Meine Eltern waren reich gewesen. Ich wuchs auf wie eine Prinzessin. Wir hatten Hunde, Katzen, Pferde. Mir fehlte es an nichts! Eine Familie wie aus dem Bilderbuch.
Nach dem Tod meines Vaters hatte es meine Mutter geschafft, sich von allen materialistischen Belangen ihrer Vergangenheit zu befreien. Sie hatte die Fabrik verkauft und das schlossartige Anwesen auf Julius und mich übertragen. Sie behauptete, dass das Streben nach materiellen Werten sie nie wirklich glücklich gemacht hätte. Sich mit Menschen verbunden zu fühlen, bedeutet für sie wahres Glück und wahren Reichtum.
Komplett auf sich alleine gestellt, ist sie damals, nach meiner Genesung, nach Indien gereist um sich selbst zu finden und den Tod meines Vaters zu verarbeiten. Sie hatte sogar ihren alten Namen hinter sich gelassen. Persönliche Unabhängigkeit bedeutete für sie von da an alles. Diese Werte versucht sie seither jedem Menschen in ihrer Nähe aufzudrängen. Natürlich meint sie es gut. Aber in ihrem Drang, Gott und die Welt zu unterstützen, übertrieb sie es mitunter kolossal.
Insgeheim hatte ich damit gerechnet, dass sie sich voller Inbrunst auf mich konzentrieren würde, doch vielleicht hatte sie endlich gelernt, dass ich gegen ihre Manipulationsversuche schon lange immun war.
Hoffentlich fühlten sich Selma und Cem nicht durch ihre unverschämte Einmischung beim Abendessen bedrängt.
Ich sollte froh sein, dass sie nicht, wie sie es sonst gerne tat, über bedingungslose sexuelle Hingabe philosophiert hatte. Wahrscheinlich hatte sie es auch nur deshalb nicht getan, weil die Kinder mit am Tisch gesessen hatten.
Ich musste ihr zugestehen, dass Selma ein ideales Opfer darstellte. Sie litt eindeutig unter Kontrollsucht und ihr Perfektionswahn war offensichtlich. Es sah meiner Mutter ähnlich, dass sie gleich mit der Tür ins Haus fallen musste. Unsere Psychologin würde wahrscheinlich vorsichtig mit ihr über Verlustängste und Selbstwertschätzung sprechen, doch so subtil ging meine Mutter leider nicht vor. Sie forderte von Selma, auf der Stelle alles Alte hinter sich zu lassen. Alle Materie unterliegt einem ständigen Wandel, nichts kann bleiben wie es ist, lautete ihre Devise! Dabei vergaß sie, dass nicht jeder gleich schnell den Mut aufbrachte, die Kontrolle aufzugeben.
Selbst hatte ich inzwischen das Gefühl, gänzlich jede Kontrolle verloren zu haben.
Zuerst mein Liebeskummer wegen Cem. Dann die Entführung. Julius, der sein Leben für seinen Sohn geopfert hatte, mit dem er so lange keinen Kontakt gehabt hatte. Zu allem Überfluss hatte das Kartell beschlossen, mein Haus in die Luft zu sprengen und dabei beinahe Selma und die Kinder umgebracht.
Ich, die ich noch vor wenigen Tagen steif und fest behauptet hätte, mich vor nichts zu fürchten, hatte seit Julius Tod das Gefühl, jeden Halt verloren zu haben. Ich wusste nicht, wie ich es schaffen sollte, die Klinik ohne seine Hilfe zu führen.
Einzig Cem war mein Rettungsanker, doch ich spürte inzwischen, dass er viel zu sensibel war, um diese Doppelbelastung noch lange durchzuhalten. Am liebsten hätte er Selma längst reinen Wein eingeschenkt, doch noch hatte ich ihn davon abhalten können. Hatte ihn gedrängt zu warten, bis sie wieder gesund war.
Das Nachdenken über meine Angst verschlimmerte meine innere Unruhe ins Unermüdliche. Es hatte also keinen Sinn, sich noch länger von einer Seite auf die andere zu wälzen. Ich drückte die Beleuchtungstaste auf meinem Wecker. Zwei Uhr! Ich seufzte innerlich. Nach außen hörbar atmete ich nur etwas lauter aus. Meine Mutter schlief leise grundelnd neben mir im Bett, dort, wo die letzten zwanzig Jahre Julius Platz gewesen war. Ich schluckte die aufsteigenden Tränen tapfer hinunter. Ich wollte sie nicht wecken.
