Ich hatte lange nicht mitbekommen, was mit mir geschah. Die Affäre zwischen Sonja und mir hatte sich mit jedem Treffen verselbständigt.
Bei ihr hatte ich eine Leidenschaft gefunden, mit der ich nicht wirklich umgehen konnte. Für mein inneres Gleichgewicht waren die letzten Monate eine Katastrophe! Das schlechte Gewissen meiner Familie gegenüber, stand im Gegensatz zu der aufregenden Vorfreude vor jedem Treffen mit Sonja.
Warum war mir diese Frau nur begegnet?
Irgendwie geriet mein Leben seither total aus den Fugen.
Sonja hatte jetzt die Verantwortung übernommen, zu der ich mich selbst nicht hatte aufraffen können. Sie hatte aus moralischen Gründen einen Schlußstrich unter unsere Beziehung gesetzt. Ein Teil von mir wusste, dass sie damit recht hatte, der andere Teil von mir versank gerade in emotionalem Chaos.
Deshalb stand ich jetzt auch mit Herzklopfen vor ihrer Haustüre!
Ich verfluchte meine Abhängigkeit!
Warum konnte ich sie nicht einfach loslassen?
Ich hatte schlecht geschlafen, war nervös und mein Herz fühlte sich an wie eingeschnürt.
Sie schien ohnehin nicht zu Hause zu sein, sonst stünde ihr Auto an der Strom-Zapfstelle im Carport neben der Garage.
Selma öffnete mir die Türe. Meine praktische, unromantische Ehefrau, die mich vielleicht nicht überraschte, mich nicht liebend verwöhnte, aber immerhin treu umsorgte. Meine todkranke Ehefrau!
Alles, was ich ihr geben konnte, war ein Gefühl von Sicherheit und Zusammengehörigkeit. Ich gab ihr einen kurzen Kuss auf den Mund und drückte ihr die Weste, die ich ihr bei Gelegenheit vorbeibringen sollte, in die Hand. Dabei dachte ich an unser gemeinsames Haus und unsere drei Kinder.
Vielleicht würde Sonja gleich nach Hause kommen? Ein kleiner Augenblick würde mir schon reichen.
Selma zog überrascht die Brauen nach oben, als ich an ihr vorbei in den Flur trat. Wir gingen in ihr Appartement. Sie setzte sich an den Schreibtisch ihres Gästewohnzimmers und widmete sich irgendwelchen Entwürfen, während sie mir von ihrem Tag erzählte. Mein Blick verlor sich währenddessen in einem Foto von Sonja.
Was hatte sie da gerade gesagt? „Was hast du gerade gesagt?“, wiederholte ich verwirrt. Ich war geistig auf irgendeiner Segelyacht gewesen.
„Sonja ist verschwunden.“
Der Satz drang wie durch Watte in meinen Gehörgang. Laut rauschte das Blut in meinem Kopf. Das Herz hämmerte plötzlich vernehmlich.
„Was? Wie meinst Du, sie ist verschwunden?“
Selma erzählte mir was sie wusste. Dieses enge Gefühl in meiner Brust verstärkte sich von Minute zu Minute.
Wir versuchten beide Sonja anzurufen. Fehlanzeige!
Meine Finger zitterten. Sicher gab es eine einleuchtende Erklärung, warum Sonja verschwunden war. Ich wählte Lilly´s Nummer während ich zum Auto ging. Setzte mich hinters Lenkrad und zog die Türe zu.
„Cem?“, sie klang überrascht.
„Hallo Lilly! Ich will dich nicht lange stören. Weißt du wo Sonja ist?“, meine Stimme hatte atemlos geklungen, das war mir bewusst.
„Du klingst besorgt!“
Ich erzählte ihr, dass Sonja nicht abhob und sie seit gestern niemand gesehen hatte. Dann setzte ich nach: „Kannst du vielleicht bei ihrem Mann anrufen und ihn noch einmal aushören? Ich weiß auch nicht, ich mache mir wirklich Sorgen! Du könntest ihm sagen, sie wäre nicht zu einer Verabredung gekommen?“, schlug ich vor. Ich hatte den Wagen inzwischen gestartet und fuhr die Zufahrtsstraße entlang.
„Du verschweigst mir doch etwas?“ Auch Lilly klang jetzt besorgt.
„Sonja hat mit mir Schluss gemacht!“ Meine Stimme war belegt.
Lilly reagierte mit einem belustigten Schnauben. „Verzeih mir, wenn ich jetzt deine Gefühle verletze, aber ich glaube nicht, dass dieser Grund ausreicht, damit Sonja in einer Nacht und Nebel Aktion das Land verlässt!“
„Da gebe ich dir recht.“ Ich bog instinktiv in Richtung Stadt ab. Es war irrational. Wo sollte ich sie suchen?
„Sie wollte Katzenfutter besorgen. Was denkst du? Wo würde sie da hinfahren?“
Erstauntes Schweigen drang aus dem Telefon. Schließlich sagte sie: „Da gibt es dieses Fachgeschäft.“ Sie erklärte mir, welches sie meinte. Dann versprach sie mir Julius Adler anzurufen und mir danach Bescheid zu geben.
Schon beim Einbiegen auf den Parkplatz des Tiernahrung-Fachhandels entdeckte ich Sonjas Auto. Es war kurz vor Ladenschluss. Es standen nur noch vereinzelte Fahrzeuge herum. Ich parkte neben Sonjas Wagen ein.
