutergüssen. Es würde lange dauern, ehe er wieder richtig laufen und jagen konnte. Ausgerechnet jetzt!
Sie suchten das Schneefeld ab, fanden aber nur einen toten, schon steifen Wolfskörper dicht unter der Schneedecke. Er war schnell verschlungen und lieferte ihnen die dringend benötigte Energie. Außer ihnen hatte keiner vom Rudel die Lawine überlebt.
Vorsichtig machten sie sich an den Abstieg. Immer wieder hielten sie dabei an, weil die Wölfin vor Schmerzen nicht weiterlaufen konnte. Im Gegensatz zu ihr erholte sich Einauge erstaunlich schnell. Nach wenigen Tagen schon spürte er nur noch ein leichtes Ziehen in seinem Körper. Als sie später weiter unten zwischen den lichten Baumreihen einen zweiten, toten Wolf fanden und gefressen hatten, kehrte seine Kraft vollständig zurück.
Er war ein Wunder der Natur. Einhundertundachtzig Pfund Muskeln, Fleisch und Sehnen. Kein Gramm Fett zuviel und hochentwickelte Instinkte, von Generation zu Generation verfeinert. Ein Paradebeispiel für natürliche Auslese im Überlebenskampf.
Seine Gefährtin hatte länger mit ihren Verletzungen zu kämpfen. Die Bisswunden heilten langsam aber immerhin, sie taten es. Die Schmerzen in der Brust jedoch ließen einfach nicht nach. Eine der gebrochenen Rippen war zersplittert. Die einzelnen Teile wanderten in ihrem Fleisch langsam nach außen und taten bei jedem Schritt höllisch weh. Irgendwann würden die Stücke aus ihrem Körper herauseitern. Bis dahin musste sie es eben ertragen. Dies tat die Wölfin mit bewundernswerter Selbstbeherrschung. Nur manchmal, wenn die Schmerzen unerträglich wurden, blieb sie stehen, um neue Kraft zu schöpfen.
Am bewaldeten Hang entdeckten sie eine kleine Höhle, die niemandem gehörte. Groß genug für sie beide. Hier konnte der eisige Wind sie nicht erreichen. Wenn man jetzt noch etwas zu fressen finden würde, wäre dies der ideale Platz zum Überwintern.
Der Wolf zog täglich größere Kreise, aber das Glück war nicht auf seiner Seite. Nicht einmal ein Schneehase ließ sich blicken, von etwas Größerem ganz zu schweigen. Hartnäckig meldete immer wieder der Hunger zu Wort.
Die Wölfin war zu schwach, um Einauge auf seinen Streifzügen zu begleiten. Sie lag in der Höhle auf nacktem Fels und wartete geduldig auf seine Rückkehr.

*****



Boris wurde langsam wieder gesund.
Er lag in der großen Scheune auf einer weichen Decke und döste vor sich hin. Die Decke roch nach Pferd. Boris kannte diesen Geruch seit seiner Kindheit. Er mochte ihn. Als Welpe hatte er sich oft in den Ställen herumgetrieben. Musste er anfangs den Hufen der Reittiere noch ausweichen, weil diese bei seinem Erscheinen nervös zu stampfen begannen, so hatten sie sich schon nach kurzer Zeit an ihn gewöhnt. Wenn die Menschen den Owtscharka nirgendwo entdecken konnten, war er ganz bestimmt im Pferdestall zu finden.
Als Kasim ihn ins Dorf zurückgebracht hatte, ging es Boris sehr schlecht. Die Verletzung war groß und hatte sich entzündet. Der Hund fieberte. Vom hohen Blutverlust geschwächt, brachte sein Körper kaum die benötigten Abwehrkräfte auf.
Kasim war fast immer bei ihm. Dreimal am Tag säuberte er die Wunde und strich anschließend behutsam eine breiige Masse darauf, die angenehm kühlte. Danach wurde sorgfältig ein neuer Verband angelegt.
Nach zehn Tagen war Boris über dem Berg und spazierte wieder durchs Dorf. Neugierig schaute er in die Höfe, begrüßte alte Bekannte und ergatterte manch kleinen Leckerbissen.
Nun lag er auf seiner Decke, atmete den vertrauten Geruch und fühlte sich wohl.

*****



Von weither schwang ein langer, klagender Ton über das kalte Land.
Einauge!
Boris sprang auf, seine Nackenhaare stellten sich hoch. Aus seiner Kehle kam dieses dumpfe Grollen, das jedem einen Schauer durch den Körper jagte. Plötzlich war die Erinnerung an den vergangenen Kampf wieder da.
Boris sah sich am Berg dem Wolf gegenüber.