Leise griff ich nach den Sachen, die ich achtlos auf den Sessel neben meinem Bett geworfen hatte, nachdem ich sie gestern ausgezogen hatte und schlich aus dem Schlafzimmer. In Julius Arbeitszimmer brannte Licht. Irgendwie gab mir das ein tröstliches Gefühl von Vertrautheit. Er hatte oft bis spät in der Nacht hier Konferenzen mit der ganzen Welt abgehalten. Im Badezimmer schlüpfte ich in die bequeme Hose und einen Pullover. Lautlos spähte ich danach durch den Türspalt ins Arbeitszimmer.
Ben saß auf dem Sofa zwischen der zerknüllten Bettwäsche. Auf seinem Schoß stand das geöffnete Notebook.
Ich klopfte vorsichtig und er hob den Kopf.
„Kannst du auch nicht schlafen?“ Er hatte Schatten unter den Augen. Seine Stimme klang schwer. Julius Whisky-Bar würde bald geplündert sein.
Ich ging zu ihm hinüber. Auffordernd deutete er mit einer Hand auf den Platz neben sich.
„Was tust Du?“ Ich hatte mich an seine Seite gesetzt und zog die Beine aufs Sofa.
„Das Beerdigungsunternehmen hat ein Online-Kondolenzbuch eingerichtet. Hast Du es dir schon einmal angesehen?“
Ich schüttelte schuldbewusst leicht den Kopf.
Ben zeigte mir, wie viele Menschen mir online Mut zusprachen. Er las unermüdlich einen Beitrag nach dem anderen vor. Vor lauter Rührung ergoss sich eine wahre Sturzflut an Tränen über meine Wangen. Ben reichte mir eine Kleenex-Box. Die Rührung vermischte sich mit der Trauer und meinem Selbstmitleid. Als ich kaum noch Luft bekam, weil meine Nase so verstopft war, stand ich auf und flüsterte erstickt: „Ich kann nicht mehr! Ich gehe rüber ins Labor. Selmas Blutwerte müssen neu analysiert werden und die der anderen Patienten sicher auch. Julius hat sich immer darum gekümmert.“ Ein so heftiges Schluchzen durchschüttelte mich, dass ich den Satz fast nicht fertig sprechen konnte. Ich musste jemanden finden, der sich in Zukunft darum kümmerte! Ben blinzelte mir verständnisvoll zu.
Auf dem Weg ins Labor beruhigte ich mich allmählich. Dort angekommen, machte ich mich daran alle Blutwerte der letzten Messungen zu checken. Selmas Zustand heute Morgen hatte mich beunruhigt.
Die Arbeit lenkte mich ein wenig von meinem Schmerz ab. Gewissenhaft kontrollierte ich alle Ergebnisse doppelt und bereitete die passenden Medikationen vor. Bei fast allen Patienten zeigten sich erste positive Auswirkungen. Die wenigen Ausnahmen waren altbekannte Selbstsaboteure, die einfach ihren inneren Teufel, der ihnen jeden Tag einen Ausflug in die Konditorei befahl, nicht im Griff hatten. Ich würde ihnen noch einmal nachdrücklich ins Gewissen reden müssen, dachte ich seufzend.
Ein kurzer Blick auf die Uhr am Computer zeigte mir, dass die Nacht längst vorüber war. Ich entschied, noch ein wenig die Post durchzusehen und dann direkt die Morgen-Yoga-Einheit zu übernehmen. Schnell verschickte ich eine Nachricht an Anjali, dass sie länger schlafen konnte. Sie hatte in den letzten Tagen meine Frühschicht übernommen. Zur Antwort bekam ich einen küssenden Smiley.
Ich öffnete die Fenster im Yoga-Raum und ließ Frischluft durch meine Lungen strömen. Die ersten Patienten trafen ein und kümmerten sich liebevoll um mich, obwohl das normalerweise mein Job gewesen wäre. Die anschließenden Übungen entspannten mich zunehmend.
Ich wachte auf, weil mir Sonne direkt ins Gesicht schien. Staunend bemerkte ich, dass ich auf meiner Yoga-Matte lag. Jemand hatte eine Menge Kissen rund um mich drapiert und mich mit einer dicken Decke zugedeckt. Ich war wohl während dem Shavasana eingeschlafen. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, war es bereits um die Mittagszeit. Erholt rappelte ich mich auf und ging ich in die Wohnung hinüber.
Aus der Küche hörte ich die Stimmen von meiner Mutter und Selma. Ich wanderte ins Bad und nahm eine Dusche. Dann gesellte ich mich zu ihnen. Seit Sitara hier war und für uns kochte, aßen Selma, Ben und ich immer gemeinsam mit ihr. Selma wollte nicht von ihren Tischnachbarn über die Vorfälle mit dem Kartell ausgequetscht werden und ich ebenso wenig von den Kollegen.
„Cem ist enttäuscht von sich selbst, dass es ihm nie aufgefallen ist, wie unglücklich ich mit meinem Leben hier war“, sagte Selma soeben.