Hastig lief ich die Regale entlang. Nichts! Ich war der einzige Kunde. Wahllos nahm ich irgendeinen Karton Katzenfutter und ging damit zur Kassa. Die Verkäuferin lächelte freundlich und ließ sich nicht anmerken, dass sie lieber pünktlich Schluss gemacht hätte. Ich zückte meine Bankomatkarte und rief auf meinem Handy Sonjas Profilfoto auf.
„Haben Sie diese Frau heute gesehen? Ihr Wagen steht draußen am Parkplatz?“
„Oh! Die kenne ich! Sie kauft oft hier ein. Nein. Tut mir leid, ich habe sie diese Woche noch nicht gesehen. Ich hatte mich schon gestern Abend über das Auto gewundert. Das ist ein Kundenparkplatz, da fällt es auf, wenn ein Wagen längere Zeit herumsteht. Warum wollen sie das wissen?“ Sie musterte mich misstrauisch.
„Der Wagen steht seit gestern hier?“ Ich ging auf ihre Frage nicht ein.
Argwöhnisch nickte die Kassiererin.
Ich dankte ihr und verließ den Laden. Mein Handy begann zu läuten. Lillys Foto erschien am Display.
„Hast du etwas rausgefunden?“ Ich blieb vor dem Fachmarkt stehen. Dann fiel mir ein, dass Lilly ja noch gar nicht wusste, dass ich Sonjas Auto gefunden hatte. Schnell setzte ich nach: „Sonjas Wagen steht hier vor der Tierfutterhandlung!“
Lilly hatte auch soeben angesetzt etwas zu sagen. Jetzt hörte ich sie nach Luft schnappen. „Was?“
„Die Verkäuferin hat sie seit letzter Woche nicht gesehen, ihr Wagen steht aber seit gestern hier am Parkplatz!“
„Ich rufe gleich noch einmal an!“ Sie hatte mich aus der Leitung geworfen.
Verstört ging ich zu meinem Wagen und verstaute den Karton Katzenfutter im Kofferraum. Dann setzte ich mich hinters Lenkrad. Das Telefon in der Hand ließ ich meinen Kopf auf die Kopfstütze sinken. Ich schloss die Augen. Das kann doch nur ein böser Traum sein!
Ich suchte in meiner Jackentasche nach dem Anhänger, den mir Sonja geschenkt hatte. Warum ich ihn überhaupt heute eingesteckt hatte, wusste ich nicht. Der Stein fühlte sich angenehm kühl in meiner Faust an. Ich hängte mir den Anhänger, nachdem er sich rasch erwärmt hatte, um den Hals.
Nach einer gefühlten Ewigkeit läutete wieder das Handy.
„Lilly?“
„Kannst du zum Café am Bahnhof kommen? Ich treffe mich mit Julius in 15 Minuten dort!“
„Ich kann doch nicht einfach ...“
Sie ließ mich nicht ausreden. „Cem! Ich brauche deine Hilfe! Julius war gerade äußerst merkwürdig am Telefon. Er wollte auf keinen Fall, dass ich zu ihm komme, deshalb hat er das Treffen in dem Café vorgeschlagen.“
Das hatte mir gerade noch gefehlt! Wie sollte ich Dr. Adler erklären, warum ich nach Sonjas Auto gesucht hatte?
Ich stieß einen Seufzer aus. Dann drehte ich den Zündschlüssel herum und startete den Wagen. Alles war besser, als jetzt untätig herumzusitzen.
Das Café war wie immer gut besucht. Von Lilly und Dr. Adler war noch nichts zu sehen.
Ich setzte mich an einen Tisch in der Nähe des Eingangs und zermarterte mir das Gehirn, wie ich meine Anwesenheit hier erklären sollte.
Nachdem ich bei einem Kellner einen Espresso bestellt hatte, öffnete sich die Eingangstüre und Lilly kam auf mich zu. Ich stand auf und sie gab mir zwei flüchtige Küsse auf die Wange. Ich half ihr aus der Jacke und brachte diese danach zur Garderobe. Als ich zurückkam, hatte soeben Dr. Adler das Café betreten. Unschlüssig beobachtete ich, wie Lilly das Begrüßungsritual mit Sonjas Mann vollzog.
Der Kellner brachte meinen Espresso und sah mich irritiert an, weil er nicht wusste, wohin er das Tablett stellen sollte. Dr. Adler folgte dem Blick des jungen Mannes und entdeckte mich. Überrascht weiteten sich seine Augen. Ich trat an den Tisch und grüßte ihn mit einem knappen: „Dr. Adler.“
Lilly versuchte die angespannte Atmosphäre aufzulockern und bat den Doktor Platz zu nehmen. „Ich habe Cem gebeten sich hier mit uns zu treffen“, beantwortete sie die unausgesprochene Frage, die Dr. Adler ins Gesicht geschrieben stand.
Wir hatten uns alle drei gesetzt und der Kellner nahm die Bestellungen auf. Als er den Tisch verließ, wandte sich Lilly an Julius Adler: „Ich würde gerne wissen, warum Cem Sonjas Auto auf einem Parkplatz in der Stadt gefunden hat, wo sie doch angeblich auf einem Seminar ist?“ Ihre Stimme klang vorwurfsvoll. Ich nippte unbeteiligt an meinem Espresso. Dr. Adler bewegte sich unwohl auf seinem Stuhl.
„Und ich wüsste gern warum Sie das Auto meiner Frau gefunden haben? Haben Sie denn danach gesucht?“, aus zusammengekniffenen Augen musterte er mich streng. Seine Kiefermuskeln bewegten sich angestrengt.
„Meine Frau hat mich gebeten Katzenfutter zu besorgen, da Sonja offensichtlich darauf vergessen hat!“ Diese Erklärung war das Resultat meiner nicht gerade reiflichen Überlegungen gewesen. Und schon kam die Frage, die ich befürchtet hatte.