*****



Bevor sich die beiden Rudelführer aufeinander stürzen konnten, war alles vorbei. Mit Hilfe der herbeigeeilten Verstärkung schlugen Hirten und Hunde die Angreifer in die Flucht. Die Wölfe hatten keine Chance mehr. Einauge war klug genug, dies einzusehen und machte sich mit dem Rest seiner Grauen davon. Boris wollte hinterher, doch nach drei Sätzen knickte er mit dem Hinterteil weg und fiel schwer auf die Seite. Dann verlor er das Bewusstsein.
Die Hirten beratschlagten kurz, bevor der größte Teil von ihnen mit den unverletzten Hunden zur Verfolgung aufbrach. Sie durften keine Zeit verlieren. Wenn die Rinder auch bergan nicht so schnell liefen, so fachten die hetzenden Wölfe deren Angst immer wieder an. Irgendwann würden sie aber nicht mehr weiter können und einfach stehen bleiben. Falls die Hirten dann nicht schon bei ihnen waren, würden die Wölfe über sie herfallen und in ihrer Gier sämtliche Tiere reißen.
Die Hunde bluteten aus zahlreichen Wunden, aber keiner war ernsthaft verletzt. Alle konnten aus eigener Kraft weiterlaufen. Außer Boris. Kasim, der alte Hirte, zimmerte aus dünnen Stämmen eine Trage, die eines der Packpferde zog. Auf der Trage lag mit geschlossenen Augen Boris. Er atmete nur noch schwach. Sein Leben hing am seidenen Faden.
Eine Träne stahl sich aus Kasims Auge und rann ihm langsam über die Wange, bevor sie in seinem Bart gefror. Er mochte dieses Tier.
Die Hirten verband im allgemeinen keine besondere Beziehung mit ihren Hunden. Sie wurden gefüttert, bei Krankheiten gepflegt, ansonsten sich selbst überlassen. Natürlich war ein guter Hund viel wert. Die Owtscharki hielten den Herden die Räuber fern. Ohne sie wäre die Schlacht mit den Wölfen verloren gegangen. Aber es waren halt nur Hunde, weiter nichts.
Nicht so Boris.
Er fiel dem alten Hirten schon während seiner ersten Lebenswochen auf. Kasims kundiges Auge erkannte schnell, dass aus dem wuschligen Wollknäuel etwas Besonderes werden würde.
Der spätere Rudelführer verbrachte seine Welpenzeit fast nur in Kasims Nähe. Er durfte sogar in sein Haus, wenn auch der Alte dafür von allen belächelt wurde.
‚Ein Hund im Haus! Wo hatte man so etwas schon gehört?’
Kasim machte sich nichts aus den gutmütigen Spötteleien und gewann mit Boris einen treuen Freund.
Nun lag dieser Freund vor ihm, mehr tot als lebendig, und Kasim konnte nichts für ihn tun. Er hatte gesehen, wie sich die beiden Rudelführer gegenüberstanden und gehofft, einen guten Schuss anbringen zu können. Vergeblich! Ein Glück, dass die Wölfe fliehen mussten. Das Duell hätte der verwundete Hund verloren.

*****



Vier Tage später begrüßten die Frauen und Kindern des Dorfes jubelnd die Heimkehrer. Der Hauptteil der Herde war schon vor ihnen angelangt. Die Rinder liefen zwar langsam, hatten aber einen gehörigen Vorsprung. Sie selbst mussten oft Rast einlegen, weil die Hunde nicht schneller vorwärts konnten.
Jeder zeigte sich begierig, die Erlebnisse der anderen zu erfahren. Alle atmeten erleichtert auf, als Kasim vom guten Ausgang des Kampfes berichtete. Kasim und seine Begleiter fanden ihre Herde satt und zufrieden in den Ställen vor.
Nach zwei Tagen kam die dritte Gruppe mit dem Rest der Tiere.
Sie hatten noch einige Wölfe getötet, und dem Rest gehörig das Laufen beigebracht. Die gehetzten Rinder hatten sie bald eingeholt, ihnen einen Tag Ruhe gegönnt und sich dann auf den Heimweg gemacht, diesmal ohne Aufenthalt. Das Dorf hatte insgesamt acht Rinder verloren. Das war viel, doch angesichts aller Umstände zu verschmerzen.

*****



Der Winter hatte Mitleid. Er brachte weder neuen Schnee noch Eiseskälte. Selbst dem Wind gefiel es, sich zurückzuhalten.
Bald darauf feierte das Dorf ein großes Dankesfest.
Ochse und Hammel brieten am Spieß über dem offenen Feuer. In großer Runde erlebten alle die glücklich überstandenen Ereignisse noch einmal. Natürlich wurden die Erzählungen prächtig ausgeschmückt und mit heldenhaften Taten des Erzählers angereichert. Zustimmende Gesten und Worte begleiteten jeden Vortrag. Sie vergaßen während des Abends aber auch ihre tapferen Hunde nicht. Jeder von ihnen bekam einen extragroßen Knochen.
Als Kasim vom Schwarzen Wolf berichtete, erhob sich ein Raunen. Jeder hatte schon von dem einäugigen Dämon in Wolfsgestalt gehört. Wo der auftauchte, war das Unheil nicht weit. Alle hofften, dass er niemals wieder ihren Weg kreuzen möge.
Nach dem Fest zog Stille im Dorf ein. Der vorzeitige Winter zwang zur Ruhe. Die Tiere waren in den Ställen, Scheunen und Vorratskammern voll. Jetzt kam die Zeit der langen Abende, der Geschichten am Feuer, der Besinnung und der inneren Einkehr. Ruhe war nötig für Mensch und Tier, bevor die Vorbereitungen zur Jahreswendfeier begannen.

