Raen – Das Siegel des Orakels
von Anette Strohmeyer
Zweiter Teil:
„Ichor - Heimatlos“
Prolog
Er war allein im Wald. Es begann leicht zu schneien. Doch ihm war nicht kalt, der Entschluss brannte in ihm wie eine züngelnde Flamme. Er würde jetzt seinem endgültigen Schicksal entgegentreten und alles, was er bisher in seinem Leben getan hatte, die guten wie die schlechten Dinge, würde endlich einen Sinn bekommen. Hinter ihm lagen die rauchenden Trümmer seiner Heimat, und ein ganzes Volk wartete darauf, dass er die Schlacht entschied.
Obwohl er quer durch den frisch verschneiten Wald ging, sah er den Pfad deutlich vor sich. Den Pfad seines Lebens, der immer noch schnurgerade nach vorne führte. Aber da war jetzt etwas auf ihm. Ein dunkler Fleck in der Ferne. Er kniff seine Augen zusammen und konzentrierte sich auf diesen Fleck, doch er konnte nichts erkennen. Er musste näher heran. Und je weiter er ihm schließlich entgegen ging, desto größer wurde der Fleck. Er wuchs in die Länge wie ein Schatten in der Abenddämmerung. Und dann erkannte er endlich, was es war. Es war ein Mensch. Ein Mann stand vor ihm auf seinem Pfad. Raen blieb stehen. „Es ist soweit“, sagte er sich und öffnete seine Augen.
Auf seinem Pferd trabte er durch die Straßen von Borgossa. Eine aufsehenerregende Gestalt, der noch immer alle nachsahen, wenn er an ihnen vorüberkam. Leute wie er waren selbst in einer Stadt wie dieser, deren Bewohner bereits alle Merkwürdigkeiten dieser Welt gesehen haben mochten, ein seltener Anblick. Aber er war die unverhohlen neugierigen Blicke inzwischen gewohnt und deshalb ignorierte er sie. Dennoch: Er war ein Kuriosum, der obskure Schatten eines sagenhaften Volkes, das man hier nur aus Erzählungen kannte.
Und im Gegensatz zu seiner Heimat war hier in Borgossa alles Fremde höchst willkommen; die Stadt lechzte geradezu nach Neuigkeiten, egal welcher Art sie waren. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen, und an der nächsten Kreuzung lenkte er sein Pferd leichtfüßig auf eine der Hauptstraßen, die sternförmig vom Herzen der Stadt und durch die Stadttore hinaus aufs Land führten. Er reihte sich in den nachmittäglichen Strom der Menschen, Wagen und Tiere ein, der sich auf ihr in beiden Richtungen entlang wälzte, und seine ungewöhnliche Erscheinung ging im Gewimmel unter. Das Lächeln wurde breiter. Wie unterschiedlich doch die Menschen sein konnten!
Seit Raen seine Heimat verlassen hatte, war ihm vieles durch den Kopf gegangen. Unzählige neuartige Dinge hatte er gesehen und erlebt; Dinge, die so anders waren, als das, was er kannte. Und er war fremden Menschen begegnet. Die einen hatte er kennen und schätzen gelernt und bei den anderen war er froh gewesen, ihnen entkommen zu sein, doch alle waren sie ganz und gar nicht wie die Menschen in Hy. Raen hatte auf schonungslose Weise feststellen müssen, dass er nicht die leiseste Ahnung davon gehabt hatte, wie die Welt vor den Grenzmauern von Hy aussah.
Er war gänzlich unvorbereitet gewesen - sie hatten ihn nicht vorbereitet - und er war von einem Schlamassel in den nächsten getappt wie der buchstäbliche hyaunische Bauerntrottel. Zunächst hatte er sich über sich selbst und seine Fehler geärgert und war froh gewesen, die ganzen Schmähungen nicht verstanden zu haben, da er zu Beginn kaum ein Wort Graçenisch gesprochen hatte. Doch mit der Mehrung seines Wortschatzes war schließlich auch die schmerzhafte Wirkung der Beleidigungen gekommen. „Schweinehirt, Schicksalsspinner, Schafshirn, Waldmännchen oder hyaunisches Inzuchtpack“, waren nur ein paar der Beispiele, die er zu hören bekommen hatte. Dieser Mangel an Respekt, der ihm entgegengebracht worden war, hatte ihn erschrocken und tief getroffen, wurde in seinem Volk doch nie jemand beschimpft. Aber Rücksicht nahm hier keiner, das hatte er sehr schnell begriffen, und so hatte er sich als Abwehr gegen die bösen Worte in sich zu rückgezogen und es vermieden, fremde Menschen anzusprechen, selbst wenn er sie lediglich nach dem Weg fragen wollte. Die arrogante Herablassung in ihren bloßen Blicken, wenn sie ihn angesehen und ihn dabei milde belächelt hatten, so als wüssten sie ganz genau über seine bemitleidenswerte Unerfahrenheit bescheid, hatte ihn sich fühlen lassen wie ein dummer Junge, der eine noch dümmere Frage gestellt hatte. Das hatte dazu geführt, dass er schließlich nicht mehr in Gasthäusern verkehrt und sein Lager wieder im Wald aufgeschlagen hatte. Das war die Zeit gewesen, in der er sich schrecklich einsam gefühlt hatte, mutterseelenallein in einem fremden Land. Schlimmes Heimweh hatte ihn geplagt, und gleichzeitig war er zornig auf die Leute zu Hause gewesen, die ihn nicht auf das vorbereitet hatten, was in der Welt draußen geschah. Sie hatten ihn einfach ins kalte Wasser gestoßen, und er hatte sich nun ohne jegliche Hilfe an die Oberfläche strampeln müssen. Das nahm er ihnen - Lako, dem Clanrat, dem Oberpriester, Loenka und seinem Vater - bis heute übel. Sie hätten ihn doch wenigstens vor den gröbsten Fehlern warnen können. Lediglich eine kleine Sammlung der gängigsten graçenischen Wörter hatten sie ihm mitgegeben. Daran hatte er sich geklammert wie ein frommer Pilger an sein Amulett. Das Pergament mit den schwer auszusprechenden Wörtern war sein einziger Freund und Helfer gewesen, es war der Schlüssel zu der fremden Kultur, die er erst verstehen lernen musste. Er hatte es gut vor Nässe geschützt in einer Tasche gehütet, die er unter seinen Kleidern trug. In dieser Tasche hatte er auch das Gold versteckt gehalten, mit dem er sein zukünftiges Leben bestreiten sollte. Wenigstens daran hatten sie gedacht und ihm erklärt, wie man Gold zu Geld macht, was Geld war und dass Gold außerhalb Hys einen außerordentlichen Wert besaß. Und noch wichtiger: Dass man nie zu erkennen geben durfte, wie viel man davon bei sich trägt!
Unauffällig wie ein Schatten hatte Raen sich, nachdem er die Hauptstraßen verlassen hatte, auf den abgelegensten Seitenpfaden bewegt, was den Weg nach Borgossa nicht unbedingt kürzer gemacht hatte. Aber dadurch hatte er einige Zeit zum Nachdenken gewonnen, Zeit, in der er sich so gut es ging selbst auf das vorzubereiten versuchte, was ihn in der märchenhaft großen Stadt erwarten würde. Und irgendwann kurz vor der Gebirgspassage in das borgossinische Flachland - als kein Weg mehr darum herum geführt hatte, nicht doch irgendwelchen fremden Reisenden zu begegnen - hatte sein Groll sich schließlich in Trotz gewandelt, und er hatte sich einen Ruck gegeben. Er hatte beweisen wollen, dass er sehr wohl fähig war, die Aufgabe zu erfüllen, für die sie ihn ausgewählt hatten.
‚Geh nach Borgossa an die Universität und lerne. Studiere sorgfältig und bringe uns das erworbene Wissen, auf dass wir es nutzbringend für unser Volk einsetzen können.’ So hieß sein Auftrag, den der Clanrat ihm in einer besonderen Zusammenkunft erteilt hatte. ‚Denn wir halten dich für geeignet, diese schwierige Aufgabe zu erfüllen! Du hast die besonderen Fähigkeiten, die man dafür braucht.’
‚Was ist eine Universität?’, hatte Raen gefragt, der sich von diesem unerwarteten Gunstbeweis des Rates überrumpelt gefühlt hatte. Nur wenige Leute wurden ins Ausland entsandt, um den Wissensstand des eigenen Volkes auszugleichen, aber dass sie ausgerechnet ihn dafür aussuchen würden, hätte er nie für möglich gehalten. Es hatte ihm geschmeichelt nach all der Schmach, die er hatte erleiden müssen.
‚Eine Universität ist eine Art höhere Schule. Dort gibt es auch nur die höchsten Meister der Künste und sie unterrichten Schüler, die aus allen möglichen Ländern zu ihnen kommen. Ihr Wissen ist weitaus tiefgründiger als das unserer Lehrmeister’, hatte Loenka geantwortet.
‚Und wie lange muss ich fort?’, hatte Raen wissen wollen, denn der Gedanke sich von Suneka trennen zu müssen, hatte ihm Unbehagen bereitet. Seine Hochzeit mit ihr war nahezu beschlossene Sache.
‚Ein Jahr oder auch zwei, je nachdem, wie schnell du einen Abschluss in einer der Disziplinen erhältst.’
‚Was für Disziplinen?’
‚Alle, die du nur wünschst. Du kannst dir aussuchen, was du studieren möchtest, solange du es für das Wohlergehen deines Volkes tust und diesen Aspekt allzeit berücksichtigst. Borgossa ist der Ort, an dem Fragen beantwortet werden, Raen, alle Fragen des Lebens! Man kann dort so viel lernen, wie man möchte. Du solltest dich freuen.’
Wissen im Überfluss und darüber hinaus noch welches, das es in Hy nicht gab? Damit hatten sie ihn letztendlich geködert. Seine wild in Aufruhr geratenen Gedanken waren von einem Moment auf den nächsten zum Stillstand gekommen. Auf einmal war es ihm egal erschienen, wie lange er noch würde warten müssen, bis er Suneka heiraten konnte, wenn er doch hier die Möglichkeit geboten bekam, endlich seinen Wissensdurst zu stillen, verbunden mit dem aufregenden Abenteuer einer Reise in die Fremde. Ohne noch weiter darüber nachzudenken, hatte er dankend eingewilligt.
Suneka war natürlich ganz und gar nicht begeistert gewesen, und ihr besorgter Blick hatte sich schnell mit Tränen gefüllt. Raen hatte sie zu trösten versucht, indem er sein Heiratsversprechen wiederholt und ihr die Vorteile nahegelegt hatte, welche diese großartige Aufgabe mit sich brachte. Es war eine Chance, mit der er seinen beschädigten Ruf wieder herstellen konnte, den er seit seinem unerlaubten Grenzübergang im Krieg innehatte. Denn auch wenn er seine Strafe gewissenhaft verbüßt hatte, fühlte er sich doch nicht rehabilitiert. In ganz Hy war seine Tat wie ein Lauffeuer bekannt und sein Name zu einer traurigen Berühmtheit geworden. Überall sprach man von Raen Shari als dem „Grenzgänger“. Das war natürlich ganz und gar nicht das, was er sich gewünscht hatte und einem normalen Leben nicht zuträglich. Dabei war Raen sehr darauf bedacht gewesen, so schnell wie möglich wieder gemäßigte Bahnen einzuschlagen. Er war sogar aus eigenem Antrieb gewillt gewesen, besonders in punkto Gehorsam gegenüber dem Clan Besserung zu geloben, damit es in Zukunft wieder ruhiger um ihn herum zuginge, wenn er bald seine Rolle als Familienvater einnähme. Er hatte es für sich selbst und Suneka tun wollen. So hatte er zumindest gedacht, denn er hatte sich nach all der Aufregung wirklich nach dem Frieden und der Geborgenheit in Sunekas Armen gesehnt.
‚Doch es ist wieder einmal anders gekommen’, dachte er jetzt, nicht sicher, ob es nun gut oder schlecht für sie beide war. Er lenkte Jakori durch das dichte Treiben der Stadt. All das war über ein Jahr her, und er fühlte sich gut, ... wenn das etwas zu bedeuten hatte. Mittlerweile hatte er es abermals in sehr kurzer Zeit vollbracht, sich einen Ruf zu erarbeiten, der in aller Munde war - allerdings einen ganz und gar positiven. In Borgossa war er jetzt jemand. Nicht mehr der einfältige Trottel vom Lande, sondern ein Mann, ein Krieger, dem man den gebührenden Respekt und Achtung entgegenbrachte. Raen verzog die Mundwinkel bei den Erinnerungen an das vergangene turbulente Jahr und nachdem er das Stadttor passiert hatte, wo es einen kleinen Stau gegeben hatte, bog er mit Jakori nach rechts in die nächste Seitenstraße ein. Erleichtert, dem Getümmel entkommen zu sein, atmete er einmal tief durch. Die Vorstadt, die sich außerhalb der Stadtmauern anschloss und deshalb Antemuras genannt wurde, durchquerte er am liebsten auf den Seitenwegen. Anders als in der Innenstadt kam man auf diesen hier schneller voran. In der Innenstadt von Borgossa war eigentlich immer alles verstopft, nur auf den Kanälen, welche die ganze südöstliche Hälfte der Stadt durchzogen, konnte man, wenn man ein Boot hatte, zügig von einem Punkt zum anderen gelangen.
Raen war fasziniert von der großen Handelsmetropole, so sehr ihn die schlechten Seiten des Stadtlebens auch abstießen, wie der Gestank von zu vielen Menschen auf zu engem Raum, der Schmutz und der Lärm und die erschreckende Armut besonders in der Vorstadt, aber er musste zugeben, dass er sich noch nie freier und unabhängiger gefühlt hatte als hier. Und dieses Behagen lebte er auch in vollen Zügen aus. Keine Gelegenheit ließ er sich entgehen, um etwas Neues zu erkunden und die Annehmlichkeiten zu genießen, die das Leben an einem Ort wie diesem mit sich brachte; fernab von den heimischen Zwängen, die ihm nun nicht mehr im Weg standen. Am meisten aber gefiel ihm, dass er sich unter all diesen Menschen nicht mehr anders fühlte, zumindest innerlich nicht, denn Borgossa war ein bunter Schmelztiegel der verschiedensten Kulturen, die sich hier zusammengefunden hatten, um gemeinsam in der „Stadt des Friedens“ zu leben und Handel zu treiben. Rein äußerlich würde er hier allerdings immer etwas Besonderes bleiben. Doch das war ein vergleichsweise kleiner Preis dafür, sich hier endlich in seiner eigenen Haut wohl fühlen zu können. Und mit den Vorurteilen über seine Herkunft, die allein schon durch seine Kleidung stets offen zu Tage trat, konnte er indes leben, denn zum einen wusste er ja, dass sie nicht stimmten, und zum anderen hatte er gelernt, dass die Menschen außerhalb Hys Vorurteile brauchten, um ihrerseits die Furcht vor dem Fremden zu bewältigen. Außerdem konnte man aus Vorurteilen wunderbar Rückschlüsse auf denjenigen ziehen, der sie ausgesprochen hatte, fand Raen. Für ihn war es ein probates Mittel, die überraschende Vielschichtigkeit der menschlichen Gedanken zu erkunden. Denn anders als zu Hause wurde hier in der Stadt nicht immer das gesagt, was tatsächlich auch gemeint wurde - mit anderen Worten: Es wurde schlicht und einfach sehr oft die Unwahrheit gesagt. Und diesen Lügen auf die Schliche zu kommen, war die erste Schwierigkeit gewesen, der Raen begegnet war. Seine hyaunische Leichtgläubigkeit war anfangs weidlich ausgenutzt worden. Schamlos hatte man ihn schon auf der Reise nach Borgossa betrogen, belogen und ausgenommen, bis er endlich dahinter gekommen war, dass in diesem Kulturkreis das Wort eines „Ehrenmannes“ nicht viel zählte, so sehr auch zuvor die Ehrenhaftigkeit der besagten Person betont worden war. Nach einigen herben Rückschlägen und Enttäuschungen hatte Raen schließlich den Unterschied zwischen zweierlei Arten von Menschen gelernt: Jenen, die aufrichtig waren und ihr täglich Brot mit ehrlicher Arbeit verdienten, und jenen, die sich ihren Unterhalt mit Hilfe von Lüge und Heuchelei einbrachten, kurz gesagt: Mordbuben, Räuber, Diebe und Scharlatane.
Inzwischen warnte ihn sein neu geschärfter Instinkt vor der zweiten Kategorie von Menschen, und es sollte ihm nicht ein zweites Mal passieren, dass er an eine Schar Räuber geriete und er ihnen auf ihre Aufforderung hin, er möge ihnen doch bitte seinen Geldbeutel aushändigen, dies auch bereitwillig täte, im guten Glauben, das alles habe bestimmt schon seine Richtigkeit. Erneut musste er schmunzeln über so viel eigene Dummheit, aber er hatte daraus gelernt, und das war es ja schließlich auch, wozu er überhaupt hier war.
Die Häuserreihen lichteten sich und waren immer mehr mit einfachen, ärmlichen Holzhütten durchsetzt. Er bog noch einmal im leichten Trab nach links ab und erreichte schließlich offenes Gelände. Felder, Weiden und Gärten säumten die Straße. Tief atmete er den Duft der üppig blühenden Frühlingsblumen ein; gelb und weiß leuchteten sie am Wegesrand. Es war gerade einmal März, aber der Frühling kam hier schon viel früher als zu Hause, wenn es denn überhaupt einen nennenswerten Winter in diesem ungewohnt milden Klima gab. Schnee fiel in Borgossa nur alle paar Dekaden einmal.
Wie von selbst hielt Jakori auf den heimischen Stall zu, der bereits in Sichtweite kam. Nicht weit vor den Außenbezirken der Stadt lag ein kleines Gehöft, das den in Borgossa lebenden Hy gehörte. Raen und die anderen nahmen liebend gerne den langen Weg in die Stadt in Kauf, der zu bestimmten Zeiten über zwei Usui-Stunden in Anspruch nehmen konnte, um hier in der frischen Luft und umgeben von gesundem Grün wohnen zu können. Und bei allem, was die Stadt ihnen bot, war Raen doch jedes Mal froh, wenn er sich von ihr zurückziehen konnte, um neue Kraft zu schöpfen, denn er war ein Hy, und ein Hy war nicht glücklich, wenn er nicht auch Hrauna nahe sein konnte.
Raen ließ die Zügel locker, und Jakori trottete durch das Tor in den Innenhof und durch das gegenüberliegende Tor wieder hinaus zum Stall, der hinter dem Gehöft lag. Ein Garten mit Obstbäumen und ein großes Stück Weide schlossen sich hier an.
Raen sprang ab und versorgte seine schwarze Stute. Dann entließ er sie auf die Weide zu den anderen Pferden. Mit hoch erhobenem Kopf trabte sie auf die kleine Herde zu, und Raen beobachtete, mit den Armen auf die Umzäunung gestützt, für eine Weile ihren geschmeidigen Gang.
Unvermittelt legte sich eine Hand auf seine Schulter, und er erschrak leicht. Als er sich umwandte, grinste ihn das sommersprossige Gesicht von Manoen entgegen.
„Hab ich doch richtig gehört, dass du nach Hause gekommen bist!“, sagte dieser fröhlich - Manoen war eigentlich immer fröhlich - und klopfte Raen auf den Rücken.
„Musst du dich immer so anschleichen!“, beschwerte dieser sich mehr scherzhaft.
„Du solltest besser deine Ohren trainieren. Im Lärm der Stadt weiß man nie, wer hinter einem steht!“
„Solange du derjenige bist, mach’ ich mir keine Sorgen“, gab Raen zurück und knuffte Manoen freundschaftlich in die Seite, der überrascht aufstöhnte. „Und du solltest besser an deinem Reaktionsvermögen arbeiten!“ Lachend wich der Jüngere darauf Manoens Hieb aus und machte sich in Richtung Hof davon. Manoen verfolgte ihn mit wildem Kriegsgebrüll und ließ erst von der Jagd ab, als er feststellen musste, dass er den wendigen Raen tatsächlich nicht zu fassen bekam.
„Und da wäre noch deine Schnelligkeit, die dringend etwas Verbesserung erfordert!“, rief Raen seinem Freund von der Außentreppe zu, die vom Innenhof zu der Galerie hinaufführte, von welcher aus sie ihre Zimmer erreichen konnten.
Manoen blieb pustend stehen. „Dann übe du doch mit mir, damit ich besser werde!“, gab er zu Raen hinauf.
„Genau das mache ich ja gerade, du lahmer Wolf!“ Noch ehe er dies ausgesprochen hatte, setzte Manoen zu einer schwungvollen Eroberung der Treppe an, und Raen suchte davon springend wie ein aufgeschrecktes Reh die Flucht, polterte einmal rings um die Galerie.
„Ich krieg dich, du Lästermaul, bleib stehen!“, schnaufte Manoen und hechtete am Geländer entlang.
„Ich bin zwar ein Hy, aber nicht blöd!“, rief Raen zurück und wollte die Treppe auf der gegenüberliegenden Seite wieder herunterlaufen, als sich eine Tür auf der Galerie öffnete und ein Kopf herausgestreckt wurde. Um Haaresbreite wäre Manoen gegen das unvermutete Hindernis geprallt, aber er konnte noch rechtzeitig bremsen.
„Was ist denn das für ein Tumult? Ach so, ihr schon wieder! Könnt ihr Kerle euch denn nicht einmal wie erwachsene Menschen benehmen?“, schalt die junge Frau und verzog mürrisch das hübsche Gesicht.
„Oh, verzeiht ma Sennora Generosa, dass wir Euch gestört haben in Eurem Schönheitsschlaf!“ Manoen machte einen übertriebene Verbeugung und wich gekonnt dem Schlag aus, den Arniko ihm versetzen wollte.
„Ich brauche Ruhe zum Lernen, ihr Hohlköpfe! Falls ihr es vergessen habt: Ich habe in zwei Wochen meine Abschlussprüfung!“
„Natürlich, war mir glatt entfallen, verzeiht, ma Sennora Gen ...“ Manoen wich einem zweiten Schlag aus und stolperte davon. Im Laufen rief er über die Schulter: „Ihr seid wahrhaft wehrhaft, verehrte Dame, leider kann ich mich nicht länger Eurer Gegenwart erfreuen, da es mich pflichtschuldig in die Küche zieht! Gehabt Euch wohl!“ Er folgte Raen die Treppe hinab, der sich die Hand vor den Mund presste, um sein Kichern zu verbergen, und beide verschwanden unter einem letzten bösen Blick Arnikos durch die Tür zu den Wirtschaftsräumen.
Im Küchenraum sahen sich die beiden schließlich der Aufgabe gegenüber, das Abendessen zuzubereiten, denn für diese Woche war es an ihnen, die elf hier lebenden Hy zu versorgen.
„Vielleicht sollte ich in Zukunft besser mit ihr üben, sie ist noch viel schneller als du!“, kommentierte Manoen, und Raen war dankbar, als er sah, dass sein Freund sich mit den Zwiebeln befasste. Er stellte sein Schwert in die Ecke und begann einige Holzscheite im Herdofen zu stapeln. Mit seinem Feuerstein entzündete er die Späne. Heute sollte es einen schlichten Eintopf geben und für elf Leute war das nicht sonderlich viel Arbeit. Nachdem er das Feuer sich selbst überlassen hatte, griff auch Raen zum Küchenmesser und widmete sich einem schrumpeligen Kohlkopf, der noch von den Wintervorräten übrig geblieben war. In Borgossa war man meistens nicht darauf angewiesen, immer nur das zu essen, was gerade wuchs, denn die Handelsschiffe brachten aus Übersee alles nur Erdenkliche mit sich, auch exotische Dinge, die Raen nie zuvor gesehen, geschweige denn gegessen hatte. Aber er war probierfreudig und so hielt der Speiseplan, wenn er an der Reihe war, oft besondere Raffinessen für die Bewohner dieses Hauses bereit. Doch heute sollten die Reste des Winters endlich einmal aufgebraucht werden, was nicht besonderes viel Kreativität erforderte. Einen guten Eintopf zubereiten, das konnte schließlich jeder. Eigentlich mochte Raen das Kochen und die Küchenarbeit, was sonst keiner so recht tat, und er liebte es gleichfalls, dafür auf dem Markt einkaufen zu gehen. Dementsprechend wurde er auch von den Männern damit aufgezogen und von den Frauen gelobt. Doch alle nannten sie ihn liebenswürdig ihren „Küchenhelden“. Raen machte das nichts aus, es war immerhin besser als den unschönen Beinamen „Grenzgänger“ zu tragen. Die Küchenarbeit erinnerte ihn an seine unbeschwerte Kindheit und nicht selten wünschte er sich in diese Tage zurück, an denen sein größtes Problem darin bestanden hatte, der Schelte seiner Schwester oder Shanis aus dem Weg zu gehen.
Oft tauschte er sogar die anderen Dienste, wie den Stall ausmisten oder das leidige Putzen und Reparieren des Gebäudes, um das er sich so gerne drückte, gegen die Küchenarbeit ein. Andere Haushalte hatten Diener, Knechte, Köche und Mägde, das wusste er, aber die Hy wollten so gemeinschaftlich leben wie zu Hause, und deshalb kam bezahltes Dienstpersonal für sie nicht in Frage.
Manoen kam und warf eine Schüssel voll zerkleinertem Gemüse in den großen Topf, der auf dem Herd stand und in dem das Wasser schon kochte. Seine Augen waren immer noch gerötet vom Zwiebelschneiden, und Raen musste schmunzeln, während er auf einem gesonderten Tisch das Hammelfleisch zerkleinerte, welches er heute frisch vom Markt mitgebracht hatte.
„Was grinst du denn schon wieder?“, grummelte Manoen. Er machte ein finsteres Gesicht, aber es war ein lächerlich anmutender Versuch, denn eigentlich war der Schalk des Hauses gar nicht dazu in der Lage, schlechte Laune zu haben. Und als sei es die Bestätigung von Raens Gedanken, begannen die Mundwinkel des Älteren bereits verräterisch zu zucken.
„Ach nichts, ich musste gerade nur daran denken, wie ich mir als Junge einmal in den Finger gesäbelt habe, weil ich vor lauter Tränen nichts mehr gesehen habe. Das war vielleicht ein Theater gewesen!“, antwortete Raen.
„Das kann ich mir vorstellen. Manchmal zweifele ich wirklich am Verstand unserer Priester. So viel überflüssiges Gewese machen sie um solch banale Dinge!“
Raen verzog das Gesicht. Auch wenn er sich damals dieselben Gedanken gemacht hatte, missbilligte er doch die lästerlichen Reden Manoens über die Priester Hyauns - wäre er doch beinahe selbst einer geworden. Und auch zu Hyaun selbst hatte der vier Jahre ältere Krieger scheinbar ein gespaltenes Verhältnis. Manoen verunglimpfte den Erhabenen viel zu oft, als dass er zu ihm betete. Das war der einzige Punkt, der Raen an seinem neuen Freund missfiel, und jedes Mal, wenn es zur Sprache kam, gerieten sie aneinander. Nicht, dass sie sich je wirklich stritten, aber Raen fühlte sich durch den bissigen Sarkasmus Manoens in seiner eigenen tiefen Gläubigkeit verletzt, und er versuchte, ihm dies beizubringen. Doch Manoen blieb bei diesem Thema stets starrköpfig und tat Raens Empfindungen lediglich mit einem beinahe mitleidigen Lachen ab. Raen hätte zu gerne gewusst, was es damit auf sich hatte, und warum Manoen so war, wenn es um ihren Gott und die Priesterschaft ging, doch leider war er soweit noch nicht in ihn vorgedrungen. Zwar waren sie schnell gute Freunde geworden und Manoen war wirklich ein herzensguter Charakter, doch er hatte so seine Geheimnisse. Raen respektierte das, da er doch selbst jede Menge davon hatte und diese nicht jedem gleich auf die Nase band. Aber besonders Manoen hatte er es zu verdanken, dass er sich zügig in Borgossa eingelebt hatte - zumindest soweit, wie das für einen Hy überhaupt möglich war. Er hatte alles, was man wissen musste, um in der Stadt bestehen zu können, von Manoen, der ihn zu Beginn wie einen staunenden kleinen Jungen bei der Hand genommen und ihm alles gezeigt hatte. Er hatte ihn mit den wichtigsten Orten bekannt gemacht und mit den Gefahren, die sie beherbergten, und nicht zu vergessen natürlich auch mit den Freuden, denn das war es schließlich, was dem Naturell des rothaarigen Spaßmachers am meisten entsprach. Für Manoen schien die Stadt eine einzige Vergnügungsmeile zu sein. Ausgelassen und scheinbar völlig unbefangen verkehrte er in Schankhäusern, Hafenspelunken und einschlägigen Etablissements von eher zweifelhaftem Ruf - von denen Raen nicht einmal im Traum geahnt hätte, dass so etwas überhaupt existierte -, um anschließend alles mit einen breiten, schamlosen Lächeln abzutun, dem nicht nur die Frauen reihenweise erlagen. Die hyaunische Bescheidenheit war nicht gerade die Stärke des älteren Kriegers, der trotz allem bei den Leuten sehr beliebt zu sein schien. Das hatte Raen zuerst sehr befremdet, hatte er von zu Hause aus doch viel striktere Moralvorstellungen mitgebracht. Aber bei Licht besehen war Manoens Charme einfach entwaffnend. Und auch wenn der dunkelgetönte Rotschopf ein temperamentvoller Wildfang war und oft über die Stränge schlug, konnte man ihm nicht lange dafür böse sein. Seine unbestechliche Fröhlichkeit war schlichtweg ansteckend, und mittlerweile hatte Raen sich etwas von dessen Leichtigkeit angeeignet. Längst war er in seinen Regelbefolgungen nicht mehr so verbissen, wie noch ein Jahr zuvor.
„Es ist doch wirklich peinlich, wie diese Dottersäcke von Priestern sich aufspielen und ...“
Raen wollte sich gerade zu einer tadelnden Antwort aufschwingen, da wechselte Manoen abrupt das Thema: „Ach, weißt du überhaupt, was ich heute erfahren habe? Ist ein ganz tolles Ding!“
„Nein, sag es mir.“ Raen warf das Fleisch in den Kochtopf und rührte mit einem langstieligen Löffel den köstlich duftenden Inhalt um.
„Ich war heute in der Fakultät für Juristerei - ja, obwohl heute Sonntag ist, ich weiß. Du brauchst gar nicht so zu gucken - aber rate mal, wer mir da begegnet ist?“
Raen stöhnte. Manoen war immer sehr gut informiert und das war mit Sicherheit auch eines seiner größten Talente, aber er bauschte so manch unwichtige Sache oft unnötig auf.
„Nun sag schon.“
„Nein, rate!“
„Ich geb’ dir gleich eins mit diesem Löffel hier, wenn du nicht endlich zur Sache kommst, Feuerlatte!“ Er drohte dem um einen halben Kopf größeren Krieger mit dem Kochgerät.
„Mit dir kann man aber auch wirklich keinen Spaß haben“, beschwerte sich Manoen, lenkte dann aber ein: „Na gut, da du mich mit dieser übermächtigen Waffe bedrohst, muss ich wohl kapitulieren. Pedros ist mir begegnet und das, was er mir erzählt hat, ist taufrisch von dem Schleimer, der für den Pedell der Akademie die Matrikellisten führt.“
‚Na, also’, dachte Raen, ‚es geht doch.’
„Wir bekommen hohen Besuch an der Akademie der Kriegskünste. Königlichen, sozusagen! Capisco? Noch dieses Frühjahr und ...“
Die Tür öffnete sich, und Arniko trat ein hinter ihr Sel und Machol. Manoen klappte den Mund zu. Das, was er hatte sagen wollen, blieb nun doch vorerst sein Geheimnis.
„Hmm, das riecht aber gut, ich habe einen Bärenhunger nach der Lernerei!“, sagte Arniko und setzte sich mit ihren Begleitern demonstrativ in die Essecke.
„Na, was ist? Quatscht ihr, oder kocht ihr?“, warf sie reichlich unverschämt zu den beiden Köchen hinüber.
Manoen wandte sich an Raen und raunte leise: „Wenn sie nicht so hübsch wäre, dann hätte ich sie schon längst einmal übers Knie gelegt!“
Raen stieß Luft durch die Nase aus, er fand Arniko lediglich hochnäsig.
„Nun, müssen wir noch länger warten?“, rief Arniko mit Nachdruck.
„Oh, ma Sennora Generosa, es ist sofort angerichtet“, entgegnete Manoen in seinem besten, geschwollenen Graçenisch, wie er es vorhin schon getan hatte. Allem Anschein nach sprach er sowieso lieber in der fremden Zunge als in seiner Muttersprache, selbst mit seinen Landsleuten.
„Hör’ endlich auf, mich so zu nennen, das ist ja widerlich!“ Arniko verabscheute die aufgeblasene höfische Redensart, wie sie in Graçe und Borgossa unter den Adeligen und hohen Kaufherren üblich war, außerdem wusste sie natürlich, welche Absichten der Rotschopf dahinter verbarg.
„Und ich dachte, es gefällt Euch.“ Manoen klang enttäuscht. Ob er es aber nur spielte, oder es tatsächlich war, konnte Raen nicht sagen, aber dennoch amüsierte er sich über die kläglichen Annäherungsversuche des Älteren.
„Nein, ganz und gar nicht!“, wetterte Arniko. Sie hatte einen Verlobten in Hy und beharrte eisern auf ihre Tugendhaftigkeit. Raen bewunderte sie dafür, obwohl er sich mit ihr nicht so gut verstand. Aber mit seiner eigenen Tugendhaftigkeit war es nicht mehr weit her, seit er die Stadt für sich entdeckt hatte - längst war er ihren Versuchungen erlegen.
Die Tür öffnete sich, und die restlichen Bewohner dieses Hauses kamen herein. Sie setzten sich zu Arniko und den anderen beiden.
„Was ist jetzt mit dem Essen?“, mahnte sie.
„Ich fliege, Seno- ... äh, Rokanset Arniko.“ Manoen ließ sich von ihr die Essschüssel reichen und füllte sie großzügig. Gleiches tat er mit den Schüsseln der anderen. Dann nahmen auch die beiden Köche endlich Platz, und alle aßen hungrig und mehr oder weniger schweigend.
Es herrschte nicht immer friedliches Einvernehmen unter dem Dach des Hytena, dem Haus der Hy, draußen in der Feldmark vor den mächtigen Toren Borgossas. Nicht selten gab es Meinungsverschiedenheiten und Spannungen zwischen den elf Bewohnern. Das war nur normal, denn zu viele exzentrische Charaktere hatten sich hier zusammengefunden. Raen hatte das Gefühlt, dass es genau jene Eigenschaften waren, warum man sie für geeignet hielt, in die Fremde zu gehen und sich neues Wissen anzueignen. Der eigene Kopf mit eigenen Gedanken war hierbei kein Hindernis, sondern vielmehr erwünscht. Endlich einmal nützte ihm sein Widerspruchsgeist etwas, dachte Raen zufrieden, und wenn er nach Hause käme als erfolgreicher Absolvent der ausländischen Akademie und bis unter die Helmkante bereichert mit wertvollem Wissen, würden alle stolz auf ihn sein und ihn endlich anerkennen als das, was er war; nämlich ein ehrbares Mitglied der Gemeinschaft und durchaus gehorsamer Diener Hyauns!
Er verfolgte sein Studium gewissenhaft, obwohl er sich den Spaß nebenbei nicht entgehen ließ, der an sämtlichen Straßenecken winkte. Jeder Student tat das - zumindest fast jeder. Es gab natürlich auch Strebernaturen, die sich durch keinen Spaß der Welt von ihrem strikten Weg abbringen ließen. Eine davon war Arniko, „Die Eiserne“, wie sie sie getauft hatten, denn jeder im Haus der Hy hatte einen Spitznamen. Raens Verhältnis zu ihr war kühl und sachlich. Sie hatten nichts gemeinsam und machten auch kein Hehl daraus, dass sie keine Freunde waren und es auch niemals werden würden. Aber Raen schätzte ihre Ehrlichkeit und sie die seine. Ihre Fronten waren geklärt.
Arniko war die Tochter eines Baumeisters und hatte auch genau jene Kunst in Hy erlernt. Sie war ehrgeizig und hatte Großes vor, wenn sie zurück nach Hause käme. Drei Jahre hatte sie fleißig Mathematik und die Architektur der hiesigen Baumeister studiert. Raen fand ihre Ideen zweifelhaft und befürchtete, dass sie Daheim noch jede Menge Ärger bekommen würde, aber das sagte er ihr natürlich nicht. Arniko nahm von niemandem einen Rat an. Und so war es ihm egal, was sie zu Hause erwarten würde. Wenn sie die Abschlussprüfungen bestand, würde sie eh in wenigen Wochen fortgehen. Schade war es nur für Manoen, der einige Mühen in sie investiert hatte, und das über zwei Jahre hinweg! Aber vielleicht war es gerade deswegen, denn die eiserne Arniko war in ihrer Standhaftigkeit schon immer eine Herausforderung für Manoen gewesen. So etwas reizte ihn. Doch zum ersten Mal würde er hier nun eine Abfuhr bekommen. Seiner ellenlangen Liste von amourösen Abenteuern würde das allerdings wohl kaum einen Abbruch tun, denn Manoen würde schnell ein neues Objekt der Begierde finden, da war Raen sich ziemlich sicher. Der lustige, hünenhafte Kerl war alles andere als ein Kind von Traurigkeit.
Ansonsten gab es nur noch zwei der Bewohner, mit denen Raen nicht ganz warm wurde. Und es war nicht verwunderlich, dass das genau jene Figuren waren, mit denen Arniko sich am besten verstand: Der eine, Sel, war ein weiterer Krieger, nur pflichtversessen und für einen Hy ungewöhnlich streitsüchtig, der andere war Machol, der die Artes Liberales studierte und in Hy Lehrmeister gewesen war. Er war ein Klugscheißer und der Älteste von ihnen, somit leider auch der Hausvorstand des Hytena. Ein schlechter, wie Raen fand, aber er hatte sich schon zu oft mit ihm angelegt, als dass aus ihnen noch gute Freunde werden konnten. Diese beiden Sauertöpfe waren nicht gerade erbauliche Zeitgenossen. In jeder freien Minute hockten sie über ihren Aufzeichnungen und wenn sie das nicht taten, dann beschwerten sie sich über das rücksichtslose Verhalten ihrer Mitbewohner. Raen und Manoen hatten es aufgegeben, kameradschaftliche Gespräche mit ihnen zu führen, und redeten nur noch das Nötigste mit ihnen.
Zum Glück gab es im Hytena aber noch andere erfreulichere Landsleute. Darunter waren zwei Eisan: Uke, der genauso wissensdurstig war wie Raen, und Uma, der einen absoluten Sinn für Zahlen hatte. Mit ihm hätte Kaera sich blendend verstanden, dachte Raen immer wieder, wenn er sich mit Uma unterhielt. Beide Eisan traten immer zusammen auf, denn sie waren so unzertrennlich, wie Zwillinge es nur sein konnten. Und sie machten sich ständig einen Spaß daraus, ihre Identitäten zu vertauschen. Sie studierten wie Machol die Artes Liberales, nur hatten sie nicht wie der Hausvorstand den dreizügigen Weg eingeschlagen, der sich mehr mit der Kunst der Wörter befass te, sondern den vierzügigen Pfad zur Weisheit, der umfassender war und zweierlei Arten der Mathematik wie das Wissen über die Sterne und auch Musik beinhaltete. Raen mochte die beiden nur ein Jahr älteren Zwillinge aufgrund ihres aufgeschlossenen Wesens und ihrer Diskutierfreudigkeit, welche Kensa oder einen seiner ehemaligen Lehrmeister allein schon wegen der doppeltgeballten Intensität in die Verzweiflung getrieben hätte.
Dann gab es da noch jemand ganz Speziellen, wie Raen fand. Doch mit dieser Meinung stand er allein auf weiter Flur. Es war ein Priester, den alle schlicht nur als Reko das Wirrköpfchen bezeichneten, was zwar freundschaftlich klang, aber durchaus nicht so gemeint war, denn Reko redete tatsächlich viel unverständliches Zeug und wo er auftauchte, erzeugte er Befremdung. Aber er hatte bereits einen Abschluss als Magistrate in Philosophie und Theologie und strebte seit mehreren Jahren den Rang eines Maestros, eines der hohen Lehrmeister, an. Sein Ziel war es, einmal selbst an einer Universität zu unterrichten. Die anderen Bewohner amüsierten sich über diese Idee, denn sie hielten sie selbstverständlich für verrückt, besonders Manoen, der ja offensichtlich ohnehin auf Kriegsfuß mit Klerikern sämtlicher Glaubensbekennungen stand, und niemand konnte sich vorstellen, für immer hier zu bleiben. Alle wollten ohne Ausnahme zurück nach Hause. Außerdem, wer würde einem Hy schon zuhören wollen. Doch Reko beharrte darauf, im Ausland zu bleiben und dort zu lehren, und das Unverständnis der anderen darüber schien ihn keineswegs zu beirren, wenn er morgens sein Mahl in einer separaten Ecke einnahm und dabei entrückt vor sich hin lächelte. Auf Raen wirkte dieser Eindruck der Entrückung aber nicht besonders befremdend, und er war scheinbar auch der einzige, der Zugang zu dem kauzigen Hyaunset gefunden hatte, ja, der einzige, der sich überhaupt ernsthaft mit Reko beschäftigte. Dabei hatte er herausgefunden, dass der ehemalige Priester nicht im Geringsten verrückt war, sondern im Gegenteil ein sehr umgänglicher Kerl, der obendrein einen ausgezeichnet feinen Sinn für Humor besaß. Und in seinen klaren Momenten war er auf seine Weise sogar ein recht passabler Seelsorger. Reko war der Sonderling unter den Sonderlingen, beschied Raen und wenn es möglich war, suchte er bei ihm den besonderen Rat, den Manoen ihm in seiner Glaubensverdrossenheit nicht erteilen konnte - oder wollte.
Am nächsten Morgen fuhr Raen verschlafen hoch. Hatte er etwas geträumt? Nein. Seit der Erfüllung der Prophezeiung durchforschte er nach jeder Nacht sorgfältig seine Erinnerungen. Aber er hatte keinen einzigen seiner Träume mehr gehabt.
Doch was hatte ihn dann geweckt? Er setzte sich auf, in seinem Kopf summte es bedrohlich.
„He, wir müssen los, wo bleibst du denn?“, rief es von der Tür her plötzlich. Raen erkannte Manoens Stimme und wurde sich schlagartig bewusst, dass er zu lange geschlafen hatte. Es war schon längst hell draußen.
„Oh, verdammt! Warte, ich komme!“ In Windeseile zog er sich an und trat auf die Galerie hinaus.
„Na, wohl zu viel gutes Bier gestern Abend, was?“, neckte Manoen ihn.
„Kann schon sein“, gab Raen zu, der sich schon lange nicht mehr an das Alkoholverbot für Krieger hielt, was Sel als den selbsternannten Sittenwächter natürlich ein mächtiger Dorn im Auge war. Zwar zogen sich die beiden Krieger zum Trinkgelage stets in eines der Zimmer oder den Heuboden über dem Stall zurück, doch Sel hatte die buchstäbliche Nase für ihre heimlichen Vergehen und ließ sie beharrlich jedes Mal durch Machol rügen.
„Vielleicht war es aber auch der unerträgliche Sermon, den Machol noch von sich gegeben hat, bevor ich ins Bett gehen konnte. Manchmal würde ich ihn zu gerne seines Amtes als Hausvorstand entheben, dieser lächerliche Wicht. Ständig hat er etwas zu nörgeln. Außerdem sind es die Regeln der Kriegerkaste und nicht seine! Er sollte sich da raushalten.“
„Meine Rede, schon seit dem er hier ist. Machol führt sich ständig auf wie eines dieser zeternden, rotärschigen Affenviecher, wie sie die Gaukler immer bei sich haben. Aber er ist nun einmal der Älteste, auch wenn er noch nicht so lange in Borgossa ist wie ich oder Reko, hat er doch leider das Sagen. Und eigentlich ist es ja auch Sel, der uns andauernd verpfeift und Machol darauf drängt maßregelnd einzuschreiten. Nächstes Mal gehen wir einfach in die Stadt, dann lassen sie uns beide in Ruhe. Machol will doch nur, dass es hier unter ‚seinem’ Dach gesittet zugeht.“
„Aber ich wette, Sel setzt sich die halbe Nacht vor unsere Türen, nur um uns bei etwas Untadeligem zu erwischen.“
Manoen machte eine wegwerfende Geste. „Dieser Wichtigtuer! Wenn du mich fragst, hat er längst eine kleine Revanche verdient.“
„Warte kurz“, sagte Raen und verschwand in der Küche, um sich schnell ein Stück Brot mit Käse auf den Weg zu holen. Als er wieder herauskam, sprach er mit vollem Mund weiter: „Verdammt richtig! Nur wie willst du das anstellen. Ihm ist doch nichts anzulasten. Er ist so sauber wie Neuschnee auf dem Po eines Babys.“
„Das ist ja gerade das Problem. Alles, was wir täten, würde sich auch sofort auf uns zurückführen lassen.“
„Und das ist nicht gut.“
„Nein, und eben deshalb muss ich darüber noch etwas nachsinnen. He, willst du dich nicht waschen?“, fragte Manoen, als Raen am Waschraum vorbeischritt.
„Verzichte, wir müssen uns eh schon beeilen. Ich gehe in der Siesta in die Therme.“
Manoen rümpfte die Nase: „Wie du meinst, dann suche ich mir heute besser einen anderen Sitznachbarn.“
Sie begaben sich zum Stall und sattelten ihre Pferde. Als sie zügig auf den Weg durch die Felder zur Stadt trabten, hob sich die Sonne zu ihrer Linken am wolkenlosen Himmel gerade über den flachen Horizont. Das Meer war nicht weit weg. Man konnte es zwar nicht sehen, dafür aber riechen.
„Es wird warm heute. Ich glaube, ich komme nachher auch mit in die Therme“, sagte Manoen etwas atemlos, nachdem sie das Tempo drosseln mussten, weil das Gewühl der Hauptstraße sie schließlich in Empfang nahm. Raen brummte abwesend. Seine Gedanken waren schon mit den Dingen des heutigen Tages beschäftigt. Als erstes erwartete sie an diesem Vormittag die Lektion von Maestro Im’Shumayalan, und der kannte keine Gnade mit zu spät kommenden Studenten.
Ungeduldig tippte der alte, beinahe greisenhafte Maestro mit der Zuchtrute auf seinen Pult, als Raen und Manoen als letzte, aber dennoch gerade rechtzeitig den großen Raum betraten, in dem die Lektionen abgehalten wurden. Schnell huschten sie auf ihre Plätze. Sel war natürlich schon da. Er saß auf der anderen Seite der zwei Bankreihen, die den Raum bis in die hinterste Ecke füllten. Raen knuffte Manoen leicht in die Seite, und dieser nickte mit zusammengezogenen Brauen. Der überkorrekte Sel hatte es nicht für nötig gehalten, Raen vor dem Verschlafen zu bewahren, und die beiden Freunde wussten, dass er es gerne sah, wenn sie für ihr angeblich mutwilliges und liederliches Verhalten auf dem Fuße bestraft wurden. Doch nicht so dieses Mal, denn Manoen hatte Raen vor der Tracht Prügel gerettet, die er vom Maestro oder dessen Gehilfen bekommen hätte, und Sel ordentlich die Suppe versalzen. Heute würde diesem miesen Kameradenschwein diese Genugtuung nicht vergönnt sein. Der Rotschopf warf einen wirklich finsteren Blick zu Sel hinüber, der schnell wegsah.
Maestro Im’Shumayalan klopfte mit der Rute mehrmals laut auf den Tisch. Das war das Zeichen, dass die Lektion begann, und alle verstummten und hefteten ihren ehrfürchtigen Blick auf die Lippen des weißhaarigen Gelehrten, der sie in Heerestaktik und Kriegsphilosophie unterrichtete. Emsig schrieben sie jedes Wort mit. Raen und Manoen beeilten sich, ihr Schreibzeug herauszuholen.
„... und deshalb zwingt der kluge Kämpfer seinem Gegner seinen Willen auf, doch er lässt niemals zu, dass der Gegner ihm den seinen aufzwingt. Indem er ihm den Vorteil anbietet ...“, dozierte der Maestro derweil schon.
Raen schrieb hastig von seinem Nachbarn ab, und Manoen wiederum von ihm. Aber nachdem sie den Anschluss gefunden hatten, konnten sie sich wieder etwas entspannen. Maestro Im’Shumayalan war ein äußerst strenger Lehrmeister, der während seiner Lektion auf striktes Einhalten der Ruhe achtete. Zudem war - neben dem großzügigen Gebrauch der Zuchtrute - sein Vortrag so straff gehalten, dass allein deswegen schon niemand auf dumme Gedanken kam. Auch war es immer empfehlenswert, alles penibel mitzuschreiben, denn die Repetitionen und Diskussionen im Anschluss seiner Vorlesung waren anspruchsvoll, und er bestrafte jeden, der nicht aufgepasst hatte oder nicht korrekt auf seine Fragen antworten konnte, mit Schlägen oder Sonderarbeiten bis in die Nacht.
Im’Shumayalan legte zu Recht sehr hohe Anforderungen an seine Studenten, die ihn heimlich „Langbart“ nannten, weil er einen wirklich langen Bart hatte, der im bis auf die Brust reichte. Die Akademie der Kriegskünste von Borgossa hatte im gesamten Freien Osten und auch darüber hinaus den besten Ruf unter den Universitäten, und den lehrenden Maestros war es ein innigstes Anliegen, diesen selbstverständlich allzeit zu bestätigen.
Raen fand den Unterricht bei dem aus Lavantina stammenden Kriegsgelehrten sehr interessant. Erfuhr er hier doch einiges mehr über die Strategie und Führung eines Heeres, als er zu Hause je gelernt hätte. Zuerst hatte er Im’Shumayalan allerdings nicht gemocht, ja eigentlich sogar gehasst, denn der verstockte, alte Greis hatte seine Studenten wie unmündige Grünschnäbel behandelt - was ein Teil von ihnen mit Sicherheit ja auch war, denn die Mehrzahl der Studenten um Raen herum war wesentlich jünger als er. Die meisten Burschen wurden mit ihrer Großjährigkeit auf die Universität geschickt, das hieß mit siebzehn, und aus diesem Alter war Raen natürlich lange heraus, und er hatte sich anfangs beinahe wie unter Halbstarken gefühlt, wären da nicht zum Glück noch Manoen und ein paar andere reiferer Köpfe gewesen. Hinzu waren aber noch die Strafen und herabwürdigenden Bemerkungen gekommen, die der Maestro an jeden von ihnen verteilte. Besonders das hatte Raen als stete Demütigung empfunden, denn er war schließlich keiner von diesen kindsköpfigen, einfältigen Bengeln, die noch nie im Krieg gewesen waren. Er hatte sehr wohl gelernt zu kämpfen, und er beherrschte bereits praktisch alle Grundlagen und Techniken des Zweikampfes, doch das hatte vor Im’Shumayalan nichts gegolten. In dessen Augen war der Umgang mit dem Schwert bloß eine niedere Praxis, die auch jeder einfache Soldat beherrschte. Ein echter Kriegstaktiker befasste sich mit viel höheren Sachverhalten. Immer wieder hatte Raen sich mit ihm angelegt und war daraufhin immer wieder vor allen anderen gezüchtigt worden. Viele Nächte ohne Schlaf hatte er über kniffeligen Aufgaben gesessen, die er sich eingebrockt hatte. Aber das rebellische Funkeln in seinen Augen war dadurch nicht verschwunden. Erst später hatte ihn der plötzliche Gewinn an Wissen, den er durch seine unfreiwilligen Überstunden erlangt hatte, dazu gebracht, ein anderes Verhältnis zu dem alten Maestro zu entwickeln. Er kannte mit einem Mal die Antworten, welche den anderen Studenten schwerfielen, und stellte des Öfteren sogar selbst den strebsamen Sel in den Schatten. Und inzwischen liebte er die fast poetisch anmutenden Ausführungen Im’Shumayalans über die große Kunst des Krieges. Die wunderbar formulierten und eingängigen Verse, in denen der Maestro sprach und die aus dessen eigener Feder stammten, konnte Raen sich mit einer Leichtigkeit merken, die seine Mitstreiter neidisch machte. Aber allein Manoen war es, der unter ihnen das Privileg hielt, von Raen Nachhilfe zu bekommen - was wiederum Sel wurmte, der es nicht zu verkraften schien, nicht mehr der alleinig Beste zu sein. Man konnte regelrecht spüren, wie sehr es ihm missfiel, dass Rean ihm diesen Platz streitig machte. Denn offensichtlich war dieser nicht nur besser im Reden als Sel, sondern besaß auch noch die Fähigkeit, dabei ungemein gescheit zu wirken. Aber Sel bezweifelte offen, dass Raen wirklich so gescheit war, wie er sich darzustellen versuchte, und deshalb ärgerte es ihn jedes Mal maßlos, wenn sein hoch geschätzter Im’Shumayalan scheinbar auf die schlauen Reden des Neuen hereinfiel.
Erstaunlich geschickt manövrierte Raen sich auch heute wieder, trotz seines noch etwas holperigen Graçenischs, durch die Wiederholung und führte sogar die Diskussion der Studenten über die Vor- und Nachteile indirekter Angriffstaktiken gegen den Maestro an. Und wenn Sel dies von seiner Seite aus mit Missgunst betrachtete, so bewunderte zumindest Manoen ihn sehr dafür. Der Rotschopf selbst hatte eine Heidenangst vor Im’Shumayalan und er zitterte schon jetzt vor der Abschlussprüfung in zwei Wochen. Leider hatte er auch allen Anlass dazu, war es doch schon sein zweiter Versuch in diesem Fach. Und es war überhaupt auch der Grund dafür, warum er mit dem jüngeren Raen zusammen diese Vorlesung besuchte. Vielleicht sollte er demnächst doch besser erst einmal auf das Vergnügen verzichten und sich verstärkt dem Lernen widmen so wie Arniko, dachte Manoen verzagt. Dabei ging ihm plötzlich auf, wie wenige Abende ihm noch bis zur Prüfungswoche blieben. Er würde Raen bitten müssen, ihm zu helfen.
Im’Shumayalan entließ seine Studenten mit einer der anmutigen Gesten, wie sie nur ein weiser Gelehrter ausführen konnte, in die Siesta. Wie Raen angekündigt hatte, ging er in die Therme, die sich unweit der Übungsplätze der Akademie befand. Alle, die im Universitätsviertel verkehrten, konnten sie benutzen. Manoen begleitete ihn, und wenig später saßen sie in einem Becken mit wohlig warmem Wasser. Dampfschwaden nebelten den Raum ein, so dass man kaum seinen Nachbarn erkennen konnte, und ein angenehmer Duft nach ätherischen Ölen lag in der Luft. Es war viel los, denn in der Siesta wollten natürlich viele die Entspannung des Bades genießen. Raen und Manoen legten sich mit dem Nacken auf den Beckenrand und ließen mit geschlossenen Augen ihren Körper treiben. Nach einer Weile sprach der Ältere seine Bitte aus, und Raen schielte lächelnd zu ihm hinüber.
„Aber nur, wenn du mir vorher endlich verrätst, wer jetzt dieser königliche Besuch sein soll, von dem du gestern gesprochen hast.“
„Ach, habe ich das etwa noch nicht?“
„Nein, wir waren gestern unterbrochen worden.“
„Und es interessiert dich wirklich?“
Raen funkelte seinen Freund warnend an. „Willst du nun, dass ich dich vor dem Zorn Langbarts bewahre oder nicht?“
„Äh, natürlich“, Manoen senkte seine Stimme, „aber ich habe es nur gehört, ja. Ob es tatsächlich stimmt, werden wir erst noch sehen. Also, der Kronprinz von Ohaoud und dessen jüngerer Bruder sollen zum nächsten Circulum an die Akademie kommen.“
Raen runzelte die Stirn. „Ohaoud?“
„Ja, das ist wohl das mächtigste Land des Freien Ostens. Hast du noch nichts davon gehört?“
„Doch schon, aber nicht viel.“
„Die Menschen mit der dunklen Haut kommen da her.“
„Ach, die“, klang Raen eher desinteressiert. Er gähnte. „Aber was ist daran jetzt so besonders?“
„Mensch, Raen, es sind Prinzen! Capisco?“
„Na und.“
„So etwas gibt es nicht allzu oft hier in Borgossa, der letzte von königlichem Geblüt, der hier gewesen war, war der Prinz von Askhar. Kanaima hieß er, aber ich hatte nie viel mit ihm zu tun, da wir immer unterschiedliche Vorlesungen besucht haben. Weißt du, er hat es tatsächlich geschafft, den Maestrotitel verliehen zu bekommen. Das ist wirklich außergewöhnlich. Ich vermute, er war sehr beliebt beim alten Im’Shumayalan.“
„Ja, den Kerl hätte ich, glaube ich, interessant gefunden, aber Prinzen aus Ohaoud ...“
Manoen stieß empört Luft aus. „Es sind ja nur die zukünftigen Herrscher ihres Landes. Und ich dachte immer, du wolltest auch in Politik bewandert sein!“
„Aber nicht jetzt. Jetzt will ich mich entspannen. Es wird gleich noch anstrengend genug. Über Politik können wir uns immer noch unterhalten, wenn der hohe Besuch tatsächlich da ist.“
„Hm“, murmelte Manoen, der offenbar gerne noch länger über dieses Thema mit Raen geplaudert hätte, denn ihn faszinierte alles, was mit königlichen Häusern und deren Abkömmlingen zu tun hatte. Es war, wie er Raen verraten hatte, sein persönliches Steckenpferd.
„Ah, da kommt ja unser Champion!“, rief eine Stimme über den Platz, als Raen mit Manoen zu der wartenden Gruppe von Studenten kam. Die Gebäude und grün gesäumten Plätze der Akademie befanden sich im Herzen des Universitätsviertels, und nicht selten versammelten sich hier auch Studenten anderer Fakultäten, um hier ihre Siesta zu verbringen und sich nebenbei von den Übungen der anderen unterhalten und zerstreuen zu lassen.
Raen lächelte, als er zu seinen Mitstudenten trat, aber Manoen an seiner Seite lächelte noch breiter. Obwohl er vermutlich versuchte, sich nicht allzu sehr im Ruhm seines Freundes zu sonnen, gelang es ihm jedoch jedes Mal wieder nicht, sich zu beherrschen, stellte Raen amüsiert fest. Manoen war einfach mächtig stolz auf ihn, seinen neuen Kameraden, dem es im vergangenem Herbst als erstem Hy in der Geschichte Borgossas gelungen war, als Sieger aus dem großen Turnier hervorzugehen, das zusammen mit dem Fest der Masken jedes Jahr eine unglaubliche Menge an Menschen in die Stadt lockte. Es war wirklich eine Sensation und für Manoen ein unbestritten historischer Moment! Seitdem stellte er Raen mit geschwollener Brust bei allen nur noch als den Champion vor, obwohl es eigentlich gar nicht mehr nötig war, denn es hatte sich längst überall herumgesprochen und Raen selbst bei den Bewohnern der Vorstadt Borgossas bekannt gemacht. Oft wurde er auf der Straße erkannt und angesprochen, und inzwischen genoss er auch an der Akademie unter den Studenten höchstes Ansehen. Besonders seine Duellkämpfe, in denen er sich mit den anderen Besten der Universität maß, waren ein beliebtes Spektakel und seine Herausforderungen gefürchtet. Nebenbei, so wusste Raen, hatte Manoen beim Wetten einiges Geld damit gemacht und den Gewinn mit ihm geteilt. Doch er machte sich nicht viel daraus. Für ihn waren der neu erworbene Respekt und der Ruhm wichtiger. Und Raen genoss es, endlich einmal ganz und gar unbescheiden herausragend sein zu können, ohne dabei fürchten zu müssen, von seinen Mitmenschen getadelt zu werden, wie es in Hy der Fall gewesen wäre.
Schulterklopfend wurde er empfangen. Die anfängliche Arroganz der Studenten gegenüber ihm als Hy hatte sich dank seines Erfolges schnell in aufrechte Kameradschaftlichkeit gewandelt. Und auch darüber war er ganz besonders froh.
„Und, Raen Shari, arbeitest du schon hart an der Titelverteidigung? Es sind nur noch sechs Monate!“, scherzte einer der Studenten. Es war der Sohn eines graçenischen Herzogs und ein guter Freund der beiden Hy.
„Zuerst kommen die Prüfungen, und dann kannst du dich ja dazu bereit erklären, mit mir zu üben“, gab Raen lässig zurück, und der junge Graçener hob die Hände vor sich.
„Ho, nicht so schnell, so habe ich das nicht gemeint. Außerdem bin ich für dich nur eine unbedeutende Vorspeise. Nimm doch lieber Anthones hier. Der reißt sich förmlich darum, wieder einmal mit dir zu kämpfen!“ Jovani zeigte auf Anthones neben sich.
Der sah verwundert auf. „Wer, ich?“
„Ja, du. Gestern noch hast du davon gesprochen. Sagtest du nicht, du seiest besser geworden und wolltest dich mal wieder mit dem Campione messen?“
„Nun ja, stimmt, aber ich glaube, ich brauche noch etwas mehr Training, dann ...“
„Schon gut, schon gut, es ist nicht nötig“, winkte Raen ab. Seit einiger Zeit drücken sich alle darum, mit ihm zu üben. Er würde bis zum Beginn des nächsten Circulums im Mai warten müssen, bis er wieder frische und ahnungslose Gegner bekommen würde. Bis dahin würde er wohl Manoen und auch Sel auf Trab halten müssen, die als Angehörige des hyaunischen Kriegerstandes keine Übung mit ihm ausschlagen konnten.
„Keine Bange, Raen“, spottete Jovani, „spätestens zum Turnier wird Anthones hier in Höchstform sein, und dann kannst du ihn wegputzen!“
„Was ist, haltet ihr Maulaffen feil, oder könnt ihr auch etwas von den Heldentaten zeigen, über die ihr da redet!“, ertönte plötzlich eine krächzende Stimme hinter ihnen, und die scherzhafte Unterhaltung verstummte abrupt.
Ohne eine weitere Aufforderung nahmen die Studenten hastig in Reih und Glied Aufstellung. Maestro Uberth, genannt „die Krähe“ - wohl, weil er an seine Opfer so unbemerkt „heranfliegen“ konnte mehr aber noch, weil er eine Stimme wie eine solche hatte -, postierte sich erhobenen Hauptes und mit strenger Miene, die nichts das Geringste verriet, vor der akkuraten, dreireihigen Formation.
„Maestro, die dritte Kompanie steht bereit!“, rief Jovani aus, der in den Übungen der Kommandant der Gruppe war. Regungslos stand er vor seinen Kameraden stramm und wagte es nicht einmal, seine Augen zu bewegen. Wortlos schritt der gedrungene Maestro einmal vor der Gruppe auf und ab und kontrollierte die Haltung seiner Schüler. Er nickte knapp, klemmte sich seine Zuchtrute unter den Arm und trat zur Seite.
„Dritte Kompanie, vorwärts Marsch!“, befahl er in schneidendem Ton.
Jovani wiederholte den Befehl und setzte sich und die Kompanie in Bewegung. Staub wirbelte unter den knirschenden Stiefelsohlen auf und die Sonne brannte für diese Jahreszeit ungewöhnlich heiß auf den trockenen Platz herunter. Es versprach wirklich kein besonders erquicklicher Frühlingstag zu werden, und obendrein war das Marschieren unter Maestro Uberth auch nicht gerade die beliebteste Disziplin bei den Studenten. Jeder unter ihnen fragte sich nicht zum ersten Mal, wozu sie selbst exerzieren können mussten, wenn sie doch hier waren, um sich zum höheren Strategen ausbilden zu lassen. Keiner von ihnen würde später als Befehlshaber zu Fuß in einer Kompanie mitlaufen müssen. Ohnehin war es nicht nur stinkend langweilig, ohne erkennbaren Sinn immer und immer wieder quer und längs über das Karree des Platzes zu laufen, sondern der Maestro war außerdem noch ein elender Schleifer, der keine Rücksicht auf irgendetwas nahm. Er schonte niemanden, nicht einmal sich selbst, und sein Motto war: Was er überlebt hatte würden auch andere tun. Uberth selbst hatte sich vor fünfundzwanzig Jahren vom Soldaten zum General hochgearbeitet und das in einer atemberaubend kurzen Zeit. Er war der jüngste General gewesen, den es in Sesa Noviè je gegeben hatte, und er war mit Abstand auch der talentierteste und ehrgeizigste gewesen. Zu ehrgeizig, wie einige seiner etwas einflussreicheren Konkurrenten wohl gefunden hatten, denn nicht lange nach seiner Ernennung in den höchsten militärischen Rang war er auch schon wieder entlassen worden. Natürlich unehrenhaft und in Schande. Eine geschickt eingefädelte Intrige, die ihn in eine reichlich delikate und obendrein noch unerklärliche Lage mit der unverheirateten Tochter der Königin von Sesa Noviè gebracht hatte, hatte ihm das Genick gebrochen und seine steile Karriere jäh beendet. Wütend und enttäuscht hatte er daraufhin das Land verlassen und war wie viele andere Heimatlose nach Borgossa gekommen. Dort hatte er sein Wissen an der Universität erweitert. Das Hörgeld dafür hatte er sich sauer beim Be- und Entladen der Schiffe im Hafen verdienen und sich ganz von unten neu hocharbeiten müssen. Doch es hatte nicht lange gedauert, und einer der damaligen Maestros war auf das außergewöhnliche Talent des eifrigen, aber nicht mehr ganz so jungen Mannes aufmerksam geworden und hatte ihn unter seine Fittiche genommen. Von da an war es wieder steil bergan gegangen, und als Uberth schließlich seinen Maestrotitel mit besonderer Auszeichnung verliehen bekommen hatte, war er dem Ruf des scheidenden Maestros gefolgt und hatte dessen Platz auf dem Lehrstuhl eingenommen. Sein enormes Wissen konnte er seitdem an andere weitaus dankbarere Menschen weitergeben.
Diese Geschichte über seine Vergangenheit hatte Maestro Uberth aber selbstverständlich nie selbst erzählt, und niemand würde es je wagen, ihn darauf anzusprechen. Aber wie das nun einmal war, kursierte sie wie viele andere interessante Begebenheiten über die Werdegänge sämtlicher Maestros rege unter den Studenten der Akademie. In Borgossa blieb nichts geheim. Tratsch war ein sehr begehrtes Gut und wurde manchmal sogar auch mit barer Münze aufgewogen. In dieser Stadt Geheimnisse zu haben und sie auch geheim zu halten, war ein teurer Luxus.
Nach dem eintönigen Formationsmarsch war die eigentliche Lektionszeit für den heutigen Tag vorüber und die Studenten konnten nach Gutdünken ihre Zeit verbringen, entweder in der Bibliothek über Büchern und Schriftrollen oder, was Raen und Manoen natürlich viel mehr Freude bereitete, mit athletischen Spielen, die auf den Plätzen ausgetragen wurden. Eines dieser Spiele, das von den Hirten stammte, die einst die fruchtbare Ebene von Borgossa bewohnt hatten, hieß „Wolfskopf“ und man spielte es in zwei Mannschaften, die versuchten, sich gegenseitig einen Ball abzuluchsen. Dabei konnte der Ball, der ursprünglich tatsächlich ein Wolfskopf gewesen war und heute aus Leder und Lumpen bestand, geworfen, getreten oder mit dem Kopf gespielt, jedoch nur drei Schritte weit getragen werden. Punkte bekam eine Mannschaft, wenn es ihr gelang, die Trophäe in die gegnerische „Schafherde“ zu bringen, eine abgezirkelte Zone von etwa zwei Schritt Durchmesser. Und nicht selten endete der Wettstreit der übermütigen Burschen in einer wilden aber sportlichen Keilerei, begleitet von lauten Anfeuerungsrufen der Zuschauer für ihre jeweiligen Favoriten.
Das Spiel war bei den Studenten der Universität so beliebt, dass jedes Jahr zum Ende des Circulums ein kleines Turnier veranstaltet wurde, bei dem die verschiedenen Fakultäten gegeneinander antraten, um ihre Ehre zu verteidigen. Natürlich alles mit höchst friedlicher Gesinnung und aufrechtem Sportsgeist. Raen freute sich bereits auf dieses baldige Spektakel, und selbst Manoen, der gelegentlich etwas bewegungsfaul war, entwickelte beim Wolfskopfspiel einen besonderen Ehrgeiz und war einer der besten Spieler der Akademie. Wie alle jungen Männer in ihrem Alter liebten es auch die beiden Hy, sich mit den anderen zu messen, und natürlich auch zu siegen und vergessen waren die vom Exerzieren müden Beine, als sie sich mit vollem Eifer ins Spiel in der staubigen Arena stürzten.
Nachdem sie ihr jugendliches Mütchen ordentlich gekühlt und ihrer Mannschaft zum Sieg verholfen hatten, saßen Raen und Manoen umringt von ihren Freunden am Rande der Arena und ließen sich den Schweiß vom aufkommenden Wind trocknen.
„Ach, das war ein Spaß!“, resümierte Manoen und strich sich über die nackten Oberarme.
„Ja, wie du deinen Gegner einfach über den Haufen gerannt und den Ball in die Zone gedonnert hast, war wahrlich hübsch anzusehen“, bestätigte Raen und lachte.
„Manoen, der unaufhaltbare Sturmwind!“, schwärmte der Rotschopf mit vorgereckter Brust von sich selbst.
„Wohl, eher Manoen, die Naturkatastrophe!“, brummte Anthones, der sich noch immer den Ellenbogen rieb, weil er das Vergnügen gehabt hatte, mit Manoens vollem Kampfgewicht zusammenzuprallen.
„He, was kann ich denn dafür, dass du so ein mageres Strohhälmchen bist und dich bei jeder Gelegenheit umpusten lässt!“, empörte sich der großgewachsene Hy.
Raen und Jovani lachten in sich hinein, während Manoen und Anthones sich weiter beharkten.
„Vielleicht solltest du das nächste Mal mit unserem Sturmwind gemeinsam in einer Mannschaft spielen und nicht gegen ihn“, schlug Jovani schließlich vor.
„Und wer soll ihn sonst aufhalten?“, gab Anthones zu bedenken.
„Nun, das könnte zur Abwechslung einmal ich versuchen. Möglicherweise wachsen mir dann auch solche Oberarme!“, sagte Raen und kniff seinen Freund mutwillig in den Muskel oberhalb des Ellenbogens. „Könnte mir gut stehen, und die Weibsbilder mögen’s eh!“
„Ha, der Aufstand der Strohhalme, das ich nicht lache! Raen Shari, vergiss es, auch du wirst mich nicht aufhalten können“, rief Manoen übermütig und schlug nach Raens Hand.
„Keine voreiligen Schlüsse, mein Lieber, wir werden es sehen.“ Zum Spaß spannte der jüngere Hy auch seinen Oberarm an, und der Rest lachte.
„Pah, da musst du wohl noch etwas mehr trainieren!“, amüsierte der Größere sich.
„Oh, schön, dass du das gerade ansprichst. Mir ist noch nach einer Runde Schwertkampf, was hältst du davon?“, säuselte Raen.
„Damit du mich wieder demütigen kannst, nein danke“, lehnte Manoen ab.
„Komm schon, dafür darfst du mich beim nächsten Wolfskopfspiel auch so oft umhauen, wie du willst!“
Manoen hielt dem flehenden Blick des Jüngeren nicht lange stand und willigte ein. Und weil Raen in seiner Trainingswut manchmal nicht zu bremsen war, überredete er noch ein paar der anderen dazu, an einer lockeren Übungsrunde teilzunehmen. Rasch holten sie ihre Übungswaffen und nahmen auf dem nun leeren Sandplatz Aufstellung.
Wie überall in Borgossa fochten sie auch hier an der Akademie ausschließlich mit Holzwaffen. Die altehrwürdige Lehranstalt der Kriegskünste beugte sich, obwohl sie eigentlich von den Gesetzen der Stadt unabhängig war, damit auch dem überall in der Metropole herrschenden Verbot für scharfe Waffen. Das mutete in der Tat paradox an, aber Borgossa nannte sich schließlich nicht umsonst die Stadt des Friedens. Als vor zweieinhalb Jahrhunderten die reichen Kaufleute in Borgossa die Macht übernommen und die Stadt von Graçe freigekauft hatten, war die bis dahin berühmteste Akademie für Kriegskünste vor eine Wahl gestellt worden. Entweder hätte sie die Stadt verlassen müssen auf der Suche nach einem neuen Standort, und dabei wäre sie zwangsläufig in allen großen Städten auf etablierte Konkurrenz gestoßen, oder sie blieb und schloss sich einer neuen Idee von Universität an, welche die neuen Stadtväter im Sinn hatten. Sie wollten einen Ort erschaffen, an dem Freidenker und progressive Aufklärer studieren und lehren können sollten, ohne die Geißel der Zensur durch König oder Klerus spüren zu müssen, und so war die Universida franca di Borgossa gegründet worden. Die Akademie für Kriegskünste hatte sich nach langwierigen Überlegungen für das Bleiben entschlossen und es nie bereut, denn schon nach wenigen Jahrgängen hatte sich die Freie Universität Borgossas einen ausgezeichneten Ruf erarbeitet, was natürlich hauptsächlich an der klugen Auswahl der Maestros gelegen hatte, die jetzt dort lehrten. An anderen Universitäten mit ihren verstaubten, konservativen Gefügen galten nach wie vor unverbrüchliche Königstreue und Anpassung als die wichtigsten Kriterien für die Besetzung der Lehrstühle, in Borgossa dagegen zählten allein Genialität und fortschrittsorientierter Intellekt, zwei Eigenschaften, die natürlich nicht immer mit den beiden zuvor genannten konform gingen. Doch einige Herzöge aus dem Umland hatten bald Gefallen an der ungewöhnlichen Ideologie der neuen Universität gefunden und schließlich ihre Söhne dort studieren lassen, und bald war es unter den Mächtigen des Kontinentes zur Mode geworden, seine Erben dorthin zu schicken, um ihnen die exzellente Bildung angedeihen zu lassen, für die Borgossa seitdem mit seinem Namen stand. Auch die Akademie hatte umdenken und umrüsten müssen. Außerhalb der Stadtmauern, ganz in der Nähe des Kastells im Süden, hatte sie ein großes Übungsgelände bauen lassen, wo von da an die Kämpfe mit scharfen Waffen und auch das traditionelle große Turnier abgehalten werden konnten, ohne das Waffenverbot zu verletzen. Es war die beste Lösung für alle. Und konsequent kontrollierte seither der Pedell der Akademie jeden genau, der die Übungsplätze im Universitätsviertel betrat. Eine doppelte Kontrolle gewissermaßen, denn so erging es auch jedem Einheimischen oder Reisenden, der die Stadttore von Borgossa passierte. Seine Waffe musste man hier entweder abgeben, oder sie versiegeln lassen. Und wenn man die Stadt wieder verließ, wurde die Waffe geprüft. Waren beide Wachsiegel, die über Griff und Scheide gesetzt wurden, dann gebrochen, drohte demjenigen die lebenslange Verbannung aus Borgossa. Das war für Raen und alle anderen Anhänger der hyaunischen Kriegerschaft, deren Kodex es vorschrieb, immer und zu jeder Zeit ein Schwert zu tragen, ein gewisses Problem. Auch wenn das Tragen eines Schwertes für sie aus religiösen Gründen vorgesehen war, gab es hier in Borgossa eigentlich keine Ausnahme dafür. Raen hatte sich, wie alle anderen vor ihm, entscheiden müssen, ob er entweder sein Schwert zu Hause ließ und damit gegen eine der höchsten Regeln seiner Kaste verstieß, oder ob er sich die Siegel daraufsetzen ließ, die allerdings jede Woche erneuert werden musste, da er die Klinge zum Pflegen und Üben doch regelmäßig aus der Scheide nahm. Vorerst hatte er sich für das Versiegeln entschieden, obwohl ihn die Formalitäten am Stadttor jedes Mal Zeit kosteten, besonders wenn dort viel los war. Als Ersatz für die freien Übungsstunden an der Akademie hatte er sich je eine Kopie seiner beiden Schwerter aus schwerem Eichenholz schnitzen lassen und mittlerweile hatte er sich auch eine Routine angewöhnt, die es ihm möglich machte, sein Schwert zu benutzen und es doch immer bei sich zu tragen: Zu Beginn der Woche ließ er es versiegeln und am siebten Tag, den er meist außerhalb der Stadt im Hytena verbrachte, da an diesem Tag in Borgossa weder gearbeitet noch studiert oder sich vergnügt werden durfte, übte er mit der Klinge von früh bis spät. Der Abend vor diesem seltsamen Tag, den alle Angehörigen des hiesigen Glaubens Sonntag nannten, war ganz dem Training mit Jakori vorbehalten. Ohne Zweifel kam die Stute viel zu kurz, das war Raen bewusst, aber er gab sich alle Mühe, ihr genügend Zeit zu widmen.
Das dachte er auch jetzt wieder, als er sie nach der zusätzlichen kleinen Trainingsrunde mit seinen Freunden aus dem Stall der Akademie abholte. Er strich ihr über die weichen Nüstern.
„Es tut mir leid, mein großer Schatten, aber es geht nicht anders“, flüsterte er, da er merkte, wie niedergeschlagen das Tier war. „Mir fehlt das alles auch.“ Er saß auf, und als Manoen erschien, machten sie sich zügig auf den Heimweg, denn die Sonne war schon hinter den Häuserzeilen verschwunden und die Straßen in die zwielichtigen, blauen Schatten der Abenddämmerung getaucht. Die Stadttore würden nicht mehr lange geöffnet sein, sie schlossen bei Dunkelheit.
Dunkel war es bereits, als sie endlich zu Hause im Hytena ankamen. Müde stellten sie die Pferde unter, versorgten sie mit Futter und schleppten sich dann zuerst in den Waschraum und anschließend in die Küche, dessen Dienstherren für diese Woche Uke und Uma waren.
Beide Eisan grinsten identisch, als die zwei abgeschlafften Gestalten in der Essecke Platz nahmen und ihr Essen mit einem trägen Lächeln empfingen. Sie waren spät dran, alle anderen hatten schon gegessen, und Raen und Manoen genossen die gedämpfte Stille der Küche. Die Zwillinge setzten sich zu den beiden und zusammen tranken sie einen kühlen Krug Bier.
„Das tut wirklich gut!“, seufzte Manoen und streckte seine langen Beine aus. „Endlich etwas Muße.“
Alle anderen nickten stumm und starrten versonnen in ihre Krüge. Über ihnen hörten sie lediglich Arnikos leise Schritte auf den Dielen, sonst war alles still.
‚Welch himmlische Ruhe’, dachte Raen, der schon mehrmals Nächte in der Stadt verbracht und dabei festgestellt hatte, dass es dort nach dem Dunkelwerden zwar etwas ruhiger wurde, aber dennoch ständig Geräusche zu hören waren, und sei es die der umher huschenden Ratten. Raen schüttelte sich unwillkürlich. Zum Glück gab es hier auf dem Hof kaum Ratten, denn sie hielten sich hier wie zu Hause eine Handvoll Maragis, die fleißig Jagd auf die lästigen Schädlinge machten.
„Ach übrigens, Raen, ein Postreiter hat heute einen Brief für dich vorbeigebracht! Er liegt oben in deinem Zimmer“, sagte Uke mit seiner sanften Stimme, die ganz und gar zum schummerigen Kerzenschein passte.
„Einen Brief?“, fragte Raen erstaunt.
„Ja, aus Hy, von zu Hause, möchte ich mal sagen.“
Plötzlich hielt es Raen nicht mehr in der gemütlichen Runde. Er verabschiedete sich und stürzte hinauf in sein Zimmer, das er für sich ganz alleine hatte. Es war sein erstes eigenes Zimmer, und er hatte sich schnell daran gewöhnt, nicht mehr in Gesellschaft zu schlafen. Längst hatte er seine Privatsphäre sehr zu schätzen gelernt. Er entzündete mit zitternden Fingern die kleine Öllampe, die auf der Truhe hinter seinem Lager stand und fand den Brief darauf liegen. Es war eine von den typisch hyaunischen Holztafeln. Raen hob sie auf und drehte sie um. Der Brief war von Andra. Etwas enttäuscht sah er auf. Warum war er nicht von Suneka? Wenn es schon ein Brief bis hierher schaffte, warum dann nicht von seiner Verlobten?
Seit er vor einem Jahr aus Hy weggegangen war, hatte er nichts mehr von ihr gehört. Und er wusste, es war nahezu unmöglich, Briefe von Hy nach Borgossa zu senden und umgekehrt, denn es gab keine zuverlässige Kurierverbindung. Es war also ein kleines Wunder, jetzt auf die Handschrift seiner Schwester zu blicken. Sie war klar und straff, ganz die einer gewissenhaften Medizi. Mit einem Mal verspürte Raen große Sehnsucht nach seiner Heimat. Sein Herz wurde klamm in seiner Brust und seine vom Bier gelösten Gedanken wurden schwer. Er ließ sich nieder auf sein Lager und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Dann las er.
Andra begann damit, dass sie hoffe, dieser Brief würde ihn überhaupt erreichen, dass sie ihn sehr vermisse und, natürlich, dass er weiter gut auf sich aufpassen solle. Darüber musste Raen schmunzeln. Sie konnte es einfach nicht lassen! Warme Zuneigung durchfloss sein eben noch verkrampftes Herz und beförderte ihn die Zeit zurück hin zu seinen frühesten Erinnerungen an seine Schwester. Doch das, was Andra ihm im weiteren Verlauf des Briefes berichtete, vertrieb diese angenehm nostalgische Rückschau schnell wieder und stieß ihn erneut in kalte Gefühlsschauer.