„Und warum haben Sie darüber ausgerechnet mit Lilly gesprochen?“, er nickte kurz in Richtung unserer Tischnachbarin.
Lilly mischte sich in das Verhör ein. „Julius! Lass diese Haarspaltereien! Cem ist ein gemeinsamer Freund von mir und Sonja. Sag uns einfach, wo Sonja ist!“
Er lehnte sich zurück und schien zu überlegen. Abwechselnd blickte er Lilli und mir in die Augen. Schließlich massierte er sich mit beiden Händen die Schläfen.
„Ich weiß es nicht! Wir hatten einen Streit! Es ging um ein Medikament, dass ein Freund von ihr bei uns analysieren lassen wollte. Ich war dagegen.“
Der Kellner brachte die Kaffees und Dr. Adler unterbrach seine Ausführung. Wir bezahlten die Rechnungen und als der Kellner wieder weg war, sprach er weiter: „Sie hat sich mit ihm getroffen. Danach hat sie mich angerufen, dass sie für ein paar Tage zu ihm in die Schweiz mitfährt und dort die Untersuchung durchführen will. Wahrscheinlich hat sie kein Ladegerät für ihr Handy dabei! Du kennst ja Sonja, ständig vergisst sie ihren Akku aufzuladen! Oder es gibt dort keinen Empfang. Was weiß ich!“ Dr. Adler hatte hauptsächlich zu Lilly gesprochen und sie angesehen. Seine Geschichte hatte sich plausibel angehört. Ich glaubte ihm kein Wort! Sonjas Freundin gab sich aber anscheinend mit dieser Erklärung zufrieden. Sie nickte.
„Du rufst mich aber gleich an, sobald du von ihr hörst. Oder noch besser, du sagst ihr, sie soll mich anrufen!“, schärfte sie Dr. Adler ein.
Mir entging nicht, dass der Doktor sich nervös mehrmals im Lokal umgesehen hatte. Was hatte das zu bedeuten? Warum hatte er überhaupt auf dem Treffen hier bestanden?
Ich hatte meinen Espresso ausgetrunken und erhob mich um mich von den beiden zu verabschieden.
„Ich muss auch zurück!“, sagte Sonjas Mann schnell.
Lilly sah uns beide ratlos an, akzeptierte aber unseren überstürzten Aufbruch.
Ich war zuerst an der Tür und hielt sie Dr. Adler auf. „Ich habe Katzenfutter im Wagen! Können sie das vielleicht mitnehmen?“
Er nickte knapp und folgte mir zu meinem Kombi.
Als wir vor der offenen Heckklappe standen, konfrontierte ich ihn mit meinen Zweifeln: „Ich nehme ihnen die Geschichte nicht ab. Ich will die Wahrheit wissen!“
Ich erzählte ihm davon, dass Selma mir von seinem Streit am Telefon und dem verwüsteten Arbeitszimmer berichtet hatte.
„Das erklärt aber noch lange nicht, warum Sie deshalb so einen Aufwand betreiben?“ Seine Stimme hatte einen drohenden Unterton. Er sah mich mit funkelnden Augen abwartend an. Als ich schwieg, lachte er verächtlich. „Sie verkaufen mich doch für blöd! Ich bin vielleicht alt, aber ich bin nicht senil!“ Er deutete auf den Anhänger um meinen Hals. „Denselben Anhänger hat Sonja unter ihrem Kopfkissen liegen und hütet ihn wie einen Schatz! Mir ist nicht entgangen, wie merkwürdig sie sich in den letzten Monaten verhalten hat. Ihre erhöhte Abwesenheit, die vielen Spaziergänge und vermehrten Ausflüge alleine und mit Lilly, die sie vorher nicht gemacht hat. Sie schlafen mit meiner Frau!“ Den letzten Satz hatte er regelrecht ausgespien.
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Sicher hatte mich mein schuldbewusster Blick längst verraten.
Meine Stimme klang heiser, als ich flehte: „Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit!“
Er starrte mich erbittert an. „Die Wahrheit!“ Er verzog verbittert den Mund. „Ich bin wütend auf Sie, aber nicht so wütend, dass ich Sie in diese Sache hineinziehen würde. Sie haben eine kranke Frau und Kinder!“ Er schüttelte den Kopf. „Fahren Sie nach Hause und vergessen Sie die ganze Sache. Sie können nichts tun!“
Ich hatte also Recht, er verschwieg etwas!
„Sagen Sie es mir, oder ich fahre auf der Stelle zur Polizei und melde Sonja als vermisst!“, drohte ich ihm jetzt.
„Das werden Sie nicht tun!“ Er klang nun panisch.
Ich rüttelte ihn an den Schultern. „Sagen Sie es mir!“, schrie ich ihn an.
Er befreite sich aus meinem Griff. Holte sein Handy aus der Jackentasche und tippe auf dem Display herum. Schließlich hielt er mir eine Nachricht vor die Nase. Es war ein Video. Er drückte auf „Play“.