Neugierig horchte ich auf.
„Wir haben uns gegenseitig eigentlich nie idealisiert! Ich weiß selbst nicht, wie es dazu kommen konnte, dass ich mein Leben so gänzlich nach seinen Bedürfnissen ausgerichtet habe“, fuhr sie fort.
Sicher hatte meine Mutter wieder tief in ihrem Gefühlsleben gebohrt.
Jetzt setzte sie zu einem ihrer belehrenden Vorträge an: „Es hat keinen Sinn sich nachträglich den Kopf darüber zu zerbrechen. Vielleicht konntest du schon in deiner Kindheit deine Individualität nicht richtig ausleben, Schätzchen. Du bist sicher nicht die erste Frau, die für eine glückliche Familie ihre eigenen Bedürfnisse hintangestellt hat. Viel wichtiger ist, dass du dich jetzt als eigenständige Person erkennst. Ich finde, du machst große Fortschritte!“, lobte meine Mutter.
Ich dachte mir insgeheim, dass Selma es mit ihrem Egoismus manchmal sogar etwas übertrieb. Die Kinder waren noch nicht oft hier gewesen, seit Selma die Therapie begonnen hatte. Besonders Sami musste sie vermissen! Die Mädchen sahen sie wenigstens, wenn sie zum Yoga herkamen.
Von Cem wusste ich, dass Emotionen zu zeigen, nicht gerade zu Selmas Stärken zählte. „Es ist wie im Krimi, wo es einen guten und einen bösen Cop gibt, ich bin der Gute und Selma der Böse“, hatte er mir vor kurzem erzählt. „Weil sie so streng zu den Kindern ist, verhätschle ich sie zu sehr.“
Ich hatte ihm gesagt, er solle sich keine Sorgen machen, seine Kinder wären toll.
Sitara hatte inzwischen weitergemacht mit ihren Ratschlägen. Ich fühlte, sie traf damit auf einen offenen Nerv bei Selma. Zum Glück erschien Ben in diesem Moment.
„Wer hat mein Zimmer aufgeräumt?“, schnauzte er in die Runde.
Meine Mutter und ich starrten ihn mit offenem Mund an. Selma wusch in aller Seelenruhe das Brett ab, das sie zum Gemüseschneiden verwendet hatte.
„Das wird Gertrude gewesen sein“, fühlte ich mich bemüßigt etwas zu sagen, nachdem sich sonst niemand äußerte.
„Die weiß, dass sie das Zimmer nicht betreten soll!“, schleimte Ben weiter und spießte mit seinem Blick Selmas Hinterkopf auf. Diese wandte sich jetzt langsam um, als hätte sie es gespürt. Ein säuerliches Grinsen umspielte ihren Mund.
„Also gut! Ich habe deine stinkende Bettwäsche gewechselt, die Vorhänge aufgezogen und die Duzenden leeren Flaschen entsorgt!“, blaffte sie im selben Ton zurück. „Bist du ein Zauberer, oder was? Glaubst du, du kannst bewirken, dass deine Verfehlungen jetzt meine sind?“
„Mir wäre jedenfalls ein zerwühltes Bett lieber, als eine putzwütige kalte Frau!“, schrie er weiter.
„Fahr doch zur Hölle, ich hasse dich!“ Sie warf den triefenden Küchenschwamm nach ihm.
„Ich hoffe, dir rutscht der Ärmel runter beim Abwaschen!“
Selma stürmte wütend aus der Küche.
Ich starrte meine Mutter mit aufgerissenen Augen an. Was war das?
„Benjamin! Hat dir niemand beigebracht, dass immer die Frau das letzte Wort haben sollte?“, mischte sich Sitara ein. Sie kicherte dabei leise. Wie konnte sie nur?
Ben verschwand wortlos in seinem Zimmer.
Als sie meinen entgeisterten Blick registrierte, sagte sie mit einem Schulterzucken: „Ich glaube, hier liegt etwas sexuelle Spannung in der Luft! Was meinst du?“
Ich überlegte krampfhaft, ob ich dazu eine Meinung haben wollte.
„Manche Hunde können es halt nicht lassen, Katzen hinterher zu jagen, auch wenn es gar keine Verfolgungsjagd gibt!“, plapperte sie weiter.
Zunächst einmal hatte Selma die perfekte Größe und auch das Aussehen, um von Ben als Beute angesehen zu werden. Der Vergleich hatte also durchaus etwas. Es ist ein Instinkt. Deshalb jagen ja auch Hunde oft einer rennenden Katze hinterher, dachte ich bei der Suche nach einer schlüssigen Erklärung der soeben beobachteten Szene.