„Lieber Raen, zuerst einmal möchte ich dir mitteilen, dass unser aller geschätzter Hyaunset suer Gahin vergangenen Herbst mit den Ahnen der Winde gegangen ist, es wird dich aber freuen zu hören, dass Hyaunset Loenka seinen Platz eingenommen hat. Dann hat uns leider auch unser lieber Großonkel Richol verlassen. Frei sei seine Seele! Reni und Vater sind natürlich untröstlich. Doch es gibt auch etwas Schönes zu berichten: Vater hat sich nun doch endlich entschieden, wieder zu heiraten. Ich befürworte das aus tiefstem Herzen, liegt mir doch sehr viel an seinem Glück. Ich hoffe, das tust du auch, denn wie du weißt, müssen wir Kinder alle damit einverstanden sein. Leider befürchte ich, dass genau jenes für Resa ein Problem zu sein scheint. Er ist geradezu verstockt, gebärdet sich aufsässig und lehnt alle Gespräche, egal mit wem, über dieses Thema ab. Es wird mit jedem Tag schlimmer, er ist wie von Sinnen. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll, damit er wieder zur Vernunft kommt und einem von uns zuhört. Ach, Raen ich wünschte, du wärest hier und könntest mit ihm sprechen. Auf dich hat er schon immer am meisten gehört. Er ist so - mir fehlt das passende Wort - er ist so grimmig, so unnahbar.“
‚Wütend’, dachte Raen, ‚du meinst, er ist wütend.’ Er las weiter. „Ich habe Angst um ihn. Es ist unser unseliges Familienerbe - nur noch viel, viel stärker! Raen, kannst du nicht nach Shari kommen, wenigstens für eine kurze Zeit? Ich weiß, es ist eine vermessene Bitte, da deine ehrenvolle Aufgabe über unseren persönlichen Belangen steht, aber es ist unser kleiner Bruder, der deine Hilfe braucht.“
‚Sie fleht ja regelrecht’, erkannte Raen unwohl, ‚das tut sie nur äußerst selten! Was ist nur geschehen?’ Er vertiefte sich wieder in ihre Zeilen: „Ich hoffe also, dass du dich abkömmlich machen kannst und unsere Gesetzeswächter einmal ein Auge zudrücken, schließlich wollen wir doch nur etwas Gutes tun!“
„Den Gedanken kenne ich, das Theater habe ich schon einmal ertragen müssen“, sagte Raen in bitterem Bedauern laut vor sich hin. „Aber ich weiß es nun besser, ich habe es schließlich am eigenen Leib zu spüren bekommen: Das Gesetz drückt niemals ein Auge zu! Liebe Schwester, weißt du, worum du mich da bittest?“ - ‚Natürlich weiß sie es’, dachte er weiter, ‚ich bin ja auch der einzige, den man um so etwas Absurdes bitten kann!’
Er las die letzten Zeilen: „Für unseren Vater und unseren Bruder! Raen, ich würde dies nicht schreiben und einem Postreiter viel Gold versprochen haben, wenn ich deine Anwesenheit nicht als dringend erforderlich erachtete.
Gesundheit und Glück für dich, geschätzter Bruder,
in Liebe, deine Schwester, Andra.“
Raen ließ die Holztafel sinken. Das waren wirklich keine guten Nachrichten.
„Du befindest dich wirklich in einer misslichen Lage, mein Freund“, sagte Manoen mitfühlend am nächsten Tag. Er war ausnahmsweise einmal sehr ernst, wofür Raen dankbar war, denn nichts hätte ihn jetzt mehr aus der Fassung gebracht als unpassende Scherze. Doch Manoen war manchmal feinfühliger, als alle annahmen. Er erkannte sehr wohl, wann es nötig war, den Ernst zu wahren, erst recht, wenn man ihn um Hilfe bat. Zuvor war Raen, der es über den offiziellen Weg versucht und sich mit seinem Problem an den Hausvorstand gewandt hatte, an Machols Selbstgerechtigkeit gescheitert. Denn der hatte Raen sofort geraten, nicht auf das selbstsüchtige Bitten seiner Schwerster zu hören und hatte sich sehr über ihre Unverschämtheit echauffiert: Wie es ihr einfallen konnte, irgendwelche unbedeutenden Familienquerelen über ihrer aller heilige Aufgabe hier zu stellen und es wagte, Raen damit zu belästigen!
Manoen war empört gewesen, als Raen ihm dies erzählte und schimpfte, dass Machol selbst seine Liebsten - wenn er überhaupt welche hatte - eiskalt im Stich lassen würde.
Jetzt saßen sie in ihrer Siesta zusammen am Übungsplatz der Akademie im Schatten der Bäume. Im Gegensatz zum Tag davor ging heute ein angenehm kühler Wind, der vom Meer herüber wehte. Es roch nach Seetang und dem Moder der Kanäle, doch es war besser als die frühlingsuntypische, drückende Wärme.
„Vergiss Machol, den Idioten! Er ist einfach ...“ Manoen ballte die Faust, und Raen erkannte, wie wütend dieser war. „Zum Teufel mit ihm! Lass uns lieber überlegen, was wir jetzt machen.“
Raen zuckte mit den Schultern. Er spielte mit einen Stück Rinde, das er in immer kleinere Teile zerbrach. „Manoen, ich muss nach Hause, ich kann doch den Hilferuf meiner Schwester nicht einfach so ignorieren! Ich muss doch auch meine Familie beschützen, wenn sie in Not ist“, sagte er schließlich.
„Da hast du vollkommen recht. Und ganz entgegen Machols Auffassung spricht auch nichts dagegen, warum du deine Aufgabe hier nicht unterbrechen und sie später fortsetzen könntest. Sieh mal, es sind nur noch zehn Tage bis zu den Prüfungen, und damit ist auch das Circulum zu Ende. Es sind fast zwei ganze Monate bis das neue beginnt, bis dahin kannst du vielleicht sogar wieder hier sein, vorausgesetzt die Probleme in deiner Familie lassen sich schnell beheben.“
„Aber ich schaffe es niemals in dieser Zeit nach Hy und wieder zurück. Ein Weg nimmt über dreißig Tage in Anspruch, das weißt du doch. Es ist völlig unmöglich.“
„Ist es nicht, du musst ja nicht auf dem Landweg reisen. Es gibt Schiffe, die nach Süden gehen. Capisco?“
„Ich soll mit dem Schiff reisen?“
„Ja, mit dem Schiff bewältigst du die Strecke in weniger als der Hälfte an Tagen.“
„Aber ich war noch nie auf einem Schiff. Ich weiß gar nicht, wie ...“
„Ich erkläre es dir.“
Raen sah auf, und Manoen lächelte schuldbewusst.
„Nun ja, ich bin auch schon einmal auf diesem Wege nach Hause gereist, da musste es auch schnell gehen.“
„Du warst schon einmal zurück in Hy?“, fragte Raen verblüfft. „Davon hast du mir ja noch nie erzählt.“
Manoen nickte: „Ich musste dringend zurück ..., deshalb, na ja, und weil ich nicht viel gelernt habe, habe ich damals auch die Prüfung bei Langbart nicht bestanden. Ich hatte sie gar nicht erst gemacht. Ich hätte sie wohl auch so nicht bestanden, darum hat es mich auch nicht gekümmert, schon früher das Circulum zu verlassen.“
„Aber warum musstest du nach Hy? Und was hat der damalige Hausvorstand dazu gesagt?“
„Er hat gesagt, ich soll es tun. Es war Reko.“
Raen stutzte: „Reko?“
„Ja, er war damals der Älteste, bis Machol zu uns kam.“
„Und er hat dir gesagt, du sollst gehen, obwohl er ein Priester und Moralwächter ist?“ Raen konnte sich nicht vorstellen, dass ein Priester einem Krieger riet, die Regeln zu brechen.
„Reko hat meine Gründe verstanden.“
„Was waren das denn für Gründe?“, wollte Raen wissen.
Manoen schwieg. Jetzt nahm auch er ein Stück Rinde auf und zerbrach es. Raen sah seinen Freund unverwandt an, doch dieser wollte sich scheinbar nicht dazu äußern.
„Verstehe, es ist deine Sache“, gab er schließlich auf, enttäuscht, weil Manoen vor ihm Geheimnisse hatte. „Ich dachte, wir ...“
„Wir sind ja auch Freunde, Raen. Ich werde es dir irgendwann erzählen. Aber nicht jetzt. Ich ... kann das noch nicht.“ Manoen blickte ihm kurz in die Augen und dann über den Platz.
Raen starrte auf sein Profil und sah, wie der Adamsapfel seines Freundes hart ruckte, dann senkte er den Blick.
„Schon gut, du musst mir gar nichts erzählen.“
Sie schwiegen eine Weile, hingen jeder seinen eigenen Gedanken nach. Eine Gruppe Studenten von einer bestimmten Gesinnung der theologischen Fakultät - das sah man an ihren einheitlich braunen Kutten - überquerte den Platz und ließ sich gegenüber im Schatten der Pinien nieder. Sie würden ihre nachmittägliche Repetition unter freiem Himmel abhalten. Das taten sie öfter.
„Ich nehme also dieses Schiff“, wandte Raen sich schließlich wieder an Manoen und brach damit das Schweigen. „Ist das nicht sehr teuer? Und, verdammt, ich verpasse den Wolfskopf-Wettkampf!“
„Tja, das ist wohl so, man kann nicht alles haben. Was das Geld angeht, haben wir genug, das weiß ich von Machol. Mach’ dir keine Sorgen, du kannst dir zu Hause dann wieder etwas Gold mitgeben lassen. Und am Samstag zeige ich dir unten am Hafen, an wen du dich wenden musst, um eine Passage zu bekommen.“
„Aber Machol wird mir das Geld nicht geben, auch wenn wir genug haben.“
„Ich werde veranlassen, eine Ratssitzung zu diesem Problem abzuhalten. Das ist nur gerecht, Machol kann das nicht verweigern.“
„Dann kann ich es vergessen. Wer wird denn schon für mich stimmen?“
„Wart’s ab. Ich glaube, das wird ganz interessant.“
„Wenn du meinst.“ Raen schwieg eine Weile nachdenklich. „Kann ich Jakori überhaupt mit auf das Schiff nehmen?“, fragte er dann.
„Natürlich, du brauchst sie ja noch für den Weg durch die Flusstäler hin zum Grenzübergang.“
„Welchen Weg muss ich überhaupt nehmen? Und gibt es dort Räuber?“ Raen verspürte Unbehagen bei dem Gedanken daran, erneut auf unbekannten Straßen unterwegs sein zu müssen. Die Reise nach Borgossa über Land hatte ihm damals schon ausreichend bittere Lektionen beschert.
Manoen lachte über Raens offenkundig besorgtes Gesicht und erklärte ihm, welchen Weg er nehmen sollte. Später würde er ihm noch eine Karte zeichnen.
„Du schaffst das schon und bestimmt wirst du rechtzeitig zurück sein. Kopf hoch, den Ärger zu Hause wirst du schon regeln.“
„Danke, für deine Hilfe.“
Manoen winkte ab. „Das ist doch selbstverständlich!“
‚Nein, das ist es nicht, wie man an Machols Beispiel sehen kann’, dachte Raen und erhob sich. Ihre Pause war zu Ende, das kündete die kleine Glocke auf dem großen Vorlesungsgebäude an. Wie vermutet, hob einer der Theologiestudenten mit der Einleitung zur Diskussion eines bestimmten Themas an. Raen konnte nicht verstehen, worum es ging, aber es war ja auch egal, auf sie wartete Maestro Uberth mit seinen Übungen zur infanteristischen Abwehr von berittenen Abteilungen. Eine sehr verletzungsträchtige Einheit, die eine Vollrüstung erforderte.
Sie schlugen sich den Staub von der Hose und begaben sich über den Platz, durch den großen Torbogen, der ein uralter Triumphbogen war und Reliefs längst vergangener Heldentaten zeigte, hinüber zum Zeughaus.
Das Ende der Vorlesungswoche wurde stets nach der letzten Lektion mit einem Klopfen der Studenten auf die Holzbänke eingeläutet, was die Austreibung der Holzwürmer aus dem Kopf symbolisieren sollte. Erleichtert erhob sich Raen von seiner harten Bank und räumte sein Schreibzeug zusammen. Nachdem er es in einer Ledertasche verstaut hatte, sah er auf. Manoen hatte den Raum schon verlassen, und vor ihm baute sich plötzlich Sel auf. Er hatte die Arme in die Hüften gestemmt, und Raen ahnte bei seinem verkniffenen Gesichtsausdruck, was gleich kommen würde. Provokant herablassend ignorierte er ihn.
„Du willst deine Aufgabe hier vorzeitig verlassen, Banskeid!“, warf ihm Sel mit seinem unvergleichlich vorwurfsvollen Tonfall vor, gegen den allein Raen schon eine tiefe Abneigung entwickelt hatte. Er antwortete nicht.
„Du willst dich also vor der Verantwortung drücken! Das sieht dir ähnlich, Raen Shari - der Grenzgänger!“
Jetzt sah Raen ihn überrascht an.
„Tja, woher ich das weiß, fragst du dich jetzt.“ Sel grinste herausfordernd, doch Raen ging nicht darauf ein, obwohl er tatsächlich gerne gewusst hätte, woher Sel davon wusste, denn über seine Vergangenheit hatte er bis jetzt noch nicht viel erzählt.
Sel grinste weiter: „Du bist also jemand, der keine Regeln befolgen kann. Das habe ich gleich im Gefühl gehabt, schon als ich dich das erste Mal gesehen habe. Was soll ich sagen, mein Gefühl hatte mal wieder Recht! Ich schätze, mit deinem Verantwortungsbewusstsein ist es dann ja wohl nicht weit her. Tzs, und so jemanden schicken sie hier her!“ Er schüttelte demonstrativ mit dem Kopf.
„Offensichtlich haben sie mich aber trotz allem für fähig gehalten“, antwortete Raen ruhig, noch hatte er sich im Griff, „und im Gegenteil zu dem, was du vermutest, will ich mich meiner Verantwortung ja gerade stellen, nämlich der Verantwortung, die ich meiner Familie gegenüber habe!“
„Deine Familie hat aber nicht das geringste Recht, diese einzufordern, verstehst du! Unsere Aufgabe hier steht weit über ihren belanglosen, weltlichen Problemen. Du hast eine höhere Verpflichtung, auf die du einen heiligen Eid geschworen hast, Banskeid! Deine Schwester sollte sich besser überlegen, ob sie sich weiterhin so untreu gegenüber der Gemeinschaft verhalten will. Das ist sehr schädlich, und sie sollte sich was schämen! Ich, für meinen Teil, verlange zumindest eine Entschuldigung von ihr. Und was die Priester darüber denken, ist noch einmal eine ganz andere Sache.“
„Du verlangst eine Entschuldigung? Was denkst du eigentlich, wer du bist? Der oberste Sittenwächter von Hy!“, platzte Raen bei soviel Frechheit nun doch der Kragen. Er trat drohend einen Schritt auf Sel zu, der ihm erstaunlich mutig entgegensah, was nicht immer der Fall war, wenn sie ihre Meinungsverschiedenheiten ausfochten. Aber er schien sich das edle Ziel gesetzt zu haben, Raen tatsächlich von seinem Vorhaben abzuhalten, um ihn vor etwaigem Seelenschaden zu bewahren.
„Nein“, antwortete Sel gelassen. „Ich bin lediglich dein Gewissen und wohl auch das deiner Schwester, wie mir scheint. Irgendjemand muss sich doch dieser Affäre von unverkennbarer Selbstsucht annehmen, bevor sie zum Schandfleck wird! Du weißt bestimmt, wovon ich spreche, immerhin stammt sie aus deiner Familie, der Familie des Grenzgängers!“ Er spielte natürlich auf Raens traurige Berühmtheit an.
„Du weißt überhaupt nicht, was ich getan habe.“
„Oh doch, du hast unser Nichtangriffsprinzip missachtet und hast auf die schändlichste und hinterhältigste Weise Menschen getötet!“
„Diese Menschen waren Askharer und unsere Feinde, und sie wollten uns angreifen! Sie hätten uns genauso vernichtet, wie ich sie.“
„Sie hätten die Mauer niemals überwunden. Sie ist ewig und unbezwingbar. Das wusstest du, aber du musstest ja mutwillig Schicksal spielen und unser aller Wohlergehen aufs Spiel setzen, nur um deinen perversen Drang nach Geltung zu befriedigen, Campione!“
„Bist du dabei gewesen, hm? Warst du überhaupt schon einmal an der Grenze in Doban oder im Krieg? Nein! Du hast schön hier im sicheren Borgossa gesessen und dich überhaupt nicht darum geschert, dass deine Landsleute gerade ihre Heimat verteidigen.“
„Ich wollte ja zur Grenze kommen, aber meine Aufgabe hier hat mich zurückgehalten. Sie steht höher als der Krieg.“
„Ich frage mich nur, was deine Aufgabe uns allen gebracht hätte, wenn Askhar den Krieg gewonnen hätte!“
Darauf antwortete Sel nicht.
„Worum es hier geht, ist doch nicht die Frage um meine Person, sondern dass du als Banskeid deinen Eid brechen willst“, sagte er stattdessen und blieb dabei weiter völlig unbeeindruckt von Raens gefährlicher Stimmung.
Der biss sich auf die Lippen, am liebsten hätte er einfach seine Faust in Sels Gesicht genagelt und ihm gesagt, dass er auf den Eid schiss. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass er ihn bräche, doch er beherrschte sich. „Nein, du bist wie immer fein raus, Sel, das sehe ich, aber du wirst mich nicht aufhalten können! Du nicht!“
„Na schön, dann werde ich bei höchster Stelle leider über deinen Fall Bericht erstatten müssen! Ich werde es dem Setna schreiben. Du bist nicht länger ein tragbares Mitglied der Kriegerkaste! Ich werde dafür plädieren, dir deinen Rang abzuerkennen und dich aus der Aufgabe hier zu entlassen. Vielleicht gibt es ja irgendwo einen einfachen Posten für dich, wo du nicht so viel Schaden anrichten kannst.“
„Sieh an, dem Setna willst du schreiben!“, sagte Raen spöttisch, ausgerechnet davor hatte er nun wirklich keine Angst, aber das konnte Sel nicht wissen. „Nur zu, tu’, was du nicht lassen kannst, vielleicht nimmt der Setna deinen kümmerlichen Kameradenverrat ja ernst.“ Raen hatte genug und wollte an Sel vorbei, doch dieser versperrte ihm den Weg. Er war heute wirklich besonders entschlossen und couragiert.
„Du suchst die Gefahr, Sel!“, zischte Raen unheilvoll.
„Nein, eigentlich nicht, ich will dich nur von einer unverzeihlichen Dummheit abhalten“, entgegnete Sel, es klang sogar beinahe ehrlich.
„Oh, wie ungemein nobel und selbstlos von dir, aber die Dummheit begehst du, wenn du mir nicht gleich aus dem Weg gehst!“
„Wie ungehalten wir heute sind! Aber solch ein schlechtes Benehmen passt zu dir.“ Er beugte sich zu Raen vor und tippte ihm scharf mit dem Finger auf die Brust.
Der Jüngere zog angewidert die Brauen zusammen.
„Ich habe keinerlei Angst vor dir, Raen“, flüsterte Sel. „Ich bin ebenso ein Krieger wie du. Nichts macht mir Angst, auch du nicht mit deinem lächerlichen Championtitel!“
Raen grinste verächtlich, das war es also. „Ach ja? Bloß keinen Neid“, sagte er mit vorgerecktem Kinn. „Du kannst ja selbst einmal an dem Turnier teilnehmen. Aber ich wette, dazu bist du zu feige!“
Sel schnaubte scheinbar belustigt. „Ich werde mein Können nicht so primitiv zur Schau stellen wie du! Das ist schändlich!“
„Schade, denn es wäre eine vortreffliche Abhilfe für deine dir ureigene Sorge, nicht beachtet zu werden.“
„So etwas macht mir keine Sorgen, und Beachtung ist mir vollkommen egal! Das ist doch allein dein Antrieb, von dem du da sprichst.“
„Ha, du bist doch derjenige, der sich ständig in den Vordergrund drängt. Du fürchtest dich doch davor, ins Abseits zu geraten und allein dazustehen. Deshalb bist du so, wie du bist. Hab’ ich recht, mein unverbesserlicher Freund? Es ist deine Angst, für die anderen unsichtbar zu sein, Luft!“ Raen machte eine verpuffende Geste mit einer Hand, und seine grün blitzenden Augen hafteten für einen Moment an Sels zuckendem Mund. „Und jetzt lass mich gefälligst durch!“ Er schob den Älteren unsanft zur Seite, verpasste ihm seinen Ellenbogen härter als nötig in die Magengegend und stapfte schnell aus dem Raum.
Vor der Tür wurde er unerwartet von Im’Shumayalan abgefangen. Er packte den Hy am Arm.
„Hiergeblieben, Scolario!“
Überrascht von Im’Shumayalans Kraft ruckte Raen herum.
„Ja?“ Er sah dem Maestro direkt ins Gesicht, denn der Mann war trotz seines hohen Alters immer noch so groß wie er.
Derweil schritt Sel hinter Raen vorbei, ohne sich etwas anmerken zu lassen.
„Wenn es unter euch Schwierigkeiten gibt, ist das eine Sache“, tadelte Langbart und schob kurz sein Kinn in Sels Richtung, „diese Differenzen aber in den Hallen der Akademie auszutragen, ist ein äußerst grober Verstoß gegen die allgeltenden Gesetze dieser ehrwürdigen Universität. Ich fordere dich auf, Scolario, dich auf der Stelle zu entschuldigen. Niemand hat das Recht, den heiligen Frieden zu verletzen, der unter diesen Dächern besonderen Schutz genießt! Auch wenn du mein bester Scolario bist, gelten für dich keine Ausnahmen. In dieser Stadt und vornehmlich an der Universität wird gemahnt, Streitigkeiten, gleich welcher Art, zwischen Landsleuten oder Ausländern stets vor den Toren zu lassen. Hier in der Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden haben Ständewesen, Herkunft, Ränge und Stellungen nicht die geringste Bedeutung!“
„Das weiß ich doch, Maestro“, lenkte Raen ein.
„Und warum brichst du dann diese Regel, hm? Gerade von dir hätte ich das nicht erwartet!“ Im’Shumayalan sah ihn mit seinen wässrigen Augen durchdringend an. Er hatte sich leicht vorgebeugt und beide Hände lagen über seinem Bart auf seiner Brust.
Raen kam in den Sinn, was Sel soeben gesagt hatte: Du bist also jemand, der keine Regeln befolgen kann! ‚Nein, das stimmt nicht’, dachte er bitter. ‚Ich kann mich an Regeln halten.’
„Aber Maestro, ich habe doch gar nicht damit angefangen!“, versuchte er zu protestieren. „Es war S- “
Im’Shumayalan hob gebieterisch den Finger und befahl seinem offenbar uneinsichtigen Scolario Schweigen.
„Es ist gleich, wer den Streit beginnt, junger Krieger. Du solltest eigentlich wissen, dass man nicht viel besser ist als der Provokateur, wenn man darauf eingeht!“
Raen senkte zerknirscht den Blick. „Ihr habt natürlich Recht, Maestro. Es tut mir aufrichtig leid, den Frieden gestört zu haben.“
„So?“ Im’Shumayalan richtete sich wieder kerzengerade auf und blickte Raen prüfend an. „Ich hoffe, du wirst dich auch in Zukunft daran halten. Und ich dachte immer, dass besonders euch Hy das nicht allzu schwerfallen dürfte.“
„Ich halte mich daran, ich verspreche es.“ Raen ging nicht auf diese Anspielung des Maestros ein und verbeugte sich vor ihm. „Darf ich jetzt gehen?“
„Ja, du darfst gehen“, sagte Im’Shumayalan großzügig, aber bevor sich Raen entfernen konnte, fügte er noch hinzu: „Wenn du nicht rechtzeitig zum nächsten Circulum hier sein kannst, dann lass es mich wissen, ich werde sehen, was ich für dich tun kann.“
Raens Augen weiteten sich. Woher, bei Hyaun, wusste Langbart das nun schon wieder. Er hatte doch bisher mit niemandem, außer mit Manoen, Machol und nun auch Sel, darüber gesprochen. Und den kleinen Disput von eben hatten Sel und er in Hyaunisch ausgetragen. Doch Raen wollte sich seine Verwunderung nicht allzu sehr anmerken lassen und lächelte schnell dankbar. „Habt vielen Dank, Maestro. Ich wünsche Euch einen angenehmen Tag des Herren“, verabschiedete er sich höflich und marschierte davon.
„Oh, danke, gleichfalls, gleichfalls, Scolario“, murmelte der Maestro ihm zerstreut hinterher und tappte auf seinen Stock gestützt in eine andere Richtung davon.
„Was hattet ihr denn da so Wichtiges zu bereden?“, fragte Manoen neugierig. Er hatte sich zum Warten auf die Stufen vor dem zweiten Zeughaus gesetzt und stand nun auf. Während sie zu den Ställen hinüber schlenderten, berichtete Raen von der Unterhaltung mit Im’Shumayalan und Sel. Das mit dem besten Scolario verschwieg er vorerst.
„Dieser miese, kleine Bastard!“, rötete sich Manoen. „Was geht ihn diese Angelegenheit an? Und warum plaudert Machol immer alles aus? Als Hausvorstand muss er die Probleme, mit denen die Bewohner zu ihm kommen, vertraulich behandeln. Verdammtes Lästermaul! Dem werd ich was erzählen, wenn wir nach Hause kommen!“ Manoen bleckte seine weißen Zähne.
„Lass doch, wir wussten beide, dass er so ist, und ich bin trotzdem zu ihm gegangen. Eigentlich ist es wohl eher mein Fehler. Sag mal, hast du Langbart davon erzählt, dass ich nach Hy reise?“
„Nein, natürlich nicht! Was denkst du? Dass ich genauso ein Tratschmaul bin wie Machol?“
„Nein, nein, bleib ruhig, ganz gewiss nicht. Aber dann weiß ich jetzt, wer es gewesen ist.“ Erneuter Zorn stieg in Raen auf. ‚Du wolltest mich reinreiten, mich beim Maestro verunglimpfen, nur damit du gut dastehst! Na warte, wenn ich dich das nächste Mal zwischen die Finger bekomme, dann Gnade dir Hyaun! Im Hytena gelten die Regeln der Universität schließlich nicht!’ Er schlug sich mit der Faust auf die Handfläche. Es war Zeit für eine Lektion.
„Und wer war es?“
„Das kannst du dir an drei Fingern abzählen“, entgegnete Raen und schwang sich in den Sattel.
Manoen hielt drei Finger in die Luft, dachte sich seinen Teil und stieg gleichfalls auf sein Pferd.
Wie der Rotschopf es versprochen hatte, ritten sie zum Hafen, was vom Universitätsviertel aus einer halben Stadtdurchquerung gleichkam. Sobald man die Straßen von Viccio, der Altstadt, hinter sich gelassen hatte, ließen die vielen Kanäle der Oststadt, Acquado genannt, ein direktes Fortkommen nicht mehr zu. Immer wieder mussten sie Umwege an den Kanälen entlang und über Brücken nehmen, nur über den Canale Maggiore, der Acquado vom Rest der Stadt trennte, nutzten sie die Dienste der Flößer, da alle Hauptbrücken zu weit entfernt lagen.
Als sie am Hafen ankamen, bestaunte Raen den Anblick, der sich ihnen bot. Er fand es immer wieder faszinierend, die vielen kleinen und großen Schiffe, den Wald aus Masten und Takelage und die bunte Schar von Menschen zu beobachten, welche im scheinbar undurchschaubaren Chaos die vielen exotischen Waren entlud, und das Geschrei der Vorarbeiter, Bootsmänner und der Möwenschwärme über ihren Köpfen zu vernehmen, die das ganze Treiben gleichermaßen genau überwachten. Vor allem aber war es der Blick auf das offene Meer, der ihn fesselte. Über allen lag der für eine hyaunische Nase ungewohnte Geruch von Seetang, moderigem Holz, Teer und salzigem Wasser, welcher für manch anderen, der sich der Seefahrerei verschrieben hatte, wiederum der Geruch der großen Freiheit war.
Das Meer beeindruckte Raen, schüchterte ihn gleichwohl aber auch ein, denn neben seiner schillernden und lebendigen Schönheit hatte es auch etwas Bedrohliches an sich, das er nicht in Worte fassen konnte. Am heutigen Tag lag es ruhig da, aber es gab auch Stürme und Gewitter, und angesichts dieser Urgewalten erschien ein Menschenleben auf dem Meer so klein und unbedeutend.
Was für ein Wesen war das Meer?, fragte er sich nicht zum ersten Mal. War es mit Hrauna verwandt? Oder lag seine Macht noch viel höher? Diese Frage verunsicherte ihn, weil er nicht wusste, wie er sich gegenüber dem Meer verhalten sollte, um es nicht zu erzürnen. Musste man es um Erlaubnis bitten, um es berühren oder auf ihm fahren und aus ihm fischen zu dürfen? Genügte ein stilles Gebet, oder verlangte es nach mehr? Das galt es, vorher herauszufinden. Doch bei all seinen bangen Bedenken kam Raen dennoch nicht darum herum, den Mut der Seefahrer zu bewundern, die mit solch einer Freude ins Unbekannte aufbrachen, als reisten sie heim zu ihrer Liebsten. Er hatte überhaupt keine Vorstellung davon, wie man eine solch große Wasserfläche mit einen Schiff überqueren konnte, und auch dort ankam wo man hinwollte. Es verwunderte ihn, dass hinter all diesem Wasser überhaupt noch Land sein sollte, weil man doch nichts davon sah. Doch in der unsichtbaren Ferne lagen die Küsten fremder Länder und Völker, von denen er nie zuvor etwas gehört hatte.
Obwohl Raen für einen Hy schon verhältnismäßig abenteuerlustig war, reizte es ihn nicht im Geringsten, einen Fuß auf eines dieser schwimmenden Holzfässer zu setzen und zu ergründen, was es hinter dem Horizont alles zu entdecken gab. Für ihn war das Meer eine unüberwindliche Grenze und es erschien ihm irgendwie nicht richtig, diese zu überschreiten. Darüber hätte ein gestandener Seemann aus Borgossa natürlich nur lautschallend gelacht, denn für jenen war es das Tor zur Welt.
Im Grunde behagte Raen der Gedanke nicht, mit dem Schiff nach Hause zu reisen. Was, wenn ein Sturm aufkam, und sie sich verirrten? Was, wenn er das falsche Gebet zum Meer sprach?
Manoen amüsierte sich über all diese besorgte Einwänden seines Freundes. Er selbst hatte sich bei seiner ersten Seereise auch unwohl gefühlt, doch er war ein Draufgänger, der nicht allzu viel über solche Dinge nachdachte.
„Du brauchst keine Angst zu haben. Der Kapitän und seine Leute wissen, wie man das Meer bezwingt. Sie sind selbst aus Wasser! Capisco?“, versuchte er Raens Bedenken zu zerstreuen.
„Ich weiß nicht. Muss man eigentlich zum Meer beten, bevor man es bereist?“
„Ich glaube nicht, zumindest macht das keiner. Außerdem sind wir hier nicht in Hy - man muss nicht zu allem und jedem beten, Raen! So viel Zeit für solch einen Unsinn aufzubringen, das können nur die Dottersäcke bei uns zu Hause.“
Raen ignorierte Manoens Blasphemie und deutete auf die großen Augen, die bei den meisten Schiffen mit bunten Farben auf den Bug gemalt waren. „Und wofür sind die?“
Manoen zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, wahrscheinlich Zierde.“
Raen glaubte das nicht, aber er behielt seine Vermutungen für sich, denn mit Manoen konnte man einfach nicht über spirituelle Dinge reden. „Und wo müssen wir jetzt hin?“, wollte er stattdessen von seinem Freund wissen.
„Da hinüber zur ..., warte mal, das ist doch ... He, Campeggio! Was machst du denn hier?“, rief Manoen zu einem jungen, feingekleideten Graçener hinüber, der sich überrascht zu ihnen umdrehte. Jovani lächelte breit, als er sie erkannte.
„Ich habe mir eine Passage auf einem der Schiffe gesichert. Wenn das Circulum zu Ende ist, fahre ich nach Hause zu meiner Familie. Und was treibt ihr euch hier herum?“
„Der gleiche Grund, Raen braucht eine Passage.“
„Ach, wohin denn?“
„Er muss nach Hy. Wir suchen ein Schiff, das nach Lado di Forsa geht. Von da aus sind es nur noch zehn Tage bis zur westlichen Grenze.“
„Nach Lado, warum habt ihr das nicht gleich gesagt, da fahre ich auch hin. Castello Campeggio, das Lehen meiner Familie, liegt nicht weit von Lado entfernt. Los, kommt mit, ich zeige euch das Schiff und den Kapitän.“
Dankbar, sich den Gang zur Hafenmeisterei erspart zu haben, folgten die beiden Hy Jovani durch das Gewirr. Das Schiff lag an der östlichen Kaimauer. Es war ungefähr dreißig Schritt lang und hatte keine Augen auf den Bug gemalt. Dafür hatte es zwei Masten und flache Aufbauten. Eine schmale Planke führte an Deck. Jovani ging voraus.
‚Hier drauf sollen mehrere Menschen und Pferde Platz finden?’, fragte sich Raen misstrauisch. Mit unsicheren Füßen betrat er das Deck.
Der Kapitän war in seiner Kajüte, aber er kam zu ihnen hinaus, nachdem ein Matrose ihn gerufen hatte. Er war erstaunlich jung und hatte lange blonde, zu einem Zopf gebundene Haare. Er wirkte nicht sehr vertrauenserweckend, wie Raen fand. Überrascht lächelnd trat der Kapitän nach einem kurzen Zögern zu ihnen.
„Verzeiht meine verwirrte Miene, ich hab’ gedacht, jemand hat mir wieder die Zöllner auf d‘n Hals gehetzt!“, sagte er und wies auf Raens und Manoens schwarze Kleidung. „Nich’, dass ich was zu verbergen hätt’, aber die Jungs können einem verdammt auf die Nerven geh‘n, vor allem mit ihren Kontrollen nach Waffen. Die filzen einen bis auf die Unterhose! So, und was kann ich nun für Euch tun, verehrte Freunde aus Hy?“ Der junge Kapitän sprach einen schweren Akzent, den Raen kaum verstand, und er war froh, als sich Jovani der Sache annahm und ihm das Anliegen der Hy erklärte. Schnell waren die Formalitäten erledigt und die Passage für Raen vereinbart. Das Schiff, das Vinçenta hieß, trug das borgossinische Wappen, den Federkiel und die Waage auf hellblauem Grund, und es nahm jede Woche die Strecke nach Lado di Forsa und wieder zurück, sofern der Wind es zuließ. Es war eines der regelmäßigen Handelsschiffe, die von Borgossa aus in die Welt hinaus fuhren, mit wertvollen Glaswaren in den Laderäumen für den Süden und mit Kupfergut aus der rohstoffreichen Provinz um Lado wieder hoch in den Norden. Und auch wenn der Kapitän noch recht neu im Geschäft war, war es doch die zuverlässigste Verbindung, die Raen bekommen konnte.
„Na, geht’s heim zur Verlobten?“, zwinkerte Jovani Raen zu, als sie das Schiff verließen.
Raen lächelte lediglich vielsagend zurück und ließ damit den Graçener in dem Glauben, er wolle nur einen normalen Heimatbesuch machen.
„Es ist ja auch verdammt einsam hier in Borgossa!“, seufzte Jovani theatralisch. Es war eine Anspielung darauf, dass sie sich vor noch nicht allzu langer Zeit im Vergnügungsviertel La Gioia über den Weg gelaufen waren und einen gemeinsamen, sehr ausgelassenen Streifzug unternommen hatten. La Gioia lag direkt hinter dem Hafenviertel auf der anderen Seite des Canale Maggiore und war nicht nur bei den Seeleuten berühmt für seine Freudenhäuser und die gute Bewirtung, auch gab es hier Glücksspiel, Theater und Zirkus, einfach jede Art von Unterhaltung, die das Herz begehrte - und einem buchstäblich das Geld aus der Tasche zog, legal oder illegal. Denn in La Gioia war auch der vermeintliche Sitz der Bruderschaft des Sohnes des Königs der Unterwelt! Wenn man dem allgemeinen Gerede Glauben schenkte, dann herrschte hier ein Mann namens „Patron“ uneingeschränkt über seine Armee von Dieben, Betrügern und Halunken und über sämtliche dunklen Geschäfte, die hier und in den Nachbarvierteln abgewickelt wurden. Viele der Freudenhäuser und Spelunken, in denen Glücksspiel betrieben wurde, gehörten ihm angeblich sogar, und es wurde viel über seine Identität gemunkelt, denn niemand, nicht einmal die Büttel der Stadtväter, hatte ihn je zu Gesicht bekommen, obwohl sie alle Jahre das ganze Viertel durchsuchten. Viele mutmaßten deshalb, der „Patron“ sei lediglich eine Erfindung der unbescholtenen und ehrlichen Kaufleute, denen die einträglichen Etablissements in Wahrheit gehörten, und die natürlich nicht so gerne damit in Verbindung gebracht werden wollten.
Raen beteiligte sich selten an solchen Stadtgesprächen, doch Manoen war immer ganz Ohr, wenn es etwas Neues gab, vor allem, wenn es um die Sprösslinge erlauchter Häuser ging. So soll zum Beispiel der Prinz von Askhar eine heimliche Geliebte in La Gioia gehabt haben, zumindest sei er dort auffällig oft gesehen worden.
„Kann ich euch zu einem letzten Zug durch La Gioia überreden. Sozusagen als feierlichen Abschluss nach den Prüfungen?“, wollte Jovani wissen.
„Na klar, ich bin dabei!“, rief Manoen sofort begeistert aus, und beide sahen Raen an.
„Ich weiß noch nicht, ich glaube, ich kann das momentan nicht genießen“, entschuldigte er sich.
„Na, du bist ja auch bald zu Hause bei deiner Liebsten! Das sind natürlich bessere Aussichten. Obwohl ich nicht weiß, was die Frauen bei euch alles so drauf haben. Aber ich prophezeie dir, Raen, wahrscheinlich wirst du selbst in den Armen deiner Angebeteten die Kunststückchen der borgossinischen Mädchen nicht vergessen können! Und wir beide machen uns einen netten Abend, nicht Manoen?“ Stets plauderte Jovani, wie ihm der Schnabel gewachsen war.
Der hochgewachsene Rotschopf grinste breit über die schlüpfrigen Bemerkungen des jungen Graçeners, aber ausnahmsweise versuchte er nicht, Raen zu überreden.
Als sie am Hytena ankamen, war es noch nicht zu spät, um noch etwas mit Jakori zu unternehmen. Allein ritt Raen durch die frisch bestellten Felder und genoss die Ruhe im Kontrast zu dem Trubel der Stadt. Die weitläufige Ebene, in der Borgossa lag, war sehr flach und kaum höher als der Meeresspiegel. Das ließ das mächtige Gebirge im Norden zum Greifen nah erscheinen, doch waren die ersten Ausläufer in Wirklichkeit mindestens ein bis zwei Tagesritte entfernt. Blauviolett und weißgesprenkelt erhoben sich die Grate in den abendlich gestimmten Himmel. Schnee lag noch auf den hohen Gipfeln, und Raen dachte an seine Heimreise. Schon bald würde er durch den hoffentlich nicht mehr allzu tiefen Schnee des Passes nach Hy stapfen. Er trieb Jakori an und nach einer erfrischenden Galoppstrecke ließ er die Stute auf dem Rückweg am langen Zügel laufen. Neugierig beschnupperte sie das Gras zu beiden Seiten des Weges, während Raen versonnen in die Ferne blickte. Auf den Spitzen der Zypressen und Pinien, die den Weg säumten, sangen die Amseln aus voller Kehle ihr Abendlied, und wenn man die Augen schloss und den salzigen Geruch des Meeres außer Acht ließ, konnte man fast meinen, man wäre zu Hause. Raen wurde wehmütig, und seine Brust zog sich zusammen. Jetzt, da seine Heimkehr nicht mehr fern war, und er sich sehr darauf freute, seine Familie wiederzusehen, fühlte er plötzlich Scheu, Suneka unter die Augen zu treten. Er dachte an Jovanis flegelhafte Bemerkungen. Was würde er tatsächlich empfinden, wenn er wieder in den Armen seiner Liebsten lag? Schuld? Nein. Er wies es mit aller Macht von sich. Vielleicht eher Gewissensbisse, das klang besser. Dennoch war er sich nicht sicher, ob er wirklich richtig gehandelt hatte. Gewiss, er war Suneka treu geblieben. Im Geiste. Und das war es doch, was von Bedeutung war, oder etwa nicht? Das hatte schließlich auch sein Vater gesagt. Was die körperliche Liebe anbelangte - er wollte es in diesem Falle lieber Verlangen nennen -, da hatten Männer doch eindeutig andere Bedürfnisse als Frauen. Das würde selbst Suneka einsehen. Frauen konnten enthaltsam sein, sie hatten von Natur aus einen viel stärkeren Willen, um ihr Verlangen zu zügeln. Das bewunderte Raen ja auch so am weiblichen Geschlecht, das auf der einen Seite so entschlossen züchtig und auf der anderen Seite auch so rückhaltlos hingebungsvoll und leidenschaftlich sein konnte. Diese Gegensätze, welche Frauen wie selbstverständlich in sich vereinten, machten es aber auch schwer, sie vollends zu durchschauen.
Er liebte Suneka, daran gab es keinen Zweifel, und er wollte sie heiraten, wenn das Leben zu Hause ihn endlich wieder hätte. Dann wäre alles Geschehene in Borgossa nicht mehr wichtig, dann zählte nur noch sie. Ein Schimmer Freude stahl sich in seine Bedenken, und er ließ sie schließlich zu. Im Grunde bedeutete Borgossa nichts, wenn er sich aus vollem Herzen zu ihr zurücksehnte. Zufrieden, eine Lösung für die Betrachtung dieses Problems gefunden zu haben, pfiff er den Rest des Weges ein fröhliches Liedchen.
Als er eine Usui-Stunde später durch das Tor ritt, war es beinahe dunkel. Er brachte Jakori in den Stall und ging zum Hof zurück. Er freute sich auf das Nachtmahl, und in Erwartung eines schmackhaften Eintopfes knurrte sein Magen.
Im düsteren Tordurchgang zum Innenhof des Hytena packten ihn plötzlich von hinten zwei Hände und warfen ihn unsanft an die Steinwand. Er war nicht wirklich überrascht, denn er erkannte sofort, wer es war, auch wenn es zu dunkel war, um denjenigen wirklich zu sehen.
„Sel, was soll der Blödsinn, lass mich los! Hat es dir heute in der Akademie nicht gereicht, mich vor Im’Shumayalan bloßzustellen?“, fauchte Raen, er war müde und hatte nicht die geringste Lust, sich noch weiter mit Sel zu streiten. Er wollte sich aus dem Griff lösen, doch sein Widersacher hielt ihn fest an die Wand gedrückt.
„Du wirst jetzt hierbleiben und dir anhören, was ich zu sagen habe!“, stieß Sel ungehalten aus.
Das entzündete Raens Zorn wieder frisch, und er wehrte sich heftiger, aber Sel war erstaunlich kräftig, und Raen hatte einige Mühe mit ihm. Die Kraft des Zorns, la Furiosa - inzwischen hatte er diesen passenden graçenischen Ausdruck für das Gefühl ohne Namen gefunden -, ließ ihn sich schließlich aus dem Griff befreien. Dabei geriet er so in Rage, dass er seinem ganzen Hass auf Sel Luft machte und zu einem Schlag in dessen schwach zu erkennendem Gesicht ausholte. Seine Faust sauste auf Sels Nase zu und verfehlte sie im letzten Augenblick doch. Sie landete mit einem dumpfen Geräusch an der Wand. Ein Knacken durchfuhr Raen, und dann kam der Schmerz. Schnell zog er die Faust zurück und hielt sie mit der anderen Hand fest umklammert. Bestimmt hatte er sich etwas gebrochen.
„Verdammt!“, fluchte er gepresst.
„Da war der große Champion wohl ein bisschen zu langsam, was?“, lachte Sel hämisch. „Du solltest davon absehen, es mit ebenbürtigen Gegnern aufzunehmen. Tja, und damit wäre wohl auch wieder einmal deine Unbeherrschtheit bewiesen. Geschieht dir ganz recht. Bist du jetzt endlich wieder bei Vernunft und wirst mir zuhören?“
„Nein, das werde ich nicht, Sel!“ Raen ging langsam in den Innenhof. Ihm wurde übel vor Schmerzen. Er wollte in den Waschraum gehen.
„Du wirst unsere Kriegerehre nicht beflecken! Das werde ich nicht zulassen. In der Ratssitzung werde ich dafür sorgen, dass du hierbleiben wirst!“, geiferte Sel hinter ihm her.
„Kriegerehre, pah, du weißt doch gar nicht, was das ist! Ich werde gehen, Sel, ob du es willst oder nicht“, brachte Raen noch mit dem nun schnell schwindenden Rest seiner Haltung flüsternd hervor und verschwand dann schleunigst im Waschraum. Dort ließ er sich auf einen Hocker nieder und verharrte einen Moment mit geschlossenen Augen, seine verletzte Hand fest von der anderen umschlossen. Er hoffte für sich und Sel, dass er ihm nicht bis hier hin folgen würde, denn im Augenblick konnte er für nichts mehr garantieren.
Doch Sel kam nicht. Er hatte wohl eingesehen, dass er Raen jetzt besser nicht mehr in die Quere kam.
Als die Übelkeit sich etwas gelegt hatte, wagte er einen Blick auf seine Hand zu werfen. Ein Stöhnen entfuhr ihm, als er versuchte, die Finger zu strecken. Er sah es gleich, und die Übelkeit kam mit unvermittelter Wucht zurück. Neben den tiefen und noch blutenden Abschürfungen außen auf dem Handknöcheln war der Mittelfinger geschwollen und wollte den Bewegungen der anderen Finger nicht folgen. Er blieb gekrümmt. Unter großer Überwindung tastete er den Finger ab und stellte wie vermutet fest, dass er gebrochen war. Mit der gesunden Linken schlug er sich hart auf den Oberschenkel. Es war die Ironie des Schicksals, jetzt hatte er in gewisser Weise seiner Seele doch Schaden zugefügt, genau wie Sel es prophezeit hatte! Und dabei brauchte er seine Hände doch, um das Schwert zu führen.
„Du verfluchter Idiot!“, schalt er sich laut. Hätte er sich doch bloß nicht provozieren lassen. Und wenn er schon hatte zuschlagen müssen, warum hatte er dann nicht wenigstens getroffen! Wäre sein Finger an Sels Nase gebrochen, hätte ihn das jetzt nicht unerheblich getröstet.
Raen biss sich auf die Unterlippe. Jemand sollte nachsehen, ob der Finger gerichtet und geschient werden musste, dachte er. Aber wer? Im Hytena gab es keinen Medizi, oder geschweige denn etwas Veda, mit dem er den Schmerz hätte betäuben können. Der nächste Medicus war in Borgossa, natürlich hinter den nachts verschlossenen Stadttoren.
„Du musst wohl oder übel bis morgen warten müssen“, sagte Raen gequält und erhob sich wackelig. Aber vielleicht konnte Manoen etwas machen. Er ging aus dem Waschraum. Auf dem dunklen Hof war es vollkommen ruhig. Niemand war zu sehen. Leise stieg er die Treppe hinauf und klopfte an Manoens Zimmertür. Es blieb still. Für einen Moment fürchtete er, der Rotschopf sei in der Stadt, um sich zu vergnügen, doch dann erklang eine matte Stimme: „Ja?“
„Ich bin’s, Raen.“
„Komm rein.“
Raen öffnete die Tür und trat ein. Manoen saß auf seinem Bett, seine Aufzeichnungen waren im ganzen Raum verteilt, als sei ein Sturm durch das Zimmer gefegt. Auf der Kiste neben ihm standen eine Öllampe und ein leerer Bierkrug. Das Gesicht des Hünen wirkte äußerst mutlos, doch er rang sich ein Lächeln ab. Als er aber erkannte, dass mit seinem Freund etwas nicht stimmte, sprang er auf. „Was ist passiert?“
Raen schloss die Tür und ließ sich sofort auf den Boden zwischen die Schriftstücke sinken. Manoen wischte die Papiere beiseite und kniete sich besorgt neben ihn.
„Ich habe mir den Finger gebrochen“, erklärte Raen.
„Was? Lass mal sehen. Hat Jakori dich abgeworfen?“
„Nein, ich habe versucht Sel einen zu verpassen. Bitte, sei vorsichtig, sonst schreie ich das ganze Haus zusammen!“ Er reichte Manoen die Hand.
„Du hast was?“
Raen berichtete stockend, während Manoen den Finger untersuchte.
„Tja, ich bin kein Medizi, aber ich würde sagen, er ist tatsächlich gebrochen. Sieht nicht gut aus. Damit solltest du zu einem Medicus. Ich kann da nicht viel machen.“
Raen nickte, er hatte es nicht anders erwartet.
„Am besten lassen wir die Hand so wie sie ist und wickeln sie nur ein wenig ein, damit du schlafen kannst. Mann, wie willst du denn damit die Prüfung bei Uberth bestehen?“
„Keine Ahnung, so ein Mist!“
„Ja, in der Tat. Das war wirklich dämlich! Aber war Sel wirklich so schnell?“ Manoen tupfte die Abschürfungen sauber.
Raen nickte: „Erstaunlich schnell. Obendrein habe ich wohl auch nicht richtig gezielt. Es war stockdunkel.“
„Hm. Übrigens habe ich die Ratssitzung beantragt. Sie ist am nächsten Sonntag.“ Manoen wickelte einen Streifen reinen Leinens, das er in seiner Kiste gehabt hatte, um Raens Hand. „So, fertig. Willst du vielleicht noch etwas essen? Ich hole dir was aus der Küche; leckeres Kesselfleisch von den Zwillingen.“
„Nein, danke, mir ist der Appetit vergangen. Ich geh’ jetzt besser ins Bett. Bis morgen und lern’ noch schön fleißig!“ Raen brachte ein Zwinkern zustande und verschwand dann reichlich geknickt.
Ohne sich zu entkleiden, legte er sich auf sein Lager und fand lange keinen Schlaf.
Am nächsten Morgen fühlte er schrecklich. Die Nacht war die Hölle gewesen. Und da er nicht wollte, dass die anderen und besonders Sel ihn so sahen, bat er Manoen, ihm etwas zu essen bringen. Gemeinsam aßen sie ihr Morgenmahl in Raens Zimmer. Anschließend half Manoen seinem Freund dabei, Jakori zu satteln, und schließlich machten sich beide auf den Weg in die Stadt. Zum Glück waren die Straßen sonntags wie ausgestorben, und sie kamen schnell voran. Manoen hatte den Medicus vorgeschlagen, der sich eigens um die Studenten der Akademie kümmerte und auch auf dem Gelände wohnte. Keiner der Hy hatte ihn bisher in Anspruch genommen und so wussten sie auch nicht, was sie erwartete.
Auch das Universitätsviertel war am Tage des Herrn wie leergefegt. Vor dem Haus des Medicus, das hinter dem Lektionsgebäude noch in den morgendlichen Schatten lag, stiegen Raen und Manoen ab. Nachdem sie geklopft hatten, öffnete ein Diener die Tür. Manoen musste nicht viel erklären, denn Raens Zustand sprach Bände, und der Diener ließ sie ein. Er führte die beiden in einen großen Raum voller medizinischer Utensilien, und wenn Raen nicht immer noch solch starke Schmerzen gehabt hätte, dann hätte er sich mit Sicherheit neugierig umgesehen. So aber setzte er sich gleich auf den nächsten Stuhl. Jegliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen.
Der Diener ließ die beiden allein.
„Du brauchst keine Angst zu haben, der Medicus wird das schon richten“, raunte Manoen, der ehrfürchtig eine Reihe wunderlich geformter Operationsmesser auf einer Ablage betrachtete. Er ahnte nicht, wie sehr er mit diesem nur allzu treffenden Zuspruch Raens Furcht nur noch mehr schürte. Leise pfiff er durch die Zähne, als sein Blick auf die Amputationssäge fiel.
Da betrat der alte Medicus den Raum. Er war sehr klein und sehr alt und er hatte einen grauen Bart, der nicht ganz so lang war wie der von Im’Shumayalan. Er trug einen knöchellangen, blauen Hausmantel mit weiten, bestickten Ärmeln, wie die Gelehrten ihn gerne zu tragen pflegten, damit ihnen nicht zu kalt wurde, wenn sie daheim im Studierzimmer ihre vielen Bücher wälzten. Der Medicus begrüßte seine Besucher freundlich, ohne darauf einzugehen, dass eigentlich Sonntag war, und widmete sich gleich darauf auch schon der Untersuchung.
Eine ganze Weile sagte er nichts. Nur seine feingliedrigen Finger glitten über die mittlerweile blau angelaufene Hand. Dann blickte er seinen Patienten tadelnd an. „Rauferei“, sagte er knapp, und Raen senkte verlegen den Kopf.
„Was hattest du gestern zum Essen?“, fragte der Medicus weiter, und verwundert sah Raen wieder auf
„Zum Essen? Ist das denn wichtig?“
„Ja, für meine Behandlung schon. Nun erzähl.“
Raen überlegte: „Also, ich hatte mittags Brot und Käse und ... Wasser aus unserem Brunnen. Wir wohnen außerhalb, müsst Ihr wissen, da ist das Wasser aus dem Grund noch genießbar.“
„Und was hattest du am Morgen?“
Kopfschüttelnd fuhr Raen fort: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das von Belang ist, aber ich hatte Hafergrütze und Tee – Ahhhhhh!“ Ein markerschütterndes Gebrüll hallte durch den Raum, und Manoen fuhr zusammen. Er hatte seine neugierige Exkursion durch das Untersuchungszimmer fortgesetzt und war gerade bei den vielen Fläschchen und Tonkrügen mit abenteuerlichen Inhalten angelangt. Er wandte seinen Blick von einer Schlange ab, die in einer klaren Flüssigkeit eingelegt war, und sah, dass Raen aufgesprungen war und den Medicus gefährlich anfunkelte.
Doch der Alte lächelte ruhig. „Ich habe den Knochen wieder in seine Position gebracht. Das mit dem Essen war nur ein kleines Ablenkungsmanöver, verzeih mir, Scolario! Aber es funktioniert immer.“
Nachdem Raen sich wieder beruhigt und die Schmerzen nachgelassen hatten, setzte er sich wieder, und der Medicus begann, seine Hand fachmännisch zu bandagieren. Immer noch misstrauisch beäugte er jede Bewegung des alten Kauzes. Doch es passierte nichts mehr, nur dass der Medicus ihm ein Säckchen mit Kräutern in die Linke drückte und einen Klaps auf den Oberarm gab. „Das war’s. Mach einen Trank daraus und nimm ihn dreimal am Tag ein. Mit etwas Glück wird der Finger nicht steif bleiben. Komm in vier Tagen noch einmal zu mir. So, und jetzt raus mit euch, es ist Zeit, mich schleunigst für den Gottesdienst fertig zu machen!“
Raen und Manoen befolgten die Anweisung des verschrobenen Medicus’ und verließen dessen Haus. Als sie auf ihre Pferde stiegen, erklang plötzlich Glockengeläut über den Dächern Borgossas, und beide Hy zuckten unwillkürlich zusammen. Sie hatten sich noch nicht daran gewöhnen können, dass die Glocken hier in dieser Stadt nichts Schlechtes verhießen, sondern lediglich die Gläubigen zum Gebet riefen.
Schweigend ritten sie zurück nach Hause. Raen war todmüde. Und als sie ankamen, verschwand er schnell in seinem Zimmer, um den Schlaf der letzten Nacht nachzuholen.
Die nächsten Tage gingen sich Sel und Raen aus dem Weg, was auch besser war. Raen versuchte so gut es ging, sich auf die Prüfungen am Ende der Woche vorzubereiten. Er lernte abends aus seinen Aufzeichnungen und übte mit Manoen so gut es ging für Maestro Uberth.
Uma und Uke hatten viel Mitleid mit ihm und brachten ihm als Trost besondere Leckereien vom Markt mit. Außerdem schrieb ein jeder fleißig Briefe, die sie ihm vertrauensvoll überreichten, damit er sie mit nach Hy nehme. Dass Arniko auch und zwar für immer zurück nach Hause ging, schien den meisten dabei weniger von Bedeutung zu sein.
Der zweite Besuch beim Medicus brachte Raen weniger Schmerzen, einen neuen Verband und ein zögerliches Nicken ein.
„Du hast doch Prüfungen in den nächsten Tagen, nicht wahr?“, hatte der Alte gefragt. „Komm am Samstag direkt vorher zu mir. Ich werde dir einen Verband verpassen, der dir hilft, die Gefechte zu überstehen. Ich war lange Zeit Feldscher bei der königlichen Armee von Graçe - in jungen Jahren versteht sich. Damals habe ich noch jeden Krieger wieder kampffähig gekriegt! So ein kleiner gebrochener Finger ist da gar nichts, das sage ich dir. Ach, die guten alten Zeiten! Vagabundenleben im Zelt und auf Feldbetten und alle Arten von Kriegsverletzungen, die man sich nur vorstellen konnte. Die einzig wahre Herausforderung!“ Er hatte wehmütig geseufzt und Raen schließlich mit einen aufmunternden Lächeln entlassen.
Dann kam der Freitag, und Im’Shumayalan rief zur Prüfung. Er erwartete jeden seiner Scolarios einzeln in dem großen Vorlesungsraum. Als Raen an der Reihe war und durch die Tür trat, stellte er fest, dass die vordersten Bänke zur Seite geschoben worden waren, um einer ausladenden Holzplatte auf zwei Böcken Platz zu machen. Auf der Platte war eine erdachte Landkarte gezeichnet und neugierig kam er näher.
„Nun, Scolario Raen, bist du bereit für die Prüfung?“, fragte Im’Shumayalan freundlich. Er saß wie immer erhöht auf seiner Cathedra, die obligatorische Zuchtrute in der Hand. Neben der Cathedra saßen zwei seiner Assistenten, welche die Befragung überwachten.
„Ja, Maestro, ich bin bereit“, antwortete Raen. Er hatte die verbundene Hand auf den Rücken gelegt und sich verneigt.
„Gut, dann beginnen wir. Dies hier ist die Kriegserklärung und dies das Schlachtfeld. Du hast ein Glas Zeit, um deine Überlegungen anzustellen.“ Der Maestro gab Raen eine Schriftrolle, zeigte mit der Rute auf die Platte und drehte das Halbstundenglas herum.
Raen rollte das Schriftstück auseinander und las die Aufgabe, danach widmete er sich nachdenklich der Landkarte. Nach wenigen Augenblicken hatte er die sich gegenüberstehenden Armeen in Form von kleinen Zinnfigurinen aufgestellt.
Im’Shumayalan schien nicht besonders überrascht, als Raen loslegte, noch bevor die Hälfte des Sandes durchgelaufen war.
„Folgende Lage liegt uns vor: Der Aggressor Rot bedroht die Grenze des Volkes Schwarz. Die Truppengrößen beider Armeen sind annähernd gleich. Sie stehen sich am Fuße des Gebirges gegenüber, welches das angegriffene Volk normalerweise vor dem Feind schützt. Wenn man davon ausgeht, dass der Winter gerade erst vorüber ist - in der Kriegserklärung stand etwas von Problemen bei der Aushebung der Armee Rot, da die Bauern gerade bei der Aussaat waren -, dann ist das Gebirge folglich noch mit Schnee bedeckt. Es ist also momentan nicht möglich für die Truppen von General Rot, über die Pässe ins Zentralland vorzudringen, auch wenn sie die gegnerischen Reihen durchbrechen sollten. Sie müssten auf das Schmelzen des Schnees warten, außerdem können an den Pässen noch mehrere Fallen auf sie warten“, erklärte Raen die Gefechtslage, die eine frappierende Ähnlichkeit mit dem letzten Krieg Askhars gegen Hy hatte, nur dass es in diesem Fall keine Mauer gab. Aber er vermutete, dass das auch beabsichtigt war. Im’Shumayalan wollte sehen, wie er die Situation löste.
„Wäre ich General Rot“, setzte Raen unbeirrt seine Ausführung fort, „so würde ich die schwarze Armee in kleine Flankenkämpfe verwickeln und zusehen, Spione hinter ihre Reihen zu bekommen. Sie können die Pässe auskundschaften.“ Raen verrückte einige Figürchen auf der Karte und er spürte, wie Im’Shumayalan ihn dabei interessiert beobachtete. „Dabei wird General Rot feststellen, dass die Vorräte der Schwarzen begrenzt sind, da Nachschub über die Pässe nur eingeschränkt möglich ist. General Rot entscheidet sich also, die Sache erst einmal auszusitzen. Er will die Zeit für sich arbeiten lassen, um Schwarz zu schwächen, denn sein Nachschub aus dem flachen Hinterland ist nicht gefährdet. Doch hält er seinen Gegner mit kleinen Scharmützeln auf Trab.“ Raen sah kurz zu dem Maestro auf, der nur den Finger kreisen ließ als Zeichen, er solle fortfahren. „An der Stelle von General Schwarz durchschauen wir natürlich die Taktik von General Rot, wir wissen ja, wie es um unsere Vorräte bestellt ist, und dass jeder einigermaßen kluge Feldherr stets danach trachtet, mit möglichst wenig Verlusten einen Krieg zu gewinnen. Wenn nun nach spätestens zwei Wochen immer noch nichts geschehen ist, würde ich als General Schwarz in mehreren Nächten heimlich nach und nach die Hälfte meiner Armee an die Flanken des Feldes bringen und dort verstecken. Das muss unter größter Vorsicht geschehen, um die roten Spione nicht zu alarmieren, von denen General Schwarz selbstverständlich ausgeht, dass sie da sind. Die andere Hälfte der Armee soll dann Schwäche vortäuschen. Man tötet einige Pferde und legt die Kadaver vor die Lager, das lockt sehr schnell Krähen und andere Aasvögel an, die dann über den Lagern kreisen. Dann lässt man die Soldaten sich nur langsam bewegen, binde ihnen schmutzige Leinen um die Köpfe, und zu guter Letzt zündet man nur wenige Kochfeuer in der Nacht an. General Rot wird Spione direkt zum Lager schicken, die ihm dann mitteilen werden, die schwarze Armee sei nun endlich schwach genug, um sich nicht mehr ausreichend gegen einen Ansturm wehren zu können. Schon am nächsten Morgen wird er zum Angriff blasen. Er wird all seine Soldaten ins Feld führen und sie ohne Bedenken und siegesgewiss vorwärts stürmen lassen. In den schwarzen Lagern aber wird man die Schwäche weiterhin vortäuschen und der Armee Rot durch eine wohlgeplante Flucht zu den Flanken hin den Weg durch die Reihen lassen. Natürlich wird General Rot misstrauisch und den Angriff stoppen, wenn er auf solch ein beispiellos feiges Verhalten trifft. Denn in verzweifelten Situationen gilt es als erfahrungsgemäß, dass ein Verlierer zumeist erbittert bis zum Tode kämpft, da er ja nichts mehr zu verlieren hat. Doch zu diesem Zeitpunkt der Erkenntnis wird General Rot schon zu weit ins gegnerische Gelände vorgedrungen sein. Jetzt treten die an den Flanken versteckten schwarzen Soldaten ins Geschehen. Sie ziehen einen Halbkreis hinter der Armee von General Rot und schneiden ihr damit schlicht den Rückweg ab. Mit Hilfe der Unüberwindlichkeit der Berge wird es General Schwarz gelingen, die Armee von General Rot in die Enge zu treiben und sie früher oder später zum Aufgeben zu zwingen. Denn einmal die Seiten getauscht, sind es nun die Truppen von General Rot, die von ihren Naschschublinien abgeschnitten sind!“ Raen schloss seine Rede, indem er demonstrativ und mit gewisser Genugtuung die roten Figürchen mit seiner linken Hand umwarf. Er sah zu Im’Shumayalan, der noch über dem Geschehen zu grübeln schien. Er hatte die Rute auf das Pult gelegt und eine Hand in seinen Bart gegraben. Unter seinen tief gesenkten, buschigen Augenbrauen schaute er auf die Platte hinab. Doch schließlich richtete er sich auf, strich den Bart glatt und legte die Fingerspitzen aneinander. Dann sagte er ruhig mit einer Stimme wie Herbstlaub: „Scolario, Scolario, wie es zu erwarten gewesen war ... ich habe nichts anderes zu sagen, als eccellente! Ich gratuliere.“
Ein spontanes Lächeln bahnte sich den Weg auf Raens Gesicht, und er verneigte sich tief vor dem wohlwollenden Maestro.
„Habt vielen Dank!“
„Danke lieber dir selbst. Du hast viel gelernt im vergangenen Jahr.“
Raen wurde indes rot, erinnerte er sich doch noch sehr gut daran, wie viel Verdruss sie sich gegenseitig in diesem Jahr bereitet hatten.
„Nein, Maestro, ohne Eure beharrliche Zucht hätte ich es nicht geschafft. Ich verdanke es Euch, dass mir bewusst wurde, welch bedeutenden Wert das Wissen hat. Ich möchte mich hiermit noch einmal aufrichtig für meinen damaligen Ungehorsam entschuldigen. Es war wirklich dumm von mir.“
„Schon gut, Scolario. Ich bin sehr zufrieden mit deiner Wandlung. Wenn deine Leistungen bei Maestro Uberth auch so hervorragend sein sollten, dann werde ich wohl bei meinen Kollegen ein gutes Wort für dich einlegen müssen ... für den Fall, dass sich dein Eintritt ins nächste Circulum verspäten sollte. Aber ich rate dir, wenn es allzu spät wird, dann kann auch ich nichts mehr tun.“
„Ich bin Euch zutiefst zu Dank verpflichtet, es ist überaus großzügig von Euch, mich mit Eurer Unterstützung zu bedenken.“
Im’Shumayalan winkte ab als sei es nichts. „Übrigens, was macht die Hand?“, fragte er stattdessen und deutete mit einem seiner knochigen Finger auf den Verband.
„Ich werde bei Uberth bestehen, wenn es das ist, was Ihr meint!“
Der graue Maestro lächelte auf die ihm sehr eigene Art: zaghaft, aber doch wohlgesonnen.
„Dann bleibt mir nur noch, dir eine gute Reise zu wünschen!“ Er bedeutete Raen, jetzt gehen zu können. „Und ich hoffe, wir sehen uns wieder, junger Hy.“
„Selbstverständlich, Maestro, gehabt Euch wohl.“ Er verneigte sich noch einmal tief und verschwand dann.
Strahlend trat er kurz darauf ins Freie. Sofort wurde er von den anderen umringt.
„Und? Wie ist es gelaufen?“, drängte Jovani aufgeregt.
„Warte. He, Manoen!“ Raen wandte sich an seinen reichlich blassen Freund, der als nächstes an der Reihe war. „Du schaffst das schon! Hab keine Angst, Langbart wird dich schon nicht fressen!“ Er legte ihm aufmunternd die gesunde Linke auf die Schulter, und danach schlich Manoen die Stufen zum Eingang hoch, als ginge er zu seiner Hinrichtung.
„Nun sag schon, wie war es?“ Jovanis Augen leuchteten wissbegierig.
„Ich habe bestanden - mit Auszeichnung! Eccellente.“ Raen grinste breit.
„Herzlichen Glückwunsch, das gelingt nur wenigen bei Langbart. Wie hast du das angestellt?“, wollte Anthones wissen.
Raen zuckte mit den Achseln. „Schach matt!“, sagte er bedeutungsvoll und ging damit auf ein Spiel ein, welches der Maestro ihnen zum Üben empfohlen hatte. Über Jovanis Schulter hinweg entdeckte er dabei zufällig Sel, der scheinbar teilnahmslos bei den Bäumen stand. Er würde der letzte Prüfling für heute sein. Schnell sah Raen wieder weg und teilte mit den anderen die Freude darüber, die erste Prüfung hinter sich zu haben, denn keiner war bisher durchgefallen.
Als Manoen herauskam, machte dieser ein niedergeschlagenes Gesicht, und Raen wurde ganz bang zumute. Hatte sein Freund etwa nicht bestanden? Er ging ihm entgegen.
„Was ist?“
Manoen sah ihn betrübt an. Er schüttelte langsam den Kopf. „Ich bin ein unverbesserlicher Trottel, … ich habe einfach die Nerven verloren ... und viel zu viel Zeit mit Lernen vergeudet!“ Plötzlich strahlte er bis über beide Ohren
„Oh, du verdammter ...“ Raen versetzte seinem Freund mit dem Handrücken einen Schlag auf die Brust.
„Es war zwar lange nicht so glänzend wie bei dir, aber ich bin durch!“ Übermütig fiel er Jovani, der als zweiter herbeigekommen war, in die Arme. Andere schlossen sich ihm an. Raen stierte unauffällig zu Sel hinüber, der eine finstere Miene aufgesetzt hatte und in Richtung Eingang stapfte. ‚Nein, ich wünsche ihm jetzt nicht, dass er durchfällt, denn dann wäre ich nicht besser als er!’, sagte er zu sich selbst und straffte seine Schultern. „Und was machen wir jetzt?“, fragte er in die Runde.
„Ich würde sagen: Auf nach La Gioia! Ein wenig Siegeswein kann nicht schaden! Nur ein, zwei Gläser“, machte Jovani den Vorschlag. „Mut antrinken für morgen!“
„Jawohl, damit wir die Hölle von Maestro Uberth überstehen!“, rief Manoen fröhlich aus und legte kumpelhaft einen Arm um den blonden Graçener. Eine Weile plauderten sie ausgelassen über das ihnen noch Bevorstehende.
Dann tauchte Sel wieder auf. Ganz und gar ein Vorbild der Selbstbeherrschung verriet sein Gesicht nichts. Er kam zu ihnen herüber geschlendert.
„Und? Was ist?“, fragte Anthones schließlich den ungeliebten, aber wegen seines Könnens mit dem Schwert dennoch geachteten Mitstudenten.
„Bestanden - mit Auszeichnung“, sagte Sel schlicht, aber Raen durchschaute ihn. Innerlich musste sich Sel sehr zurückhalten, nicht aus voller Brust zu tönen.
‚Nur keine falsche Bescheidenheit’, dachte er, ‚du kannst ruhig zugeben, dass du stolz darauf bist, mit mir gleichgezogen zu sein.’ Irgendwie ärgerte sich Raen darüber, dass Im’Shumayalan auch Sel ein Eccellente gegeben hatte. Doch er war sich auch im Klaren darüber, dass Im’Shumayalan sich nicht einwickeln ließ und jegliche Lobhudelei sofort durchschaute. Sel musste also wirklich sehr gut gewesen sein, und das konnte man durchaus anerkennen. Wie alle Studenten gratulierte schließlich auch Raen ihm, wenn auch widerwillig. Danach widmete er all seine Aufmerksamkeit nur noch der Frage, in welcher Schenke sie denn nun ihren ersten Erfolg begießen wollten. Sie entschieden sich aus gegebenem Anlass für die „Goldene Hand“, eine am Rande von La Gioia liegende Spelunke. Zum einen, weil sie alle ein goldenes Händchen bewiesen hatten, und zum anderen, weil sie noch gut zu Fuß zu erreichen war, denn ihre wertvollen Pferde würden im Stall der Akademie wesentlich besser aufgehoben sein als in den zwielichtigen Straßen von La Gioia.
Laut feiernd zogen sie wie schon viele Studentengruppen vor ihnen durch den frühen Nachmittag, und Borgossa begegnete dieser außerordentlichen Ruhestörung wie üblich mit gelassener Gleichmütigkeit. Lediglich die jungen Mädchen lächelten den vergnügt johlenden Burschen im Vorübergehen keck zu, was die Scolarios nur noch übermütiger werden ließ und sie den Nachwuchsschönheiten von La Gioia anzügliche Bemerkungen hinterher riefen.
Alle waren unbeschwert und fröhlicher Stimmung, keiner verschwendete einen Gedanken an den morgigen Tag. Nur einer unter ihnen konnte die ungetrübte Freude der anderen nicht teilen. Er kehrte zeitig zurück in das abgelegene Haus draußen in der Feldmark. Seine zwanghafte Rechtversessenheit ließ nicht zu, sich so etwas wie Muße zu gönnen.
„Dritte Kompanie, marsch!“, brüllte Jovani aus voller Kehle, und die Gruppe setzte sich in Bewegung. Die grüne Standarte mit der goldenen Drei darauf zitterte im Schrittrhythmus. Äußerst präzise marschierten die Studenten in verschiedenen Formationen über den Platz. Jeder konzentrierte sich auf seine bisherigen Fehler, und so manchem stand schon nach wenigen Minuten der Schweiß auf der Stirn, obwohl es heute ein angenehm kühler Morgen war, und die Sonne sich hinter einer dünnen Schicht Wolken versteckte. Maestro Uberth thronte hoch zu Ross und beobachtete jeden einzelnen genau. Ab und an rief er mit seiner krächzenden Stimme Befehle, die Jovani dann weitergab. Er hatte zu diesem besonderen Anlass seine glänzende Rüstung angelegt und gab einen prächtigen Anblick ab. Sein weißer Hengst tänzelte übermütig, doch Uberth hatte ihn fest im Griff. Das sahen allerdings nur die Zuschauer dieser Prüfung - Studenten aus höheren Jahrgängen oder anderen Fakultäten - die Marschierenden hingegen hielten ihre Augen streng geradeaus gerichtet. Es war beinahe eine Tradition, dass es bei den Abschlussprüfungen auf dem Platz der Akademie viele Zuschauer gab. Und sie applaudierten und jubelten am Ende einer jeden Darbietung anerkennend, wie es auch jetzt der Fall war. Die Dritte Kompanie stand stramm und wartete darauf, von Uberth die Freisprechung zu bekommen.
Der Maestro ritt einmal vor den Reihen auf und ab und grüßte schließlich mit militärischem Ernst ab. Jovani erwiderte den Gruß, während kein anderer sich rührte.
Dann hob Uberth das Kinn, und unter seinem gewaltigen Schnurrbart breitete sich ein Lächeln aus.
„Bravo, bravo! Ich bin stolz auf euch! Ihr habt gut an euch gearbeitet! Ihr seid durch, alle!“
Man konnte sehen, wie nach dieser Bemerkung die Anspannung förmlich aus den Prüflingen wich wie Luft aus einem Ziegenbalg. Doch noch bevor die Erleichterung zu groß werden konnte, erinnerte Maestro Uberth sie an die nächste Prüfung: „Nach der Pause will ich euch hier in voller Montur wieder auf dem Platz sehen!“ Er wendete zackig sein Pferd und trabte davon.
Von den älteren Kollegen bekamen die Studenten Wasser zur Erfrischung, und sie ließen sich am Rand zwischen den Zuschauern nieder, um zu verschnaufen, denn der letzte Part würde auch der anstrengendste werden. Raen hatte ein wenig Sorge um seine Hand. Allein das Marschieren, das Hin- und Herschwingen der Arme, hatte den Schmerz wieder anschwellen lassen. Zwar hielt der spezielle Verband des Medicus’ bisher, was er versprach, aber Raen hatte gewisse Zweifel, dass er auch das Gefecht unbeschadet überstehen würde. Da ging es doch ganz anders zur Sache.
„Wird es gehen?“, fragte Jovani, der sah, wie Raen sich die verbundene Hand hielt und das Gesicht verzog.
„Es muss gehen.“ Raen lächelte unglücklich. „Im Krieg würde auch keiner Rücksicht darauf nehmen!“
Jovani nickte ernst. Er wusste, dass Raen einer der Wenigen unter ihnen war, der tatsächlich schon einmal in einer Schlacht gekämpft hatte. Die Narbe auf seiner linken Wange zeugte davon, wie auch die an seinem Oberschenkel. Sie waren oft zusammen in der Therme gewesen, und Raen hatte Jovani, nachdem er ihn danach gefragt hatte, bereitwillig vom Sommer an der Grenze erzählt. Natürlich hatte er dabei eine gewisse Passage geflissentlich ausgelassen. Das ging keinen etwas an. Jovani beneidete Raen für seine Kampferfahrung und er scheute sich nicht, das auch offen zuzugeben. Raen wiederum verstand nicht, warum es den jungen Graçener so sehr danach gelüstete, in die Schlacht zu ziehen. Er vermutete, es hatte etwas damit zu tun, dass ein Mann hier in Borgossa nur etwas galt, wenn er seinen Mut bewiesen hatte. Das hatte er selbst ja auch schon einmal erlebt, als er letztes Jahr das Turnier gewonnen hatte. Von den beachtlichen Auswirkungen des Championtitels auf seinen Bekanntheitsgrad und sein Ansehen war er sehr überrascht gewesen.
„Vielleicht solltest du noch eine Lage Leinen darum wickeln, als Polsterung, vorausgesetzt es passt dann noch in den Panzerhandschuh“, schlug Jovani vor.
„Ja, das werde ich wohl auch tun. Oh Mann, ich wünschte, ich könnte etwas Zhangha nehmen!“ Er erhob sich, da die Pause zu Ende ging.
„Zhangha?“, wiederholte Jovani fragend.
Raen hielt ruckartig inne. Nun hatte er wohl doch zu viel verraten, befürchtete er. Die Geheimnisse Hys gingen niemandem etwas an!
„Ach, das“, winkte er ab, „ist ein ... eine Medizin gegen Schmerzen, die wir in Hy haben. Müssen wir jetzt nicht langsam zum Zeughaus?“, lenkte er schnell ab, um sich aus der Bredouille zu manövrieren. Und glücklicherweise gab sich Jovani mit dieser Antwort zufrieden, denn er folgte ihm ohne Einwände.
Am Zeughaus beaufsichtigte der Pedell die Aushändigung der Ausrüstung an die Studenten. Gegenseitig half man sich in die verbeulten Übungsrüstungen, und die Aufregung stieg mit jeder weiteren geschlossenen Schnalle. Raen fühlte sich wie immer schrecklich eingeengt in dem Metallpanzer und dem mörderisch schweren Kettenhemd. Wie konnte man sich nur so derart selbst behindern? Warum büßte man freiwillig soviel Bewegungsfreiheit ein, nur um etwas weniger verwundbar zu sein? Man konnte doch getrost auf diesen lästigen Schutz verzichten, der sowieso bloß trügerischer Schein war, wenn man nur genügend Übung hatte. Raen konnte nicht begreifen, warum die Krieger anderer Völker mehr auf das tumbe Metall um sich herum vertrauten, als auf die Qualität ihres eigenen Könnens. Doch es war auch klar, welch einen großen Vorteil die hyaunische Schwertkampfkunst gerade dadurch hatte. Genau das hatte er bei dem Turnier für sämtliche Zuschauer nur allzu eindrucksvoll demonstriert. Und viele der aufgeschlossenen borgossinischen Studenten trachteten seitdem danach, die Schwertkunst der Hy zu erlernen. Einige hatten sich ihm sogar ehrerbietig als Schüler angeboten. Das hatte ihm sehr geschmeichelt, doch sein Eid verpflichtete ihn natürlich dazu, das Geheimnis des Könnens der hyaunischen Krieger strengstens für sich zu behalten. Schweren Herzens hatte er jedes noch so eifrige und rührende Gesuch ablehnen müssen. Für ihn wäre es nicht nur eine neue Erfahrung gewesen, andere etwas zu lehren, sondern auch eine gute Möglichkeit, eigenes Geld zu verdienen, womit er von den monatlichen Zuteilungen Machols unabhängig gewesen wäre.
Raen bemerkte, wie seine Gedanken ins Negative umschlugen. Er raffte sich zusammen. Wenn er sich jetzt nicht konzentrierte, könnte das verheerende Folgen haben.
Mittlerweile standen sie wieder auf dem großen Platz, und ihnen gegenüber hatte eine Reihe berittener Krieger mit gepanzerten Pferden Stellung bezogen. Sie führten lange Holzlanzen, die an der Spitze zwar mit Leder gepolstert waren, aber dennoch schmerzhafte Prellungen verursachen konnten. Das Fußvolk war ebenfalls mit diesen Lanzen und Holzschwertern ausgestattet. Raen musste seine Lanze in der linken Hand tragen, was ihm einen Außenposten am linken Flügel verschaffte. Darüber war er ganz froh, denn er hoffte, die Angriffe würden sich hauptsächlich auf die Mitte konzentrieren.
Die Aufgabe war es nun, dass wechselnde Kommandeure ihre Fußtruppen gegen die Reiter lenken sollten. Dabei galt es, Schnelligkeit und Reaktionsvermögen, gepaart mit Entschlusskraft und klaren Befehlen unter Beweis zu stellen ... und im kommenden Durcheinander einen kühlen Kopf zu bewahren.
In den ersten Runden fanden die Angriffe der Reiter tatsächlich hauptsächlich auf die Mitte statt, gnadenlos trieben sie ihre Pferde in die Reihen, die manchmal geschickt auswichen, manchmal aber auch einfach über den Haufen geritten wurden. Jedes Mal wurde die Situation angehalten, damit sich Reiter und Infanteristen wieder neu formieren konnten. Bei einem überraschenden Scherangriff auf den linken Flügel hebelte Raen mit seiner Lanze einen der Reiter aus dem Sattel, was ihm spontanen Beifall der Zuschauer einbrachte, aber auch einen unerträglichen Schmerzschauer, der ihm für einen Moment die Sinne raubte. Heiß und kalt durchlief es ihn, und er musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht durch die Schmerzen die Orientierung zu verlieren. Glücklicherweise blieben die Attacken auf den linken Flügel auch hernach recht selten, und schließlich war Raen an der Reihe, das Kommando zu übernehmen. Sein Name hallte über den zerpflügten Platz, und von Maestro Uberth gerufen, klang er tatsächlich wie das Krächzen einer Krähe.
Ruhig nahm er seine Position in der Mitte ein, beobachtete abschätzend das temporeiche Anreiten der Angreifer und gab dann schnelle präzise Anweisungen. Im letzten Moment sprang er zur Seite, so behände wie die Rüstung es zuließ, und hinter ihm teilten sich die Reihen wie Schilf, das von einem Moorkahn durchfahren wird. Doch unvermittelt verließen die Reiter ihre Keilformation, fächerten auseinander und verfolgten die weichenden Flanken. Raen reagierte sofort. Er gab den Befehl zum Hocken und Pflanzen. Dabei rammten die Fußsoldaten ihre Lanzen schräg vor sich in die Erde und warteten geduckt auf den Aufprall der Pferde. Kurz darauf splitterte das Holz an den Brustpanzerungen der Tiere und einige stürzten. Ein heilloser Tumult folgte, in dem die gefallenen Reiter von den Fußsoldaten schließlich festgesetzt wurden und der klägliche Rest zu Fuß die Flucht antrat.