Ich sah Sonja. Sie stand in einem großen, schmutzig wirkenden Raum. Vielleicht eine leere Lagerhalle. Sie war offensichtlich gefesselt. Ihre Hände waren unnatürlich hinter ihrem Rücken verborgen. Mit geweiteten Pupillen blickte sie verängstigt jemanden an, der offensichtlich das Video aufnahm. Eine Stimme mit starkem Akzent sprach: „Wie Sie sehen, haben wir Ihre Frau! Sie haben 24 Stunden Zeit den Vertrag, den wir Ihnen geschickt haben, zu unterschreiben, oder ihr wird ein furchtbarer Unfall zustoßen. Es liegt in Ihrer Hand!“ Sonja war bei diesen Worten auf den Mann zugegangen und schrie in die Kamera: „Julius! Tu es nicht! Er wird uns danach beide umbringen! Ich habe es gehört, als ...“ Ein glatzköpfiger Mann mit einem auffälligen Tattoo auf dem Hinterkopf trat in die Aufnahme. Er trug eine militärische Hose und eine schwarze Lederjacke. Deutlich konnte man sehen, wie er Sonja heftig mit dem Handrücken ins Gesicht schlug. Ihr Kopf wurde zurückgerissen und sie fiel taumelnd nach hinten. Hart kam sie auf dem verdreckten Boden auf und schrie schmerzerfüllt. Ihre Lippe blutete. Derselbe Mann trat ihr in den Magen, sodass sie nur noch wimmern konnte. „Versuchen Sie nicht die Polizei einzuschalten,“ hörte man nun wieder die Stimme, „wenn sie Ihrer Frau keinen qualvollen Tod zumuten wollen! Wir holen sie und den unterschriebenen Vertrag morgen um 21 Uhr ab.“ Die Aufnahme endete.
Ich stand wie erstarrt. Mein Magen fühlte sich an, als hätte der Mann mir den Fußtritt versetzt. Entsetzt sah ich Dr. Adler an, der das Telefon mit zitternder Hand zurück in die Jacke schob.
„Verstehen Sie jetzt, warum Sie hier nichts ausrichten können? Das sind Söldner! Killer! Die tun für Geld alles!“ Seine Stimme klang gebrochen. Seine Schultern wirkten genauso. Seine sonst so aufrechte Haltung war weg.
Minutenlang standen wir uns gegenüber, unfähig etwas zu sagen.
„Was werden Sie jetzt tun?“, brachte ich mühsam hervor.
„Ich werde alles tun, was die verlangen, solange es Sonja vor weiteren Qualen schützt.“ Er machte eine Pause. „Es tut mir leid, wenn ich Sie da mit reingezogen habe. Falls wir die nächsten 24 Stunden nicht überleben, ist es mir zumindest ein Trost, dass jemand weiß, was wirklich passiert ist. Sicher lassen sie es wie einen Unfall aussehen. Deshalb wollte ich nicht, dass Lilly zu mir kommt. Das Haus ist verwanzt. Deshalb auch die Unordnung in meinem Arbeitszimmer, sicher habe ich nicht alle gefunden. Sie erpressen mich schon seit Wochen. Wahrscheinlich werden wir sogar jetzt in diesem Augenblick beobachtet.“
„Worum genau geht es?“, verlangte ich von ihm zu wissen.
„Wie soll ich das auf die Schnelle erklären?“, sein Kopf neigte sich kurz zur Brust. „Es gibt starke, mächtige Kräfte, die verhindern wollen, dass bekannt wird, dass natürliche Heilmittel gegen Krebs existieren!“ Er schien mit seiner Erklärung zufrieden und fuhr fort: „Eine Welt ohne Krebs wäre ein finanzieller Schock für die organisierte Medizin. Wissen Sie zum Beispiel, dass Vitamin B17 zur Krebsheilung eingesetzt werden kann?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Seit 100 Jahren ist das bekannt! Doch die FDA behauptet einfach es sei giftig! Das ist natürlich absurd, denn `alle´ für Chemotherapien zugelassenen Medikamente sind extrem giftig! Wenn man Affen im Zoo frische Pfirsiche oder Aprikosen gibt, knacken sie den Kern und fressen den Inhalt. Ihr Instinkt zwingt sie dazu! Diese Kerne enthalten Vitamin B17 in konzentrierter Form! Die reinen Natursubstanzen können viel effektiver sein, als ihre künstlichen Zerrbilder, aber bei der Förderung natürlicher wirksamer Substanzen gibt es für die Pharmakartelle nichts zu gewinnen!“ Er machte eine kurze Pause. „Es geht nicht um den Sieg gegen den Krebs, sondern nur um den Kampf gegen ihn. Dieser Kampf soll ewig weitergehen, denn er ist sehr lukrativ!
Ein riesiges Kartell beherrscht die chemische Industrie der ganzen Welt! Es gibt so viele verborgene Verbindungen und sie betreiben eine weitgespannte, effiziente Spionagemaschinerie. Die Pharmaindustrie bringt jedes Jahr zahlreiche neue Medikamente auf den Markt. Die Ärzte wissen gar nicht mehr, wie wirksam diese sind, sie verschreiben sie einfach. Sie werden von Pharmavertretern überredet und durch bezahlte Werbung überzeugt. Es geht um Milliarden von Dollar!“ Er schnaubte resigniert.
„Harmlose, nicht-pharmazeutische Substanzen, wie die Mistel, die zu den am besten erforschten Heilpflanzen zählt, werden wiederum mit Restriktionen belegt.
Es sind mehr Menschen sinnlos an Krebs gestorben, als in all den Kriegen zusammen! Was bedeuten da zwei mehr?
Dieser Vertrag, den ich unterschreiben soll, ist nichts anderes als ein Betrug an der Welt. Das Kartell will wirksame Medikamente ausschließlich zum eigenen Nutzen patentieren lassen!
Krebs ist nicht gleich Krebs. Im Grunde ist kein Krebs wie der andere, sondern so individuell wie jeder Mensch. Bekanntlich nützen die schönsten Farben nichts, wenn der Künstler nicht malen kann! Genauso verhält es sich mit der medizinischen Kunst. Man muss mit Fingerspitzengefühl arbeiten!