„Sie schreien sich an, streiten und ignorieren sich, seit ich hier bin“, fuhr meine Mutter fort. „Dann lächelt er sie wieder wie ein Idiot an. Ist dir das noch nicht aufgefallen?“
„Mama, ich habe gerade andere Sorgen.“ Ben und Selma? Könnte das eine Lösung für eines meiner Probleme sein? Wohl eher nicht, so wie sich die Beiden vorhin verhalten hatten.
Beim Mittagessen behandelten Ben und Selma sich gegenseitig, als wären sie Luft. Sitara amüsierte sich offensichtlich köstlich. Gespannt verfolgte sie, wie sich die zwei verhielten.
„Soll ich dir eine Schüssel Popcorn bringen, Mama?“, ließ ich sie wissen, dass es mir peinlich war, wie sie sich verhielt.
Es war dann Ben, der als Erster bereit war das Kriegsbeil zu begraben. „Soll ich dich dann mitnehmen, Selma?“
Sitara und ich sahen ihn fragend an.
„Ich fahre dann nach Linz. Zum Verhör“, ergänzte er für uns.
„Was soll ich dort?“, fragte Selma noch immer etwas schnippisch.
„Ich meine nicht das Verhör. Da würdest du nicht reinkommen! Ich dachte, wir fahren zum Friseur? Ich könnte dich dort absetzen und anschließend wieder abholen. Hatten wir das gestern nicht so geplant?“
Das hörte sich echt nett an, wie er es sagte. Er hatte sich um einen sanften, ruhigen Tonfall bemüht. Wie Julius, hatte auch Ben die Eigenheit, jemanden im Nu beruhigen zu können. Jetzt ertappte ich mich selbst dabei, wie ich gespannt auf Selmas Reaktion lauerte.
Für einen Moment trafen sich die Blicke der Beiden. Da lag definitiv etwas in der Luft!
Es war, als würde Selmas Eispanzer von einer Sekunde auf die andere auftauen: „Ja gut. Wann soll ich fertig sein?“
Meine Mutter bedachte mich mit einem triumphierenden Grinsen.
Eine Stunde später verließen die Zwei einträchtig das Haus. Ich sah ihnen nach. Zuvorkommend hielt Ben Selma die Wagentür auf. Sie billigte es königlich.
Meine Hand zitterte unkontrolliert, als ich Cems Nummer wählte. Die Attacken kamen in Schüben. Vorhin noch ging es mir einigermaßen gut. Jetzt breitete sich eisige Kälte über meinen ganzen Körper aus. Schon oft hatte ich Patienten behandelt, die solche Panikanfälle hatten.
Es ist nur Angst! Nichts weiter! Eigentlich sollte ich wissen, wie ich das in den Griff bekäme. Ruhig atmen, ein Mantra aufsagen. Auch dieses Mal hatte ich versucht, mich so zu beruhigen. Hatte mich in meinem Arbeitszimmer auf ein Yogakissen gesetzt und eine Kerze angezündet. Ich hatte mich in den Anblick der leicht flackernden Flamme vor mir vertieft und versucht, mich mit der kosmischen Energie zu verbinden. Ich hatte mich auf das Wurzel-Chakra konzentriert, doch gleichzeitig hatte ich den kalten Schweiß auf meiner Stirn gefühlt und wie mir Tränen über die Wangen flossen. Ein untrügliches Zeichen, dass der Versuch nicht glückte. So hatte mich meine Mutter gefunden.
Natürlich hatte sie sofort versucht, mir zu helfen. Ihre Umarmung und die tröstenden Worte taten gut, aber nachdem sie nur die halbe Wahrheit kannte, konnte sie auch nicht ahnen, dass mich mein schlechtes Gewissen fast umbrachte. Ich hatte sie schließlich weinend gebeten, mich alleine zu lassen. In diesem Zustand rief ich also nun Cem an und erkundigte mich, ob wir uns sehen könnten.
„Ich bin im Büro. Kannst du herkommen?“
Keine halbe Stunde später klopfte ich an seine Türe im Nationalparkzentrum. Er saß vor einem Stapel Abrechnungsbelege. Als ich eintrat, stöhnte er theatralisch: „Du kommst wie gerufen, der ganze Papierkram nervt mich gerade gewaltig!“ Gleichzeitig durchschaute er mich und streckte die Hand verlangend nach mir aus.
Ich ging zu ihm hinter den Schreibtisch und wollte ihm einen Kuss geben, doch er zog mich sofort fest zu sich auf den Schoss und liebkoste mein Gesicht. Wieder einmal ließ ich mich in seine Umarmung fallen und fühlte mich verstanden und beschützt.