Maestro Uberth ließ das Horn blasen. Es kündigte das Ende des Gefechts an. Alle Akteure hielten dankbar inne, und für diese doch recht spektakuläre Vorstellung wurden sie mit begeistertem Applaus belohnt. Erschöpft und erleichtert erhob sich nun auch der „gefallene“ Rest vom Boden, und der ein oder andere sammelte einen verlorenen Helm auf. Raen riss sich seine unbequeme Blechhaube vom Kopf und sah zuerst tief durchatmend in den trüben Himmel über sich, dann blickte er in die in die Menge und genoss, die Arme triumphierend hochgereckt, den Beifall. Anschließend sah er sich zwischen seinen Mitstreitern um. Viele hatten blutige Schrammen und Beulen am Kopf, unter den Rüstungen schwollen Prellungen, und es gab einen gebrochenen Arm, den der alte Medicus bereits untersuchte. Ansonsten aber war alles heil geblieben, und Maestro Uberth erteilte ihnen allen für die gute Leistung ein Bestanden. Zu entkräftet zum Jubeln, ließen sich einige Prüflinge gleich wieder in den aufgewühlten Sand der Arena fallen, einige andere hingegen wollten dafür so schnell wie möglich ihre Rüstungen loswerden, um in der Therme ihre geschundenen Gliedmaßen zu pflegen, und trudelten bereits hinüber zum Zeughaus. Unter ihnen waren auch Raen und Manoen. Die Gehilfen des Pedells nahmen ihnen die schweren Platten und den Helm ab, und ohne Umschweife begaben sie sich in die herrlich wohltuenden Wasserbecken der Therme.
Am Abend war Manoen zwar müde und zerschlagen, aber er ließ es sich nicht nehmen, mit Jovani und Anthones wie angekündigt in La Gioia ihren errungenen Sieg zu feiern.
Raen dagegen war nach Hause geritten und hatte sich früh ins Bett gelegt. Leider kämpfte seine Erschöpfung lange mit dem pochenden Schmerz in seinem Finger um den Schlaf.
Wie ein Tröpfchen Elend saß er zusammengekauert am salzigen Holz der Reling und klammerte sich mit seiner gesunden Hand an einem der Taue aus der Takelage fest. Er versuchte an etwas zu denken, das ihn die fürchterliche Übelkeit vergessen ließ, die ihn quälte seit er einen Fuß auf dieses verdammte Schiff gesetzt hatte. Doch sein Gehirn war durch das endlose Schaukeln völlig außerstande auch nur den winzigsten Gedanken zu formen. Selbst einfach nur graçenische Wörter zu deklinieren, gelang ihm nicht. Er spürte, wie sich seine Gesichtshaut spannte und ihm Speichel in die Mundhöhle schoss. Schnell erhob er sich. Aber alles, was er hervor würgte, war bittere Galle. Seit gestern Mittag hatte er nichts mehr zu sich genommen außer Wasser, und auch das wollte nicht drinnen bleiben. Nachdem er sich wieder hingehockt hatte, ging er dazu über, verzweifelte Gebete für das Meer zu sprechen, denn er war sich mittlerweile sicher, dass es ihn für seine mangelnde Ehrerbietung bestrafte. Jovani, dem es bestens ging, behauptete zwar, es sei nicht die Strafe des Meeresgottes sondern die Seekrankheit, aber das beruhigte Raen keineswegs. Eine Krankheit war nicht besser als der Fluch des Meeres! Für ihn war klar, dass er die See erzürnt hatte, schließlich war er auf dieser Passage der Einzige, dem es schlecht ging. Grau und drohend wogte das Meer vor seinen Augen, klatsche in harten Wellen gegen den hölzernen Rumpf, sodass er jedes Mal bis ins Mark erbebte. Nein, eines war sicher, es vollführte nur wegen des taktlosen Hy diese wahre Höllenfahrt mit dem hilflosen Schiff. Aber auch das versuchte Jovani Raen zu erklären, das Schiff war gar nicht so hilflos, wie es schien; die Mannschaft hatte alles im Griff, und das Wetter war gar nicht so schlecht. Sie kamen schnell voran. Das war ein kleiner Trost, denn es bedeutete auch, dass sie schneller an ihrem Ziel sein würden und das Schiff verlassen könnten.
Wieder stemmte Raen sich hoch und hätte vor Schwäche beinahe das Gleichgewicht verloren, aber Jovani kam und hielt ihn.
„Mann, sei bloß vorsichtig! Nicht, dass du noch über Bord gehst. Du kannst bestimmt nicht schwimmen!“
Raen blickte Jovani leidend an. Er war kreidebleich. Mühevoll brachte er ein Nicken zustande.
„Du kannst nicht schwimmen, sag ich’s doch.“
Raen schüttelte den Kopf.
„Was, du Landratte kannst schwimmen?“
Raen nickte erneut. „Wir ... haben ... Fluss“, war alles, was er hervorbrachte.
„Verstehe, aber du solltest trotzdem besser unter Deck gehen. Versuch doch, ein wenig zu schlafen.“
Das war gut gemeint, doch Raen schüttelte wieder mit dem Kopf. „Nicht gut. Noch schw ... schl ... schlim-mer ... da unten.“ Sein Graçenisch war im Moment wirklich nicht zu gebrauchen. Sein Gehirn versagte ihm jeden Dienst. „Lass ... mich ... oben.“
„Na gut, aber halt dich gut fest, hörst du!”
Raen nickte und begann erneut monoton einige Gebetsfetzen an Hrauna und Hyaun zu murmeln, und an sämtliche anderen Gottheiten, die ihm sonst noch einfielen. Jovani ließ ihn in Ruhe. Aus einiger Entfernung hatte er aber immer ein Auge auf seinen Studienfreund, während er sich um ihre Pferde kümmerte, denen die Seereise nichts auszumachen schien. Zufrieden kauten sie auf dem Heu herum, das er ihnen gab.
Als sie zwei Tage später an Land gingen, konnte sich Raen kaum noch auf den Beinen halten. Hatte er doch nicht eine Nacht auf dem Schiff schlafen können. Jovani brachte ihn in eine Herberge nahe am Hafen, in die man als wohlbetuchter Herzogssohn gehen konnte, ohne gleich ausgeraubt zu werden. Er schleppte den Hy auf das Quartier, das sie sich teilten, und verstaute ihn im Bett. Während Raen endlich dankbar schlief, vergnügte sich Jovani in der Schankstube mit einem saftigen Stück Wildschweinbraten und einigen Gläsern ausgezeichneten Weins, um seiner Zunge nach dem kargen Schiffsessen wieder einmal etwas Gutes zu gönnen.
Raen schlief durch bis zum Morgen. Erfrischt und mit neuer Tatkraft erwachte er kurz vor Sonnenaufgang. Da Jovani noch tief und fest schlummerte, setzte er sich leise an das geöffnete Fenster und sah hinaus. Die Herberge lag auf einem Hügel und man hatte eine herrliche Sicht auf den Naturhafen von Lado di Forsa und die bewaldeten Klippen ringsherum. Auf einer dieser Klippen stand ein kleines Kastell, das den Hafen überwachte und der kleinen Stadt ihren Beinamen Forsa gab. Noch war alles friedlich, nur ein paar Möwen kreisten bereits über einer Handvoll hereinkommender Fischerboote, und erst jetzt konnte Raen die Erinnerungen an die vergangenen Tage verarbeiten. Sein Blick richtete sich nach innen, und er dachte an die Abschlussprüfungen und die Worte von Im’Shumalayan zurück. Natürlich auch an die Ratssitzung des Hytena. Er konnte es immer noch nicht ganz glauben, tatsächlich auf dem Weg nach Hause zu sein, so viel Unmut hatte ihm zuvor entgegen gestanden, und so viel persönlicher Zorn von Sel hatte ihn getroffen. Aber es hatte auch Überraschungen geben, genau wie Manoen es angekündigt hatte. Und Raen musste im Nachhinein den Hut ziehen vor dieser bisher verborgenen Menschenkenntnis seines Freundes. Der Rat hatte am Sonntag getagt und jeweils ein Vertreter seiner Kaste hatte daran Teil genommen, getreu nach dem Vorbild eines hyaunischen Clanrates. Somit waren es sechs Ratsmitglieder und Raen gewesen. Der Fall war besprochen worden, und Sel hatte als Vertreter der Kriegerkaste eine peinlich theatralische Anklagerede gegen Raens Disziplinlosigkeit gehalten. Raen hatte sich trotz aller Lächerlichkeit, mit der Sel auftat, gefühlt, als stünde er nach all den Jahren erneut vor Gericht, aber schließlich war er an der Reihe gewesen, sich zu äußern. Ruhig hatte er seine Gründe vorgetragen und war absichtlich nicht mit einem Wort auf Sels Anschuldigungen eingegangen. Dann war abgestimmt worden. Machol und Sel hatten natürlich gegen ihn gestimmt. Uma als Vertreter der Eisan und Reko für die Hyaunset hatten unter einem missfälligen Kopfschütteln, das Sel sich bei all seiner Aufgebrachtheit nicht verkneifen konnte, für ihn gestimmt. Auch Kema, ein Angehöriger der Kaste der Handelsfahrer, hatte seinen Arm für Raen gehoben. Somit hatte nur noch eine Stimme gefehlt: Die von Arniko. Alle Blicke hatten sich auf sie konzentriert, und Raen hätte schwören können, sie würde auch gegen ihn sein. Doch zur großen Verwunderung aller hatte sie sich schließlich enthalten. So war das Ergebnis drei gegen zwei gewesen. Wutentbrannt war Sel aufgesprungen, hatte Arniko einen enttäuschten Blick zugeworfen und den Raum verlassen. Bis zu Raens Abreise am nächsten Tag war er nicht wieder aufgetaucht. Das hatte Raen nicht weiter gekümmert, aber in seinen Gedanken war er doch sehr damit beschäftigt gewesen, darüber nachzusinnen, was Arniko dazu bewogen hatte, sich ihrer Stimme zu enthalten. Ihren Grund sollte er allerdings nie erfahren, denn auch sie hatte das Hytena verlassen und zwar für immer. Sie würden sich nie wieder sehen.
Die Enthaltung Arnikos hatte ihm aber eines erneut gezeigt: Es gab immer etwas zwischen den Worten der Menschen - einen Blick oder eine Geste -, das es zu ergründen und zu berücksichtigen galt. Und als Lehre daraus hatte Raen sich vorgenommen, in Zukunft wieder etwas gründlicher mit seinen Bewertungen über die Menschen um ihn herum zu sein.
Er schloss das Fenster, und nachdem schließlich auch Jovani erwacht war, und sie sich ein gutes Morgenmahl verschafft hatten, sattelten und beluden sie die Pferde und setzten ihre Reise fort. Raen war froh, endlich der schwankenden Welt des Meeres entkommen zu sein und lebte förmlich auf. Schnell hatte er die Tage verdrängt, an denen es kein Oben und kein Unten gegeben hatte und an denen alles Senkrechte aus dem Lot geraten war. Nur das wackelige Gefühl an Land war noch eine schwache Erinnerung an das durchlebte Martyrium.
„Das ist die Landkrankheit! Ich habe das auch ein wenig. Es fühlt sich so an, als ob mein Pferd besoffen sei!“, erklärte Jovani, doch Raen entgegnete dem nur mit einem müden Lächeln. Er glaubte dem Graçener diesen Humbug noch immer nicht. Seekrankheit, Landkrankheit - alles nur erfunden, um ihn aufzumuntern. Eines aber interessierte ihn doch noch.
„Warum sind die Schiffe mit diesen großen Augen bemalt?“, fragte er.
„Das haben nur die Kriegsschiffe. Es soll den Feind das Fürchten lehren. Das Schiff wird als mächtiges verbündetes Wesen angesehen.“
„Ach, so ist das“, murmelte Raen und schwieg dann nachdenklich. Das Schiff war das Wesen und nicht das Meer. Wenn er das gewusst hätte ... Nun gut, dann würde er das nächste Mal eben zum Schiff beten.
Einen halben Tagesritt hinter Lado di Forsa trennten sich die Wege der beiden Reisenden. Doch bevor sie auseinander gingen, legten sie noch einmal eine Pause ein. Jovani wiederholte ein weiteres Mal seine Einladung an Raen, er könne einige Tage auf seinem elterlichen Lehen verbringen, doch der lehnte erneut mit der Begründung ab, es wirklich eilig zu haben, schließlich warte eine Hochzeitsfeier auf ihn.
„Schade, mein Vater hätte nicht schlecht gestaunt, wenn ich einen waschechten Hy angeschleppt hätte!“
„Gibt es denn auch unechte Hy?“, fragte Raen scherzhaft zurück.
„Nein, ach, du weißt schon was ich meine. Sag, es ist doch aber nicht deine eigene Hochzeit, zu der du nach Hause reist, oder?“, hakte Jovani neugierig nach.
„Nein, mein Vater wird noch einmal heiraten.“
„Oh, ich wusste gar nicht, dass -“
„- meine Mutter tot ist? Wie denn auch. Außerdem ist es schon lange her.“
Jovani schwieg eine Weile betroffen. Doch dann wagte er es, Raen noch einige weitere Fragen zu stellen. „Wie groß sind denn eure Güter? Ist dein Vater ein Herzog oder ein Lehnsherr?“
Raen lachte amüsiert. „Meine Familie hat keine Güter, wie ihr es kennt, auch haben wir nichts, was man mit Geld aufrechnen könnte, denn wir haben gar kein Geld. Und mein Vater ist weder ein Herzog noch ein Lehnsherr, er ist nicht einmal adelig.“
„Aber du studierst doch an der Akademie, das können sonst nur die Söhne von Adligen.“
„Du meinst, das können nur diejenigen, die es sich auch leisten können, das nicht gerade bescheidene Hörgeld zu bezahlen.“
Etwas verlegen sah Jovani auf die Erde, die Belehrung des Hy beschämte ihn offensichtlich: „Ja, so ist es wohl eher.“
„In Hy gibt es keine Adelsschicht, bei uns sind alle Menschen gleich, Männer wie Frauen, weißt du“, erklärte Raen.
Jovani hob wieder den Kopf und fragte mit unverhohlener Neugier:
„Und woher hast du dann das Geld für das Studium, wenn ihr doch eigentlich keines habt?“
Raen blickte in indigniert an, entschloss sich aber dann doch dazu, dem Graçener etwas mehr von sich zu erzählen, als dieser bereits wusste, und weihte ihn schließlich in die Begebenheiten seiner Familie, seines Clans und ein wenig in die hyaunische Lebensart ein.
Aufmerksam hörte Jovani zu, denn nicht jeder bekam die Gelegenheit, die Mysterien dieses Volkes auch aus dem Munde eines Hy dargelegt zu bekommen.
„Und da du mich eingeladen hast, hoffe ich, dich auch irgendwann einmal einladen zu können“, schloss Raen. „Nur weiß ich nicht, ob ich so einfach Ausländer über die Grenze bringen darf. Verstehst du, wir hatten noch nie ausländischen Besuch bei uns in Shari.“
„Hm. Ihr Hy seid schon seltsam.“
„Ja, das denke ich mittlerweile auch, entschuldige.“
„Wofür? Jedes Volk hat so seine Eigenarten. Nimm uns Graçener zum Beispiel, wir sind schrecklich eitel, was man an mir gut sehen kann.“ Jovani strich sich über sein tadellos, nach graçenischer Manier rasiertes Kinn und warf mit einem aufreizenden Blick den Kopf zur Seite, dass seine langen, blonden Strähnen wippten.
Beide jungen Männer lachten und verabschiedeten sie sich daraufhin mit einem Handschlag, obwohl es ganz und gar nicht der hyaunischen Art entsprach. Aber Raen hatte es sich angewöhnt, zumindest Freunden die Hand als Symbol der Verbundenheit nicht zu verweigern.
Während der Reise durch die stillen und steilen Flusstäler nach Osten zum Grenzübergang nach Hy fühlte Raen sich seltsam einsam, und Erinnerungen an seine erste Reise, die ihn in beunruhigend unbekannte Gefilde geführt hatte, kamen ihn wieder in den Sinn. Doch längst war das Unbekannte nicht mehr bedrohlich, und irgendwie vermisste er sogar das quirlige Leben in Borgossas Straßen, und obwohl er ihn erst seit fast einem Jahr kannte, vermisste er auch den stets frohgemuten Manoen an seiner Seite.
Doch als schließlich die schneegekrönten Gipfel des Karpos-Gebirges vor ihm auftauchten, waren alle wehmütigen Gedanken wie weggefegt, und die Freude quoll in ihm über wie schäumendes Bier in einen frisch eingeschenktem Krug. Er trieb Jakori zu einem schnelleren Tempo an und erreichte noch am Abend des zehnten Tages seiner Landreise den Grenzübergang und heimischen Boden. Die Krieger der Wachttürme begrüßten ihn herzlich, und Raen sprengte es fast das Herz, wieder seine Sprache in ihrem reinsten Ursprung zu hören. Und schon hier an der kargen Grenze stellte er fest, wie sehr er sich danach gesehnt hatte, wieder ein Teil dessen zu sein, was ihm so überaus heilig war: Die Vollkommenheit und Geborgenheit der Gemeinschaft Hyauns.
Derart beschwingt durch die Wiedersehensfreude benötigte er für den Rest des Weges nicht mehr als drei Tage, und schließlich fand er sich in den vertrauten Hügeln des Shari-Chors wieder. Als er aus dem Wald in die Felder ritt und den Chorten in all seiner Würde vor sich aufragen sah, musste er sich beherrschen, nicht in Freudentränen auszubrechen. Ein fast idiotisch seliges Lächeln lag auf seinem von der borgossinischen Sonne gebräunten Gesicht, als er alles ganz genau betrachtete und in sich aufnahm. Die Leute, die auf den Äckern arbeiteten, sahen ihn kommen und winkten ihm fröhlich zu. Er grüßte zurück. Es war Saatzeit, doch gegenüber dem geschäftssüchtigen, niemals ruhenden Borgossa wirkte das Leben hier friedvoll und beschaulich. Es war wohltuender Balsam für seine rastlose Seele, und von einem Moment auf den anderen vergaß er, wo er das vergangene Jahr gewesen war.
Hier ist deine Heimat!, sagte ihm sein Herz. Hier gehörst du hin! Wieder winkten ihm einige Leute von den Feldern, und sein Herz vollführte einen unglaublichen Satz.
‚So wunderbar kann es sich also anfühlen, wenn man nach Hause kommt!’, dachte er und sog den Frühlingsduft seiner Heimaterde ein.
Er kam an den Scheunen und dem Schulhaus vorbei, wo gerade Unterricht stattfand. Raen konnte die Reden der Lehrmeister aus den offenen Fenstern plätschern hören. Wenig später passierte er die ihm nur allzu gut vertrauten Gebäude von Henendras Hof und für einen Moment hoffte er, Hereke würde um die Ecke kommen und ihn begrüßen, doch nur einer von den Helfern kam aus einem der Ställe und hob die Hand.
Als der schließlich das Tor des Chorten erreichte, liefen ihm einige Leute entgegen und hießen ihn überschwänglich willkommen. Raen stieg ab und erfreute sich daran, nur bekannte Gesichter um sich herum zu sehen. Viele klopften ihm auf die Schulter, und plötzlich kam Andra durch die Ansammlung gesprungen und fiel ihm um den Hals.
„Oh, Raen, du bist tatsächlich gekommen! Ich bin so froh!“
Er drückte sie lange und sah sie dann an. Seine Schwester hatte sich nicht viel verändert, bis auf die blasse Spur von Sorgen um ihre Augen.
„Andra, es ist schön, dich zu sehen!“
„Hyaun sei Dank, es ist ein kleines Wunder!“ Sie machte aus ihren Freudentränen keinen Hehl und umarmte Raen erneut.
„Wunder? Naja, es war doch selbstverständlich, dass ich komme!“, log er ein wenig über die Schwierigkeiten hinweg, die er gehabt hatte.
„Was hast du denn da gemacht?“, fragte Andra. Erst jetzt hatte sie seine verbundene Hand bemerkt.
„Finger gebrochen, nicht so schlimm, verheilt allmählich“, berichtete er in Kurzform.
„Wer hat das denn behandelt? Soll ich es mir ansehen?“
„Nein, nein, es ist gut. Ein Medicus in Borgossa hat sich darum gekümmert. Er ist ein guter Arzt.“
Andra fasste ihn am Unterarm. „Komm, begrüße Vater und Suneka, sie sind beide in der Küche. Sie werden sich freuen, dich zu sehen.“ Sie zog ihn zum Wohnturm. Ein Splitter Unwohlsein zog sich ihm unter seine Haut. Suneka!
Obwohl er sich auf der Reise das Wiedersehen mit ihr in allen Einzelheiten ausgemalt hatte, fühlte er sich plötzlich nun doch vollkommen unvorbereitet. Aber noch ehe er etwas daran hätte ändern können, marschierte Andra mit ihm weiter, und kurz darauf stand er in der Küche. Zuerst nahm er in dem dämmrigen Licht nur die schattenhaften Silhouetten von Menschen war, die in ihrer Arbeit innehielten und ihn anblickten. Eine der Gestalten löste sich schließlich und kam langsam, fast ungläubig auf ihn zu. Sie war dünn geworden. Dann erkannte er die vertrauten, geliebten Züge: Suneka. Wie eine Erscheinung schwebte ihr noch vom Winter blasses Gesicht mit den dunklen Augen und eingerahmt von einer Flut brauner Locken vor ihm. Stumm öffnete er seine Arme und sie kam zu ihm. Sie legte ihre Hände auf seine Brust und er drückte sie an sich. Mit geschlossenen Augen sog er den Duft ihrer Haare ein, sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Sie löste sich erst nach einer ganzen Weile und küsste ihn sanft auf die Lippen. Er spürte die heißen Tränen auf ihren Wangen.
Keiner wagte es, ihr Wiedersehen zu stören, nicht einmal Roman, der unbemerkt zu ihnen getreten war. In seinen mittlerweile von vielen kleinen Lachfalten umgebenen Augen lagen Rührung und Freude, als er zusammen mit den anderen das wiedervereinte Liebespaar betrachtete.
Anschließend konnte auch er seinen ältesten Sohn wieder in die Arme schließen.
„Gut, dich wieder hier zu haben“, sagte er schlicht.
„Ja, es fühlt sich gut an, wieder zu Hause zu sein!“, entgegnete Raen an alle gewandt, und Ergriffenheit schwang in seiner leisen Stimme mit. Sein Vater legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Du siehst gesund aus, die Sonne in Borgossa bekommt dir offensichtlich.“
„Ja, das Wetter dort ist sehr viel milder als hier, und die Sonne scheint viel. Wo ist denn Resa?“
„Noch in der Schule“, antwortete Andra.
„Natürlich, ich vergaß. Hat er eigentlich schon geäußert, wofür er sich entscheiden möchte? Er wird die Schule doch bald verlassen.“
„Ach, es gibt so vieles zu erzählen, Raen. Lasst uns doch ein friedliches Plätzchen suchen und etwas plaudern! Jemand wird so freundlich sein und uns einen Tee bringen.“
„Bitte, gehen wir in den Tempel, dann kann sich Loenka uns gleich anschließen“, schlug Raen vor, „und dort gibt es bestimmt auch Tee.“
Mit der glücklichen, aber sehr stillen Suneka im Arm und seiner Familie im Schlepptau schlenderte er hinüber zum Tempel. Auch die Begrüßung seines Freundes und jetzigen neuen Oberpriesters von Shari fiel sehr herzlich aus, und als sie endlich alle bei heißem Tee in einem der gemütlichen Nebenräume des Unteren Heiligtums zusammensaßen, stolperte plötzlich auch Resa Hals über Kopf zur Tür hinein. Er war enorm in die Höhe geschossen und genauso schlaksig, wie Raen es in diesem Alter gewesen war. Stürmisch umarmte er seinen großen Bruder und ließ sich dann ganz gespannt auf Raens Bericht direkt neben Suneka nieder, die sich wieder an Raens Schulter geschmiegt hatte und ihn gar nicht mehr loslassen wollte. Raen wusste zunächst nicht, was er zuerst erzählen sollte, doch schließlich begann er einfach da, wo auch seine Reise in die Fremde begonnen hatte.
Es wurde ein langer Abend, bis spät in die Nacht feierten Familie und Freunde den Heimgekommenen. Und so kamen Raen und Suneka erst kurz vor der Morgendämmerung dazu, sich allein in das Zimmer für Gäste zurückzuziehen, in das er für die Zeit seines Besuchs einquartiert worden war. Ohne viele Worte liebten sie sich sehr bedächtig, so als könne der andere sich plötzlich wieder in Luft auflösen. Und nachdem sich der Traum als wahr erwiesen hatte, taten sie es noch einmal mit dem ganzen wilden und verzweifelten Hunger, den sie über ein Jahr nicht hatten stillen können. Erschöpft, aber glücklich schlief er schließlich in ihren Armen ein.
Raen verbrachte einige unbeschwerte und glückliche Tage im behaglichen Schoße der Gemeinschaft, in denen er schlicht nichts anderes tat, als Freunde zu besuchen und mit ihnen ein Schwätzchen zu halten. Sein Gaststatus erlaubte es ihm, sich frei zu bewegen, ohne sich gleich wieder in die allgemeine Arbeit eingliedern zu müssen. Trotzdem ließ er es sich nicht nehmen, mit den Kriegern zu üben und ihnen schon einmal eine Kostprobe dessen zu demonstrieren, was er in Borgossa gelernt hatte. Er genoss das vertraute Miteinander und all die Gespräche mit den Leuten. So hatte zum Beispiel Kaera im vergangen Winter recht überraschend geheiratet und zwar Sunekas Schwester, Soema. Innerhalb von nur einem Jahr hatten sie sich lieben gelernt und kurzerhand entschlossen zu heiraten. Man munkelte, es sei sogar schon Nachwuchs unterwegs, doch sehen konnte man davon bei der glücklichen Braut noch nichts. Raen freute sich für seinen Freund, doch gleichzeitig wuchs sein eigenes schlechtes Gewissen. Jetzt war die jüngere Schwester bereits im Vierten Grad, und die ältere wartete immer noch darauf, dass ihr Zukünftiger endlich und endgültig ihre Hand nahm. Doch es war ja nicht allein die Schuld seiner unerklärlich mangelhaften Zielstrebigkeit; die ihm gestellten Aufgaben warteten darauf, dass er sie erfüllte, erst dann kamen seine eigenen Pläne.
Da Raen sich bereits mit den unangenehmen Gedanken befasst hatte, beschloss er gleich dabei zu bleiben und er wandte sich dem Grund zu, weswegen er überhaupt nach Hause gekommen war: Er musste mit Resa über die Herzensangelegenheit ihres Vaters sprechen.
Der Tag versprach schön zu werden, und Raen wollte Resa nach der Schule abfangen und mit ihm in den Steinwald reiten, so wie er es früher mit Hereke immer getan hatte.
Hereke ... ein weiterer unangenehmer Stich ... Der Sohn des Reitmeisters hatte es bisher sorgsam vermieden, Raen willkommen zu heißen, was der durchaus verstehen konnte. Raen seufzte. Er war kaum eine Woche hier, und schon schlichen sich die ganzen verdrängten Probleme wieder ein. Er sah auf den bewaldeten Horizont, dessen Anblick er so sehr vermisst hatte, und auf einmal konnte er nicht mehr leugnen, welch gute Zeit er in Borgossa verbracht hatte.
Aber auch als er bei Henendra, der ihn freundlich begrüßte, Jakori aus dem Stall holte und nach einem zweiten Pferd für seinen Bruder fragte, blieb Hereke im Verborgenen. Raen hatte von Henendra erfahren, dass sein ehemaliger Freund im vergangenen Herbst die Eisan geheiratet hatte, die damals neu zu ihnen ins Haus gekommen war. Und nun sah Raen das Mädchen über das Geviert vor dem Wohnhaus spazieren. Stolz trug sie ihren hochschwangeren Bauch vor sich her und wirkte sehr zufrieden.
Dann gab es hier also auch bald Nachwuchs. Hoffentlich war Hereke mit ihr auch glücklich, dachte er und stahl sich mit den beiden Pferden vom Hof.
Wie viele fröhliche Tage seiner Kindheit hatte er hier verbracht? Und wie sehr war Herekes Familie auch die seine gewesen. Es hatte sich so vieles verändert, und er fühlte sich hier beinahe wie ein Eindringling. Aber wenn er jemals etwas an dieser bedrückenden Tatsache ändern wollte, dann war es an ihm, den ersten Schritt tun. Das war ihm nur allzu klar. Jedoch waren es im Moment zu viel der Probleme, und er konnte sie nicht alle auf einmal lösen, deshalb musste ein mögliches Friedensgespräch mit Hereke leider warten.
Auf der Schultreppe wartete Raen auf das Ende des Unterrichts. Jakori und die andere braune Stute standen angebunden am Zaun.
Als Resa zur Tür hinauskam, leuchteten seine Augen auf. Sein Bruder war gekommen, um etwas mit ihm zu unternehmen! Mit ihm ganz allein. Mächtig stolz darüber, dass Raen ihm Zeit schenkte, stieg er auf das mitgebrachte Pferd, und beide setzten sich gemächlich in Bewegung.
Resa genoss den Ausflug sichtlich. Er plapperte in einem fort über seinen sehnlichen Wunsch Krieger zu werden, über die begriffsstutzigen Lehrmeister, die ihn ständig tadelten, über ungeliebte Mitschüler und über seine heimliche Liebe. Mit keinem Wort erwähnte er dabei aber, was er über den Heiratswunsch ihres Vaters dachte, oder die ernsten Gespräche, die Andra deswegen mit ihm geführt hatte.
„Und ist sie hübsch?“, fragte Raen, noch wollte er das heikle Thema nicht anschneiden.
„Sie ist so ... so, ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. So ... na ja, ich mag sie einfach. Nein, es ist viel mehr als das, ich ... ich habe das Gefühl, als müsste ich sie immerzu anstarren und den ganzen Tag in ihrer Nähe sein! Aber jedes Mal, wenn ich mit ihr sprechen will, benehme ich mich wie der letzte Idiot.“
Raen lächelte versonnen über Resas Unbeholfenheit, sich auszudrücken. Es erinnerte ihn sehr an sich selbst. Seine eigenen Erfahrungen mit dem Erwachsenwerden waren ja auch noch nicht allzu lange her. Zum Mann zu reifen war nicht leicht, und die richtigen Worte für das Gefühlschaos zu finden, das man dabei empfand, erst recht nicht.
„Kennst du das auch?“, fragte Resa und sah seinen älteren Bruder von der Seite an. Raen fühlte, wie Resa wie schon so oft die Narbe auf seiner Wange bewunderte.
„Oh ja, das kenne ich sehr gut. Mit Suneka ergeht es mir nicht anders. Ich benehme mich manchmal wie ein absoluter Trottel in ihrer Nähe, und das obwohl wir uns schon so lange kennen.“
„Wirklich?“ Es war klar, dass Resa sich nicht vorstellen konnte, wie sein Bruder sich überhaupt trottelig benehmen konnte.
„Ja, es stimmt, aber das ist völlig normal. Frauen haben da so etwas an sich, das uns Männer um unser Denkvermögen bringt“, entgegnete er mit einem verschmitzten Augenzwinkern. „Und will sie dich auch?“
„Nein, sie ... mag mich nicht“, kam es ganz unverblümt aus Resas Mund.
„Oh, das tut mir leid. Aber weißt du, meistens tun die Frauen so, als ob sie einen nicht mögen, dabei ist es genau umgekehrt. Du wirst schon sehen.“
„Das glaube ich nicht“, antwortete Resa ungewohnt ernst, worüber Raen sich still amüsierte. ‚Er mag sie wirklich’, dachte er und galoppierte mit Jakori an. Resa folgte ihm.
Wenig später kamen sie am Waldrand an. Ab hier ging es steil bergan, und sie saßen ab. Die Pferde ließen sie mit gebundenen Vorderbeinen an Ort und Stelle grasen, und zu Fuß stiegen sie den Hügel hinauf. Raen machte diese kleine Anstrengung nichts aus, doch Resa schnaufte bereits, als sie wenig später bei den Steinwalzen ankamen.
„So, da sind wir“, sagte Raen und kletterte trotz des lädierten Fingers ohne Mühe auf eine der Walzen. „Na los, komm schon! Es ist ganz leicht“, forderte er seinen Bruder auf, der sich schwer tat, die Walze zu erklimmen.
„Witzbold, du bist ja auch viel größer als ich und viel stärker“, murmelte Resa angestrengt, aber schließlich schaffte er es und setzte sich neben Raen, der ihn angrinste.
„So viel kleiner bist du gar nicht mehr, weißt du, und das mit der Kraft kommt von ganz allein, sei unbesorgt.“ Er gab ihm einen liebevollen Klaps auf den Oberschenkel, und Resa freute sich, dass sein großer Bruder das gesagt hatte, denn Raen wusste, dass er nicht mehr der „Kleine von Roman“ genannt werden wollte.
Beide ließen sie die Beine baumeln und versonnen den Blick über den magisch anmutenden Ort schweifen. Der Steinwald hatte sich kaum verändert, dachte Raen. Wann war er wohl das letzte Mal hier gewesen? Er versuchte, sich zu entsinnen.
„Es ist schön hier“, unterbrach Resa seine Gedanken. „Ich wusste gar nicht, dass hier diese Steine herumliegen. Und das war euer geheimer Ort, Herekes und deiner?“
„Ja, und jetzt ist es auch dein geheimer Platz. Hier kannst du mit deinem besten Freund herkommen, oder ... mit deiner Liebsten.“ Raen zwinkerte Resa zu, doch anschließend seufzte er. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, hierher zu kommen, die schmerzhaften Erinnerungen, nicht nur an Hereke, sondern auch an Kosam, waren plötzlich wieder sehr lebendig. Wie sollte er sich hier auf ein ernstes Gespräch mit Resa konzentrieren?
„Weißt du -?“
„Hat es sehr weh getan?“, fragten beide fast gleichzeitig.
„Was?“, erkundigte sich Raen.
„Na, das.“ Resa zeigte auf die Narbe in Raens Gesicht. In seinen dunkelbraunen Augen glomm jugendliche Ehrfurcht.
Raen lachte verlegen. „Ja, natürlich, was glaubst du denn! He, was machst du da?“ Ehe er sich versah, war Resa mit den Fingern über den auf der braunen Haut weiß hervorstechenden Strich gefahren. So wie auch Suneka es ab und an unbewusst tat, wenn sie nebeneinander lagen und sich still gegenseitig betrachteten. Raen fragte sich, warum dieses unschöne Mal nur so eine Wirkung auf die Menschen um ihn herum hatte? Was faszinierte sie daran so sehr?
„Es ist ein Zeichen deines Mutes!“, sagte Resa feierlich, als ob er in Raens Gedanken gelesen hätte. „Bist du nicht stolz darauf?“
Raen war etwas befremdet von Resas derartig übertriebener Anerkennung. Natürlich bewunderte der Jüngere ihn und er war dessen großes Vorbild, aber diese Inbrunst an Verehrung war ihm fast unheimlich.
„Nein, ich bin nicht stolz darauf.“
„Wieso denn nicht? Du hast doch den Krieg beendet, oder nicht?“
Raen schüttelte den Kopf.
„Aber du hast den askharischen König getötet!“
„Es war nur der Oberste General, nicht der König“, stellte Raen richtig, aber er konnte Resa nicht die volle Wahrheit sagen. Dass die Narbe ihn nämlich an jenen unseligen Entschluss mahnte, den er damals am Sterbelager des tödlich verletzten Banskeid Anin getroffen hatte. Dass er diese Narbe und die Verletzung am Oberschenkel einer Eigenschaft verdankte, auf die man nicht gerade besonders stolz sein konnte: Ungehorsam gepaart mit Eigenwilligkeit. Und dass sie ihn an die verfluchte Prophezeiung dieses ominösen Orakels erinnerten, die ihm nichts als Schwierigkeiten eingebracht hatte.
„Hör zu, ich kann doch nicht stolz auf etwas sein, das allein mein falschverstandenes Pflichtgefühl war. Ich habe eigenmächtig meinen Eid als Krieger gebrochen. Darauf bin ich nicht stolz! Es war ein Fehler.“
Resa nickte. Raen atmete innerlich auf, er war froh, dass Resa wenigstens in dieser Hinsicht recht verständig war, und er nutzte die Gelegenheit, gleich bei dem ernsten Thema zu bleiben.
„Außerdem, mein lieber Resa, ist Stolz keine besonders gute Eigenschaft, mit der man sich schmücken sollte. Stolz ist selbstsüchtig. Wenn du etwas Gutes leistest, dann darfst du niemals denken, dass es nur dein eigener Verdienst ist. Es sind auch immer andere daran beteiligt, und deshalb ist es besser, stets Demut und Dank zu zeigen, statt Stolz und Hochmut. Denn in erster Linie bist du das, was du bist, durch die anderen Menschen um dich herum: Deine Lehrmeister, dein Vater, deine Mutter, deine Geschwister, Freunde ... “ - ‚Oh, was rede ich da nur, komm zur Sache, Junge!’, schimpfte Raen sich und riss sich zusammen.
Resa wartete derweil gebannt, dass er fortfuhr. Für die Ratschläge seines Bruders war er besonders empfänglich, das hatte Andra gut erkannt.
„Genau diese Leute sind es, die deinen Respekt verdienen, denn sie geben sich alle Mühe, um aus dir einen glücklichen Menschen zu machen. Und irgendwann ist es an der Zeit, ihnen etwas von dem zurückzugeben, was sie dir an Liebe und Wohlwollen geschenkt haben.“
Resas Blick wurde fragend.
„Ich möchte, dass du dir bewusst machst, dass man dem Glück der anderen, die stets auf dein Wohl bedacht waren, nichts in den Weg legt. Das gehört sich einfach nicht.“ Raen sah sofort, dass Resa ihm nicht mehr folgen konnte. Er hatte vergessen, dass er mit einem Zwölfjährigen sprach, der von dieser Welt bisher nichts weiter als diesen Clan und dieses eine kleine Stückchen Erde kennengelernt hatte. Er musste also deutlicher werden.
„Resa, ich will, dass du darüber nachdenkst, ob du wirklich gegen die Heirat unseres Vaters bist und ob du dich nicht dazu durchringen kannst, ihm das Glück zu gönnen, das ihm zusteht! Gerade weil er dein Vater ist und viel für dich getan hat!“ Jetzt war es endlich heraus, und als ob es einen plötzlichen Wetterumschwung gegeben hätte, zog ein dunkler Schleier über Resas Gesicht. Seine Kinnlade schob sich trotzig vor, während Raen weiterredete, und seine noch so sehr jungenhaften Züge verhärteten sich immer mehr, bis es plötzlich aus ihm herausbrach.
„Aber es ist nicht richtig! Mutter gegenüber ist es nicht richtig! Irgendjemand muss doch für sie sprechen. Alle tun immer so, als ob es sie nie gegeben hätte!“
Raen verstummte und betrachtete den vor Empörung bebenden jungen Burschen. Und ein ungutes Gefühl überkam ihn plötzlich. Resa war wie eine dunkle Kopie von ihm selbst, nur weitaus unkontrollierter.
„Wie kommst du darauf, dass alle so tun, als ob es Mutter nie gegeben hätte?“, hakte er vorsichtig nach.
„Weil keiner mehr über sie spricht, alle reden nur noch von Vater und Hanenka - das perfekte Paar! Sie haben Mutter einfach vergessen!“
„Das stimmt nicht, Resa! Ich zum Beispiel habe sie bestimmt nicht vergessen und Andra und Vater auch nicht! Du kannst sie ja mal danach fragen, bevor du sie weiterhin so schwer verurteilst.“
Resa schwieg mit finsterer Miene.
„Jetzt hör mir mal gut zu, du hast Mutter nicht gekannt, aber sie war eine sehr großzügige Frau, die sehr viel Liebe für jeden übrig hatte. Und mit aller Sicherheit kann ich sagen, dass sie es sich wünschen würde, wenn Vater wieder glücklich wird! Und betrachte doch auch einmal sein Schicksal. Nach zwölf langen Jahren, die er Mutter auch nach dem Tode noch treu war, hat er endlich seinen Frieden mit ihr gefunden! Ist das für uns alle nicht eher ein Grund zur Freude?“
„Nein, nein, nein, ich will das aber nicht!“, schrie Resa fast hysterisch, und Raen erkannte das Ausmaß der Sturheit, in die der Junge sich da verrannt hatte. Er legte Resa eine Hand auf die Schulter und redete sanft auf ihn ein: „Was ist nur mit dir, mein kleiner Bruder? Hm? Warum bist du nur so erpicht darauf, das Andenken unserer Mutter mit derartiger Vehemenz zu verteidigen?“
„Weil ... weil, na weil ich daran schuld bin, dass sie TOT ist! Du hast ja keine Ahnung, wie das ist, mit dieser Schuld zu leben!“, schrie ihm Resa ins Gesicht und sprang gleich darauf mit einem Satz von der Steinwalze.
„Verdammt!“, entfuhr es Raen leise und er sprang hinterher. Er holte Resa nach wenigen Schritten ein und hielt ihn mit der gesunden Hand am Stoff seiner Jacke fest. Resa begann wild um sich zu schlagen, und einen entsetzlichen Moment lang sah Raen Kosam vor sich, in all ihrer Angst und ihrer Verzweiflung. Schnell wischte er die Vision fort und packte beide Arme seines Bruders.
„Au, du tust mir weh! Lass mich los, ich will nicht mehr mit dir reden!“ Tränen rannen über das schmale Gesicht, das dem seines großen Bruders so unähnlich war, wie es nur sein konnte, denn Resa glich äußerlich immer mehr seinem Vater. Er wand sich hin und her, einige dunkle Haarsträhnen klebten an seiner feuchten Wange.
„Beruhige dich, bitte!“, beschwor Raen ihn, doch Resa warf all sein Gewicht in seine Befreiung und schließlich entglitten ihm die Arme. Mit einem Aufschrei der Überraschung stürzte Resa rücklings den Hang hinab und landete einige Mannslängen weiter unten unsanft in Heidelbeergestrüpp und Buschwindröschen. Ohne auf den aufflammenden Schmerz in seiner rechten Hand zu achten, hechtete Raen hinterher. Als er bei seinem Bruder ankam, rappelte dieser sich gerade hoch. Blut rann ihm aus der Nase und seine dunklen Augen funkelten ... hasserfüllt, wie Raen entsetzt feststellte. Er biss die Zähne zusammen und griff erneut nach Resas Arm, er musste ihn irgendwie zur Raison bringen. Aber der Junge gebärdete sich wie besessen, zerrte und zog an seinem Arm, als wolle er ihn ausreißen. Raen hielt ihn weiter ungerührt fest. So rasend wie er jetzt war, konnte er ihn nicht zurückbringen.
‚Ja, kämpfe nur, kämpfe nur. Begehre auf, erschöpfe deine Wut, Resa, das ist unser unseliges Erbe!’, dachte er bekümmert. Wie Andra hatte er es bereits befürchtet: Es war auch in Resa. Und es beunruhigte ihn, dass es scheinbar noch so viel stärker war als ihr beider Leiden.
Mit erstaunlich großer Ausdauer kämpfte Resa gegen seinen Bruder an, der seine Schläge einsteckte, als hätte er sie im gleichen Maße verdient wie das Schicksal, gegen das Resa sich aufzulehnen versuchte.
Erst nach einer ganzen Weile, die Raen wie eine Ewigkeit erschien, gab Resa schließlich auf und ließ sich kraftlos ins aufgewühlte Laub sinken. Seine Haare verdeckten wirr sein Gesicht, und Raen konnte nicht sehen, was mit ihm war. Langsam löste er seinen stahlharten Griff, der mit Sicherheit blaue Abdrücke auf dem jugendlich dünnen Arm hinterlassen würde, und strich die Strähnen behutsam beiseite. Resas Gesicht war bleich und blutverschmiert, aber er weinte nicht mehr. Sein Atem beruhigte sich allmählich. Raen setzte sich neben seinem Bruder ins Laub und rieb tröstend mit der Hand über dessen schmalen Rücken. Aus eigener leidvoller Erfahrung konnte er sich sehr gut vorstellen, wie Resa sich jetzt fühlte, doch er wollte ihn nicht drängen. Es brauchte seine Zeit, einen solchen Ausbruch zu verarbeiten. Raen blickte in die noch kahlen Baumkronen der Buchen hinauf, die vereinzelt zwischen den Kiefern standen. Weiße Wolkenfetzen zogen am Himmel vorüber.
‚Oh, Andra, du hast nicht untertrieben, als du meintest, meine Anwesenheit hier sei mehr als nur dringend erforderlich!’, dachte er traurig.
Schließlich richtete Resa seinen Oberkörper auf und schüttelte dabei Raens Hand ab. Stumm wischte er sich das Blut aus dem Gesicht.
„Das war La Furiosa“, sagte Raen und bemühte sich um einen beiläufigen Unterton.
Tief beleidigt blickte ihm Resa direkt in die Augen: „Was meinst du?“
„Na, das, was dir soeben passiert ist. Weißt du, in unserer Sprache gibt es kein Wort dafür. Ich selbst habe auch lange danach gesucht und an mir selbst und meinem Verstand gezweifelt, bis ich es endlich doch gefunden habe ... la Furiosa! Das ist Graçenisch.“
Resa schwieg.
„Glaub mir, Resa, ich weiß, wie du dich fühlst.“
„Pfhh“, Resa spuckte ein Körnchen Dreck aus, „du spinnst doch! Du weißt gar nichts!“
‚Wie stur er ist!’, dachte Raen, und vage Hilflosigkeit beschlich ihn. ‚Was ist, wenn er nun auch auf mich nicht mehr hört? Was passiert, wenn er derart zügellos einen Anfall bekommt, wenn andere dabei sind? Ich muss dringend mit Loenka sprechen.’
„Es tut mir leid, dass du gefallen bist, das wollte ich nicht. Nimmst du meine Entschuldigung an?“ Es war ein Beschwichtigungsversuch. Doch irgendetwas war geschehen. Resa wirkte verschlossen und abweisend, ganz anders noch als vor wenigen Augenblicken.
‚Oh, Hyaun, das ist ja gründlich schiefgegangen’, erkannte Raen unglücklich. ‚Ich hoffe, ich habe ihn jetzt nicht ganz verloren.’
Ohne auch nur ein Wort zu wechseln, stiegen sie zu den Pferden hinab und ritten zurück.
Andra bemerkte die veränderte Stimmung zwischen ihren beiden Brüdern sofort. Beim Nachtmahl setzte sie sich zu Raen und Suneka. Ein Blick von ihm genügte, und sie wusste Bescheid. Bekümmert schüttelte sie den Kopf. ‚Du hast es also auch nicht geschafft’, sagte ihre Geste.
Raen biss sich auf die Unterlippe. Er musste sich eingestehen, dass auch er keinen Rat mehr wusste.
Sie aßen ihre Suppe, während Suneka, nichtwissend von dem Drama, das sich am Tage abgespielt hatte, fröhlich über dies und jenes plauderte.
„Du warst meine letzte Hoffnung“, flüsterte Andra, als sie anschließend unter vier Augen in einem Winkel der Vorhalle waren. Raen nickte betroffen.
„Es ist viel stärker als bei uns, du hattest Recht. Ich denke, wir müssen Loenka ins Vertrauen ziehen, wenn er es nicht sowieso schon weiß. Aber mich hat er schließlich auch wieder hinbekommen!“ Raen versuchte ein schiefes Grinsen. „Was hat eigentlich Vater bisher dazu gesagt?“
„Er ist natürlich untröstlich darüber, dass Resa nicht mehr mit ihm reden möchte. Er hat wirklich alles versucht, um zu ihm durchzudringen. Ich glaube, er weiß, was mit Resa ist. Wir dürfen nicht denken, er sei blind gegenüber dem, was mit unserer Familie nicht stimmt. Raen, Vater tut mir so leid! Das hat er einfach nicht verdient!“
„Resa macht das doch nicht mit Absicht ... genau wie ich die Dinge nicht mit Absicht getan habe.“
„Das weiß ich doch. Trotzdem bringen wir Vaters Namen in Verruf, und das macht mich traurig. Er hat schon so viel durchlitten.“
„Zwei missratene Söhne und eine neunmalkluge Tochter, das ist wirklich zu viel“, bemühte Raen sich, seine Schwester aufzumuntern, doch sie brachte nur ein verunglücktes, grimassenhaftes Lächeln zustande.
„Das schlimmste wäre doch, wenn wir aufgeben würden, oder? Aber das werden wir nicht! Es gibt immer einen Weg, vertrau mir.“
Andra sah Raen in das tiefe Grün seiner Augen. Natürlich vertraute sie ihm. Mehr als allen anderen.
„Eure Majestät, der Prinz!“ Der Diener ließ den Besucher an sich vorbei in das kleine Beratungszimmer treten und verschwand dann unauffällig.
Sofort trafen die eisblauen Augen König Katthikes auf sein jüngeres Ebenbild und musterten es unverhohlen, so als suche er voller Misstrauen nach etwas, von dem er nicht wusste, ob es noch da war. Durch das geöffnete Fenster schien die Morgensonne, und vom Hof schallten gleichmäßige Schritte exerzierender Soldaten hinauf.
Kaniama verneigte sich formvollendet höflich „Ihr habt mich rufen lassen, Vater?“ „Wie oft soll ich es noch sagen, du sollst mich nicht Vater nennen!“, brummte der König verstimmt, stand von seinem Fensterplatz auf und setzte sich auf einen Stuhl mit hoher Lehne hinter einen kleinen Eichentisch. Auf dem Tisch lag ein Schriftstück, das er zur Hand nahm, ohne dem Prinzen ein Zeichen zu geben, sich setzen zu dürfen.
Und so stand Kanaima still und wartete geduldig darauf, dass sein Vater ihm mitteilen würde, weswegen er ihn hatte rufen lassen. Aus den Augenwinkeln suchte er unauffällig das Zimmer ab, aber außer ihnen beiden war niemand anwesend. Das verwunderte ihn, denn war doch der oberste Berater wie ein klebriger Schatten sonst immer an der Seite des Königs.
„Lata ist unabkömmlich. Er ist krank und hütet das Bett, deshalb werden wir beide allein sein“, entgegnete Katthike beiläufig. Er hatte die Augenbewegung Kanaimas offenbar bemerkt und richtig gedeutet.
„Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes.“
„Doch, es ist das Lungenfieber, aber mein Leibarzt ist bei ihm. Wir werden sehen. So, und jetzt zu dieser Angelegenheit hier.“ Katthike wedelte mit dem Schriftstück. „Es ist ein Brief meines ehrenwerten Cousins Karlis-Renandi!“ Er sah Kanaima an, doch als keine Reaktion von ihm kam, sprach er weiter: „Und in diesem Schreiben teilt er mir mit, er, der Oberste Vorsitzende der Königsblutliga, begrüße es sehr, dass ich dich zurück an den Hof geholt habe, und er wagt es doch tatsächlich, an mich zu appellieren, Setnas Thronanspruch zu annullieren und dir wieder sämtliche Würden des Kronprinzen zu verleihen!“ Katthike verzog spöttisch das Gesicht. „Für den Fall, dass du es noch nicht weißt, Königsblut hat die alten und edlen Vorsätze wieder aufgegriffen, die einst zu den Zeiten unserer Urgroßväter den Patrioten als Leitspruch gedient hatten: Stärke durch Reinheit und Blutstreue! Und nun vertritt sie den wiederbelebten Stolz des von mir durch mein Musterungsgesetz angeblich zu Unrecht als unrein erklärten Askharertums und steht für die Wiedereinführung der strikten Einhaltung adeliger Blutslinien! Karlis und mittlerweile über vierzig weitere Herzöge werfen der Patriotischen Liga vor, ihrer eigenen ideologischen Line untreu geworden zu sein und ihre Aufgaben bezüglich des Königshauses nicht mehr dementsprechend zuverlässig wahrzunehmen.“ Katthike legte kopfschüttelnd eine kurze Pause ein, und Kanaima schwieg wohlweislich. „Doch Karlis-Renandi schwört weiterhin, mir stets ein treu ergebener Lehnsmann zu sein und seinen Treueeid niemals zu brechen.“ Daraufhin schwieg der König und beobachtete Kanaima, der ihm zwar nicht direkt in die Augen sah, aber auch nicht den Eindruck erwecken wollte, sonderlich berührt zu sein von dem soeben Gehörten. Er verlagerte lediglich die überkreuzten Hände vom Rücken nach vorne.
„Mich würde jetzt interessieren, was du damit zu tun haben könntest!“, fragte Katthike. Es klang zwar ganz beiläufig, doch Kanaima kannte seinen Vater besser. Hinter dieser scheinbar gelassenen Maske steckte ein ganzes Königreich an Drohungen. Aber was konnte der König ihm schon anhaben. Er könnte ihn ja wieder verbannen, wenn es ihm Spaß machte! Das schreckte Kanaima jedoch nicht.
„Ich habe damit nicht das Geringste zu tun“, hob er freimütigen Blickes die Schultern, „ich habe keinen Kontakt mehr zu Onkel Karlis gehabt, seit ich nach Borgossa gegangen bin. Das war vor sieben Jahren.“
„Ja, das stimmt, das bestätigen auch meine Spione. Aber es gibt ja schließlich auch noch andere Wege, nicht wahr?“
„Onkel Karlis war damals immer gut zu mir, er hat mir gezeigt, welches die wahren Werte eines Ehrenmannes sind: Treue und Aufrichtigkeit. Er hat mir geholfen, mich darauf zu besinnen.“
„Aufrichtigkeit und Treue? So so, davon ist bei ihm selbst wohl nicht viel übriggeblieben!“
„Mit Verlaub, er ist, wenn ich das sagen darf, heute noch stets genau das. Er ist Euch treu ergeben und aufrichtig, auch und gerade indem er die unangenehmen Dinge zur Sprache bringt.“
Katthike winkte unwirsch ab. „Nett formuliert, ich würde es allerdings immer noch eher als Verweigerung eines königlichen Dekrets bezeichnen. Karlis geht mit seiner Forderung zu weit. Zum Teufel, was hat er sich dabei gedacht! Er hat sich doch bisher auch nicht viel um diesen Patriotenkram geschert. Warum nun also jetzt? Ich weiß, er konnte mich noch nie leiden, aber warum kollaboriert er nun mit diesen verdammten unverbesserlichen Ligaidioten? Die wissen doch gar nicht, wie falsch sie liegen! Propagieren irgendwelche ewig gestrigen Parolen, dabei haben sie nicht erkannt, dass die Zukunft unseres Volkes nicht in der Erhaltung der Reinheit seines Blutes liegt. Denn genau hier liegt das Problem: Gerade die Reinheit ist Gift, sie macht uns mit jeder Generation nur noch kränker. Vermischen müssen wir unser Blut mit den Stärksten der anderen Völker, damit es wieder an Kraft gewinnt! Diese verbohrten Esel, zur Ader lassen sollte man sie mit ihrem stammbaumgepflegten, altaskharischen Blute, bis zum letzten Tropfen! Und ich werde mich ganz bestimmt nicht von ihnen erpressen lassen!“, schimpfte Katthike und schlug mit der Faust scheppernd auf den Tisch, wie es seine liebste Unmutsäußerung war.
Kanaima lächelte still in sich hinein. Nein, sein Vater hatte sich wirklich kein Stück verändert, immer noch dieselben abstrusen Gedanken und derselbe leicht reizbare Jähzorn.
„Ich weiß nicht, was hinter Onkel Karlis’ Handeln steht. Er hat mir nie sein persönliches Denken offenbart. Auch habe ich bisher weder etwas mit Königsblut noch mit der Patriotischen Liga zu tun gehabt. Derartige Organisationen, auch wenn sie das Königshaus unterstützen, liegen nicht in meinem Interesse.“ Auch wenn der erste Teil dieser Aussage eine glatte Lüge war, so war der letztere doch wahr. Er hatte tatsächlich mit keiner dieser Organisationen etwas zu schaffen. Darauf war im Vorfeld sorgfältig geachtet worden. Karlis-Renandi hätte ihn auch niemals so unüberlegt in Gefahr gebracht. „Aber wenn diese Äußerung erlaubt ist, sind die Gründe von Königsblut doch durchaus plausibel, betrachtet man, welchen Verfall der Ideologie es bei den Patrioten gegeben hat. Dass sie sich von der Patriotischen Liga verraten und enttäuscht fühlen und ihre Hoffnungen auf mich setzen, jetzt, da ich durch Eure Gnaden wieder bei Hofe aufgenommen worden bin, ist nach meinem Ermessen mehr als nur verständlich.“
„Doch um sie glücklich zu machen, müsste ich die Thronfolge ändern.“
„Ja, in der Tat, das müsstet Ihr.“
„Und wie fändest du das, wenn ich es täte?“
Kanaima registrierte das wölfisch lauernde Grinsen und diesen speziellen durchdringenden Blick des Königs, doch er blieb weiterhin völlig gelassen. „Dann würde ich mich einer Verantwortung gegenübersehen, der ich mich nicht gewachsen fühle, da ich nicht für sie ausgebildet wurde. Ich bin nicht hier am Hofe aufgewachsen. Ich bin weder bewandert in Staatskunst, noch habe ich gelernt, ein Leben bei Hofe zu führen. Das Gebiet, in dem ich mich auskenne, ist die Strategie des Kampfes und mein Fach die simple Welt des Krieges und nicht das komplizierte Flechtwerk der Politik. Dafür ist Prinz Hokhan Setna der bessere Mann von uns beiden, er war immer hier in Eurer Nähe, er konnte von Euch lernen und er weiß, was es bedeutet, ein Reich zu führen. Er wird Euch ein guter und getreuer Nachfolger sein. Ich aber allenfalls Euer General“, schloss Kanaima mit einer seiner eleganten Verbeugungen, die er sich in den letzten Monaten angeeignet hatte. Er atmete leise tief ein. Mehr Heuchelei hätte er auch nicht über die Lippen bringen können.
Der König strich sich über sein Kinn und schürzte die Lippen.
„Ich glaube, du untertreibst maßlos. Schließlich hast du einen Maestrotitel und stehst somit höher als meine Generäle, aber du hast recht, mit Politik solltest du dich besser nicht befassen, das ist die Sache anderer kluger Köpfe.“
‚Ja, ich weiß, mit mir hast du andere Pläne, mein König. Ich soll dir deine ganzen Feldzüge vorbereiten, mit denen du das Reich vergrößern willst, welches du dann an deinen kleinen verwöhnten und selbstversessenen Bastard vererben willst! Ich bin nur eines der vielen kleinen Figürchen in deinem monströsen Schachspiel’, dachte Kanaima angewidert, doch er gab sorgsam darauf Acht, nichts von seinen wahren Gefühlen nach außen dringen zu lassen.
„Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass ich es momentan nicht gutheißen würde, wenn du irgendeine Art von Kontakt zu Karlis unterhieltest“, riet Katthike eindringlich. Sein Blick war immer noch der einer angriffsbereiten Viper.
„Warum sollte ich das?“
„Na, vielleicht, weil er ein so eindrucksvoll väterlicher Freund für dich war.“ Diese Spitze konnte Katthike sich nicht verkneifen, das wusste Kanaima, denn natürlich wurmte es den König, dass sein Sohn Karlis als einen solch großartigen Vermittler aufrichtiger Tugenden bezeichnet hatte.
„Das sind die vergangenen Zeiten, und ich bin hier, weil Ihr, und vor allem ich beschlossen haben, diese Zeiten ruhen zu lassen.“
Katthike nickte gönnerhaft, aber Kanaima war auf der Hut. ‚Vertrauen ist gut, doch Kontrolle ist besser! Genauso funktionierst du doch, Väterchen’, dachte er. Der König würde jeden seiner Schritte beobachten lassen, und mit aller Wahrscheinlichkeit auch die seines Onkels in Boltha-Stadt.
„Ach, übrigens“, Katthike hob eine Hand und sah Kanaima tief in die Augen, „deine Mutter ist heute Nacht gestorben. Man fand sie leblos in ihrem Gemach. Ob sie sich selbst das Leben genommen hat, oder ob es so zu Ende ging, konnte der Arzt nicht feststellen. In fünf Tagen ist ihre Beisetzung, falls du daran teilnehmen möchtest. Ich werde dann schon nicht mehr hier sein, ich mache eine Frühlingsreise an die Westküste. Da Lata verhindert ist, werden der Hofmarschall und Setna mich vertreten.“
Ein Stich durchfuhr Kanaimas Herz, aber seine Miene blieb ungerührt. In seinem Innern begann der alte See aus Hass wieder zu brodeln. ‚Du Monstrum! Endlich ist sie tot, wolltest du doch sagen, nicht wahr! Aber du warst so grausam zu ihr, dass du ihr nicht einmal den Gefallen getan hast, sie früher zu beseitigen, so wie du es mit deinem Bruder getan hast. Nein, sie sollte elendig krepieren. Und das hat sie jetzt auch getan.’ Doch tiefergehende Trauer konnte auch er nicht fühlen. In seinem Herzen war lediglich Platz für grenzenlos wütende Abscheu.
„Was ist mit Laika?“, fragte Kanaima ruhig.
„Sie kann auch kommen, wenn sie will, du kannst ihr ja einen Boten schicken“, antwortete Katthike gelangweilt und erhob sich.
„Vater ...“ Kanaima wollte das Gespräch noch nicht beenden, aber Katthikes Hand schnellte gereizt hoch. Sein blasser, durchdringender Blick pfählte ihn förmlich. Kanaima verbot sich ein Blinzeln und verbeugte sich stattdessen knapp. Er wusste nur zu gut, welch spinnwebfeines Band die Gunst des Königs war, das bei dem kleinsten frostigen Hauch seines unberechenbaren Zorns zerreißen konnte. Außerdem gab es zwischen ihnen eine Art Abkommen, und daran gedachte er sich auch zu halten. „Verzeiht, Majestät, aber eine Frage hätte ich noch.“
Katthike nickte kalt.
„Darf ich fragen, warum Ihr mich überhaupt zurückgeholt habt, wenn Ihr derartige Zweifel an meiner Ergebenheit hegt?“ - ‚Wahrscheinlich, um dich weiter zu demütigen, du Dummkopf’, fuhr es ihm durch den Kopf. Dass Katthike ihn zurück nach Askhari-Kaise befohlen hatte, war nicht nur für ihn überraschend gekommen. Auch der Beraterstab des Königs war aus allen Wolken gefallen. Aber Kanaima wusste, wie sehr sich sein Vatter darin gefiel, unberechenbar zu sein. Er betrachtete ihn ausdruckslos. Ein Mundwinkel verzog sich leicht in Katthikes Gesicht, das wettergegerbt wirkte, obwohl er sich doch so selten dem Wetter aussetzte.
„Nun, ich will das einmal so ausdrücken“, sprach der König schließlich, „das Bessere ist stets der Feind des Guten!“ Er hängte ein bedeutungsvolles Schweigen an diese Aussage, doch er brauchte auch gar nicht weiterzureden, denn Kanaima hatte sehr wohl verstanden, was sein Vater damit meinte. Er und General Bhuras sollten sich gegenseitig überwachen und kontrollieren. Der Oberste General und der Maestro Militaris, der königstreue Soldat und der abgeklärte Akademiker, zwei sich umkreisende Gegenpole. Ein etwas lächerlich anmutender Gedanke, fand Kanaima, denn Katthike konnte ja nicht ahnen, dass Bhuras und er längst am gleichen Strang zogen.
Gleich nach dem Gespräch mit dem König entsandte Kanaima einen Boten nach Ebida, der Stadt in Neu-Askhar, in deren Nähe seine Schwester und sein Schwager ihren Landsitz hatten. Da fünf Tage eine viel zu kurze Zeit waren, als dass Laika rechtzeitig nach Askhari-Kaise hätte kommen können, erbat Kanaima vom König, der geschäftig in seinen Reisevorbereitungen steckte, eine Verlängerung der Aufbahrungstage. Genervt stimmte Katthike zu, in Gedanken wohl schon bei den paradiesisch blauen Buchten der Westküste.
Kanaima konnte es kaum erwarten und saß an dem Tag, an dem Laikas Ankunft angekündigt war, unruhig am Fenster seiner Kammer, von dem aus er den Hof gut im Auge hatte. Siebzehn Jahre hatten sie sich nicht gesehen! Eine verdammt lange Zeit! Kanaima konnte es kaum fassen.
Da Lata noch immer fiebernd im Bett lag, hatte Setna zusammen mit dem Hofmarschall die Geschäfte übernommen und würde das Gefolge seiner Stiefschwester anstelle des Königs willkommen heißen. Kanaima konnte nicht sagen, was er schlimmer gefunden hätte: Setnas arrogante Abfälligkeit, oder Latas schleimige Heuchelei! Aber die Fügung hatte ihm diese Wahl abgenommen und Lata bewegungsunfähig auf sein Lager verbannt. Mit Sicherheit quoll Setna über vor Stolz, weil er zum ersten Mal seinen Vater offiziell vertreten durfte, dachte Kanaima vollkommen ohne Neid. Solch billige Abfindungen reizten ihn nicht im Geringsten. Sein Ehrgeiz reichte noch viel weiter, als der von Setna. Er wollte alles und würde sich nicht eher zufrieden geben, bis er es hatte! Über welche Leichen er auch gehen musste, er würde es mit grimmiger Freude tun, denn eines hatte er vom Patron gelernt, jenem geheimen Lehrmeister aus Borgossa, der niemals eine Universität besucht und seine Lehren lediglich aus dem puren Überleben gezogen hatte: ‚Zögere nie auf dem Weg zum Ziel. Bist du von deiner Sache überzeugt, dann ist das Recht auf deiner Seite!’
Ein kleiner Wermutstropfen fiel in Kanaimas Erinnerungen. Sein stiller Förderer war zwar noch überaus agil und lebhaft gewesen, als er ihn verlassen hatte, doch es konnte durchaus sein, dass er den alten Mann nie wieder sehen würde. Und da er gerade beim Wohlergehen des Patrons war, kamen seine Gedanken unweigerlich auch auf die Frau, die er nur mit allergrößtem Widerwillen zurückgelassen hatte. Ein plötzlicher Anflug von Einsamkeit schlich sich in sein Herz, und er versuchte, ihn zu verdrängen. Er durfte sich nicht solch sentimentalen Gefühlen hingeben, wenn er das erreichen wollte, wozu es ihn schon seit Kindesbeinen an trieb. Aber mit Janita, der blinden Ziehtochter des Patrons, hatte er zum ersten Mal die Begegnung mit echter Liebe und mit echter Wertschätzung gemacht. Er hatte erfahren, wie es war, jemandem im wahrsten Sinne des Wortes blind zu vertrauen. Sie hatte sich ihm ohne zu zögern anvertraut, sich ihm hingegeben mit allem, was sie zu bieten hatte, und auch er war dem Rausch der Gefühle erlegen, den ihre Nähe bei ihm ausgelöst hatte. Janita besaß Schneid und Courage, sie war unabhängig und stark, aber auch sinnlich und sanftmütig. Das alles vermisste er sehr, er vermisste sie. Denn hier in Askhar war er wieder ganz allein auf sich gestellt. Zwar hatte er bereits eine Reihe von Komplizen, doch konnten diese ihm natürlich nicht das ersetzen, was Janita ihm auf ihre unnachahmliche Weise geschenkt hatte. Würde er je wieder solch einer Frau wie ihr begegnen? Er hatte ihr angeboten, sie mitzunehmen, ja, er war sogar einen Moment versucht gewesen, seiner Rache zu entsagen, um sie einfach zu seiner Frau zu machen und ein friedliches Leben mit Familie zu führen, doch sie hatte abgelehnt. Sie konnte und wollte nicht weg aus der Stadt, die sie in- und auswendig kannte. „Wie soll ich mich in deiner fremden Welt zurechtfinden?“, hatte sie gesagt. „Hier kann ich sehen auf meine Art, aber in deiner Welt, da bin ich wieder eine nutzlose Blinde. Und das möchte ich nie wieder sein, verstehst du?“ Natürlich hatte er es verstanden, aber ihre Antwort hatte ihn dennoch geschmerzt.
„Außerdem muss sich doch jemand um den Patron kümmern, wenn er ... wenn sein Alter ihm die Beschwerden bringt.“ Sie hatte wie immer erstaunlich zielsicher seine Hand genommen und gelächelt. „Ich bleibe hier, aber meine Liebe wird dich immer und überallhin begleiten. Mögest du mit Gott gehen!“ Ihre mädchenhafte Fürsorge hatte ihn gerührt, und er hatte sie fest an sich gedrückt. Er hatte ihr nicht versprechen können, je wieder nach Borgossa zurückzukommen, aber er hatte es sich gewünscht, und so hatten sie im Schatten dieser Ungewissheit voneinander Abschied genommen.
Kanaima schürzte gedankenverloren die Lippen und sah dabei seinem Vater ungewollt ähnlich. Obwohl er nicht an die Götter glaubte, weder an seine noch an andere, schickte er dennoch einen Segen in die ferne Hafenstadt zu seiner Liebsten: „Möge wenigstens dein Gott dich beschützen, Janita.“
Bewegung am Inneren Tor ließ seine Aufmerksamkeit wieder in den Hof wandern. Ein Reiter traf ein und zügelte sein Pferd, hinter ihm vier weitere. Es war die Vorhut. Noch ehe das Gefolge seiner Schwester im Tor erschien, war Kanaima bereits aus dem Zimmer geeilt und stürmte in einem für vornehme Akademiker mittleren Alters ungebührlichen Tempo die Treppe hinab.
Er erkannte seine Schwester sofort, obwohl sie mit einunddreißig Jahren inzwischen eine gestandene Frau war und noch viel kleiner wirkte, als er sie in Erinnerung hatte. Er ignorierte Setnas herrschaftliches Auftreten an der großen Freitreppe und lief schnellen Schrittes weiter auf Laika zu. Sie trug einen weiten Umhang und eine Reisehaube auf dem Kopf, doch ihre kristallblauen Augen blitzten ihm lächelnd entgegen. Und als auch ihr Mund sich zu einem Lächeln öffnete, sah Kanaima noch immer das kleine, zurückhaltende Mädchen in ihr, mit dem er früher geheime Schwüre ausgetauscht hatte. Sie ließ sich von ihm vom Pferd gleiten, und nachdem er sie freudig und ganz schamlos an sich gedrückt hatte, begrüßte er mit gebührlichem Anstand und wiedergefundener Eleganz auch ihren Ehemann, ihre zwei fast erwachsenen Töchter, die ganz entzückend waren, und den kleinen quirligen Sohn. Die Kinder waren etwas befremdet von der überströmenden Herzlichkeit des ihnen fremden Mannes, der eigentlich ihr Onkel war, aber Herzog Hana erwiderte Kanaimas Willkommensgruß mit einem festen und ebenfalls ganz und gar unhöfischen Händedruck.
„Die Ehre ist ganz auf meiner Seite, Prinz Kanaima. Euch endlich kennenzulernen, ist mir wirklich eine Freude.“ Obwohl Hana viel älter war, machte er sofort einen sympathischen Eindruck auf Kanaima. Als er sich umdrehte und die Gäste herein geleiten wollte, stand er einem böse dreinblickenden Setna gegenüber. Schlagartig wurde er sich bewusst, dass er dem jungen Prinzen die Privilegien seines wichtigen Amtes vorweggenommen hatte. Schnell trat er einen Schritt zur Seite, verneigte sich vor ihm und wies auf die Ankömmlinge.
„Verehrter Prinz Hokhan Setna, hier sind meine ehrenwerte Schwester und ihr geschätzter Ehemann, Herzog Hana, der Friedliche, mit ihren drei Kindern.“
Die Miene auf Setnas Gesicht sollte gleichgültig wirken, doch Kanaima erkannte darin deutlich gekränkten Stolz, und sie hellte sich kaum auf, als der Kronprinz die kleine Schar steif begrüßte: „Im Namen meines Vaters, dem König von Askhar, heiße ich Euch, hier in seinem Palast willkommen! Seid meine Gäste, solange wie es Euch dünkt.“
Setnas blasierter Tonfall ärgerte Kanaima, doch er wollte sich dieses langersehnte Wiedersehen nicht von dessen schlechten Manieren verderben lassen. Fröhlich wandte er sich wieder an seine Schwester. „Kommt hinein in die Halle, dort könnt ihr euch von eurer Reise erholen und bekommt etwas zu essen.“
Setnas schwarze Augen glühten vor Zorn und die beiden ungleichen Männer starrten sich einen Moment lang an.
„Wenn hier etwas geschieht, dann nur auf mein Geheiß. Muss ich Euch erst daran erinnern, dass Ihr keinerlei Befugnisse habt und lediglich der neue Akademicus seid!“, herrschte Setna ihn mit schneidendem Tonfall an.
Kanaima bemerkte, wie Laika und Herzog Hana peinlich berührt zur Seite sahen, und räusperte sich. Um die unangenehme Situation zu entschärfen, verneigte er sich erneut vor Setna und sagte: „Verzeiht bitte, meine Wiedersehensfreude war gar zu groß, ich tue natürlich nichts, was nicht Euren ausdrücklichen Wünschen entspricht. Nach Euch, Prinz Hokhan.“
Kanaima fing den leise entsetzten Seitenblick seiner Schwester auf. ‚Dieses demütige Verhalten gegenüber Setna dürfte ungewohnt für sie sein’, dachte er, ‚aber wenn Katthike fort ist, ist es besser, zu tun, was er sagt.’ Er ließ sich zurückfallen und zwinkerte Laika dabei heimlich zu. Ihre Miene verriet, wie dringend sie es sich wünschte, endlich allein mit ihm reden zu können. Sie hatten sich so unendlich viel zu sagen!
Das taten sie auch, als sie schließlich abends in Kanaimas Kammer allein waren.
Und nachdem Kanaima sie vor den Spionen im Palast gewarnt, und Laika ihren Bruder über ihr Ergehen in den vergangenen Jahren informiert hatte, gönnten sie es sich, in alten Erinnerungen an ihre Kindheit zu schwelgen, auch wenn es darunter nicht allzu viel Schönes gab. Doch ihr gemeinsames Aufwachsen in diesem Palast hatte sie für immer zu Verbündeten gemacht, und dafür brauchte es keine Worte. In friedlicher Eintracht gedachten sie ihrer Mutter, die am morgigen Tage beigesetzt werden sollte, auch wenn sie zu ihren Lebzeiten nichts verbunden hatte, als das gleiche Blut in ihren Adern. Doch ihr trauriges Schicksal gemahnte sie beide daran, dass absolut niemand vor den Grausamkeiten des Königs sicher war, nicht einmal die eigene Familie.
„Dass Vater zu Mutters Beisetzung nicht da ist, ist zwar schändlich und nicht anders zu erwarten gewesen, aber es ist auch eine Erleichterung. Er hätte uns unser Wiedersehen nur schwer gemacht.“
„Um so mehr wundert es mich, dass er nicht geblieben ist, um nämlich genau das zu tun!“, erwiderte Kanaima.
„Ja, da hast du Recht, man könnte meinen, er verabscheue alle guten Gefühle, die Menschen miteinander teilen, zutiefst und wolle sie bewusst zerstören“, sagte Laika, und ihre Bruder nickte nachdenklich. „Und Setna scheint sein bester Schüler darin zu sein. Diese kleine Kröte wird mit jedem Jahr schlimmer!“
Kanaima hob schnell mahnend den Zeigefinger neben seinen Kopf. ‚Vorsicht, mein Schwesterherz, die Wände haben Ohren’, sagte diese Geste.
Laika kicherte verlegen. „Ich vergesse das jedes Mal, wenn ich hier bin. Es ist ganz schön anstrengend, nicht das sagen zu dürfen, was man möchte.“
Kanaima lächelte verschwörerisch und zog eine kleine Tafel aus einem Versteck unter der Tischplatte hervor. Er schrieb etwas mit einem Stück Kreide darauf und schob sie Laika zu.
Gedanken müssen nicht gesprochenen Wortes ausgetauscht werden. Schiefer ist geduldig und vor allem verschwiegen!
Laika grinste zurück, und Kanaima erkannte, wie viel Schalkhaftigkeit in seiner Schwester steckte. Es hatte ihr gut getan, den Palast als junges Mädchen zu verlassen. Auch Herzog Hana schien gut für sie zu sein, obwohl er so viel älter war. Sie hatte es nicht zugelassen, dass die Bitterkeit ihre übrigen Empfindungen unterjochte. Mit ihrem Schicksal hatte sie sich arrangiert und sich fern von Katthikes Einflüssen ein Leben geschaffen, mit dem sie offenbar glücklich und zufrieden war.
‚Gut für dich, meine Schwester.’ Kanaima war dankbar, dass das Los des Hasses wenigstens ihr erspart geblieben war.
Er bekam die Tafel zurück und las: Wie kommt es, dass du wieder zurück in Amt und Würden bist, wenn auch nur als „Akademicus“?
Er schrieb seine Antwort: Zuerst eines noch, so lächerlich sich Setna auch benimmt, er ist eine gefährliche kleine Kröte, man muss sich vor ihm in Acht nehmen! Sei bitte vorsichtig. Wenn ich sage, er sei ein grässlicher kleiner Tyrann, untertreibe ich noch! - Daß ich zurück am Hof bin, habe ich vermutlich zu einem großen Teil Lata zu verdanken. Er hat ein gutes Wort bei Katthike für mich eingelegt. Warum, das kannst du dir ja denken. Je älter der König wird, desto kürzer wird die Zeit, die Lata noch an der Macht hält. Und wenn erst Setna auf den Thron kommt, hat seine letzte Stunde geschlagen! Die beiden hassen sich wie die Pest. Und Latas einzige Chance, seine Machtstellung zu behalten, ist, sich mit mir gut zu stellen. Es ist grotesk, aber wahrscheinlich will auch er mich zurück in die Thronfolge bringen, genau wie Königsblut. Jetzt, da General Kasai als sein ärgster Widersacher nicht mehr ist, hat der Konsultas mehr Spielraum und noch mehr Einfluss auf des Königs Entscheidungen als je zuvor. Diesem Umstand ist es wohl zuzuschreiben, dass Katthike sich dazu entschieden hat, seinen Großmut zu zeigen und mich zu begnadigen. Na ja, und mein mir vorauseilender Ruf als außergewöhnlich begnadeter Maestro hat wohl auch sein Übriges dazu beigetragen.
„Wo ist Lata überhaupt, ich habe ihn gar nicht bei der Begrüßung gesehen?“, fragte Laika laut.
„Er liegt krank im Bett. Aber der Arzt sagt, es ginge mit ihm schon wieder bergauf.“ Leider! Wenn er wieder genesen ist, wird er sich wohl mit Setna um das Amt des Stellvertreters prügeln. Das kann noch heiter werden!, fügte er geschrieben Wortes hinzu.
„Und du sollst nun die Waffenakademie übernehmen?“, fragte sie wieder laut. Kanaima ahnte, was sie dachte. In der Tat wirkte es für unbefugt lauschende Ohren unverfänglicher, wenn sie zwischendurch offen miteinander sprachen und nicht nur ungewöhnliches Schweigen aus der Kammer drang. Er ging darauf ein.
„Ja, seit Kasais Dahinscheiden fehlt ein geeigneter Nachfolger für seine Arbeit an der Akademie. In zwei Monaten werde ich bei dem nächsten Hoftag, den Katthike abhält, öffentlich meinen Eid leisten und dann kann ich mit den Lektionen anfangen. Ehrlich gesagt, freue ich mich auch schon auf meine Schüler.“
Hat Katthike keine Angst, dass du seine Studenten auf irgendeine Art gegen ihn beeinflussen könntest?, schrieb sie ihm.
Kanaima antwortete: Nein, offenbar nicht, und es ist im Moment auch noch nicht meine Absicht, das zu tun. Die Pläne liegen anders. Ich werde dich einweihen, falls du dies wünschst. Ich wollte dich zuvor nur fragen, denn es ist ein gefährliches Geheimnis, welches du dann mitsamt der Konsequenzen tragen müsstest. Ich kann auch verstehen, wenn du dir und deiner Familie das Leben nicht unnötig erschweren willst und ablehnst. Es ist sehr riskant. Aber du kannst dich entscheiden ... ich konnte das nicht!
Laika sah ernst auf. In ihren gleißend blauen Augen lag Mitgefühl. Aber nicht solches, das von Mitleid herrührte, sondern es war eher tiefe Verbundenheit. Sie waren zu dem entscheidenden Punkt gekommen. Kanaima fühlte seine Handflächen feucht werden. Würde sie ihn unterstützen? Würden sie den weiteren Weg zusammen gehen?
Schließlich nickte sie, langsam aber entschlossen.
Bist du dir auch wirklich sicher?, hakte er noch einmal eindringlich nach. Wieder nickte sie. Sehr sicher!
„Gut“, sagte Kanaima sanft und schrieb nun eine ganze Zeit lang. Dann reichte er ihr die Tafel, und Laika las gespannt. Der Plan war komplex, mit vielen Unwägbarkeiten, aber durchaus umsetzbar. Doch war es auch ein langwieriges Unterfangen, kein Himmelfahrtskommando, wie sie angenommen hatte. Er war besonnen und wohl durchdacht, und das gefiel ihr offenbar, denn sie lächelte. Es brauchte viel Arbeit und Geduld, ihn am rechten Zeitpunkt greifen zu lassen. Doch wenn dieser erst einmal gekommen wäre, dann war er todsicher! Laika nickte anerkennend. Auch wenn sie eine Frau war, und Frauen sich in Askhar nicht mit Politik befassten, hatte Hana sie jedoch immer wieder in seine Geschäfte mit einbezogen. Sie hatte also für ihre Verhältnisse recht viel Ahnung von den Machenschaften, mit denen Männer sich den ganzen lieben langen Tag über beschäftigten. Sie wunderte sich jedoch, woher Kanaima all das Wissen hatte, ein solch kompliziertes Unternehmen, wie das seine überhaupt umsetzen zu können. Lernte man so etwas an der Universität?
Ich hatte einen ausgezeichneten Mentor in Borgossa, schrieb Kanaima, er hat mir alles beigebracht, was man in einem Kampf ohne Waffen wissen sollte, und damit meine ich nicht die Diplomatie und nichts, was man auch nur im Entferntesten an der Universität lernen kann!, erklärte er.