Sonja ist darin eine wahre Künstlerin! Ohne sie hätte unsere Klinik nicht den Ruf, den sie hat. Sie behandelt jeden Menschen aus ganzheitlicher Sicht. Das ist ihr Geheimnis!“ Tränen waren bei den letzten Sätzen in seine Augen getreten.
„Es muss doch etwas geben, das wir tun können?“, beschwor ich ihn.
„Die sind zu mächtig! Sie können sich nicht vorstellen, wozu die im Stande sind."
Mir fiel ein, was Sonja mir von seiner Zeit in den USA erzählt hatte. Kein Wunder, dass er so resigniert war.
"Fahren Sie nach Hause!“ Er sah mich noch einmal eindringlich an, dann nahm er den Karton Katzenfutter und ging zu seinem Wagen.
Ich fühlte mich wertlos.
Nachdem ich ihm nachgesehen hatte, wie er in sein Auto stieg und davon fuhr, setzte ich mich selbst hinters Steuer. Meine Finger umkrampften das Lenkrad. Am liebsten hätte ich es kurz und klein geschlagen. Das Video und Sonja gingen mir nicht mehr aus dem Kopf.
Es war kurz nach 19 Uhr. Ich fuhr nach Hause. In der Küche suchte ich nach den besonders scharfen Keramikmessern, die wir vor den Kindern versteckten. Ich besaß sonst keine Waffen und kannte auch niemanden, den ich hätte fragen können. Die Kinder brachte ich zu meiner Schwester. Sie wurden allesamt von mir überrumpelt, trauten sich aber nicht zu widersprechen. Mein grimmiger Gesichtsausdruck hatte sie wahrscheinlich verschreckt. Ich hatte mich ebenfalls erschreckt, als ich im Rückspiegel meine Augen sah.
Kurz vor 20 Uhr klopfte ich an die Balkontür von Dr. Adlers Arbeitszimmer. Ich hatte am Personalparkplatz hinter dem Gebäude geparkt und mich durch den Garten und über die Terrasse geschlichen. Die Vorhänge waren zwar wieder aufgehängt worden, aber nicht zugezogen. Ich sah ihn nervös im Raum herumgehen. Erschrocken sah er zu mir, konnte mich aber wahrscheinlich nicht sehen, da es draußen bereits stockdunkel war. Er kam auf mich zu. Überrascht öffnete er die Tür, als er mich erkannt hatte. Er trat auf die Terrasse und bedeutete mir, nichts zu sagen. Dann zog er mich in den Garten. „Was tun sie hier Herr Egin?“
„Wenn die Kidnapper kommen und sie abholen, werde ich ihnen heimlich folgen. Vielleicht kann ich von dort die Polizei alarmieren!“, erklärte ich ihm meinen Plan.
„Sie wissen wie gefährlich diese Leute sind! Wollen Sie dieses Risiko wirklich eingehen?“
Ich schluckte. Überlegte, ob es klug wäre ihm meine Beweggründe zu erklären.
„Ich tue es für Sonja! Ich kann nicht anders! Ich liebe sie! Ja, ich bin bereit mein Leben für sie zu riskieren!“
Einen Moment standen wir uns wieder schweigend gegenüber. Dann gab er sich einen Ruck. „Gehen Sie zur Garage hinüber. Es gibt eine Tür auf der Rückseite, ich öffne sie von innen!“
Kurz darauf ließ er mich in die Garage. Misstrauisch hatte er mir über die Schultern geblickt.
„Hier ist niemand. Ich bin mir ziemlich sicher! Warum sollten die ihren Garten überwachen?“
Er drückte mir eine Smartwatch in die Hand. „Sie können uns nicht mit dem Wagen folgen, das würden die sofort merken. Nehmen sie die Live Wire!“
Er ging in den hinteren Teil der geräumigen Garage.
Staunend stand ich vor unzähligen Motorrädern.
„Wow! Sie haben ein Harley Davidson Museum?“, meinte ich anerkennend.
„Eine Liebhaberei und gleichzeitig eine Geldanlage.“
Zielstrebig lief er zu einem modern aussehenden Motorrad. Ein Ladekabel verschwand dort, wo sich normalerweise der Benzintank befand.
„Ein Elektromotorrad?“
„Das ist die Live Wire! Die gibt es offiziell noch gar nicht in Europa! Ein Freund aus den USA hat sie mir beschafft. Die beschleunigt von 0 auf 100 km/h in 3 Sekunden und das fast lautlos!“ Er erklärte mir, wie man sie über die Smartwatch startete, wo der Lichtschalter war und wie man in den Rennmodus schaltete. „Sie müssen nur aufpassen, wenn die Straße nass ist, dann ist sie nicht sehr stabil! Aber heute geht ein warmer Wind, ich glaube nicht, dass es Frost geben wird!“
Die Maschine hatte ein modernes Display, auf dem man aus verschiedensten Eigenschaften auswählen konnte. Unter anderem gab es ein Navi mit hochauflösender Smart-Drive-Funktion. Jede Steigung, Kurve und andere Hinweise waren darauf ersichtlich. Außerdem ließ es sich mit dem Handy koppeln und im Notfall war es möglich, auch direkt zu telefonieren und den Notruf zu wählen.
„Sie werden wahrscheinlich das Licht ausschalten müssen, wenn sie uns unauffällig verfolgen wollen, da könnte das hilfreich sein!“
Ich nickte verstehend.
Er öffnete einen Schrank, in dem er Motorradausrüstung aufbewahrte. Ich zwang mich in eine Montur und er reichte mir einen Helm mit Integralvisier, an dem man die Sonnenblende wegklappen konnte. Ich stand seinem Einfall, den Kidnappern mit dem Motorrad zu folgen, immer optimistischer gegenüber. Der Plan konnte aufgehen!