Er wusste, wie sehr es mich belastete, dass ich keine Möglichkeit mehr gehabt hatte, mich mit Julius auszusprechen. Wieder einmal fragte ich mich, wie ich jemanden wie ihn nur verdient hatte. Ich erzählte ihm, dass Ben und Selma beim Friseur wären, doch es schien ihn nicht sonderlich zu interessieren.
„Was bedrückt dich, kleine Waldfee?“, hauchte er mir ins Ohr.
Er kannte mich wirklich gut.
„Cem, wie soll ich die Klinik ohne Julius Hilfe weiterführen?“
Er küsste meine Schläfe. „In der Nacht, als ich deinem Mann alles gestanden habe, hat er mir auch erzählt, dass eigentlich du die wahre Künstlerin wärst und die Klinik ihren guten Ruf dir zu verdanken hat“, er machte eine bedeutungsvolle Pause. „Er war sehr stolz auf dich! Er hatte Tränen in den Augen, als er es mir erzählte. Er würde wollen, dass du an dich glaubst!“
Seine Worte bedeuteten mir viel. Ich spürte, wie sich mein Herzschlag beruhigte.
Ich flüsterte: „Wir haben uns so gut ergänzt. Ich bin die Experimentierfreudige, aber im Denken bin ich oft zu schnell, um logisch vorzugehen. Julius hat das dann immer für mich übernommen und meine intuitiven Ideen in den richtigen Rahmen gebracht, sodass man damit etwas anfangen konnte. Wenn wir diskutiert haben, gab ich immer die Rebellin und er war mein Gegenpart.“ Ratlos seufzend schloss ich meine Augen.
„Du hast doch gesagt, Ben wäre seinem Vater sehr ähnlich. Könnte er nicht dein neuer Diskussionspartner werden?“
„Wir wissen doch noch nicht einmal, ob er hierbleiben wird?“, erwiderte ich kraftlos.
„Du hast mir erzählt, du und Julius, ihr hättet immer die Welt verändern wollen. Jetzt durch Ben geht dieser Wunsch nachträglich in Erfüllung. Dieses Video, das er ins Netz gestellt hat, mir scheint, es bringt vieles in Bewegung!“
„Ja. Ben hat mir heute Nacht lange Beileidsbekundungen vorgelesen. Viele haben sich auf das Video bezogen und mir ihre Hilfe angeboten.“
„Siehst du? Du bist nicht allein!“ Cem wiegte mich wie ein Kind. Dann gab er mir einen sanften Kuss.
Wir hatten jetzt seit beinahe zwei Monaten keinen Sex gehabt! Seit unserem gemeinsamen Wochenende mit Lilli. Ich spürte in seinem Kuss die verhaltene Leidenschaft. Wie konnte man nur so taktvoll und rücksichtsvoll sein? Schon wieder traten mir Tränen in die Augen. Dieses Mal vor lauter Rührung. Meine Gefühlswelt befand sich auf einer Achterbahn. Obwohl ich solche Angst hatte, fühlte ich mich trotzdem sicher, weil er da war. Wie konnte ich in solch einem Augenblick nur an Sex denken? Wieder fragte ich mich, weshalb das Universum ihn und mich zusammengebracht hatte.
„Ich bin so rastlos. Es ist manchmal wirklich nicht einfach mit mir auszukommen. Du hättest Ben heute erleben sollen, wie er mit Selma umgesprungen ist. Ich weiß nicht, ob er geduldig genug ist, meine unkonventionellen Methoden auszuhalten.“
„Ich kenne Selma lange genug, um zu erahnen, dass sie nicht ganz unschuldig an seiner Laune gewesen sein kann.“
„Julius hat meine Methoden auch meistens als verrückt bezeichnet“, redete ich weiter, ohne seinen Einwurf zu beachten. Forschend beobachtete ich ihn. Ermüdete es ihn, wenn ich immerzu von meinem verstorbenen Mann erzählte?
Nein. Ich hatte seine vollste Aufmerksamkeit.
„Sicher hat er sie auch als originell und einzigartig bezeichnet, oder?“, neckte er mich.
„Du glaubst nie, wie chaotisch ich Informationen suche. Einmal war ich sogar auf einem Hexensabbat!“ Ich verdrehte die Augen in Selbstironie.