*****



Weit durch die kalte Winternacht schwang ein langer, klagender Ton. Der Schwarze Wolf stand am Steilhang und schickte mit hocherhobenem Kopf sein Lied zu den Sternen. Viele Nächte schon kam er hierher und rief immer wieder die gleichen Fragen in den Wind.
„Hört mich einer?“
„Brüder, wo seid ihr?“
„Ich warte auf euch!“
Eisiges Schweigen war bislang die einzige Antwort. Nun, er würde es morgen wieder versuchen. Sie mussten ein neues Rudel finden. Eine andere Möglichkeit, den Winter in den Bergen zu überleben, gab es nicht. Allein konnte man jetzt nicht jagen.
Einauge wandte sich ab und kletterte den Hang hinunter. Er hatte einen Pfad entdeckt, der es ihm erlaubte, jede Nacht hier hoch und wieder hinunter zu steigen.
Seit der verlorenen Schlacht und der vernichtenden Lawine waren viele Tage vergangen. Einauge zählte sie nicht.
Sie hielten sich mit allerlei Kleinigkeiten am Leben. Mal ein Schneehase, mal ein erfrorener Vogel, lauter Vorspeisen. Einmal stieß er wie durch ein Wunder auf einen Bau voller Murmeltiere. In windgeschützter Lage, tief unterm Schnee versteckt, war die Erde kaum gefroren. Einauge grub die Nager aus und würgte sie alle. Das gab ein wahres Festessen für sie beide. Sonst war Schmalhans Küchenmeister. Während seiner Streifzüge fand Einauge auf dem Boden der Schlucht eines der abgestürzten Rinder. Sogleich lief er zur Wölfin zurück, um sie hierher zu führen. Der Abstieg kostete sie zwar viel Kraft, jedoch wäre es selbst für so einen starken Wolf wie Einauge unmöglich gewesen, ihr ständig aufs neue von dem Fleisch zu bringen. Mit ihren kräftigen Kiefern brachen sie aus dem steinhart gefrorenen Körper Stücke heraus, die sie einfach hinunterschlangen. Im Magen würde das Fleisch schon auftauen.
Für einige Zeit waren die Wölfe also versorgt.
Sie vergrößerten eine Kuhle im Hang zu einer bescheidenen Unterkunft. Eine überhängende Riesenfichte bewahrte diese Wohnung vorm Zuschneien. Auch schützte sie vor dem Wind.
Von Tag zu Tag fiel mehr Schnee. Er konnte ihnen zwar nichts anhaben aber viel länger durften sie nicht bleiben. Wenn auch das Rind noch einige Tage Nahrung lieferte, einmal war selbst der reichlichste Vorrat aufgezehrt. Vielleicht lag dann schon so viel Schnee, dass sie nicht mehr aus der Schlucht herausfanden. Es wurde immer schwieriger, den schmalen Pfad bergauf zu laufen. Einauge schaffte es noch, für seine Gefährtin war der Aufstieg unmöglich. Noch gab es einen anderen, sicheren Weg nach draußen. Die beiden Grauen warteten nicht länger.
Einauge führte sie heraus.
Der Wölfin quälte sich durch den hohen Schnee. In ihrer Brust wütete noch immer der Schmerz.
Kurz, bevor der Weg sanft nach oben anstieg, fanden sie die Überreste eines weiteren Rindes. Ringsumher die Spuren zweier Luchse. Die Katzen hatten sich an dem Fleisch gütlich getan. Sicher kamen sie wieder.
Die Wölfe verspürten keine Lust, sich mit ihnen anzulegen und liefen weiter. Sie verließen die Schlucht und suchten einen Abstieg.
Die Wölfin war müde.
Im Tal lag der Schnee weniger hoch, pfiff der Wind nicht gar so eisig wie in den Bergen.
Sie fanden einen alten, unbewohnten Bau. Vielleicht hatte er sogar einmal ihnen gehört.
Die Wölfe wussten nichts von der Heiligen Nacht, die über dem ganzen Land lag und nichts von der bevorstehenden Jahreswende, die nach den Kalendern der Menschen bald erfolgen würde.
Sie hatten nur Augen füreinander.
Die Ranzzeit begann.
Einauge lief den ganzen Tag um seine Gefährtin herum, beroch und beleckte sie, paarte sich mit ihr, brachte ihr frische Beute. Obwohl schon im reiferen Alter, benahm sich der Wolf wie ein frischverliebter Jüngling. Die Wölfin erwiderte gern seine Zärtlichkeiten.
Während der nächsten Wochen spürte sie, dass sich in ihrem Körper etwas veränderte. Sie zeigte ihrem Gefährten immer öfter die kalte Schulter. Schließlich hatte die Wölfin genug von seinen Aufdringlichkeiten und schnappte nach ihm. Weil Einauge nicht sofort verstand, dass die schöne Zeit zu Ende sein sollte, bedachte sie ihn überdies mit Knurren und Zähnefletschen.
Der Wolf bestand nicht weiter auf seinem Vorhaben und trollte sich. Er lief durch den endlosen Wald, über verschneite Wiesen und zugefrorene Bäche. Ohne Ziel trieb es ihn weiter und weiter. Stunden später machte er am Rand einer weiten Ebene halt.
Die weiße Fläche strahlte und funkelte, als wäre sie mit glitzerndem Sternenstaub bestreut. Am Horizont, im Dunst des Tages fast nicht zu erkennen, zeigten sich die mächtigen Berge. Die Tannen am Waldrand neigten ihre Äste unter der weißen Last. Schüttelte einer der oberen Zweige unwillig seinen Schmuck ab, sei es durch einen Windhauch, die Berührung eines Vogels oder durch einen frechen Sonnenstrahl, so pflanzte sich die Bewegung fort, und alle Zweige wippten froh nach oben.
Die Sonne stieg von Tag zu Tag ein Stückchen höher und verlängerte dabei ihren Aufenthalt am Himmel immer um einige Minuten. Der richtige Winter stand aber noch bevor.
Es wurde kälter, und kälter. Die Quecksilbersäule sank unter minus dreißig Grad und hatte noch keinen Boden gefunden. Dem Wolf machte dies nichts aus. Sein dicker Pelz schützte ihn zuverlässig vor großer Kälte.
Einauge hatte keinen Blick für die Schönheit der Natur. Er stand am Waldrand und schaute lange in die Ferne. Schließlich hob er seinen Kopf und ließ den ewig alten Ruf der Wildnis über die Ebene klingen.
Nach kurzer Pause gab ein vielstimmiger Chor die lang erwartete Antwort.