Sie las und schrieb dann: Was ist mit meinem Mann, kann ich ihn einweihen? Seine Mithilfe könnte uns nützlich sein. Im Osten Neu-Askhars ist sein Einfluss größer als jedermann denkt.
‚Wie selbstverständlich sie das ‚Uns’ schreibt’, dachte Kanaima, berührt von ihrem selbstlosen Gemeinschaftsgeist. Kannst du ihm auch unbedingt vertrauen?
Sie nahm die Tafel. Oh, ja! Wenn du wüsstest, was er über Katthike denkt ...
Kanaima lächelte und schob die Tafel zu ihr zurück. Dann tu es. Ich vertraue auf dein Urteil. Es war ein Risiko, dachte er, wenn Hana nicht vertrauenswürdig war, war das ganze Unternehmen in Gefahr, und er würde gegebenenfalls entsprechende Maßnahmen ergreifen müssen, auch wenn diese seiner Schwester ganz und gar nicht gefallen würden. Andererseits konnte er jeden verlässlichen Verbündeten, den er zusätzlich bekam, gut gebrauchen.
Dann gilt es, meine liebe Schwester, von nun an sind wir Verbündete bis in den Tod!, schrieb er ernst, und nachdem sie es gelesen hatte, wischte sie die Tafel sehr ordentlich sauber.
Die Trauerfeier und die Beisetzung von Königin Larjhas Leichnam in das Mausoleum der königlichen Familie, das sich mit seinen zahlreichen Türmen fast in gleicher Höhe neben dem großen Tempel am Fuße des Burgberges erhob, fand in einem sehr kleinen Kreise statt. Nur Setna, der Hofmarschall, Kanaima, seine Schwester, der alte, schon fast greise Benthor, der Larjhas Vater und ein Bruder Karlis’ war, mit ihren Familien und die Priester standen mit gesenkten Häuptern vor dem steinernen Sarkophag, den Katthike großzügigerweise hatte anfertigen lassen und in dem die Königin nun zur letzten Ruhe gebettet war. Kanaima und Laika legten beide gemeinsam eine einzige blaue Lotusblüte darauf ab, und nachdem sie sich von ihrer Mutter verabschiedet hatten, verließen sie schweigend die Gruft. Sie waren froh, dass wenigstens ein Leid sein Ende gefunden hatte.
Der anschließende Leichenschmaus verlief ebenso ruhig und bescheiden, wie die Andacht, und schon nach kurzer Zeit verließ Setna den Tisch in der gähnend leeren Halle. Er war nicht länger als nötig geblieben, um seines Amtes als Stellvertreter des Königs gerecht zu werden. Doch das störte den Rest nicht, denn dafür konnte man sich nun ungehemmt unterhalten.
So erfuhr Kanaima, dass auch der alte Benthor es sehr begrüßte, dass der echte Prinz von Askhar wieder zurück und an der Seite seines Vaters sei. Kanaima hörte diese Bekundung nicht zum ersten Mal. Er hatte festgestellt, dass die meisten einflussreichen Adelsfamilien Askhars seine Rückkehr guthießen.
‚Je mehr Leute so dachten wie Benthor, desto besser’, sann Kanaima zufrieden. ,Das dürfte Setna bald in Verteidigungsstellung bringen. Ich aber werde mich vornehm zurückhalten und erst einmal die Zeit für mich arbeiten lassen. Ich bin ja nur der Akademicus, der mit dem schmutzigen Handwerk des Schwertes längst abgeschlossen hat.’ In der Tat hatte Kanaima es sich abgewöhnt, ein Schwert zu tragen. Sein ganzes Äußeres sollte so wirken, als hätte er sich mit Leib und Seele den höheren Theorien verschrieben. Auch seine Kleidung hatte sich geändert, sie war nicht mehr kriegerisch, sondern die modisch elegante Garderobe eines angesehenen Bürgers, vielleicht mit einem feinen Hang zur graçenischen Mode. Das alles unterstrich den friedlichen Geist des Gelehrten in Kanaima. Seine Wandlung war perfekt. Nur im Geheimen trug er weiterhin ein Messer, zumeist im Stiefel, und von keiner Geringeren als Janita hatte er gelernt, wie man damit umging.
Langsam ging die Sonne hinter dem Tempel auf und tauchte den Garten in kristallklares Morgenlicht. Raen saß neben Loenka auf der Veranda und betrachtete das Schauspiel bei einer Schale Tee. Doch der Anblick erzielte nicht die gewünschte beruhigende Wirkung. Raen hatte das Gefühl, die Zeit rinne ihm durch die Finger. Er war nun schon seit vier Wochen in Shari und hatte nichts erreicht. Bald würde er wieder aufbrechen müssen – vielleicht fünf oder sechs Tage blieben ihm noch. Das Circulum würde dann schon begonnen haben. Er hatte es sich so zurechtgelegt, nicht mehr als zwei Wochen zu verpassen und er hoffte, dass Im’Shumalayan ein Wort für ihn einlegte. Er sollte die restliche Zeit also so gut es ging noch nutzen, um einigermaßen beruhigt wieder abreisen zu können. Eine dumpfe Ahnung sagte ihm allerdings, dass er diese Hoffnung wohl wahrscheinlich würde begraben können.
Raen seufzte leise. Dies war nur eines der Dinge, die ihn aufstörten und nicht zur Ruhe kommen ließen. Vieles erschien ihm auf eigentümliche Weise nicht so, wie es eigentlich sein sollte. Es kam ihm verkehrt vor, Shari bald wieder verlassen zu müssen und nicht hierbleiben zu dürfen, hier bei seiner Liebsten, bei seinem Bruder, der seine Hilfe brauchte, und bei seinem Vater, der bald heiratete. Er hatte eine andere Aufgabe. Er sah von seiner dampfenden Teeschale auf, neben ihm blickte Loenka offenbar gleichfalls nachdenklich in den Garten. Sie hatten gerade über Resa gesprochen. Und alles, was Loenka gesagt hatte, war einleuchtend gewesen ... ein klares Urteil für jemanden, der alles von außen betrachtete.
Doch Raen hatte mehr Mitgefühl erwartet, war Loenka mit ihm, der unter denselben Aufwallungen litt, stets sehr nachsichtig und sensibel umgegangen. Doch in Resas Fall schien der neue oberste Würdenträger des Tempels zu Shari weniger generös und duldsam zu sein. Er blickte Loenka von der Seite an. Das Aun auf dessen Stirn wirkte noch ungewohnt für ihn. Nach einer Weile wandte der Oberpriester sich ihm ebenfalls zu. Sein Gesichtsausdruck wirkte unnötig hart.
„Der Unterschied zwischen dir und deinem Bruder ist“, sagte er, „dass du mir zugehört hast und auch all den anderen Leuten um dich herum. Du hast zwar nicht immer das getan, was man dir geraten hat, aber du warst zugänglich für die Lehren Hyauns. Bei Resa verhält sich das leider grundlegend anders. Er ist ... nicht im Geringsten wie du. Er ist ein uneinsichtiger Störenfried!“
Raen schwieg betroffen. Bis jetzt hatte er gehofft, Loenka für Resa einnehmen zu können, doch der Hyaunset suer war weitaus verärgerter über seinen kleinen Bruder, als er hätte ahnen können. Raen wollte etwas sagen, doch Loenka kam ihm zuvor: „Tatsache ist: Er benimmt sich jetzt schon sehr lange so ungehörig und ignoriert all die Hilfe, die wir ihm anbieten. Er will sich einfach nicht einfügen.“
„Aber Loenka, Resa ist doch erst zwölf, fast noch ein Kind, und jeder weiß, wie schwierig Heranwachsende in diesem Alter sind. Er wird sich bestimmt bessern, wenn er erst einmal seine Befragung hatte und weiß, wo sein Platz ist. Ich denke, er ist nur unsicher und fühlt sich zu sehr als Nachzögling.“
„Das ist im Moment noch sein Glück. Aber ich sage dir, auch unsere Geduld hat einmal ein Ende.“
„Und was gedenkt ihr dann zu tun ..., wenn er weiterhin nicht gehorcht?“, wollte Raen wissen. Sein Blick wurde eindringlich. Es gefiel ihm nicht, wie der Priester sich über seinen Bruder äußerte.
„Es ehrt dich, dass du für Resa derart leidenschaftlich eintrittst. Auch deine Schwester hat das bereits getan.“
„Er ist mein Bruder, meine Familie! Ich würde es immer für ihn tun!“
„Das solltest du lieber lassen. Verwende deinen Idealismus in Zukunft besser für den Rest deines Volkes! Und wir kümmern uns schon um Resa.“
„Was soll das heißen? Was werdet ihr mit ihm tun?“ Raen bekam ein ungutes Gefühl, weil Loenka seinen Fragen nur allzu offensichtlich auswich.
„Wir werden abwarten. Beruhige dich“, sagte Loenka beschwörend. „Du solltest vielmehr darauf achten, dass sich deine Prioritäten nicht allzu sehr zugunsten deiner eigenen Interessen verschieben.“
Mit einem Mal ahnte Raen, woher der Wind wehte. „Jetzt redest du auch schon wie der allseits gerechte Sel!“, platzte es aus ihm heraus.
Loenka atmete hörbar scharf ein, und Raen wurde sich bewusst, dass er sich arg im Ton vergriffen und seinen Freund beleidigt hatte. Er hatte ihn, den Hyaunset suer, mit Sel, einem unverbesserlichen Wichtigtuer, gleichgestellt. Außerdem hatte er schlechtes Zeugnis gegenüber jemand anderem abgelegt und das tat man nicht, es war ungehörig. Das konnte er allenfalls mit Manoen tun, wenn sie unter sich waren, aber ganz bestimmt nicht mit dem Oberpriester von Shari! Er klappte den Mund zu und blickte verlegen vor sich auf das Holz der Veranda. ‚Jetzt kommt gleich das wohlverdiente Donnerwetter’, dachte er und duckte sich innerlich.
Doch Loenka atmete ruhig ein paar Züge weiter. Dann erst drehte er langsam seinen Kopf in seine Richtung, und Raen spürte, wie er ihn prüfend ansah. Quälend lange.
Als er es nicht mehr aushielt, hob er eine Hand, strich sich über die Stirn und schüttelte dabei den Kopf. „Vergib mir meine ungehörige Rede, Hyaunset suer Loenka. Ich wollte das nicht.“ Seine grünen Augen suchten den Blick des Priesters. Was er fand, überraschte ihn, denn Loenka lächelte.
„Einsicht ist der erste Schritt zum Pfad der Tugend. Wie ich sehe, preschst du noch immer gerne über die Grenzen hinaus. Verzeih mir an dieser Stelle bitte mein Wortspiel.“
Unsicher schaute Raen Loenka an, und das Lächeln des Priesters verbreiterte sich höchst unklerikal.
„Du vergisst, dass ich dich besser kenne, als so manch anderer. Vielleicht kenne ich dich sogar am besten von allen.“ Loenka hielt kurz inne und fuhr dann fort: „Erzähl mir von diesem Sel und von all den anderen, mit denen du das Hytena teilst. Ich möchte wissen, was für Menschen das sind.“
Raen versuchte, möglichst neutral über die Hy in Borgossa zu berichten und ließ natürlich das ein oder andere delikate Detail aus, ganz besonders die, welche mit La Gioia zu tun hatten. Er erzählte auch eifrig von den Maestros und seinen Mitstudenten, die ihm zu Freunden geworden waren, und nach einer ganzen Usui-Stunde war Loenka über das Leben in Borgossa im Bilde. Es war abenteuerlicher, als er es sich vorgestellt hatte, gab er zu.
„Woher kommt dieser Manoen?“
„Vom Shajun Clan in Nane.“
„’Viele Steine’, das ist nördlich von uns ganz am Rande der Berge von Ghor.“
„Ja, es ist sehr karg dort, hat er erzählt.“
„Das war sehr interessant“, dankte Loenka dem jungen Krieger für seinen Bericht.
„Gerne“, nickte Raen und dachte, dass er dies auch alles gerne Resa erzählt hätte, denn seinen Bruder hatten solche Sachen immer brennend interessiert. Aber leider weigerte sich Resa inzwischen auch, mit ihm zu reden. Er war seit ihrem missglückten Gespräch wie verstockt. Zu einem gewissen Teil erkannte Raen seinen eigenen jugendlichen Trotz in ihm wieder, doch im Schatten dieses Trotzes hockte noch etwas anderes. Etwas fühlbar Dunkles und Finsteres, das Resas Gedankenwelt durchstreifte wie ein unheimlicher Nachtwanderer, der darauf lauerte seine undurchsichtigen Absichten irgendwann in die Tat umzusetzen. Und Raen fürchtete den Tag, an dem das passieren würde.
„Und, gehst du gerne wieder zurück nach Borgossa?“, fragte Loenka in seine Gedanken hinein.
„Ehrlich gesagt, fühle ich mich hin und her gerissen. Ich würde gerne hierbleiben, bei Suneka, aber es gibt noch so viel zu lernen.“ - ‚Und ich habe Angst, Resa hier allein zu lassen unter Leuten, die ihn nicht verstehen, oder ihn nicht verstehen wollen. Das gilt auch für dich, Loenka’, dachte er, behielt seine Bedenken aber für sich.
„Hyaun hat im Universum einen Platz für einen jeden erschaffen, Raen. Beende deine Aufgabe und komm zurück, wenn du weißt, wo dieser Platz ist! Er ist jedenfalls immer in deinem Herzen, wohin du auch gehst! Er lässt niemanden allein. Auch nicht Resa.“
Leider war Raen sich da nicht ganz so sicher wie der Oberpriester, aber vielleicht würden sie Resa gemeinsam ja doch noch zur Vernunft bringen.
Am Nachmittag besuchte Raen Andra. Er fand sie allein im oberen Stockwerk des Waschhauses bei der Zubereitung von Arzneien aus getrockneten Kräutern, die in allerlei Bündeln von den Deckenbalken hingen. Sie grüßte ihn heiter und stampfte dann weiter mit einem großen hölzernen Pistill in einem Mörser herum.
„Was wird denn das?“, erkundigte er sich interessiert und trat an sie heran.
„Medizin gegen das Leiden der Gelenke. Aus Sellerie, Silberweide und Silberkerze.“
„Aha. Wer leidet denn daran?“
„Shani.“
„Was? Das wusste ich ja gar nicht. Hat Suneka mir gar nicht erzählt. Ist es schlimm?“
„Es geht. Bei feuchtem Wetter hat sie die meisten Schmerzen.“
„Und seit wann?“
„Letztes Jahr ist es gekommen.“
„Die arme Shani. Aber man merkt ihr nichts an.“
„Sie versucht sich so gut es geht nichts anmerken zu lassen, und meine Medizin hilft ihr auch recht gut. Sie will auch kein Mitleid, du kennst sie ja. Sie sagt, das können wir uns aufsparen, wenn es wirklich schlimm wird.“ Andra hörte auf zu stoßen und leerte den Inhalt des Mörsers auf ein weißes Tuch aus. Dann band sie daraus ein Bündel, welches sie mit einer kleinen Holztafel versehen an einen der vielen kleinen Haken an der Rückwand des Raumes aufhängte.
„So, und was kann ich für dich tun? Einen kleinen Liebestrank vielleicht? Oder etwas für die Manneskraft?“, scherzte sie, und Raen musste grinsen.
„Nein, danke, ich denke, das bekomme ich noch ganz gut ohne deine Hilfe zustande. Es geht um Resa. Ich muss bald wieder fort.“
„Und du machst dir Sorgen.“
„Natürlich! Ich werde versuchen, ihm wenigstens noch die Zusage für Vaters Hochzeit abzuringen, damit dem nichts mehr im Wege steht. Doch das löst das eigentliche Problem nicht.“
„Nein, das tut es nicht. Aber was können wir denn tun?“
„Du darfst nicht aufhören, mit ihm zu sprechen, wenn ich fort bin. Du darfst ihn nicht aufgeben, versprichst du mir das! Ich will nicht, dass ihm etwas passiert.“
„Raen, was ist mit dir? Was soll ihm denn passieren?“
„Ich weiß es doch auch nicht, aber ich habe ein ganz schlechtes Gefühl, wenn ich daran denke. Loenka war heute Morgen so komisch. Er ist mir andauernd ausgewichen. Das macht er sonst nicht.“
Sie schwiegen, da keiner von beiden wusste, was er sagen sollte. Schließlich wandte sich Raen zum Gehen.
„Ich werde jetzt Resa suchen. Sag mal, versteckt er sich etwa? Ich sehe ihn überhaupt nicht mehr.“
„Hm, so könnte man das vielleicht nennen. Er ist seit einigen Wochen am liebsten allein, ist kaum noch mit den anderen Kindern zusammen. Ich beobachte ihn natürlich. Nicht einmal beim Essen sucht er die Gesellschaft der anderen. Ich habe seine Schulkameraden gefragt, warum sie sich nicht zu ihm setzen. Sie haben gesagt, er wäre ihnen unheimlich und er wolle ja auch gar nicht, dass sie zu ihm kämen.“
„Unheimlich?“
„Ja, so haben sie es ausgedrückt.“
„Aber wie kann denn ein Zwölfjähriger unheimlich sein?“
Andra zuckte mit den Achseln.
„Zugegeben, er verhält sich momentan wie ein eigenbrödlerischer Finsterling, aber deswegen ist er doch nicht gleich unheimlich.“
„Du findest ihn entweder auf dem Dachboden in unserem Wohnturm oder bei schönem Wetter auf dem Sims auf der Mauer, da wo du auch immer gerne gesessen hast.“
Raen bedankte sich bei seiner Schwester und ließ sie weiter ihre Arbeit tun.
Resa war tatsächlich auf dem Dachboden, dem Taubennest, das damals Raen und Kosam oft genutzt hatten. Das Bild von Kosam leuchtete vorwurfsvoll in seinem Geist auf, aber er verdrängte es schnell wieder und hoffte, das dies kein böses Omen gewesen war.
‚Warum habe ich stets sie vor Augen, wenn es um Resa geht?’, fragte er sich verwundert und hörte Resas leise Stimme, die gedämpft durch die geschlossene Falltür sickerte.
‚Mit wem redet er denn dort?’
Neugierig geworden, hob Raen vorsichtig die Tür an und spähte durch den Spalt. Resa saß auf einer der Truhen. Er hatte sich bis über den Kopf in eine schwarze Fahne eingehüllt und schien mit einer imaginären Person neben sich zu sprechen. Raen beobachtete das Schauspiel neugierig und als er allmählich in den Sinn des Gesprächs eindrang, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Unwillkürlich legte sich ein Schatten über die Szenerie.
„Ich kann das nicht tun. Die anderen wären böse auf mich!“, flüsterte Resas helle, jungenhafte Stimme in die staubige Leere des Dachbodens.
„Du musst es aber, ich will das so und du willst es doch schließlich auch!“ Es war eine andere, dunklere Stimme, die antwortete, aber sie kam ebenfalls aus Resas Mund. Sie klang hasstriefend und angsteinflößend.
„Ja aber doch nicht so, ich ...“
„Du bist ein Feigling! So bekommst du nie, was du willst. Die anderen werden es nicht zulassen. Denk daran, sie sind böse, sie wollen nicht, dass du bekommst, was du dir wünschst!“
„Mein Bruder auch?“
„Ja, er auch, ganz besonders er! Also, wirst du es endlich tun?“
„Aber wie denn?“
„Du wirst in den Tempel gehen und es so machen, wie ich es dir gesagt habe, dann wirst du bekommen, was du willst! Und hör bloß nicht auf das, was die anderen sagen! Sie sind böse, und böse Menschen bekommen ...“
„... Böses!“
‚Er hat eingebildete Zwiegespräche!’, dachte Raen. Das war ihm nicht fremd, hatte er in seiner Jugend doch selbst allerlei merkwürdige Träume gehabt, in denen er Zwiesprache mit noch merkwürdigeren Wesen gehalten hatte. Nur mit wem redete Resa? War er wach? Raen konnte die Augen seines vornübergebeugt sitzenden Bruders nicht sehen, der dunkle Stoff der Fahne verdeckte seine obere Gesichtshälfte.
Aber ob er nun schlief oder nicht, es war etwas Schlechtes, was von im Besitz ergriffen hatte, das war gewiss! Raen beschloss einzugreifen.
„Resa!“, sagte er, öffnete die Falltür ganz und stieg auf den Dachboden.
Sein Bruder erstarrte und blickte erst einen langen, verzögerten Herzschlag später zu der Person auf, die ihn gestört hatte.
„Was ... was machst du denn hier?“ Er hörte sich so an, als wäre er gerade aus einem Traum erwacht.
„Hast du geschlafen?“
„Nein. Das heißt, ich weiß nicht. Ich habe dich gar nicht kommen gehört.“ Für einen kurzen Moment war Resas Gesicht das eines aufgeschlossen Jungen. Die Tür zu seinem empfänglichen Kern stand weit offen, und Raen hätte sie gerne aufgehalten, um endlich zu ihm vordringen zu können, doch dann, schneller als man diese Verwandlung verfolgen konnte, schlug diese Tür zu, und die Miene wurde wieder abweisend und düster. Resa versteifte sich, saß kerzengerade da. Raen versuchte es trotzdem. Er setzte sich neben seinen Bruder. ‚Wenn wir aufgeben, ist er verloren!’, mahnten ihn seine eigenen Worte. Er strich Resa den Stoff vom Kopf.
„Mit wem hast du eben geredet?“, fragte er sanft.
„Mit niemanden!“
„Du kannst es mir ruhig sagen. Ich habe als Kind auch Träume von Stimmen gehabt. Ich weiß, wie das ist. Du kannst damit auch zu Loenka gehen, wenn du nicht mit mir darüber reden willst. Er hat mir auch geholfen.“
„Loenka!“, stieß Resa hervor, und so viel Verachtung lag im Ausspruch dieses Namens, dass Raen sich fragte, was zwischen den beiden vorgefallen war.
„Der ehrenwerte Hyaunset suer will verhindern, dass ich Krieger werde, das hat er mir ins Gesicht gesagt! Er werde zu Hyaun sprechen, und ihn darum bitten, mich nicht zu erwählen. Aber ich bete jeden Tag zu Ihm, Er solle es doch tun! Loenka wird nicht über mich bestimmen. Das kann er gar nicht. Denn Er ist auf meiner Seite! Er spricht zu mir! Er sagt, Er macht mich zum Krieger.“
„Das sind nicht Hyauns Worte, die du da hörst. Er würde nie etwas Schlechtes sagen. Er würde dir nie befehlen, Menschen Böses zu bringen.“
„Aber die anderen sind doch böse, nicht ich. Und Er sagt mir, was ich zu tun habe, damit das aufhört.“
„Und was sollst du tun?“
„Das sage ich dir nicht, Er hat mich nämlich auch vor dir gewarnt!“
„Resa, das ist Blödsinn, das ist nicht Hyaun, der zu dir spricht, das bist du selbst!“ - ‚Oder etwas anderes, das mir ganz und gar nicht geheuer ist!’, dachte er mit einem unterdrücktem Schaudern.
„Ach, du bist doch nur neidisch, dass Er nicht auch zu dir spricht!“
‚Oh, Brüderchen, wenn du wüsstest, wer schon alles zu mir gesprochen hat!’ Raen sah, dass er nicht weiterkam. Er wechselte das Thema, um Resas Gedanken in eine andere Richtung zu lotsen. „Weißt du was, ich habe eine Idee. Wir gehen zu den Pferden und machen einen Ausritt in den Abend. Es ist immer noch schön warm draußen. Ein kleines Wettrennen wäre doch ein Spaß, oder nicht?“
Kurz leuchteten Resas Augen auf, und Raens Hoffnung mit ihnen.
„Nun, was ist?“ Er hielt Resa eine Hand hin. „Kommst du mit?“
Resa schien zu zögern, mit sich zu ringen, und Raen stieß ihn freundschaftlich an, wie er es immer gerne tat. Mit einem Mal nickte Resa und stand unvermittelt auf. Die Fahne rutschte von seinen Schultern.
„Na gut, lass uns gehen“, sagte er halbwegs entschlossen und grinste schüchtern.
Raen drückte seine Schulter. Aber nicht lange, denn er wollte Resa nicht gleich wieder verschrecken. Sein Herz aber hüpfte vor Freude über diesen kleinen Erfolg.
Er kletterte die Stiege vom Dachboden hinab, und Resa folgte ihm.
Stockwerk für Stockwerk stiegen sie nach unten. Sie kamen am Zimmer ihres Vaters vorbei, in dessen zweiten, leeren Alkoven wohl bald Hanenka einziehen würde.
‚Ich werde das wohl auch ungewohnt finden, demnächst eine neue Mutter zu haben’, dachte Raen versonnen. ‚Ob wir dann neben ihren zwei Kindern noch weitere neue Geschwister bekommen werden? Jung genug wäre sie ja noch.’
Noch ehe er seine Überlegungen über zukünftige Familienerweiterungen weiterführen konnte, geschahen zwei Dinge auf einmal. Er spürte, wie Resa ihm sein Schwert aus der Scheide zog, das hinten in seinem Gürtel steckte, und zur gleichen Zeit explodierte eine der Öllampen an der gegenüberliegenden Wand. Doch ehe Raen reagieren konnte, bekam er einen Stoß und verlor das Gleichgewicht. Aus den Augenwinkeln sah er, wie das Öl der Lampe sich brennend die Wand hinunter auf die Fußbodenbohlen ergoss. Noch während seines Falls drehte er sich zur Seite und prallte statt mit den Händen oder Knien mit seiner Schulter auf die Stufen, was schwerere Folgen des Sturzes verhinderte. Den Rest des Weges rutsche er unsanft mit dem Kopf voran hinunter bis auf den nächsten Absatz, wo er schnell aufstehen wollte, doch sofort war Resa wie ein drohender Schatten über ihm und gab ihm einen weiteren, erstaunlich harten Tritt vor den Brustkorb. Raen sah, wie sein Bruder seine eigene Klinge auf ihn richtete. Der Jüngere schien den überraschten Ausdruck auf dem Gesicht des Älteren zu genießen, denn er grinste boshaft.
„Nun, wie stehen die Dinge jetzt, großer Banskeid? Hast mir wohl geglaubt, was? Wie einfältig von dir!“
„Resa, lass den Blödsinn! Gib mir das Schwert! Das ist kein Spielzeug!“
„Ha, ich weiß selbst, dass das kein Spielzeug ist! Behandele mich gefälligst nicht ständig wie ein kleines Kind, das du herumkommandieren kannst!“
„Resa, du bist nicht du selbst. Komm zu dir! Wir müssen das Feuer löschen, bevor es sich noch weiter ausbreitet. Hörst du?“ Raen wollte aufstehen, doch Resa hob drohend die Schwertspitze vor seine Nase. Der Ältere bog seinen Hals zurück, um dem scharfen Metall auszuweichen.
„Wenn du meinst, du müsstest mich nicht ernst nehmen, dann stech’ ich dir ein Auge aus. Wie wär’s damit?“ Unkontrolliert fuchtelte er mit der Klinge gefährlich nah vor Raens Augen herum. „Ich sage dir, versuch’ nie wieder, mir zu erzählen, was ich zu tun habe. Ich mache, was ich will, und ich werde bekommen, was ich will!“
„RESA, gib mir verdammt noch mal das Schwert!“
„Kannst du haben, Bruderherz!“ Resa holte aus und stach zu. Raen erstarrte. Mit einem hohlen Geräusch landete die Spitze des Schwertes direkt neben seinem Ohr im Holz der Treppe, und wie der Schatten eines Dämons war Resa plötzlich verschwunden. Nur das in seiner unüblichen Halterung hin und her schwankende Schwert zeugte noch davon, dass er überhaupt da gewesen war. Fluchend sprang Raen auf, zog seine Jacke aus und erstickte damit zuerst die sich ausbreitenden Flammen. Er hörte polternde Schritte die Treppe hinaufkommen. Schnell zog er das Schwert aus dem Holz und steckte es weg. Mit mehreren Eimern Wasser kam eine Handvoll Männer bei ihm an.
„Es ist aus, ich habe es gelöscht“, sagte Raen und wischte sich demonstrativ über die Stirn. „Puh, das war knapp!“
„Was ist passiert? Dein Bruder hat uns alarmiert. Zum Glück war ich gerade unten in der Küche.“ Der Feuermeister bahnte sich einen Weg durch seine Männer und blickte sich prüfend um..
„Ich habe aus Versehen die Lampe zerbrochen“, entgegnete Raen entschuldigend.
Der Feuermeister sah auf die Halterung, die über Kopfhöhe am Pfosten des Treppenhauses festgemacht war.
„Ja, ich hab’ sie heruntergenommen, und ungeschickt wie ich manchmal bin, ist sie mir aus der Hand gefallen.“ Verlegen senkte er den Kopf. „Ich passe demnächst besser auf.“
„Du weißt, was für einen Schrecken du uns eingejagt hast! Mit den Lampen musst du vorsichtig sein! Wenn die Flammen sich erst einmal in die größeren Balken gefressen haben, dann sind sie nicht mehr zu stoppen. Wegen so etwas kann der ganze Chorten niederbrennen!“
„Ja, tut mir leid.“ Raen versuchte, ein betretenes Gesicht zu machen, auch ihm saß ein gehöriger Schrecken in den Knochen. Aber nicht wegen des Feuers.
Er klemmte sich seine Jacke unter den Arm und hob die noch heißen Scherben der Lampe auf.
„Ich hol dann wohl mal eine neue“, sagte er und drückte sich an den Männern vorbei, die ebenfalls erleichtert kehrt machten.
Resa war natürlich nirgendwo zu sehen. Nachdem Raen die kaputte Lampe im Lager des Töpfers gegen eine neue ausgetauscht und sie an ihren Platz gebracht hatte, war es bereits Zeit zum Essen. Doch vorher wollte er sich eine saubere Jacke besorgen. Er ging zu seinem Vater, der in seinem Zimmer saß, und bat ihn, sich eine von ihm ausleihen zu dürfen, bis seine wieder sauber und heil sei. Roman fragte nicht warum, denn es hatte sich wie üblich schon herumgesprochen. Er gab ihm einen älteren Dari, der Raen aber gut passte, denn mittlerweile hatten sein Vater und er die gleiche Statur.
„Wie viele Tage bist du noch hier?“, wollte Roman wissen.
„Fünf.“
Roman nickte traurig.
„Ich werde bis zum letzten Tag weiter versuchen, Resas Einwilligung zu bekommen“, versprach Raen.
Wieder nickte sein Vater. Er wirkte sehr niedergeschlagen, und Raen schmerzte es, ihn so zu sehen. Obwohl er immer noch eine stattliche Erscheinung war, hatte sich doch eine gewisse Erschöpfung in seine Haltung geschlichen. Auch stellte Raen erschrocken fest, dass seine Haare fast komplett grau geworden waren, was den müden Eindruck des Gesichtes noch unterstrich.
‚Er ist fünfundvierzig, was glaubst du denn! Der Jüngste ist er nicht mehr, und Zaizura hat ihn wahrlich schwer geprüft.’
„Vater, könnt ihr Resa nicht einfach übergehen? Er ist doch gerade mal im Ersten Grad. Er kann doch eigentlich noch nicht selbst entscheiden.“
„Nein, das können wir nicht tun. So will es nun einmal das Gesetz. Ach, Raen, ich wünschte, er wäre damit einverstanden. Ich möchte doch nicht, dass er deswegen unglücklich ist.“
‚Aber Resa scheint es egal zu sein, ob du damit unglücklich bist!’, dachte Raen bitter. Auch er spürte seine letzten Hoffnungen schwinden. Er war ratlos. Am liebsten hätte er seinem Vater sein Herz ausschüttet und von Resas Angriff auf ihn erzählt, doch das konnte er ihm nicht antun.
„Ich habe ja noch fünf Tage“, versuchte er ihm stattdessen etwas Mut zuzusprechen. „Vielleicht kann ich ja doch noch etwas bewirken! Danke für die Jacke, wir sehen uns gleich beim Essen?“
„Auch ich danke dir für deine Mühen, mein Sohn!“
Raen lächelte und verließ den Raum. Aber er wusste, dass es vergebene Mühen waren.
Der Tag seiner Abreise rückte unaufhaltsam näher, und natürlich hatte er immer noch nichts erreicht. Den letzten Abend aber wollte Raen in Ruhe und ganz allein nur mit seiner Liebsten verbringen, die in all der Zeit viel zu kurz gekommen war. Resa war ihm einfach nicht aus dem Kopf gegangen, selbst wenn er und Suneka miteinander geschlafen hatten. Sie hatte das freilich immer sofort gemerkt und es ihm vorgehalten, aber er hatte nicht aus seiner Haut gekonnt.
Auch jetzt lagen sie erschöpft nebeneinander auf Raens Lager, der Schweiß der Vereinigung auf ihren Körpern war noch nicht ganz getrocknet, und seine Gedanken schweiften wieder zu seinem Bruder. Um sie aber zurück zu Suneka zu zwingen, wandte er den Kopf und besah sich ihr Profil. Sie hatte die Augen geschlossen, die Wimpern waren dunkle Halbmonde auf ihrem Gesicht, das entspannt und friedlich wirkte. Auf ihren Wangen und ihren Lippen lag ein zarter Hauch von Rot, den er sehr reizvoll fand und den sie immer hatte, wenn sie sich hingebungsvoll geliebt hatten, oder es kalt draußen war. Sie hatte die Decke bis zum Kinn hochgezogen, weil es recht kühl in dem Raum war. Das fand Raen sehr bedauerlich und er begann langsam die Decke zurückzuziehen, um ihre Rundungen betrachten zu können.
„He, mir wird kalt!“, protestierte sie und sah ihn an.
„Lass mich doch, bitte, nur einen Moment. Du bist so wunderschön, und ich werde dich doch so lange nicht ansehen können!“ Er berührte andächtig die weiche Haut oberhalb ihrer Brüste, wanderte dann langsam an ihnen hinunter, strich über ihr kleines Bäuchlein und vergrub schließlich seine Hand in dem dunklen Dreieck zwischen ihren Beinen. Sie kicherte und steckte sich einen Finger zwischen die Zähne. Diese fast wollüstige Geste, welche die Mädchen von La Gioa geradezu perfektioniert hatten, wirkte bei Suneka so vollkommen natürlich, dass Raens Lust erneut auflebte, und er drückte sein steifes Glied gegen ihren Oberschenkel, um ihr zu zeigen, dass er durchaus gewillt war, es noch einmal zu tun.
„Du machst mich ganz verrückt“, flüsterte er in ihr Ohr, „weißt du das!“
„Hm, Raen“, sie drehte sich ihm zu und schmiegte sich an ihn, „wenn das so ist, warum heiratest du mich dann nicht endlich? Wie lange soll ich noch warten? Ich bin jetzt schon zwanzig und werde auch nicht jünger. Und meine kleine Schwester wird vor mir ein Kind bekommen. Raen, wann?“
„Ich werde dich heiraten, sobald ich wiederkomme. Ich verspreche es dir.“ Er küsste ihren Hals und rollte sich auf sie. „Ich liebe dich, Suneka, und es gibt nichts, was mich daran hindern könnte, dich zu meiner Frau zu machen, nur müssen wir noch ein wenig Geduld haben! Ich komme am Ende des Circulums das nächste Mal nach Hause, und wenn dann alles vorbei ist, wird uns nichts mehr trennen können.“
„Zwei Jahre nennst du ein wenig Geduld?“ Sie sah ihn prüfend an. „Nun gut, ich nehme dein Versprechen an, Banskeid Raen. Diese zwei weiteren Jahre gehen schließlich auch vorbei! Und jetzt mach’ schon, worauf wartest du!“
Leise lachend drang er in sie ein.
Am nächsten Morgen schien alles so schwer, der Abschied war gekommen. Und selbst der Tag schien Mühe zu haben, sich von seiner guten Seite zu zeigen. Es schüttete in Strömen.
Alle waren im Hof versammelt und verabschiedeten den Besucher. Raen drückte alle nacheinander und stieg dann in den Sattel. Auch Jakori ließ betrübt die Ohren hängen. Er wusste, wie sehr auch sie Regentage verabscheute. Er ritt an und lenkte die Stute durchs Tor. Alle winkten ihm nach, nur Resa war nirgends zu sehen. Schweren Herzens trabte Raen die Straße hinunter und an Henendras Hof vorbei. Er war schon jetzt durchnässt bis auf die Haut.
‚Mal sehen, wie weit wir heute kommen’, dachte er und als er den Waldrand erreichte, zwang er sich noch einmal, einen Blick zurückzuwerfen, um seiner Heimat Lebewohl zu sagen.
„Hyaun, beschütze dieses Fleckchen Erde und ihre Bewohner, und beschütze vor allem meinen Bruder!“, sagte er leise vor sich hin, und Jakori ließ beim Klang seiner Stimme die Ohren Kreisen.
„Gutes Mädchen.“ Er klopfte ihr aufmunternd auf den Hals. „Komm, wir haben noch einen langen Weg vor uns.“ Was im Treppenhaus des Nordturmes zwischen ihm und Resa vorgefallen war, hatte er vorerst für sich behalten. Es sollte ein Vertrauensbeweis sein, und er wollte seinem Bruder damit zeigen, dass er zu ihm hielt.
Er trieb Jakori an, und wenig später hatte das Grün des Waldes sie verschluckt.
Die Reise stand unter keinem guten Stern, das Wetter war ausgesucht schlecht, und Raens Laune miserabel. Aufgrund eines Sturmes hatte dann auch noch das Schiff in Lado di Forsa Verspätung, und die Tage auf See waren erneut die Hölle! Raen verfluchte die Strapazen, die doch so wenig eingebracht hatten. Und erst im Hafen von Borgossa brachte er es fertig, sein Lamento und die Selbstzerfleischung einzustellen. Es hatte ja doch keinen Sinn, er hatte alles versucht, was in seiner Macht stand, was zugegeben nicht gerade viel war, aber von hier aus konnte er noch weniger ausrichten. Er führte Jakori mit wackeligen Beinen über die breite Planke auf den Kai und stieg erleichtert auf. Schwankend ritten sie durch die verstopften Straßen der großen Stadt. Raen überlegte kurz, ob er auf dem Weg noch an der Akademie vorbeischauen sollte, denn es war gerade mal Mittag, doch dann entschied er sich für den kürzesten Weg zum Hytena. In diesem elenden Zustand sollte ihm möglichst keiner sehen, und auf diesen einen Tag kam es nun auch nicht mehr an.
Erschöpft, aber erstaunlich gutgelaunt kam er schließlich am Hytena an. Keine Seele war zu sehen. Sie waren mit Sicherheit alle unterwegs in der Stadt. Er lenkte Jakori über den Hof und auf der anderen Seite wieder hinaus zu den Weiden.
‚Nanu, doch alle da?’, wunderte sich Raen, denn zehn Pferdeköpfe drehten sich in seine Richtung. Er sattelte die freudig schnaubende Jakori ab und entließ sie zu ihren Freunden. Dann brachte er das Sattelzeug in die Kammer neben dem Stall, schulterte sein Gepäck und ging in den Hof zurück. Dort stellte er das Gepäck ab und betrat die Küche.
„Raen, Himmel, gut, dass du endlich da bist!“, rief Manoen und stand sofort auf.
„Ah, da ist er ja, der feine Herr Ausreißer!“, tönte gleichzeitig Sel abfällig aus dem Hintergrund.
„Ach, halt doch dein Maul, Sel!“, warf Manoen böse über die Schulter, und zu Raen gewandt sagte er: „Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, wenn ich dich nicht formvollendet begrüße, aber ich muss dringend mit dir sprechen.“
„Jetzt?“
„Ja, komm, es ist wirklich wichtig!“ Und noch bevor Raen oder jemand anderes etwas sagen konnte, zog Manoen ihn mit vor die Tür. Er wollte protestieren, da er einen Mordshunger hatte und in der warmen Küche bleiben wollte. Aber die ungewohnt ernste Miene Manoens ließ ihn sich fügen. Hinter dem Tordurchgang zu den Weiden blieb Manoen schließlich stehen, trat aber weiter von einem Fuß auf den anderen. Er wirkte fahrig.
‚Was ist nur mit allen los? Langsam glaube ich, ich bin der einzige, der noch bei Verstand ist’, dachte Raen und fragte: „Mann, Manoen, was ist nun? Und warum seid ihr alle hier, habe ich mich im Tag geirrt und heute ist Sonntag?“
Manoen sammelte sich und sah Raen an. Dessen Mut sank, als er dem wahren Ausmaß von Manoens Erschütterung gewahrte.
„Was ist passiert?“, fragte er noch einmal vorsichtig, obwohl er sich mittlerweile sicher war, es eigentlich gar nicht hören zu wollen.
Manoen kam endlich zur Sache: „Im’Shumalayan ist tot!“
Diese Nachricht war niederschmetternd, und Raen fühlte unwillkürlich Schwindel. Er musste sich an der Wand abstützen. „Aber, aber ... er war doch noch gesund, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe!“, keuchte er schließlich. „Wie ...?“
„Es hat viel geregnet hier, mehr als sonst im Frühjahr. Große Teile von Acquado, La Gioia und Viccio standen unter Wasser. Dann ist das Lungenfieber ausgebrochen, und er ist krank geworden wie auch Tausende andere Bewohner in dieser Stadt und im Umland. Die Krankheit wütete einen Monat lang. Es war furchtbar, alles kam zum Erliegen. Nichts ging mehr. Auch viele der Studenten waren krank. Zum Glück ist keiner von ihnen gestorben. Und bei uns hatte es nur Uma erwischt. Aber auch er ist wieder auf den Beinen. Im’Shumalayan war zu alt, um der Krankheit etwas entgegensetzen zu können. Der Medicus hat alles getan, ihm sein Leiden zu lindern, doch es war hoffnungslos. Er hat vier Tage gelitten und ist dann elendig unter Krämpfen krepiert! Unser guter alter Langbart, frei sei seine gesegnete Seele.“
Raen merkte, dass Manoen weinte, und auch er fühlte sich elend und den Tränen nahe. Das war einfach zu viel des Unheils, das ihn in letzter Zeit heimsuchte. Wieder einmal belehrte ihn Zaizura, die ewig Beflissene, dass das Unheil unauslotbare Tiefen haben konnte, und nicht immer gleich ein rettender Grund in Sicht war. Nach all dem Schlechten musste nicht zwangläufig auch das Gute folgen. Es konnte durchaus noch schlechter werden.
Manoen schluckte vernehmlich und erzählte weiter: „Allein in Borgossa hat es über siebenhundert Tote gegeben. Sie sind, da der Platz auf den Friedhöfen innerhalb der Mauern nicht mehr ausreichte, draußen vor den Toren begraben worden. Hast du nicht das Gräberfeld gesehen?“
Raen schüttelte den Kopf. Aber er entsann sich dunkel, an Bord des Schiffes etwas über die Epidemie gehört zu haben, nur war er da zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen.
„Im’Shumalayan ist in allen Ehren auf dem Friedhof im Garten der Akademie beerdigt worden. Alle, die konnten, sind dabei gewesen. Die Maestros und wir Studenten haben ihm einen Stein gestiftet, er ist so weiß, wie sein Bart.“ Manoen musste bei der Erinnerung an das Begräbnis traurig lächeln. „Lui stavo un portale tanto grande e spalancate del sapère, n’el qualo avevo lasçiate passère il sou scolarios generoso, steht auf ihm!”
„Er war ein großes und weites Tor des Wissens, durch das er großzügig all seine Schüler treten ließ“, wiederholte Raen und war gerührt von diesem Spruch. Der Kloß in seinem Hals verhärtete sich.
Manoen sah auf. „Sein Nachfolger ist schrecklich!“
„Wer ist es?“
„Maestro Karbald. Du kennst ihn noch nicht, aber ich habe in meinem ersten Jahr an der Akademie schon einmal eine seiner Lektionen besucht. Er und Sel verstehen sich prächtig! Sel ist die perfekte Kopie von ihm. Aber du hast Glück im Unglück, der Beginn des Circulums wurde um drei Wochen verschoben. Du bist also nicht zu spät. Übermorgen geht’s wieder los. Endlich! Die meisten von uns sind schon ganz ungeduldig. Zum Ausgleich haben wir viel trainiert, Jovani, Anthones, ich und ein paar andere.“
„Sind sie wohlauf?“
„Oh ja, Jovani ist ganz der Alte, er stand gleich als erster vor den Toren La Gioias, als es nach der Epidemie wieder geöffnet wurde!“ Etwas Fröhlichkeit kehrte in Manoens Züge zurück, die Raen trotz der Trauer, die er verspürte, schmunzeln ließ.
„Er kann’s einfach nicht lassen. Das wird mit ihm noch einmal böse enden!“
„Na, hoffen wir es nicht. Es war gab schon reichlich genug Kummer“, erwiderte Manoen. „Sag lieber, wie es zu Hause war? Wie geht es deiner Familie?“
„Sie sind nicht besonders glücklich.“
Manoen begriff sofort und fragte nicht weiter. Raen würde es zu gegebener Zeit schon erzählen. Und so hielten die beiden Freunde es ganz getreu nach hyaunischer Manier und ließen das Unheil unausgesprochen.
Nach den ersten Wochen hatte sich Raen an den ewig meckernden Tonfall von Maestro Karbald gewöhnt und auch dessen ständige Zurechtweisungen ließ er gelassen über sich ergehen. Was ihn aber zur Weißglut brachte, war vielmehr die Speichelleckerei, mit der Sel es fertiggebracht hatte, Karbald im Handumdrehen für sich einzunehmen. An manchen Tagen traten sie auf wie der Richter und sein Vollstrecker. Dann durfte Sel sogar die Bestrafungen durchführen. Das war nicht unüblich, denn stets wurde ein älterer Student, der dem Jahrgang vorstand, zum Handlanger des Maestros ernannt. Doch dass diese Züchtigungen immer öfter und völlig ungerechtfertigt Raen trafen, war ihm ein unmissverständliches Zeichen, wie sehr Sel es darauf anlegte, speziell ihm das Leben zur Hölle zu machen.
Und so kam es, dass Raens Abscheu gegen Sel täglich noch wuchs, und er mehr zähneknirschend in den Lektionen von Karbald saß, als dass er von der Vorlesung viel mitbekam. Zu seiner großen Kümmernis war Manoen nicht mehr mit von der Partie, da der Rotschopf diese unerfreuliche Lektion bereits zu einem früheren Zeitpunkt absolviert hatte. Aber wenigstens war Jovani an Raens Seite, und das tröstete ihn wenig. Einmütig ertrugen sie das willkürliche Drangsal des Maestros, der seine Lektionen allzu offensichtlich allein durch das Mittel der Angst zu beherrschen glaubte. Und die Studenten gehorchten alle folgsam wie dressierte Zirkuspferde, doch desgleichen hassten sie Karbald dafür auch abgrundtief - alle, bis auf Sel, der ihn vergötterte. Denn endlich hatte sein Sinn für Gerechtigkeit einen mächtigen Paten gefunden.
Der Hochsommer kam, und die Straßen flimmerten in der Hitze. Ganz Borgossa fiel in die träge Lethargie, die typisch war für diese Jahreszeit. Die Leute waren gelassener und gleichgültiger als sonst, und wer es konnte, verlegte seine Erledigungen in die lauen Abendstunden, der Puls des öffentlichen Lebens wurde gemächlicher, und das geschäftige Treiben fand nur noch am Morgen und nach Sonnenuntergang statt, da die Siesta einfach bis über den gesamten Nachmittag ausgedehnt wurde. Gerade in dieser Zeit war es für die Studenten am mühsamsten, den Lektionen mit all der gebotenen Aufmerksamkeit folgen zu können, welche die Maestros streng einforderten. Besonders, wenn nach der Siesta die Stadtbewohner weiter ruhten, und die Scolarios wieder ans Werk mussten. ‚Die durstigen Tage’ wurde diese Zeit deshalb auch von ihnen genannt, denn der Brunnen auf dem Campo der Akademie wurde mindestens genauso regelmäßig besucht, wie die Lektionssäle und die Übungsplätze.
Auch Raen fiel es schwer, den Worten von Maestro Karbald zu folgen, aber nicht nur weil es heute noch heißer und stickiger in den Raum zu sein schien als sonst, sondern auch weil ihn der Scolario vor ihm ständig mit irgendwelchen Fragen löcherte. Und er verfluchte bereits seine Gutmütigkeit, ihm darauf zu antworten.
„Scolario Raen! Ein halbes Dutzend Abschriften der Charta von Tentides für dich!“, rief Karbald plötzlich streng und wies mit der Zuchtrute auf ihn. „Sieh zu, wie du die Materialien dafür bezahlst, aber ich will sie in zwei Tagen haben! Und steh gefälligst auf, wenn ich mit dir rede!“
Raen erhob sich widerstrebend, einige sahen ihn neugierig an, Jovani und Anthones aber hielten ihren Blick gesenkt.
„Maestro, und warum, wenn ich fragen darf?“
„Du missachtest meinen Unterricht und redest ständig mit deinem Vordermann, du lenkst ihn ab!“
Raen blickte auffordernd zu dem jungen Mann, der in der Bank vor ihm saß, der tat aber nichts anderes, als flegelhaft zu grinsen.
„Das stimmt nicht, er hat mich doch andauernd etwas gefragt! Er hat mich abgelenkt!“
„Schweig! Du hast genug geredet. Ein halbes Dutzend Abschriften bis übermorgen!“
Raen sah, wie der Kerl vor ihm, ein Abkömmling der borgossinischen Adelsklasse, Sel einen kurzen Blick zuwarf, und dieser kaum merklich nickte. Er war also klassisch hereingelegt worden! Sein Zorn wallte auf.
„Und was ist, wenn ich es nicht tue?“, warf er dem Maestro tollkühn entgegen, noch hatte Sel nicht gewonnen.
„Dann schließe ich dich ab sofort von dieser Lektion aus!“
Das war eine klare Ansage. Er musste die Strafe akzeptieren, wenn er nicht ein ganzes Jahr verlieren wollte. Und das wollte er auf keinen Fall, denn zu Hause wartete Suneka auf die Einlösung seines Versprechens. Außerdem hätte er dann im nächsten Jahr wieder genau das gleiche Problem, sich mit Maestro Karbald herum schlagen zu müssen.
Er senkte ergeben sein Haupt. In seinem Innern aber rebellierte la Furiosa weiter, die sich nicht damit abfinden wollte, dass Sel nun doch gewinnen sollte. Und plötzlich hob er seinen Blick wieder und sagte, ohne sich dessen überhaupt richtig bewusst zu sein: „Mit Verlaub, Maestro, diese Strafe ist doch völlig sinnlos und kindisch, ich werde es nicht tun. Ich bin Student der Universität und kein Erstklässler!“
Raen sah, wie der Maestro rot anlief.
„WAS?!“, schrie dieser prompt, und seine Stimme überschlug sich unkontrolliert. Denn Karbald war nicht nur ein zeitlebens unzufriedener Mensch, sondern obendrein auch noch Choleriker. „Welche Frechheit besitzt du respektloser Lümmel, meinen Unterricht zu stören und ihn dann noch als Kinderei zu bezeichnen? Das ist doch wohl die Höhe!“
„Ich bezahle immerhin für diese Lektio, und ich will sie nicht mit unsinnigen Bestrafungen verbringen, sondern etwas daraus lernen!“, hielt Raen erstaunlich ruhig dagegen, was ihm einigen Respekt seiner Mitstudenten einbrachte. Niemand hätte es gewagt, so mit Karbald zu sprechen, selbst wenn er im Recht gewesen wäre.
„Das reicht, komm nach vorne!“, befahl Karbald.
Alle wussten, was das bedeutete, und Raen tat, wie ihm geheißen. Seine Miene war steinhart.
„Bitte, Maestro, bei allem Respekt, das ist doch ...“, wollte Jovani sich einmischen.
„Schweig Campeggio, wenn du nicht auch noch eine Tracht Prügel haben willst!“, brüllte Karbald den jungen Graçener an, der schweigend den Blick senkte. Es war ihm sichtlich peinlich, dass ihn nun doch der Mut verlassen hatte. Raen war indes froh, denn er wollte nicht, dass Jovani wegen ihm auch noch eine Strafe erhielt. Dennoch war er ihm dankbar, als einziger überhaupt versucht zu haben, Einspruch zu erheben.
‚Du bist ein wahrer Freund, Campeggio’, dachte er, als er vor dem Pult angekommen war, ‚ganz im Gegensatz zu meinem überkorrekten Landsmann hier.’ Er starrte Sel voller Verachtung an, der sich nichts anmerken ließ.
„Hose runter!“, sagte der Maestro tonlos. Raen biss sich unabsichtlich fest auf die Lippe. Es gab also die Höchststrafe: Vierundzwanzig Schläge mit dem Stock.
Nur widerwillig löste er sein Hosenband und ließ sie schließlich fallen.
Sel trat neben ihn und zischte ihm ins Ohr: „Vielen Dank übrigens für deine unverhofft rege Mithilfe. Jetzt bekommt der Champion den Arsch voll!“ Triumphierend grinsend hob er den Schoß der Jacke an und jeder hatte freien Blick auf Raens blankes Hinterteil.
Raen versuchte, nicht an die Demütigung zu denken und stützte sich mit beiden Armen vorn am Pult ab. ‚Sel, du mieses Schwein, wenn es das ist, was du wolltest, dann genieße deinen Sieg, so lange du noch kannst. Ich schwöre dir, deine ruhigen Tage sind gezählt!’ Er schloss die Augen, und als der erste Schlag ihn traf, konzentrierte er sich nur noch darauf, bloß nicht zu schreien.
„Ich weiß nur noch nicht, was ich ihm antun werde, aber dass ich es tun werde, ist sicher!“, knurrte Raen, als er zusammen mit Manoen später in den abendlichen Schatten der Obstbäume neben der Pferdeweide des Hytena ihre sonntägliche Ruhe genossen. Sein Hintern schmerzte noch immer. „Er hat ordentlich zugelangt!“, lachte er bitter.
„Was nur in ihn gefahren ist, möchte ich mal wissen“, sagte Manoen nachdenklich.
„Na, er will mich fertigmachen, das ist doch klar!“
„Junge, jetzt beruhige dich mal wieder. Das ist es doch genau das, was er will. Er will dich irre machen, damit du dir selber Schaden zufügst. Konzentriere dich lieber auf das Studium, anstatt auf Rachepläne.“
„Ach, und das kommt ausgerechnet von dir!“
„Ja, und das ist ein wohlgemeinter Rat. Capisco? Ich will dich nämlich vor etwaigen Dummheiten bewahren, damit du dir nicht mit irgendwelchen unbedachten Handlungen das Studium versaust. Auf dich wartet zu Hause deine süße Braut, denk lieber an sie. Sel wird seine Strafe schon von allein bekommen, glaub mir. Karbald kann nicht überall seine schützende Hand über ihn halten. Es gibt auch noch andere Maestros, und die beginnen langsam über das nachzudenken, was sich in Karbalds Lektionen abspielt. Sein Ruf hat mittlerweile schon gelitten und mit ihm das Ansehen der Akademie. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie eingreifen werden. Nach der Großtat von Sel heute erst recht.“
Raen schwieg.
„Hab’ Geduld, dann regelt die Sache sich von ganz allein, du wirst schon sehen, ich kenne diese Stadt.“
Raen gelang ein Lächeln. Oh ja, Manoen kannte diese Stadt, und er war sich sicher, dass der Rotschopf sie auch über alles liebte. Endlich gelang es ihm, wieder an etwas anderes zu denken und er fragte seinen Freund, was es mit dem erlauchten Prinzenpaar aus Ohaoud nun eigentlich auf sich hatte, das seit Beginn des Circulums zu Gast an der Akademie war.
„Oh, das sind gar nicht zwei Prinzen, genauer gesagt sind es ein Prinz und eine Prinzessin.“
„Eine Prinzessin? Eine Frau studiert an der Akademie? Ist sie eine Kriegerin?“
„Im gewissen Sinne wohl schon, aber sie ist auch die designierte Thronfolgerin von Ohaoud und ihr Vater will, dass sie die gleiche Ausbildung erhält wie er seinerzeit. Er war nämlich auch in Borgossa.“
„Da werden die Maestros aber alle Hände voll zu tun haben, um die Disziplin zu wahren, wenn eine Frau unter den ganzen Kerlen sitzt!“
„Tja, das kann man wohl sagen, aber die Prinzessin ist auch ein ganzer Kerl, lässt sich von den paar blöden Bemerkungen nicht im Geringsten verunsichern, und ihre muskelbepackten Leibwächter tun das Übrige.“
„Leibwächter, wofür braucht sie die denn?“
„Die beiden Prinzen sind die Blüte des Königshauses von Ohauod und müssen daher besonders geschützt werden! Oh, Raen, du solltest sie mal sehen, sie ist klasse!“ Der Ältere lächelte versonnen.
„Manoen, Finger weg! Das ist ganz bestimmt eine Nummer zu groß für dich, und außerdem werden ihre Leibwächter dir deinen kleinen Freund abhacken, wenn du auch nur daran denkst, es zu tun!“, scherzte Raen.
„Da hast du vermutlich Recht. Trotzdem, anschauen wird ja wohl nicht verboten sein.“
„Wer weiß, mein Lieber, ich an deiner Stelle wäre vorsichtig. Auch wenn du deinen Ruf als Frauenheld zu verteidigen hast.“
„Ja ja , schon gut.“ Manoen tat so, als wäre er beleidigt und verschränkte die Arme vor der breiten Brust.
„Eine Frau als Thronfolger, ist das nicht merkwürdig?“, sann Raen laut über das nach, was sein Freund soeben erzählt hatte.
„Die in Ohaoud nehmen das eben nicht so genau mit den männlichen Nachkommen. Wie wir ja eigentlich auch nicht.“
„Hm, interessant. Und hast du schon mit ihnen geredet?“
„Ja, aber nicht lange, sie haben nicht viel Kontakt zu uns anderen Studenten. Verlassen die Akademie nach Lektionsende immer gleich wieder. Nehmen leider auch nicht an unseren Trinkgelagen teil.“
Raen schnalzte mit der Zunge, als sei das ein ganz besonders harter Verlust. Er selbst fand die ewige Sauferei bisweilen ein eher zweifelhaftes Vergnügen, da ihm davon stets speiübel wurde, wenn er es übertrieb – und dazu kam es leider meist.
„Ihr Graçenisch ist erstaunlich gut“, erzählte Manoen weiter, „ich glaube, beide hatten schon vorher Unterricht darin. Aber sie scheinen wirklich nette Kerle zu sein. Wirken nur halb so aufgeblasen wie die hochwohlgeborenen Söhne der borgossinischen Adelsschicht.“
„Ja, mit einem von denen habe ich auch noch ein Hühnchen zu rupfen!“
„Jetzt fang nicht schon wieder damit an. Das Thema wollten wir doch lassen.“
„Und wie heißen die beiden jetzt?“, brummte Raen missmutig.
„Sal al In’Sahdi - das heißt Prinzessin, oder auch Prinz - Keï und Sal al In’Sahdi Bendan aus dem Hause Karima-Esala“, raunte Manoen, als ließe sich die Namen auf der Zunge zergehen.
„Das sind ja fast so lange Namen wie unsere.“
„Tja, man könnte aber auch meinen, dass unsere Namen von wahrhaft königlicher Länge sind!“
„Das hättest du wohl gerne, was?“ Raen machte eine ausladende Geste mit dem Arm. „Mes Sennoras e Sennores Generoses, darf ich vorstellen, der edle Herr von und zu Manoen, der König von Hy!“
Ohne Vorwarnung warf der Hüne sich auf ihn, und beide rangelten im trockenen Gras unter den Bäumen miteinander wie zwei übermütige Halbstarke.
„He, Herr König, körperliche Gewalt ziemt sich nicht für einen vornehmen Herren wie Euch“, spottete Raen munter weiter, während Manoen ihn mit Fausthieben auf den Oberkörper traktierte. „Ich muss doch sehr bitten, nicht so grob.“ Ein Lachkrampf begann ihn zu schütteln, und bald lag er platt auf dem Rücken und rang nach Luft. Manoen ließ von ihm ab. Doch er lachte nicht.
„Warum machst du dich lustig über mich?“, fragte er verletzt.
Raen wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Weil du manchmal echt komisch bist!“
„Das ... ach, das stimmt doch gar nicht. Was war denn daran so komisch, he?“
Raen bemerkte, dass es Manoen ernst meinte, und stemmte sich auf die Ellenbogen.
„Dass du diese Menschen so bewunderst, nur weil sie adelig sind, das finde ich komisch. Was findest du daran? Warum verehrst du diese Leute so? Für die bist du ein Nichts, du bist denen doch völlig egal! Wenn du vor ihnen in der Gosse liegen und sie um Hilfe anflehen würdest, dann würden sie einfach über dich hinweg steigen.“
„Aber sie ... haben ... ach, was verstehst du denn schon davon!“
„Ja, in der Tat, ich verstehe davon nicht das Geringste. Was ist an diesen Menschen, außer ihrer Überheblichkeit?“ Raen wunderte sich nicht zum ersten Mal darüber, welche Faszination sein Freund für die Menschen von königlichem Geblüt hegte. Als wären sie allein dadurch etwas Besonderes. Er selbst hatte mittlerweile herausgefunden, dass diese Leute sich durch nichts von den anderen ganz normalen Menschen unterschieden. Nur ihr Denken um ihre bessere Stellung und natürlich ihr Geld trennten sie von dem Rest der Bevölkerung. Und in Borgossa wie in Graçe, eigentlich überall außerhalb von Hy, schien es das wesentliche Kriterium zur Beurteilung von Menschen zu sein. Ob sie nun gut oder schlecht waren, schien egal. Hauptsache, sie hatten einen Namen, auf den sie sich etwas einbildeten, und Geld! Aber bei allem, was Manoen darüber dachte, hatte Raen noch nicht feststellen können, ob es das war, was auch für ihn eine größere Bedeutung hatte. Denn so sehr sein Freund auch von Geburt an ein Hy war, war er doch schon zu lange in dieser Stadt und ihren Einflüssen ausgesetzt. Und selbst an Raen hatte sie schon unzweifelhaft ihre Spuren hinterlassen.
Aber entweder konnte Manoen es ihm nicht erklären, oder er wollte es nicht, auf jeden Fall sprang er auf und ging ohne ein weiteres Wort davon.
‚Na prima, jetzt hast du auch noch deinen besten Freund verärgert! Das hast du wieder einmal hervorragend hinbekommen‘, tadelte er sich selbst, während er Manoen nachsah, dessen feuriger Schopf in der Sonne hell aufleuchtete, bis er im Schatten des Durchganges zum Hytena verschwunden war.
‚Sieh zu, dass du dich nachher bei ihm entschuldigst, sonst rede ich kein Wort mehr mit dir!‘ Halb amüsiert über diese Drohung, die er gegen sich selbst ausgesprochen hatte, und halb verärgert rollte er sich wieder auf den Rücken, schirmte seine Augen mit beiden Händen ab und blickte nachdenklich in den sich allmählich rötenden Himmel.
Vor dem Nachtmahl klopfte Raen an Manoens Zimmertür. Und erst, als er ein zweites Mal daran pochte, regte sie etwas.
Er trat ein. Ein ungewohnter Anblick bot sich ihm: Manoen saß auf seinem Bett und lernte. Doch bevor Raen darüber nachdachte, eine erneut spöttische Bemerkung zu machen, besann er sich und sprach dafür lieber etwas zerknirscht seine Entschuldigung aus.
„Ist schon gut, ich habe dir längst verziehen“, entgegnete Manoen müde.
„Tatsächlich?“
„Weißt du, du bist ein unverbesserlicher und sturer Einfaltspinsel, wie ich ihn noch nicht gesehen habe, aber es ist mir stets ein Vergnügen, mit dir zu streiten!“
Raen machte den Mund auf und wollte protestieren, schloss ihn dann aber wohlweislich wieder, denn eigentlich war das, was sein Freund soeben gesagt hatte, als Kompliment gemeint. Und in diesem Moment liebte er den gutmütigen Kerl dafür, dass er einem nie lange böse war.
Und nun konnte er doch nicht anders. Er wies auf die verstreuten Mitschriften und sagte: „Lernst du etwa, oder sammelst du das Papier, damit es wenigstens schlau aussieht?“
Manoen sah zu ihm auf, schmunzelte wissend. „Ich versuche tatsächlich, zu lernen, ob du es glaubst oder nicht, aber auch ich will irgendwann mal weiterkommen.“
„Wirklich? Du?“
Manoen legte die Papiere zur Seite und erhob sich. „Du hast Recht, die Büffelei steht mir nicht gut zu Gesicht. Lass uns zum Essen gehen und es genießen, dass der gute Sel heute den Küchenmeister spielt!“
„Wenn du der Meinung bist, das sei ein Genuss ...“ Raen streckte mit einem würgendem Laut die Zunge heraus, denn Sel war nicht gerade dafür berühmt, in der Küche besonders schmackhafte Wunder zu vollbringen. Lachend gingen sie die Treppe nach unten.
Raen war glücklich darüber, die Sache zwischen ihm und Manoen wieder eingerenkt zu haben, aber er hatte dennoch das Gefühl, das eigentliche Problem stünde immer noch unausgesprochen zwischen ihnen. Irgendwie kam es nie dazu, dass sie den Grund für ihre Missverständnisse endlich einmal richtig klären konnten, da Manoen ihm ständig sofort verzieh. Das war eine der größten Stärken seines Freundes, gleichzeitig aber auch seine größte Schwäche: Er scheute eher Konflikte, statt sich ihnen zu stellen und sie zu einem sinnvollen Ende zu bringen. Trotzdem hatte Manoen bis jetzt ohne fremde Hilfe sein Leben gemeistert, und das konnte ja auch nicht ganz falsch sein. Er war schon ein guter Kerl, dachte Raen und klopfte dem Rotschopf freundschaftlich auf die Schulter, als sie in die Küche eintraten.
Mit dem Ende der heißesten Tage des Jahres rückte auch der Herbst näher, und mit ihm das große Turnier. Das verlangte von jedem, der daran teilnehmen wollte, mehr Training als sonst, und Raen war ständig auf der Suche nach geeigneten Duellanten, um sich zu messen. Doch keiner von der Akademie wollte mehr ernsthaft gegen ihn antreten, denn jeder wusste, dass es unmöglich war, ihn zu besiegen. Und ein jeder handelte ihn auch dieses Jahr bereits wieder als neuen Champion. Sie feuerten ihn viel lieber an, als mit ihm die hölzerne Klinge zu kreuzen. Trotz allem hatte Raen es aber zu einer stolzen Reihe von Kämpfen gebracht, die allerdings eher freundschaftlich ausgetragen worden waren. Selbst Jovani und Anthones hatten es ihm zuliebe gewagt und eine beispiellose Kostprobe hyaunischer Kampfkunst erhalten. Der einzige, der auf Raens Liste nun noch offen war, war Sel. Dieser hatte sich auch für das Turnier angemeldet, und behauptete bis dahin nicht mit seinen Landsleuten üben zu können, da er sich für den Wettkampf schonen müsse. Raen aber versuchte ihn, wo er nur konnte, zu provozieren, denn ihn reizte der plötzlich erwachte Ehrgeiz seines ungeliebten Kontrahenten, doch Sel blieb stets unbeeindruckt und wies jede Herausforderung zurück.
Auch Manoen war ein geduldiger Trainingspartner, doch der Rotschopf konnte dem viel besseren Kameraden nichts zeigen, was dieser nicht schon konnte. Raen fragte ihn trotzdem, warum nicht auch er sich für das Turnier einschrieb, denn auch wenn er nicht so gut wie er war, so war er doch durch seine hyaunische Schule immer noch besser als viele anderen. Aber Manoen lehnte rundheraus ab, er mache sich persönlich nichts aus Duellen, er rede viel lieber, das sei nicht so anstrengend. Raen quittierte diese Antwort mit einem Lächeln, denn er wusste, dass das stimmte. Es entsprach einfach nicht der Natur seines Freundes, seine Kräfte auf diese Art mit anderen zu messen, dafür wies er ganz andere Qualitäten auf. Wie Raens persönlicher Impresario war Manoen in diesen Wochen überall mit ihm unterwegs auf den Übungsplätzen der Stadt und ging voll und ganz in der Aufgabe auf, seinem ‚Athleten’ immer neue Trainingspartner zu beschaffen. Dabei halfen ihm seine ihm eigene Eloquenz, die Raen bewunderte und die er manoeneske Redefreudigkeit nannte, und sein entwaffnender Wortwitz, mit dem der ewig lachende rote Hüne so manche Situation spielerisch leicht entschärfen konnte.
So brachten sich die beiden Freunde gleichermaßen in Hochform. Und ein jeder von ihnen platzte schier vor Selbstbewusstsein und fieberte dem großen Turnier entgegen.
Eines Tages, als Raen wieder einmal nach der Lektio zum Übungsplatz der Akademie kam, sah er dort den Prinz von Ohaoud mit einem seiner Leibwächter trainieren. Bis dahin hatte er noch keinen der beiden Ohaoudis näher kennengelernt, geschweige denn einen von ihnen kämpfen sehen. Neugierig setzte er sich an den Rand der Arena und beobachtete die beiden dunkelhäutigen Männer bei ihren Übungen. Er war allein, Manoen schwitzte noch bei Uberth, und auch der Rest seiner Freunde hatte wenig Lust gehabt, sich ihm anzuschließen und schon wieder den Staub der Arena zu schlucken, und waren lieber gleich in die Therme gegangen.
Die Bewegungen der beiden Männer hatten eine fremdartige Geschmeidigkeit an sich, wie er sie noch nicht gesehen hatte. Fasziniert vertiefte er sich in die Studie des fließend anmutenden Kampfstils, und unbewusst malte er sich aus, wie er selbst auf die Schwertschwünge parieren würde. Sie kämpften zwar mit Rüstung, Gesichtsmaske und einem kleinen runden Schild, was er nicht tat, aber er bildete sich ein, genau darin auch den Schwachpunkt dieser Technik zu erkennen. Sie waren viel zu fixiert auf den Schutz ihres Schildes.
Eine ganze Weile schaute er zu, dann überwand er schließlich seine Scheu und schlenderte langsam zu den beiden Kämpfern hinüber. Da es hier auf dem Campo der Akademie keine Standesunterschiede gab, konnte er den Prinzen getrost herausfordern, dachte er unbekümmert. Er würde sich auch Mühe geben, das teure königliche Blut unversehrt zu lassen, aber er musste einfach gegen einen von ihnen kämpfen!
Innerlich jubilierend vor Vorfreude auf einen guten Kampf kam er bei den beiden an und räusperte sich vernehmlich. Die Ohaoudis hielten inne und drehten sich um. Raen deutete eine leichte Verbeugung an, um erkennen zu geben, dass er wusste, mit wem er es zu tun hatte und richtete dann sein Wort an die schlanke, großgewachsene Gestalt mit dem königlichen Wappen von Ohaoud auf dem Brustpanzer - Manoen hatte ihm davon erzählt, es war ein goldener Falke, der mit einer seiner Klauen einen Säbel hielt. Dabei musterte er unauffällig die sehnigen Arme aus der Nähe. Über die glatte, schwarze Haut perlte der Schweiß.
‚Kräftig, aber nicht allzu stark’, dachte er abschätzend. ‚Er ist so groß wie ich, aber schmaler, und er muss um einiges leichter sein.’ Sein Blick streifte die weite, saphirblaue Pluderhose und die kurzen Stiefel, die vorne lustig spitz zuliefen, um schließlich an der Holzimitation eines stark gebogenen Krummschwertes hängen zu bleiben. Solch eine Waffe hatte er vorher noch nicht gesehen. Sicher, er hatte davon gehört, doch bis eben hatte er noch niemals jemanden damit kämpfen sehen. Er war gespannt.
„Darf ich mich vorstellen, ich bin der Champion des letzten Herbstturnieres, Raen adh Shari. Euren Schwertstil finde ich äußerst interessant und ich frage mich schon die ganze Zeit über, wie es wohl wäre, gegen Euch zu fechten. Was würdet Ihr also davon halten, wenn wir einen kleinen Wettstreit wagten?“
„Der Champion?“, fragte der Leibwächter barsch und klappte seine Gesichtsmaske hoch, dabei enthüllte er ein breites Gesicht mit wulstigen Lippen. Er war sehr groß und baute sich drohend vor Raen auf. Der musste zu ihm aufblicken, nickte aber huldvoll: „Eben jener.“
„Du bist ein Hy!“
Sein Akzent klang ulkig, fand Raen, aber er verzog keine Miene.
„Ja. Das eine schließt das andere nicht aus, oder?“, sagte er höflich und blickte offen in die Runde.
„Und du willst gegen Sal al In’Sahdi kämpfen?“
„Ja, wenn es sich einrichten ließe.“
Der Große ging noch einen Schritt auf ihn zu und stand jetzt ganz dicht vor ihm. „Werde ja nicht frech, Bakkara, du vergisst, mit wem du sprichst!“
Der Kerl gefiel ihm nicht, er war überheblich und hatte einen beleidigenden Ton an sich. Raen dachte bereits darüber nach, besser ihn zum Duell zu fordern, doch ehe er seiner Angriffslust freien Lauf lassen konnte, zog der Prinz den Leibwächter zur Seite und flüsterte ihm leise zu. Raen sah nur die dunklen Augen durch die naturgetreu nachgebildeten Sehschlitze seiner fein ziselierten, silbernen Gesichtsmaske hervor blitzen. Dann drehte sich der Leibwächter zu Raen und nickte knapp. Sein spitz wie eine Zwiebel zulaufender Helm blinkte dabei in der Sonne.
„Gut. Sal al In’Sahdi Keï wird gegen dich kämpfen, Raen del Shari. Willst du Schutzkleidung und einen Schild?“, fragte er unfreundlich.
„Nein danke, ich fühle mich wohler ohne.“ Aber Moment, was hatte er da so eben gehört? In’Sahdi Keï? Hatten ihn seine Ohren getäuscht, oder war das etwa die Frau und nicht der Prinz? Er zögerte und besah sich die Gestalt vor ihm noch einmal genauer. Die weite Hose und der Brustpanzer verdeckten mögliche weibliche Rundungen, und die Maske zierte eindeutig ein Bart. Wenn das die Frau war, dann wollte er erst den wirklichen Prinzen sehen! ‚Mann, Raen, da hast du dir mal wieder was eingebrockt?’
„Nun, was ist, hast du einen Korken verschluckt, oder können wir anfangen?“
Der Große wandte sich an seinen Schützling: „Wollt Ihr Regeln, mein Prinz?“
Der Prinz, oder besser die Prinzessin, schüttelte den Kopf.
„Keine Regeln, also!“ Er trat zurück, und Raen stellte sich der Prinzessin gegenüber auf, sich verfluchend wegen seiner Einfältigkeit, aber aus diesem Schlamassel kam er so schnell nicht mehr heraus.
‚Ich könnte mich besiegen lassen’, schoss es ihm durch den Kopf. ‚Nein, auf keinen Fall, das würde sich in Windeseile herumsprechen, wenn ich von einer Frau geschlagen werden würde. Dann wäre mein Ruf ruiniert, vom Auftritt auf dem Turnier ganz zu schweigen.’
Sein Gegenüber begann ihn langsam zu umkreisen, und er machte die Bewegung instinktiv mit, versuchte gelassen zu wirken, obwohl er es schon lange nicht mehr war. Er wartete auf den ersten Angriff, wollte sehen, wie er mit ihr zurechtkam und dann entscheiden, wie er weitermachen sollte. Als der Angriff schließlich kam, war dieser überraschend heftig, und um ein Haar hätte sie ihn mit ihrem Krummschwert an der Schulter erwischt.
Das brachte ihn zur Besinnung und nach zwei weiteren Streichen der Prinzessin war sein Kampfgeist erwacht. Sie war gut. Er führte seinerseits ein paar Hiebe aus, doch sie parierte sie mühelos. Sie war verdammt gut! Sie ließ ihn nie aus den Augen und hatte immer ihren Schild zur Stelle, wenn Raen ein bestimmtes Ziel anvisierte. Gegen einen Kämpfer mit Schild war es nicht leicht, und es brauchte seine Zeit, bis man die Schwachstellen herausgefunden hatte. Raen rief sich seine vorangegangenen Beobachtungen in Erinnerung. Der Schild war die Schwäche. ‚Du musst ihn zuerst loswerden, dann hast du leichtes Spiel. Ihre Technik ist zu sehr an den Schild gekoppelt. Wenn sie ihn nicht mehr hat, dann ist sie nur noch halb so effektiv.’ Also setzte er seine Versuche daran, der Prinzessin den Schild abspenstig zu machen. Sie bemerkte das und gab ihm noch weniger Angriffspunkte. Ihr Schlagabtausch wurde schneller und schneller, aber die Prinzessin zeigte keinerlei Ermüdungserscheinungen. Lediglich ihr Atem ging schneller.
Langsam begann es Raen Spaß zu machen, da er in ihr einen exzellenten Gegner erkannte, ob nun Frau oder nicht. Und ein hyaunisches Breitschwert gegen ein ohaoudisches Krummschwert war auch keine alltägliche Begegnung. Die beste Übung für das Turnier.
Immer wieder griff er ihren Schild an, oder, wenn sie es zu schützen versuchte, ihre offene Seite, und schließlich gelang es ihm - aber er musste zugeben, nur unter unerwartet hohem Kraftaufwand - den Schild aus ihrer Hand zu hebeln. Er flog durch die Luft und landete mehrere Schritte von ihnen entfernt im Staub. Plötzlich stand der Leibwächter zwischen ihnen, doch die Prinzessin schob ihn unwirsch zur Seite und gab ihm in ihrer, für hyaunische Ohren vollkommen unmelodisch klingenden Sprache zu verstehen, dass er sich verziehen solle. Dann wandte sie sich entschlossen Raen zu und forderte ihn mit ihrer freien Hand keck auf, weiterzukämpfen. Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Blitzschnell griff er die nun gänzlich ungedeckte Seite an und fiel auf ihre Finte herein. Sein Schwert landete zwar an ihrem Hals, aber ihres auch an seinem. Beide hielten mitten in der Bewegung inne. Es war ein Patt. Lange starrte ein jeder den anderen an, als könnten sie nicht glauben, was soeben passiert war. Die leuchtend grünen Augen Raens musterten den kohlschwarzen Blick der Prinzessin hinter den Sehschlitzen ihrer Maske. Dann löste er sich, und sie gingen langsam auseinander, so als erwarteten sie noch einen heimtückischen Angriff des anderen. Mehrere Atemzüge standen sie sich schweigend gegenüber, dann verbeugte sich Raen schließlich als Zeichen seiner Anerkennung..
„Es war mir eine Ehre, Sala ... äh, Prinzessin!“ Er richtete sich wieder auf. ‚Ein Patt! Seit über einem Jahr habe ich keinen Kampf mehr verloren’, dachte er ungläubig. ‚ Ich fass’ es nicht. Wie konnte das passieren? Und das auch noch gegen eine Frau. Schande über dich, Raen!’ Er hatte sich von ihrer vermeintlichen Schwäche verleiten lassen, nachdem er ihr den Schild aus der Hand geschlagen hatte. Aber die Ohaoudi schien ohne Schild besser zu sein, als er angenommen hatte.
Auch die Prinzessin verneigte sich förmlich. Dann klinkte sie die Maske aus einem raffinierten Mechanismus, der in dem Helm versteckt war, und nahm sie ab. Darunter kam ein dunkles, sehr ebenmäßiges Gesicht mit vollen Lippen und hohen Wangenknochen zum Vorschein, auf dem der Schweiß glänzte. Die Lippen zogen sich auseinander, und ein strahlend weißes Lächeln leuchtete ihm entgegen.
„Die Ehre war - wie sagt man - ganz auf meiner Seite. Ich hätte mir nie träumen lassen, jemals einmal gegen einen Hy und dazu noch einen Champion zu fechten!“, gab sie offen zu. „Vielen Dank für diese äußerst interessante Lektion.“
Raen überlegte, ob sie ihn auf den Arm nahm, aber er konnte in ihrem Tonfall nichts Ironisches finden und so verneigte er sich erneut.
„Ich hoffe, Ihr verzeiht meine törichte Dummheit Euch herausgefordert zu haben, ich dachte, ich hätte ...“
„Ihr hättet meinen Bruder vor Euch, nicht wahr?“ Ihre Stimme hatte einen warmen, dunklen Klang. Etwas ungewohnt für eine Frau, aber durchaus nicht unangenehm.
„Nun, ja, ...“, er fragte sich, wie alt sie sein mochte? Siebzehn, oder zwanzig? Er konnte es nicht sagen, „... so in etwa hat es sich verhalten.“
„Tja, dann sollte wohl auch ich mich bei Euch entschuldigen, weil ich den Irrtum nicht eher aufgeklärt habe.“ Sie lächelte wieder und strahlte dabei so viel Natürlichkeit aus, dass Raen ganz irritiert davon war. „Wie war noch Euer Name?“
„Raen adh Shari.“ Er verkniff sich die lange Form seines Namens, die sich hier in Borgossa als nicht sehr praktikabel erwiesen hatte.
„Raen del Shari, aus Hy“, wiederholte sie andächtig und rollte dabei das R ganz weit hinten im Rachen.
„Sal al In’Sahdi, es wird Zeit, Euren Bruder zu treffen. Er wartet bereits auf Euch“, mischte sich der Leibwächter unvermittelt in ihr Gespräch ein. Raen hatte ihn für einen Moment tatsächlich völlig vergessen.
Das Gesicht der Prinzessin verzog sich ärgerlich, und sie fuhr ihn in ihrer Sprache grob an. Der Leibwächter schwieg daraufhin geknickt.
„Nun, dieser ungehobelte Tunichtgut hier hat mich soeben daran erinnert, dass heute noch andere Verpflichtungen auf mich warten“, Sie machte eine höchst undamenhafte Geste in Richtung des Leibwächters, „wenn Ihr mich also entschuldigen wollt. Auf bald!“ Sie lächelte ihm noch einmal verschwörerisch zu, wandte sich dann um und ging.
Raen grinste in sich hinein. Er konnte nicht umhin, ihre burschikose Art zu bewundern. Also schluckte er seinen verletzten Stolz hinunter und dankte dem Schicksal für diese außergewöhnliche Begegnung, die ihm eine Lehre und ein Vergnügen zugleich gewesen war.
„Ach, Champion!“
Raens Hals ruckte herum. „Ja?“
„Gedenkt Ihr Euren Titel bei dem großen Turnier in zwei Wochen zu verteidigen?“, rief die Prinzessin ihm aus der Entfernung zu und ging dabei weiter rückwärts.