Cem grinste: „Das überrascht mich jetzt nicht wirklich und Ben wird es auch nicht schockieren!“
„Ich bin keine Ärztin! Und Ben ist auch kein Arzt! Ich werde jemanden brauchen, der für die Klinik die ärztliche Verantwortung übernimmt!“
„Die Klinik hat einen ausgezeichneten Ruf, sicher werden dir geeignete Kandidaten die Tür einrennen.“
„Ja, aber wird mir jemand bei der Umsetzung meiner chaotisch gewonnenen Erkenntnisse helfen können? Die meisten Ärzte und Bio-Chemiker halten nicht viel von ganzheitlichen Ansätzen, außerdem sehen sie jede Entdeckung als persönliches geistiges Eigentum. Julius und mein Weg war immer anders. Wir trafen uns mit Menschen aus verschiedensten Bereichen und Wissensgebieten und teilten all das, was wir zu einem bestimmten Thema bereits wussten und erkannt haben miteinander. Oft sind wir so auf gänzlich neue Einblicke gestoßen. So viele Erkenntnisse liegen in der Luft, man muss sie nur richtig umsetzen!“
„Das nennt man überpersönliche Intuition, glaube ich. Sagt dir diese Eigenschaft nicht auch, dass du die Dinge einfach auf dich zukommen lassen solltest? Es gibt sicher mehr Forscher, die insgeheim so denken wie ihr. Du wirst sehen, es wird sich alles fügen! Es braucht nur etwas Zeit!“
Seine Worte gaben mir tatsächlich die Zuversicht, die ich im Moment so dringend benötigte. Ich schlang die Arme um seinen Hals und drückte mich eng an ihn. Tief sog ich seinen Geruch in mich auf.
„Was würde ich nur ohne dich machen?“
„Was würde ich nur ohne dich machen?“, gab er zurück. „Übrigens, heute sind die Bilderbücher gekommen! Lilli hat mich vorhin angerufen!“, wechselte er das Thema.
Ich lächelte ihn an. „Ich will das erste Exemplar kaufen! Bekomme ich eine Widmung?“
„Du bekommst alles was du willst von mir!“ Er knabberte an meinem Hals. „Morgen bringe ich die Mädchen zum Yoga, dann könnten wir gemeinsam zu Lilli fahren und meine Bonusexemplare abholen. Was sagst du?“
Schon ging es wieder los mit dem schlechten Gewissen. In den letzten Tagen hatte Lilli mehrmals versucht mich anzurufen, aber ich hatte mich nie zurückgemeldet. Auf der Beerdigung hatten wir uns kurz gesehen und ich hatte Ihr versprochen von mir hören zu lassen. Solange ich mit mir und meinen Schuldgefühlen nicht im Reinen war, fiel es mir schwer, über die Geschehnisse zu reden. Auch wenn Lilli meine beste Freundin war und im Prinzip alle meine Geheimnisse kannte. Sicher lag es nur an mir.
Cem sah mich überrascht an, weil ich gezögert hatte. Das bedeutete, er hatte damit gerechnet, dass ich gleich ja sagen würde.
„Es fällt mir schwer, über das was passiert ist zu reden. Es geht mir schlecht und die meisten Menschen kennen mich so nicht.“
„Wir reden über Lilli! Die sofort alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, als du verschwunden bist. Ohne sie hätte ich dich womöglich nicht gefunden!“
Er hatte Recht. Ich machte mich selbst verrückt.
„Ok. Ich komme morgen mit“, lenkte ich ein. Wir vereinbarten, uns vor Lillis Büro zu treffen.
Seufzend löste ich mich aus seiner Umarmung. „Du hast viel zu tun. Ich will dich nicht länger von der Arbeit abhalten.“
„Ich hätte mir keine angenehmere Störung vorstellen können!“ Sanft gab er mir einen Klaps auf den Po. Seine grüngesprenkelten Augen funkelten vergnügt.
In der Türe wandte ich mich noch einmal zu ihm um: „Ich liebe dich!“
Ich gab ihm keine Gelegenheit, darauf etwas zu erwidern. Schnell hatte ich die Türe hinter mir zugezogen. Still in mich hineinlächelnd ging ich zurück zu meinem Wagen. Es hatte gut getan, das auszusprechen. Julius war beileibe kein Romantiker gewesen. Wir hatten nicht oft über Gefühle gesprochen. Das er mir im Angesicht des Todes seine Liebe versichert hatte, bedeutete mir viel.
Meine Mutter und ich räumten die Küche auf als endlich Ben und Selma zurückkamen.
Selma hatte ihre langen Haare abschneiden lassen. Die flotte Pixie-Frisur stand ihr hervorragend.
„Sieht sie nicht aus wie Audrey Hepburn mit Busen?“, schwärmte Ben.
„Eigentlich war ich auf eine Perücke eingestellt, aber der Friseur meinte, es wäre noch nicht so schlimm mit dem Haarausfall, dass er alles abschneiden würde. Für alle Fälle habe ich mir schon eine ausgesucht und er legt sie für mich zur Seite“, plauderte Selma ungewöhnlich gesprächig.
Ich holte das für die Beiden warmgehaltene Abendessen aus dem Rohr. Und bestätigte, wie toll ihr die neue Frisur stünde.