*****



Das neue Jahr begann.
Der Winter machte allen klar, dass sie bis jetzt nur einen kleinen Vorgeschmack dessen erlebt hatten, wozu er fähig war. Eine Probe sozusagen, der nun das Hauptspiel folgte.
Es wurde so kalt, dass den Menschen ihr Wort im Mund gefror, ehe sie es ausgesprochen hatten. Schuld daran war der seit Tagen grimmig blasende Nordwind, der den Wolfsziegel auf den Dächern zum Klingen brachte.
Der Wolfsziegel ist eine sinnreiche Erfindung. Speziell geformte Holsteine werden so kunstvoll auf dem Dachfirst eingemauert, dass sie ab einer bestimmten Windstärke aus Norden einen klagenden Ton von sich geben. Auf wunderbare Weise funktioniert dies nur im Winter. Sicher spielt dabei die Festigkeit des Materials und die Veränderung der Struktur bei extrem tiefen Temperaturen eine Rolle. Tatsächlich lässt der Ziegel sein Lied nur hören, wenn es sehr kalt wird. Die Menschen wissen, was das bedeutete. Das Wild zieht sich in noch tiefere Regionen zurück. Die Wölfe folgen. Dabei werden sie auch das eine oder andere Stück Vieh stehlen wollen. Hunger macht mutig und lässt den ansonsten eher feigen Räuber jede Vorsicht und Scheu vergessen.
Als der Ziegel das letzte Mal vor sechs Jahren erklungen war, hatten die Wölfe mehrmals versucht, in die Ställe einzudringen. Es war ihnen nicht gelungen. Darüber hinaus hatten etliche der Grauen ihre Tollkühnheit mit dem Leben bezahlt. Seither hatte es nicht wieder einen so strengen Winter gegeben. Bis jetzt.
Die Räuber waren listig und schnell. Kasim erinnerte sich noch gut, wie sie damals Tag und Nacht Wache hielten. Er selbst hatte einen der Angreifer mit dem Messer getötet, als dieser, angeschossen und wahnsinnig vor Schmerz, ihm an die Kehle wollte. Eine hässliche Narbe am Unterarm zeugte von der Kraft der mächtigen Reißzähne, mit denen der Wolf in seiner verzweifelten Wut durch die dicke Pelzjacke gedrungen war.
Die ungewöhnlich großen Exemplare der Waffen jenes Raubtieres ergänzten auf besondere Weise Kasims Trophäensammlung. Das schöne, dicke Fell tat im Haus gute Dienste.
Jetzt warnte der Ziegel wieder.
Die Hirten machten sich in diesem Jahr aber nicht allzu große Sorgen. Das Rudel der Grauen war auseinander getrieben und zum größten Teil vernichtet. Die wenigen, überlebenden Wölfe stellten keine Gefahr dar. Allerdings gab es noch den Schwarzen! Kasim hatte Furcht bei seinem Blick empfunden. Das war kein gewöhnliches Tier. Das war der Teufel in Wolfsgestalt. Dem war alles zuzutrauen.
Das Leben im Dorf kam fast zum Erliegen.
Die Menschen gingen nur aus ihren Häusern, wenn es unbedingt notwendig war. Der Wind heulte, brachte Schnee und abermals Schnee. Er türmte die weiße Pracht an manchen Häusern bis zu den tiefhängenden Dächern. Das ergab einen guten Schutz gegen Kälte.
Die Hunde taten es den Menschen gleich und steckten ihre Nasen nicht allzu oft in die Winterluft. Boris lag fast den ganzen Tag auf der Decke im Pferdestall.
Nachts lief er trotz der Kälte noch immer seine Runde, trabte die freigeschaufelten Wege entlang, inspizierte die Ställe und Vorratshäuser und schaute auch außerhalb des Dorfes nach dem Rechten. Meist begleiteten ihn seine Schwester Tschaika und der junge Igor.
Die anderen Owtscharki kontrollierten ebenfalls regelmäßig ihre Strecken und Plätze, wie dies ein pflichtbewusster Herdenschutzhund eben zu tun hat.
Man traf sich, begrüßte und beschnupperte sich und ging weiter seines Weges.
Boris war wieder völlig in Ordnung. Sein robuster Körper hatte den Kampf gegen das Fieber gewonnen. Die Wunde war vernarbt, seine Kraft zurück gekehrt. Auch bei den anderen Hunden gab es keine Spuren der Verletzung mehr.
Das Heulen das Schwarzen Wolfes erscholl seit langer Zeit nicht mehr. Hatte er in ein anderes Revier gewechselt?
Im Traum stand Boris immer wieder seinem Feind gegenüber. Er wuffte und quiekte leise im Schlaf und seine Pfoten zuckten, als wolle er sich im nächsten Moment auf Einauge stürzen. Der Kampf schien noch nicht vorbei.