„Ja, natürlich“, rief er zurück.
„Gut, ich wollte sowieso zuschauen!“ Sie hob die Hand kurz und ging dann mit großen Schritten weiter quer über den Platz, den turmhohen Schatten ihres Leibwächters direkt hinter sich. Raen sah ihr nach und dachte an seinen Freund und wahrhaft begnadeten Frauenkenner.
‚Manoen, du alter Schürzenheld, wie immer hattest du Recht: Sie ist ein klasse Kerl!’
Anfang September war es dann soweit, von überall her kamen die Schau- und Vergnügungslustigen herbeigeströmt, um am Fest der Masken teilzunehmen und um einen Platz in den Zuschauerrängen für das große Turnier zu ergattern. Alle großen Straßenzüge waren vom Schmutz gesäubert und bunt geschmückt worden, und auch die Schiffe auf den Kanälen trugen farbige Bänder, selbst die Kanäle schienen etwas weniger zu stinken als sonst. Auch das Wetter spielte großzügig mit und bescherte warme, trockene Tage und Nächte, in denen es besonders hoch her ging, so dass die Büttel alle Hände voll zu tun hatten, die betrunkenen Streithähne, die es hier und da unvermeidlich gab, auseinanderzuhalten. Alles in allem verlief das Fest der Masken aber ohne größere Zwischenfälle, und Borgossa machte wieder einmal seinem Namen als Stadt des Friedens alle Ehre.
Raen hatte es vorgezogen, nicht mitzufeiern, um sich besser auf den Wettkampf vorbereiten zu können, und so war Manoen zusammen mit Jovani und Anthones losgezogen. Er kam die Nacht, in der die Tore der Stadt ausnahmsweise einmal offen blieben, nicht nach Hause.
Aber Manoen würde direkt zum Turnierplatz außerhalb der Stadtmauer nahe des Kastells kommen, das hatten sie so abgesprochen.
Noch vor Sonnenaufgang stand Raen auf und ging in den kleinen Gebetsraum, den sie im Hytena hatten, und den sogar eine kleine geschnitzte Holzstatuette von Hyaun zierte, um zu meditieren. Zu seiner großen Überraschung gesellte sich wenig später Hyaunset Reko zu ihm, der sich nur noch selten im Hytena blicken ließ, da er ein Zimmer in der theologischen Fakultät angeboten bekommen hatte. Doch er fühlte sich immer noch verantwortlich für diese winzig kleine Exklave des hyaunischen Glaubens und kümmerte sich regelmäßig um den Gebetsraum und die kleine Schar Gläubige, wenn sie ihn brauchten. So meditierten sie beide zusammen, zogen Kraft aus der mit Melam-Duft erfüllten Stille und der Nähe zu ihrem Gott.
„Möge Hyaun dir einen starken Arm verleihen!“, sagte Reko schließlich und zwinkerte Raen zu.
„Bist du etwa wegen mir hier hergekommen?“, fragte dieser, und der Priester lächelte väterlich.
„Sagen wir, Er hat mir ins Ohr geflüstert, dass hier jemand Beistand braucht. Zeige mir dein Schwert.“
Raen hob ihm sein Schwert entgegen. Reko schien damit vertraut zu sein, denn er zog es aus der Scheide und hielt es segnende Worte murmelnd vor die Statue Hyauns. Dann schnippte er mit dem Finger gegen die Klinge, so dass sie einen leisen Ton sang, steckte sie dann zurück und gab sie Raen. „Ich wünsche dir Glück, Hyaun Banskeid! Bringe Ehre Heim für unser Volk! Und komm vor allem heil zurück!“
„Danke, Hyaunset. Ich werde mein Bestes geben!“ Raen verneigte sich diesmal ordentlich und verließ den Gebetsraum. Ein wenig Herzklopfen hatte er schon, denn heute würde ausnahmslos mit scharfen Waffen gekämpft werden.
Er sattelte Jakori und nahm anschließend den Weg außerhalb der Vorstadt durch die Feldmark zum Kastell, das am südlichen Rand Borgossas lag und dort die Küste schützte. Zu dieser frühen Stunde kam er schnell voran und erreichte das Kastell, als die Sonne sich gerade über dem Meer erhob, das grau und unbewegt dalag.
‚Wird ein windstiller Tag heute’, dachte er. ‚Dann fliegt einem wenigstens kein Sand in die Augen.’ Er lenkte Jakori zu den weitläufigen Stallungen, wo sie ihm von einem Knecht abgenommen wurde.
„Pass bloß gut auf sie auf!“, mahnte er den Burschen, der gelangweilt nickte, weil er diesen Spruch an diesem Tage bestimmt schon ein Dutzend Mal gehört hatte.
Raen zog sich seine Jacke zurecht, behielt sein Schwert fest in der Hand und begab sich an die vier riesigen Tafeln, die am Eingang der ersten Kampfarena aufgestellt worden waren. Auf ihnen waren die Auslosungen der ersten achtzig Paarungen angeschlagen. Raen drängelte sich durch die Menge, die davor stand, und suchte seinen Namen. Es dauerte eine Weile, bis er ihn gefunden hatte. Ein Krieger aus Tan war sein erster Gegner und Raen konnte sich beruhigt ein Plätzchen suchen, um auf Manoen zu warten. Die Schwertkämpfer aus Tan konnten einem Krieger aus Hy nicht das Wasser reichen.
Manoen war noch nicht ganz ausgeschlafen, wie er fand, und er hätte gerne noch länger in den Armen des hübschen Mädchens gelegen, das er sich für diese Nacht erobert hatte, aber er hatte es seinem Freund versprochen und nun sputete er sich auf seinem Weg zum Kastell. Im geschützten Innern der Festung befanden sich die offiziellen Buchmacher, denen er vorher noch unbedingt einen Besuch abstatten wollte. In der Stadt hatte es sich zwar herumgesprochen, dass der Champion des letzten Jahres auch diesmal wieder als Favorit galt, doch die Leute von außerhalb mochten dem nicht so recht Glauben schenken, und so standen die Wettverhältnisse trotz allem ganz gut, Manoen konnte also auf ein hübsches Sümmchen Geld hoffen, wenn er alles auf Raen setzte. Mit der ruhigen Gewissheit, alles richtig zu machen, brachte er sein gesamtes angespartes Vermögen sowie das von Raen und Uma und Uke zum Buchmacher und legte es dort gut an, wie er es sagte. Es waren zusammen immerhin fünfzehn Silberlinge und die Quote stand drei zu eins. Und wenn sie am Ende gewannen, bekämen sie dafür sagenhafte fünfundvierzig Silberlinge! Das wären vier, fast fünf Pferde, vierzig Schiffspassagen, oder über hundert Besuche in La Gioia. Manoen rieb sich in freudiger Erwartung die Hände und er hörte das süße Leben bereits frohlocken. Das wichtigste aber war, dass sie mit dem Geld alle ein Jahr lang unabhängig von Machols knauserigen Zuteilungen sein würden. Und er hoffte, Raen würde dieses Mal nicht wieder so ehrlich sein wie letztes Jahr und das stattliche Preisgeld von zweihundert Silberstücken an Machol abgeben, damit es allen Bewohnern des Hytena zu Gute kam. Das war zwar ein wahrlich ehrenhafter Gedanke gewesen, ganz und gar selbstlos in seiner reinen hyaunischen Natur, aber dennoch vollkommen dämlich. Doch Manoen war zuversichtlich, dass sein Freund daraus gelernt hatte, und als er nur zum Spaß anschließend noch ein Kupferstück auf Sels Weiterkommen setzte, entgegnete er auf die entsetzte Angabe des Buchmachers hin, dass hierbei die Quote zwanzig zu eins stand - was bedeutete, es sei rausgeworfenes Geld, auf jemanden zu setzen, der so niedrig gehandelt wurde -, lediglich mit einem lächelnden: „Ich weiß!“
Fröhlich pfeifend trottete er davon. Je näher er der Kampfbahnen kam, desto dichter wurde die Menschenmenge, und er musste sich förmlich einen Weg durch das Gewühl freiboxen. Jeder wollte einen guten Platz, und hier und da entstanden die ersten Rangeleien um die begehrten Positionen, von denen aus man den besten Blick hatte. Aber die Büttel waren schnell zur Stelle und schlichteten den Streit, indem sie beide Parteien von dem Platz verjagten und ihn für glückliche Dritte freimachten. Die Tribünen waren ausschließlich für die adeligen Herrschaften vorbehalten und es gab sogar eine bequem ausstaffierte Ehrenloge, in der die obersten Stadtväter und die zu Gast geladenen Oberhäupter der Nachbarländer saßen. Der Großkönig von Graçe hatte sich wie jedes Jahr angemeldet und auch der König von Sovrano Montagne, einem unerschütterlichen Bergvolk aus dem Norden, war gekommen und würde zusammen mit den beiden Prinzen von Ohauod in dem erlauchten Kreise Platz nehmen.
Ungeduldig trommelte Raen mit den Fingern auf seinen Oberschenkel. Wo, verdammt noch mal, blieb Manoen! Immer wieder blickte er zum Eingang der Arena. Neben ihm hatten schon mehrere andere Teilnehmer auf den Bänken Platz genommen. Ihre Banner, die sie hinter sich in den Sand gesteckt hatten, hingen schlaff herunter. Solch ein Erkennungszeichen war nicht schlecht, dachte sich Raen, vielleicht sollte er sich auch einmal eines machen, mit dem Clanwappen von Shari darauf, oder ... Da krachten plötzlich von hinten zwei Hände auf seine Schultern, und er fuhr herum.
„Diese dämlichen Büttel am Eingang wollten mich nicht hereinlassen. Da musste ich hinten herum. Und? Bist du in Form?“, tönte Manoen und lächelte schief.
Zumindest war er bereits in bester Form, das roch Raen sogleich an dessen grauenhafter Fahne.
„Bis eben, bevor du mir die Schultern gebrochen hast, ging es mir prächtig!“
Manoen lachte etwas zu laut, seine Stimme war ganz rau von der durchzechten Nacht. Frech quetschte er sich neben Raen und einem ziemlich grimmig dreinblickenden Krieger auf die Bank.
„Verzeih, Bruder, aber das hier ist der ehrenwerte Champion und ich bin sein, äh ... Beistand, Capisco?“, sagte er vorlaut zu dem Krieger, als dieser etwas Unverständliches knurrte, und zu Raen: „Mann, du ahnst gar nicht, was du letzte Nacht verpasst hast!“ Er pfiff durch die Zähne und wedelte mit der Hand.
„Oh, das glaube ich ungesehen! Sind Jovani und Anthones auch hier?“
„Sie kommen etwas später, ich habe sie kaum wach gekriegt. Die beiden haben wirklich alles gegeben beim Pflügen ihrer süßen Furchen.“ Manoen kicherte, wohl bei der Erinnerung an das amouröse Abenteuer. Raen rollte mit den Augen.
„Jetzt tu bloß nicht so, als ob du keinen Spaß daran gehabt hättest! Du ...“
„Ja, ja, schon gut, jetzt halt mal die Luft an, sonst bin ich gleich ganz betrunken von deinen Alkoholausdünstungen!“
„Und das wollen wir ja nicht. Der Herr muss sich schließlich konzentrieren, denn hier geht es heute um alles!“
Raen blickte Manoen gereizt an. „Immerhin geht es um unser Erspartes!“ - ‚Und um meine Gliedmaßen!’, fügte er in Gedanken noch hinzu. „Hast du es weggebracht?“
Manoen nickte, zog den Wettschein aus seinem Jackenausschnitt, hielt ihn kurz Raen unter die Nase und steckte ihn wieder weg. Dann stützte er seine Ellenbogen auf die Knie und legte die Hände aneinander. Nervös spielten seine Finger.
Raen atmete tief durch und sah in die Runde. Eine Gruppe Spielleute und Gaukler vertrieb den Wartenden die Zeit, Akrobaten und Spaßmacher hüpften munter durch die Mitte der Arena. Die Kämpfer waren fast vollständig versammelt, und auf den Rängen drängten sich die Zuschauer noch etwas schläfrig, aber das würde sich bald ändern. Dann erspähte er Sel, der ihm schräg gegenüber saß. Er hatte einen Graçener als ersten Gegner, das hatte Raen auf der Tafel gesehen. Angewidert wandte er seinen Blick von der steif aufrecht sitzenden Gestalt in Schwarz ab und versuchte an etwas Netteres zu denken, als an seinen verhassten Landsmann. Er begutachtete die Rüstungen und Schutzpanzer der anderen Teilnehmer, die alle viel umfassender ausgestattet und aufgemacht waren als er mit seinem vergleichsweise schlicht ausfallenden Helm, seinen einfachen Arm- und Beinschienen und den metallverstärkten Schutzhandschuhen, doch das kümmerte ihn nur wenig. Er kannte seinen Vorteil.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis das Turnier endlich vom Bürgermeister der Stadt Borgossa eröffnet wurde. Und es dauerte noch einmal eine Ewigkeit, bis alle Kämpfer namentlich ausgerufen worden waren. Die Sonne verschwand gnädigerweise langsam hinter dem dünnen Gewebe einer heraufziehenden Schicht aus Dunstwolken, als gemäß der Tradition der Name des Champions ganz zuletzt erklang. Raen war überwältigt, wie viel Jubel ihm entgegengebracht wurde. Eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken, und ein leichtes glückseliges Lächeln legte sich auf seine Lippen. Er verneigte sich in Richtung der Ehrenloge und setzte sich wieder. Der Krieger neben Manoen starrte Raen mit offenem Mund an und sah dabei nicht unbedingt intelligenter aus.
„Was glotzt du so dämlich! Ich hatte es dir doch gesagt, dass er der Champion ist!“, protzte Manoen wichtigtuerisch. Doch offensichtlich verstand der Knabe kaum ein Wort Graçenisch, denn er winkte lediglich mürrisch ab. Manoen zuckte unbekümmert mit den Schultern.
Mit erwarteter Leichtigkeit startete Raen in die ersten beiden Runden und siegte, ohne sich groß anstrengen zu müssen. Jedesmal badete er hinterher im Applaus, und Manoen fungierte als sein Sprecher, heizte die Menge gekonnt noch einmal richtig an, so dass die anderen Teilnehmer ihnen schon neidische Blicke zuwarfen. Und beide genossen es jeweils auf ihre Art, im Mittelpunkt zu stehen. Sie waren ein unschlagbares Duo, boten die perfekte Vorstellung und gaben sich dabei gänzlich unbescheiden. Und genau das war es, was das Publikum wollte: Einen schillernden, selbstbewussten Helden.
Die dritte Runde hatte es jedoch in sich, denn Raens jugitischer Gegner wehrte sich lange und hartnäckig gegen seine unausweichliche Niederlage. Der Hy schaltete ihn dennoch unbarmherzig aus.
In der vierten Runde verschaffte ihm die Auslosung einen ungewohnt fintenreichen Graçener, der Raen sofort an Jovani erinnerte, aber auch dieser hatte ihm nicht wirklich etwas entgegenzusetzen.
Die fünfte und letzte Runde dieses Tages war die schnellste, die überhaupt gefochten wurde. Sie war so rasch vorüber, dass die Zuschauer ganz enttäuscht waren, als Raens Gegner schon nach zwei Streichen im Sand der Arena saß, sich die Hand hielt und nach seinem verlorengegangenem Schwert Ausschau hielt.
Es war nicht zuletzt Manoens Verdienst, dass Raen am Ende dieses doch recht schweißtreibenden Turniertages zumindest vom rein borgossinischen Publikum zum absoluten Liebling gekürt wurde. Bei der Siegerehrung stand er in der Reihe der fünf letzten und besten Kämpfer und wurde frenetisch gefeiert. Allerdings hatte Sel es zu Raens großer Verärgerung auch bis hierhin geschafft. Mit stolz geschwellter Brust stand er selbstgefällig in der Mitte der Helden, und Raen missgönnte ihm seinem Erfolg zutiefst.
Als sich nach der Siegerehrung die Menschen zu zerstreuen begannen, sah Sel ihn nur einmal kurz an. Aber in diesem einen Blick schwang so viel Verachtung mit, dass Raen vor Zorn die Hände zu Fäusten ballte. Er sehnte sich bereits danach, mit Sel die Klinge zu kreuzen und ihn in den Sand der Arena zu schicken. Er wollte ihn am Boden sehen, wollte sehen, wie er von der ganzen Menge ausgelacht würde! Manoen klopfte ihm auf die Schulter, offensichtlich hatte er seinen düsteren Gesichtsausdruck bemerkt.
„Mach’ dir nichts daraus. Er hatte eben zu leichte Gegner. Morgen machst du ihn fertig.“
„Ja!“ Raen knetete seine Handschuhe, als wären sie Sels Eier. „Ich mach’ ihn fertig!“
„So, ist’s recht! Soviel zur Einstimmung auf den morgigen Tag. Und jetzt komm, die Therme wartet auf uns.“
Obwohl es schon dunkel wurde, begaben sie sich in die Therme der Akademie, und nachdem sie sich ausgiebig im warmen Wasser geaalt hatten, brachte Manoen seine Überraschung vor, die er für Raen arrangiert hatte. Es war eine der legendären medianischen Masseurinnen, die wirklich etwas von ihrem Handwerk verstanden und den Ruf hatten, wirklich jeden verkrampften Muskel wieder geschmeidig zu bekommen - und als kleinen Nebendienst natürlich auch diejenigen, die ein Mann im Kampfe nicht benutzte. Augenzwinkernd überließ Manoen seinen schon recht schläfrigen Freund in einem kleinem Raum der Masseurin und gönnte sich selbst einen der in der Therme angestellten Walker, die gegen die Damen aus Mediana eher wie grobe Schlachter wirkten, aber schließlich hatte auch er sich heute eine kleine Wohltat verdient und ließ sich ordentlich durchkneten.
Die Endrunde am nächsten Tag wurde unter den besten fünf Kämpfern im Modus jeder gegen jeden nach Punkten ausgetragen. Es waren also insgesamt vier Kämpfe und vier Gegner zu schlagen. Übriggeblieben waren neben Raen und Sel ein Graçener, der, wie sich herausstellte, der beste Krieger am Hofe des Großkönigs war, ein schwarzbärtiger Askharer in roter Rüstung, die Raen nur allzu bekannt war, und ein etwas älterer, aber vornehm ausstaffierter Krieger aus Sesa Noviè, dessen goldverbrämter Helm und hochmütiger Gesichtsausdruck verrieten, dass es sich hierbei um einen sehr hochgestellten Adeligen handelte.
Ein jeder der Endrundenteilnehmer zog aus einem kleinen Säckchen eine Nummer, und daraus ergab sich die Reihenfolge der Kämpfe. Raen bekam als erstes den Graçener, und Sel hatte Pause. Aber er fühlte sich sehr gut heute und war in bester Siegerlaune. Die Massagen hatten Wunder gewirkt. Er spürte nicht die geringsten Nachwirkungen von den gestrigen Kämpfen und um seine Schultern und Arme warm zu bekommen, bewegte er sie ein paar Mal. Seine Handgelenke lockerte er, indem er das Schwert in verschiedene Richtungen kreisen ließ. Dann holte er sich noch einmal Manoen heran und gab ihm zur Aufgabe, sich nicht nur allein darum zu kümmern, das Publikum anzuheizen, sondern gleichzeitig auch Sel und seine anderen Gegner im Auge zu behalten. Er wollte um jeden Punkt, den diese machten, genau unterrichtet sein.
Während Raen mit dem Graçener focht und deutlich mehr Probleme damit hatte, sich zu behaupten, als am Tag zuvor, beobachtete Sel ihn abschätzend. Und Manoen beobachtete Sel. Auch ihm gefiel das betont überlegene Auftreten ihres Widersachers nicht. Er wirkte um einen Hauch zu sicher.
‚Hoffentlich bricht ihm jemand das Handgelenk’, dachte der Rotschopf verstohlen feindselig und widmete sich anschließend ganz der Präsentation von Raens erstem Sieg. Der hatte in der Zwischenzeit den Graçener in die Knie gezwungen, die Klinge an dessen Hals.
Im Parallelkampf besiegte der hochmütige Mann aus Sesa Noviè den vor Wut schnaubenden Askharer.
Die nächste Runde bescherte Raen den bulligen, immer noch hasssprühenden Askharer, der wie ein wildgewordener Stier und mit allen miesen Tücken kämpfte, die man auf Lager haben konnte. Aber Manoen sah, wie Raen ihm mit sichtlichem Vergnügen seine wohlverdiente Demütigung verpasste. Doch anstatt seine Niederlage zu akzeptieren, beschimpfte der Askharer Raen und ging hinterrücks auf ihn los. Manoen wollte schon einen Warnruf ausstoßen, doch Raen wich dem blind auf ihn zustürmenden Wüterich geschickt aus, schlug ihm mit der Breitseite seines Schwertes auf den behelmten Hinterkopf, dass es nur so schepperte, und machte ihn vollends vor dem Publikum lächerlich. Die ganze Arena lachte und pfiff lautschallend, und der Askharer trollte sich schließlich mit erheblichen Kopfschmerzen auf seinen Platz.
Manoen beobachtete, wie in der Bahn neben ihnen Sel den Graçener schlug. Der erkannte edelmütig seine Unterlegenheit an und verneigte sich vor seinem Bezwinger. Manoen spuckte verächtlich in den Sand, und als Raen zu ihm kam, reichte er ihm Wasser.
„Du hast jetzt den vornehmen Alten. Der hatte eben Pause. Sieh dich vor, er gleicht seine fehlende Kraft durch eine raffinierte Technik aus. Er ist wirklich sehr geschickt, macht einen sehr erfahrenen Eindruck und lässt sich kaum aus der Ruhe bringen. Aber sein Blick verrät dir, wann er angreift. Er blinzelt vorher!“
Raen nickte ihm dankend zu. Seine Kleidung klebte ihm schon am Körper und Sand im Gesicht. Die Sonne brannte unbarmherzig vom kaum bewölkten Himmel, und Raen nahm noch einem Schluck, bevor er sich zur nächsten Runde erhob. Manoen sah ihm hinterher. Sein Freund hatte zwei Punkte, und es waren nur noch zwei Kämpfe bis zum Sieg.
Raen stellte sich dem Sesianer gegenüber und verneigte sich. Manoen konnte sehen, dass er seinen Blick konzentriert auf den Blick des Alten gerichtet hielt.
Nach dem Startzeichen begann der Sesianer sich zu regen. Aber eher sein Schwertarm bewegte sich, als dessen Füße.
‚Seine Fußarbeit ist nicht mehr die beste’, dachte Manoen und sah, wie Raen nach einem fingierten Ausfallschritt nach links die rechte Seite des Alten angriff. Scheinbar mit Leichtigkeit wehrte dieser ab und setzte übergangslos zu einem Gegenstreich an, der Raens Rückseite nur um ein Haar verfehlte. Zusammen mit dem Publikum stöhnte Manoen entsetzt auf, als er sah, wie unüberlegt Raen vorging. ‚Konzentrier dich, Junge, den kannst du schaffen! Achte auf seinen Blick und warte auf seinen Angriff.’ Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Der Sesianer war geschickt und ließ sich nicht aus seiner vorteilhaften Position mit der Sonne im Rücken verdrängen. Manoen verkrampfte unwillkürlich die Hände. Wenn Raen seinen Gegner besser sehen wollte, dann musste er einen riskanten Sprung wagen, um auf die andere Seite zu gelangen. Er blinzelte gegen das Licht, konnte von seinem Beobachtungsposten aus kaum die tief im Schatten liegenden Augen des Gegners sehen, geschweige denn überhaupt irgendeine Gesichtsregung.
Der Angriff kam wie aus heiterem Himmel, aber zu Manoens Erleichterung reagierte Raen. Doch was tat er? Mit viel Schwung ließ er sich plötzlich auf die Knie fallen und rutschte mit zurückgebogenem Oberkörper unter der Klinge des Alten hindurch, wobei er eine Menge Staub aufwirbelte. Schnell kam er wieder auf die Beine.
Manoen, der bei diesem waghalsigen Manöver die Luft angehalten hatte, stieß sie erleichtert wieder aus, denn jetzt hatte Raen die Sonne im Rücken und beste Sicht auf das etwas verdutzte Antlitz seines Gegners.
Der blinzelte und griff erneut an. Raen trat einen schnellen Schritt zur Seite, stellte dem Alten ein Bein, und der fiel die Hände voran in den Sand. Er rollte sich zwar ab, aber zu langsam, und so stand Raen schließlich über ihm, das Schwert auf seine Brust gerichtet.
„Ich ergebe mich!“, hörte Manoen den Sesianer mit klarer Stimme sagen. Erleichtert ließ der die Schultern sacken.
Raen nickte derweil zurück und reckte dann beide Arme samt Schwert in die Höhe, um den Jubel der Menge zu empfangen. „Hana! Hana! Hana! - Ja!Ja!Ja!“, rief er dabei immer wieder, und auch Manoen ballte seine Hand zur Siegesfaust.
Nach diesem furiosen Erfolg warfen sogar die Frauen aus den etwas erlauchteren Kreisen Raen Blumen und andere kleine Dinge ihrer Gunst von der Tribüne zu. Geschmeichelt verneigte er sich vor den Damen, und Manoen hoffte inständig, etwas vom Ruhm seines Freundes würde auch auf ihn abfärben, denn dann hätte auch er demnächst eine viel bessere Auswahl bei den Mädchen. Ein bisschen beneidete er Raen darum, wie glänzend er sich darstellen konnte und deswegen auch beim weiblichen Geschlecht immer gut ankam. Und heute lagen sie ihm förmlich zu Füßen, selbst die Töchter der adeligen Herrschaften, das konnte Manoen sehen. Er seufzte bei dem Gedanken daran, eine dieser niedlichen jungen Dinger in ihren artig hübschen Kleidern abzuschleppen. Wie sie wohl in Liebesdingen bewandert waren? Bestimmt hinreißend unschuldig. Er wurde jäh aus seinen Träumen gerissen, als Sel ihn scheinbar ganz aus Versehen anstieß.
„Verabschiede dich am besten schon mal von deinem lieben Busenfreund! Ich werde ihn nämlich kaltmachen, wenn ich mit dem alten Sesianer fertig bin!“, zischte er ihm über die Schulter ins Ohr. Manoen spürte die Eiseskälte in dessen Stimme, und unwillkürlich lief ihm ein Schauer über den erhitzten Rücken. Er drehte sich hastig um. „Sel, du mies-“
„Na, na, warum denn gleich so unhöflich? Pass lieber auf, was du sagst, sonst mache ich mit dir das gleiche, wie mit ihm!“ Sel stieß sein Kinn bedeutungsvoll in Raens Richtung, der sich immer noch ausgiebig in der Aufmerksamkeit sonnte, welche der weibliche Teil von Borgossas Bevölkerung ihm überschwänglich entgegenbrachte.
Manoen wusste, dass Sel auch ihm das Leben schwer machen konnte, aber er riss sich zusammen und erwiderte: „Du kannst ihn nicht besiegen! Er ist der Beste von uns! Was willst du tun, bis aufs Blut kämpfen und ihm den Kopf abschlagen?“
„So etwas in der Art hatte ich mir gedacht. Es wäre nicht das erste Mal, wenn es auf dem Turnier zu einem tödlichen Unfall käme.“ Manoen konnte nicht sagen, ob Sel es tatsächlich ernst meinte mit dem, was er da von sich gab, und ein mulmiges Gefühl beschlich ihn, schon allein wegen der Ungeheuerlichkeit dieser Drohung. Würde Sel tatsächlich so verrückt sein, einen Landsmann umbringen zu wollen vor halb Borgossa als Zeugen? Er wollte lieber nicht über diese, wenn auch höchst unwahrscheinliche, Möglichkeit nachdenken und machte sich entschlossen von Sel los.
„Na, dann versuch’ es doch! Es wird sich ja zeigen, wer hier wem die Fresse einschlägt.“ Er ging zu Raen hinüber, der sich auf seinem Platz niedergelassen hatte und massierte ihm während der längeren Pause, die er nun hatte, die Schultern, dabei ließ er Sel nicht aus den Augen, der, wie angekündigt, wahrhaft grandios den alten Sesianer abservierte. Sein schlechtes Gewissen regte sich, und er bedauerte es, diesem überheblichen Bastard nicht auch mit Vergeltung gedroht zu haben, falls er seinem Freund etwas antat. Er blickte auf Raen hinab, der seinen Helm abgenommen hatte und sich ein Tuch mit kaltem Wasser über Kopf und Gesicht auswrang. Sollte er ihm davon erzählen, oder es lieber lassen? Was würde es bringen? Es könnte ihn nur unnötig verunsichern, wenn das überhaupt möglich war. Manoen entschied sich, es zu lassen. Wahrscheinlich war es nichts als nur heiße Luft gewesen, was Sel da von sich gegeben hatte, allein mit der Absicht sie aus der Fassung zu bringen. Alles nur mentale Kriegsführung, Sel hatte bei Im’Shumalayan sehr gut aufgepasst. Aber wahrscheinlich blieb ihm auch gar nichts anderes übrig, als zu solch armseligen Mitteln zu greifen, wenn er sich überhaupt eine Chance ausrechnen wollte. Raen würde ihm schon zeigen, wer hier der Champion war - und zwar auf ehrliche Weise! Er war einfach der Bessere. Im Geiste immer wieder diesen Satz wiederholend beruhigte sich Manoen. Er reichte Raen den Wasserschlauch, und der trank noch einmal durstig. Der Wasserverlust bei diesem Wetter war nicht unerheblich, und Manoen musste darauf achten, dass sein ‚Athlet’ immer genug zu Trinken bekam.
Dann war es soweit, und die Trommeln erklangen zum letzten Durchgang. Es war eigentlich nur noch die Frage, wer von den beiden Hy der diesjährige Champion werden würde, denn es stand jetzt zwischen ihnen drei zu drei, und alle anderen waren bereits abschlagen. Der alte Sesianer hatte sich beim Kampf gegen den Graçener durchgesetzt und hatte damit wenigstens den dritten Rang für sich sichern können. Wer aber würde nun der Sieger des Turnieres sein? Würde der alte Champion sich beweisen können, oder würde der unbekannte andere Krieger aus Hy, der offensichtlich auch großes Können vorzuweisen hatte, den Kampf für sich entscheiden und somit auch den Titel und natürlich das Preisgeld gewinnen? Die zweihundert Silberstücke standen in einem samtenen Säckchen auf einem Podest vor der Ehrenloge bereit, bewacht von sechs schwarzgekleideten Bütteln. Manoen wagte es nicht, dorthin zu sehen. Es würde Unglück bringen, dachte er und zwang sich woanders hinzuschauen.
Raen verspürte indessen erst gar nicht das Bedürfnis, schon einmal einen Blick auf die Belohnung zu werfen, denn er sah endlich seinen sehnlichsten Wunsch erfüllt: Er stand Sel gegenüber.
Strotzend vor Selbstbewusstsein, baute sich sein verhasster Kotrahent vor ihm auf, das Schwert in seiner Linken. Alles an ihm, sein Gesicht, seine Haltung, ja sogar das Blinken seines Helmes in der prallen Sonne drückte absolute Siegesgewissheit aus. Raen versuchte, dem entgegenzuhalten, indem er die Brauen über seinem Blick finster senkte und entschlossen die Schultern straffte. Er zog mit einem Ruck blank, warf die Scheide zu Manoen und sah zuerst auf die Klinge und dann zu Sel. Seine Gedanken verfinsterten sich. Ein hyaunisches Schwert sollte nie gegen das eigene Volk erhoben werden, doch heute, so spürte er, würde es ihm ganz und gar nichts ausmachen, wenn der Stahl aus Hy hyaunisches Blut trinken würde!
Manoen beobachtete die beiden schwarz gewandeten Krieger seiner eigenen Zunft, und ihn überkam ein beklemmendes Gefühl. Die Szene vor seinen Augen sollte nicht so sein, wie sie war. Es war falsch, gänzlich falsch! Es war etwas, das eigentlich gar nicht geschehen durfte. Hy gegen Hy - ein Sakrileg, das in wenigen Augenblicken vor aller Augen vollzogen werden würde. Und selbst die Zuschauer hatten bereits erkannt, dass sich dort unten in der Arena zwei Wolken aus reinem Hass verdichteten. Doch Manoen konnte nichts mehr tun, um es zu verhindern. Er konnte nur noch harren und zuschauen.
Der Kampfrichter hingegen hatte lange genug ausgeharrt, um die Menge auf die Folter zu spannen, und ließ nun endlich das Startzeichen ertönen.
Als Manoen ein für ihn ganz untypisches Stoßgebet gen Himmel sandte, krachten auch schon Sels und Raens Schwerter aufeinander, die bis zu diesem Moment noch schartenfrei geblieben waren.
Die legendären Klingen der Hy gaben einen hohen Ton von sich und schabten mit den scharfen Kanten gefährlich aneinander, während die beiden Krieger aus dem erwählten Volke Hyauns eine Weile miteinander rangelten. Als sie sich lösten, schmetterte Sel seinen Ellenbogen auf Raens linkes Ohr. Der verzog kurz das Gesicht, schüttelte den Schmerz dann aber ab, als sei er bloß eine lästige Fliege. All seine Konzentration galt nur noch darauf, den Augenblick zu erkennen, in dem Sel ihn angreifen würde. Beide versuchten sie, ihre Position zu halten, um nicht die Sonne gegen sich zu bekommen.
‚Du bleibst schön da, wo ich dich gut sehen kann, Freundchen’, dachte Raen erhitzt. Durst plagte ihn, seine Kehle war quälend trocken und das Schlucken fiel ihm schwer. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als es zu ignorieren. Plötzlich sauste Sels Klinge von unten nach oben auf seinen Schritt zu. Raen sprang nach hinten und schlug das Schwert einhändig aus seiner Bahn. Doch Sel fing die Energie ab und konterte sogleich in einer sehr gewandten Drehung mit einem Hieb auf Raens Hals. Gefährlich nahe zischte die Klinge daran vorbei. Raen sog zischend Luft ein. Das war knapp! Auch die weiteren Attacken von Sel richteten sich unmissverständlich auf seine Kehle.
Am Rande begann Manoen nun doch schlagartig an das zu glauben, womit Sel ihnen gedroht hatte.
„Bei Hyaun, er ist verrückt geworden!“, entfuhr es ihm und er wrang mit einer Hand nervös seinen eigenen Schwertgriff. Das Publikum war längst aus dem Häuschen, weil es bemerkt hatte, dass es hier um mehr als nur den Turniersieg zu gehen schien. Die absolute Schonungslosigkeit, mit der die beiden Kämpfer aufeinander losgingen, aber auch die unleugbare Schönheit der äußerst brutalen Schläge, ließ bei einigen den Schweiß auf der Haut gefrieren. Es war ein Schauspiel, das noch niemand von ihnen zuvor gesehen hatte. Etwas Vergleichbares hatte es noch nicht gegeben: Einen wahren Kampf um Leben oder Tod zwischen zwei Hy. Natürlich waren schon immer Männer bei Turnieren umgekommen, doch das war eher unbeabsichtigt geschehen. Manche waren auch erst später an den Folgen ihrer Verletzungen gestorben, und nicht wenige waren als Krüppel daraus hervorgegangen. Aber das, was hier stattfand, war etwas Außergewöhnliches. Die Menge roch, dass es hier um Blut ging, und geriet völlig außer Kontrolle. Manoen spürte die Macht des Publikums in seinem Rücken, das sich die Seele aus dem Leib schrie und Raen anfeuerte, der offensichtlich noch immer der erklärte Favorit war. Die Leute fieberten mit jedem Strauchler, mit jeder gut gelungenen Parade, und in gleicher Weise beschimpften und verwünschten sie Sel.
Lange sah es so aus, als kämpften zwei ebenbürtige Gegner gegeneinander, und als würde diese Partie nur in einem Patt enden können. Alle warteten zum Zerreißen gespannt darauf, dass einer von den beiden endlich den ersten entscheidenden Fehler machte - und auf die unweigerlich fatalen Folgen, die dieser Fehler mit sich bringen würde. Und schließlich geschah etwas, das Manoen nie für möglich gehalten hätte. Sel gelang es, unter einem wahren Stakkato von Schlägen Raen so arg in Bedrängnis zu bringen, dass dieser im Sand auf ein Knie niedergehen musste. Ein angetäuschter Schnitt auf die Kehle ließ ihn sein Schwert zur Abwehr heben, doch blitzgewandt änderte Sel daraufhin die Richtung. Sein Schlag war fast unsichtbar und traf Raen oben auf dem rechten Oberarm. Erschrocken schrie dieser auf, sprang in die Höhe und taumelte zurück. Instinktiv griff seine freie Hand zu der Wunde. Der Kampfrichter ging sofort dazwischen und unterbrach den Kampf. Enttäuscht protestierten die Zuschauer von den Rängen. Laute Buhrufe erfüllten die ganze Arena. Manoen eilte zu Raen, der in ungläubigem Zorn auf seine blutverschmierte Hand sah.
„Ist es schlimm, lass mal sehen!“, sagte Manoen besorgt und versuchte durch den Schnitt in der Jacke auf die Wunde zu blicken.
„Lass mich, es wird schon gehen!“, zischte Raen unwirsch und riss seinen Arm los.
„Aber es blutet sehr stark!“
„Geh zur Seite!“ Der Jüngere schob ihn grob aus der Linie und gab dem Kampfrichter zu verstehen, weiterkämpfen zu wollen.
Die Zuschauer begrüßten das mit begeistert rhythmischem Beifall und lautem Jubel. Manoen schnaubte besorgt. ‚Ich seh‘ mir das nicht mehr lange mit an, da kannst du einen drauf lassen!’, dachte er und wollte sich nur widerwillig auf seinen Platz zurückziehen, da wandte sich Sel an ihn.
„Siehst du, nicht einmal dein Busenfreund nimmt dich ernst, Rotschöpfchen!“, zischte er auf Hyaunisch. „Du bist eben auch nur ein weibischer Küchenheld, wie unser unverbesserlicher Grenzgänger hier!“ Er grinste bösartig.
Manoen trat mit einem schnellen Schritt dicht an ihn heran und hätte ihm beinahe seine Faust in die Weichteile gerammt, doch der Kampfrichter ging dazwischen und drängte ihn von den beiden Schwertkämpfern fort.
„Geh auf deinen Platz!“
Manoen hob beschwichtigend beide Hände. „Schon gut, ich geh‘ ja schon.“ Mit einem bitter bösen Blick an Sel verließ er die Fechtzone.
Danach sah der Kampfrichter von Raen zu Sel, nickte und trat dann zurück. Manoen sah, wie Raen die Zähne bleckte, die Schwerthand wechselte und sich in Bewegung setzte. Doch wie er wusste natürlich auch Sel, dass sein Gegner nahezu beidhändig war und veränderte dementsprechend auch seine Position. Sie umkreisten sich wie zwei bis auf den Tod verfeindete Leitwölfe.
Da Raen sich die Wunde nicht hatte verbinden lassen, sickerte unablässig Blut daraus hervor, tränkte ihm den ganzen Ärmel, und Manoen konnte sehen, wie es bald unaufhörlich in den Sand tropfte. Er hielt sich den Kopf, konnte kaum noch hinsehen. Es war töricht, dachte er, er hätte die Sache abbrechen müssen, egal was mit dem Titel und ihrem Wettgeld war, Raens Gesundheit war wichtiger!
Es dauerte, bis Sel angriff. Aber es schien, als wolle er die Partie jetzt schnell und entschlossen zu Ende bringen. Er schlug auf Raen ein, wie eine Windmühle im Sturm. Raen war gezwungen, lediglich zu reagieren, anstatt zu agieren. Bei allem, was er tat, war Sel stets schneller, und auch Manoen gewann den Eindruck, als bewegte sich Raen im Vergleich zu seinem Kontrahenten schwerfällig wie ein Ochse.
‚Oh Mann, Raen, brich den Kampf ab! Bitte! Das kann nicht gut enden!’, flehte er innerlich.
Aber Raen machte keine Anstalten, sich zu ergeben. Diese Möglichkeit, einen Kampf zu beenden, existierte für ihn nicht. Geduldig wartete er auf einen offenen Moment von Sel, wehrte sich standhaft gegen dessen zweifellos lebensbedrohende Attacken. Doch langsam kam der Punkt, an dem seine Kräfte nachließen. Sein rechter Arm war nahezu vollständig taub und kaum noch zu gebrauchen, und er gewahrte beiläufig die unzähligen roten Spritzer im Sand um ihn herum. Sein Blut! Nur mühsam drang die Vernunft in seinen Geist, und brachte ihn schließlich dazu, zu erkennen, dass es nicht möglich war, Sel mit dem Schwert zu schlagen. Also nahm er sein restliches Quäntchen an Konzentration zusammen und wagte einen letzten energischen Versuch, seinen Gegner auf andere Weise auszukontern. Er sprang unvermittelt auf ihn zu, verringerte die Distanz zwischen ihnen fast bis auf die Nasenspitze und kurz bevor er ihm seinen Kopf gegen das Nasenbein trümmern wollte, trafen sich ihre Blicke. Für den Bruchteil eines Herzschlages nahm Raen wahr, dass Sels Pupillen seltsam glasig schimmerten und etwas zu sehr geweitet waren für das starke Sonnenlicht.
‚Er hat Zhangha genommen!’, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf, und noch im selben Moment dieser Erkenntnis, dass Sel sie alle betrogen hatte, bekam er einen schweren Tritt in den Unterleib. Der Schmerz explodierte, und ihm wurde schwarz vor Augen. Seine Beine sackten weg, und Raen fiel auf die Knie. Panisch rang er um Luft und wollte sich mit letzter Kraft aufrichten, doch der Schmerz ließ ihn sich immer wieder zusammenkrümmen. Triumphierend stand Sel über ihm und holte gemächlich zum finalen Schlag aus.
„Nein, Sel!“, schrie Manoen plötzlich und stürzte erneut zwischen ihn und Raen. „Nicht! Bist du von Sinnen? Du hast doch schon gewonnen, was willst du noch! Ihn umbringen? Das macht dich nicht besser als all unsere Feinde!“ Er hatte ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheit Hyaunisch mit Sel gesprochen und schaute ihm entschlossen ins Gesicht. Kurz darauf erkannte er das Gleiche wie Raen noch vor wenigen Augenblicken. Seine Augen weiteten sich überrascht.
„Ich glaube es nicht! Du, du, bist ein Betrüger! Du hast ...“
Sel reagierte sofort und legte die Spitze seiner Klinge an Manoens Wange. Aufgebracht raunte das Publikum auf. Sie konnten zwar nicht hören, was da unten in der Arena vor sich ging, aber es war ganz offensichtlich ein Akt von wahrer Ehrenhaftigkeit, denn der Begleiter des geschlagenen Favoriten flehte um dessen Leben.
„Nun, Feuerkopf?“, provozierte Sel weiter. „Sag es ihnen! Verrate ihnen das Geheimnis unserer Kraft und liefere dein eigenes Volk ans Messer! Mach dich schuldig vor Hyaun wie er!“ Er zeigte mit der freien Hand auf Raen.
Manoen schwieg, und Sel bleckte seine Zähne zu einem widerlichen Grinsen.
„Du bist und bleibst ein elender Feigling! Vollbringst deine Heldentaten lieber in den Betten der Huren, als dich deiner Verantwortung zu stellen. Du bist wie der Versager da ein Schandfleck für unsere gesamte Kriegerschaft. Aber wenigstens hast du einmal gezeigt, dass du deine Eier nicht nur zum Herumvögeln benutzt, und hast dich für jemanden eingesetzt. Alle Achtung, eine große Tat!“ Mit einer schnellen Bewegung schnitt er Manoen die Wange auf. Der blinzelte überrascht und hielt mit einer Hand das hervor sickernde Blut auf.
„Ein schönes Erkennungszeichen für alle fehlgeleiteten Kreaturen unter uns. Jetzt siehst du deinem Busenfreund zum Verwechseln ähnlich!“ Sel steckte mit einer schwungvollen Geste das Schwert weg.
Manoen rang mit seinem aufsteigenden Zorn. Am liebsten hätte er seine Klinge gezückt und Sel auf der Stelle zum Schweigen gebracht, aber er konnte es nicht. Er konnte es einfach nicht! Er war so feige, wie Sel gesagt hatte. Er hatte nicht den geringsten Mumm in den Knochen! Er war ein Tunichtgut und ein elender Maulheld, aber kein tapferer Krieger. Sich in sein Schicksal ergebend, welches ihm offensichtlich für sein ganzes Leben beschert war, ließ der hünenhafte Manoen den Kopf hängen.
„Danke, dass du ihn verschont hast!“, sagte er, grüßte zu Sels Erstaunen artig nach hyaunischer Etikette und wollte sich daran machen, Raen aufzuhelfen.
Der würgte indes zu Füßen seiner beiden Landsleute Galle hervor und rang um seine Besinnung. Den Wortwechsel zwischen Sel und Manoen hatte er offensichtlich nicht mitbekommen.
„Warte! Zuerst will ich von ihm hören, dass er aufgibt!“, forderte Sel.
Kopfschüttelnd ließ Manoen seinen Freund los.
„Na, los Grenzgänger, sag es!“
Raen sah zwischen zwei Würgekrämpfen auf und flüsterte ergeben: „Ich gebe auf.“
„Wie bitte? Ich habe es nicht gehört!“
„Sel, jetzt lass es gut sein“, wollte Manoen beherzt eingreifen.
Doch Sel fuhr ihn an: „Schweig endlich du Missgeburt!“ Und zu Raen gewandt: „Los, Versager, steh auf und sag es so, dass alle es hören können!“
Raen quälte sich auf die Beine, stellte sich so aufrecht hin wie er konnte und sagte laut auf Graçenisch, den Blick nicht von Sels verhasster Visage lassend: „Ich - gebe - auf!“
Sel nickte affektiert großmütig und wandte sich ab. Dann stellte er sich vor das begeisterte Publikum und ließ sich endlich als Sieger des großen Turnieres feiern.
Im Schatten des nicht enden wollenden Jubels hakte Manoen Raen unter und schleppte ihn davon. Fort aus der Arena, gänzlich unbeachtet von der Menge, die nur noch Augen für den neuen Campione hatte!
Von der Ehrenloge aus, die einen guten Ausblick bot, verfolgte ein einziges dunkles Paar Augen besorgt den Weg der beiden Hy durch die Menschenmassen. Prinzessin Keï hatte Mühe gehabt, bei allem, was sich dort unten zu ihren Füßen abgespielt hatte, ruhig auf ihrem Platz sitzen zu bleiben. Sie hatte mit dem einnehmend freundlichen Hy, der sie vor ein paar Wochen so ungeniert herausgefordert hatte, mitgefiebert, ihm jeden Sieg gegönnt und ihm heimlich die Daumen gedrückt. Doch jetzt war der andere Hy der Champion. Nicht der große Bursche mit dem lustigen Gesicht und dem ansteckenden Lachen, den sie aus der Lektion bei Maestro D’Alfaro kannte, sondern noch ein weiterer Hy-Krieger, von den sich offensichtlich drei an der Akademie aufhielten.
Unterdessen trat Sel vor die Ehrenloge und verneigte sich linkisch vor den königlichen Herrschaften und den Stadtvätern Borgossas. Sein Name wurde vom Sprecher des Turnieres an den Bürgermeister getragen. Keï blickte sich zu dem beleibten Mann um, der aufstand und huldvoll nickte. Mit einer einzigen Handbewegung brachte er die immer wieder Hurra schreiende Menge zum Schweigen.
Mit regungsloser Miene verfolgte Keï die Siegerehrung, während ihr Bruder neben ihr ganz begeistert applaudierte.
„Diese Kämpfer aus Hy sind doch wirklich erstaunlich! Wie sie das nur machen? Keï, was sagst du? Man sollte sie doch glatt als Lehrmeister der Schwertkunst engagieren, oder als Leibwächter“, sagte er fröhlich.
Keï schwieg. Nachdenklich sah sie zu, wie dem neuen Campione seine Belohnung überreicht wurde, und dieser sich geheuchelt bescheiden dafür bedankte. Obwohl sie ihn nicht kannte, verspürte sei tiefe Abneigung gegen diesen Kerl, der etwas Steifes und irgendwie Gehemmtes an sich hatte, und sie wurde das Gefühl nicht los, dass es sich bei dem neuen Campione um einen Kotzbrocken handelte.
Nachdem die Prinzessin von Ohaoud allem Anstand genüge getan und so lange ausgeharrt hatte, bis die Siegerehrung vorbei war, stand sie abrupt auf und verließ mit ihrem Bruder, der sich wunderte, worüber seine Schwester so erzürnt war, die Arena. Den ganzen Weg zurück in ihr Quartier, das in einer sehr vornehmen Kaufmannsvilla im modernen westlichen Nuovo Çirco war, ließ Keï die Sache nicht los. Was war da in der Arena vorgefallen? War es eine Stammesfehde, oder warum hatten die angeblich so friedliebenden Hy gegeneinander gekämpft, als wollten sie sich gegenseitig vom Antlitz dieser Welt tilgen? Was steckte dahinter? Wie alles, das auch nur annähernd eine Art von Geheimnis in sich barg, weckte auch dieses Rätsel ihr Interesse an dem mysteriösen Volk, über das offenbar keiner etwas Glaubhaftes zu erzählen wusste. Alles, was ihr über die Hy bekannt war, war, dass sie in ihrem abgeschotteten Land einträchtig miteinander lebten, nicht lügen konnten und einen komplizierten Kriegerkodex pflegten. Und dass die Askharer es immer wieder versuchten, sie unterwerfen, es ihnen aber nicht gelang. Wo wohnten diese Leute hier in Borgossa eigentlich? Und wo würde sie Raen del Shari finden, um ihm ihre Anerkennung für seine Leistungen aussprechen und sich versichern zu können, dass er in Ordnung war? Sie kannte ihn ja eigentlich gar nicht, aber auf unbestimmte Weise mochte sie den forschen Scolario, der sie als erster Mann nicht gleich mit anzüglichen Bemerkungen oder zu viel der Hochachtung ob ihrer Prinzessinnenwürde überschüttet hatte. Und sie musste zugeben, dass sie beeindruckt war von seiner ungewöhnlich kunstvollen Art mit dem Schwert umzugehen, von der sie - und Hunderte andere Zuschauer - heute Zeuge geworden war.
Mehrere Tage verkroch sich Raen wie ein waidwundes Tier in seinem Zimmer. Manoen war darüber sehr besorgt, denn nach dem Turnier hatte er weder die Wunde seines Freundes noch dessen angeschlagenes Gemüt versorgen können. Mit allem, was seine Überredungskunst zu bieten hatte, versuchte er, ihn aus seinem Zimmer ans Tageslicht zu locken. Doch leider vergebens. Es gelang ihm erst, als er einen Brief erhielt, der an Raen gerichtet war. Es war ein kleines, gefaltetes Papier mit dem Siegel Ohaouds darauf, und Manoen wunderte sich sehr darüber. Er barst vor Neugier, als er ihn Raen überreichte. Der stand im Spalt seiner Tür, hielt den Brief in seiner nicht ganz ruhigen Hand und starrte eine Weile abwesend darauf hinab.
„Willst du ihn nicht aufmachen?“, drängte Manoen gespannt.
Raen blickte von dem Brief zu ihm auf. Er war leichenblass und hatte tiefe Ringe unter den Augen. Der Blutverlust musste ihm noch zu schaffen machen, dachte Manoen, es war nicht wenig, was er bei dem Kampf verloren hatte.
Aber statt seinem Freund zu antworten, wollte Raen einfach die Tür vor dessen Nase schließen.
„Halt, warte! Jetzt lass mich doch endlich mal auf deine Wunde schauen“, erzürnte sich Manoen und stellte einen Fuß in den Türspalt.
Raen blickte auf den Fuß und dann wieder in das Gesicht des Rotschopfes. Willig aber wortlos ließ er ihn schließlich ein.
Das Zimmer war ein wüstes Durcheinander, die wenigen Habseligkeiten, die Raen besaß, lagen überall verstreut herum.
‚Was hat er hier nur veranstaltet?’, wunderte sich Manoen, während er sich umsah. Er deutete auf Raens Lager, das der einzig ordentliche Platz in diesem Raum zu sein schien, und sagte ihm mit angemessenem Nachdruck, er solle sich dort hinsetzen. Aus den Augenwinkeln registrierte er, dass Raen den Brief unachtsam zu Boden segeln ließ. Mit einem leisen Rascheln landete er zwischen all den anderen Papieren.
‚Oh, Raen, du ignoranter Kerl’, verwünschte Manoen seinen Freund enttäuscht, wandte sich dann aber der Untersuchung von dessen Oberarm zu - immerhin hatte er wenigstens das erreicht. Behutsam entfernte er den verkrusteten Verband, den Raen offensichtlich seit dem Tag des Turnieres nicht ausgewechselt hatte und besah sich den Schnitt. Zu seiner Beruhigung stellte er fest, dass die Wunde nicht auseinanderklaffte und sich auch nicht entzündet hatte. Es hatte ja auch ganz ordentlich geblutet, so hatte sich nichts festsetzen können! Er entschloss sich, die Wunde so zu lassen und lediglich einen frischen Verband anzulegen. Raens Körper würde schon allein damit klar kommen, aber er brauchte dennoch etwas Stärkung.
Nachdem Manoen seinen niedergeschlagenen Freund versorgt und ihm den Rat gegeben hatte, sich mal wieder zu waschen, verließ der Hüne das Zimmer und braute eigenhändig eine kräftige Suppe für den Verletzten.
Doch Raen gab ihm wenig später zu verstehen, weiterhin allein sein zu wollen. Er nahm lediglich die Schale mit der dampfenden Flüssigkeit in Empfang und zog sich in sein Zimmer zurück. Die ganze Zeit über hatte er kein einziges Wort mit Manoen gesprochen.
Der Rotschopf aber ließ sich nicht von dem kränkenden Verhalten seines Freundes beirren und versuchte beharrlich weiter, zu ihm durchzudringen. Er fürchtete, der jüngere Krieger könnte schwermütig werden und bis in alle Ewigkeit selbstmitleidig in seiner dunklen Kammer vor sich hinvegetieren. Obendrein verpasste Raen Tag um Tag all seine Lektionen, und Maestro Karbald war schon höchst ungehalten. Die Geduld sämtlicher Maestros würde nicht mehr von allzu langer Dauer sein, schätzte Manoen, und deshalb musste er Raen dazu bringen, aus seinem Schneckenhaus herauszukommen und wieder am Leben teilzunehmen.
Nur wie? Einerseits war es ja ganz gut gewesen, dass der unglückliche Verlierer des großen Turnieres die ersten Tage zu Haus geblieben war, denn die ganze Stadt sang ein Loblied auf den neuen Champion. In allen Straßen und auf allen Plätzen sprach man von nichts anderem als von diesem schon legendären Kampf, und immer wieder konnte man hören, wie die Leute ehrfürchtig einen Namen nannten: Sel!
Der miese kleine Bastard und sein Triumph waren überall in aller Munde. Und natürlich konnte Sel es nicht lassen, bei jeder sich bietenden Gelegenheit über Raens Niederlage zu spotten und sich damit zu brüsten, dass er derjenige war, der den alten Champion gestürzt hatte. Er war hochmütig und anmaßend, und Manoen wünschte ihm regelmäßig die Pest an den Hals - was nahezu jeden Abend geschah, wenn sie zum Essen beisammen saßen.
Bis auf Machol hatte Sel mittlerweile das ganze Hytena gegen sich aufgebracht. Und das nicht nur, weil sie ihn in seiner Art jetzt endgültig unausstehlich fanden, sondern weil jeder wusste, dass Sel sie alle betrogen hatte. Ausgerechnet Sel, der stets gerechte Banskeid, der immer so ausdauernd über den strengen Einhalt sämtlicher Regeln gewacht hatte und den Pfad der Tugend so inbrünstig gegangen war wie kein anderer. Ausgerechnet er hatte nun diesen schwerwiegenden Fehler begangen und damit bei allen Bewohnern des Hytena vorerst seine Glaubwürdigkeit verspielt. Doch das schien Sel nichts auszumachen, er hatte ja jetzt ein anderes, viel größeres und dankbareres Publikum und schwelgte gänzlich unbescheiden - wie es einem bestechlichen Charakter wie ihm nachkam - in der Tatsache, eine berühmte Persönlichkeit zu sein.
Jeden Tag brachte Manoen Raen seine Suppe und gebratenes Fleisch. Ständig lauschte er an dessen Tür und machte lustige Bemerkungen, wenn sie sich einmal einen Spalt öffnete. Er sagte dann so etwas wie: „Dein Pferdchen Jakori vermisst dich und betrügt dich mit dem Hengst von Uke“, oder „Karbald sehnt sich nach deinem Arsch!“
Aber nichts hatte eine Wirkung, Raen blieb in seinem Jammertal. Bis Manoen plötzlich etwas einfiel.
„He!“, rief er eines Tages gegen die geschlossene Tür. „War dein Bruder eigentlich auch so verstockt wie du jetzt! Muss wohl in der Familie liegen, was? Die Familie der Trotzköpfe! Mann, euch möchte ich auf keinen Fall allen auf einmal begegnen!“ Still wartete er einen Moment, und gerade als er sich zu einer neuen Beleidigung aufschwingen wollte, wurde die Tür aufgerissen. In Form eines kreidebleichen und weißgewandeten Phantoms schoss Raen aus dem Dämmerlicht seiner Kammer und verpasste ihm einen sauberen Kinnhaken mit seiner Rechten.
Manoen prallte rücklings gegen das Geländer der Galerie und hielt sich überrascht das Kinn. Dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, seine Taktik hatte funktioniert.
„Junge, dein Arm hat schon wieder ganz schön Kraft!“, sagte er fröhlich, aber Raen wollte erneut auf ihn losgehen. „He, komm zu dir! Das war doch nicht ernst gemeint. Hallo, ich bin’s: Manoen. Willkommen unter den Lebenden!“ Er fing Raens Arm mühelos ab, warf sich mit seiner viel schwereren Körpermasse gegen ihn und schob ihn an die Wand. Wie ein lichtscheues Wesen aus dem tiefsten Dickicht des Waldes blinzelte Raen mehrmals hektisch, während Manoen ihn festhielt.
„Ho, alles klar?“ Der Rotschopf winkte mit einer Hand vor Raens Augen, und langsam schien dieser sich zu entspannen. Er ließ ihn los. Mit in die Hüfte gestemmten Fäusten musterte er seinen Freund, der nur ein Untergewand trug, das zu seinen besten Zeiten einmal weiß gewesen war, und offensichtlich die Hose, die er schon auf dem Turnier angehabt hatte, denn Manoen konnte rostrote, längst eingetrocknete Blutflecken darauf erkennen. Unbewusst rieb er sich mit einem Finger unter der Nase.
„Hab’ ich dir wehgetan?“, fragte Raen schließlich kleinlaut.
„Was meinst du? Dass du mich tagelang ignoriert hast, und dein äußerst stetes und unfreundliches Schweigen, oder meinst du etwa deinen Kinnhaken?“ Manoen kam nicht umhin etwas vorwurfsvoll zu klingen.
Raen sah ihn blinzelnd an.
„Äh, nein, ich ... oh Mann, ist mir schummerig.“ Er ließ sich an Ort und Stelle an der Wand hinab auf den Hintern sinken.
Manoen bekam Mitleid mit dem Tröpfchen Elend, das da vor ihm hockte, überwand seinen Ekel ob dessen mangelnder Körperhygiene und setzte sich neben seinem Freund nieder.
Eine Weile sagte keiner etwas. Der Tag neigte sich dem Ende entgegen, und ein Streif roter Dämmerung trat über dem gegenüberliegenden Dach des Innenhofes an den Himmel.
„Es tut mir leid, Manoen!“, entschuldigte sich Raen schließlich mit fester Stimme, und der Hüne nickte einvernehmlich.
„Ist schon gut. War nicht so schlimm - der Kinnhaken, meine ich.“ Demonstrativ fuhr er sich über die Stelle am Kinn, die langsam bläulich anlief.
„Sag, was ist denn das?“, fragte Raen plötzlich ganz erstaunt und zeigte auf den verheilenden Schmiss, der Manoens linke Wange zierte.
„Oh, erinnerst du dich nicht? Es ist ein Andenken, das mir Sel auf dem Turnier in seiner großzügigen Art verehrt hat.“
Raen schüttelte mit dem Kopf. „Wieso hat er das getan?“
„Er ist der Ansicht, es sei ein gutes Erkennungszeichen für jene Leute unseres Volkes, die sich an Hyauns Gesetzen vergangen haben. Kurz gesagt für Leute wie dich und mich. Er nannte uns, warte mal ... fehlgeleitet.“
Raen sah ihn verständnislos an.
„Und er sagte noch etwas. Er nannte dich ‚Grenzgänger’.“
„Ach, das ... das hat nichts zu bedeuten, er nennt mich schon die ganze Zeit so.“
„Warum denn das?“
„Hat er das etwa noch nicht herumerzählt?“
„Nein.“
„Wie ungewöhnlich für ihn!“, befand Raen. „Komisch, nur verspüre ich trotzdem keinerlei Bedürfnis, ihm dafür zu danken. Dieser Bastard! Durch seinen hinterhältigen Betrug hat er all das zerstört, was ich mir ganz allein aufgebaut hatte. Ich fühle mich von ihm bestohlen!“ Die Bitterkeit darüber stand ihm ins Gesicht geschrieben, und Manoen sah, wie Raen hart schluckte.
„Haben wir jetzt unser gesamtes Geld verloren?“, fragte Raen nach einer Weile.
„Ich fürchte ja. Aber ein klein wenig haben wir zurückgewonnen. Ich hatte nämlich aus Spaß auch auf Sel gesetzt.“
„Du Verräter hast was getan? Du hast auf Sel gesetzt!“, empörte sich Raen darüber.
„Die Quote war ganz gut, aber es hat trotzdem nicht gereicht.“
„Wie viel?“
„Fünfzehn Silberlinge haben wir verloren und zwei haben wir gewonnen. Geteilt durch vier macht das fünf Kupferstücke für jeden. Nicht gerade ein Vermögen.“
„Es tut mir leid“, entgegnete Raen geknickt, aber Manoen winkte ab.
„So ist das Schicksal! Es ist nicht deine Schuld. Ich gebe dir deinen Anteil morgen wieder, falls du damit leben kannst, dass es Geld ist, welches wir Sel zu verdanken haben.“
„Pfhh, Geld ist doch eh schmutzig, oder nicht? Da macht das auch nichts. Hat Sel das Preisgeld eigentlich Machol gegeben?“
Manoen nickte.
„Oh, wie überaus großzügig von ihm! Er ist und bleibt doch ein wahrer Ehrenmann!“, stieß er verächtlich aus. Daraufhin berichtete Manoen, wie es im Hytena tastsächlich um Sel stand, und Raen hörte mit sichtlich wachsender Genugtuung zu.
„Dann hat er also tatsächlich Reko bestohlen! Ich hatte mich nämlich schon gefragt, woher er das Zhangha hat, da wir ja alle keins besitzen.“
„Ja, Reko hat nachgesehen und festgestellt, dass ihm etwas fehlt“, bestätigte Manoen.
„Ein starkes Stück! Das macht die ganze Sache natürlich nicht unbedingt besser für ihn! Geschieht im daher ganz recht, dass hier keiner mehr etwas mit ihm zu tun haben will.“ Raen schnalzte mit offenkundiger Schadenfreude mit der Zunge. „Und was ist sonst noch so passiert, während ich ... naja, du weißt schon?“
„Nichts Besonderes, außer dass du an der Akademie vermisst wirst. Viele haben nach dir gefragt. Von Jovani und Anthones soll ich übrigens die besten Grüße bestellen. Aber jetzt erzähl du lieber erst mal, was in diesem ominösen Brief stand, den du bekommen hast.“
Raen runzelte die Stirn. „Was für ein Brief ?“
„Na, den Brief mit dem Siegel von Ohaoud! Ich habe ihn dir vor fünf Tagen gegeben.“ Manoen stand auf, ging in Raens Zimmer, wühlte zwischen den Papieren auf dem Fußboden und kam mit dem Brief in der Hand wieder hinaus. Er war noch immer ungeöffnet.
„Bitte schön“, sagte er, gab das Schreiben an seinen Freund und setzte sich wieder. Gespannt wartete er darauf, dass er es endlich öffnen würde.
Doch Raen drehte ihn lediglich mehrmals in den Händen. Er schien aus irgendeinem unerfindlichen Grund misstrauisch.
„Was mag das bedeuten?“, fragte Raen mehr sich selbst.
„Ganz einfach: Wenn du ihn aufmachst, dann wirst du es wissen!“, drängte Manoen mit kaum verhohlener Neugier.
„Ist ja schon gut!“, sagte Raen und erbrach das Siegel. Er überflog den Inhalt und gab den Brief dann an Manoen weiter. Er griff danach, wie ein hungriger Bettler nach einer milden Gabe schnappt, wenn man sie ihm vor die Nase hielt.
„Sennore Raen del Shari!“, las er laut vor. „Ich hoffe, Ihr seid wohlauf und habt die Folgen des Kampfes gut überstanden. Es war mir eine außerordentliche Freude, Euer erfolgreiches Fortkommen über das gesamte Turnier aufmerksam verfolgen zu können. Da Ihr vorher so freundlich gewesen seid, Euch mit mir bekannt zu machen, wusste ich, wem ich ohne Bedenken die Daumen drücken konnte.
Ich denke, selbst Personen meines Ranges sollte es gestattet sein, Euch den gebührenden Respekt für Eure bei dem Turnier erbrachte Leistung aussprechen zu dürfen. Ich habe Euch bei der Siegerehrung vermisst!
In Anerkennung und mit den besten Wünschen für eine recht baldige Genesung,
Sal al In’Sadhi Keï Karima-Esala el Ohauod!”
Manoen sah seinen Freund an. „Wie um alles in der Welt hast du denn das angestellt?“ Raen hob die Schultern.
„Davon hast du mir gar nichts erzählt“, sagte Manoen. Er war ein wenig beleidigt. „Ihr habt euch also ‚bekannt gemacht’.“ Er gab Raen den Brief zurück.
„Das habe ich dir sehr wohl erzählt. Ich hatte sie irrtümlich für ihren Bruder gehalten und sie zum Kampf herausgefordert.“
„Du willst mir doch nicht weismachen, dass diese eine Begegnung solch einen Eindruck bei ihr hinterlassen hat, und sie dir deshalb jetzt schreibt!“
„Keine Ahnung.“
„Ich fasse es nicht, die Prinzessin von Ohaoud schreibt dir einen Brief, und du weißt nicht, warum?“ Der Rotschopf schüttelte den Kopf. Zum ersten Mal in seinem Leben gingen ihm die Worte aus.
„Warum bringt dich das so aus dem Häuschen?“, wollte Raen wissen. Der Brief schien ihn nicht im Geringsten zu beeindrucken.
„Tz, du kannst dämliche Fragen stellen! Junge, es ist eine große Ehre, wenn man solch eine Bezeugung von einer Prinzessin erhält!“
„Ehre! Was ist das schon? Ich habe doch all meine Ehre auf dem Turnierplatz verloren, aber es ist nett von ihr, dass sie mir trotzdem schreibt. Und jetzt hör auf, darum solch ein großes Gewese zu machen!“
‚Ich mache kein Gewese!‘, dachte Manoen. ‚Es ist viel schlimmer, denn du bist der größte Ignorant, den ich kenne! Was würde ich dafür tun, einen solchen Gunstbeweis von einer Frau wie der Prinzessin zu bekommen! Aber Dir fliegt stets die Gunst sämtlicher Mitmenschen zu, ohne dass du viel dafür tust und weißt es nicht einmal zu schätzen!‘ Eingeschnappt blies er die Backen auf.
„Du kannst ganz beruhigt sein, ich werde dir die Prinzessin schon nicht wegschnappen!“, beruhigte Raen ihn scherzhaft und verzog dabei flegelhaft das Gesicht.
„Ach, das ist es doch gar nicht!“, schnaubte Manoen. „Bist du eigentlich immer so undankbar den Leuten gegenüber, die dir Gutes wollen und sich um dich sorgen? Aus welchen Gründen auch immer du es schaffst, dass sie das überhaupt tun bei deiner ungehobelten Art!“
Raen schien zu spüren, dass Manoen ehrlich entrüstet war, denn er hob eine Hand.
„Entschuldige bitte, es war nicht meine Absicht, dich zu kränken! Was hast du nur?“
Manoen platzte fast der Kragen bei so viel Begriffsstutzigkeit. Er wandte sich seinem Freund zu und sah ihm ins Gesicht. „Die Frage ist doch wohl eher, was du hast? Warum hast du nicht einmal mir gegenüber den Anstand, zuzugeben, dass du dich geschmeichelt fühlst!“
Raen hob begütigend beide Hände. „Aber natürlich fühle ich mich geschmeichelt, und es freut mich auch, dass ich diesen Brief bekommen habe. Und, ja, es ist eine verdammte Ehre! Bist du nun zufrieden?“
Doch für Manoen klang diese Antwort noch immer recht unglaubwürdig. Es machte ihn fertig, nicht bis zu Raens eigentlichen Gedanken vorzudringen. Der Kerl verheimlichte ihm etwas. Nur was? Er tat so, als schmolle er, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete ab.
Sie schwiegen eine ganze Zeit lang. Es war ein nachdenkliches Schweigen auf beiden Seiten. Der rote Streifen am Himmel war lange verschwunden, und die Dunkelheit senkte sich langsam über den Dächern des Hytena.
„Da ist noch etwas, Raen“, sagte Manoen schließlich ernst. Er hatte noch eine schlechte Nachricht.
Sein Freund sah ihn im schwindenden Licht fragend an.
„Ich habe zwar Bauchweh dabei, aber ich finde, du solltest es wissen.“ Manoen zögerte.
„Ja, und? Was ist es?“, bohrte Raen ungeduldig nach.
Manoen wand sich noch immer, er wusste, dass er Sels Schicksal besiegelte, wenn er es Raen erzählte. Er blickte unverwandt zurück und sah die grünen Augen in dem geisterhaft bleichen Gesicht unheilvoll schimmern.
‚Wie zwei Wolfsaugen’, dachte er, ‚und wie ein Wolf würde er seinen ungeliebten Widersacher auch zerreißen! Verdammt, Manoen, jetzt nimm dich zusammen. Du hast damit angefangen, also bringst du es jetzt auch zu Ende! Du Hasenfuß, aus dir wird nie etwas Anständiges werden, wenn du nicht einmal über deinen eigenen Schatten springst!’ Er kämpfte mit sich selbst, gab sich schließlich aber einen Ruck. „Raen, Sel wollte dich nicht bloß demütigen, er wollte dich umbringen!“, presste er mit gedämpfter Stimme hervor.
„Was?“ Es war ein ungläubiger Ausruf des Erstaunens, dem ein leicht hysterisches Lachen folgte. „Sel wollte mich umbringen?“ Unangenehm laut hallte Raens Stimme über den mittlerweile dunklen Innenhof.
Manoen nickte schnell und sah unbehaglich geradeaus.
„Ich fasse es nicht! Ist das wahr?“
„Er hat es mir vor eurem Kampf gesagt.“
„Diese hinterhältige Ratte! Und du hast mich nicht gewarnt?“ Raen war wirklich aufgebracht, das sah Manoen, aber er nahm all seinen Mut zusammen und stellte sich dem berechtigten Zorn seines Freundes entgegen. Es war das erste Mal, dass er das tat und er fühlte sich ganz elend dabei. „Ich habe gedacht, er sagt das nur, um uns zu verunsichern. Ich habe es nicht ernst genommen. Ich hätte doch niemals gedacht, dass er tatsächlich so verrückt ist!“
Er sah, wie Raen sich hart auf die Unterlippe biss. „Das erklärt ja dann wohl auch, warum er ständig auf meine Kehle gegangen ist. Ist er denn von allen guten Geistern verlassen?“
„Vielleicht hat er riskiert, dich zu töten, weil es seine einzige Möglichkeit war, dich in die Enge zu treiben. Damit er die Oberhand gewinnt, weißt du?“
„Er hat verdammt noch mal Zhangha genommen und deshalb hat er mich besiegt. Aus keinem anderen Grund. Ich wäre schon mit ihm fertig geworden, wenn er ehrlich gekämpft hätte. Nein, Manoen, dass sein Hass auf mich groß ist, habe ich ja geahnt, aber dass er so weit gehen würde, mich auch töten zu wollen … Nur gut, dass ich das jetzt weiß.“ Raens Worte klangen durch und durch unheilverheißend, und Manoen spürte nun doch leichtes Unbehagen in seine Eingeweide sickern. Er hatte Sel verraten, hatte ihn bewusst an Raens Zorn ausgeliefert, und der konnte fürchterliche Ausmaße annehmen, wie er wusste. Er seufzte. ‚Du hast dich einmal dazu entschieden, den hyaunischen Weg nicht weiterzugehen, also sei wenigstens hier ein einziges Mal in deinem Leben geradlinig’, ermahnte er sich betrübt. In Momenten wie diesem wurde ihm stets sehr deutlich vor Augen geführt, dass sein Leben durch diesen Entschluss in manchen Belangen nicht unbedingt einfacher geworden war.
„Was ist? Bereust du es etwa, es mir erzählt zu haben?“ Wie so oft traf Raen den Nagel genau auf den Kopf, und Manoen fühlte seine Befürchtungen immer mehr bestätigt. Er spürte deutlich den Zorn, den sein Freund zu unterdrücken versuchte. Hilflos hob er die Hände von seinen Knien. „Wenn ich mir vorstelle, was du mit ihm anstellen wirst, dann weiß ich nicht, ob es tatsächlich richtig gewesen war.“
„Ach, was werde ich denn mit ihm anstellen?“, fragte Raen bissig wie ein gereizter Köter.
„Etwas Schlimmes.“
„Oh, ja, das ist gewiss!“, raunte sein Freund bedeutungsvoll.
„Aber du wirst ihn nicht umbringen, oder?“ Manoen hatte nun tatsächlich Angst davor, etwas Schlimmes in die Gänge gebracht zu haben.
„Was denkst du bloß von mir, mein Freund? Sel vom Antlitz dieser Welt zu tilgen wäre zwar eine äußerst edelmütige Tat, aber es wäre gleichzeitig auch eine viel zu große Belohnung für ihn, sich nicht mehr länger mit seiner eigenen Unzulänglichkeit herumschlagen zu müssen. Nein, nein, soweit werde ich es nicht kommen lassen. Aber ich will, dass er leidet, ganz fürchterlich leidet!“ Raen strich sich mit beiden Händen entschlossen über die Oberschenkel. „Und bevor du es versuchst, Manoen, du wirst mich durch keinerlei Einwände deinerseits daran hindern können, so vernünftig sie auch erscheinen mögen. Vergiss es also gleich!“
„Das hatte ich befürchtet!“, seufzte Manoen, aber wider besseren Wissens setzte er trotzdem zu einem Bekehrungsversuch an: „Bitte, Raen, denk an dein Studium! Denk an deine Liebste zu Hause. Was würde sie dazu sagen, wenn du noch länger von ihr fort wärest, nur weil du eine dumme Tat begehst? Würde sie es verstehen? Du willst sie doch heiraten - ist das nicht etwas, für das es sich lohnt, daraufhin zu arbeiten, anstatt sich Hals über Kopf in einen blödsinnigen Rachefeldzug zu stürzen? Du kannst dich glücklich schätzen, dass du deine Suneka hast, denn ich wünschte, ich hätte zu Hause auch nur einen, der auf mich wartet! Wirf das nicht weg.“
„Suneka würde auch noch ein Jahr länger warten!“
„Bist du dir da so sicher?“
„Ja! Und auch meine Familie würde das tun.“
„Dein Bruder auch?“
„Netter Versuch, Manoen, aber es bleibt dabei!“ Raen erhob sich. „Ich werde mich rächen, ob du es willst oder nicht. Ich hätte es ohnehin getan, ob du Sel nun verraten hättest, oder nicht. Den Schuh brauchst du dir nicht anzuziehen, wenn es das ist, was dich beunruhigt.“
Reichlich niedergeschlagen blieb Manoen sitzen, als Raen mit langen Schritten auf die Treppen zuging und sie hinunterstieg. Er überquerte den Hof und verschwand im Waschraum.
Das hatte er nicht bezwecken wollen, als er seinen Freund aus seiner Starre geweckt hatte, dachte er finster. Aber Raen war auch alles andere als ein friedfertiger Zeitgenosse, und er hatte dessen Zorn mehr oder weniger bewusst heraufbeschworen. So gut er sich auch mit ihm verstand, so war er doch ein unerbittlicher Gegner, wenn man ihn einmal gegen sich aufgebracht hatte. Und eine seiner Bemerkungen, mit denen er vorhin Raen aus seinem Zimmer gelockt hatte, enthielt durchaus ein ernstgemeintes Stück Wahrheit: Mit dieser Familie wollte er sich lieber nicht anlegen! Raen war ein aufbrausender Charakter, und im Gegensatz zu ihm wusste Manoen, dass genau das der Grund dafür war, warum er überhaupt hier war. Ihm war schon seit langem klar, warum sie alle hier in Borgossa waren! Doch diese unangenehme Wahrheit behielt er sorgsam fest unter Verschluss.
Es war stockdunkel, und die Sterne glommen am schwarzen Nachthimmel, als Manoen sich erhob. Ohne Umwege begab er sich in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Am nächsten Tag ging Raen wieder zu den Lektionen. Er sah Karbald, der ihn natürlich mit Vorwürfen überschüttete, gelassen ins Gesicht und ertrug sogar die mitleidigen Blicke seiner Mitstudenten. Nicht das Geringste ließ er sich anmerken und marschierte nach der Siesta erhobenen Hauptes zu den Übungsplätzen hinüber. Zwar war er nicht mehr der Champion, aber immerhin war er der zweite Gewinner des Turnieres und das war auch nicht ganz zu verachten. Und das zeigten ihm seine Freunde auch. Sie gratulierten ihm zu seinem Erfolg und nannten ihn trotz allem weiterhin liebevoll Campione.
Die Halbjahresprüfungen standen an, und Raen, der einiges nachzuholen hatte, versank in Arbeit. Er hatte kaum noch Zeit für gelegentliche Mußestunden oder etwas Training, pendelte auf direktem Wege zwischen den Lektionen und dem Hytena hin und her, wo er eifrig und bis spät in die Nacht seine Mitschriften studierte. Und da der Oktober sich von seiner gewohnt ungemütlichen Seite zeigte, lud er auch nicht gerade dazu ein, sich anderswo herumzutreiben. Während Raen mit müden Augen bei Kerzenschein lernte, schüttelte draußen der Herbstwind die Blätter von den Bäumen und brachte eine finstere Regenwolke nach der anderen mit sich. Und an den Tagen, an denen Wind und Regen einmal innehielten, kroch lautlos der Nebel von den Kanälen hinauf und durch die Straßen und Gassen der Stadt. Das war die Zeit, in der Borgossa nach dem emsigen Treiben des Sommers geisterhaft leergefegt war. Nur unter den Arkaden huschten vereinzelte Gestalten, die Kapuzen und Hüte zum Schutz gegen die alles durchdringende Feuchtigkeit tief ins Gesicht gezogen, zu ihren unvermeidlichen täglichen Geschäften. Der Himmel war grau, die Gesichter der Menschen waren grau und die Fassaden der Häuser und das Wasser der Kanäle waren es ebenfalls. Oktober und November warfen stets kein sehr gnädiges Licht auf die Stadt, die in den anderen Monaten so fröhlich, bunt und lebhaft wirkte.
In den wenigen Augenblicken, in denen Raen einmal nicht seine Nase in die Pergamente und Papiere steckte oder den Lektionen der Maestros lauschte, sann er über das nach, was eigentlich geschehen war. Sein Hass auf Sel hatte sich mittlerweile ein wenig gelegt, aber aufgeschoben war nicht aufgehoben! Zuerst kamen die Prüfungen, und dann würde er ungehindert seine Rache genießen können. Auch wenn Manoen glaubte, es sei sein Einwirken gewesen, so waren es doch eher die gewissenhaften Vorbereitungen auf die Exami, die dazu geführt hatte, dass Raen Ordnung in seine Gedanken hatte bringen können. Während seiner überraschend vernunftgeprägten Überlegungen war ihm nach und nach bewusst geworden, dass der Ruf eines Mannes etwas ganz Sonderbares war. Er war eine Illusion, nichts Greifbares, nur ein Wort oder ein Titel, und dennoch viel mehr als alles, was ein Mann an kostbaren Werten besitzen konnte. Er war nicht käuflich, aber wertvoller als alle Schatzkammern der Welt. Man konnte ihn nur Kraft der eigenen Taten erlangen und er konnte gut oder schlecht sein. Ein entsprechender Ruf konnte einem Tür und Tor öffnen, er machte einen beliebt, ja, die Leute lächelten einen sogar öfter an. Ein gepflegter Ruf machte einem das Leben leichter. Hatte man diesen aber nicht, so war man auch ein Nichts. Und hatte man ihn gar durch eigenes Verschulden verloren, so war sein Wiedererlangen um so mühsamer, denn erfahrungsgemäß fiel man beim Volk stets schneller in Ungnade, als dass man dessen Wohlwollen gewann. Das war nicht nur in dieser Stadt so, es war überall so, selbst in Hy, ahnte Raen.
Doch sein Ruf hatte nicht so sehr gelitten, wie er zunächst befürchtet hatte und er musste zugeben, unerwartet froh darüber zu sein. Er war nicht mehr der Champion, aber er war auch nicht wieder zu einem Nichts geworden. Er war Raen Shari, und sein Name hatte noch immer eine Bedeutung. Er war zwar nicht mehr berühmt, aber seine Freunde hielten ihn weiterhin in allen Ehren. Und das war es, was wirklich zählte. Wichtig war, was die Freunde von einem dachten und nicht, was der Pöbel von Borgossa von ihm hielt. In diesen Tagen verheilte sein angeschlagenes Selbstbewusstsein, und er brachte es sogar fertig, Manoen für all seine Bemühungen um sein körperliches und seelisches Heil zu danken.