Die Harley hatte sogar einen Retourgang, mit dem man überraschend gut sogar in der engen Garage reversieren konnte. Irgendwie schafften wir es, sie vorsichtig durch die schmale Hintertüre in den Garten zu rollen.
„Warten Sie!“ Dr. Adler drückte mir zwei längliche Gegenstände in die Hand. „Die habe ich eigentlich für mich vorbereitet, aber wahrscheinlich werden sie mich ohnehin durchsuchen und sie mir wegnehmen.“
Ich sah ihn fragend an.
„Das sind Hochdruck-Injektions-Pens. Sie funktionieren im Prinzip wie ein Kugelschreiber. Man hält sie an die Haut und drückt hier hinten drauf und die Injektion erfolgt mit 800km/h.“
„Ohne Nadel? Was ist da drin?“, erkundigte ich mich unwohl.
„Phenprocoumon. Hochdosiert.“
Ich starrte ihn ratlos an.
„Rattengift!“, erläuterte er schulterzuckend. „In einer tödlichen Dosis. Also seien Sie vorsichtig!“
Skeptisch verstaute ich die Pens in einer Tasche. Als ich aufsah, hielt Dr. Adler eine Pistole in der Hand.
„Nehmen Sie die auch. Man kann nie wissen!“
Meine Finger zitterten, als ich die Waffe in der Brusttasche verstaute. Ich hoffte, ich würde diese Dinge nicht benutzen müssen.
„Bitte rufen Sie die Polizei nicht zu früh!“, bat der Doktor eindringlich. „Sonja darf nichts geschehen!“
Ich nickte knapp. „Ich hoffe alles wird gut ausgehen“, versuchte ich ihm Mut zu machen. Seine Nervosität stand meiner in nichts nach.
„Ich gehe jetzt besser zurück. Falls sie früher als angekündigt auftauchen“, informierte er mich.
Ich rollte vorsichtig im Schritttempo durch den stockdunklen rutschigen Garten um das Gebäude herum. Falls die Verbrecher den Bereich vor dem Haus observierten, durften sie von unserer Aktion nichts mitbekommen. Der Mond war zunehmend und meine Augen gewöhnten sich an die dadurch erkennbaren Umrisse in der Dunkelheit. Am Personalparkplatz drehte ich ein paar langsame Runden, um mich mit dem Motorrad vertraut zu machen. Außer einem leisen Surren, dem Knirschen des Kieses und meinem lauten Herzschlag, war nichts zu hören. Einmal gab ich zu viel Gas und der Hinterreifen brach fast weg. Nur mit Mühe konnte ich das Gleichgewicht halten. Ich hielt mit klopfenden Herzen an und stellte das Motorrad ab. Aus dem Kofferraum meines Wagens holte ich den schweren Drehmomentschlüssel und schob ihn mir vorne in die Jacke. Das kleine Messer steckte in meinem knöchelhohen Stiefel, das größere war wie ein Schwert am Gürtel befestigt. Ich fühlte mich bewaffnet bis unter die Zähne. Was das gegen einen Haufen gedungener Killer helfen sollte, würde sich weisen. Danach brachte ich mich in eine Position, von der aus ich die Zufahrt unauffällig im Blick hatte und wartete. Ich sah auf die Uhrzeit auf dem Display. Es war kurz nach halb neun. Meine Aufregung stieg von Minute zu Minute. Mein Atem ging stoßweise. Ich versuchte mich zu beruhigen und holte ein paar Mal tief Luft. Der kalte Klumpen in meinem Magen verschwand jedoch nicht. Was, wenn ich es vermasselte? Wenn ich die Erpresser verlor? Ich dachte an Sonja. Das durfte nicht passieren!
Ich sah einen Lichtschimmer hinter Selmas Fenster. Sie hatte die Vorhänge zugezogen, war aber offensichtlich noch wach. Ich hoffte, die Verbrecher gingen nicht ins Haus. Wie würden sie reagieren, wenn sie meine Frau dort fanden? Ich durfte mich nicht verrückt machen! Trotz der wärmenden Motorrad-Montur, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Mehrmals musste ich meinen Nacken und die Arme schütteln, weil sich meine Schultern unnatürlich verkrampften. Warum schien die Zeit genau jetzt beinahe still zu stehen?
Endlich hörte ich ein sich näherndes Motorgeräusch. Es war eine dunkle Limousine, mehr konnte ich aus dieser Entfernung nicht erkennen. Zwei Männer stiegen aus, der Fahrer war im Wagen geblieben. Der Motor lief weiter.
Ich beobachtete, wie die zwei zur Haustüre gingen und die Klingel betätigten. Kurz darauf öffnete sich die Tür und Dr. Adler sagte etwas zu den Kerlen. Es gab einen kurzen Wortwechsel, den ich nicht hören konnte. Ein Umschlag wechselte den Besitzer. Dr. Adler hob die Arme und einer der Männer durchsuchte ihn. Dann bewegten sie sich zu dritt auf die Limousine zu. Ein Mann hielt dem Doktor eine der hinteren Türen auf und wartete, bis er saß. Dann warf er die Tür zu und lief um den Wagen herum und stieg ebenfalls ein. Der zweite Mann hatte am Beifahrersitz Platz genommen.