*****



Sie kamen nicht nachts und auch nicht in der Dämmerung. Der Angriff erfolgte eine Stunde nach Mittag. Niemand wusste später zu sagen, warum keiner der Hunde Alarm geschlagen hatte.
Über dem Dorf lag sonntägliche Stille. Der vom reichhaltigen Essen volle Bauch stachelte zu einem Schläfchen an.
Seit gestern hatte der Wind nachgelassen und wehte nur noch als leichte Brise. Die dicken Wolken warfen ihre Last ab und machten der schon ungeduldig wartenden Sonne Platz. Die gab sich auch redlich Mühe, ihre Abwesendheit während der letzten Wochen durch besonders viel Freundlichkeit wettzumachen. Der Schnee reflektierte die warmen Strahlen so stark, dass einem die Augen schmerzten.
Menschen und Tiere ruhten.
Ein schöner Tag.
Unbemerkt fielen die Wölfe in den Ort ein.
Sie kamen gegen den Wind und nicht in breiter Front. In schnurgerader Linie hetzten sie heran, einer hinter dem anderen. Fünfzehn, zwanzig, graue Räuber folgten ihrem schwarzen Anführer. Nicht annähernd so furchteinflößend wie dieser, jedoch alle ungewöhnlich groß und fast wahnsinnig vor Hunger. Nichts und niemand hätte sie aufhalten können. Zielgerichtet liefen sie zum Schafstall, dessen Bewohner sich auf der Außenfläche tummelten. Bevor diese wussten, was geschah, lagen die ersten tot im Schnee. Der Rest lief einige Meter weiter und drängte sich blökend in eine Ecke. Die Wölfe kümmerten sich nicht um die verängstigten Tiere. Sie fielen über die bereits erlegte Beute her und rissen sie gierig in Stücke.
Die Grauen waren ausgehungert. Anderenfalls hätten sie solch einen tollkühnen Überfall wohl nicht gewagt. In Windeseile schlugen sie sich die Bäuche voll. Ihre Zeit war knapp bemessen. Die Hunde hetzten heran!
Obwohl in der Überzahl, stellten sich die Angreifer nicht zum Kampf. Sie wichen aus, solange es möglich war und fraßen bis zur letzten Sekunde.
Jetzt eilten auch die Hirten herbei. Aufgeschreckt aus ihrer Sonntagsruhe brauchten die Menschen etwas länger als ihre Vierbeiner, die aus allen Ecken des Dorfes heranstürmten.
Die Wölfe wandten sich zur Flucht.
Sie hatten ihr Ziel erreicht. Wenn auch nicht zum Platzen voll, so bekam doch jeder eine ordentliche Magenfüllung ab. Das musste genügen.
Die Angreifer rannten nach allen Seiten davon und machten somit eine geordnete Verfolgung unmöglich. Allerdings hätte diese auch wenig Aussicht auf Erfolg gehabt. Selbst mit vollem Magen waren die Grauen zu schnell für die vierbeinigen Wächter.
Einige der Räuber wurden von den Hirten erschossen. Der Rest gab gehörig Fersengeld. Fürs erste sollte es auch genügen, die Wölfe vertrieben zu haben. Viele lebten ohnehin nicht mehr.
Der schwarze Anführer lief als erster davon. Bevor er aus dem Gesichtskreis des Dorfes verschwand, blieb er stehen und schaute zurück. Sein brennender Blick schweifte über das Gelände und blieb an dem Owtscharka hängen, der mit kraftvollen Sätzen heranstürmte.
Für einen Augenblick war es, als ob die Zeit gefror. Dann wandte sich Einauge um und floh weiter.
Der Owtscharka folgte ihm.