Zu seinem Leidwesen sah Raen die Prinzessin vorerst nicht wieder, um auch ihr seinen persönlichen Dank für ihre Anteilnahme aussprechen zu können, aber Manoen ermunterte ihn dazu, wenigstens eine kleine schriftliche Antwort zu verfassen. Es stellte sich als schwieriger heraus, als er zunächst angenommen hatte, nur ein paar Zeilen seiner Gedanken niederzuschreiben, doch schließlich hatte er es vollbracht, und Manoen konnte sie im Namen seines Freundes freudestrahlend der Prinzessin überreichen. Diese freute sich ihrerseits über die kleine, aber freundliche Botschaft und entsandte ihm durch Manoen ihre Grüße.
Für die meisten Studenten verliefen die Herbstprüfungen recht erfreulich, und sogar Manoen schnitt einmal besser ab, als er es gewohnt war. Allerdings war Raen bei Karbald nicht besonders gut davongekommen, was er auch nicht anders erwartet hatte. Obwohl er sich dafür besonders gut vorbereitet hatte, war er von Karbald bei der mündlichen Probe regelrecht auseinandergenommen worden. Aber er hatte auch diese Demütigung geduldig über sich ergehen lassen und am Ende höflich dankend sein knappes Bestehen entgegengenommen. Wie alle anderen war er froh, dass es endlich vorbei war.
Ganz nach guter alter Tradition, sollte auch dieses Mal hinterher kräftig gefeiert werden, und selbst die prinzlichen Herrschaften aus Ohaoud hatten sich dazu überreden lassen, später auch nach La Gioia zu kommen.
Für diesen fröhlichen Abend war eine Schenke auserkoren worden, die sich darauf eingerichtet hatte, gerade jene trinkfreudigen Studentengruppen zu bewirten, die gerne und ausdauernd zechten. Zum Lachenden Akademicus hieß sie, und es gab dort einen Raum, so groß wie eine Halle, in dem alle bequem Platz fanden. Hinter dem Haus war in einem der umgebauten Ställe ein Strohlager eingerichtet worden, so dass die von Wein und Bier berauschten Gäste, sofern sie nicht in die benachbarten Hurenhäuser abwanderten, einen sicheren Schlafplatz hatten und nicht dazu gezwungen waren, den gefährlichen Heimweg durch die dunklen Gassen von Borgossa zu wagen.
Es war auch eine Tradition, dass das Halbjahr stets zusammen mit den Studenten der medizinischen Fakultät gefeiert wurde, denn das Kriegshandwerk und die Medizin waren schließlich eng miteinander verbunden; allzeit waren Schwerter und Skalpelle gleichwohl gut geschärft, um im Krieg gegen den Feind eingesetzt zu werden. Nur, dass die Studenten der Heilkunde wahrscheinlich bereits mehr Blut gesehen haben dürften, als so manch junger, von den Friedenszeiten verwöhnter Herzogssohn von der Akademie der Kriegskünste. Doch beide Studentengruppen teilten die gleiche Art von derbem Humor, und das war der eigentliche Grund, warum man sich zusammentat.
Raen, Manoen, Jovani und Anthones nahmen am Ende einer der langen Tafeln Platz, und sofort wurde ihnen von den eifrigen Mägden je ein Becher gebracht, der mit herzhaft dunklem Bier gefüllt wurde. Heiter stießen sie miteinander an und tranken den ersten schäumenden Becher in großen durstigen Zügen leer. Auf einen Wink wurde ihnen nachgeschenkt.
Schon bald war der Raum angefüllt mit einer hundertköpfigen Horde johlender und laut singender Studenten. Mädchen gesellten sich ihnen hinzu, es waren die von der Schenke angestellten Dirnen, und sie begannen mit den angetrunkenen, jungen Männern zu schäkern. Willig ließen sie sich auf den Schoß herunterziehen und küssen. Einige andere gingen noch schneller zur Sache und verschwanden kurz mit einem der Studenten auf den dunklen Hinterhof. Unter ihnen war auch der ewig heißblütige Jovani. Beschwingt vom Bier, kommentierte Raen flegelhaft seinen Weg zur Tür bis nach draußen. Das Mädchen im Arm, ihre linke Brust dabei mit einer Hand fest umschlossen, schlüpfte Jovani augenzwinkernd hinaus. Und als hätte ein Magier an seiner Stelle eine andere Person dorthin gezaubert, stand plötzlich die Prinzessin in der Tür, dahinter ihr Bruder. Raen verschluckte sich glatt an seinem Bier, als er sie erblickte, denn sie sah vollkommen anders aus, als er sie in Erinnerung hatte. Heftig hustend stellte er den Becher zurück auf den Tisch, und Manoen klopfte ihm viel zu fest auf den Rücken. „Langsam, langsam, mein Freund, der Abend ist noch lang. Du kannst dir also viel Zeit lassen mit dem Betrinken“, lallte er gutmütig und setzte seinerseits den Becher an die Lippen. Raen hob den Arm, damit Manoen aufhörte, ihm mit der anderen Hand auf den Rücken zu dreschen. Sein Blick suchte erneut die Prinzessin. Sie hatte sich etwas in den Raum hinein bewegt und schien ebenfalls Ausschau zu halten. Sie bekam einen Becher in die Hand gedrückt und prostete höflich den Kollegen in ihrer unmittelbaren Umgebung zu. Raen starrte sie an. Er konnte nicht anders. Graziös nahm sie den Becher an die Lippen und trank. Nach ein paar Schlucken setzte sie ihn wieder ab und wischte sich mit dem Zeigefinger verstohlen den Schaum von der Oberlippe.
„He, was glotzt du denn so scheel!“, fragte Manoen und stieß Raen unsanfter an, als beabsichtigt. Raen verzog schmerzhaft das Gesicht. Wenn er betrunken war, dann hatte Manoen seine Bärenkräfte kaum im Griff.
„Ah, die Prinzessin!“, hatte nun auch dieser endlich mitbekommen. „Sieht sie nich’ wunderbar aus heute Abend? Unsere kleine Wüstenblume!“
„Was ist denn eine Wüsten?“, fragte Raen unbedarft.
„Mann, manchmal weißt du aber auch gar nichts! Es heißt, eine Wüste! Das ist ein Ort, an dem es kein Wasser, aber dafür sehr viel Sand und Steine gibt. Und davon haben sie in Ohaoud jede Menge. Na, und was eine Wüstenblume ist, brauch’ ich dir ja wohl nicht zu erklären!“ Er zeigte ungeniert auf die Prinzessin, die nicht wie sonst üblich in verschwitzter Männerkleidung und Rüstung dastand, sondern in einem saphirblauen Gewand aus allerfeinstem Tuch, das perfekt mit ihrer dunklen Hautfarbe harmonierte. Das Gewand, von dem Raen annahm, dass es sich dabei um eine ohaoudische Tracht handelte, war bis auf seine goldbestickten Säume eher schlicht und schien, ähnlich wie das der hyaunischen Priester, mehrmals um den Körper gewickelt zu sein, nur dass es bis auf eine übergeworfene Schleppe ihre Schultern freiließ. Raen war hingerissen von diesen Schultern. Sie waren muskulös, aber dennoch sehr weiblich. Er konnte seinen Blick einfach nicht von ihnen lassen, es schien als seien sie aus schwarzbraunem, poliertem Holz geschnitzt und zum Leben erweckt worden.
„Mach den Mund zu, Junge, bevor du noch anfängst, zu sabbern!“ Das kam es diesmal von Jovani, der sich zu ihnen zurückgesellt und Raens dämlichen Gesichtsausdruck bemerkt hatte. Raen schloss den Mund und betrachtete Jovani, der selig grinste.
„Und, war’s schön?“, brachte er einigermaßen deutlich hervor und meinte damit Jovanis kleinen Ausflug mit der Dirne.
„Hm, ja, wunderbar, solltest du im Übrigen auch mal versuchen. Ist zumindest ein erschwingliches Vergnügen, ganz im Gegensatz zu dem dort!“ Er stieß seinen Daumen in Richtung der Prinzessin. Raen registrierte den abfälligen Ton Jovanis. Aus irgendeinem Grund schien er die beiden Ohaoudis nicht eben besonders zu mögen.
„Soll ich sie dir holen?“
„Wen?“, fragte Raen verwirrt.
„Na, die süße Kleine, die ich eben flachgelegt habe. Ich hab ihr Tor schon gut vorgeölt, du wirst also leicht Einlass finden!“
„Äh, nein, im Moment noch nicht, wärmsten Dank“, schlug er das Angebot Jovanis schnell aus. Er wusste zwar noch nicht so genau, was er am heutigen Abend eigentlich vorhatte, aber mit dem Erscheinen der Prinzessin fühlte er sich mit einem Mal nicht mehr danach, sich wie sein graçenischer Freund ständig und überall die Hörner abzustoßen.
„Abgemacht, dann später, sag Bescheid!“
Raen nickte ihm zu.
„Mehr Bier!“, rief Jovani daraufhin mit rauer Stimme und widmete sich dann mit ganzer Hingabe der Vernichtung des soeben angeforderten Gerstensaftes.
Raen hingegen suchte einmal mehr den Raum nach der Prinzessin ab und ganz unvermittelt fing er ihren Blick auf. Als sie ihn erkannte, legte sich ein ganz und gar umwerfendes Lächeln auf ihre Lippen, das quer durch den ganzen Raum strahlte. Raen konnte nicht glauben, dass dieses Lächeln ihm galt, und schaute sich um. Aber da war niemand, den sie gemeint haben konnte. Verlegen sah er wieder zu der Prinzessin hinüber und schlagartig schoss ihm das Blut in das eh schon gerötete Gesicht, und ein leichter Schwindel, der nichts mit dem Alkohol zu tun hatte, erfasste ihn. Diese hochgewachsene und elegante Frau dort hatte nicht mehr viel mit der kampfeslustigen und wahrlich mannhaften Person überein, die er damals auf dem Übungsplatz kennengelernt hatte, und sie machte ihn plötzlich ganz nervös.
Wieder erhielt er einen rohen Stoß in die Seite und Raen stöhnte unwillentlich auf. Neben ihm raunte Manoen leise: „Na los, geh schon und biete ihr einen Platz an. Alle anderen Affen scheinen im Suff ihre Manieren vergessen zu haben!“
Raen erhob sich mechanisch. Eigentlich hatte er gar nicht vorgehabt, auf Manoen zu hören, aber seine Beine gehorchten einer anderen Macht. Seinen ungewohnt heftigen Herzschlag unter Kontrolle bringend, bahnte er sich einen Weg durch die grölende Menge und kam schließlich bei der Prinzessin an. Jetzt erkannte er auch ihre beiden Leibwächter, die hinter ihr Position bezogen hatten. Wegen ihrer dunklen Kleidung und Hautfarbe schienen sie gänzlich mit den Schatten des Hintergrundes zu verschmelzen. Was ihn aber aus der Nähe noch viel mehr beeindruckte, war der Bruder der Prinzessin. Prinz Bendan war mit seinen gerade mal siebzehn Jahren ein Bulle von einem Mann. Er überragte seine ein Jahr ältere Schwester um einen ganzen Kopf, hatte eine breite und sehr athletische Figur, wie Raen sie noch nicht gesehen hatte, jeder einzelne Muskel trat deutlich hervor. Aber er hatte die gleichen kohlschwarzen Augen wie Prinzessin Keï und die gleichen weißen Zähne, wenn er sein Lächeln zeigte. Raen ertappte sich bei dem Gedanken, wie es wohl gewesen wäre, tatsächlich gegen ihn zu kämpfen. Und warum brauchte die Prinzessin überhaupt einen Leibwächter, wenn sie diesen Mordskerl von einem Bruder an ihrer Seite hatte? Mit einem heimlichen Lächeln verscheuchte Raen diesen Gedanken schnell wieder und als er die beiden Ohaoudis schließlich mit einer Verbeugung nach hyaunischer Art begrüßte, hoffte er, dabei nicht allzu sehr zu lallen. „Seid willkommen, Sala ... ähm, Prinzessin Keï und Prinz Bendan. Darf ich Euch meinen Platz dort drüben anbieten?“ Er vermied es, die Prinzessin direkt anzusehen, denn er befürchtete, sein vom Bier ohnehin schon eingeschränkter Wortschatz würde ihn dann vollends verlassen. Stattdessen blickte er zu Manoen und den anderen hinüber und stellte fest, dass diese allesamt unverhohlen zurückgafften, wobei auffällig war, dass Manoens Blick schon nicht mehr ganz geradeaus ging.
Raen leckte sich nervös über die Lippen und bat die Ohaoudis, ihm zu folgen. Steifbeinig führte er sie bis zu seinem Platz an der Tafel.
Sofort rückte Manoen bereitwillig ein wenig zur Seite, und Prinzessin Keï und ihr riesenhafter Bruder ließen sich auf der vorgewärmten Bank nieder. Raen bemerkte, wie der Rotschopf verstohlen an der stattlichen Gestalt des Prinzen hinauf schielte, er wirkte neben dem Ohaoudi wie ein dürrer jungendlicher Hänfling.
„Aber jetzt habt Ihr keinen Platz mehr!“, entgegnete die Prinzessin und sah sich zu Raen um, der hinter ihr zwischen den beiden Leibwächtern stand und sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte über den Anblick seines Freundes neben dem ohaoudischen Riesen.
‚Aber das macht nichts’, wollte er gerade versichern, als Jovani sich ihr gegenüber erhob und ihm seinen Platz anbot.
„Ich muss an die frische Luft!“, sagte der Graçener, und als er ohne weiteres verschwand, hatte Raen das dumpfe Gefühl, sein Freund sei eingeschnappt.
Die Mägde brachten Keï und Bendan Teller, und die beiden Ohaoudis bedienten sich am Brot und dem Geflügelfleisch.
„Wollt Ihr nicht auch von dem hervorragenden Schweinebraten nehmen?“, fragte Raen, doch die Prinzessin schüttelte den Kopf. Ihr sehr kurz gehaltenes, schwarzes Haar stand ihr vorzüglich und betonte die schöne Form ihres Kopfes und ihres Halses. Raen zwang sich, woanders hinzusehen, damit sie nicht bemerkte, wie er sie anstarrte. Aber das war gar nicht so einfach, da sie ihm ja direkt gegenübersaß. ‚Sieh auf ihre Hände’, dachte er, ‚das ist am ehesten unverfänglich.’
Indes antwortete die Prinzessin, nichts ahnend von dem Dilemma, in dem er sich gerade befand, seine Frage: „Nein danke, wir essen kein Schweinefleisch. Unser Glauben verbietet es uns. Es sind unreine Tiere. “
„So ein Humbug! Schweine, und unreine Tiere, das ich nicht lache! Also bei uns sind die immer ganz sauber und tollen fidel auf der Weide umher!“, polterte Manoen und stopfte sich betont genießerisch ein Stück Fleisch in den fettverschmierten Mund.
Raen hob begütigend die Hand. „Ihr müsst meinem Freund die fehlenden Manieren entschuldigen, er hat schon reichlich Bier getrunken. In der Tat ist es so, dass auch wir Hy unsere Regeln haben. Wir essen zum Beispiel kein rohes Fleisch, das gilt wiederum bei uns als unrein. Alles, was mit Blut zu tun hat, ist unrein.“
Die Prinzessin nickte interessiert und biss recht ungalant von einem Hühnerbein ab. Dabei musste sie lachen. „Verzeiht, aber ich vergesse auch gern meine Manieren! Unser Vater ist immer ganz verzweifelt, wenn es um mein höfisches Betragen geht“, sagte sie mit vollem Mund und verschlang hungrig das Bein binnen weniger Augenblicke. Danach warf sie die Knochen zu den anderen auf die Tischplatte und leckte sich gründlich das Fett von den Fingern. Wider Willen wanderte ein Grinsen auf Raens Lippen. Dieses undamenhafte und zugleich doch sehr frauliche Gebaren fand er äußerst reizvoll.
Während sie aßen und tranken, unterhielten sie sich weiterhin unbefangen. Dabei erfuhr Raen einiges über die Ohaoudis, denn die Prinzessin und ihr Bruder, der eine unglaublich volltönende, tiefe Stimme besaß und wie seine Schwester mit einem eigentümlich rollenden Akzent sprach, erzählten erstaunlich freizügig von sich und ihrer Heimat. Es erweckte den Anschein, dass beide es sehr zu schätzen wussten, einmal nicht in steifer Runde mit erlauchten Herrschaften zusammensitzen zu müssen, und die ungezwungene Stimmung dieses Abends lockerte ihnen die sonst so vornehm im Zaum gehaltene Zunge. Aber auch Raen musste viel von sich erzählen, denn die Prinzessin schien ebenso wissbegierig zu sein wie er.
Bis spät in die Nacht saßen sie vergnüglich beisammen, redeten viel und vergaßen darüber ganz das Trinken. Nach und nach hatte sich das dichte Gedränge an den Tischen gelichtet, und bald war die Halle leer bis auf diejenigen, die es nicht bis in den Stall oder in die warme Umarmung der Freudenmädchen geschafft hatten, und mit dem Kopf auf den schmierigen Tischen einfach eingeschlafen waren. Und nachdem die Prinzessin und ihr Bruder sich verabschiedet hatten, wankte schließlich auch Raen durch den Hinterhof zum Strohlager hinüber, wo er Manoen entdeckte und neben ihm auch den Grund dafür, warum er sich schon früher zurückgezogen hatte. Ein halbbekleidetes Mädchen schlief fest und seelenruhig in seinem Arm. Von überall her drang lautes Schnarchen, aber das machte Raen nichts, er fühlte sich müde wie hundert Zugochsen nach einem Frühjahrsumzug. Der Länge nach ließ er sich an einer freien Stelle ins üppig ausgestreute Stroh fallen und den ungewöhnlichen Abend noch einmal in Gedanken an sich vorbeiziehen. Immer wieder tauchte hinter seinen geschlossenen Lidern dabei das Bild der Prinzessin aus dem wundersamen fernen Königreich jenseits des Sonnenaufganges auf, und mit der Erinnerung an das strahlende Lächeln in ihrem exotisch dunklen Gesicht schlummerte er ein.
Zwei Tage später brach das Lungenfieber in Borgossa aus. Entgegen aller frommen Annahmen des Stadtrates, es im Frühjahr dauerhaft besiegt zu haben, hatte es die gesamte warme Jahreszeit über in irgendeinem dunklen und feuchten Winkel überdauert. Die Hitze war sein Feind, jetzt aber fand es in der nassen Witterung des Herbstes wieder einen günstigen Nährboden und breitete sich unglaublich schnell von den Vierteln der Ärmeren, in denen es zuerst wieder aufgeflammt war, über die ganze Stadt aus.
Die hohen Doktoren der medizinischen Akademie sahen sich in ihren Warnungen, die sie bereits im Frühjahr ausgesprochen hatten, bedauerlicherweise bestätigt und wurden nun von den um Verzeihung flehenden Stadtvätern belagert. Doch es war das sprichwörtliche Wunder, welches die Stadtobersten forderten, und das konnten selbst die fähigsten Ärzte unter ihnen nicht vollbringen. Ihr einziger Rat war, dass jeder, der die Möglichkeit dazu hatte, die Stadt verlassen sollte, ansonsten konnten auch sie nur machtlos mit ansehen, wie die Krankheit Tag für Tag an Kraft zunahm.
Bereits in der zweiten Woche starben die ersten Menschen in der Vorstadt. In der dritten Woche wurden in Borgossa sämtliche der Allgemeinheit zugänglichen Gebäude und Plätze geschlossen, und in der vierten wurde der Friedhof vor den Stadtmauern wieder in Betrieb genommen.
Im Hytena erkranken alle Bewohner, bis auf Raen, Uke und Reko. Die drei kümmerten sich aufopferungsvoll um die Unglücklichen - selbst um Sel, denn soweit reichten Raens Rachegelüste nicht, dass es ihm Freude bereitete, seinen Wiedersacher siech und fiebernd im Bett liegen zu sehen. Für den armen Uma aber sah es besonders schlecht aus. Das Fieber hatte ihn schon im Frühjahr erwischt und nun schien es sein Werk vollenden zu wollen. Er wurde mit jedem Tag schwächer. Stunde um Stunde saß sein Bruder an seinem Lager, hielt seine heiße Hand und betete für ihn. Für den gesunden Zwilling war es ein gleichfalls unerträgliches Leiden, denn es war, als sähe er nicht nur seinem Bruder, sondern auch sich selbst beim Sterben zu. Aber all seine Gebete konnten Uma nicht retten. Er starb in der zweiten Woche seiner Krankheit. Tags zuvor hatte er begonnen, neben dem beständigen Schleim auch noch Blut zu spucken, und sein Atem war nur noch röchelnd und sehr schleppend gegangen. Das Fieber hatte ihn geschüttelt und ihm im wahrsten Sinne des Wortes das Leben aus der Lunge gepresst. Am Ende weinte Uke bitterlich um das blasse und magere Geschöpf, das einmal sein Zwillingsbruder gewesen war.
Sie brachten den Leichnam in den kleinen Gebetsraum, wo sie ihn nach hyaunischer Sitte aufbahrten. Reko wollte sich darum kümmern und Uma eine anständige Bestattung bescheren.
Drei Tage später brannte hinter dem Hytena mitten auf einer der Weiden ein großes Feuer, um das sich lediglich drei traurige Schatten versammelt hatten. Die Flammen erhellten ihre abgespannten Gesichter, brachten aber nur wenig Trost.
Am nächsten Morgen kehrten sie die feuchte Asche zusammen, taten sie in einen Tontopf, den Reko besorgt hatte, und gingen wieder mit hängenden Schultern zurück in das Haus, vorbei an einem großen, nur zur Hälfte verbrauchten Holzstapel, den der Priester vorsorglich hatte dorthin liefern lassen.
Doch Umas Tod war nur ein verlorenes Gefecht im verzweifelten Kampf gegen das Fieber, und als schließlich Machol und Kema starben, wünschte Raen sich allabendlich, daheim in Shari zu sein, daheim in der weichen und tröstlichen Umarmung Sunekas; ihre langen, duftenden Haare über seine gemarterten Gedanken ausgebreitet. Er wünschte sich so sehr, ihr all das sagen zu können, was ihm jetzt durch den Kopf ging und was er zuvor nie in Worte hatte fassen können. Oh, wie gut sie es doch hatte, dass sie von der Todesangst nichts wusste, mit der sie hier Tag für Tag lebten! Wie unschuldig und behütet sie doch alle waren zu Hause in ihrer Heimat! Wie fern von all dem Übel hier! Fast inbrünstig betete Raen für Sunekas Wohlergehen und das seiner Familie, er betete für die Genesung der Kranken im Hytena, betete um die Kraft, weiter für sie sorgen, und dafür, selbst am nächsten Morgen wieder aufstehen zu können, um irgendwann, wenn dieser Schrecken einmal ein Ende hätte, zu Suneka und dem weitaus glücklicheren Leben zu Hause zurückkehren zu können.
Ungeachtet ihrer eigenen angeschlagenen Gemütsverfassung widmeten sich die drei Übriggebliebenen jeden Tag der mühsamen Versorgung der Kranken und schonten sich dabei nicht. Sie wuschen die zum Teil Bewusstlosen, bereiteten ihnen lindernde Umschläge und Wickel, fütterten die, die bei Besinnung waren, mit Suppe und den wertvollen Resten ihrer spärlichen Sommervorräte und wachten die Nächte hindurch am Bett derjenigen, deren Zustand weiterhin bedrohlich war. Raen musste seinen vor Angst wimmernden Freund Manoen beruhigen und behielt dabei kaum selbst seine Fassung. Manoen hatte nach schweren, aber gnädigen Fieberträumen das Bewusstsein wiedererlangt und den besorgniserregenden Zustand erkannt, in dem er schwebte. Er fürchtete sich davor, zu sterben und warf sich panisch und um sein Schicksal heulend, auf seinem Lager hin und her, obwohl er kaum die Kraft dafür hatte. Das machte Raen, der selbst eine Heidenangst vor dem Tod in Form dieses unwürdigen Dahinsiechens hatte, schwer zu schaffen. Er würgte sein eigenes Entsetzen, das er beim Anblick seines vollkommen aufgelösten Freundes verspürte, herunter und versuchte, seine Stimme zuversichtlich klingen zu lassen, wenn er versöhnlich auf ihn einredete.
Das Schlimmste neben dieser seelischen Tortur für die Helfenden aber war schließlich, dass es bald nicht mehr genug zu essen gab, und sie dauerhaft um die ausreichende Ernährung der Kranken besorgt waren. Einer von ihnen musste in die Stadt reiten und irgendwo etwas Essbares auftreiben. Aber die Märkte waren alle geschlossen, und es würde nicht leicht sein, die wenigen Unbeirrbaren ausfindig zu machen, die noch Vorräte in die Stadt schafften. Raen stellte sich bereitwillig zur Verfügung, insgeheim dankbar, das Hytena auch nur für einen halben Tag verlassen zu können.
Die Erleichterung fand jedoch ein jähes Ende, als er wahrnahm, was sich innerhalb der Stadtmauern abspielte. Bis dahin war ihm die Situation vor den Mauern in der Vorstadt und in der Feldmark schon sehr beängstigend erschienen. Aber jetzt sah er Dinge, die er lieber nie gesehen hätte. Es waren entsetzlich verstörende Anblicke, von denen er zuvor niemals auch nur in irgendeiner Weise etwas geahnt hätte. Er sah Karren mit Leichen, die totenstarren Gesichter namenloser Menschen gegen den grauen Himmel gerichtet, weiß vermummte Gestalten mit seltsamen Masken kopfschüttelnd die Häuser verlassen, von anderen verzweifelten Männern und Frauen angefleht. Er sah die Schatten finsterer Banden, welche die Häuser der Hilflosen oder Toten plünderten, und streunende Kinder mit gespenstisch eingefallenen Gesichtern, die im verseuchten Morast der Straßen nach Abfällen suchten. Das einst so friedliche und unbekümmerte Borgossa hatte sich in eine trostlose Heimstatt der Gesetzlosigkeit und Gewalt verwandelt. All der Wohlstand, all die Lebensfreude, einfach alles, wofür Borgossa einmal ein Sinnbild gewesen war, war verschwunden und hatte einer alles überwältigenden, niederdrückenden Hoffnungslosigkeit Platz gemacht, deren kalter Atem einem aus jedem Winkel der Stadt entgegenschlug. Raen versuchte, seinen Blick davon abzuwenden, um sein eigenes Seelenheil zu bewahren, doch noch während er mehr oder weniger erfolgreich von seiner Unternehmung zum Hytena zurückkehrte, hatte seine bis jetzt so unerschütterliche Zuversicht bereits schweren Schaden genommen. Eine innere Düsternis von undurchdringlicher Schwärze begann sich allmählich auf sein Gemüt zu legen und ließ seine Glieder mit jedem Schritt immer schwerer werden.
Noch am Abend des gleichen Tages gab er es auf, zu Hyaun zu beten, denn auch dieser schien nicht mehr in der Lage zu sein, noch Hoffnung zu schenken, auch Er stand dem allgewaltigen Zerstörungswillen Zaizuras ohnmächtig gegenüber. Was hatten diese Menschen bloß getan, dass Zaizura sie derart grausam bestrafte? Zu welchem Zweck hatte sie diese Krankheit geschickt? Er sah einfach keinen Sinn darin, so viele Leben zu vernichten, nur um ihre unanzweifelbare Herrschaft zu beweisen. Es war ein absurdes und blindes Wüten. Raen fand kein Verständnis mehr dafür, was Zaizura hier tat, und verlor nach seinem Glauben an Hyaun auch noch den an den heiligen und gerechten Zorn des Schicksals. Was blieb denn noch?, dachte er resigniert. Wem oder was sollte er in Zukunft Ehrfurcht entgegenbringen? Dieser höheren Macht, die einfach wahllos und mit hämischen Vergnügen Menschen niedersenste? Oder einem gütigen Gott, der untätig alles mit an sah? Konnte er vor diesen Göttern weiterhin Respekt haben? Konnte er ihnen gegenüber demütig sein? Hatte das überhaupt alles einen Sinn?
Als sich an diesem Abend die Sonne am trüben Horizont ungerührt endgültig zur Ruhe senkte, begab sich Raen in sein Zimmer, legte sich hin, schloss die Augen und fiel in einen langen Schlaf.
Als die Universität Borgossas wieder geöffnet wurde, war es Ende Januar. Das Wetter war kühl und trocken, und die Sonne schien aus einem nahezu wolkenlosen Himmel. Die klare, reinigende Luft tat allen Menschen gut, und nachdem mit Hilfe der graçenischen Armee in der Stadt wieder Recht und Ordnung hergestellt worden war, kehrte auch das Leben wieder allmählich zurück auf die gesäuberten Straßen. Neu berufene Büttel sorgten an den Stadttoren und im Hafen wachsam für Sicherheit, und bald hatte man verdrängt, welch Chaos und Verzweiflung in Borgossa geherrscht hatten. Die alte Friedlichkeit war wieder zu spüren.
All diejenigen, die während der schlimmen Zeit aus der Stadt geflüchtet waren, kamen wieder in ihre Häuser zurück, und so öffneten sich auch in der letzten vorübergehend verwaisten Kaufmannsvilla wieder die Läden vor den spitzbogigen Fenstern.
In den Gilderäten und auch im Stadtrat wurden einige Mitglieder ersetzt, die dem Fieber zum Opfer gefallen waren, damit sie möglichst schnell wieder ihren Obliegenheiten nachgehen konnten. Denn im Gefängnis von Borgossa saß eine ganze Schar übles Gesindel, das während der Epidemie auf abscheuliche Weise versucht hatte, sich am Elend zu bereichern. Sie wurden nur wenige Tage nach der Wiederaufnahme aller Amtsgeschäfte durch den Stadtrat verurteilt und als Abschreckung auf dem Platz vor dem Regierungspalast hingerichtet. Es war ein blutiges Schauspiel, wie es in Borgossa nur selten abgehalten wurde, und nicht viele Bürger fanden ein Vergnügen daran. Aber es markierte endgültig den Schlussstein der durch die Krankheit verursachten Schrecken. Die abgeschlagenen Köpfe der Verbrecher wurden an allen Stadttoren aufgepflanzt und sollten jedem, der es auch in Zukunft wagte, den Frieden dieses Ortes zu stören, zeigen, was dann mit ihm geschah.
Im Hytena war nach Machol und Kema niemand mehr gestorben. Es hatten nur drei Totenfeuer hinter dem Hof auf der Weide gebrannt, und nur drei Tontöpfe mit den Aschen der Verstorbenen standen jetzt neben dem Altar im Gebetsraum und warteten darauf, irgendwann einmal nach Hy zurück zu den Angehörigen gebracht zu werden, damit ihr Inhalt dort in den Wind gestreut werden und die Seelen frei mit den Ahnen fliegen konnten.
Wider allen Erwartungen war auch Manoen genesen, obwohl es für ihn nicht besonders gut ausgesehen hatte, und auch Raen hatte sich nach seinem ohnmachtsartigen Zusammenbruch wieder halbwegs berappelt.
Sie fühlten sich noch erbärmlich schwach und ausgelaugt, aber dennoch nahmen sie den Weg in die Stadt auf sich, um endlich wieder auf andere Gedanken zu kommen. Am Stadttor wandten sie ihre Gesichter von den grausigen, krähenzerfressenen Mahnmalen ab, ließen ihre Schwerter kontrollieren und ritten dann gemächlich durch die Straßen, das neu erwachte Leben durstig in sich aufsaugend. Raen fiel ein Stein vom Herzen, als er sah, dass der drohende Schatten des Abgrundes, an dem sich die Stadt befunden hatte, aus den zwielichtigen Winkeln der Gassen verschwunden war, und sich der zartrosige Hauch der berühmten borgossinischen Lebensfreude wieder auf die Gesichter der Menschen gelegt hatte. Beinahe hätte man glauben können, es sei nichts geschehen.
‚Das ist vielleicht auch das Beste. Wir sollten es so schnell wie möglich vergessen’, dachte er und zog sich den Kragen seiner Jacke gegen die kühle Luft zusammen.
Sie bogen auf den gepflasterten Weg zum Campo der Universität ein. Auch hier war das Leben wieder in vollem Gange. Man sah Studenten aller Fakultäten über den Platz mit den uralten, winterkahlen Platanen schlendern oder vor den prächtigen Universitätsgebäuden stehen und sich unterhalten. Aus einigen Ecken erklang lautes Lachen, wenn Freunde sich zur Begrüßung auf die Schulter klopften und Neuigkeiten austauschten. Raen blickte neben sich zu Manoen und war erschrocken darüber, wie bleich und abgemagert dieser noch aussah. Aber bei dem, was sie durchgemacht hatten, gab er selbst bestimmt keinen besseren Anblick ab, hatte er doch bis zu dem Tag seines zweiundzwanzigsten Geburtstages im Bett gelegen.
„Geht es dir gut?“, fragte er trotzdem.
Manoen war schweigsamer als sonst, wirkte ungewohnt nachdenklich, aber er antwortete mit dem Versuch eines Lächelns: „Mir ist zwar schwindelig, als hätte ich die ganze Nacht durchgesoffen, aber es wird schon gehen. Ich bin froh, aus meinem Zimmer raus zu sein.“ Auch er fröstelte und zog sich die Jacke enger um den Hals zusammen. Oder war es nur die Erinnerung daran, so knapp dem Tode entronnen zu sein?
Raen beließ es dabei.
Hinter den Gebäuden der theologischen Fakultät kamen das Kuppeldach der Therme und die Stallungen der Akademie in Sicht, und sie steuerten darauf zu.
„Sag mal, was habe ich eigentlich so alles geredet im Fieber?“, erkundigte sich Manoen unvermittelt, blickte aber weiterhin verdrossen geradeaus.
„Du hattest große Angst, Angst vorm Sterben. Und du hast viel von deiner Mutter gesprochen - dass ich ihr sagen soll, was mit dir passiert ist und dass sie sich keine Sorgen mehr um dich zu machen braucht. Aber du hast auch viel unverständliches Zeug gebrabbelt. Das kann ich jetzt beileibe nicht alles wiederholen, es war viel zu konfus.“
„Hm.“ Ganz schien Manoen noch nicht mit dieser Antwort zufrieden zu sein.
„Es war nichts Verfängliches dabei, falls du das wissen möchtest“, zwinkerte Raen seinem Freund von der Seite zu. „Keine heiklen Geständnisse und unehelichen Kinder, von denen ich nicht eh schon wüsste.“
„Uneheliche Kinder?“
„Na, du weißt schon.“
Manoen deutete ein Schulterzucken an.
„Auf jeden Fall hast du die ganze Zeit über in deiner Muttersprache gesprochen, mein Guter. Tat dir vielleicht mal wieder ganz gut, du hast dir einen fürchterlichen Akzent angewöhnt!“
Wieder hob Manoen die Schultern.
„Warum sprichst du eigentlich nicht gerne Hyaunisch?“, wollte Raen ganz unverfänglich wissen.
„Was soll ich hier ich in Borgossa mit Hyaunisch? Damit komme ich nicht weit. Frag doch mal einen Borgossiner auf Hyaunisch nach dem Weg.“
„Aber im Hytena sprichst du mit uns ebenfalls nur Graçenisch, genau wie du es jetzt mit mir tust. Warum? Findest du es nicht schön, deine eigene Sprache zu hören?“
„Das hat nichts mit Schönfinden oder Gernemögen zu tun, es ist zweckmäßig, capisco! Raen, ehrlich, ich bin dir sehr dankbar, dass du dich um mich gekümmert hast, aber jetzt lass mich mit diesem Kram gefälligst in Ruhe!“
„Wie du willst.“
Sie erreichten die Stallungen und stiegen ab. Raen schwieg, er war eingeschnappt. Er hatte sich nicht mit Manoen streiten, sondern ihn lediglich aufheitern wollen, doch aus unerfindlichen Gründen hatte dieser sehr gereizt auf seine eher harmlose Frage reagiert. Und dass Manoen ein für ihn so ungewöhnliches Wort wie zweckmäßig verwendet hatte, ließ ihn vermuten, dass es tatsächlich irgendetwas gab, weshalb er das Hyaunische so vehement verweigerte. Natürlich gab sich Manoen stets sehr fortschrittlich und betont unhyaunisch und spottete gern über die rückständigen Dummköpfe und Dottersäcke in der Heimat, aber dass er seine eigene Muttersprache mied, als sei sie Gift auf seiner Zuge, kam Raen doch sehr eigenartig vor. Es war mehr als bloß ein hartnäckiger Versuch, seine große Unabhängigkeit zu beweisen, auf die Manoen so erpicht war. Es war mehr als purer Eigensinn. Und in einem hatte der großgewachsene Krieger aus Shajun sogar vermutlich Recht, es handelte es sich tatsächlich um eine Zweckmäßigkeit. Nur wofür?
Raens grüblerische Gedanken verflogen, als sie, nachdem sie die Pferde in die Ställe gebracht hatten, auf dem Weg zum Lektionsgebäude Jovani und Anthones begegneten. Und es hätte keine passendere Kulisse für ihr Wiedersehen geben können als den alten Triumphbogen, unter dem sie gerade hindurch schritten.
Lachend schlossen sie sich gegenseitig in die Arme, aufrichtig erleichtert den anderen lebend wiederzusehen.
Aber im Gegensatz zu den blassen Hy sahen die beiden Graçener blendend aus. Das sagte Raen ihnen auch, und daraufhin erklärte Jovani verlegen, sie seien gar nicht in Borgossa gewesen und hätten nicht einmal einen Schnupfen davon getragen, denn
sie waren wie die meisten anderen Herzogssöhne von außerhalb Borgossas in den Genuss des Privilegs gekommen, die Stadt noch in den ersten Tagen der Epidemie mit Schiffen verlassen zu können. Sie waren auf ihre elterlichen Güter geflohen und hatten die Zeit dort unversehrt überstanden.
„Wir hatten euch nicht mehr benachrichtigen können, wir mussten das Schiff nehmen, oder hierbleiben. Es gab nicht für alle Plätze, und die Kapitäne haben die Situation schamlos ausgenutzt und sich die Passagen gut bezahlen lassen. Ersticken sollen sie an ihrer Raffgier! Es war die reinste Massenpanik am Kai, und es hat ein Vermögen gekostet, an Bord zu kommen!“
„Nun das Vermögen war es wert, wenn ihr alles wohlbehalten überstanden habt“, entgegnete Raen und meinte das natürlich ernst. Er verübelte den beiden ihr Verhalten keineswegs, denn jeder hätte so gehandelt, wenn er nur gekonnt hätte.
Jovani senkte den Blick. Offensichtlich quälte ihn ein schlechtes Gewissen gegenüber seinen Freunden, die er hier zurückgelassen hatte, und es schien ihn zu beschämen, dass die Hy niemals an Geld dachten, sondern an Dinge wie Gesundheit und Lebensfreude.
„Wie schlimm war es?“, fragte Anthones schließlich zögerlich.
„Bei uns im Hytena sind drei gestorben, ihr kanntet keinen davon. Und auch mich hat es übel erwischt, war kurz vorm Krepieren. Wie es sonst war, kann ich nicht sagen, ich habe ja die ganze Zeit über im Bett gelegen, das müsst ihr Raen fragen, er war der Held der Stunde“, gab Manoen unverblümt zum Besten, und es war dabei keine Ironie in seiner Stimme.
Alle Augen richteten sich auf Raen, dem ganz und gar nicht danach war, erzählen zu wollen, wie es in der Stadt gewesen war. „Es war schrecklich. Glaubt mir, ihr wollt das gar nicht so genau wissen. Fragt besser einen anderen.“ Er wollte gerade zum Weitergehen einlenken, da spazierte Sel putzmunter an ihnen vorbei.
„Guten Tag die Herren, wie war eure Reise aufs Land? Ich hoffe erholsam.“ Es war ein unüberhörbarer Vorwurf.
„Sei gegrüßt, Sel. Danke der Nachfrage, uns geht es gut. Dir aber auch, wie ich sehe!“, entgegnete Jovani kühl, aber höflich.
„Oh ja, prächtig. Bereit für die Lektionen, meine Herren?“ Erwartungsvoll klatschte Sel in die Hände und ging scheinbar unbekümmert weiter in Richtung des Lektionsgebäudes. Als er außer Hörweite war, brummte Jovani: „Den gibt es ja auch noch!“
„Hm, ja und er ist unausstehlicher denn je, unser Campione!“ Das letzte Wort spuckte Manoen förmlich aus. „Sag, hat er sich bei dir eigentlich schon ein einiges Mal bedankt?“, fragte er an Raen gewandt. Der schüttelte mit grimmiger Miene den Kopf.
„Raen hat sich nämlich auch um Sel gekümmert, als der krank war, und er hat nicht wesentlich besser ausgesehen als ich! Und so wird es ihm nun gedankt!“ - ‚Du hättest ihn einfach verrecken lassen sollen! Denn nichts anderes hätte er verdient gehabt!’, schwang deutlich im Unterton Manoens mit.
„Ist schon gut, Sel ist eben unverbesserlich“, versuchte Raen die aufkommende Missstimmung abzumildern. „Kommt, Freunde, lasst uns lieber zu den Lektionen gehen, die Maestros und alle anderen warten schon!“
„Du hast Recht, auf geht’s. Feder gespitzt und Papier gezückt. Mal sehen, was Maestro Karbald, der alte Sauertopf, heute alles so zum Besten gib“, rief Jovani frohen Mutes aus, und die vier jungen Studenten wanderten zum sonnenbeschienen Lektionsgebäude hinüber und verschwanden im Eingang.
Wie die beiden Graçener war auch Prinzessin Keï erfreut darüber, gleich am zweiten Tag, nachdem das Circulum an der Akademie fortgesetzt wurde, den gutmütigen Rotschopf in der Lektion sitzen zu sehen. Und sie fühlte noch viel größere Erleichterung, als sie von ihm hinterher erfuhr, dass es auch Raen den Umständen entsprechend gut ging. Sie bat Manoen, ihm Grüße auszurichten und sprach ihnen den zu ihrem Bedauern leider sehr verspäteten Dank für den vergnüglichen Abend aus, den sie bei der Feier nach den Prüfungen gehabt hatten.
Manoen fühlte sich geschmeichelt, weil die Prinzessin ihn ansprach. Zaghaft erkundigte er sich nach ihrem Ergehen während der Krankheit, und sie berichtete, sie und ihr Bruder seien von ihren Leibwächtern, die für solche Fälle entsprechende Anweisungen hatten, schnell aus Borgossa herausgebracht worden. Zusammen mit Angehörigen anderer namhafter Adelsfamilien waren sie mit einem Schiff nach Benezzo gefahren, das an der östlichen Küste von Mediana lag, und von dort aus weiter bis in die südlicheren Gefilde gereist, wo das Klima wärmer war als in Borgossa, und das Fieber deshalb dort nicht hingelangen konnte. Die zweieinhalb Monate, in denen die Krankheit in Borgossa wütete, hatten sie als Gäste am Hofe des medianischen Königs verbracht und stetig auf Nachrichten aus der Stadt des Friedens gewartet. Nur vage hatten sie sich ausmalen können, welch unsägliches Leid dort geherrscht haben musste. Und nach all dem Bangen und Hoffen hatte es schließlich Entwarnung gegeben, und sie waren auf schnellstem Wege wieder nach Borgossa zurückgereist - mit der nur allzu begründeten Furcht möglicherweise nur wenige der Studenten wiederzusehen, mit denen sie noch ein paar Wochen zuvor fröhlich gefeiert hatten.
„Es hat nur zwei von der Akademie erwischt“, sagte Manoen, „Lamberto und Çentavio. Sie sind wohl nicht rechtzeitig von hier fortgekommen, nehme ich mal an.“ Prinzessin Keï senkte betroffen das hübsche Haupt. „Maestro D’Alfaro geht es immer noch nicht sehr gut. Er wird durch Uberth vertreten. Und Maestro Karbald übernimmt die Lektio von Emiglio, dessen ganze Familie dem Fieber erlegen ist, und der sich um vieles noch zu kümmern hat. Ich hoffe, er kommt überhaupt wieder.“
„Und bei Euch im ...“, sie schien nach einem Wort zu suchen, welches ihr dann schließlich auch einfiel, „... Hytena?“
„Drei.“
„Oh, das tut mir leid“, flüsterte die Prinzessin, während hinter ihr Prinz Bendan schon eine ganze Weile unangenehm berührt schwieg. „Kann ... kann ich noch irgendetwas für Euch tun?“, fragte sie ungewohnt schüchtern.
„Warum solltet Ihr das?“
„Nun, weil ... Ihr immer so wenig habt, weil keiner Euch hilft.“
„Ihr müsst Euch nicht verpflichtet fühlen, Prinzessin. Ihr habt das getan, was für Euer Wohlergehen wichtig war. Ihr tragt große Verantwortung vor Eurem Volke. Es ist nur natürlich, dass Ihr Euch nicht um Dinge kümmern könnt, die vollkommen belanglos sind gegenüber den Interessen Eures Reiches. Das würde niemals jemand von Euch verlangen. Und was uns Hy anbelangt, wir sind beileibe nicht so hilflos, wie hartnäckige Gerüchte es behaupten. Wir kommen sehr gut allein zurecht. Das mussten wir schon immer, und das werden wir auch weiterhin tun. Daran wird sich nichts ändern. Unser Vorteil ist es, dass wir uns nicht auf andere verlassen und uns stets selbst zu helfen wissen. Trotzdem, vielen Dank für Eure Sorge.“ Manoen bemühte sich, nach außen hin gelassen zu wirken, denn innerlich war er aufgewühlt wie die See bei einem Sturm. Er war hin und her gerissen zwischen Missbilligung und Vergebung. Aber er würde einen Teufel tun, einer Prinzessin Vorhaltungen über ihre Weltanschauung zu machen. Sie war nun einmal mit den üblichen Vorurteilen aufgewachsen, und vielleicht hätte es Raen gewagt, ihre Vorstellung, die sie von den Hy hatte, noch mehr zu berichtigen. Denn er ignorierte Titel- und Ständewesen einfach und tat das, was er selbst manchmal Manoen vorwarf: Ohne Vorbehalt munter drauflos plappern, allerdings weitaus scharfzüngiger. Doch Manoen war sich sicher, dass Raen in diesem Falle dieselbe Antwort gegeben hätte. Denn er war im Gegensatz zu ihm mit einem beneidenswert großen Maß an Selbstverständnis stolz auf seine hyaunische Abstammung. Und er ließ sich von nichts und niemandem in diesem Selbstverständnis beirren.
„Ich bitte um Nachsicht, Manoen, ich wollte Euch nicht beleidigen, ich wollte nur helfen.“ Die Prinzessin klang jetzt wieder sehr reserviert.
„Ihr müsst Euch nicht entschuldigen. Wir sehen die Dinge nur unterschiedlich“, lenkte Manoen ein, denn er wollte nicht undankbar erscheinen. Im Grunde mochte er die Prinzessin in diesem Moment noch mehr als vor der freimütigen Verkündung ihrer Anteilname. Sie war ein guter Mensch, das spürte er. „Unsere Völker können verschiedener nicht sein, aber seid dennoch versichert, dass wir Euer Angebot zu schätzen wissen, auch wenn wir es nicht annehmen.“
Die Prinzessin lächelte versöhnlich und nickte. „Ihr habt Recht, verzeiht, dass ich Euch unterschätzt habe.“
Sie war auch ein scharfsinniger Mensch, dachte Manoen vergnüglich und als Antwort verneigte er sich huldvoll. Prinzessin Keï und ihr Bruder verabschiedeten sich und mit ihren versteinert dreinschauenden Leibwächtern machten sie sich auf den Weg zu den Übungsplätzen, wo sie zweifellos das Marschieren unter Maestro Uberth erwartete.
„Wir werden jetzt den neuen Hausvorstand wählen“, sagte Manoen, der in der kleinen Runde, die sie jetzt waren, vorerst das Reden übernommen hatte, denn neben Reko war er derjenige, der am längsten von ihnen allen in Borgossa war. Und ausnahmsweise sprach er heute auch Hyaunisch. Sie hatten das Nachtmahl beendet und waren dann gleich zum Thema gekommen.
„Hyaunset Reko, Kennarparta Toruma und Konjunset Baeli sind unsere ältesten.“ Manoen sah die drei Kandidaten an, die etwas unwohl aus der Wäsche guckten. „Zwischen ihnen wird gewählt.“
„Wenn ich um ein Wort bitten dürfte?“, Reko erhob sich, nachdem Manoen nickend zugestimmt hatte.
„Wie ihr alle wisst, sind meine Bemühungen an der theologischen Fakultät nicht ganz unerheblich. Und all das soll jetzt endlich belohnt werden, denn ich bin im Begriff, den Maestrotitel zu erhalten.“ Alle in der Runde raunten anerkennend. Das war eine große Sache: Ein hyaunischer Maestro! Der erste und wahrscheinlich auch einzige, den es je in Borgossa oder anderswo geben würde.
„Doch dafür fehlen mir noch zwei Jahre Assistenz bei einem Maestro del Lektio“, sprach Reko weiter, „und ich werde deshalb in Kürze zum Assessore meines verehrten Mentors, Maestro Padre Huilios, ernannt. Das bedeutet aber, dass ich fortan nur noch auf dem Campo zu Hause sein werde. Ich werde nicht mehr viel Zeit finden, mich hier im Hytena aufhalten zu können. Es wäre also falsch, wenn ich mich für die Wahl zur Verfügung stellen würde, da ich meine Aufgabe nicht befriedigend erfüllen könnte. Wären die Dinge anders, so würde ich mich nicht scheuen, diese Verantwortung zu übernehmen, denn ich hatte das Amt des Hausvorstandes ja bereits schon einmal inne. Ich bitte euch daher alle, mich davon zu entlasten, und hoffe inständig, ihr vergebt mir meine eigennützige Abkehr von diesem Hause. Dennoch werde ich mich weiterhin bemühen, die Ehre unseres Volkes zu vertreten. Natürlich werde ich auch meiner Pflicht als Priester nachkommen und euch immer zur Verfügung stehen, wenn ihr mich braucht. Nur eben nicht mehr hier, sondern in meinem Quartier auf dem Campo. Außerdem möchte ich mein Stimmrecht an der heutigen Wahl abgeben, da ich denke, dass ich keinerlei Befugnisse mehr habe, über etwas zu entscheiden, das ich in Zukunft nicht mehr mit euch teilen kann. Danke, dass ihr mich angehört habt.“ Er setzte sich wieder, und es herrschte einen Augenblick in sich gekehrte Stille. Nur Sel konnte man an seinem verkrampften Gesichtsausdruck ansehen, dass es in ihm brodelte wie in einem Vulkan kurz vor einem Ausbruch. Und der ließ auch nicht lange auf sich warten. Ohne die Regeln des Palan - des Rates - zu beachten, ergriff er unerlaubt das Wort.
„Die Ehren unseres Volkes zu vertreten, ha, dass ich nicht lache!“, stieß er hasstriefend aus. „Du siehst doch bloß endlich eine Möglichkeit, dich hier aus dem Staub zu machen. Du willst nichts mehr mit uns zu tun haben, weil du glaubst, du bist etwas Besseres! Du Verräter an deinem eigenen Gott bist doch längst zu der Götze deines Mentors übergelaufen! Sieh dich doch mal an, du trägst ja schon ihre Kleidung.“ Er wies mit dem Finger auf den dunklen Talar, den Reko seit kurzem zu tragen pflegte.
„Banskeid Sel! Solcherlei anschuldigende Einwände sind hier nicht erwünscht! Ich bitte um vernünftige Kritik, ansonsten hat hier ein jeder zu schweigen, bis er meine Erlaubnis zum Reden erhält!“ Manoen saß mit kerzengeradem Rücken und erhobenem Zeigefinger vor ihnen. Raen war von der ernsten Bestimmtheit des Rotschopfes überrascht, riss dieser sich doch sonst nicht darum, sich mit Sels ständiger Stänkerei auseinanderzusetzen. Aber das hier ging beileibe zu weit, und Manoens Position als führender Redner verlangte es, ihn in die Schranken zu weisen. Denn zum Einen mussten die Regeln des Palan eingehalten werden, und zum Anderen hatten solch infame Beleidigungen hier nichts verloren. Doch bevor er zu einer Rüge ansetzen konnte, hob Reko die Hand. Der für gewöhnlich so gefasste und zurückhaltende Hyaunset bebte förmlich angesichts dieses skandalösen Affronts gegen ihn. Manoen erteilte ihm das Wort, und Reko richtete es direkt an seinen Beleidiger.
„Du hast Recht, Sel“, bewusst ließ er die eigentlich korrekte Anrede aus, „ich war im vergangenen Jahr mehr in Borgossa als hier im Hytena zu Hause und ich habe die Gemeinschaft hier zugunsten meines eigenen Fortkommens auf unentschuldbare Weise vernachlässigt. Darum habe ich auch um eure Vergebung gebeten. Aber ich habe dennoch sehr wohl bemerkt, wie hier noch eine ganz andere Art von Selbstsucht als die meine Einzug gehalten hat. Eine aus verletztem Stolz und falsch verstandener Rechtschaffenheit hervorgebrachte Selbstsucht, nur zu dem schändlichsten aller Zwecke erschaffen, andere zu demütigen!“ Reko holte tief durch die Nase Luft, schloss kurz die Augen und sammelte sich, dann fuhr er mit gesenkter Stimme fort: „Du bist eine jämmerliche Kreatur, Sel, du bist es nicht wert, ein Banskeid genannt zu werden. Entgegen aller deiner Annahmen bist nämlich du derjenige, der am weitesten vom Weg Hyauns abgekommen ist. Treue, Aufrichtigkeit und Opferbereitschaft stehen längst nicht mehr auf deinem Banner! Und eigentlich solltest du es sein, der alle hier Anwesenden um Verzeihung anzuflehen hat, denn du trägst die Schuld daran, dass Unfrieden in dieses Haus gebracht wurde! Vor Hyaun solltest du in Demut niederknien und um Gnade für deinen zerrütteten Geist winseln! Wer bist du also - der so tief gesunken -, mich eines Verrats zu bezichtigen, wenn du doch ein weitaus größerer Verräter an unseren hyaunischen Werten bist! Einen Rat für dich, Sel, denke in Zukunft besser zuerst an deine eigene Unzulänglichkeit, bevor du über andere Menschen vorschnell urteilst!“ Die klare Stimme Rekos verstummte, hallte aber lange in den Köpfen der Anwesenden nach. Alle waren so sehr von seiner direkten und scharfen Rede überrascht, dass keiner etwas darauf zu sagen vermochte.
Aber natürlich machte Sel einen Versuch, sich zu verteidigen. „Und was ist mit Manoen? Der ist ja wohl auch kein wahrer Ausbund an Tugend, und Raen, der kleine Angeber ...“
„Beide sind redlich bemüht ihr Bestes zu geben. Jeden Tag! Du hingegen denkst nur an die eigene kleine Befriedigung deiner krankhaften Geltungssucht!“, fuhr Reko ihm über den Mund.
Sel sprang auf. Sein Gesicht war rot vor Wut. „Du verfluchter Überläufer! Du beschuldigst mich der Geltungssucht? Du bist doch selbst der personifizierte Ehrgeiz, Herr Maestro!“
„Schweigt, beide!“, donnerte Manoen mit seiner durchaus kraftvollen Stimme dazwischen, und alle Anwesenden blickten von den beiden Gescholtenen zu ihm. Der Rotschopf konnte nur mühsam seinen eigenen Zorn im Zaum alten. Aber es gelang ihm schließlich, ruhig weiterzusprechen: „Es ist wahrlich besser, wenn hier jetzt nicht noch mehr Leute beleidigt werden!“
„Ich bitte den Palan ergebenst um Verzeihung!“ Reko verneigte sich zerknirscht. „Ich habe mich zu schlechtem Verhalten hinreißen lassen, entschuldigt vielmals!“
Manoen sah zu Sel auf, der trotzig wie ein kleines Kind das Kinn vorgeschoben hatte und auf sie herabblickte.
„Und?“, fragte Manoen ihn.
„Was, und?“
„Bekommt der Palan von dir auch eine Entschuldigung?“
„Ich soll mich bei dir entschuldigen? Niemals!“ Sel kreuzte die Arme vor der Brust.
„Dann verweise ich dich mit sofortiger Wirkung aus dem Rat!“ Manoen wies auf die Tür.
‚Das war konsequent! Unüblich, aber sehr konsequent, alle Achtung, Manoen’, dachte Raen und beobachte derweil mit wachsender Genugtuung Sel, der auf diese unschöne Weise beigebracht bekam, dass er mit dem Tod von Machol auch seinen letzten Rückhalt im Hytena verloren hatte. Niemand in der Runde machte Anstalten, für ihn zu sprechen. Scheinbar teilnahmslos sah man irgendwo hin, nur nicht in seine Richtung. Raen konnte nur vermuten, wie erschütternd es in diesem Moment für Sel sein musste, das Bewusstsein darüber zu erlangen, wie schlecht gelitten er hier im Hytena war und wie alleine er tatsächlich dastand. Sichtlich bestürzt über diese Erkenntnis, schnaubte der Ausgeschlossene etwas von einer Verschwörung gegen ihn, und dass es ihnen allen noch leid tun würde, und machte sich dann schnell davon.
Als er durch die Tür verschwunden war und sie betont laut hinter sich in die Füllung geworfen hatte, atmete Manoen unwillkürlich erleichtert auf.
„So, hat noch jemand etwas dazu sagen?“, fragte der rote Hüne mit bemühtem Nachdruck. Er schaute jedem in der Runde offen ins Gesicht. „Nein? Gut, dann können wir jetzt ja endlich mit der Wahl fortfahren! Seid ihr beide bereit euch wählen zu lassen?“
Toruma und Baeli nickten.
„Dann bitte ich euch nun, eure Stimmen abzugeben. Wer ist für Kennarparta Toruma als neuen Hausvorstand?“
Zwei von nunmehr nur noch fünf stimmberechtigten Händen hoben sich.
„Und wer ist für Konjunset Baeli?“
Zwei andere und Manoens eigene Hand hoben sich - also drei. Die Wahl war klar. Sichtlich erleichtert, der Verantwortung noch einmal entronnen zu sein, rieb sich Toruma mit den feuchten Handflächen über seine Oberschenkel.
„Hiermit ernenne ich Konjunset Baeli zum neuen Hausvorstand des Hytena. Hier sind die Schlüssel für die Kammer!“ Manoen überreichte Baeli feierlich den bescheidenen Ring mit den zwei Schlüsseln. Der eine war für die Tür der ‚Kammer’ und der andere für das Schloss der Truhe, die in der Kammer stand und in der das gemeinsame Geld des Hytena verwahrt wurde.
Baeli nahm die Schlüssel entgegen und verneigte sich. „Ich nehme die Wahl und mein neues Amt an. Ich werde mein Bestes geben, um dieses Haus friedlich und gerecht zu verwalten.“
„Ich denke, jeder hier ist gerne bereit, dir jeder Zeit mit Rat und Tat zur Seite zu stehen“, Manoen blickte in die Runde, die das einstimmig bejahte.
„Dann ist hiermit der Palan geschlossen!“
Alle erhoben und verabschiedeten sich. Und fast alle gingen zu Bett, nur Manoen und Raen blieben in der Küche, wo noch ein Rest wärmende Glut im Kamin glomm. Manoen setzte sich neben Raen nieder, streckte die langen Beine vor sich aus, lehnte den Kopf zurück an die Wand und stieß vernehmbar Luft aus.
„Du warst gut!“, flüsterte Raen ihm anerkennend zu.
„Hm, danke“, murmelte Manoen zerstreut.
„Möchtest du einen Becher Bier? Ich hole uns etwas aus der Vorratskammer.“
„Hm“, brummte Manoen erneut, und Raen deutete es als ein Ja. Er stand auf, durchquerte die Küche und verschwand in einem angrenzenden Raum. Kurze Zeit später kam er mit zwei gefüllten Krügen zurück. Er reichte einen Manoen, ließ sich neben ihm nieder und prostete seinem Freund zu, bevor er seinen Krug an die Lippen setzte. Das Bier war angenehm kühl, und Raen trank durstig, während Manoen bloß nippte.
„He, was ist denn los? In letzter Zeit bist du so ernst. Freu dich doch lieber über unseren kleinen Sieg heute Abend! Sel hat sein Fett weg!“
„Mir gefällt das alles nicht, Raen.“
„Was?“
„Ach, das war zu viel der Verantwortung für mich, ich kann damit nicht umgehen! Ich halte mich lieber aus solch ernsten Dingen raus.“
‚Das ist schade, mein Freund, dabei bist du besser als du denkst!’, dachte Raen, hörte aber nicht auf, zu stochern. „Und was gefällt dir noch alles nicht?“
„Das, was Sel gesagt hat und wie er sich aufgeführt hat. Er war völlig außer Kontrolle.“
„Wieso, du hast ihn doch gut im Griff gehabt. Ehrlich, das war eine richtig gute Vorstellung von dir. So kannte ich dich noch gar nicht!“ Raen lächelte wohlwollend.
„Jetzt lass meinen Part doch mal aus der Sache raus. Mir hat auch nicht gefallen, was Reko gesagt hat!“
Raen sah ihn verständnislos an, seiner Ansicht nach hatte Sel heute endlich einmal das bekommen, was er verdient hatte. Und das Beste daran war gewesen, dass er selbst nichts dazu hatte beigetragen müssen. Seine Rache erfüllte sich von ganz allein.
„Mensch, Raen, wie konnte es nur soweit kommen, dass wir uns hier gegenseitig so offen beschimpfen? Unter diesem Dach! Wieso machen wir uns gegenseitig fertig? Weshalb beleidigt ein Krieger einen Priester und umgekehrt? Das ist kein gutes Zeichen!“ Manoen klang beklommen, aber Raen verstand nicht, was dieser mit einem Mal damit hatte, dass es hier im Hytena nicht ganz rund lief. Das tat es doch nie, und Manoen war beileibe auch nicht derjenige, der als erster stets darauf bedacht war, sittsam den Hausfrieden zu erhalten.
„Weshalb dieser plötzliche Sinneswandel?“, fragte er ihn. „Du hältst es doch sonst auch nicht so genau mit den Grundregeln unseres Zusammenlebens.“
„Raen, der heutige Abend hat mir Angst gemacht. So reden Hy nicht miteinander, wie Sel und Reko es getan haben.“
„Ja und? Du bist auch nicht gerade ein Vorbild an hyaunischem Benimm. Das sind wir alle nicht.“
„Aber da war noch etwas anderes.“
„Ja, ich weiß, was du meinst: La Furiosa!“
Manoen sah Raen erstaunt an. „Woher weißt du das?“, entfuhr es ihm, und in seinen braunen Augen leuchtete eine seltsame Mischung aus Überraschung und Erlösung.
Raen konnte sich ein trockenes Lachen nicht verkneifen. „Manoen, ich bin ja nicht vollkommen blöd. Sagen wir es mal so, ich weiß es aus eigener Erfahrung. Es ist so etwas wie ein dunkles Familiengeheimnis.“ Raen versuchte möglichst offen zu sein, denn nur so würde er Manoen vielleicht endlich auch etwas von dem entlocken können, was er ihm schon die ganze Zeit verschwieg.
„Hat das mit deinem Bruder zu tun?“, wollte Manoen wissen.
„Ja, auch“, räumte Raen bereitwillig ein.
„Und mit dem ‚Grenzgänger’?“
Raen nickte. Jetzt kam Manoen seinem eigenen Geheimnis gefährlich nahe, aber er war bereit, es gegen das seines Freundes einzutauschen.
„Erzähl mir davon“, forderte der Rotschopf ihn auf.
Raen zögerte kurz. „Aber nur, wenn du mir zwei Dinge versprichst!“
„Welche?“
„Das Erste ist, dass du niemandem hier in Borgossa davon erzählst! Und das Zweite ist, dass du mir im Gegenzug erklärst, warum du ständig auf die Dottersäcke schimpfst! Abgemacht?“
Manoen schien zu überlegen. „Nun gut, abgemacht!“, sagte er dann und hielt Raen seine Hand hin.
Der schlug ein.
„Aber vorher brauche ich noch ein Bier! Ich muss mir etwas Mut antrinken. Ich hoffe, es ist kein Fehler, es dir zu erzählen. Nachher willst du nicht mehr mit mir befreundet sein!“
„Ach was, ich bin nicht so leicht zu verschrecken, ich bin einiges gewohnt. Hier, nimm mein Bier, ich bekomme es eh nicht runter“, bot ihm Manoen seinen noch fast vollen Krug an.
Nachdem Raen ein paar Schlucke genommen hatte, räusperte er sich und begann zu erzählen. Es war ein langer, ausführlicher Bericht, in dem er nichts ausließ, bis auf seine hellsichtigen Träume und die Prophezeiung Soghuls - das letztere Geheimnis würde er mit in sein Grab nehmen. Trotzdem versuchte er, so gut wie möglich dem aufmerksam zuhörenden Manoen zu beschreiben, warum er damals im Krieg gegen die Askharer den Entschluss gefasst hatte, die Grenze zu überqueren, und warum es schließlich dazu gekommen war, dass er vierundzwanzig askharische Wachleute und den Obersten General der feindlichen Armee getötet hatte. Als er mit seiner Schilderung geendet hatte, wie es ihm anschließend mit seiner schweren Verletzung ergangen war, lag ein verblüffter Ausdruck auf Manoens Gesicht.
„Wahnsinn, das warst also du!“, bemerkte der Ältere mit so unverhohlener Bewunderung, dass Raen ganz mulmig wurde.
„Weshalb sagst du das so?“
„Weil hier jeder in Borgossa, nein, verzeih, ich übertreibe, aber zumindest hat die gesamte Akademie darüber gesprochen.“
Raen runzelte die Stirn.
„Die Verbreitung von Informationen funktioniert hier recht gut, wie du wissen dürftest, erst recht, wenn es sich um solche handelt, für die sich das gesamte Ausland brennend interessiert“, feixte Manoen. „Überall wurde erzählt, dass ein Hy den askharischen General umgebracht haben soll - meuchlings und niederträchtig. Ich gebe ehrlich zu, ich hatte es bis heute für eine infame Lüge der Askharer gehalten, die damit nur ihre eigene Unfähigkeit zu verdecken versuchten. Denn meuchlings und niederträchtig passt ja bekanntermaßen nicht zu einem Hy, nicht wahr? Deshalb habe ich auf das Gerede nicht viel gegeben. Aber wenn ich gewusst hätte, dass es tatsächlich stimmt ...“ Er hielt inne, als treffe ihn eine Erkenntnis. „Jetzt verstehe ich auch, warum mir Sel diese Narbe verpasst hat!“ Bedeutungsvoll strich er sich über den verheilten Schnitt auf seiner linken Wange, der dem von Raen so ähnlich war. „Mann, das ist ein Ding! Raen, du hast diese Schweine alle in die Hölle geschickt!“
„Wenn du in Hy gewesen wärest, dann hättest du es gewusst. Alle wissen es dort. Alle kennen meinen Namen.“
„Ja, aber das ist doch großartig. Du hast den Krieg beendet! Du allein.“ Er nahm Raens Unterarm und drückte ihn anerkennend, als begrüßten sie sich heute zum ersten Mal.
Raen war unbehaglich. „Ich bin hart dafür bestraft worden, weil ich das auch so gesehen habe.“, entgegnete er. ,,Leider war kein anderer außer mir dieser Meinung. Und wenn du meinen Namen irgendwo in Hy erwähnst, dann wird dir jeder von dem Grenzgänger erzählen, der zwar den Krieg beendet hat, sich aber auf schändliche und volksgefährdende Weise über die oberste Regel der Kriegerkaste hinweggesetzt hat.“
„Welch unbegreifliches Kleindenken! Aber das ist typisch für unsere Obrigkeit. Anstatt dir zu danken, weil du mit der vorzeitigen Beendigung des Krieges vermutlich vielen Menschen das Leben gerettet hast, machen sie dir Vorwürfe. Die sind doch alle nicht ganz beisammen hier oben!“ Manoen ließ einen Zeigefinger neben seiner Schläfe kreisen. „Lieber würden sie all ihre Krieger in den Rachen des Todes schicken und zusammen mit ihrer verkorksten Gerechtigkeit zu Grunde gehen, als zum Wohle des Volkes einmal auch nur einen Deut davon abzuweichen. Allen voran der Setna. Der ist doch der Meisterspinner in diesem Stall voller aufgeblasener und wichtigtuerischer Affen! Ich bin froh, dass seine Stimme hier in Borgossa kaum zu hören ist. Dieses ewige Geplapper im Kopf zu haben, macht einen auf Dauer ja ganz irre!“
„Manoen!“, rief Raen seinen Freund empört zur Vernunft.
Doch Manoen hatte sich gerade erst so richtig in Rage geredet und wetterte munter weiter: „Diese Dottersäcke denken doch, sie hätten die Weisheit mit silbernen Löffeln gefressen, dabei sind sie nicht einmal halb so schlau wie unser Reko hier! Die haben doch nicht den blassesten Schimmer davon, dass außerhalb ihrer engstirnigen Gedankenwelt auch noch anderes existiert. Sie haben keine Ahnung, wie die Welt vor diesen verdammten Mauern aussieht, mit denen sie ihr Volk einsperren! Sie ...“
„He, Manoen, jetzt beruhige dich mal wieder! Im Übrigen kann ich dir sagen, dass Al Setna Dharin ein ganz vernünftiger Mann war und zu den wenigen gehörte, die mir keine langen Vorhaltungen gemacht haben. Ich habe damals mit ihm sprechen können, und er hat mir verziehen.“
„Aber trotzdem bist du bestraft worden, ja? Das sieht ihnen ähnlich. Die Form muss stets gewahrt werden! Oh, dieses selbstgerechte Pack macht mich ganz krank!“ Er hatte beide Hände erhoben, die Finger zu Klauen gekrampft und die Zähne gefletscht, und Raen musste zugeben, dass es ihn doch immer wieder erschreckte, wenn Manoens Wut auf die heimische Priesterschaft derart heftig zu Tage trat.
„Der Setna hätte doch nicht viel gegen mein Urteil unternehmen können. Er muss sich genauso an unsere Gesetze halten wie alle anderen“, versuchte er zu beschwichtigen.
„Ich glaub’ es einfach nicht, Raen, wieso nimmst du dieses ganze Geschmeiß eigentlich noch in Schutz? Sie waren es doch, die dich -“ Plötzlich verstummte Manoen, als hätte er sich an einem der Worte verschluckt.
„Was ist? Red’ weiter. Sie haben mich was?“
„Na ja, bestraft eben.“ Er sah Raen kurz an. „Sie haben dir eine unnötig harte Buße aufgebrummt, finde ich.“
„So schlimm war die Buße nicht, das Gerede über mich ist viel übler. Und jetzt hängt mir der Grenzgänger an, wohin ich auch gehe. Selbst Sel hat es hier in Borgossa irgendwo aufgeschnappt und sich seinen Reim darauf gemacht. Es ist nicht gut, dass er es weiß, keine Ahnung, wo er es schon überall herum posaunt hat.“ Raen stöhnte. „Und dabei wollte ich meinen Ruf hier reinwaschen, damit ich Sunekas Ehre nicht noch weiter verunglimpfe, wenn ich sie heirate. Was ist das bloß für ein komplizierter Mist!“ Selbstvergessen schlug sich der Jüngere mit der flachen Hand auf seinen Unterschenkel. Die Gemütsveränderung seines Freundes neben ihm schien er nicht registriert zu haben. Angespannt kaute Manoen auf seiner Unterlippe und schaute unbehaglich in die Glut des Kamins.
Doch dann erwachte Raen schließlich aus seinen eigenen Gedanken und fragte mit einem kleinen spitzbübischen Grinsen: „Und, was ist? Erzählst du mir jetzt von dir?“
Manoen schien sich seine Unschlüssigkeit beiseite zu wischen und sah Raen an. Er hob und senkte die Schultern. „Da ist nicht viel, ich mag die Dottersäcke halt allesamt nicht.“
„Manoen!“, mahnte Raen seinen Freund, sich an ihre Abmachung zu halten.
„Schon gut, schon gut. Ich erzähl ja schon!“ Während der Ältere dies sagte, verschränkte Raen die Hände hinter seinem Kopf und lehnte sich entspannt zurück.
„Aber du musst mir gleichfalls dein Wort geben, es nicht weiter zu erzählen, denn Sel weiß davon ausnahmsweise einmal nichts!“
„Na klar, du kannst dich auf mich verlassen.“
Der rote Hüne leckte sich nervös über die Lippen, so als sei der Berg an Erinnerungen zu gewaltig.
„Schon als ich klein war“, begann er schließlich beim Naheliegensten, „hatte ich ständig Ärger mit den Priestern. Ich war ihnen zu wild und ungehorsam. Ich machte allerlei Dummheiten und war nicht besonders von den Konsequenzen beeindruckt, die meine Taten nach sich brachten. Ich tat, was ich wollte, und kümmerte mich wenig um Verbote. Irgendwann begann meine Mutter sich für mich zu schämen. Das hat sie mir zwar nie so gesagt, aber ich habe es in ihren Augen gesehen. Und auch mein Vater distanzierte sich von mir. Es schien, als zöge sich meine ganze Familie vor mir zurück, selbst mein jüngerer Bruder. Er nannte mich in einem fort ‚Rotes Eselchen’. Da habe ich ihn eines Tages verprügelt. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren war, aber ich fand, er hatte eine Abreibung verdient! Also steckten sie mich in den Tempel - damit ich ruhiger würde, hieß es.“
Raen hatte die Hände heruntergenommen und in den Schoß gelegt. Fasziniert lauschte er Manoens Bericht, der eine frappierende Ähnlichkeit mit seiner eigenen Kindheit hatte.
„Aber ich wehrte mich dagegen, denn ich sah nicht ein, warum ich im Tempel mit diesen Langweilern herumsitzen sollte, während meine Freunde draußen miteinander spielten. Ich schwänzte den Unterricht dort, ging nicht mehr hin. Trieb mich stattdessen mit meinen Freunden herum und verleitete sie zu einer Menge Blödsinn, das gebe ich zu. Aber das machte die Priester natürlich noch ärgerlicher.“ Manoen unterbrach sich und rieb sich über die Stirn. Sein Aun schimmerte dabei sanft im Licht der Öllampe, die über ihnen in der Essnische hing. Er ließ die Hand sinken. „Ich war elf, als sie mich eines Tages in den Tempel schleppten und mir einfach so die Haare abschoren. Anschließend sagten sie mir, ich müsse für immer im Tempel bleiben, wenn ich nicht endlich vernünftig werde und gehorche. Ich könnte es mir überlegen!“
Raens Mund öffnete sich schockiert, aber es kam kein Ton raus. Sein Blick suchte den von Manoen, doch der hielt ihn gesenkt.
„Ich wusste ja nicht, dass sie das eigentlich gar nicht tun durften, dass sie nicht das Recht hatten, derart über mich zu bestimmen. Ich hatte unglaubliche Angst! Ich habe geheult, geschrien und getobt, doch sie hatten mich in eine der kleinen Kammern über dem Oberen Heiligtum gesperrt, wo mich keiner hören und sehen konnte.“
„Aber das ist doch nicht möglich! Warum hat dir keiner geholfen? Was war denn mit deinen Eltern?“, machte Raen seiner Entrüstung Luft. Das haarsträubende Unrecht, das seinem Freund in seiner Jugend widerfahren war, ließ ihn einfach nicht länger ruhig zuhören.
„Die Priester haben ihnen gesagt, es sei nur zu meinem Besten. Und sie haben es ihnen geglaubt, warum sollten sie das auch nicht? Was die Priester sagen, ist doch schließlich Gesetz.“ Manoens Stimme war ganz brüchig vor Bitterkeit. „Ich hatte in dieser Kammer zu schlafen, zu essen und zu lernen. Lernen, den ganzen Tag lang, zusammen mit einem alten, verknöcherten Priester namens Mako. Ich habe ihn verabscheut, ihn gehasst! Er war so überzeugt von seiner Annahme, das Richtige zu tun, so selbstversessen in seiner tiefen Gläubigkeit. Ich erinnere mich noch heute an seinen verkniffenen Mund, wenn er mir Vorhaltungen über mein schlechtes Benehmen machte. Ich verabscheute jede Falte in seinem vertrockneten Gesicht, das er mir immer so nah entgegen streckte, dass ich die Äderchen auf seiner großen Nase sehen und seinen Atem riechen konnte. Ich verabscheute seine krächzende Stimme, seinen stets überlegenen Gesichtsausdruck, seinen abfälligen, wässrigen Blick, seinen Geruch nach Tempelmuff und greisem Welk - einfach alles an diesem Mann! Und er hat mir beileibe keine Erleuchtung gebracht, wie es durchaus sein wohlmeinendes Anliegen gewesen sein mochte, sondern er hat mein Leben zu einem finsteren Alptraum verdunkelt, in dem es nichts anderes als sein Gesicht und seine gelbe Robe gegeben hat. Ein halbes Jahr war ich dort mit ihm eingesperrt. Sechs verdammte Monate!“ Manoen hustete in die hohle Hand. Es war ein trockener Laut, aber Raen erkannte darin, wie sehr sein Freund um Fassung rang. Ihm wurde bewusst, wie viel Glück er selbst doch mit dem einfühlsamen Loenka gehabt hatte. Und er bewunderte es, dass Manoen trotz allem ein solch fröhlicher Mensch geworden war.
„Am Ende habe ich alles getan, was er von mir wollte. Ich habe ihm geschworen, mich zu bessern und keine peinliche Aufmerksamkeit mehr zu erregen. Ich habe ihm sogar versprochen, täglich morgens und abends bei Hyaun um Vergebung für meinen schlechten Charakter zu bitten! Nur damit dieser Mann mich in Ruhe ließ!“ Manoen schwieg daraufhin einen Moment und sah dann Raen direkt an. „So, jetzt weißt du, warum ich so schlecht auf die Dottersäcke zu sprechen bin!“
„Und wie hast du später den Unterricht bei den Priestern überlebt, als du Krieger wurdest?“, wollte der Jüngere wissen.
„Es war eine Qual! Ich war lieber auf den Übungsplätzen und habe mich zusammenschlagen lassen, als auch nur den großen Zeh in den Tempel zu setzen, das kannst du mir glauben. Glücklicherweise ist der alte Mako vor meinem Kall gestorben. Es hätte ihm wahrscheinlich sowie so den Rest gegeben, zu sehen, dass ausgerechnet ich erwählt worden bin. Und ich gebe zu, sein Tod hat in mir eine tiefe innere Befriedigung hervorgerufen.“
„Verständlich.“
„Ja, aber auch sehr verwerflich.“
„Wusstest du, dass ich auch einmal Priester werden wollte?“, fragte Raen nach einigem Zögern.
„Nein“, Manoen zog eine Augenbraue in die Höhe, „wäre ein verdammt großer Verlust für uns gewesen, ehrlich. Du bist der beste Schwertkämpfer, den ich je gesehen habe.“
„Vielen Dank“, sagte Raen verlegen.
„Außerdem hättest du für dein Volk dann nicht das tun können, was du getan hast, nämlich den Krieg zu beenden. Das war in meinen Augen eine wirklich große Tat, falls du das wissen möchtest. Es war sehr mutig! Und du hättest anderes dafür verdient, als das hier.“
„Als das hier?“, hakte Raen nach.
„Ich bin ziemlich müde.“ Manoen streckte sich. „Ich glaube, ich gehe jetzt ins Bett. Bis morgen.“ Er erhob sich steif, schlurfte zum kalten Herd hinüber, stellte seinen leeren Krug darauf ab und ging in die Dunkelheit der schon recht fortgeschrittenen Nacht hinaus. Bewegt schaute Raen ihm hinterher. Manoen hatte seinen Teil der Abmachung eingehalten und ihm endlich von sich erzählt, und es war eine weit erschütterndere Eröffnung, als Raen es je vermutet hätte. Aber es schien Manoen keinerlei Erleichterung verschafft zu haben, sich diesen bedrückenden Teil seiner Vergangenheit einmal gründlich von der Seele zu reden. Raen dagegen hatte eine gewisse Befreiung dabei empfunden, seinem Freund endlich in die Geschichte von der Grenze einzuweihen. Er fühlte sich jetzt wesentlich besser. Es machte ihre Freundschaft noch viel enger. Ob Manoen das allerdings genauso sah, wusste er nicht.
Noch viel zu aufgewühlt, um schlafen zu gehen, holte sich Raen einen weiteren Becher Bier, löschte das Licht und trank allein mit sich und seinen Gedanken in der Stille der dunklen Küche.
Am nächsten Tag, den Raen reichlich unausgeschlafen begann, schien Manoen seltsam reserviert. Zumindest ließ er sich nicht das Geringste von ihrem vertraulichen Gespräch anmerken. Auf dem Weg in die Stadt sprach er davon, heute neue Hühner kaufen zu müssen und dass das Dach des Pferdestalls einer Ausbesserung bedurfte, aber er erwähnte mit keiner Silbe den gestrigen Abend. Raen beließ es dabei. Manoen würde schon noch wieder auftauen.
Auf dem Gelände der Akademie trennten sich ihre Wege. Manoen ging zum Zeughaus, um sich sein Trainingsgerät zu beschaffen, und Raen verschwand im Lektionsgebäude. In der Eingangshalle traf er auf Prinzessin Keï, die ausnahmsweise einmal ohne ihren Bruder unterwegs zu sein schien. Sie lächelte ihr umwerfendes Lächeln, das Raen unwillkürlich erröten ließ. Schnell verneigte er sich. „Prinzessin, es freut mich, Euch wohlauf zu sehen. Habt Dank für Eure Grüße, sie haben mich erreicht.“
„Ist Sennore Manoen etwa sonst kein solch vertrauenswürdiger Bote?“, fragte sie verwundert.
„Oh, doch. Das hatte ich damit nicht sagen wollen. Im Gegenteil, er ist sehr zuverlässig. Und ich würde ihm noch viel mehr als nur eine Botschaft anvertrauen!“
„Und er hatte keinerlei Scheu, ein aufrichtiges Wort mit mir zu sprechen, hat er Euch das auch erzählt?“ Ihre schwarzen Augen leuchteten schalkhaft.
Raen bemühte sich, seinen Blick nicht wieder verlegen abzuwenden. Ihre Offenheit ihm gegenüber machte ihn seltsam befangen.
„Hm, ja, das hat er.“
„Und hättet Ihr gleichwohl gesprochen? Ich frage mich das schon die ganze Zeit.“
„Vermutlich“, antwortete er kurz angebunden.
„Ihr Hy seid schon ein sehr bemerkensw-“
„He, habt ihr es schon gehört?“
Raen und Keï drehten sich zu demjenigen um, der ihr Gespräch so lauthals unterbrochen hatte. Jovani kam auf sie zugeeilt.