Nachdem das Fahrzeug gewendet hatte und fast aus meinem Blick verschwunden war, folgte ich ihnen vorsichtig ohne Licht. Ich fuhr mittig auf der Straße und konzentrierte mich auf die Rücklichter vor mir. Der Wagen hielt sich an die Geschwindigkeitsbeschränkungen. Auf der Landstraße konnte ich mich an den leicht reflektierenden Straßenmarkierungen orientieren und behielt den großen Abstand bei. Hier war derzeit kaum Verkehr. Einige Fahrzeuge begegneten uns, ich glaubte nicht, dass sie mich gesehen hatten. Wenn wir in die Stadt kämen, würde ich mir etwas anderes einfallen lassen müssen. Hier war die Gefahr, die Limousine zu verlieren, am größten. Alle Ampeln waren in Betrieb und auch der Verkehr war stärker. Ich fuhr an den Straßenrand und schaltete das Licht ein. Dann nahm ich die Verfolgung wieder auf. Am ersten Kreisverkehr wartete ich, bis ein anderes Fahrzeug sich zwischen mich und die Verbrecher geschoben hatte. Der Abstand vergrößerte sich, aber ich wusste, ein kurzer Dreh am Gashebel würde mich in Windeseile wieder aufholen lassen. Zum Glück hielt der Wagen vor mir den Abstand konstant und fuhr sogar in dieselbe Richtung. So durchquerten wir die Stadt mit ihrer hellen Straßenbeleuchtung und gelangten auf die Schnellstraße. Einen kurzen Schrecken bekam ich, als das Auto zwischen uns zum Überholen ansetzte. Ich schaltete sofort das Licht aus und ließ mich zurückfallen. Hinter mir war alles dunkel. Ich hoffte, dass würde noch lange so bleiben. Gott sei Dank beschleunigte die Limousine jetzt auf die erlaubte Höchstgeschwindigkeit, so konnte uns von hinten so schnell niemand einholen. Die Straße hier war in einem perfekten Zustand und die Orientierung im Dunklen fiel mir nicht schwer. In respektvollen Abstand folgte ich dem Wagen bis zur Autobahnauffahrt. Dort musste ich natürlich wieder das Licht anschalten. Ich fädelte mich, mit einigen Fahrzeugen Abstand zwischen uns, in den fließenden Verkehr ein. Mein Verfolgungsobjekt verlor ich keine Sekunde aus dem Blickfeld. Sobald LKW´s mir die Sicht nahmen, wechselte ich auf eine Überholspur, passte aber immer meine Geschwindigkeit an. Die Kühle des Fahrtwindes drang inzwischen durch die Motorrad-Montur durch und vermischte sich mit meinem Schweiß. Meine Beine zitterten bereits vor Kälte. Kurz bekam ich Angst, dass der Akku des Motorrades nicht ausreichen würde. Ich wechselte am Display die Anzeige. Der Akku zeigte noch fast denselben Stand wie beim Abfahren. Ich hatte zum Bremsen fast nur die Rekuperation benutzt. Das machte sich bezahlt. Außerdem war ich bisher nur im Eco-Modus gefahren.
Die Limousine blinkte und nahm eine Ausfahrt in Richtung Landeshauptstadt. Der Verkehr nahm weiter zu. Ich ließ mich sicherheitshalber noch mehr zurückfallen. Nach einiger Zeit bogen wir in das Industriegebiet am Hafen ab. Ich drehte sofort den Lichtschalter wieder ab. Hier war um diese Zeit alles dunkel. Ich musste mich wieder daran gewöhnen den Rücklichtern des Wagens als einzigen Anhaltspunkt im Finsteren zu folgen. Zielstrebig bewegte sich die Limousine durch die mir gänzlich unbekannten Straßen. Dann drosselte sie das Tempo und bog in ein verlassen wirkendes Fabriksgelände ein. Ich hielt an und beobachtete aus einiger Entfernung, wohin der Wagen fuhr. Bevor ich ihn aus den Augen verlor, nahm ich die Verfolgung wieder auf. Er hielt vor einem großen flachen Gebäude, vor dem mehrere Container und ein Lieferwagen standen. Abwartend beobachtete ich, wie drei Personen und Dr. Adler ausstiegen und durch eine unscheinbare Türe das Objekt betraten. Ich rollte lautlos in Schritttempo näher ran und hielt hinter einem der Container. Sollte ich jetzt schon die Polizei verständigen? Was sollte ich sagen?