*****



Boris träumte.
Vor ihm lag ein wundervoller Knochen, ein Knochen mit viel Fleisch dran. Ihm lief das Wasser im Maul zusammen. Speichel tropfte von seinen Lefzen. So ein Riesending hatte Boris noch nie im Leben gesehen. Er fuhr sich mit der Zunge über die Nase und ging vorsichtig näher. Der Knochen roch nach Pferd. Das war sehr merkwürdig. Boris hatte noch nie Fleisch von einem Pferd gefressen. Er mochte Pferde. Aber der Knochen lag vor ihm und duftete verführerisch. Pferd hin, Pferd her, das Stück war für ihn bestimmt, sonst wäre es nicht da. Er würde es jetzt fressen, basta! Mit diesem Entschluss ging Boris den letzten Schritt und schnappte sich den Brocken.
Klack!
Seine Kiefer schlugen aufeinander. Der Knochen war weg!
Verblüfft suchte Boris den Platz ab. Nichts! Der Knochen blieb verschwunden. Er schaute hoch und sah eine Herde blökender Schafe vor sich.
Ob die seinen Knochen hatten?
Unsinn! Schafe fressen kein Fleisch. Die mochten doch nur Grünzeug.
Was brüllten die überhaupt so fürchterlich? Davon bekam man ja Ohrenschmerzen. Er tat ihnen doch nichts.
Die Schafe blökten weiter. Sie klangen jetzt ängstlich, furchtbar ängstlich.
Boris schlug die Augen auf und stand im gleichen Moment auf den Beinen. Neben ihm stampften die Pferde unruhig hin und her. Draußen schrieen die Schafe in Todesangst.
Einauge!
Boris wusste sofort, dass nur sein alter Feind die Ursache für den Lärm sein konnte.
Mit einem Satz sprang der Hund zum Tor.
Verschlossen!
Er rannte mit der Schulter dagegen, dass die Balken ächzten.
Vergeblich!
Jemand hatte von außen den Riegel vorgelegt.
Das durfte nicht sein!
Im Dorf tobte die Schlacht, und er gelangte nicht aus dem Stall!
Verzweifelt bellte und jaulte er, kratzte am Holz und stemmte sich dagegen.
Hörte ihn denn keiner?
Plötzlich gab das Tor nach.
Endlich!
Der Flügel schwang auf.
Fluchend rappelte sich ein Mann aus der Schneewehe hoch, in die ihn der schwere Hund geworfen hatte. Dann lief er Boris hinterher und reinigte im Laufen sein Gewehr vom Schnee.
Boris rannte in Richtung des Tumultes. Zum Blöken der Schafe gesellte sich wütendes Knurren, Gebell und Geschrei. Er überholte zwei Hirten, bog um die letzte Ecke und überblickte sofort die Situation.
Überall lagen tote, teils angefressene Schafe im blutroten Schnee. Vereinzelt kämpften Hunde und Wölfe miteinander, Schüsse fielen. Ein Wolf überschlug sich, als ihn die Kugel wie eine Riesenfaust im Sprung traf. Ein zweiter wurde am Boden erschossen. Boris schaute sich um. Hier wurde er nicht mehr gebraucht. Die flüchtenden Wölfe hatten soeben den Dorfrand erreicht, als der hinten laufende zusammenbrach und sich sterbend im Schnee wälzte. Ein Schuss dröhnte.
Kasim war auf die Knie gegangen, als er sein Gewehr abfeuerte. Die anderen Grauen rannten weiter, schon zu weit entfernt für eine sichere Kugel.
Boris lief los.
Er sah Einauge nicht, spürte ihn jedoch überall. Boris durfte den Schwarzen nicht entkommen lassen.
Der Hund wurde schneller.
Er stürmte mit langen Sätzen aus dem Ort, sah weder nach links noch rechts und hörte nicht Kasims Ruf.
Der Tag war gekommen!
Diesmal hatte Einauge zuviel gewagt!
Ohne ihren schwarzen Anführer wären die Wölfe nicht in das Dorf eingefallen und hätten auch nicht die Schafherde angegriffen.
Er musste sterben.
Soeben verschwand der Flüchtende hinter einer Schneewehe, auf der er für wenige Augenblicke gestanden und zurückgeschaut hatte. Der Owtscharka wurde langsamer und schleckte den frischen Schnee. Dann fiel er in einen leichten Trab. Dieses Tempo konnte er stundenlang durchhalten.
Boris tauchte in die Düsternis des Waldes ein. Die Ebene lag hinter ihm. Dank des Schnees, der sein Weiß überall verstrahlte, wurde die sonst herrschende Dämmerung erhellt.
Die Geräusche des Dorfes drangen nicht mehr zu ihm.
Boris war allein. Dies kümmerte ihn wenig. Er dachte auch nicht daran, dass er vielleicht sterben könnte. Wichtig für ihn war nur, Einauge zu finden und ihn zu töten. Wenn es ihm diesmal nicht gelänge, würde er den schwarzen Wolf niemals besiegen.
Die Sonne schickte den Tag zu Ruhe und rief die Nacht in die Berge. Noch immer war es wolkenlos. Der Frost würde nach Einbruch der Dunkelheit wieder einen gehörigen Anlauf nehmen.
Auf dem festen Schnee fiel das Laufen leicht. Boris sank nicht ein. Seine Sinne waren nach vorn gerichtet. Nichts vermochte ihn von seinem Vorhaben abzubringen.
Ruhig und gleichmäßig trabte der Owtscharka dahin.