„Ah, Campeggio, nur raus mit der Neuigkeit!“, forderte Raen ihn auf.
Jovani sah mit einem Blick, der nicht zu deuten war, die Prinzessin an, sagte dann aber: „Ich komme gerade von Maestro Karbald, der diese Anweisung seinerseits vom Dekanatsrat der Akademie hat. Aus unser aller Heimaturlaub wird wohl leider nichts werden. Es ist soeben beschlossen worden, dass das Circulum bis in den April hinein verlängert wird, um die verlorene Zeit während des Fiebers wieder aufzuholen. Es wird also nicht einmal zwei Wochen Pause bis zum nächsten Circulum geben.“
Die Prinzessin wie auch Jovani bemerkten Raens leises Entsetzen über diese Botschaft an seinem plötzlich veränderten Gesichtsausdruck.
„Ich muss weiter“, sagte Jovani schnell. „Wisst ihr zufällig, wo ich Anthones finde?“
„Nein“, antworteten die Prinzessin und Raen aus einem Munde.
„Ständig muss man diesen Kerl suchen! Mal sehen, unter welchem Rock er diesmal steckt. Ähem, verzeiht, Prinzessin.“ Jovani hob beide Hände und machte sich davon.
„Oh je, was mache ich denn jetzt nur?“, seufzte Raen, als der Graçener verschwunden war.
„Hattet Ihr denn zu Hause etwas Dringendes zu erledigen?“, fragte sie.
„Hm, nein, eigentlich nicht. Aber es ist so, meine Verlobte wartet auf mich. Ich hatte ihr versprochen, zu kommen. Und ich halte meine Versprechen in der Regel. Wisst Ihr, sie hat es nicht leicht, es ist so eine lange Zeit und, na ja, sie will endlich ... klare Verhältnisse, wenn Ihr versteht, was ich meine.“
„Ich denke schon.“ Die Prinzessin schmunzelte wissend.
Raen wurde dieses Thema langsam unangenehm und er war froh, dass Keïs Leibwächter, die wie immer mit grimmigem Blick ein paar Schritte hinter ihr standen, nicht alles mitbekamen, was sie sprachen.
Aber die Prinzessin schien weiterhin an Raens Familienverhältnissen interessiert zu sein, denn sie fragte: „Wann werdet Ihr denn heiraten? Damit ich Euch Glück und gesunden Nachwuchs wünschen kann.“
„In einem Jahr, wenn ich das Studium hier beendet habe“, antwortete er verlegen.
„Es ist bestimmt schwer, so lange voneinander getrennt zu sein, wenn man sich liebt“, bekundete sie versonnen und schien dabei an etwas Bestimmtes zu denken.
„Ja, das ist es. Und ich muss ihr irgendwie Bescheid geben, dass ich nicht komme, sonst macht sie sich noch ganz verrückt vor Sorge!“ Raen biss sich auf den Daumennagel.
„Dann schickt ihr doch einen Boten.“
Raen konnte sich ein kurzes Lachen über diesen allzu naiven Vorschlag der Prinzessin nicht verkneifen. „Es gibt keine Postreiter nach Hy, oder Handelsfahrer, die einen Brief mitnehmen könnten, Prinzessin. Unsere Grenzen sind so dicht wie das Gefängnis von Borgossa. Außerdem hätte ich nicht genügend Geld, um einen Boten für diesen weiten Weg zu bezahlen.“
Die Prinzessin nickte ernst. „Verstehe“, sagte sie.
„Zum Diavolo mit dir, Zaizura! Deine großzügigen Gaben nehmen wahrhaft kein Ende! Jetzt werde ich mein Versprechen nicht einhalten können“, fluchte Raen indes laut halb in Graçenisch und halb in Hyaunisch, denn für die Benennung des Teufels gab es kein vergleichbares Wort in seiner Sprache.
„Eure Verlobte wird sich bestimmt denken, dass Euch nur etwas sehr Wichtiges davon abhält, zu ihr zu kommen“, versuchte die Prinzessin ihn aufzurichten.
„Oh ja, etwas ganz Wichtiges. Dämliche Lektionen bei Karbald zum Beispiel!“, entgegnete er sarkastisch. „Wo wir gerade davon sprechen, ich muss mich beeilen, wenn ich nicht schon wieder seinen heiligen Zorn erregen will. Habt Dank für dieses Gespräch, Prinzessin. Auf bald!“
„Auf bald, Campione!“
Das entlockte Raen schließlich doch noch ein kleines Lächeln. Er verneigte sich knapp und eilte davon.
Manoen, der auch noch nichts von der Verlängerung des Circulums wusste, quälte sich in seiner schweren Vollrüstung über den Platz. Maestro Uberth, der diese Übung für Maestro D’Alfaro übernommen hatte, krähte hinter ihm seine Befehle. Doch Manoen war unkonzentriert und machte ständig Fehler. Der gestrige Abend ging ihm nicht aus dem Kopf. Er schämte sich dafür, weil er es trotz seines Versprechens immer noch nicht über sich gebracht hatte, Raen die volle Wahrheit zu erzählen. Ungeschickt fing er einen Schwertstreich seines Gegners ab und kam dabei gefährlich ins Wanken. Nur mit Mühe gelang es ihm, sein Gleichgewicht wiederzuerlangen und zu kontern. Sie kämpften mit stumpfen Metallwaffen. Im Stillen verfluchte Manoen sich für seine Unfähigkeit, ein direktes und ernstes Wort zu führen. Er fühlte sich, als hätte er seinen Freund betrogen und dessen Vertrauen missbraucht. Raen hatte sich wahrlich Mühe gegeben, ihm seine unangenehme Geschichte so offen wie möglich zu erzählen. Und er hatte im Gegenzug zwar von den Geschehnissen in seiner Kindheit berichtet, was schon schwer genug gewesen war, aber diese waren nur der Beginn einer noch viel größeren Unfassbarkeit gewesen. Und er fürchtete sich vor dieser Unfassbarkeit mehr als vor seinem eigenen Tod.
Plötzlich schepperte es ohrenbetäubend, und Manoen wurde für einen kurzen Moment schwarz vor Augen. Ein saftiger Schlag hatte ihn auf den Übungshelm getroffen. Benommen machte er einen Schritt rückwärts und stolperte. Es krachte noch einmal, als er der Länge nach aufs Kreuz fiel. Er wollte sich aufrichten, doch die schwere Rüstung zog ihn wieder zu Boden. Er fluchte laut, und seine Stimme klang dabei blechern hinter dem Visier hervor. Als schließlich jemand kam und ihm den Klotz von einem Helm abnahm, blinzelte Manoen in das trübe Februarlicht. Maestro Uberth stand neben ihm und sah auf ihn hinab. Manoen spürte, wie etwas Feuchtes über seine Stirn rann und wischte es mit dem kalten Panzerhandschuh fort. Er sah, dass es Blut war.
„Wird ’ne mächtige Beule geben! Vielleicht solltest du den Stirnreif abnehmen, er wird die Schwellung behindern“, konstatierte Uberth über ihm. „Ist sonst alles in Ordnung, Scolario?“
Manoen nickte.
„Gut, für dich ist heute Schluss. Geh’ und lass’ dir die Rüstung abnehmen, und anschließend meldest du dich bei Säge. Aber tu es wirklich, ich werde ihn nachher danach fragen!“
‚Säge’ wurde der alte Medicus der Akademie scherzhaft genannt, weil er früher als Feldscher so manches Bein amputiert hatte. Manoen würde ihn bestimmt aufsuchen, schon allein wegen des dumpfen Kopfschmerzes, der sich langsam meldete. Zwei seiner Kollegen halfen ihm auf, und er verließ dankbar den Übungsplatz.
Trotz der immer stärker werdenden Schmerzen kreisten seine Gedanken weiterhin um Raen. Früher oder später würde sein Freund dahinter kommen, dass das bei weitem nicht alles gewesen war, was er über die Dottersäcke zu erzählen wusste. Denn Raen war, wie er selbst so schön gesagt hatte, nicht dumm und er war äußerst insistent. Das war eine seiner hervorstechendsten Eigenschaften. Der junge Bursche aus Shari war sehr beharrlich in der Befriedigung seiner Neugier und er bekam stets, was er wollte. Manoen zog sich einen Handschuh von der Hand und befühlte die wachsende Beule. Uberth hatte Recht, er sollte sein Aun abnehmen lassen. Glücklicherweise war die theologische Fakultät nicht weit, und Reko würde er sicher dort finden. Nur er konnte ihn von dem Aun befreien. Doch zuerst raus aus dieser Rüstung! Am Zeughaus halfen die Assistenten ihm, die soliden Metallplatten abzulegen, und gaben ihm ein Tuch für seine Stirn. Manoen hoffte inständig, Raen möge ihm vorerst keine Fragen mehr stellen, denn seine Angst vor dem, was geschehen würde, wenn sein Freund die ganze Wahrheit über die Priester erfuhr, war einfach zu groß. Er wollte nicht, dass dieser in seinem Vertrauen in Hyaun so unheilbar erschüttert würde wie er. Er wollte nicht, dass er vollends zu einem Ichor, einem Heimatlosen, wurde, so lange es auch nur den kleinsten Schimmer Hoffnung für ihn gab.
Mit dem Tuch auf die Stirn gepresst ging er hinüber in den Bereich der theologischen Fakultät. Einmal mehr bewunderte er den hohen Turm des Gottesheimes, welches dort stand. Und obwohl es in seinem Kopf dröhnend pochte, legte er ihn in den Nacken und sah zu der goldenen Spitze empor. Dabei stieß er mit einem dieser braun gekleideten Studenten zusammen.
„Oh, entschuldigt bitte“, sagte er.
„Ist ja nichts passiert, mir zumindest. Aber ist mit Euch alles in Ordnung?“ Er hatte das blutgefleckte Tuch entdeckt.
„Ja, kleiner Unfall, ist aber nur halb so schlimm. Könnt Ihr mir vielleicht sagen, wo ich Assessore Reko finde?“
„Ja, natürlich. Er ist mit Maestro Padre Huilios in der Lektio Philosophis. Das ist dort hinten in dem flachen Gebäude. Der Saal ist gleich unten rechts. Aber die Lektion ist gerade im Gange.“
„Oh, das macht nichts. Habt vielen Dank“, entgegnete Manoen unbekümmert.
„Gern geschehen“, verabschiedete sich der Scolario mit einen Stirnrunzeln und marschierte mit seinen Schriftstücken unter dem Arm schnurstracks weiter.
Als Manoen wenig später vorsichtig den Kopf zur Tür in den Saal steckte, bemerkte ihn zunächst keiner. Der Maestro dozierte mit komplizierten Worten über etwas, dass er Transzendenz oder so nannte. Reko saß neben der Cathedra an seinem eigenen Pult. Er hatte seine Hände gefaltet und lauschte andächtig. Manoen winkte ihm heimlich zu, doch nicht Reko wurde schließlich auf ihn aufmerksam, sondern der Maestro selbst. Er hielt in seinem Monolog inne und sah ihn über den ganzen Saal hinweg an. Manoen war es unendlich peinlich, als sich in der entstandenen Stille sämtliche Köpfe nach ihm umwandten. Jetzt hatte auch Reko ihn bemerkt. Er erhob sich, entschuldigte sich bei dem Maestro und kam durch die Bankreihen auf ihn zu. Manoen zog sich zurück in den Vorraum. Als Reko die Tür hinter sich geschlossen hatte, sah er sofort, was los war. Er nahm Manoen, dessen Schädel inzwischen böse brummte, am Oberarm und führte ihn zum Gebäude hinaus, über den Platz hinter dem Gottesheim, zu einem anderen kasernenartigen Haus. Dort traten sie ein und stiegen mehrere Treppen empor. Am Ende eines langen Ganges öffnete Reko mit einem Schlüssel, den er versteckt an einem Ring unter seinem Talar getragen hatte, die Tür und schob Manoen hinein. Es war offensichtlich das Zimmer, das der Hyaunset bewohnte. Es war hyaunisch schlicht eingerichtet, aber mit einem Tisch und einem Stuhl ausgestattet. Beides stand am Fenster, und auf der Tischplatte stapelten sich Bücher und Papiere.
Reko wies Manoen an, sich auf den Stuhl zu setzen, dann kramte er in einer der Truhen an der Wand. Nachdem er gefunden hatte, was er suchte, trat er wieder zu dem lädierten Landsmann. Er machte etwas Platz auf der Tischplatte, öffnete den schwarzen Stoffbeutel und sortierte die Utensilien heraus, die er brauchen würde.
„Tut es schon sehr weh?“, fragte er nebenbei.
„Ja, ganz gewaltig sogar. Ich wäre froh, wenn das Aun bald abkäme.“
„Immer mit der Ruhe. Angesichts der Tatsache, dass ich nicht mehr bei euch im Hytena bin, werde ich dir jetzt erklären, wie das geht, damit ihr es in Zukunft selber durchführen könnt. Die Gefahr, einmal nicht da zu sein, wenn so etwas passiert, ist zu groß. Ich finde es sowieso unverantwortlich, euch hierher nach Borgossa zu schicken, ohne euch beigebracht zu haben, wie ihr es abnehmen könnt. Da, iss das. Es ist aber nur ein halbes, damit du mir noch folgen kannst.“ Er steckte Manoen ein kleines Kügelchen Zhangha zwischen die Lippen.
„Oh, wie lange hatte ich nichts davon!“, sagte dieser verzückt und kaute genüsslich darauf herum. Die entspannende Wirkung kam sofort. Manoen spürte seine Glieder angenehm schwer werden. „Wundervoll!“, seufzte er zufrieden.
„Hör mir jetzt gut zu!“ Reko hielt seinen Zeigefinger vor Manoens Nasenspitze. „Du nimmst immer etwas Zhangha vorher. Ein halbes Kügelchen reicht, wenn du es selbst machen willst. Ich gebe dir meinen ganzen Vorrat davon mit, der reicht noch für lange Zeit, wenn da nicht wieder jemand mit unlauteren Absichten beigeht“, spielte er auf Sels Diebstahl an. „Pass also gut darauf auf!“
„Warst du eigentlich zu Hause auch Zhangha-Priester?“, fragte Manoen. Er hatte einen ganz seligen Gesichtsausdruck.
„Ja, natürlich war ich Zhangha-Priester, sonst könnte ich dir das hier jetzt wohl nicht erklären, oder etwa nicht!“, entgegnete Reko trocken. Manoen und der Priester hatten nie ein besonders herzliches Verhältnis zueinander gehabt. Doch obwohl Reko ein Dottersack war, hatte Manoen ihn immer gemocht.
„Sag mal, Reko, warum bist du eigentlich hier? Weißt du es?“, nuschelte er träge im beginnenden Rausch.
Reko zog die Brauen zusammen und schnippte mit den Fingern vor dem Gesicht des Rotschopfes. „He, hier bin ich. Konzentrier dich jetzt auf das, was wir hier zu tun haben, Manoen, das ist wichtig! So, zuerst nimmst du das hier.“ Er hob ein kleines, goldenes Werkzeug hoch, das aussah wie ein um die Ecke gebogener Spatel. Die Spitze war hauchdünn und so breit wie ein Fingernagel.
„Aha.“ Manoen schielte auf das Werkzeug in Rekos Hand.
„Dann reibst du die Spitze mit diesem Balsam hier ein.“ Er öffnete eine kleine Dose und rieb etwas von dem weißlichen Zeug auf das Werkzeug. „Anschließend kommt der heikle Teil. Du schiebst die Spitze vorsichtig unter das Aun“, erklärte Reko weiter, „hörst du, sehr vorsichtig, und zwar an den Punkten, an denen es mit dir verbunden ist, falls du dich noch daran erinnern kannst. Sie sind hier, hier und hier.“ Reko tippte auf die drei Stellen von Manoens Stirn, und der Krieger nickte mit einem Mal sehr wach. Das Zhangha hatte endlich seine volle Wirkung entfaltet. Sehr aufmerksam blickte er Reko mit seinen geweiteten Pupillen an, während dieser tat, was er soeben beschrieben hatte. Er löste mit einer kleinen geschickten Bewegung aus dem Handgelenk das Aun vom seinem ersten Punkt.
„Du musst das Werkzeug nur leicht ankanten, siehst du, so, dann bekommst du das Aun frei. Danach steckst du deinen Finger darunter, damit es auch lose bleibt. Dann kommt der Punkt in der Mitte der Stirn.“ Reko verfuhr in gleicher Weise, und Manoen zuckte leicht zusammen, als sich das Aun auch hier löste. Ein leichter Schwindel erfasste ihn, und das hintergründige Summen klang nur noch verzerrt zu ihm durch.
„Der Finger bleibt unter dem Aun, wenn du die letzte Stelle löst. Das ist ein unangenehmer Moment. Achtung.“ Er drehte kaum merklich das Handgelenk, und in dem Augenblick, in dem das Aun endlich frei in seine Hand fiel, verdrehte Manoen die Augen in seinen Höhlen. Er gab ein unfreiwilliges Stöhnen von sich und verkrampfte kurz die Hände um die Stuhllehnen.
Reko legte das Aun auf den Tisch und rieb die Stirn des Hünen, wo der Reif gesessen hatte, mit dem Balsam ein.
Manoen kam wieder zu sich.
„Oh, Mann, ich hab ganz vergessen, wie unschön das ist“, jammerte er. Er war erstaunt über die plötzliche Leere in seinem Kopf, die sich anfühlte wie ein scheinbar unüberwindlicher Verlust. Ein beklemmendes Gefühl zog seinen Brustkorb zusammen.
„Wenn du es gleich einreibst, wird es schell besser. So, fertig. Die Beule ist ganz ordentlich.“
„Hm, danke, Reko.“
„Meinst du, du wirst das beim nächsten Mal selbst hinbekommen?“
„Ich denke schon.“
„Gut, dann kann ich das Werkzeug vertrauensvoll in deine Hände legen.“
Manoen warf Reko einen unbehaglichen Blick zu.
„Du weißt, was das bedeutet?“, beschwor der Priester ihn mit gesenkter Stimme.
„Oh, ja, das weiß ich. Es ist die Freiheit!“
Reko lächelte ernst. „Ja, die Freiheit.“
Manoen wurde erneut ganz schwindelig bei dem Gedanken daran, was er da in die Hände bekam.
„Sollte nicht Raen vielleicht auch wissen, wie es gemacht wird?“, fragte er vorsichtig
„Du kannst es ihm zeigen, und sogar auch Sel, wenn du es für angebracht hältst. Das ist ganz dir und deiner Einschätzung überlassen.“ Er legte Manoen eine Hand auf die Schulter. Es war eine freundschaftliche Geste, wie er sie dem hochgewachsenen Krieger zuvor noch nie hatte angedeihen lassen. „Du wirst das schon hinbekommen, da bin ich ganz zuversichtlich!“ Sein Mund verzog sich zu einem gutmütigen Lächeln. „Und ja, ich habe eine gewisse Ahnung, warum ich hier bin.“
Manoen blickte ihn kurz fragend an, dann sah er das Wissen in den braunen Augen des Priesters aufleuchten und war auf unbestimmte Weise sehr erleichtert. „Und wie bekomme ich das Aun wieder dran?“, erkundigte er sich schließlich frohgestimmt.
„Ganz einfach. Du musst es dir nur an die Stirn halten, dann haftet es wieder von ganz allein.“
„Ein kleines Wunder“, bemerkte Manoen spöttisch.
„Ja, wahrhaftig, ein kleines Wunder!“, sagte auch Reko, doch er klang dabei sehr ehrfürchtig.
Mit dem Aun in ein Tuch gewickelt und dem schwarzen Beutel an seinem Gürtel machte sich Manoen anschließend auf den Weg zu Säge, um sich den Kopf untersuchen zu lassen. Und am Abend beim Nachtmahl zierte anstelle des Auns ein Streifen Verband seine Stirn. Den Beutel mit den Utensilien hatte er in seiner Truhe versteckt, ohne jemandem davon erzählt zu haben, und als er später im Bett lag und sich von einer Seite auf die andere drehte, waren Rekos Worte immer noch klar und deutlich in seinem Gedächtnis.
„Tonansene“, flüsterten sie, „süße Freiheit.“
Doch welchen Preis hatte diese Freiheit gehabt?
‚Oh, seliges Unwissen’, dachte er unglücklich, ‚gesegnet seien deine Kinder! Möge der Erhabene mir Kraft geben, denn ich gehöre nicht mehr zu ihnen!’
Dass Wissen nicht immer ein Geschenk war, und dass diese bittere Erkenntnis wie eine zweite schmerzhafte Geburt gewesen war, hatte also nicht nur er, sondern auch Reko durchlebt; eine Geburt, die sich über Wochen hinweg gezogen hatte. Wochen voller wütender und sinnloser Beschuldigungen, denen Monate voller Selbstzweifel und schließlich solche voll von Selbstmitleid folgten. Manoen wünschte sich manchmal, er hätte sich damals blind gestellt und diese Geburt niemals erlebt, denn danach war das Gefühl der Kälte nicht mehr aus seinem Herzen gewichen!
Zwei Zimmer weiter saß Raen im matten Lichtschein einer Lampe über ein Stück Pergament gebeugt, das er sich am Tag in der Stadt besorgt hatte. Er schrieb ein paar Zeilen an Suneka , musste aber immer wieder innehalten und überlegen, wie er die schlechte Nachricht formulieren und wie er seine Liebste vertrösten sollte. Es war ein kläglicher Versuch einer Entschuldigung, fand er, aber es war besser als gar keine. Am Ende fügte er eine Erneuerung seines Heiratsversprechens hinzu und hoffte, es möge sie versöhnlich stimmen. Dann rollte er das Pergament und band es mit einer Schnur zusammen. Einen Moment wog er es unschlüssig in der Hand. Sollte dieser Brief tatsächlich seinen Weg bis in Sunekas Hände finden? Zumindest hatte er es geschafft, die nötigen Mittel dafür zu bekommen. Er hatte Baeli als neuen Hausvorstand fast auf Knien darum gebeten ihm, doch einen winzigen Zuschuss von Sels Preisgeld zu geben, das sie jetzt ja zusätzlich hatten, denn schließlich hätte er im Jahr zuvor auch alles an die Gemeinschaft abgegeben. Baeli hatte ihm geantwortet, es sei selbstverständlich, dass ein Hy dem anderen half, wenn dieser sich in einer misslichen Lage befand, und so hatte er ihm seine Bitte großzügig gewährt. Warum war das zuvor bei Machol nicht möglich gewesen?
Aber das wunderte Raen nicht mehr, er musste jetzt nur noch einen zuverlässigen Boten ausfindig machen, der die Reise für den königlichen Lohn von fünf Silberlingen machen würde. Eigentlich war es ein atemberaubend horrender Preis für einen läppischen Brief, der rein egoistischer Natur war, aber Raen war dankbar, dass Baeli ihn trotzdem verstanden hatte und nicht knauserig gewesen war.
Jedoch hätte er sich all die Mühe sparen können, wenn er gewusst hätte, dass sein Brief und das Geld mitsamt dem Boten für immer verschwinden würden, und die Summe lieber für sich behalten, um sie für nettere Dinge einzusetzen.
Der Blick auf den Berg Lek und die Burg, die an seinem steinigen, kahlen Hang über der Stadt thronte, entlockte Kanaima nichts als schlechte Erinnerungen, als er mit seiner kleinen Reisegesellschaft durch die mit einem Hauch von beginnender Frühlingsgrüne überzogenen Ebene darauf zuritt. Es war acht Jahre her, seit er diesen verhassten Ort endgültig verlassen und auch nicht wieder besucht hatte. Acht Jahre hatte er seine geliebte Tante Sama-Karla nicht gesehen. Kanaima lächelte bitter. Wie es ihr wohl ging? Mit größer Sicherheit unverändert, dachte er bekümmert, denn viel Abwechslung boten die Burg und dieses miese, kleine Städtchen in dieser von allen Göttern verlassenen Provinz nicht, in der die Sonne die alleinige Herrscherin war. Sie furteten den Fluss, und die Pferde trabten freudig durch das flache Wasser. Zu beiden Seiten des nur im Frühjahr und im späten Herbstes Wasser führenden Flussbettes erstreckten sich mager bepflanzte Felder, und Kanaima kam nicht umhin, die armen Bauern dieser Gegend zu bewundern, für ihren unermüdlichen, ja, eigentlich geradezu unverbesserlichen Versuch, dem kargen Boden Jahr für Jahr etwas abzuringen.
Auf der nur mäßig instandgehaltenen Straße erreichten sie schließlich die Stadt, deren baufällige Mauern schon längst nicht mehr den Schutz boten, den sie in früheren Zeiten einmal benötigt hatte, als hier noch die Königliche Armee stationiert gewesen war und die großen Handelsgesellschaften haltgemacht hatten.
Auf der breiten Hauptstraße, die fast in gerader Linie durch die Häuserreihen führte, näherten sie sich der Burg. Neugierig wurden sie von den Leuten begafft. Schließlich kam es nicht oft vor, dass ein augenscheinlich hochgestellter Adeliger die Burg besuchte, das wusste Kanaima aus eigener schmerzlicher Erfahrung. Und was sie auch nicht ahnten konnten, war, dass es der Prinz von Askhar höchstpersönlich war, der da an ihnen vorbeiritt, denn Kanaima verzichtete grundsätzlich darauf, jegliche Art von Wappen oder Bannern mit sich zu führen. Natürlich hätte man ihn an seiner bloßen Ähnlichkeit mit seinem Vater erkennen können, aber der König ließ sich nicht gerade besonders häufig in Kalav blicken. König Katthike war hier nur ein Name, vor dem sich alle zwar aus Gewohnheit ehrerbietig verneigten, doch von dessen Machtgewalt in diesem abgelegenen Landstrich kaum etwas zu spüren war. Im Kampf um das tägliche Überleben der Menschen hatte er seine furchteinflößende Wirkung längst verloren. Schon früher hatte Kanaima oft gehört, wie die Bewohner von Kalav ihre Stadt als die ‚vom König vergessene Stadt’ bezeichneten.
Nachdem sie in Serpentinen den Burgberg erklommen hatten, erreichten sie das Tor der Festung. Die zwei Wächter, die den Weg der kleinen Prozession, welche neben Kanaima aus zwei neutralen Leibwächtern, zwei Dienern und einem Mundschenk bestand, aufmerksam verfolgt hatten, waren ebenso neugierig wie die Leute unten in der Stadt und froh endlich einmal etwas Abwechslung von ihrer tödlichen Langeweile zu bekommen. Sie fragten Kanaima herrisch nach seinem Begehr, und er reichte ihnen stumm einen Brief. Dieser enthielt die Erlaubnis des Königs, als erlauchter Gast seine Tante besuchen zu dürfen. Schnell verneigten sich die beiden unrasierten Männer vor dem Prinzen, der sie keines Blickes mehr würdigte und durch das Tor ritt.
Ein alternder Knecht nahm sich ihrer durstigen Pferd an, und eine Art Hofmarschall – aber ohne die Befugnisse eines solchen - führte sie in die Halle der Burg. Sie war gähnend leer, genau wie Kanaima es in Erinnerung hatte. Nur trübes Tageslicht fiel durch die schmalen Schlitzfenster unterhalb der Decke. Hier waren schon seit Jahrzehnten keine Bankette mehr abgehalten worden. Seine Tante benutzte lediglich die oberen Stockwerke und dort auch nur sehr wenige der Räume. Eigentlich verbrachte sie die meiste Zeit auf der westlichen Dachterrasse und dem angrenzenden Zimmer. Wenn man alleine war, brauchte man nicht viel Platz. Kanaima schluckte seine aufwallende Wut gegen seinen Vater hinunter und machte sich daran, die Treppe hinaufzusteigen. Oben öffnete ihm ein weiterer Diener, der eigentlich auch nur ein Wächter war, die Tür zu den Gemächern. Kanaima wusste, dass es von diesen Leuten hier eine ganze Menge gab; nahezu an jeder Tür, die ins Freie führte, war jemand postiert, und stumme Blicke folgten einem überall hin. Er hatte fast vergessen, wie sich das anfühlte.
Erst an dem Durchgang zu den Wohnräumen seiner Tante stand der erste ihrer eigenen Leibdiener und Vertrauten, um ihn in Empfang zu nehmen. Er wurde von ihm auf die Terrasse geführt, wo Sama-Karla im Schatten eines Baldachins auf einer bequemen Liege lag. Sie setzte sich auf, als sie hörte, dass Besuch für sie da sei. Kanaima trat zu ihr, und ihre Augen füllten sich sofort mit Tränen, als sie erkannte, wer vor ihr stand. Sie wollte sich erheben, brachte es aber nicht zustande, da sie ganz offensichtlich unter Schmerzen litt. Mit verzerrtem Gesicht ließ sie sich wieder sinken. Kanaima setzte sich neben ihr auf die Kante. Er war erschrocken darüber, wie sehr sie gealtert war, ließ es sich aber nicht anmerken und nahm sie in die Arme. Durch ihre dünne Tunika spürte er, wie mager und geschwächt ihr Körper war.
„Meine geliebte Tante! Es ist schön dich zu sehen!“, sagte er leise und war ganz überwältigt von seinen Gefühlen.
„Oh, Kanaima, mein Lieber! Mein verlorener Sohn!“ Das sagte sie immer, und Kanaima lächelte, sein Kinn auf ihrer Schulter. Dann gab er ihr einen Kuss auf die feuchte Wange und sah ihr ins Gesicht. Ihre Falten waren tiefe Furchen geworden, und das lange graue Haar dünn, aber ihr Blick war noch immer wach und klar.
Er biss sich auf die Lippen und blinzelte seine Tränen fort, dann log er: „Du siehst gut aus, Tante!“
Sie lachte leise, denn sie hatte ihn durchschaut. „Ich sehe alles andere als gut aus, und mir geht es auch nicht besonders gut. Mein Rücken und meine Beine machen mir schwer zu schaffen“, sie deutete auf den Stock, der neben der Liege angelehnt stand, „aber auch wenn ich jetzt schlimmer hinke als mein Bruder, so lasse ich mich doch nicht davon unterkriegen!“
Kanaima nickte verlegen. Ein schlechtes Gewissen plagte ihn.
„Es tut mir leid, dass ich nicht eher gekommen bin, Tante! Ich war lange Zeit so weit fort von Askhar, und erst jetzt hat mir der König erlaubt, dich zu besuchen. Ich ...“
Sama-Karla legte ihm eine ihrer spinnendürren Hände an die Wange. „Es sei dir vergeben. Dass du überhaupt zurück nach Askhar gekommen bist und noch einmal den Weg hierher gefunden hast, macht mich dafür umso glücklicher!“
Kanaima nahm ihre Hand und küsste die papierdünne und von Altersflecken übersäte Haut.
„Tante, ich habe dich sehr vermisst. Dich und deinen klugen Rat.“
Sama-Karla legte einen Finger der anderen Hand an ihre Lippen. Es war ein Zeichen, die Vorsicht vor heimlichen Ohren zu wahren.
„Ach, Kanaima, es ist so lange her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben! Du hast dich sehr verändert! Ich sehe dich noch vor mir, wie du damals warst: Ein kraftstrotzender und kampfesdurstiger Jüngling mit wild entschlossenem Blick. Und jetzt bist du ein feiner ... eleganter Akademiker“, sagte sie mit gerunzelter Stirn auf seine bürgerliche Kleidung blickend. „Was soll ich davon halten?“
Sie bedeutete dem Diener, einen zusätzlichen Becher und neuen kühlen Wein zu holen. Als er verschwunden war, fragte sie mit gedämpfter Stimme: „Ich hoffe, du hast deine Freiheit genutzt?“
Kanaima berichtete ihr kurz und unverfänglich, bis der Diener mit dem Wein wiederkam.
„Du musst mir unbedingt alles von deiner Zeit in Borgossa erzählen!“, sagte Sama-Karla laut und hob ihren Becher.
Kanaima hob den seinen und sprach feierlich: „Auf die Freiheit!“
„Auf die Freiheit!“, entgegnete sie ernst und trank.
Später am Abend, nachdem sie zusammen auf der Terrasse gespeist hatten, betrat Kanaima sein altes Zimmer. Es würde auch jetzt sein Quartier sein, so er hatte es gewünscht, obwohl noch genügend andere Räume zur Verfügung geständen hätten. Aber er wollte die Erinnerungen. Langsam durchmaß der den Raum, in dem er seine einsame, nur vom quälenden Hass auf seinen Vater erfüllte Jungend verbracht hatte. Zu seiner Linken war das hergerichtete Bett und zu seiner Rechten standen bequeme Stühle bei einem flachen Tisch, auf dem ein brennender Kerzenhalter und eine Schale gefüllt mit Obst standen. Kurz fragte sich Kanaima, wo seine Tante die frischen Orangen, Feigen und Datteln her hatte, ließ es aber dann, denn er wusste, dass es seiner Tante bis auf jenes kostbare Gut der Freiheit an nichts mangelte. Er schob die leichten Vorhänge zur Seite und trat hinaus in die Nacht auf den Balkon. Der Himmel war sternenklar und in seiner Prächtigkeit nicht zu überbieten. Eine Weile blickte Kanaima, die Hände auf die steinerne Brüstung gestützt, gedankenverloren zu den Sternen hinauf. Eine sanfte Brise umwehte seine Nase und brachte den vertrauten Geruch von sonnenverbrannten Ziegeldächern, staubigen Straßen und Ziegendung von der Stadt zu ihm hinauf. Er seufzte. Die Welt war noch viel größer gewesen, als er es sich von hier oben aus immer ausgemalt hatte. Doch er hatte sie kennenlernen dürfen und dafür dankte er nicht den Göttern, denen er abgeschworen hatte, sondern schlicht den Umständen, die das alles bewirkt hatten.
In den nächsten Tagen verbrachte er die meiste Zeit natürlich an der Seite seiner Tante; oft auf der Terrasse und meistens schweigend, oder hinter der geschlossenen Tür ihres Gemachs, und dann rege diskutierend, aber nur über stets harmlose Dinge.
Die wichtigsten Informationen und Geschehnisse hatte Kanaima während seiner Reise auf einem Pergament zusammengefasst, welches er versteckt unter seiner Kleidung transportiert hatte. Er vertraute es seiner Tante in einem stillen Moment an, und nachdem sie es gelesen hatte, verbrannte er es sofort wortlos über einer Kerzenflamme.
Lange hatte sie geschwiegen und nachdenklich in die zitternde Flamme geblickt. Dann hatte Sama-Karla genickt und seltsam entrückt gelächelt. Für die anschließenden Unterhaltungen griffen sie auf Kanaimas bewährte kleine Schiefertafel zurück.
So erfuhr Sama-Karla von den Plänen des Prinzen, und wer seine engsten Vertrauten dabei waren. Dass ihr Cousin Karlis mit unter der Decke steckte, verwunderte sie nicht, das hatte sie sogar mit einiger Zuversicht gehofft, schon als sie Kanaima damals dorthin empfohlen hatte. Aber dass auch Kanaimas Schwester und ihr Mann dazu zählten, überraschte sie. Gleichfalls war der heimliche Kontakt zu dem neuen Obersten General Bhuras eine Eröffnung für sie. Einen Spion zu haben, der sich als scheinbarer Schirmherr Setnas in der Liga der Patrioten engagierte, war ein ausgezeichneter Schachzug. Keiner würde vermuten, dass Bhuras heimlich mit Königsblut kommunizierte und sie alle über jeden Schritt der gegnerischen Liga informierte. Sama-Karla lächelte. Darüber hinaus war es Kanaima gelungen, einen alten Freund zurück auf seine Seite zu bringen. Mit Rebian, der jetzt der oberste Fechtmeister der Leibgarde war, hatte er einen verlässlichen Mitstreiter für sich gewonnen, der ebenfalls mitten im Flechtwerk des Palastes stand. Den Rest würde die Liga namens Königsblut und die langsam anwachsende Zahl von Herzögen bestreiten, die bereits dahinter stand.
Königsblut, wie überaus zweideutig!, schrieb Sama-Karla amüsiert auf die Tafel.
„Oh, ja!“, antwortete Kanaima und lächelte geisterhaft. Das war es in der Tat.
Und was für ein äußerst raffinierter Zug von Karlis, die Liga wieder zugänglich für das gesamte Volk zu machen! Das wird euch einen elementaren Rückhalt und einen bedeutsamen Vorteil bescheren. Wenn erst das Volk deinen Thronanspruch unterstützt, dann kann auch der König bald nicht mehr anders, als dem zuzustimmen. Das Volk ist mächtiger, als dieser wahrhaben will und bislang hat er es verstanden, diese lauernde Gefahr allein mit seiner Gewaltherrschaft im Bann zu halten. Hat diese aber erst einmal ihren Schrecken verloren, so wird das Volk nicht mehr aufzuhalten sein. Beobachte den König gut, Kanaima. Was wird er tun? Wie wird sein Beraterstab reagieren, wenn sie sehen, dass sie ihre einzige Waffe gegen den Mob verloren haben, und das Fundament ihres Einflusses unter ihren Füßen zu bröckeln beginnt?
Kanaima las und sah seine Tante danach eindringlich an. Meine Augen werden überall sein! Und damit meine ich nicht nur meine eigenen zwei Gucker!
Sama-Karla nahm die Tafel und schrieb: Verstehe! Was ist eigentlich mit Lata? Sie kannte den Obersten Berater nicht persönlich, aber sie wusste genug von ihm, um ihn als Gefahr für ihr Unternehmen anzusehen.
Kanaima musste lachen. Ob du es glaubst oder nicht, aber er denkt, er könnte sich bei mir einschleimen. Er scharwenzelt um mich herum wie ein Köter, der hofft, von der großen Tafel könnte ein Bröckchen für ihn abfallen. Ich vermute, er sieht weiter in die Zukunft als Katthike oder Setna. Er ist ein gerissener Fuchs, der gefährlichste Mann im Palast. Ich werde auf ihn ganz besonders aufpassen und mich natürlich nicht von ihm einwickeln lassen. Aber zum Schein werde ich ihm das Gefühl geben, dass seine Schmeicheleien bei mir Gefallen finden. Wenn er mir erst einmal auf den Leim gegangen ist, bekomme ich vielleicht irgendetwas aus ihm heraus, anhand dessen ich erkennen kann, ob auch er früher oder später Katthike in den Rücken fallen wird. Wer weiß, vielleicht wird er uns noch mal nützlicher sein, als wir jetzt annehmen! Auf jeden Fall steht er mit Setna auf absolutem Kriegsfuß. So, wie ich leider auch.
Sama-Karla wischte die Tafel sauber und fragte: Wieso leider?
Kanaima schrieb seine Antwort und gab sie seiner Tante.
Weil es schon zu einigen unangenehmen Zwischenfällen gekommen ist. Setna sucht den Streit mit mir. Er ist ein unverbesserlicher Nacheiferer seines Stiefvaters. Er hat natürlich ganz berechtigte Angst vor mir und er beschuldigt Katthike, mich nur aus dem einen Grund an den Hof zurückgeholt zu haben, nämlich um ihn zu ärgern.
Sama-Karla antwortete: Das ist doch gut, wenn der Herr und sein Schoßhund sich endlich nicht mehr völlig eins sind, und Setna dem König nicht mehr derart vorbehaltlos folgt, wie er es sonst immer getan hat.
Kanaima nickte und schrieb zurück: Das stimmt. Aber es erregt zu viel Aufmerksamkeit im Palast und lenkt mich von meiner eigentlichen Arbeit ab. Es kostet mich enorme Kraft, mich mit Setna auseinanderzusetzen. Es ist, als belauere er jeden meiner Schritte und warte auf die passende Gelegenheit, um mich für immer vor dem König zu verunglimpfen. Er ist ständig in meiner Nähe, obwohl das ganz und gar gegen die Anweisung des Königs verstößt, das weiß ich. Aufgeregt fuhr er sich über die Stirn. Das Thema erregte ihn, das bemerkte auch seine Tante.
Nachdem sie geschrieben hatte und Kanaima las, legte sie ihm eine Hand auf den Unterarm.
Du wirst das bekommen, was dir zusteht! Aber es bedeutet nun einmal auch Kampf! Und erst am Ende wirst du sehen, ob deine Bemühungen Erfolg haben werden. Das Wichtigste aber ist, dass du das Vertrauen Katthikes hast und nicht wieder verlierst! Verhalte dich Setna gegenüber unangreifbar, lass dir nichts anhängen. Er ist nur halb so alt wie du und nur ein Bruchteil davon so reich an Erfahrungen. Er ist nichts weiter als ein kleiner dummer und ungezogener Bengel, der danach giert, sich endlich einen Ruf als Mann zu machen, er sehnt sich danach, beachtenswert zu sein. Du aber bist längst ein Mann mit Ansehen, ein hochgeschätzter Akademiker von ausgezeichnetem Ruf. Und dem kann Katthike nicht widerstehen, wie wir sehen! Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, und Kanaima befreite sich aus seinen verkrampften Gedanken um Setna, den er mittlerweile beinahe noch mehr verabscheute als seinen Vater! Der Mistkäfer hatte es noch nicht aufgegeben, sich ständig bei Katthike über ihn zu beschweren und ihm an den Karren zu fahren, wo es nur ging. Es war klar, dass er ihn aus dem Palast haben wollte. Doch den Gefallen würde Kanaima ihm nicht tun. Er fletschte grimmig die Zähne, als sähe er Setna direkt vor sich. Der finale Kampf zwischen ihnen beiden würde kommen, das war sicher, und dann würde sich zeigen, wer am Ende noch stand! Genau wie seine Tante es gesagt hatte! Auf diesen denkwürdigen Tag freute sich Kanaima schon jetzt. Er würde seine Rache mit dem letzten schimmernden Hauch der Vollkommenheit veredeln.
Zwei Tage später saß ein jeder auf seiner Liege auf der Terrasse des Westflügels. Der Himmel war mit einem dünnen Wolkenschleier bedeckt, aber es war trotzdem recht warm, fast schon stickig. Doch Kanaima und seine Tante ließen sich nicht davon stören. Während ein Diener ihnen Luft zufächelte, und sie kühlen, mit Wasser verdünnten Wein tranken, berichtete er ihr wiederholt von den vielen aufregenden Merkwürdigkeiten Borgossas. Sama-Karla lauschte hingerissen und mit geschlossenen Augen, allein in Gedanken auf Reisen.
„Ach, wie herrlich“, sagte sie verträumt, als er seine Beschreibung des Hafens und der Wasserstadt, dem Teil Borgossas, der Acquado genannt wurde, beendet hatte. „Was würde ich dafür geben, das einmal sehen zu können! Kanaima, sei so lieb und hilf mir auf. Ich möchte ein paar Schritte gehen.“
Er tat wie gebeten, ging an der Seite seiner Tante über den gefliesten Boden der Terrasse und stützte sie, bis sie die Brüstung erreichten. Hier hielt sie inne und blickte gedankenvoll über die Dächer der Stadt hinaus auf die Ebene. Schon nach diesen paar Schritten war sie ganz außer Atem. Kanaima war besorgt. Was war, wenn sie sich bald gar nicht mehr bewegen konnte? Dann würde ihr auch das letzte Bisschen Selbstbestimmung genommen sein, das sie noch hatte. Würde sie es verkraften, jedes Mal einen Diener oder ihre auch schon recht betagte Kammerfrau rufen zu müssen, wenn sie von einen Raum in den anderen wollte oder gar auf den Abort? Welch unwürdiges Dasein. Kanaima versuchte, lieber nicht daran zu denken und sah ebenfalls hinunter auf die Landschaft. Wie immer wurde sein Blick von der fernen Bergkette im Süden eingefangen. Sie erinnerte ihn plötzlich an etwas.
„Hast du die kleine Phiole eigentlich noch?“, fragte er.
Sama-Karla sah ihn an und zog etwas an einer Silberkette aus den Falten ihrer Tunika hervor. Das kleine, gläserne Fläschchen baumelte glänzend im matten Sonnenlicht. Kanaima lächelte, und die mit Mühe zurückgehaltene Traurigkeit erfasste ihn nun doch.
„Es ist leider nichts mehr drin. Schon lange nicht mehr. Aber die Phiole allein genügt mir, um an dich zu denken. Jeden Tag.“
Kanaima legte ihr eine Hand auf die Wange. „Es tut mir leid, Tante, dass ich nicht mehr für dich tun kann! Ich weiß, ich hatte dir einmal geschworen, dich hier herauszuholen, aber ich ... ich kann nicht, es ...“, schuldbewusst ließ er den Kopf hängen.
„Schhh, sprich nicht weiter, ich möchte nicht, dass du deswegen unglücklich bist. Meine Zeit hier ist bald um, das spüre ich. Es ist also nicht mehr nötig, mich herausholen zu wollen. Bald befreie ich mich selbst!“
Erschrocken sah Kanaima seine Tante an.
„Oh, sei ganz beruhigt“, sprach sie weiter, „ich werde ganz bestimmt nicht Hand an mich selbst legen. Diese Genugtuung will ich meinem Bruder nicht gönnen!“
Kanaima wollte gerade etwas darauf antworten, als ein spitzer Schrei hinter ihnen ertönte. Sie drehten sich um. Sama-Karlas Kammerfrau stand mit schreckensgeweiteten Augen, die Hände vor den Mund geschlagen da und starrte auf eine Schlange, die sich zwischen ihnen über die Terrasse schlängelte. Das geschah öfters, denn die Schlangen suchten in der Mittagshitze die Kühle der Burgmauern, doch dieses Mal war es eine von den giftigen Sandvipern. Schnell kam der Leibdiener herbeigelaufen und mit einem gezielten Schlag seines Kurzschwertes enthauptete er die Schlange. Auch ohne Kopf ringelte sie sich noch einige Zeit in ihrem Todeskampf. Wieder stieß die Kammerfrau einen Schrei aus und wurde kurz darauf ohnmächtig. Der Diener fing sie auf und legte sie auf eine der Liegen.
„Das gute alte Mädchen ist nichts mehr gewohnt“, bemerkte er unbeeindruckt, wedelte ihr abwechselnd Luft zu und schlug sanft aber bestimmt auf ihre Wangen. Schließlich kam sie wieder zu sich, und nachdem sie sich entschuldigt hatte, verließ sie schnell und ohne auf die tote Schlange hinunterzusehen die Terrasse.
Der Diener bat ebenfalls um Verzeihung, klaubte die Überreste des Tieres auf und beseitigte sie, indem er sie über die Brüstung warf.
„Für die Geier!“, sagte er trocken und begab sich daraufhin wieder auf seinen Platz.
Wort- und regungslos hatten Kanaima und seine Tante das Geschehen verfolgt. Beide hatten das Zeichen, das ihnen gegeben worden war, erkannt. Eine enthauptete Schlange! Auch wenn diese hier keine Flügel besessen hatte, so war sie doch das Wappentier des Königshauses. Sie sahen sich an.
„Bei den Göttern! Nun, ich denke, das sollte uns zuversichtlich stimmen!“, entgegnete Sama-Karla wissenden Blickes.
Kanaima, der sonst nicht viel auf solch abergläubischen Unsinn wie überirdische Zeichen gab, pflichtete ihr ausnahmsweise einmal bei. Es war ein zu offensichtlicher Deut gewesen, um ihn ignorieren zu können.
Und noch am gleichen Abend sollte Kanaimas erloschener Glaube an die höheren Mächte wieder endgültig zum Leben erweckt werden.
Sie saßen gerade beim Essen, als der Diener einen Boten ankündigte. Das war so ungewöhnlich, dass sie ihn sogleich vorsprechen lassen wollten.
Wie kurz zuvor die Einwohner der Stadt sich gefragt hatten, was der einsame und von Kopf bis Fuß verhüllte Besucher zu bedeuten hatte, wunderten sich jetzt auch Kanaima und seine Tante mit verwunderter Miene, als schließlich der ganz in Weiß gekleidete Mann im Schein der Fackel die Terrasse betrat.
Die farblose Haut des Weißlings schimmerte gespenstig. Er war ein Diener Tulgas!
Anstelle seiner Tante erhob sich Kanaima schnell und begrüßte den Ankömmling höflich. Der verneigte sich und fragte mit einem eigentümlichen Akzent, ob er Kanaima sei, der Prinz von Askhar?
„Ja, der bin ich“, antwortete Kanaima und ein leichter Schwindel von Aufregung erfasste ihn.
„Gut, auch wenn es rein äußerlich nicht zu leugnen ist, dass Ihr eindeutig der Sohn Eures Vaters seid, musste ich es dennoch aus Eurem Munde hören! Meine Name ist Sorgha, ich bin ein Novize des ehrwürdigen Orakels Soghul von Tulga und überbringe Euch eine Botschaft!“ Er wartete.
Doch Kanaima war sprachlos.
Darauf sprach der Diener Tulgas weiter. „Wir sollten uns zurückziehen, wenn das möglich ist. Ihr solltet diese Botschaft allein lesen, so gebietet es das Gesetz von Al Nor.“
Kanaima nickte. „Kommt!“ Er geleitete den Boten in sein Zimmer, entzündete die Kerzen und bedeutete Sorgha, sich zu setzen, doch der schüttelte den Kopf.
„Nein, danke, solcherlei Bequemlichkeit sei mir erst vergönnt, wenn ich meinen Auftrag erfüllt habe.“ Er nestelte unter seinem Gewand herum, zog einen Brief mit einem schwarzen Siegel hervor und reichte ihn mit einer Verbeugung Kanaima. Der warf ihm einen zögerlichen Blick zu.
„Oh, habt keine Angst, ihn zu lesen. Ich würde mich jetzt gerne zurückziehen, wenn Ihr gestattet.“
„Natürlich, der Diener vor der Tür wird Euch ein Quartier zurechtmachen und Euch etwas zu essen bringen lassen, Sorgha.“
„Habt vielen Dank für Eure Gastfreundschaft, Prinz, eine geruhsame Nacht wünsche ich Euch. Morgen in aller Frühe werde ich wieder abreisen. Auf Wiedersehen“, empfahl sich Sorgha und wollte gehen.
„Moment noch. Woher wusstet Ihr, dass ich hier in Kalav und nicht im Palast bin? Drüber wissen nur einige wenige Bescheid.“
Sorghas blasse Lippen umspielte ein leichtes Lächeln. „Ich denke, als Diener des Orakels kann ich mich gegenüber einer Antwort auf diese Frage verwahren“, gab er nicht unhöflich zurück, und Kanaima ging auf, wie töricht seine Frage gewesen war.
„Nun, gut, Ihr könnt gehen“, brummte er seine Verlegenheit verbergend.
Sorgha verneigte sich noch einmal und verließ den Raum.
Kanaima stand noch einen Moment unschlüssig da, dann setzte er sich an den Tisch, erbrach behutsam das Siegel und las den Brief:
„Prinz Kanaima von Askhar, aus dem Hause Buthwal-Renandi,
für diese Botschaft wurde ich, Soghul von Tulga, durch Al Nor, dem Hüter der Zukunft, bestimmt, um für Euch zu sehen, was nur für Eure Augen ist!
Vernehmt also das Geschenk, welches Euch die Zukunft macht:
Ein Gefangener wird kommen.
Er ist ein Sohn des Lichts,
wie auch Ihr einer seid.
Doch sein Licht kann nur zusammen mit dem Euren die Welt erleuchten,
wenn er durch Eure Hand zurück in seine Heimat gelangt.
Alles wird zu einem, wenn ihr gemeinsam geht,
Schulter an Schulter,
in der Zeit des schwarzen Schnees,
da der dunkle Bruder loszieht, um für sich zu erobern.
Dann wird die Schlange ihr Haupt verlieren -
und ein neues wird ihr wachsen.
Der Frieden sei stets in Eurem Sinn.
Verbündeter der Zukunft
Soghul von Tulga.“
Kanaima atmete mehrmals tief durch. Der Raum drehte sich vor seinen Augen, und glühende Hitze durchfloss seine Adern. Er spreizte und ballte mehrmals seine Finger, schloss die Augen und legte seinen Kopf zurück an die Stuhllehne. Was bisher nur sein eigener geheimer Plan gewesen war, war plötzlich zu einer mehr oder weniger von den Göttern gewollten Aufgabe geworden. Das Orakel nahm ihn in die Pflicht! Nicht, dass es an seinem Vorhaben etwas geändert hätte, aber das Gefühl des Zwanges machte Kanaima nervös. Er musste Erfolg haben, wenn er die höheren Mächte nicht gegen sich aufbringen wollte. Er schluckte. Aber prophezeite nicht genau dieser Brief, dass er Erfolg haben würde? Er schlug die Augen wieder auf und las die letzten Zeilen: Die Schlange wird ihr Haupt verlieren - und ein neues wird ihr wachsen. Wenn man dazu noch das Omen vom heutigen Tage betrachtete ... Bei den Göttern, wenn das nicht auf einen Erfolg hindeutete, was dann? Kanaima lehnte sich vor, stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel und legte die Zeigefinger der verschränkten Hände auf die Lippen. Derart nachgrübelnd verbrachte er den Rest des Abends und die erste Hälfte der Nacht.
Sama-Karla fragte am nächsten Morgen nicht nach der Botschaft, und Kanaima dankte es ihr im Stillen dafür. Nach dem Morgenmahl - Tulgas Bote war schon längst wieder abgereist - plante er mit seiner Tante seine Rückreise. In ein paar Tagen würde auch er wieder aufbrechen müssen, um nach Askhari-Kaise und seiner neuen Aufgabe als Akademicus zurückzukehren. Er hatte jetzt schon ein Jahr lang Schüler unterrichtet, und es bereitete ihm große Freude. Tatsächlich sah er so etwas wie Befriedigung darin, fortan mit Worten anstatt mit dem Schwert zu kämpfen, denn mittlerweile glaubte er dem Patron, dass man damit viel mehr erreichen konnte als mit der blankgezogenen Klinge. Man konnte in die Köpfe der Menschen vordringen und sie beeinflussen, ohne dabei Gewalt anzuwenden und ohne Blut zu vergießen. Worte waren eine mächtige Waffe, und nur wenige verstanden sie wirkungsvoll einzusetzen. Im Palast von Askhari-Kaise gab es neben ihm nur noch einen Mann, der diese Kraft der Worte kannte und sie auch nutzte: Lata. Auf ihn würde Kanaima besonders Acht geben müssen, denn Latas Gewissen war eine Schlangengrube. Aber so wie die Dinge im Moment standen, könnte der Oberste Berater des Königs auch auf seine Seite überwechseln. Kanaima bildete sich darauf jedoch nichts ein, er wusste nur zu gut, dass Lata ein Opportunist war und seinen Mantel in jeden Wind hängte. Wenn er ihn aber vollends kontrollieren wollte, dann musste er das Geheimnis um dessen Herkunft lüften. Und kontrollierte er erst Lata, dann hatte er auch ein gewisses Glück, dadurch Einfluss auf den König nehmen zu können.
Einige Wochen später befand sich Kanaima, der nur schmerzlich von seiner Tante Abschied genommen hatte, wieder im Trott der Vorlesungen. Eine Lektion löste die andere ab, und dieses Jahr hatte die Akademie schon etwas mehr Zulauf, als im vorherigen. Es begann sich langsam herumzusprechen, dass die königliche Waffenakademie zu Askhari-Kaise wieder zu einem Ort von Bedeutung wurde, an den man seine Söhne hinschickte, um sie ausbilden zu lassen. Nach vielen Jahren der Dürre konnte der König endlich wieder aus dem Vollen schöpfen und unter den Kandidaten für die Offizierslaufbahn die besten auswählen. Sein militärischer Führungsstab gedieh erfreulich und füllte sich nach und nach wieder mit fähigen Männern, die schon General Kasai zu seinen Lebzeiten zu vermissen begonnen hatte. Und Kanaima fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis der König zu ihm kam, um mit ihm dem nächsten Feldzug zu planen. Er hatte zwar keine Ahnung, wie es in den königlichen Schatzschatullen finanziell aussah, aber wenn es nach Latas Wünschen ginge, würden sie so schnell wie möglich wieder gegen die Hy ziehen. Der Oberste Berater lag dem König damit immerzu in den Ohren. Kanaima schätzte, dass er erst Ruhe geben würde, bis der letzte Hy abgeschlachtet wäre, so unendlich groß schien sein Hass gegen dieses Volk zu sein. Doch darauf würde Lata vorerst wohl noch verzichten müssen, denn so, wie sich die Lage verhielt, würde der nächste Krieg, den der König im Namen Askhars vom Zaun brach, sich wohl eher gegen die nördlichen Nachbarn richten. Denn ein Vorstoß in die von ewigen Unruhen beherrschte grenznahe Provinz von Baschai-Adjan war beinahe unumgänglich. Die Provinz bot sich geradezu feil für einen Einmarsch, und Katthike hatte schon immer damit geliebäugelt, sich auch diesen Landstrich unter den Nagel zu reißen. Die Provinz war nicht nur ein ständiger Herd von Provokationen seiner streitsüchtigen Herzöge gegen Askhar, sondern auch ein fruchtbares Gebiet, in dem sogar Tee angebaut wurde. Leider nur waren die früheren Versuche einzumarschieren immer wieder daran gescheitert, dass der König seinen abtrünnigen Herzögen im letzten Moment doch noch unvermutet zu Hilfe geeilt war. Doch von Jahr zu Jahr uferten die Unruhen schlimmer aus, drangen sogar über die Nordgrenze bis nach Askhar und bedrohten dort die Bevölkerung. Und es wurde gemunkelt, dass nun selbst auch der König von Baschai-Adjan mit dem Gedanken spielte, die rebellischen Herzogtümer abzustoßen. Kanaima ahnte, dass Katthikes Augenmerk genau auf diesen Moment gerichtet war, doch noch hatte er keine Order, und auch General Bhuras war lediglich mit einer zaghaften Aufstockung der Armee beauftragt worden. Noch schlummerte die Schlange Askhars in ihrem warmen Erdnest.
Während er noch über all das nachsann, schaufelte Kanaima die Vorlesungspapiere auf seinem großen Pult neben der Cathedra, die er ganz nach dem Vorbild Borgossas hatte herrichten lassen, zu einem Stapel zusammen. Die Schüler waren längst auf den Übungsplätzen, und er genoss die ruhige Stimmung nach der Lektion, wie er es immer tat. Es war eine eigentümliche Mischung aus dem Nachhall der gedämpften Stimmen, dem Papiergeraschel und der Atmosphäre der Gelehrsamkeit, die über allem lag.
In eines seiner Notizbücher verzeichnete Kanaima die Fortschritte einiger seiner besonders unter Beobachtung stehenden Schüler. Er schrieb mit einem Kode, denn jene Schüler waren seine Hoffnung auf die Zukunft. Im Gegensatz zum alten General Kasai und dessen ehemaligen Lehremeistern, versuchte er das Wissen frei von verfälschten Werten zu vermitteln und ohne den eingepflanzten Hass auf alles, was nicht askharisch war. In Borgossa hatte er gelernt, dass Vorurteile dumm machten und dass Unvoreingenommenheit in ganz besonderem Maße den Horizont erweiterte. Und genau das war es, was er zu erreichen anstrebte: Die jüngere Generation sollte befreit aufwachsen und ohne Hindernisse denken können.
Einige von den alten Lehrmeistern Kasais, die gewillt waren sich dem jüngeren Kanaima als Leiter der Akademie unterzuordnen und seine Änderungen zu unterstützen, hatte er neu eingeschworen, und den Rest mit seinen antiquierten Ansichten gegen geeignetere Gelehrte ausgetauscht, die er sich aus ganz Askhar zusammengesucht hatte. Dafür hatte er im vergangenen Jahr neben seiner Lehrtätigkeit viele Reisen unternommen und jede der ein Dutzend anderen Waffenakademien im Land besucht. Er hatte viele Menschen getroffen, einige von ihnen waren verbohrt und unverbesserlich gewesen, einige aber auch selbst für askharische Verhältnisse freidenkerisch und neuen Ideen gegenüber aufgeschlossen. Mit ihnen hatte er viele anspruchsvolle und sehr interessante Gespräche geführt, und es bereitete ihm auch heute noch großes Vergnügen, an einem langen Abend in seinem Arbeitsraum bei einem guten Tröpfchen Wein mit ihnen zu debattieren. Kanaima konnte zufrieden mit seiner Arbeit sein und mit der Schar von Leuten, die er nun um sich versammelt hatte, und er hielt seinen Blick zuversichtlich nach vorn gerichtet.
Ein Krieg gegen Baschai-Adjan würde seine privaten Bemühungen allerdings ins Stocken geraten lassen. Es würde ihn viel Zeit kosten, sich darauf und nicht auf sein Vorhaben konzentrieren zu müssen. Er seufzte unwillkürlich bei dem Gedanken daran, denn es würde auch bedeuten, als Berater mit ins Feld zu ziehen.
„Was ist es, Maestro Kanaima, das Euch das Leben so schwer macht? Etwa diese ganzen Papiere hier? Oder die staubige Luft in diesem Raum?“ Kanaima erkannte den spöttischen Tonfall, legte ohne Eile seine Notizen beiseite und erhob sich.
„Oh nein, mein Prinz, weder noch. Es ist das Wissen selbst, das einem manchmal eine schwere Last auf den Schultern sein kann“, sagte er, und bevor Setna etwas darauf erwidern konnte, fügte er noch hinzu: „Doch nicht so ist es für mich. Seht Ihr, mich beflügelt das Wissen.“ Er breitete die Hände vor sich aus und ließ seinen Blick verträumt über Setnas Schulter hinweg in die Ferne schweifen. „Es trägt mich an unbekannte Ufer und an ferne Horizonte; lässt mich immer wieder aufs Neue Geheimnisse entdecken. Das ist etwas Vergnügliches und ganz und gar Faszinierendes - mehr eine Bereicherung, denn eine Belastung, findet Ihr nicht?“ Kanaima hielt seinen Gesichtsausdruck verschlossen, als er Setna wieder in die Augen schaute, und es kostete ihm wie immer Mühe, nicht süffisant zu klingen. Vor seinem inneren Auge hatte er noch immer das Bild eines sabbernden Balges. Aber das war er bei Weitem nicht mehr. Vor ihm stand ein schmalschultriger, längst erwachsen gewordener Bursche von einundzwanzig Jahren, der seine Kraft in seinen sehnigen Gliedmaßen zu verstecken versuchte, und der einen aufmerksamen Blick und ein übermäßig ausgeprägtes Selbstbewusstsein hatte. Wobei letzteres bestimmt arg gelitten hatte, seit Kanaima wieder bei Hofe war.
Einen Augenblick wirkte Setna, als denke er tatsächlich über das soeben Gesagte nach, schnaubte dann aber verächtlich: „Was für ein unverständliches Gefasel! Könnt Ihr Euch nicht wie ein normaler Mensch ausdrücken!“
Kanaima betrachtete den Jüngeren innerlich amüsiert. Setnas halblange, schwarze Haare schienen so unzähmbar zu sein wie sein Blick. Sie standen wie immer störrisch nach allen Seiten von seinem Kopf ab, und Kanaima fragte sich, warum Setna sie nicht lang wachsen ließ und sie zu einem Zopf gebunden trug, so wie es in Askhar Mode war. Aber das war nur eine von den vielen undurchschaubaren Eigenwilligkeiten seines jüngeren Stiefbruders. Was einem bei Setna jedoch als erstes sofort ins Auge fiel, waren dessen bartlose Wangen. Seine Gesichtshaut wirkte glatt und zart wie am ersten Tag seiner Geburt und das verlieh ihm einen etwas verweichlichten Eindruck, den Setna aller Wahrscheinlichkeit nach durch sein betont männliches Gebaren, das er an den Tag legte, wieder auszugleichen versuchte. Kanaima beneidete ihn wahrlich nicht um dessen allzu offensichtliches hyaunisches Erbe der Bartlosigkeit. Das dürfte ihm bei den anderen jungen Burschen einiges an Hänseleien eingebracht haben, dachte er, erlaubte sich aber keinerlei Mitleid. Stattdessen antwortete er: „Mein Prinz, ich bin ein Gelehrter und ich rede wie ein solcher. Wenn Ihr einfache Antworten wünscht, dann stellt in Zukunft keine Fragen mit philosophischem Inhalt mehr. Dann werde ich Euch auch nicht mit meinem Geschwafel belästigen.“ Diese kleine Spitze konnte er sich nicht verkneifen. Mittlerweile hatte er herausgefunden, wie empfindlich Setna darauf reagierte, wenn man ihn als dumm und ungebildet hinstelle, und es bereitete ihm stets ein diebisches Vergnügen diesbezüglich immer wieder in dieselbe Kerbe zu schlagen.
Setnas schwarze Augen blitzten verletzt auf, aber seine Miene blieb ungerührt. ‚Holzgesicht’, dachte Kanaima, wie schon unzählige Male zuvor. Das war wirklich ein treffender Name!
Setna reckte das hübsche Kinn vor und sagte: „Gut, dann hier eine ganz einfache Frage für mein einfaches Gemüt: Wo finde ich General Bhuras?“
Das Bürschchen war wirklich schlagfertig, das musste man ihm lassen. Ungebildet zwar, aber nicht dumm. Und das machte ihn gefährlich! Setna hatte einige sehr dunkle Seiten, die Kanaima noch nicht vollständig ausgelotet hatte, und deshalb galt es, stets eine über alles erhabene Haltung zu bewahren. Er musste um jeden Preis unangreifbar bleiben. Auch wenn er sich dafür von dem Welpen beleidigen lassen musste.
„Ist das alles, wonach Ihr mich fragen wolltet?“, gab Kanaima mit hochgezogenen Brauen und scheinbar überraschtem Ausdruck zurück.
„Ihr werdet mir jetzt meine Frage beantworten und nicht etwa eine neue stellen!“, befahl Setna mit scharfem Unterton, der keinen Zweifel daran ließ, das er es gewohnt war, von seiner höheren Stellung Gebrauch zu machen. Doch seine Unsicherheit gegenüber seinem viel älteren Stiefbruder konnte man deutlich erkennen. Beinahe krampfhaft hielt er den Griff seines reich mit blutroten Edelsteinen besetzten Schwertes umschlossen. Kanaima verneigte sich leicht.
„Verzeiht, mein Prinz, Ihr findet General Bhuras auf dem Übungsplatz der Reiterei.“
Setna sah Kanaima lange an, als erwarte er noch mehr, dann ließ er seinen durchdringenden Blick auf dessen Bücher niedergleiten. Kanaima hatte den Einband seiner Notizen, die auf dem Tisch lagen, geschlossen und eine Hand darauf gelegt.
„Wünscht Ihr noch etwas zu wissen, mein Prinz?“, fragte er nicht unhöflich.
Setna schüttelte den Kopf. Für einen Moment betrachtete er die große Karte an der Rückwand des Lektionsraumes, die Askhar und seine Nachbarn zeigte, dann hob er eine behandschuhte Hand und verabschiedete sich mit den Worten: „Ich habe ein Auge auf Euch, Maestro!“
„Mein Prinz“, nickte Kanaima ihm mit unschuldiger Miene zu, und Setna machte auf dem Absatz kehrt. Kanaima beobachtete seinen Rückzug durch den langgestreckten Raum mit den unzähligen Bankreihen: Ein junger Krieger, voller Ehrgeiz und Stolz, dessen Umfriedung aber noch nicht ganz gefestigt zu sein schien. Denn auch wenn der König an seiner deklarierten Thronfolge festhielt, so war Setna doch sensibel genug, um zu bemerken, dass seine zukünftige Stellung von bestimmten Elementen angezweifelt wurde.
Als der Kronprinz durch die Tür entschwunden war, nahm Kanaima sein Buch auf, vergewisserte sich noch einmal, ob alles für die nächste Lektion am morgigen Tage an seinem Platz lag und verließ dann ebenfalls den Raum. Er schloss die großen Eichentüren hinter sich und begab sich die Treppe hinauf, die linkerhand in den ersten Stock führte. Dort hatte er das Arbeitszimmer von General Kasai übernommen. Natürlich hatte er all dessen Überbleibsel entfernen lassen und es nach seinem Geschmack umgestaltet, und so war ein recht ansprechender Raum dabei entstanden, der Behaglichkeit und Schaffensgeist miteinander verband. Er war weitaus schmuckvoller als das karge Geviert im südlichen Flügel des Palastes, das ihm als Schlaf- und Wohnraum diente. Zwei kostbare Wandteppiche hingen an den beiden Stirnwänden bis auf den Holzfußboden hinab, auf dem lediglich zwei Hirschfelle vor dem Kamin gegenüber der Tür lagen. In der einen Ecke standen unter einem verglasten Fenster ein fein gearbeiteter, flacher, runder Tisch in borgossinischem Stil und bequeme niedrige Stühle, die mit Leder bespannt waren. In der nächsten Ecke behauptete sich sein Arbeitstisch, ein wuchtiger Koloss aus eisenbeschlagener Eiche, der angefüllt war mit den Utensilien, die ein Maestro seines Standes zum Arbeiten brauchte. An der Wand dahinter reihten sich mehrere Truhen, die wertvolle Bücher aus Borgossa enthielten und gut verschlossen waren, denn sie waren Kanaimas wertvollste Schätze. In der Mitte des Raumes befand sich eine aufgebockte Holzplatte, die momentan leer war, auf der aber sonst Karten aus dem Archiv ausgelegt werden konnten. Neben dem Kamin stand eine weitere sehr große Truhe, in der Kanaima seine Waffen und andere Habseligkeiten aufbewahrte, die für ihn von Bedeutung waren, oder es zumindest einmal gewesen waren; Dinge, von denen er sich noch nicht trennen konnte. Und in der Ecke neben der Truhe stand eine einfache Pritsche, mit Decken, auf der Kanaima schlief, wenn er bis spät in die Nacht gearbeitet hatte. Er trat an die große Truhe, zog einen Schlüssel unter seinem Gewand hervor und öffnete das schwere Schloss. Es war gut geschmiert und ließ sich lautlos aufklappen, wie auch der Deckel der Truhe sich ohne einen misslichen Ton heben ließ. Kanaima mochte so etwas. Er legte das Notizbuch oben auf einen Stapel anderer Bücher, warf einen kurzen Blick auf sein Schwert, das daneben ruhte und lange nicht mehr von ihm berührt worden war, und schloss die Truhe wieder. Nachdem er den Schlüssel abgezogen und zurückgesteckt hatte, holte er sich ein anderes Buch heran, eine sehr alte Handschrift, die aus der Bibliothek des Palastes stammte und auf seinem Arbeitstisch auf ihn gewartet hatte. Er setzte sich an den flachen Tisch und goss sich einen Becher Wasser ein. Dann lehnte er sich zurück, schlug das Buch an einer markierten Stelle auf und begann zu lesen.
Mit griesgrämiger Miene stiefelte Setna durch das Äußere Tor des Palastes und wurde dabei ehrerbietig von den Wachen gegrüßt. Die Sonne stand tief und schien ihm ins Gesicht. Er wandte sich nach rechts und umrundete einen Teil der Palastmauer auf einem breiten Weg, der schließlich nach links abknickte und direkt zu den Übungsplätzen der Reiterei führte, die sich außerhalb des befestigten Palastareals befanden, aber noch innerhalb des Zwingers und des Grabens, der die meiste Zeit des Jahres eine sumpfige, mückenverseuchte Suhle war und nicht gerade viel Schutz bot, außer dass die kleinen Blutsauger jeden, der in ihr Reich eindrang, sofort zu Dutzenden anfielen. Der Platz kam in Sichtweite, und Setna fragte sich verärgert, warum er eigentlich den weiten Weg bis hierher laufen musste, um den General zu holen, für so etwas gab es doch schließlich Dienstboten. Aber der König hatte es ihm aufgetragen, und auch wenn er der Kronprinz war, hatte er sich dem Willen des Königs zu beugen.
Im Gegenlicht der Sonne ritt der General allein in einem Sandkarree auf seinem schneeweißen Hengst. Kleine Staubwolken tanzten hell über die Erde, wo das Pferd aufgetreten war. Der General trainierte gerade irgendwelche speziellen Kommandos, die er verbal an das Pferd richtete, das hörte Setna. Er wusste, dass Bhuras ein Pferdenarr war und so oft es ihm möglich war mit seinem eigenen Gaul übte, der das womöglich am besten ausgebildetste Schlachtross weit und breit sein mochte. Setna selbst verabscheute diese Viecher, die ihm stets übellaunig und bockig erschienen. Sie waren nicht mehr für ihn als ein notwendiges Übel, denn der Mensch und sein Fortkommen waren auf diese Tiere angewiesen. Er schirmte die Augen gegen die Sonne ab und sah Bhuras einen Moment lang zu. Das Pferd gehorchte anstandslos auf seine knappen, gesprochenen oder geschnalzten Befehle. Der General hatte einen tadellosen Sitz und wirkte als Reiter viel eleganter, als wenn er zu Fuß unterwegs war. Der Hauch eines Lächelns umspielte Setnas Mundwinkel. General Bhuras war so ganz anders als der alte Kasai, aber er hatte dennoch begonnen, ihn zu mögen, und das obwohl er sich zuvor geschworen hatte, den Nutznießer von Kasais Tod mit nichts als Verachtung zu strafen. Aber Bhuras war zu seinem neuen Mentor ernannt worden, und so hatte Setna gezwungenermaßen viel Zeit an dessen Seite verbringen müssen. Das erste, was ihm damals an diesem Mann aufgefallen war, war dessen offenkundige Gleichgültigkeit ihm oder der Ehre gegenüber, ihn als Schützling protegieren zu dürfen. Das war ungewohnt für Setna gewesen, denn er war es gewohnt, dass alle vor ihm stets den Kratzfuß machten, entweder um seine Gunst zu erheischen oder schlicht aus Angst. Nicht so aber General Bhuras, der gänzlich ungerührt geblieben war. Er hatte auch nichts Väterliches an sich wie Kasai etwa, er war einfach nur der loyale Kriegsmann an König Katthikes Seite. Und mittlerweile schätzte Setna den Herzog mit dem plattgeschlagenen Gesicht eines Straßenkämpfers dafür, dass er es nicht als nötig empfand, sich bei ihm einzuschmeicheln.
„General!“, rief der Prinz über den Platz, und Bhuras horchte auf. Er zügelte sein Pferd und trabte zu Setna hinüber. Seine wulstigen Lippen unter seinem gut gepflegten Schnurrbart verzogen sich zu einem leichten Lächeln, als er ihn begrüßte: „Mein Prinz! Was bringt Euch zu mir?“
„Der König möchte, dass Ihr zu ihm kommt, noch vor dem Nachtmahl.“
„Das klingt dringend, wenn er Euch dafür entsendet, mir dies mitzuteilen.“ Er saß ab, denn er wollte auf dem Weg in den Palast nicht neben dem Prinzen her reiten. Das gehörte sich selbst für den Obersten General nicht.
„Mögt Ihr aufsitzen, mein Prinz, dann müsst Ihr nicht laufen?“, bot er Setna an, doch der lehnte dankend ab. Auch dieses kurze Stück würde er sich nicht auf diesen Gaul setzen, auch wenn er gut trainiert war.
Bhuras nickte und strich seinem Hengst liebevoll über die Nase, während sie den Weg hinauf zum Äußeren Tor gingen.
Oben im Vorhof gab der General das Pferd in die Obhut eines herbeieilenden Stallknechts, den er ermahnte, das Fell ja gut trocken zu reiben, und zusammen mit Setna stieg er die Stufen zum Portal hinauf. Schweigend wandten sie sich in der Eingangshalle nach rechts und gelangten über mehrere Treppen in den Nordflügel, wo sich die königlichen Gemächer befanden. Ihre Schritte hallten auf dem Steinfußboden, als sie die Gänge entlangliefen, und schließlich erreichten sie die Tür zum Arbeitszimmer des Königs. Der Diener davor klopfte für sie und kündigte den Prinzen und den General an, dann traten sie ein.
König Katthike saß auf einer Bank im Erker und ihm gegenüber Lata.
‚Zum Teufel mit dir, Lata!’, dachte Setna beim Anblick des Beraters.
Da sie nun offenbar vollzählig waren, wies der König sie alle in eine mit kostbaren Teppichen ausgelegte Ecke mit Tisch und Stühlen. Sie ließen sich nieder - Setna neben seinem Vater und Bhuras sichtlich widerwillig neben Lata -, und ein weiterer Diener schenkte ihnen Wein in verzierte Silberkelche ein. Nachdem der König getrunken hatte, nahm auch Setna dankbar mehrere Schlucke, denn er war von der Lauferei ganz durstig geworden.
„Nun, meine Herren, es hat natürlich einen Grund, warum ich Euch habe rufen lassen“, eröffnete Katthike und sah in die kleine Runde, dann sprach er weiter: „Der Zeitpunkt ist günstig, wir werden gegen die südlichen Provinzen von Baschai-Adjan ziehen, noch in diesem Sommer!“ Er legte eine Pause ein, offensichtlich um die Reaktionen zu studieren. Bhuras schien als einziger nicht überrascht, er wirkte gelassen wie immer. Lata hingegen machte einen leicht zerknirschten Eindruck, was Setna freute.
„Einer meiner Spione hat mir aus zuverlässiger Quelle berichtet, dass die Herzöge von der Baschai - wie sie sich jetzt nennen - kurz davor stehen, ihre Unabhängigkeit auszurufen, und sie sind fest entschlossen, sie sich notfalls auch zu erkämpfen. Und es heißt auch, der König sei geneigt, die Provinzen fallen zu lassen, da er seit Jahr und Tag nur noch Ärger mit ihnen und keinen einzigen Steuerdinhar mehr gesehen hat. Er ist es leid, mit den Herzögen zu verhandeln und ihnen zu drohen, und nun kommen wir ins Spiel!“ Katthike lächelte frohlockend. „Wir werden dem guten König Altibor seine Entscheidung erleichtern, indem wir ihm diesen Ärger einfach abnehmen.“ Er legte die Fingerspitzen aneinander und wartete auf Einwände.
„Majestät, wenn ich bitte sprechen dürfte?“
„Natürlich, Konsultas Lata, dafür sitzen wir alle hier zusammen.“
„Majestät, wenn die Herzöge der Baschai gewillt sind, ihre Unabhängigkeit auch mit Waffengewalt durchzusetzen, so haben sie für diese Absicht bestimmt ihre Truppen verstärkt. Ist das nicht ein ungünstiger Moment, sie anzugreifen? Sie sind darauf vorbereitetet, einen Krieg zu führen.“
„Diese Frage ist durchaus berechtigt, aber ich habe zufällig auch verlässliche Zahlen über ihre Truppengrößen. Und die sind geradezu lächerlich gegenüber meiner Armee. Es sind gerade mal zweitausend bewaffnete Soldaten in der Baschai!“
Bhuras schnaubte bei dieser Zahl amüsiert.
„Möchtet Ihr etwas dazu sagen, General?“, forderte Katthike ihn auf.
„Ja, Majestät, die Provinzen einzunehmen, wird ein Kinderspiel, wenn Ihr mich fragt!“
Katthike lächelte, diesmal bestätigend. „Oh, ja, meine Herren, ein Kinderspiel!“
Doch Lata schien noch nicht überzeugt. „Und was ist, wenn König Altibor doch wieder eingreift und den Herzögen hilft. Ihm kann es schließlich auch nicht ganz recht sein, wenn Askhar sich die Provinzen einverleibt. Das würde ihn und sein Reich schwächen, und die Grenze gefährlich nahe an seine Hauptstadt verlagern. Und außerdem, Majestät, was wird dieser Krieg kosten?“
Bhuras sah Lata verächtlich an. Auch Setna wusste ganz genau, wie ungern der Konsultas des Königs Geld für einen Krieg verschwendete, der nicht gegen die Hy ging.
„Mein lieber Lata, Ihr seht das viel zu pessimistisch. Fragt Euch lieber, was dieser Krieg Askhar einbringen wird! Nämlich fruchtbare Ländereien, eine reiche Hafenstadt mit blühendem Gewürz- und Tuchhandel und, wie ich gehört habe, auch einige Bodenschätze.“
„Und rebellische Herzöge!“, ergänzte Lata beharrlich.
„Ihr seid eine ewig quakende Unke, Lata, aber das macht Euch auch so beflissentlich. Ihr seid ein vorsichtiger Mann, und das schätze ich an Euch, doch in diesem Falle gebe ich Euch nicht Recht. Rebellische Herzöge werden hingerichtet, wenn sie nicht bereit sind, mit uns zu kooperieren, kurzum!“ Der König fuhr mit einer flachen Hand durch die Luft und symbolisierte damit ein Henkbeil.
Setna musste über diese Geste leise lächeln.
Lata hob beide Hände und nickte ergeben, während Bhuras befriedigt seine Mundwinkel verzog. Er faltete seine schmalen Hände auf der Tischplatte und wandte sich erneut an den König: „Majestät, wann soll es losgehen?“
„Morgen werdet Ihr Maestro Kanaima in die Beratungen mit einbeziehen, und Ihr beide zusammen werdet mir mitteilen, wann meine Armee bereit ist!“
Jetzt rümpfte Bhuras die Nase. „Aber, Majestät“, protestierte er, „die Baschai einzunehmen, ist eine Kleinigkeit. Das Wissen von Maestro Kanaima werden wir dabei gar nicht benötigen.“
Setna freute sich heimlich über die Ablehnung, die auch Bhuras gegenüber seinem Stiefbruder hegte und strich sich mit einer Hand verstohlen das immer breiter werdende Grinsen aus dem Gesicht.
„General, auch wenn ich Eure Meinung immer sehr achte, gibt es Euch trotzdem nicht das Recht, derart offen Eure Missbilligung gegen meinen Sohn zur Schau zu stellen“, erregte sich Katthike, „und wenn ich sage, dass er mit in die Planung einbezogen wird, dann wünsche ich, dass das auch geschieht! Ich weiß sehr wohl, dass dieser Feldzug keiner besonderen Strategie bedarf, die Ihr nicht auch entwerfen könntet, aber es soll Kanaimas Meisterstück werden, eine Kostprobe seines Könnens und der Beweis seiner Loyalität. Im Übrigen wird er mit ins Feld gehen. Es wäre also klüger, wenn Ihr Eure Differenzen mit ihm für diese Zeit beilegtet!“
„Sehr wohl, Majestät!“, ließ nun auch Bhuras beteten verlauten.
„Meine Herren, das war’s. Wir sehen uns beim Nachtmahl!“, bedeutete Katthike das Ende ihrer Besprechung.
Alle erhoben sich, und Lata und Bhuras verließen nacheinander den Raum.