„Was ist bei dem Verhör rausgekommen?“, erkundigte ich mich dann bei Ben.
„Das sind zwei total geisteskranke Irre! Wir können nur von Glück reden, dass nichts Schlimmeres passiert ist. Normalerweise gehen Typen wie die ohne mit der Wimper zu zucken über Leichen. Sie waren anscheinend selbst überrascht, dass jemand im Haus war und dann noch dazu Kinder. Sie wussten von der Beerdigung und dachten, sie könnten die Bombe in aller Seelenruhe verstecken und dann im passenden Moment hochgehen lassen. Dem Hubschrauberpilot konnte man nichts nachweisen. Anscheinend war er unter falschen Angaben gechartert worden. Da er sich bisher kooperativ gezeigt hat, wird er wohl freikommen. Ihm ist es außerdem zu verdanken, dass diese kriminellen Elemente so schnell gefasst werden konnten“, fasste Ben das Wichtigste zusammen. „Obwohl ihm die Kerle eine Waffe an den Kopf hielten, hat er den Hubschrauber sofort gelandet, als er vom Heer dazu über Funk aufgefordert wurde.“
„Sind wir nach wie vor in Gefahr?“, erkundigte ich mich besorgt.
„Wir haben noch immer die vollste Unterstützung des FBI. Sie arbeiten jetzt in dieser Sache mit Interpol zusammen! Es gibt einige Experten, die meinen, das Kartell würde fürs erste wohl aufgeben. Denen liegt nichts daran, ständig in den Medien kritisiert zu werden. Wir wissen aber, wie schnelllebig die Zeit ist, daher lässt sich nicht ausschließen, dass da noch etwas nachkommen wird.“ Er bewegte bedauernd den Mundwinkel nach unten.
Ich hatte mich resigniert auf einen Stuhl fallen lassen. Meine Mutter legte mir beruhigend die Hände auf die Schulter: „Willst du vielleicht einige Zeit mit mir nach Indien kommen, bis Gras über die Sache gewachsen ist?“
„Ich habe Verpflichtungen hier! Unsere Patienten verlassen sich auf mich!“ Dieser Gedanke wäre mir nicht im Traum gekommen. Ich liebte meine Arbeit. Auch wenn sich in Zukunft vieles ändern würde, mein ganzes Herz steckte in dieser Aufgabe.
Als Cem Jasmin und Dilara im Yogamedikum absetzte, hatte ich dort am Empfang schon auf sie gewartet. Die Mädchen hielten sich nicht lange auf und waren sofort in die Umkleide verschwunden, Cem hatte mich mit einem Wangenkuss begrüßt. Fragend suchte sein Blick den meinen, als er sich geradewegs wieder zum Gehen umwandte.
„Bis gleich!“, wisperte ich nur für ihn hörbar und blinzelte ihm zu. Ich beobachtete, wie er zurück zum Wagen ging. Meinen Autoschlüssel hielt ich schon in der Hand. Niemand dachte sich etwas dabei, als ich kurz darauf ebenfalls das Institut verließ.
Am Parkplatz vor Lillis Bürogebäude wartete er mit eingesteckten Händen auf mich. Als ich den Schlüssel aus dem Zündschloss zog, öffnete sich die Beifahrertüre und Cem ließ sich in den Wagen fallen. Seine linke Hand umfasste meinen Kopf und zog ihn zu sich rüber. Sein Gesicht war kalt von der frischen Luft. Seine Zunge, die jetzt fordernd meine Lippen öffnete, fühlte sich hingegen warm und wohlig an. Ich genoss den Moment voller harmonischer Intimität.
Als sich unsere Münder wieder trennten, verharrte Cem, mich noch immer am Nacken umfassend, und blickte mir forschend ins Gesicht. „Wie geht es dir heute? Alles in Ordnung?“
Ich lächelte tapfer. „Ja. Alles in Ordnung! Ich freue mich sogar auf das Treffen mit Lilli!“
Wir stiegen aus und Cem legte beschützend seinen Arm um mich, als wir ins Gebäude gingen.
Lilli wirkte überglücklich mich zu sehen. „Ich bin so froh, euch wieder zusammen zu sehen!“, fiel sie sofort mit der Tür ins Haus. Sie holte Wasser für uns und schloss die Bürotür. „Es beruhigt mich zu wissen, dass du jemanden hast, der dich auffängt, Sonja! Nichts gegen deine Mutter!“ Sie hob bedeutungsschwer die Brauen. „Du weißt wie ich das meine.“
Ich musste grinsen. Lilli hatte sich noch nie ein Blatt vor den Mund genommen.