*****



Mitten auf der Lichtung saß der Schwarze Wolf. Er wartete.
Das Rudel hatte sich in alle Winde zerstreut. Viele waren den Hirten und Hunden entkommen. Zufrieden leckte sich Einauge die Schnauze. Sollte es notwendig sein, fanden sie sich wieder zusammen. Sobald das hier erledigt war, folgte er seiner Wölfin zum Bau.
Der aufgehende Mond überschüttete den fast kreisrunden Fleck inmitten des Waldes mit seinem fahlen, unwirklichen Licht.
Stille umgab diesen Ort.
Von irgendwoher trug der sanfte Wind eine zarte Melodie heran. Sie klang wie das Flüstern des Elfenreigens in einer Sommernacht und schien so zerbrechlich, dass schon ein tiefer Atemzug sie zu zerstören vermochte.
Die Szene wirkte wie aus einem Film.
Einauge erinnerte an eine Statue.
Reglos saß er da, ließ kleine Wölkchen aus dem Maul aufsteigen und schaute unverwandt in eine Richtung. In dem bernsteingelben Auge des Wolfes spiegelten sich die Sterne.
Eine Bewegung zwischen den Bäumen ließ ihn aufmerksam werden. Sein Blick erfasste die dort aufgetauchte Gestalt. Ein großer, kräftiger Hund kam aus dem Wald, zögerte kurz und näherte sich dann schnell.
Boris trat aus dem Wald und sah den Wolf. Keine zwanzig Meter von ihm entfernt saß er im Schnee und rührte sich nicht. Boris blieb stehen.
Der Owtscharka war in bester körperlicher Verfassung. Weder hungrig noch durstig und auch nicht müde vom Laufen. Im Gegenteil. Die Verfolgung hatte seine Kraft noch gestärkt. Er brannte darauf, sich auf den Schwarzen zu stürzen, die Zähne in seine Kehle zu graben, ihn zu töten.
Sein Feind stand auf. Er schien auf ihn gewartet zu haben.
Irgendetwas war falsch.
Boris dachte nicht darüber nach. Er lief los.
Es war wie das Zusammentreffen zweier Welten, wie das Aufeinanderprallen zweier ewig alter, unbesiegbarer Mächte.
Für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen.
Dann begann der Kampf.
Ohne viel Zeit mit Knurren, Zähnefletschen oder sonstigen Drohgebärden zu verschwenden, stürzten sich die beiden Rudelführer aufeinander. Sie waren gleich groß, gleich stark, gleich mutig. Beide zielten auf die Kehle des anderen und wichen gleichzeitig dem Gegner aus. Sie bekamen sich am Halsansatz, nahe der Schulter zu fassen. Ihre Zähne drangen durch das dichte Fell bis ins Fleisch. Keiner spürte den Schmerz, keiner ließ los. Sie knurrten sich an, zerwühlten den Schnee, stemmten sich gegeneinander. Jeder wartete auf eine Gelegenheit, den Biss höher zu setzen, um die Lebensader des anderen zu erreichen. Sie drehten sich im Kreis und Hass funkelte in ihren Augen.
Plötzlich knickte der Wolf mit den Hinterbeinen ein. Seine Kiefer öffneten sich. Im gleichen Moment sackte der schwere Körper zusammen und fiel in den Schnee.
Damit er nicht umgerissen wurde, ließ Boris ebenfalls los.
Siegessicher stürzte er sich auf den am Boden Liegenden, um ihm ein für allemal den Garaus zu machen, als ihm der Wolf mit den langen, messerscharfen Krallen seiner Hinterpfoten den Bauch aufriss. Im gleichen Moment schlossen sich Einauges Kiefer um die Kehle des Hundes. Der Wolf biss zu und durchtrennte ihm die Schlagader. Zwei, drei Sekunden hielt sich Boris noch auf den Beinen, dann sank er auf die Seite. Der Wolf beugte sich über ihn und trank gierig das hervorsprudelnde Blut, bis der Lebensquell versiegte.
Der Owtscharka war tot.
Einauge wandte sich um.
Er lief nicht in Richtung der Hügel, wo seine Gefährtin wartete. Für sie hatte er keinen Gedanken.
Ebenso wenig kam ihm in den Sinn, ein neues Rudel zusammenzurufen. Fast schien es, als folge er einem fremden Willen, der ihn nun gehen hieß. Was getan werden musste, hatte er getan. Nun rief es ihn zurück, wo immer das auch war.
Der Nachtwanderer stand hoch am Himmel und schickte sein silbernes Licht auf den Schnee. Es war Vollmond und taghell. Der leichte Wind wurde stärker und fuhr schließlich wütend durch die Tannen, die den Rand der Lichtung säumten. Die ließen vor Schreck ihre weiße Last von den Zweigen fallen. Der Wind griff den Schnee auf, wirbelte ihn über den Platz und deckte damit den toten Owtscharka zu. Fast schien es, als habe er Mitleid mit diesem geschundenen, zerrissenen Körper und wollte ihm den letzten Rest seiner schwindenden Wärme noch etwas länger erhalten. Die zarte Melodie war verklungen.
Es wurde kälter.
Der Wind floh zurück in sein Versteck und ließ auf der Lichtung mitten im Wald, am Rande der wilden Berge einen kleinen, weißen Hügel zurück.