Ich stellte die Maschine ab und schlich näher an das Gebäude. Als Erstes würde ich die Reifen der Fahrzeuge zerstechen! Sollte die Polizei hier anrauschen, könnten sie zumindest nicht ohne Probleme flüchten. Ich zückte das große Messer an meinem Gürtel und machte mich ans Werk. Zuerst zerstach ich die dem Gebäude abgewandten Reifen des Mercedes, dem ich so lange gefolgt war. Wenn jemand aus dem Gebäude kam, würde es nicht sofort auffallen, wenn etwas mit der Bereifung nicht stimmte. Dann machte ich mich über den Lieferwagen her. Plötzlich hörte ich ein Geräusch! Ich sah, wie ein Mann aus dem Gebäude trat. Es war der Typ aus dem Video, der Sonja geschlagen hatte. Eindeutig! Ich erkannte ihn an seiner Glatze und der Statur. Nie wieder würde ich diesen Mann vergessen! Am liebsten hätte ich sofort die Pistole, die Dr. Adler mir gegeben hatte, gezogen und den Kerl erschossen. Dann würde aber die Hölle hereinbrechen und es könnte Sonja und Dr. Adler gefährden. Ich blieb hinter dem Lieferwagen hocken und beobachtete den Mann. Er sah sich oberflächlich um. Mich und das Motorrad konnte er von seiner Position aus nicht sehen. Offensichtlich trug er ein Headset. Ich hörte, wie er irgendjemanden Bescheid gab, dass hier draussen alles ruhig war. Aus seiner Hose kramte er ein Päckchen Zigaretten hervor und zündete sich eine an. Dabei wendete er sich dem Gebäude zu und ich sah, dass eine Maschinenpistole an seiner Seite baumelte. Ich konnte jetzt auch nicht die Polizei anrufen, das würde er hören. Ich blieb in meinem Versteck und beobachtete ihn. Vorsichtig nahm ich einen der Injektions-Pens aus der Tasche und zog den Drehmomentschlüssel hervor. Leise kroch ich um den Lieferwagen herum und näher an ihn ran. Nach einer gefühlten Ewigkeit, zündete er sich die nächste Zigarette an und drehte mir dabei nun den Rücken zu. Jetzt oder nie! Ich klemmte mir den Pen zwischen die Zähne, nahm den Drehmomentschlüssel mit beiden Händen und sprintete, so schnell ich konnte, auf ihn zu. Er hatte wohl etwas gehört, denn im letzten Moment drehte er sich hastig um. Ich erwischte ihn hart an der Schläfe und er ging lautlos zu Boden. Schnell setzte ich ihm das Injektionsgerät an den Hals und jagte ihm eine wohl tödliche Dosis in den Körper. Er regte sich nicht mehr. Rasch packte ich ihn und zog ihn hinter den Lieferwagen. Vorsichtig nahm ich sein Headset an mich und befestigte es an meinem Ohr. Ich konnte allerdings nichts hören. Sicher war er nicht direkt mit den anderen Verbrechern verbunden gewesen. Ich sah, dass er eine kugelsichere Weste trug. Ohne Zögern schälte ich den Mann aus seiner Lederjacke und zog sie ihm aus. Nachdem ich sie mir selbst übergezogen hatte und mir seine Automatikwaffe umgehängt hatte schlich ich zurück zum Motorrad und wählte den Notruf. Vorsichtshalber steckte ich das Headset kurz in meine Hosentasche. Ich hatte Angst, es könnte jemand hören, wenn ich telefonierte. Als sich eine Stimme erkundigte was passiert sei, sagte ich, ich hätte beim Joggen Schüsse gehört und gab die Straßen Bezeichnung durch, die das Navi anzeigte. Die Person an der Notrufleitung bat mich in der Leitung zu bleiben, doch ich drückte sie weg. Danach klemmte ich mir das Headset wieder ans Ohr und schlich auf die Tür zu. Vorsichtig öffnete ich sie einen kleinen Spalt. Offensichtlich führte sie in eine Art Vorraum, denn es brannte kein Licht und war nur leicht dämmrig dahinter. Achtsam, ohne einen Laut zu verursachen, schob ich mich ins Innere und schloss die Türe wieder. Ich versuchte meinen Atem zu beruhigen, bevor ich weiterschlich. Aus einem angrenzenden Raum drangen Licht und Stimmen. Ich sah Dr. Adler und zwei Männer. Einer bedrohte den an einem Schreibtisch sitzenden Doktor mit einer Automatikwaffe, während der zweite ihm einen Haufen Blätter reichte und auf englisch auf ihn einredete. Sonjas Mann hatte einen Stift in der Hand und unterschrieb offensichtlich irgendwelche Verträge.
Ich musste Sonja suchen! Vorsichtig schlich ich an der abgewandten Seite im Halbschatten an dem Büroraum vorbei, weiter den Gang entlang.
Der Vorraum mündete in einer schwach erleuchteten Halle. Nur in einer der hinteren Ecken brannte Licht. Ein Mann lehnte lässig eine Automatikwaffe vor der Brust haltend an einer Wand. Einige Meter von ihm entfernt sah ich Sonja. Sie saß am Boden und lehnte halb an der Wand. Sie wirkte irgendwie betäubt. Ihr Kopf war zur Seite gefallen, ihre Augen waren aber geöffnet. Sie hatte einen starken Bluterguss im Gesicht und in ihrem Mundwinkel erkannte ich getrocknetes Blut. Wie sollte ich Kontakt zu ihr aufnehmen, ohne dass ihr Bewacher es merkte? Ich musste ihn irgendwie ablenken, bevor die Polizei eintraf. Nur wie? Fieberhaft sah ich mich um.
Irgendeine große Maschine befand sich nur wenige Meter von Sonjas Position entfernt. Wenn ich unbemerkt bis dorthin gelangen würde, könnte ich mich dahinter verbergen! Ich dachte an Dr. Adlers geniale Idee, ohne Licht die Verfolgung aufzunehmen. Ich musste irgendwie das Licht in der Halle abschalten! Hier draußen befand sich kein Schalter, es konnte nicht anders sein, er war auf der anderen Seite des Durchgangs. Wahrscheinlich ganz in der Nähe! Sonjas Bewacher sah wieder einmal zu ihr hinunter. Ich nutzte die Gelegenheit und steckte meinen Kopf schnell in die Halle. Dabei kam mir zu Gute, dass ich hier im Schatten stand. Tatsächlich! Eine ganze Reihe von Schaltern befand sich nur wenige Zentimeter entfernt. Ich beobachtete den Mann, er sah nicht in meine Richtung. Ich zog einen Handschuh aus. Vorsichtig tastete ich mit den Fingern die Anordnung der Schalter ab. Ich wurde rasch fündig. Nur einer stand in einer abweichenden Position zu den anderen. Ich drückte darauf und sofort ging das Licht aus. Der Mann fluchte und ich hörte, wie er seinen Posten verließ, um nach dem Grund der plötzlichen Dunkelheit zu suchen. Währenddessen war ich längst lautlos hinter die Maschine gerannt. Leise flüsterte ich Sonjas Namen.
Publication Date: 08-07-2020
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