„Ich wusste nicht, ob ich schon wieder bereit dazu war unter Leute zu gehen, aber Cem hat mich schließlich überzeugt. Er hat mir erzählt, dass du ihm geholfen hast mich zu finden.“
Lilli blickte erstaunt zu Cem. „Dich zu finden? Das müsst ihr mir jetzt aber erklären!“
Natürlich. Sie wusste wahrscheinlich nur das, was die meisten Menschen aus den Nachrichten wussten, über meine Entführung und was danach geschehen ist. Gemeinsam erzählten Cem und ich ihr alles, was in dieser Nacht passiert war.
„Und wie geht das mit euch jetzt weiter?“, erkundigte sich Lilli, nachdem wir sie auf den neuesten Stand gebracht hatten.
Ich warf Cem einen sorgenvollen Blick zu. Er zuckte vage mit den Schultern.
„Es ist kompliziert, würde ich sagen“, äußerte er sich unpräzise. „Außer dir, weiß eigentlich niemand von uns!“
„Vergiss Ben nicht!“, erinnerte ich ihn.
„Das ist Julius Sohn, richtig? War er der Mann an deiner Seite? Auf der Beerdigung?“, erkundigte sich Lilli.
Ich nickte und erzählte ihr, dass Ben der Geist von Julius Adler war und das Video ins Netz gestellt hatte.
„Ich hatte mich schon gewundert und konnte mir nicht vorstellen, dass du etwas damit zu tun hattest“, sagte Lilli. „Das erklärt einiges. Jedenfalls finde ich, ihr zwei gehört zusammen, das sieht ein Blinder! Ihr könnt jederzeit auf mich zählen, wenn ihr einen Ort sucht, wo ihr euch ungestört treffen könnt! Du weißt ja, wo der Schlüssel zu meinem Wochenendhaus versteckt liegt!“
„So einfach ist das im Moment nicht! Cem kümmert sich derzeit alleine um seine Kinder und Selma, seine Frau, wohnt in meinem Gästezimmer.“ Ich musste grinsen. „Du siehst, es ist richtig richtig kompliziert!“
„Wow! Du hast recht! Also, ich würde sagen, wir wenden uns einem erfreulicheren Thema zu. Was sagt Ihr?“ Lilli war aufgestanden und ging zu einem Tisch im hinteren Teil ihres geräumigen Büros. Eine große Schachtel stand darauf. Sie öffnete den Deckel und hielt ein Exemplar von Cems Bilderbuch in der Hand. „Ta Ta!“ Sie hob jubilierend das Buch in die Luft. „Darf ich eines behalten?“, erkundigte sie sich bei Cem.
„Ja! Aber nicht dieses!“ Er war aufgestanden und nahm ihr das Buch aus der Hand. „Das habe ich schon Sonja versprochen!“, er grinste mich verschwörerisch an. „Hast du einen Stift?“, wandte er sich an Lilli.
Sie gab ihm einen Faserstift. Cem kritzelte etwas in das Buch und überreichte es mir anschließend feierlich.
Ich öffnete den Deckel. „Für meine geliebte Waldfee!“ Darunter hatte er ein Herz gemalt, in dem ein großes C prangte. Ich umarmte und küsste ihn dankbar und drückte das Buch an meine Brust.
„Wir müssen glaube ich!“, erinnerte ich ihn daran, dass die Mädchen bald mit ihrem Yoga fertig sein würden.
„Ich habe ihnen gesagt, sie sollen zu Selma gehen, falls ich es nicht rechtzeitig schaffe“, beruhigte Cem mich. Er klärte noch einige offene Fragen wegen des Buches mit Lilli. Ich blätterte inzwischen das Buch durch. Es war wundervoll geworden. In wenigen Zeilen auf jeder Seite standen Begleittexte zu den Bildern mit Sprechblase. Das Ganze wirkte ein wenig wie ein Comic. Es war etwas Besonderes und ich war stolz auf den geringen Anteil, den ich an diesem Erfolg hatte.
Ich verabschiedete mich mit einer langen Umarmung von Lilli. Es war schön gewesen, sie zu sehen. Cem hatte genau das Richtige getan, mich zu überreden mitzukommen.
Wortlos verabschiedeten wir uns auf dem Parkplatz innig voneinander. Sein warmer Blick verfolgte mich, während ich in meinen Wagen stieg und ich wusste, mit ihm würde alles gut werden!
Zu Hause, vor dem Aussteigen aus dem Auto überlegte ich, was ich mit dem Buch machen sollte? Ich konnte es mit dieser Widmung weder meiner Mutter noch Selma zeigen, oder riskieren, dass eine von ihnen es zufällig in die Hände bekam! Ich öffnete das Handschuhfach und beschloss, es dort aufzubewahren.
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Text: T.S. Noir
Cover: Thomas Ulrich/Pixabay
Editing: nicht lektoriert
Publication Date: 09-30-2020
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