*****



Die Wölfin hatte sich zurückgezogen. Ihre Höhle lag am Südhang, gut versteckt zwischen Zirbelkiefern und zahlreichen, großen Felsbrocken. Es war der gleiche Unterschlupf, der sie und Einauge aufgenommen hatte. Hier konnte sie ungestört auf die Geburt ihrer Jungen warten.
Einauge fehlte ihr sehr.
Hat sich ein Wolfspaar erst einmal gefunden, dann bleiben sie in den meisten Fällen auch bis an ihr Lebensende zusammen. Der Rüde umsorgt seine Wölfin insbesondere während der letzten Wochen ihrer Trächtigkeit und zeigt sich als liebevoller Vater, wenn die Kleinen schließlich auf der Welt sind. Er besorgt das Futter für die immer hungrige Familie und ist auch sonst auf das Wohl seiner Sippe bedacht.
Einauge legte keinen Familiensinn an den Tag. Er war ein in jeder Beziehung ungewöhnlicher Wolf, vielleicht war er nicht einmal das.
In unmittelbarer Nachbarschaft der Höhle zog ein Finkenpaar in ihr frischgebautes Nest ein, fest entschlossen, ebenfalls Nachwuchs in die Welt zu setzen. Der Finkenhahn unterhielt seine Gemahlin tagsüber mit den schönsten Liedern aus seinem reichhaltigen Repertoire. Hoch am blauen Himmel, manchmal kaum zu erkennen, flog der Adler seine ewigen Kreise. Bald würden die Hänge im strahlenden Weiß der Schneerose leuchten.
Die Sonne stand schon hoch und ließ sich viel Zeit für ihren Tagesreigen. Ihre warmen Strahlen zehrten rasch den restlichen Schnee auf.
Die Wölfin brachte vier gesunde Welpen zur Welt. Schnell wuchsen die Kleinen heran. Einer fiel dem Betrachter besonders ins Auge. Kräftiger als seine Geschwister, drängte er sich erster ans Gesäuge und bestimmte, wann gespielt oder gerauft wurde. Er hatte dichtes, schwarzes Fell und nur ein Auge.
Einauge wurde nicht mehr gesehen. Weder in diesem Teil des Landes, noch in den Nachbarregionen tauchte er je wieder auf.
Sah es mit dem Tod des Hundes zuerst nach einem Sieg des Bösen aus, so war damit ein Unentschieden erreicht.
Boris hatte seine Aufgabe doch noch erfüllt.
Der Schwarze Wolf blieb verschwunden.




Das Buch hat 216 Seiten und kostet 14,90 Euro

Mehr Informationen zum Buch und zum Autor,
ISBN und Bestellmöglichkeiten unter
www.wolfgangwalther.de

Imprint

Publication Date: 11-13-2010

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