„Setna, mein Sohn, was bedrückt dich? Freut es dich nicht, dass wir wieder in den Krieg ziehen?“ Katthike blickte ihn offen an.
Setna, der sich an das Fenster gestellt hatte, sah nicht auf, sagte aber: „Ihr lasst mich ja doch wieder nicht mit in die Schlacht. Stattdessen nehmt Ihr Kanaima mit!“, sagte er vorwurfsvoll, er konnte nicht glauben, dass sein Vater diesen miesen Verräter vorhin als seinen Sohn bezeichnet hatte. Der alte Zorn kroch erneut in seinen Unterleib und vergrub sich dort tief in seinen Eingeweiden. Warum hatte der König Kanaima wieder an den Hof zurückgeholt! Warum, verdammt? Diese eine böse Überraschung nahm er seinem Vater noch immer sehr übel. Er verstand nicht, warum er ihn damals nicht wenigstens eingeweiht hatte? Was wollte er mit all dieser Farce bezwecken? Dass er seinen Stiefbruder noch mehr zu hassen lernte? Dass er seinen ärgsten Konkurrenten immer vor Augen hatte? Sollte ihn das anspornen? Das war lächerlich, er würde nie im Leben das Wissen erlangen können, welches Kanaima besaß. Aber musste er das überhaupt? Hatte sein Vater nicht einmal gesagt, ein König müsse nur darin ein Genie sein, die besten Leute um sich zu scharen? Nun gut, dachte Setna und straffte sich innerlich, vielleicht war genau das auch der Grund, warum Kanaima hier war. Er war gut, und Katthike nutzte ihn und sein Wissen aus. Aber zum Teufel, warum musste es ausgerechnet Kanaima sein!
Katthike kam zu ihm ans Fenster, lehnte sich mit der Schulter an die Wand und verschränkte lässig die Arme vor der Brust. Setna spürte, wie er ihn aufmerksam anschaute, aber er sagte nichts.
„Nun, ich denke“, nahm Katthike schließlich wieder den Faden auf, „es wird Zeit, dich kämpfen zu lassen. Du brauchst die Erfahrung und kannst dir einen Namen auf dem Schlachtfeld machen. Das ist es doch, was du dir wünschst? Ruhmreiche Taten.“
Setna sah endlich auf. In den blauen Augen seines Vaters fing sich das letzte Licht des Tages, das durch das Fenster drang.
„Und die Leibwächter?“, fragte er immer noch missmutig, doch seine finstere Stimmung hatte sich längst verflüchtigt. Er durfte kämpfen! Sein Inneres jubilierte.
„Die werden natürlich weiterhin in deiner Nähe bleiben“, entgegnete Katthike trocken.
Setna überlegte, wägte das Für und Wieder ab. Dann aber erhellten sich seine Züge, und er ließ ein breites Lächeln auf seinem sonst so bewusst verschlossenen Gesicht erstrahlen.
Kanaima legte das Buch beiseite und rieb sich über die geröteten Augen. Er hatte viele Stunden gelesen. Es musste schon sehr spät sein. Nach Mitternacht, schätzte er. Er warf einen Blick hinüber auf die Pritsche. Nein, jetzt sofort konnte er noch nicht schlafen gehen. Er brauchte noch etwas Zerstreuung, sonst würden seine Gedanken kreisen bis zum Morgengrauen. Er erhob sich und streckte seine steifen Glieder. Auch sein Nacken war verspannt. Er neigte den Kopf zur Seite, bis es laut vernehmlich knackte.
‚Wer hätte gedacht, dass das Studieren eine solch beschwerliche Angelegenheit ist, alter Mann. Als du als junger Bursche noch selbst das Schwert geschwungen hast, bist du nicht so schnell ermattet.’
Er strich sich mit der Hand über den Nacken. ‚Ein Bad und eine Massage wären jetzt gut’, kam ihm in den Sinn. Das Bad würde er bekommen, aber für die Massage war es mit Sicherheit zu spät. Das Personal des Bades schlief bestimmt schon längst. Er nahm sich seinen Mantel vom Stuhl und warf ihn sich über die Schultern, dann machte er sich auf den Weg hinauf zum Badehaus des Palastes.
Es war ein recht feudales Badehaus, die Wände und Fußböden hübsch mit bunten Kacheln verziert, und alles Metall war blank poliert. Es gab mehrere Becken unterschiedlicher Größe und Wärme. Einige Öllampen flackerten im Dunst, und Kanaima sah, dass noch ein Diener Nachtwache hielt. Dieser sprang sogleich auf und war ihm dabei behilflich, seine Kleidung abzulegen. Kanaima ließ sich von ihm einseifen und abspülen. Dann stieg er in das mittelwarme Becken und schwamm ein paar Züge.
„Es ist nicht zufällig noch eine der Masseurinnen wach?“, rief Kanaima dem Diener zu, der am Beckenrand auf einem hölzernen Schemel saß.
„Leider nein, mein Herr Maestro, sie sind zu Bett. Aber ich kann eine wecken lassen, wenn Ihr es wünscht.“
„Nein, nein, lass nur, es wird auch so gehen.“ Er tat noch ein paar weitere Züge und ließ sich dann langsam an den Rand treiben. Dort lehnte er sich mit dem Rücken an und blickte versonnen in die aufsteigenden Dampfschwaden. Er sog tief den besänftigenden Duft nach Mandel- und Zedernholzöl ein, und langsam entspannte er sich. Ein wohliges Seufzen drang aus seiner Kehle, und er schloss für einen Moment die Augen.
Als er sie wenig später wieder öffnete und durch den Dampf in das dämmrige Licht blinzelte, sah er, dass ein Mann durch die Tür am anderen Ende des Bades getreten war und hinter ihm zwei Leibdiener. Kanaima erkannte ihn sofort, es war Lata. Nur was machte der Konsultas um diese Nachtzeit hier im Bad?
Da der Berater ihn noch nicht gesehen hatte, nutzte der Maestro die Gelegenheit, sich den ersten Mann des Königs einmal unbemerkt aus der Nähe zu betrachten. Lata ging durch die von Säulen gestützte Halle zu einem der kleineren Becken mit dem heißen Wasser. Dann wendete er Kanaima den Rücken zu und ließ sein weißes Leinengewand von seinen Schultern gleiten. Nackt stand er da; ein mittelgroßer, alternder Mann mit schwindender Muskulatur und erschlaffender Haut, doch seine üppigen, dunklen Haare, die er sich zu einem dicken Knoten hochgebunden hatte, waren noch weitgehend vom Grau verschont geblieben. Aber was war das? Kanaima erspähte durch den Dunst etwas auf dessen Haut am Rücken. Er reckte sein Kinn über das Wasser, um besser sehen zu können. Der Konsultas stand lässig da und ließ sich von dem Diener, der sich zuvor noch Kanaimas angenommen hatte, einseifen. Es waren blaue Linien, unzählige. Sie ergaben Muster. Kanaima traute seinen Augen kaum, als er erkannte, was diese Muster bedeuteten. Es waren Schiffsrümpfe! Seitenansichten, Querschnitte, Mastenaufbauten! Unwillkürlich, stieß er leise pfeifend Luft zwischen seinen Zähnen aus. Die geheimen Baupläne der borgossinischen Kriegsgaleeren! Keinen Zweifel, das waren sie! Kanaima tauchte mit dem Kopf unter, als Lata sich zu ihm umdrehte, und verbarg damit gerade noch rechtzeitig seinen überraschten Gesichtsausdruck. Er schwamm ein paar Züge unter Wasser, um sich zu beruhigen. So hatte Lata sie also nach Askhar gebracht, das war seine Lebensversicherung gewesen. Wie überaus raffiniert. Er tauchte wieder auf und strich sich seine triefenden Haare zurück. Lata erkannte ihn und grüßte höflich. Kanaima nickte zurück. Er erinnerte sich daran, dass es in Borgossa viele begabte „Hautstecher“ gab. So hießen die Leute, die einem schmückende Muster und Motive dauerhaft in die Haut einstechen konnten. Eine sehr schmerzhafte Prozedur! Aber viele der Seeleute hatten solche Muster auf der Haut. Allerdings stammte diese Kunstform nicht vom Kontinent, sondern von Übersee, von dort hatten die Seefahrer die Technik des „Hautstechens“ mit nach Borgossa gebracht, und Lata hatte sich diese schließlich auf seine Weise zu Nutzen gemacht. Der Bursche war wirklich findig. Kanaima dachte an den Patron und wie sehr dieser über den Verbleib der Pläne nachgegrübelt hatte. ‚Wenn er jetzt nur hier sein und es auch sehen könnte, das würde ihm gefallen, dem alten Fuchs!’ In diesem Moment bedauerte es Kanaima sehr, dass ihn so viele Meilen von dem väterlichen Freund trennten.
Er stemmte sich aus dem Wasser, ging über die Fliesen und trat so wie er war an das Becken, in dem Lata saß. Der sah auf und sagte: „Maestro, Ihr nehmt zu solch später Stunde auch noch ein Bad?“
Kanaima bemerkte, wie Lata den Blick abschätzend über seinen Körper gleiten ließ, aber das störte ihn nicht, denn er hatte nichts zu verbergen. Erst jetzt kam der Diener herbeigelaufen und legte ihm eine leichte, angewärmte Leinentunika um die breiten Schultern. Er zog sie über, aber vorne nicht zusammen, sollte Lata doch weiterhin einen Blick auf seine durchaus vorzeigbare Männlichkeit werfen können.
„Ja, wie Ihr seht. Ich habe lange gearbeitet, und ich dachte mir, ein warmes Bad könnte gut tun vor dem Schlafengehen.“
Lata nickte scheinbar wissend, hob die Ellenbogen über den Rand und stützte sich nach hinten ab. „Ah, eine Wohltat. Wollt Ihr Euch nicht noch eine Weile zu mir setzen?“, fragte er.
Kanaima hatte eigentlich keine sonderlich große Lust, das Badewasser mit diesem Mann zu teilen, aber etwas in den Augen des Beraters ließ ihn seine Meinung ändern. Er legte die Tunika wieder ab und stieg in das Becken. Genau gegenüber von Lata setzte er sich auf die versenkten Stufen.
Der Konsultas schnippte mit den Fingern, und zwei knappbekleidete Mädchen kamen leichtfüßig herbeigelaufen. Kanaima sah sofort, dass es hyaunische Sklavinnen waren. Sie hatten diese katzenartigen Augen und die hohen Wangenknochen, wie sie für die Hy typisch waren, und einen unverwechselbar bronzefarbenen Teint. Sie waren noch sehr jung, vierzehn oder fünfzehn vielleicht, ihre Taillen waren schlank und ihre hübschen Gesichter schmal. Sie stiegen samt der hauchdünnen Bekleidung in das Becken, die sofort durchscheinend wurde, als sie sich mit Wasser tränkte, und begannen Lata und Kanaima zu massieren.
Das eine Mädchen rittlings auf dem Schoß, dessen zierliche Hände seine Brust bearbeitend, lächelte Kanaima anzüglich und dachte: ‚Lata, Lata, dies sind also deine nächtlichen Vergnügungen! Was treibst du noch alles so, während andere schlafen?’
„Nur zu, es sind die besten Masseurinnen weit und breit!“, bot der Berater seine Gespielinnen feil.
„Tatsächlich? Besser als die Mädchen aus Mediana?“, fragte Kanaima zurück.
Lata schien sich zu erinnern, denn sein Blick schweifte an die ebenfalls mit bunten Kacheln besetzte Decke des Bades.
„Hm, ja, ich muss zugeben, in Borgossa hat es auch sehr talentierte Mädchen gegeben! Die Stadt hatte überhaupt so einiges an Annehmlichkeiten zu bieten, das ich hier doch sehr vermisse! Die Tavernen mit dem guten Wein zum Beispiel, oder die frische Luft und der Geruch nach Meer.“ Lata schien es zu gefallen, alte Erinnerungen auszutauschen. Er plauderte munter drauf los.
Kanaima bemerkte derweil, wie sein Glied sich unter dem kreisenden Po des Mädchens zu regen begann. Er versuchte, seine aufkeimende Lust zu unterdrücken und konzentrierte sich ganz auf Lata.
„Habt Ihr auch lange Abende in La Gioia verbracht?“, wollte dieser gerade wissen, und ihm entfleuchte ein kleines lüsternes Lachen, als das Mädchen auf seinem Schoß seine Brustwarze zwischen die Zähne nahm.
Kanaima riss sich zusammen, obwohl sein eigenes Begehren unter Wasser bereits unweigerlich stramm in die Höhe stand. Das Mädchen wollte danach fassen, doch er schob ihre Hand unauffällig fort. „Ja, La Gioia war wahrlich ein aufregender Ort“, antwortete er und hoffte, Lata würde endlich zur Sache kommen, denn er spürte, dass dieser ihn nicht umsonst zu sich eingeladen hatte. Doch zu seiner allergrößten Irritation begann sich das Mädchen auf Latas Schoß langsam rhythmisch zu bewegen. Der Oberste Berater des Königs biss sich genüsslich auf seine Unterlippe und sah Kanaima dabei unverwandt an.
„Das hier ist aber auch nicht schlecht! Das Besondere an diesen Hy-Mädchen ist, dass sie in Gefangenschaft geboren wurden, deshalb sind sie auch so fügsam“, sagte er schließlich und grinste. Das Mädchen bewegte sich schneller und gab leise Laute von sich. Lata umfasste unter Wasser ihre Hüften.
Kanaima starrte ihn an, hart an der Grenze seiner eigenen Selbstbeherrschung.
„Ihr habt gesehen, wie ich die Pläne nach Askhar geschafft habe?“, fragte Lata scheinbar beiläufig. Noch schien er vollkommen unbeeindruckt von den Bemühungen seiner Gespielin.
„Ja, das habe ich. Und ich hatte mich schon immer gefragt, wie Ihr das angestellt habt“, gab Kanaima offen zu. „Ich muss gestehen, ich bin überrascht.“
„Ihr seht also, ich habe einen Grund für meine ausnahmslos nächtlichen Bäder?“
„Wer weiß noch davon?“
„Oh, nicht viele. Der König, natürlich, ein paar meiner Leibdiener, meine Konkubinen, diese Mädchen hier, und sonst keiner!“ Er hob unschuldig eine Hand aus dem Wasser, um sie danach auf die Brust des Mädchens zu legen.
„Aber ich weiß es jetzt auch!“, sagte Kanaima und stieß erneut die Hand des Mädchens weg. Sie blickte ihn schmollend an.
‚Diese Augen! Welch ein Grün!’, dachte er, sah aber sogleich wieder auf Lata. Das Mädchen begann seinen Hals mit leichten Küssen zu bedecken, und Kanaima biss sich auf die Zähne.
„Ich denke, ich kann mich auf Euch verlassen“, entgegnete Lata gelassen, doch sein Atem ging jetzt deutlich schneller. „Ihr werdet darüber schweigen, genau wie Ihr über die Prophezeiung schweigt, die Ihr bekommen habt, nicht wahr?“ Er blickte Kanaima tief in die Augen, die Nasenflügel geweitet. Das Mädchen hob und senkte ihren Körper, das Wasser plätscherte.
Kanaima musste gar nicht erst verwundert tun, er war es. „Woher wisst Ihr ...?“ Er winkte gespielt lässig ab. „Ach, ich Tölpel sollte es mir langsam abgewöhnen, solch dümmliche Fragen zu stellen!“
„In der Tat!“, raunte Lata atemlos. Dann legte er den Kopf zurück und verzog fast schmerzhaft vor Genuss das Gesicht.
Kanaima blickte auf das Mädchen vor sich. Sie sah ihn ebenfalls an und öffnete leicht die Lippen; wundervolle ungeschminkte, aber trotzdem rot angehauchte Lippen, und er ließ es sich gefallen, dass sie ihn auf den Mund küsste.
‚Was soll’s, warum nicht’, dachte er, und ein wohliger Schauer überkam ihn, als sie ihn geübt in sich aufnahm.
Es war ein Hochgenuss, wie er ihn schon lange nicht mehr verspürt hatte, als er endlich kam. Seit Janita hatte er keine solche Lust mehr verspürt. Das ahnte scheinbar auch Lata, denn er lächelte ihn breit an, als das Mädchen von ihm abließ. Es setzte sich neben Kanaima und wand sich behaglich, drückte ihren zierlichen Körper an seine Seite.
„Nun, habe ich zu viel versprochen?“, hob Lata fragend die Brauen.
„Nein, es war ganz erfreulich“, gab Kanaima zurück und musste gähnen.
„Übrigens wird der König demnächst in den Krieg ziehen! Der Rat hat es heute beschlossen“, gab Lata endlich sein lang zurückgehaltenes Wissen preis, aber Kanaima war nicht sonderlich überrascht. Er hatte es bereits geahnt. Und außerdem war er es gewohnt, stets als letzter in des Königs Pläne eingeweiht zu werden. Es war Katthikes höchsteigene, charmante und unmissverständliche Art, ihm zu zeigen, dass er der das letzte Glied in der Reihe seiner Vertrauten war, wenn man ihn überhaupt als solchen bezeichnen konnte.
„Gegen Baschai-Adjan“, gab Kanaima unbekümmert zurück. Seine Lider senkten sich schläfrig.
„Wie, ich sehe, seid Ihr schon informiert.“ Es klang fast enttäuscht. Lata hatte wohl gehofft, in Kanaimas Gunst ein Stüfchen höher zu steigen, wenn er ihm taufrisch verriet, was der Rat besprochen hatte.
„Keineswegs“, eröffnete der Maestro vorgetäuscht bereitwillig, „ich habe mir nur schon meine eigenen Gedanken gemacht. Das ist das Elend mit uns Gelehrten, wir machen uns ständig Gedanken, tagein, tagaus. Es war nur eine logische Schussfolgerung auf die Frage, wann und gegen wen der König einen neuen Feldzug planen könnte.“
„Darf ich Euch einmal eine ganz persönliche Frage stellen, Maestro Kanaima?“
‚Was schleimst du so, Lata!’, dachte er, sagte aber laut: „Nur zu!“
„Warum nennt Ihr Katthike niemals Euren Vater?“
Kanaima lächelte leise und lehnte sich vor. „Wisst Ihr, jetzt verrate ich Euch einmal ein Geheimnis!“, lockte er Lata, der sich sogleich ganz Ohr etwas vorneigte. „Ich bin zwar der leibliche Sohn des Königs, und in den Augen einiger anderer sogar noch viel mehr, aber mein Vater ist er für mich schon lange nicht mehr, versteht Ihr? Alles, was er für mich ist, ist ein Gönner, denn er hat mir die Akademie gegeben und eine neue Chance, meine Treue zu beweisen, und dafür bin ich ihm sehr zu Dank verpflichtet. Deshalb huldige ich ihn als König, aber nicht als meinen Vater. Wir beide wissen, dass es seine pure Strategie und nicht die Sentimentalität eines Vaters ist, die mich wieder hier hergeführt hat.“
Lata nickte verschwörerisch.
‚Und du bist mir wieder einmal auf den Haken gegangen, mein Lieber!’, dachte Kanaima zufrieden und lehnte sich zurück. Doch ihm wurde langsam kalt und deshalb erhob er sich und verabschiedete sich schließlich von Lata, natürlich nicht ohne ihm für die wirklich erquickliche Zerstreuung zu danken.
Doch der Tag, auch wenn er schon lange jenseits der Stunden um Mitternacht war, war noch längst nicht zu Ende, denn als Kanaima müde sein Gemach im Palast betrat, wartete dort im Dunkeln ein Bote auf ihn. Erschrocken griff er nach seinem versteckten Dolch und fragte: „Wer seid Ihr?“
„Tenil, der Leibdiener Euer Tante.“
Erleichtert ließ Kanaima von seinem Dolch ab und entzündete eine Kerze.
„Was machst du denn hier!“, wollte er wissen und hielt sich eine Hand vor den Mund, denn ein eigenwilliges Gähnen wollte sich dort heraus stehlen.
Tenil blieb stumm.
„Nun, bitte. Es ist sehr, sehr spät und ich möchte schlafen, sag, was dich zu mir führt? Geht es meiner Tante nicht gut?“, kam es Kanaima in den Sinn und wurde schlagartig wach.
Tenil überreichte ihm einen Brief und sagte leise: „Eure Tante ist gestorben, mein Prinz. Vor fünf Tagen. Sie ist eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht. Wir haben sie in der Ebene von Kalav begraben, so wie sie es wollte. Sie hat immer gesagt, dass sie um keinen Preis in der Familiengruft beigesetzt werden will. Das hier ist ihr letzter Gruß.“ Er deutete auf den Brief in Kanaimas Hand.
Der Maestro ließ sich auf die Bettkante sinken. „Wo genau ist ihr Grab?“
„Ihr kennt die große Akazie auf den Feldern jenseits des Flusses?“
„Ja.“ Kanaima kannte sie. Er hatte sie von seinem Balkon aus immer sehen können, wie auch seine Tante.
„Danke, Tenil, dass du den weiten Weg hierher gemacht hast“, sagte er mit zugeschnürter Kehle und wollte einen Golddinhar aus seiner Börse fischen, doch Tenil wehrte entschieden ab.
„Wie ich sagte, mein Prinz Kanaima, es war der letzte Wille Eurer Tante, und ich fühle mich verpflichtet, diesen auch ohne Bezahlung zu erfüllen. Ihr sollt wissen, dass ich ihr immer treu ergeben war!“ Kanaima blickte zu Tenil auf, der seine besten Tage schon weit hinter sich gelassen hatte, und erkannte Tränen in dessen umwitterten Augen. Die tiefe Trauer berührte ihn und ließ ihn selbst schwermütig werden. Doch er sah auch noch etwas anderes. Es war Liebe, tief empfundene Liebe, und mit einem Mal wusste er, wie Tenil und seine Tante zueinander gestanden hatten. Es war ein etwas peinlicher Gedanke, doch warum sollte eine Frau wie Karla nicht auch ein Recht darauf gehabt haben, von einem Mann geliebt zu werden.
„Und was wirst du nun tun, Tenil“, erkundigte er sich besorgt.
„Eure Tante hat mir alles bewegliche Gut in der Burg hinterlassen. Ich denke, ich werde es verkaufen und mich mit dem Geld zur Ruhe setzen. Ich werde zurückkehren nach Taraischan, denn dort sind meine Wurzeln, dort ist meine Heimat, auch wenn ich keine Verwandten mehr habe.“
Kanaima nickte teilnahmsvoll. Sein Herz wurde ihm immer schwerer, und er befürchtete, seine eigenen Tränen nicht mehr länger zurückhalten zu können.
„Dann geh mit den Göttern, Tenil. Hab Dank für deine Treue!“
Tenil ließ sich auf ein Knie nieder, nahm Kanaimas Hand, führte sie an seine trockenen Lippen und sagte ehrfürchtig: „Mein Prinz, wenn Ihr je meine Hilfe braucht, dann gebt mir Nachricht!“
Kanaima war sprachlos und restlos ergriffen zugleich.
„Tenil, bitte, bring mich nicht in die Verlegenheit, vor dir zu heulen wie ein kleines Kind. Leb wohl und gute Heimreise“, stotterte er, und der ehemalige Leibdiener und Liebhaber seiner Tante erhob sich.
„Lebt wohl, mein Prinz“, flüsterte er, legte eine Hand auf seine Brust und ging.
Als die Tür sich lautlos hinter ihm geschlossen hatte - denn auch ihre Angeln waren gut geölt -, öffnete Kanaima den Brief und las.
„Mein lieber Kanaima,
ich spüre, dass es zu Ende geht, aber das ist auch gut so. Ich habe viel zu lange in dieser Burg gesessen, auf dass ich noch ein Zeichen meines Bruders erwarten könnte. Er wollte immer, dass ich hier zu Grunde gehe, doch ganz so hat sein Plan sich nicht erfüllt. Sechsundzwanzig Jahre, ein Vierteljahrhundert, habe ich hier ausgehalten und ihm getrotzt, und darauf bin ich stolz! Ich hatte wahrlich schwere Jahre in den Wänden dieser widerlichen Feste, aber ich hatte auch eine ganz besondere Zeit, welche mir die Götter als Geschenk gemacht haben: Die Zeit mit dem jungen Prinzen Kanaima. Es waren die schönsten Jahre meines Lebens, auch wenn sie das für dich natürlich nicht gewesen waren, aber mir haben sie das Glück beschert, einen Sohn in die Arme schließen zu können, der mir selbst immer verwehrt geblieben war - zum Glück, denn dann wäre er auch dem Wahn meines Bruders zum Opfer gefallen! So aber bist du nun mein verlorener Sohn, meine Hoffnung auf eine bessere Zukunft! Und ich weiß, du wirst dein Volk nicht enttäuschen.
Von den Toren der Götter aus werde ich stets auf dich hinabsehen.
Deine, dich immer liebende Tante, Sama-Karla.
Noch eines: Verbrenne diesen Brief bitte, ich möchte nicht, dass er dich in Schwierigkeiten bringt.“
Tränen tropften auf das Papier. Kanaima zerknüllte den Brief, warf sich auf sein Bett und weinte still und leise.
„Kommt schon, Sennore Raen!“, rief die Prinzessin, und Raen schüttelte seine Scheu ab. Er legte seine Hand in die ihre und ließ sich die letzten Ellen von ihr hinaufziehen. Oben angekommen, schauten sie andächtig über die weite Ebene von Borgossa. Der mühsame Weg auf den Gipfel eines der kleinen Ausläufer des großen Gebirges hatte sich gelohnt, die Aussicht war grandios! Die Stadt erschien als brauner Fleck an die Küste geschmiegt, die sich wie eine große Bucht von ihnen weg bog. Die Ebene war ein Flor aus saftigem Grün, wie es ein solches nur im Mai gab, und die Schürzen der Berge waren mit dunklen Fichten und Pinien bedeckt. In ihrem Rücken türmten sich die grauen Massen des Hochgebirges.
Raen ließ sich auf einem nicht ganz so spitzen Felsen nieder, und die Prinzessin setzte sich keine Armeslänge von ihm entfernt auf ein Polster aus Moos, das sich hier oben noch gehalten hatte. Der Wind wehte frisch, aber nicht kalt um ihre Nasen, und die Sonne schien ihnen ins Gesicht.
„Hm, wundervoll!“, sagte Raen und atmete tief durch.
„Ja, das ist etwas anders, als die ewig stickige Stadtluft!“ Prinzessin Keï gab ihrem Leibwächter, der ihnen ohne zu murren bis hier hinauf gefolgt war, ein Zeichen, und er ließ eine Tasche von seiner Schulter. Er öffnete sie und brachte daraus kleine Köstlichkeiten zum Vorschein und einen Schlauch mit Wasser. Die Prinzessin nahm sich sogleich von dem, was der Leibwächter ihr anbot und verzehrte es mit sichtlichem Genuss. Raen griff etwas zögerlicher zu. Er fand es unangenehm, so bedient zu werden, und erst recht von einem dieser griesgrämigen Kerle, aber die Prinzessin kannte es nicht anders. Für sie war es selbstverständlich.
Also steckte sich Raen ein Stück Hirschschinken in den Mund und kaute hungrig darauf herum. Der salzige Geschmack war herrlich. Danach ließ er sich den Wasserschlauch reichen und nahm ein paar große Schlucke. Zufrieden schob er sich noch ein Stück Schinken und Brot hinterher.
Prinzessin Keï lächelte versonnen. „Ach, ich könnte für immer auf einem solchen Berg sitzen bleiben und auf die Welt hinabschauen. Es ist alles so putzig klein und so harmlos.“ Sie schwenkte einmal ihren Arm über der Landschaft zu ihren Füßen. Sie hatte eine ganz besondere Art, sich zu bewegen, gelassen und würdevoll zugleich.
Raen blickte in die besagte Ferne und wusste nicht so recht, was er darauf entgegnen sollte. Er hatte den Gipfel bisher lediglich aus strategischer Sicht betrachtet. Natürlich war die Aussicht schön, aber sie zeigte auch deutlich, wie verblüffend ungeschützt Borgossa eigentlich dalag. Doch die Stadt brauchte keine mächtigen Mauern, und auch keine sonstigen Wehranlagen, außer dem Kastell vielleicht, das aber noch aus grauer Vorzeit stammte. Nein, die Menschen, die in Borgossa lebten, waren mächtig genug, um etwaigen Angriffen vorzubeugen, indem sie jedem mit einem Handelsstopp drohten, der auch nur daran dachte, sich der Stadt in feindlicher Absicht zu nähern. Das war Raen zu Beginn reichlich merkwürdig erschienen. Allein mit Worten zu drohen, oder noch besser, mit einem Schriftstück, schien ihm regelrecht lächerlich. Aber mittlerweile hatte er begriffen, welch mächtige Waffe der Handel sein konnte. Er lehnte sich auf dem Fels zurück und hielt das Gesicht in die Sonne.
„Bei uns haben wir auch solch einen hohen Berg in der Nähe unserer Hauptstadt. Da bin ich schon oft hinaufgeklettert, besonders als Kind.“ Prinzessin Keï seufzte. „Sagt, Raen, habt Ihr auch manchmal so schreckliches Heimweh?“
Er wandte ihr sein Gesicht zu. „Ja, natürlich!“, antwortete er freimütig.
„Oh, verzeiht, ich hatte ganz vergessen, dass zu Hause Eure Verlobte auf Euch wartet.“ Sie wirkte zerknirscht. Schließlich hatte sie ihn zu diesem Ausflug überredet, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Anfangs hatte er sich sehr gescheut, mit ihr und ihrem Bruder in der zweiwöchigen Pause bis zum nächsten Circulum ein paar Tage unterwegs zu sein, um die Bergdörfer und die kleine Stadt Corre del Monte zu besuchen. Er hatte nicht gewusst, ob es recht war, solch eine Einladung anzunehmen. Manoen hingegen hatte sogleich rundheraus abgelehnt, genau wie er zuvor schon Keïs Hilfe höflich, aber bestimmt abgelehnt hatte. Raen vermutete, dass Manoen sich lieber schöne Abende in La Gioia gönnen wollte, anstatt langweilig durch die Gegend zu reiten. Aber nachdem die Prinzessin nicht locker gelassen und ihn das vierte Mal mit ihrer Einladung beschämt hatte, hatte Raen schließlich eingewilligt, noch immer unsicher, damit nicht eine unsichtbare Grenze der Schicklichkeit zu überschreiten.
„Ich wusste gar nicht mehr, wie schön es eigentlich ist, unterwegs zu sein“, sagte er. „Eigentlich mag ich das Reisen ja. Wenn es nur nicht soviel Geld verschlingen würde.“
„Woher bekommt Ihr Euer Geld eigentlich? Keiner von Euch verdingt sich, und ich schätze, Eure Familienhäuser haben auch kein besonders großes Vermögen, um Euch das teure Studium in Borgossa zu finanzieren“, erkundigte Prinzessin Keï sich neugierig.
„Da habt Ihr Recht, in Hy gibt es kein Geld. Wir kommen dort ohne aus.“
Sie zog verwundert die Brauen hoch, und Raen erklärte: „Aber wir haben andere Mittel. Die kann ich Euch jedoch leider nicht verraten.“
„Gold!“, riet sie ins Blaue hinein.
Raen lächelte tiefgründig, sagte aber nichts.
„Ich habe gehört, das sei auch der Grund, warum die Askharer Euch ständig belagern.“
‚Belagern war nett formuliert - Schrecken und Unheil bringen, wäre die treffendere Umschreibung dafür gewesen’, dachte er, entgegnete aber stattdessen: „Ach, die Askharer sind unverbesserliche Neidhammel. Ich frage mich, wann sie es endlich müde werden, uns zu drangsalieren, welchen Grund auch immer sie dafür haben mögen.“
„Wahrscheinlich werden sie nie damit aufhören, denn ihr Hass gegen Euch ist ein sich immer erneuernder Quell. Die Askharer kommen schon mit diesem Hass zur Welt!“
„Und woher meint Ihr, das zu wissen?“, fragte Raen mit einem Hauch von Spott in der Stimme.
Prinzessin Keï warf einen strengen Blick zu ihm herüber. „Askhar ist auch unser Nachbar, habt Ihr das vergessen? Und was die Askharer antreibt, ist einfach zu erklären: Neid, Hass und noch einmal Hass, und Generationen verrückter und großsüchtiger Könige!“
„Wie überaus beruhigend!“, lachte Raen ironisch.
„Im Moment ziehen sie gegen die südlichen Provinzen von Baschai-Adjan, falls Euch das interessiert.“
„Aber natürlich interessiert mich so etwas, dann weiß ich wenigstens, dass unsere Grenze für dieses Jahr sicher ist.“ Er nahm ein Steinchen auf und warf es über den Rand nach unten. „Und wo habt Ihr das schon wieder her? Von der Akademie?“, wollte er wissen.
Die Prinzessin schüttelte den Kopf. „Ich bekomme regelmäßig Briefe von meinem Vater, in denen er mir mitteilt, wie die politische Lage im Freien Osten ist. Er sagt, ich müsse stets gut informiert sein, wenn ich einmal seinen Platz einnehmen werde. Nichtsdestotrotz wird es nicht mehr lange dauern, und man wird auch hier in Borgossa davon erfahren.“ Sie wand verlegen ihre Finger ineinander. Das Thema Krieg schien ihr nicht zu behagen, doch Raen wollte es darauf ankommen lassen. „Warum greifen die Askharer nicht Ohaoud an?“
„Weil sie wissen, dass unsere Armee zu mächtig ist. Es wäre ein Leichtes für uns, sie zu zerschmettern, deshalb verhalten sie sich uns gegenüber friedlich.“
„Und warum tut Ihr es nicht?“, fragte er hartnäckig weiter.
„Tun wir was nicht?“
„Na, sie überrennen und besetzen? Warum bringt Ihr sie nicht zum Schweigen, wenn ihr so mächtig seid? Seit sie uns Territorien abgenommen haben, zittert der gesamte Freie Osten vor Askhar. Immer wieder höre ich: Was, wenn sie noch mächtiger werden? Was, wenn sie noch mehrere Provinzen erobern? Wer wird ihnen dann noch Einhalt gebieten?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Das ist nicht unser Problem, der Freie Osten hat auf eine Allianz mit uns verzichtet, da sie mit unseren Bedingungen nicht einverstanden waren. Und außerdem gibt es in Askhar nichts, was uns interessiert.“
„Ihr habt mit niemandem eine Allianz!“
„Weil niemand unsere Bedingungen anerkennt, und weil wir es nicht nötig haben, zu betteln!“, entgegnete die Prinzessin stolz.
Raen stieß wütend Luft aus. Wie konnte man nur so gleichgültig und so arrogant sein! Da gab es ein Volk, das es fertig bringen könnte, die Askharer zu beherrschen, ja, sie gar zu vernichten, und sie taten es nur nicht, weil es sie schlichtweg nicht interessierte? Er konnte es nicht fassen. Was würde er darum geben, den Askharern einmal das heimzuzahlen, was sie in all den Jahrhunderten seinem Volk angetan hatten!
„Was ist mit Euch, Raen?“, fragte die Prinzessin, offenbar besorgt über die finstere Miene ihres Begleiters.
„Ihr wollt tatsächlich wissen, was mit mir ist?“, fauchte er.
„Ja, das will ich!“
„Gut, Ihr habt es so gewollt. Ich denke, wenn man die Macht besitzt, ein Übel aus der Welt zu tilgen, dann sollte man dem Rest der Welt diesen Gefallen auch tun, egal ob man sich mit denen vollständig grün ist. Das sind die Stärkeren den Schwächeren schuldig!“
„Ach, sind wir das?“ Prinzessin Keï klang angriffslustig. „Nun, dann sage Er mir doch, warum das so sein soll? Warum sollte der Stärkere seinen Kopf für die Schwächeren hinhalten, wenn er doch nichts dafür zurückbekommt?“ Sie hatte den Spieß umgedreht, aber Raen blieb unbeirrt.
„Es ist die Pflicht des Stärkeren, für die Schwächeren einzustehen! Und dafür bekommt er Dankbarkeit! Ihr tut Euch damit keinen Schaden, aber Gutes an der Welt.“ Er wies damit bewusst auf seine eigene Kriegerwürde hin und auch darauf, dass diese moralische Grundhaltung sowohl in Ohauod als auch in Borgossa nicht ganz unbekannt sein sollte.
Doch die Prinzessin blickte ihn nur kühl an und sagte: „Dankbarkeit allein bringt keinen Profit ein, wisst Ihr. Euer Denken ist zwar edel, hat aber nicht viel mit Politik zu tun, das müsst Ihr doch zugeben.“
„Politik, pah! Wenn Politik bedeutet, allein nach Profit zu regieren, anstatt dem Menschen zum Wohlleben zu verhelfen, dann bin ich lieber ohne! Ich finde Eure Ansicht abscheulich!“ Es hielt ihn nicht länger auf seinem Stein und er sprang auf.
Prinzessin Keï aber blieb ruhig sitzen und tat so, als hätte sie diese Beleidigung nicht gehört. „Mit Politik bestimmt man zuallererst das Geschick seines Volkes“, antwortete sie gelassen, „und danach auch das Wohlleben der eigenen Leute, nicht aber das der anderen.“
„Das ist pure Ichsucht. Und außerdem bestimmt niemand das Geschick, außer das Geschick selbst!“
„Das glaubt Ihr tatsächlich, nicht wahr?“ Es klang belustigt. Oder gar mitleidig?
Raen schaute sie indigniert an. „Ja, natürlich glaube ich das!“, bestätigte er im unerschütterlichen Brustton der Überzeugung.
Die Prinzessin lehnte sich vor. „Dann kommen wir jetzt zu einer äußerst interessanten Frage: Heißt Euer Standpunkt hernach also, dass Politik gegen Euren Glauben verstößt?“ Sie sah ihn aufmerksam an.
Raen überlegte einen Moment. Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. Griff Politik in Zaizuras Macht ein? In Hy gab es kaum Politik. Das konnte bedeuten, dass die Staatskunst etwas anrührte, das nicht im Dunstkreis der menschlichen Ermächtigungen lag. „Ja, mir scheint so, als sei Politik unvereinbar mit unserem Glauben!“, antwortete er daraufhin.
Die Prinzessin nickte traurig. „Obwohl ich mir das bereits gedacht hatte, befremdet es mich dennoch sehr.“
Raen wollte sich resigniert abwenden. Warum erzählte er ihr das alles überhaupt? Sie verstand ihn ja doch nicht. Dafür waren sie einfach zu verschieden, dachte er verdrossen. Der ganze Ausflug war eine hirnrissige Idee. Was hatte er sich nur dabei gedacht?
Doch Keï streckte einen Arm aus und sagte: „Es betrübt mich. Wisst Ihr denn nicht, dass Ihr damit dem Untergang geweiht seid? Seht Ihr nicht, wie die Welt in Wirklichkeit ist? Ohne Politik seid Ihr verloren.“
Raens Zorn wuchs ins Unermessliche. Was wollte sie von ihm? Wollte sie ihn belehren? Ihn? Sie hatte doch gar keine Ahnung! Er schwang sich zu einer Gegenbelehrung auf: „Seit annähernd tausend Jahren trotzt mein Volk seinem angeblichen, durch überhebliche Völker wie das Eure immer wieder vorhergesagten Untergang! Und was ist? Wir bestehen! Und das werden wir auch weiterhin tun. Wie könnt Ihr es Euch anmaßen, solche falschen Prophezeiungen zu verbreiten?“
„Ich wollte Euch doch nur warnen, Raen. Es ist in der Tat beachtlich, wie tapfer und wehrhaft Eurer kleines Volk sich schlägt, aber irgendwann wird etwas kommen, etwas Neues noch nie Dagewesenes, dessen Ihr Euch nicht mehr erwehren könnt. Etwas, das Eure Grenzen durchdringt, obwohl Ihr sie so gewissenhaft abschottet. Öffnet wenigstes Ihr Eure Augen, Raen, wenn Ihr schon nicht Euer Herz öffnet. Was ist gut daran, sich einzuschließen und alles zu ignorieren, was draußen geschieht?“
„Es ist nicht an Euch, darüber zu urteilen!“
„Jetzt seid doch nicht so verstockt, das wart Ihr doch sonst auch nicht. Ich meine, Ihr benehmt Euch wie unschuldige Kinder, die den frommen Wunschtraum von einer besseren Welt träumen, die ihre Augen vor alldem verschließen, was schlecht ist, und hoffen, dass es weg ist, wenn sie sie wieder öffnen.“
Raens Zorn kochte über. Wie tief wollte sie mit ihren Beleidigungen noch in ihn dringen? Er spürte, wie sein Gesicht rot anlief.
„Es ist naiv und leichtsinnig“, stichelte sie weiter. „Ihr solltet -“
„Genug!“, stieß er plötzlich hitzig hervor und tat einen drohenden Schritt auf sie zu. Alarmiert umfasste der Leibwächter hinter ihr den Griff seines Schwertes, doch die Prinzessin hob eine Hand und hielt ihn zurück.
„Es ist gut, es ist gut.“ Sie schüttelte beschwichtigend den Kopf.
Nach einer Weile, in der sie sich schweigend angestarrt hatten, lächelte die Prinzessin ihn mit einem Mal warm an. „Ich wusste ja gar nicht, dass Ihr so aufbrausend sein könnt! Ist das typisch hyaunisch?“, fragte sie neckend, den Kopf schiefgelegt. Es war ein Versuch, die Situation zu entschärfen.
Raen holte tief Luft. „Sal al In’Sahdi“, sagte er ruhig, funkelte die Prinzessin dabei aber weiterhin ärgerlich an, „auch wenn ich nur ein unbedeutender und nach Eurer Sicht unglaublich einfältiger Mensch bin, lasse ich mich dennoch nicht gerne beleidigen, selbst von Leuten Eures Standes nicht!“
Die Prinzessin schlug scheinbar schuldbewusst den Blick nieder und schüttelte noch vehementer den Kopf. Das Lächeln auf ihren Lippen aber, das sah er deutlich, konnte sie nicht ganz bezwingen.
„Nein, nein, Raen del Shari, bitte glaubt mir, es war nicht meine Absicht, mich über Euch lustig zu machen.“ Sie schaute wieder auf, doch an seinem verschlossenen Blick erkannte sie offenbar, wie tief sie ihn wirklich in seinem Stolz getroffen hatte. Mit beschwichtigender Miene erhob sie sich und ging ein paar Schritte auf ihn zu.
Der Hy aber drehte sich abweisend zur Seite und stierte in die Tiefe. Wortlos stellte sie sich neben ihn, imitierte seine Haltung und betrachtete eine Weile lang zusammen mit ihm die Landschaft. Dann warf sie Raen einen verstohlenen Blick über die Schulter hin zu, der aber weigerte sich noch immer standhaft auch nur zu blinzeln, und so studierte sie sein selbst für einen Angehörigen der weißhäutigen Stämme sehr strenges Profil. Sie mochte den entschlossenen und zugleich sensiblen Zug um seine Mundwinkel und fragte sich erneut, was für Menschen die Hy eigentlich waren, und ob Raen im Grunde ein solch beispielhaftes Exemplar für die Gesinnung seines Volkes war?
Ihr Bruder hatte sich über ihr Interesse an diesem unbedeutenden Volk zuerst amüsiert, dann aber hatte er sie getadelt. Er hatte sich über das Verhalten des Hy geärgert. Eine Sal al In’Sahdi bat niemanden auch nur mehr als einmal um irgendetwas und erst recht nicht Menschen von niederer Herkunft! Er verstand es nicht, warum sie so versessen darauf gewesen war, diesen Hy zu etwas zu bewegen, und warum ihr das so wichtig erschien. Das Komische daran war, dass Keï ihm darauf auch keine Antwort geben konnte. Sie wusste es selbst nicht. Aber wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann hielt sie auch daran fest, und wenn nebenher die Welt unterginge. Keï wusste, ihr Bruder dachte, sie sei impulsiv und unvernünftig. Aber das stimmte nicht, sie hatte nur keine Lust, sich ständig zurückzunehmen, das würde sie noch für den Rest ihres Lebens tun müssen, wenn sie erst einmal wieder in Ohaoud wären und sie ihre Pflichten als Thronfolgerin wahrnehmen müsste. Hier in Borgossa aber wollte sie sich ausleben und für diese Zeit die alles bestimmenden Zwänge des Hoflebens vergessen. Deshalb hatte sie ihrer Wissbegier nachgegeben und Raen eingeladen. Sie wollte herausfinden, wer diese Hy waren.
‚Das wirst du aber nicht, wenn du dich nicht bei ihm entschuldigst’, drängte sie sich zum Handeln. Und beinahe zaghaft fragte sie: „Raen, wollt Ihr mir bitte verzeihen? Ich habe meine Manieren vergessen. Und ich möchte nicht, dass Ihr mir grollt.“
Einen Moment rührte sich der fremdländische Krieger neben ihr nicht, und sie fürchtete, er habe bereits mit ihr gebrochen, doch dann wandte er seinen Kopf.
„Selbst ich meine zu wissen“, sagte er lehrermeisterhaft, „dass eine Prinzessin sich niemals derart erniedrigen sollte, einen dahergelaufenen Rüpel wie mich um Verzeihung zu bitten. Erst recht nicht, wenn er zuvor in solch unflätiger Weise zu ihr gesprochen hat. Eigentlich sollte es an ihm sein, sich zu schämen!“ Er sah sie an, und ein Schmunzeln stahl sich zuerst in seine Augen und dann auf seine Lippen. „Ich denke, es ist vorwiegend an mir, mich für mein Benehmen entschuldigen!“ Er deutete eine Verneigung an.
Keï ließ sich von seinem Lachen anstecken, und ihr einzigartiges Lächeln erstrahlte auf ihrem dunklen Gesicht.
Der Hy legte eine Hand auf die Brust und versprach, sich in Zukunft etwas mehr zurückzuhalten, aber Keï schüttelte erneut mit dem Kopf. „Oh, nein, Raen del Shari, seid nicht albern! Wie soll ich es sagen, aber das, was ich an Euch schätze, ist gerade diese unbestechliche Offenheit, mit der Ihr mir begegnet, und ich wünsche, dass Ihr sie unbedingt beibehaltet. Leute, die mir nach dem Mund reden, habe ich zu genüge um mich herum. Ihr aber habt keine Scheu vor dem, was ich bin, und redet erfrischend ehrlich, wie Euch die Zunge gewachsen ist. Es ist eine wahre Freude, mit Euch zu disputieren!“ Nach diesem Kompliment, das für Bendans Geschmack natürlich viel zu wohlmeinend für eine königliche Hoheit gewesen wäre, senkte sie den Blick und wischte mit dem Daumen imaginären Schmutz von ihrer silbernen Gürtelschnalle. Pragmatisch wie immer trug sie die schlichte Männertracht ihres Landes.
Raen schien lange über ihren letzten Satz nachzusinnen und sagte dann: „Wenn mich nicht alles täuscht, Prinzessin, dann habt Ihr vorhin auch sehr offen mit mir geredet.“ Er warf ein mokantes Lächeln ein. „Und das schätze ich an Euch ebenso, wie Ihr an mir. Obendrein ist es mir gleich, ob Ihr Eure Manieren vergesst, oder freimütig über Feind wie Freund lästert, denn im Gegenzug brauche ich Euch nicht zu versprechen, dass ich mir hinderliche Manieren angewöhne. Ein gutes Geschäft, wie ich finde.“ Er zwinkerte freundlich. „Außerdem könnt Ihr versichert sein, dass alles, was Ihr mir anvertraut, in die tiefe Verschwiegenheit meines Gewissens hinab sinkt. Tratschsucht liegt beileibe nicht in meiner Natur. Und wenn ich ehrlich bin - und das soll ich ja sein -, so ist es mir sogar egal, was Ihr über mich denkt.“
‚Aber ich denke ganz bestimmt nicht schlecht von Euch!’, dachte sie, und mit einem Mal wunde ihr seltsam zumute. Seltsam, weil es in ihrem Bauch zu kribbeln begann. Sie ließ ihren Blick, der auf derselben Höhe war wie der des Hy, in die Ferne gleiten, um sich nichts anmerken zu lassen.
Aber auch Raen schien sich distanzieren zu wollen, er trat ein paar Schritte zurück, hustete verlegen in die hohle Hand und trat nach einem Steinchen.
„Ich kann nicht glauben, dass ich soeben ein Geschäft mit einem Hy abgeschlossen habe!“, sagte Keï indes belustigt, um die unerklärliche Spannung aufzulockern, die sich erneut zwischen ihnen aufgebaut hatte, doch Raen nickte lediglich und studierte den Staub auf seiner Stiefelspitze.
„Nun, gut“, lenkte sie ein, weil sie seine Verlegenheit erkannte, „ich, denke, wir sollten uns auf den Rückweg machen. Mein Bruder ist bestimmt schon ganz nervös und fragt sich, wo wir bleiben.“ Sie gab dem Leibwächter ein Zeichen, das Gepäck zu schultern.
Sichtlich dankbar für diese Erlösung, nickte Raen ein weiteres Mal und stieg ihr voran den steilen Pfad hinab.
Unten im Dorf trafen sie Prinz Bendan, der tatsächlich schon in Besorgnis um sie war. Er machte sich wohl nichts aus Aussichten, wie die Prinzessin es tat, denn sonst wäre er ja mit ihnen gekommen, mutmaßte Raen und hörte nebenbei die tadelnde Rede mit an, die Bendan höflicherweise auf Graçenisch hielt. Das lenkte ihn ein wenig von seinen aufgewühlten Gedanken ab, welche die Nähe zu der Prinzessin und das vertraute Gespräch oben auf dem Berg verursacht hatten. Etwas an dieser Frau war ihm nicht geheuer. Sie erweckte in ihm Gefühle, die er nicht haben durfte.
„Wir müssen noch heute nach Corre del Monte zurück, und es wird bald dunkel. Warum wart ihr so lange dort oben?“, zeterte der Bruder der Prinzessin unterdessen.
„Es war schön, deshalb! Und du hättest mitkommen können, aber mein der edle Herr will ja nicht auf Berge steigen!“, sagte die Prinzessin schroff, während Bendan mit den Augen rollte.
„Du willst wohl unbedingt unter freiem Himmel übernachten, was? So wird es nämlich kommen, wenn wir uns jetzt nicht beeilen!“, schmetterte er ebenfalls gekonnt vorwurfsvoll zurück.
Raen fühlte sich, als sei er Zaungast bei einem Streit eines alten Ehepaares, verstohlen verkniff er sich ein Grinsen.
„Dann schlafen wir eben unter freiem Himmel, was ist schon dabei?“ Die Prinzessin schob das Kinn vor und nahm die Zügel ihrer edelblütigen Schimmelstute auf, die Raen immer wieder bewunderte, denn das Tier war ganz anders als die Pferde, die er kannte; feingliedrig, lebhaft und sehr flink. Ein Pferd aus der Zucht ihres Vaters, wie Keï ihm nicht ohne Stolz erklärt hatte.
„Unter freiem Himmel? Das musst ausgerechnet du sagen!“, entgegnete Bendan und jugendlicher Spott glomm in seinen Augen. „Du bist doch diejenige, die sich schon davor fürchtet, allein mit einer Maus in einer dunklen Kammer zu sein. Und du willst hier im Wald schlafen? Ha, das ich nicht lache!“ Er hielt sich demonstrativ eine Hand vor den Bauch. „Es ist ja schon ein Wunder, dass du Faïshe nicht mitgenommen hast!“ Faïshe war die Leibdienerin der Prinzessin und auch ihre Freundin, denn sie waren zusammen aufgewachsen. Raen hatte das zurückhaltende Kammermädchen bereits bei einer anderen Gelegenheit kennengelernt.
„Faïshe hat sich ein paar freie Tage verdient. Aber dir wird das Lachen schon noch vergehen, Bruderherz, mich einen Feigling zu schimpfen!“ Prinzessin Keï funkelte ihren Bruder an.
„Ich habe nur gesagt, wie es ist, und außerdem, was soll unser Gast hier von uns denken, wenn wir uns hier herumstreiten wie der Pöbel auf dem Markt!“ Prinz Bendan sah Raen an, der gespielt unbeteiligt aufhorchte.
Sie tauschten alle rundherum einen Blick, und dann sagte Raen: „Also, ich finde die Idee, im Wald zu schlafen, gar nicht so schlecht. Ich würde es sogar dem Gasthof in Corre del Monte vorziehen. Das Wetter ist nicht schlecht und wir haben auch alles dabei, was man dafür benötigt. Ich kann uns ein Lagerplatz suchen und Feuer machen.“
Die Prinzessin stemmte mit einem Blick, der sagte „Siehst du!“ ihre Hände in die Hüften und sagte an Raen gewandt: „Das klingt gut, und hier bei den Bauern besorgen wir uns, was wir nachher essen können.“
Raen zwinkerte ihr verschwörerisch zu, und Prinz Bendan musste wohl oder übel klein bei geben.
„Ich hoffe, ihr wisst, was ihr tut! Beide!“, brummte er missvergnügt und ging zu seinem Pferd, das ebenfalls ein Schimmel dieser edlen Rasse war.
„Prinz Bendan, ich bin im Wald aufgewachsen, seid also unbesorgt, Ihr werdet eine wundervolle Nacht unter freiem Himmel verbringen!“, gab Raen zurück und in Gedanken fügte er hinzu: ‚Mir will scheinen, dass Ihr derjenige seid, der die Unbequemlichkeiten scheut.’ Er schwang sich in den Sattel von Jakori, die neben den Rössern der Ohaoudis beinahe plump wirkte, und wartete darauf, dass die beiden Geschwister voranritten.
Bei einem der Bergbauern erstanden sie frisches Brot und Hammelfleisch. Mit dieser Verpflegung im Gepäck machten sie sich auf den Weg ins Tal. Sie ritten schweigend, und Raen genoss die Stille, in der nur der gedämpfte Hufschlag ihrer Pferde und das Zwitschern der Vögel zu vernehmen war. Als der Wald sie in sich aufnahm, wurde es merklich dunkler, aber um so mehr Vogelstimmen waren zu hören, und als die Amseln ihr Abendlied über ihren Köpfen anstimmten, bedeutete Raen den anderen, dass er nach einem Lagerplatz Ausschau halten wollte. Er freute sich darauf, im Freien zu schlafen, denn die Verbundenheit mit Hrauna vermisste er sehr in der Stadt. Prinz Bendan hingegen erweckte nicht gerade den Eindruck, als fände er die Aussicht, in der Umarmung des Waldes zu nächtigen, besonders erhebend, und an den versteinerten Mienen der Leibwächter konnte man nicht das Geringste ablesen. So hoffte Raen, zumindest die Prinzessin würde ihren Entschluss nicht bereuen.
Er fand einen Platz auf einer kleinen Lichtung, der ihm als geeignet erschien. Der Boden war bedeckt mit trockenem, weichem Moos, in der Nähe plätscherte ein kleines Gebirgsbächlein und Feuerholz gab es auch genug in der Umgebung.
Sie stiegen ab, und Raen gab einige Anweisungen, die er der prinzlichen Würde zumuten konnte, und machte sich dann daran, das Lager herzurichten. Prinz Bendan beäugte ihn dabei skeptisch, während die beiden Leibwächter die Pferde absattelten, und Prinzessin Keï Erfüllung in der einfachen Betätigung des Holzsammelns fand. Mit Armen voll Reisig und Ästen kehrte sie immer wieder lächelnd zur Lichtung zurück und warf alles auf einen Haufen. Raen hatte ihre Decken ausgerollt und die Feuerstelle vorbereitet. Neugierig wie ein kleines Kind hockte die Prinzessin schließlich neben ihm und sah ihm dabei zu, wie er mit Stein und Eisen Feuer schlug. Die Nacht hatte sich mittlerweile auf sie herabgesenkt und die ersten Sterne glommen an dem Stückchen Himmel, das sich über ihnen auftat. Und als die Flammen in dem trockenen Holz verlässlich Fuß gefasst hatten und die Lichtung in ein sanftes tanzendes Licht tauchten, setzte sich auch der Prinz endlich zu ihnen. Wenigstens davon überzeugt, die Nacht nicht frierend verbringen zu müssen.
„In der Wüste kann es nachts auch sehr kalt werden, obwohl es tagsüber sehr heiß ist. Aber ich gebe zu, dass wir uns auf unseren Reisen um nichts zu kümmern brauchen. Wenn wir nicht in Weghäusern oder in den Festungen verbündeter Stammesführer unterkommen, so nächtigen wir in großen Zelten, die für uns aufgeschlagen werden“, erzählte die Prinzessin, gebannt in die Flammen blickend.
Raen, der dank Manoen bereits wusste, was eine Wüste war, gab einen Laut des Verstehens von sich und packte weiter den Proviant aus.
„Es ist sehr schön hier im Wald“, sagte Keï und lehnte sich zurück, um zu den Sternen aufzusehen.
„Ich hätte trotzdem lieber ein Zelt“, maulte Bendan.
„Sei doch einmal zufrieden mit dem, was du hast!“, tadelte die Prinzessin ihren Bruder, der schmollend schwieg.
Raen röstete derweil an Stöcken die dünnen Scheiben Hammelfleisch über dem Feuer, was herrlich duftete, und gab es dann den Ohaoudis.
Besänftigt, zumindest etwas Gutes zu essen zu haben, knabberte Prinz Bendan an dem Fleisch, und seine dunkle Miene glättete sich wieder ein wenig.
Plötzlich ertönte ganz in ihrer Nähe ein klagender Laut. Die Prinzessin fuhr zusammen und der Bissen Hammel blieb ihr im Halse stecken. „Was war das?“, flüsterte sie und blickte sich angstvoll um.
„Das ist nur der Nachtvogel, der ist harmlos. Sorgen müssen wir uns erst machen, wenn ganz anderes Geheul ertönt“, erklärte Raen unbekümmert.
„Was für ein Geheul?“, fragte der Prinz unsicher.
„Wölfe“, gab Raen zurück, doch als er das Erschrecken in Bendans jungen Augen aufleuchten sah, bereute er seinen Ausspruch sofort. ‚Na, das kann ja heiter werden, du Held von einem Waldläufer!’, dachte er und ärgerte sich darüber, dass er sich jetzt als Wache zur Verfügung stellen musste.
„Mein Leibwächter kann dich ablösen“, bot Keï an.
„Ja, die zweite Hälfte der Nacht wäre das ganz gut, aber es wird gewiss nichts passieren. Selbst wenn es hier Wölfe gäbe, sie meiden den Menschen normalerweise. Würde ich auch tun, wenn ich ein Wolf wäre“, scherzte er und hielt sich dabei bedeutungsvoll die Nase zu. Die Runde lachte kurz auf, aber es klang keineswegs beruhigt.
Wieder schrie der geheimnisvolle Nachtvogel, und es wurde seltsam still um das Feuer.
Raen seufzte verhalten und stierte in die knackende Glut. Stumm verfluchte er seine Unbedachtheit, die ihn um seinen wohlverdienten Schlaf bringen würde.
Nachdem das Feuer heruntergebrannt war, und sich die kleine Schar Ohaoudis in ihre Decken gewickelt und zur Ruhe gelegt hatte, setzte sich Raen mit dem Rücken an einen Baum und horchte auf die nächtlichen Geräusche des Waldes. Erst jetzt hatte er die Muße dazu und er bemerkte, wie sehr er das alles vermisste. Die Stadt und ihr immerwährender Lärm, der sich im Kopf festsetzte wie das hintergründige, monotone Summen einer ganzen Armee von Zikaden, hatte ihn taub werden lassen für die verhaltenen und zarten Töne Hraunas. Die grüne Mutter auf diese Weise wiederzuentdecken, erfüllte ihn unvermittelt mit einem Heimweh, das stärker war als alles, was er zuvor verspürt hatte. Sich der bittersüßen Wehmut dreingebend schloss er die Augen, sog tief den Geruch des Waldes in seine Lungen und lauschte andächtig auf das flüsternde Konzert der Nacht, das sein Herz auf jedem seiner Töne nach Hause trug.
Er schlug die Augen wieder auf, als er ein anderes Geräusch hörte. Etwas, das nicht zu dem leisen Flüstern des Waldes gehörte. Er setzte sich auf und horchte ins Dunkel. Da war es wieder! Ein dumpfes Stampfen, wie wenn etwas Schweres auftrat. Hat sich eines der Pferde losgemacht? Er stand auf und ging an der noch glimmenden Feuerstelle und an den Schlafenden vorbei. Bei den Pferden angekommen, die friedlich dösten, stellte er fest, dass keines von ihnen fehlte. Er strich Jakori über den langen Rücken und ging dann wieder zurück an die Stelle, wo er das Geräusch zuerst gehört hatte. Unbeweglich stand er eine ganze Weile da und lauschte. Und als er sich bereits einredete, dass er sich womöglich von der ängstlichen Anwandlung der Ohaoudis hatte anstecken lassen, und Gespenster sah, hörte er es wieder. Es stampfte zweimal. Ganz in seiner Nähe. Ein Prickeln überzog seine Unterarme, als sich die Härchen daran aufstellten. Raen zog sein Messer und schlich geduckt ein paar Schritte in die Schwärze des Waldes. Sein Gehör funktionierte wieder einwandfrei und so bewegte er sich schließlich, ganz auf diesen einen Sinn verlassend, direkt in die Richtung, aus der das Stampfen erklungen war. Immer wieder hielt er an und stand regungslos wie ein Reiher im Gras, um zu horchen. Der Waldboden fiel ab und immer wieder stieß er gegen spitzes Unterholz. Doch er verbiss sich den Schmerz, schlich und lauschte weiter. Bald war er so nahe an das stampfende Geräusch herangekommen, dass er glaubte, er müsse es berühren können, wenn er seine Hand ausstreckte.
Ein weiterer Laut gesellte sich zu dem Stampfen. Es klang, als ob etwas leise zischend durch die Luft schnellte.
‚Wie ein schlagender Pferdeschweif’, kam es ihm in den Sinn, und er war sich sicher, dass es ein Tier vor sich hatte - ein Pferd. Aber keines von den ihren. Angestrengt starrte Raen in das undurchdringliche Dunkel. Nur hier und da konnte er einen Baumstamm ausmachen. Wieder erklang das Zischen, und er verengte die Augen. Dort stand doch etwas. Er konnte die Anwesenheit eines großen Körpers spüren, hörte tiefe und ruhige Atemzüge. Es ist ein Pferd! Er überwand sich und sprach ein paar leise Worte, von denen er hoffte, dass sie beruhigend klangen. Es stampfte, und ein Schnauben ertönte. Raen richtete sich auf und ging ein paar Schritte, tastete dabei mit der Hand nach vorn, spürte die Körperwärme des Tieres, bevor er dessen Fell ertastete. Wachsam strich er über die Flanke. Sie fühlte sich seltsam verkrustet an wie getrocknete Erde.
„Wo hast du dich denn gesuhlt?“, fragte er leise vergnügt und strich weiter den Hals des fremden Pferdes entlang. Wieder schnaubte das Tier.
„Hm? Und wem bist du davongelaufen? Kommst du von einem der Berghöfe?“ Seine Hand war bei den Ohren angelangt, die zurückgelegt waren. „Du brauchst keine Angst zu haben, mein Freund.“ Er wollte nach dem Kopf des Pferdes fassen und ihm über die Stirn streichen, doch seine Hände fanden nicht das, was sie erwartet hatten.
Erschrocken zog er sie zurück.
Das konnte nicht sein!
Blitzartig kam ihm die Erinnerung an einen Traum, den er lange nicht gehabt hatte. Damals war er als Kind auch allein im Dunkeln umhergekrochen und war schließlich auf einen unbekannten Mann gestoßen, dessen Gesicht er ertastet hatte. Aber das hier war doch kein Traum, oder? Er war doch wach.
Angst durchflutete so unvermittelt seinen Körper, dass seine Knie weich wurden. Unsicher suchte er nach Halt, fand aber keinen.
‚Es ist noch nicht zu Ende!’, flüsterte es in seinem Kopf. Er runzelte in der Finsternis die Stirn.
Das Pferd regte sich, schien seinen Kopf zu wenden und ihn anzusehen. Raen wich instinktiv zurück, tastete mit beiden Händen nach hinten.
„Du bist es, nicht wahr? Du bist es!“, stieß er entsetzt hervor. „Das Blutpferd!“
Urplötzlich erhellte ein Blitz die Nacht, und Raen konnte sehen, was da vor ihm stand! Ein rotes Pferd, übersät mit unzähligen blutigen Wunden.
Was aber noch schlimmer war, war, dass es den Hals in seine Richtung gebogen hatte und ihn ansah. Doch sein Kopf war kein klobiger Pferdekopf sondern der eines Menschen!
Scharf sog Raen die Luft ein. Dann war es wieder dunkel. Seine Gedanken überschlugen sich angstvoll, und er tastete sich weiter rückwärts. Mehrere Blitze folgten, und er sah, wie das Pferd ihm folgte.
„Was willst du?“, schrie er dem unheimlichen Geschöpf entgegen, das so untrennbar mit den Erinnerungen an seine Kindheit verwachsen war, als wäre es ein Teil seiner Familie. Doch er bekam keine Antwort. Er stolperte, stieß mit dem Rücken gegen einen Baumstamm und erstarrte. In einem wahren Stakkato von Blitzen musste er mit ansehen, wie das Pferd langsam seinen Weg fortsetzte und erst dicht vor ihm stehen blieb. Dessen menschliches Gesicht war jetzt unmittelbar vor dem seinen. Es hatte drei Augen, eines davon auf der Stirn, und blickte ihn direkt an. Dann öffnete es langsam den Mund. Es war ein schwarzes Rund, das Worte zu sprechen schien, doch Raen hörte sie nicht.
Er blinzelte mehrmals, in der kindlichen Hoffnung, die Bilder dadurch verscheuchen zu können. Wach auf! beschwor er sein Unterbewusstsein.
Wach auf!
Plötzlich schlug er die Augen auf und fand sich nach mehreren pochenden Herzschlägen, in denen er sich verwirrt umblickte, an einem Baum sitzend wieder. Vor ihm glomm die Feuerstelle, und er erkannte die Körper der Schlafenden als schwarze, langgestreckte Schatten im Gras. Erleichtert atmete er auf und lockerte seine Hände, die sich im Schlaf in den Stoff seiner Jacke gekrampft hatten. Er erhob sich und schlich zu den Pferden. Dort legte er einen Arm um Jakoris Hals und seine Wange an das tröstlich warme Pferdefell, um die Erinnerung an den verstörenden Traum zu verscheuchen.
„Oh, mein großer Schatten, was hat das zu bedeuten?“, flüsterte er leise.
Da er den Rest der Nacht keinen Schlaf mehr hatte finden können, hatte er den Leibwächter der Prinzessin schlafen lassen und selbst die Wache zu Ende gesessen.
Im trüben Licht der Morgendämmerung erwachten die Gestalten rund um das erkaltete Feuer nach und nach. Zuerst setzte sich die Prinzessin verschlafen auf und rieb sich die Augen. Dann streckte sie die Arme in die Höhe und gähnte ungeniert lautstark. Obwohl Raen sich fühlte, als sei in der Nacht eine Herde wilder Rindviecher über ihn hinweg gerannt, musste er lächeln, als er ihre unbewusst natürlichen Regungen verfolgte. Sie bemerkte, dass sie beobachtet wurde und sah zu ihm herüber. Er saß immer noch in seine Decke gehüllt an dem Baum.
„Guten Morgen“, sagte sie und gähnte noch einmal, diesmal hinter sittsam vorgehaltener Hand. „Was für eine herrliche Nacht! Aber Ihr habt doch nicht etwa die ganze Zeit dort gesessen?“
Er winkte ab und erhob sich. „War nicht so schlimm“, log er.
Sie sah prüfend zu ihm auf.
„Ehrlich, ich konnte sowieso nicht schlafen.“ Das stimmte. Er rieb sich über das Kinn. Er konnte sich vorstellen, was für einen Anblick er abgab, ging aber nicht weiter darauf ein und machte sich daran, das Morgenmahl zuzubereiten.
„Müsst ihr Hy Euch eigentlich niemals rasieren?“, fragte die Prinzessin neugierig, während sie ihn betrachtete.
„Nein“, antwortete er ohne aufzusehen. Geschäftig fuhrwerkte er mit dem Messer an dem Brotlaib herum und teilte ihn in fünf gleichgroße Stücke.
„Hm, interessant. Mein liebes Bruderherz wächst bereits nach wenigen Tagen regelrecht zu. Er muss fast täglich zum Messer greifen, um so glatt auszusehen wie Ihr.“
Raen sah sie an. „So glatt, wie ich? Soll das etwa wieder eine von Euren offenherzigen Beleidigungen sein?“, brummte er missmutig.
„Nein, es war nur ein Vergleich. Ich mag Bärte nicht besonders, sie verdecken das Gesicht. Nur jemand, der etwas zu verbergen hat, trägt einen Bart, sage ich immer.“ Sie lachte unwillkürlich. „Mein Vater trägt auch einen Bart. Aber als König hat man ja auch eine Menge zu verbergen! Zu dumm nur, dass ich mir keinen wachsen lassen kann, wenn ich einmal Königin bin.“
Raen musste bei der Vorstellung an eine Prinzessin mit Bart grinsen.
„Dafür habt Ihr Haare auf den Zähnen wie ein Mann, wenn Ihr mir diese Bemerkung gestattet!“, entgegnete er scherzhaft, schielte aber dennoch in Erwartung eines empörten Ausbruchs vorsichtig zu ihr herüber.
„Oh, vielen Dank für dieses schmeichelhafte Kompliment!“ Sie zog beleidigt eine Schnute, doch Raen sah an ihren Augen, dass es tatsächlich ein Kompliment für sie gewesen war. Er reichte ihr Brot und Schinken. Sie aßen und trieben nebenher weiterhin Scherze. Die Leibwächter waren längst bei ihrem ersten Gespräch wach geworden und nun rührte sich auch endlich Prinz Bendan, der die Augen aufschlug und unwillig in das Tageslicht blinzelte. Die ersten Sonnenstrahlen stahlen sich durch das Geäst der Bäume, und die Vögel stimmten ihr Lied vom Vortag an.
Alles war so friedlich, dachte Raen. Warum aber konnte er dann sein untergründiges Unbehagen nicht abstreifen? Es war doch nur ein Traum gewesen.
Nachdem sie ihr Morgenmahl beendet und sich in dem Bächlein erfrischt hatten, packten sie ihre Sachen zusammen und machten sich ganz gemächlich wieder auf den Weg.
Es dauerte nicht mehr lange, und der Wald lichtete sich und wich ausgedehnten Feldern und Weiden, auf denen Ziegen und Schafe grasten. Ihre Glöckchen klangen fröhlich, und auch die Rufe der Hirtenjungen stimmten besonders Prinz Bendan wieder versöhnlich. Sie waren zurück in der Zivilisation.
Gegen Mittag erreichten sie Corre del Monte und beschlossen den Rest des Tages hier zu verbringen, da sie es nicht mehr vor Einbruch der Dunkelheit und somit vor dem Schließen der Stadttore nach Borgossa schaffen würden. Prinz Bendan bestand darauf, dieselbe Herberge aufzusuchen, in der sie schon ein paar Tage zuvor untergekommen waren, denn sie bot nicht nur ausgezeichnetes Essen, sondern auch die komfortabelsten Zimmer. Die Prinzessin überließ es ihm, sich darum zu kümmern und mit ungewohntem Eifer stürzte er sich darauf, alles zu organisieren, und nur wenig später bezogen sie ihre Quartiere. Das durchlauchte Geschwisterpaar teilte sich das beste Zimmer des Hauses, welches sogar einen eigenen Kamin besaß, und Raen und die Leibwächter schlugen ihr Lager gemeinschaftlich in einem Raum mit mehreren Betten auf, in dem auch noch andere Reisende übernachteten. Darauf hatte er bestanden. Er wollte keine Bevorzugung, eine einfache Schlafstätte genügte ihm.
Danach schlenderten sie durch den beschaulichen Ort mit seinen hübschen Straßenzügen, die genau in seiner Mitte sternförmig zusammenliefen und ein Gottesheim mit einem viereckigen Turm aus hellem Kalkstein umrundeten. Er hatte ein recht flaches, rotes Ziegeldach und darunter eine rundherum verlaufende Galerie mit rundbogigen Fenstern. So schlicht wie der Turm war, gestaltete sich auch das Hauptschiff, das sich an ihn anschloss.
„Ob man wohl dort hinaufsteigen kann?“, fragte die Prinzessin, ihren Blick nicht von der Turmspitze lassend.
Sogleich verdrehte Bendan die Augen. „Man muss nicht überall hinaufsteigen, Schwester“, entfuhr es ihm leicht gereizt. Obwohl er schon die Statur eines ausgewachsenen Mannes hatte, musste Raen immer wieder feststellen, wie sehr Bendan noch das unreife Gebaren eines jungen Burschen an den Tag legte, und seinem kindischen Unmut ungehemmt freien Lauf ließ.
„Du kannst ja wieder unten warten!“
Bendan hob beide Hände. „Bitte, ich tu ja eh immer das, was du willst.“
„Du kannst auch alleine losziehen. Ich brauche dich nicht.“
„Schwester, du weißt ganz genau -“
Keï drehte sich abrupt zu ihm um und hielt sich einen spitzen Finger vor die zusammengepressten Lippen. „Nicht ganz so laut, wenn ich bitten darf! Es muss nicht jeder Einwohner von Corre mitbekommen, was du zu sagen hast.“
Trotzig aber mit gedämpfter Stimme sprach Bendan weiter: „Du weißt ganz genau, was Vater gesagt hat! Ich ...“
„Ja, ja, du sollst immer in meiner Nähe bleiben. Blabla. Aber weißt du was?“ Sie sah in an. „Es ist mir egal, was er gesagt hat. Und du, du gehst mir mit deinem ewigen Genörgele auf den Geist!“
Beleidigt senkte Prinz Bendan den Blick und schmollte, was wirklich komisch aussah, weil er so groß und riesenhaft war, aber Raen verbiss sich jegliche Regung. Wie die Prinzessin mit ihrem Bruder umsprang, ging ihn nichts an.
„Ich gehe jetzt und suche den Vorsteher dieses Gottesheimes hier. Er muss ja irgendwo zu finden sein. Ihn können wir fragen, ob wir da hoch können.“ Sie stapfte wahrlich mannhaft davon.
Einer der Leibwächter folgte ihr, und nach einigem Zögern auch Raen. Prinz Bendan blieb zurück.
Nachdem sie den Turm bestiegen und die Aussicht von dort oben genossen hatten, machten sie sich auf den Rückweg zur Herberge. Prinz Bendan war nirgends zu sehen. Offensichtlich war ihm das Warten zu blöd gewesen, und er hatte sich verdrückt, dachte Raen und warf der Prinzessin einen verstohlenen Blick zu. Sie hatte sich wieder beruhigt und schlenderte entspannt neben ihm her, ihren Leibwächter direkt ihr. Um diese nachmittägliche Stunde war auf den Straßen schon etwas mehr los und neugierige Blicke verfolgten sie, wo sie auch auftauchten.
An einer Ecke stießen sie mit einem Mann in abgerissenen Kleidern zusammen, der sogleich zu zetern begann.
„He, passt doch auf, ihr Idioten! Hier gehe ich!“ Dann sah er die dunkelhäutige Frau in ihrer Mitte. „Hoppla, Schätzchen. Eine Schönheit wie dich sieht man hier aber nicht oft. Was nimmst du denn so?“, fragte er frech.
„Zügele gefälligst dein loses Mundwerk!“, erwiderte Raen. „ Du sprichst mit der Prinzessin von Ohaoud, falls das deinem kleinen Spatzenhirn etwas sagt!“ Er und der Leibwächter waren fast gleichzeitig vorgetreten und hatten demonstrativ die Hand auf den Schwertgriff gelegt.
Der Mann wich einen Schritt zurück. „Oh, äh, was? Prinzessin?“, stammelte er verwirrt, denn die Frau in den Männerkleidern machte auf ihn einen nicht gerade herrschaftlichen Eindruck. Doch der drohende Blick ihrer beiden Begleiter brachte ihn dazu, sich zu entschuldigen. „Ich bitte um Verzeihung, Prinzessin! Aber wir haben nicht so oft solch ...“, er schielte zu dem Hy hinüber, „... solch hohen Besuch hier!“ Er verneigte sich linkisch.
„Mach, dass du fortkommst!“, sagten Raen und der Leibwächter wie aus einem Munde aber mit verschiedenen Akzenten.
Der Mann ließ sich das nicht zweimal sagen, dieses seltsam gemischte Dreiergespann war ihm eindeutig zu unheimlich, und machte sich flugs aus dem Staub.
Raen und der Leibwächter entspannten sich und wechselten kurz einen Blick. Der Schimmer eines anerkennenden Lächelns huschte über das derbe, dunkle Gesicht des Riesen, war aber so schnell wieder hinter der ausdruckslosen Maske verschwunden, dass Raen sich fragte, ob er es sich nicht nur eingebildet hatte.
Den restlichen Tag verbrachten sie in der Herberge, wo Bendan auf sie gewartet hatte. Sie ließen sich Speis und Trank auftragen, und am Abend besuchten sie alle zusammen erneut das Gottesheim und besahen sich die fliegenden Brüder von San Giórino beim läuten der Glocken.
Am nächsten Morgen brachen sie früh auf. Die Türme Borgossas schillerten ihnen bereits aus der Ferne entgegen. Doch sie würden mindestens noch einen halben Tag brauchen, bis sie die Tore der Stadt erreichten. Die Prinzessin unterhielt sich angeregt mit ihrem hyaunischen Reisebegleiter, während sie inmitten der Felder durch die Ebene ritten. Nach mehreren Meilen passierten sie die weißen Grenzsteine auf denen Marca Borgossi eingemeißelt stand, was besagte, dass alles Land innerhalb dieser Steine zu Borgossa gehörte, und je höher die Sonne am Himmel stieg, desto näher kamen die goldglänzenden Spitzen der Türme der Stadt.
Am Ende ihres Ausflugs erreichten sie schließlich das Hytena, wo Raen sich verabschiedete und der Prinzessin für die Einladung dankte.
„Der Dank ist ganz auf meiner Seite, Raen del Shari - für Eure geistreiche Gesellschaft, die Ihr mir so bereitwillig habt angedeihen lassen!“, entgegnete Prinzessin Keï in ihrem besten höfischen Ton, und Raen überlegte, ob sie ihn wieder einmal auf den Arm nahm. Doch sie lächelte aufrichtig und ohne jede Ironie in den schwarzen Augen. „Ich hoffe, Ihr werdet auch in Zukunft Einladungen von mir annehen?“, fragte sie und blinzelte gegen das Sonnenlicht.
Raen blickte zuerst verlegen in die Wolken, die gemächlich über ihren Köpfen hinweg zogen, und dann wieder zur Prinzessin. „Ich denke, wenn es sich mit meinem Gewissen vereinbaren lässt, dann schon.“ Es war halb im Scherz gemeint, aber die Prinzessin verstand seine Zurückhaltung und winkte ihm zum Abschied zu.
„Wir sehen uns an der Akademie“, rief sie, und Raen nickte. Eine Weile sah er ihrem kleinen Tross noch hinterher, ehe er Jakori schließlich am Hof vorbei zu den Ställen lenkte. Die paar Tage an der Seite der Prinzessin waren sehr unterhaltsam und abwechslungsreich gewesen, aber jetzt war er doch froh, endlich wieder allein und zu Hause zu sein. Die ständige Gegenwart dieser Frau hatte all seine Sinne bis weit über das normale Maß beansprucht. Und obwohl er sich ihr gegenüber selbstbewusst und locker gab, machten ihn die offene und direkte Art der Prinzessin und ihr so fremdes und auch so geheimnisvolles Wesen befangener, als er es sich zunächst hatte eingestehen wollen. Sie war ein echter Freund, auf den man sich verlassen konnte, ein prima Kerl, so wie Manoen es gesagt hatte, das spürte er mit seiner ihm ureigenen Gewissheit, und gerne hätte er eine freundschaftliche Beziehung zu ihr gepflegt, aber sie war nun einmal auch unumstritten eine Frau, und das machte die ganze Sache kompliziert. Er wusste ganz genau, dass der Ruf einer Frau, egal, ob Prinzessin, oder nicht, in Borgossa wesentlich schneller litt, als der eines Mannes. Enge Vertrautheit konnte es zwischen ihnen nicht geben, das war ein Gesetz, und das machte es ihm auch so schwer, auf ihre Einladungen einzugehen. Aber unvoreingenommen betrachtet war die Prinzessin eine ganz und gar erstaunliche Frau, dachte er versonnen, beinahe wie selbstverständlich vereinte sie in sich männliche Selbstsicherheit mit weiblicher Anmut, und er musste einräumen, dass sie genau damit seine Zuneigung gewann.
Er brachte Jakori nach dem Absatteln auf die Weide und ging noch einmal in den Stall. Dort traf er überraschend auf Uke, der zuvor noch nicht da gewesen war. Er grüßte den Eisan, der seit dem Tod seines Bruders sehr niedergeschlagen wirkte, so als ob ein Teil von ihm mit Uma gestorben wäre. Uke lächelte dem Krieger verhalten entgegen und strich seinem Hengst, der immer in den Stall verbannt wurde, wenn eine der Stuten rossig war, weiter über die geblähten Nüstern. Das lange, hellbraune Haar des Eisan war ordentlich geflochten und er hatte sich rote Trauersäume an seine grüne Jacke nähen lassen. Sie leuchteten im Halbdunkel des Stalls und beschworen alte und unangenehme Erinnerungen herauf. Raen ging zu ihm und besah sich den unruhigen, rotbraunen Hengst in seiner Box.
„Ist schon eine Qual, nicht war? Draußen stehen die schönsten Frauen, und du kannst nicht zu ihnen!“, sagte Raen schmunzelnd zu dem Tier und hoffte, Uke damit ein weiteres Lächeln zu entlocken. Es war höchste Zeit, dass dieser wieder zu etwas Frohsinn gelangte. Sein Verlust war schwer, aber nicht unüberwindlich, das wusste Raen aus eigener nur allzu leidvoller Erfahrung. Denn er selbst hatte in jungen Jahren nicht nur seine Mutter verloren, sondern auch seine erste Verlobte, Kosam, derer er sich wie auch seiner Mutter nur in ganz bestimmten Momenten zu gedenken erlaubte; und zwar wenn er ganz für sich war und sichergehen konnte, dass niemand seinen Kummer sah.
Er legte dem kleineren und erstaunlich zierlichen Uke einen Arm um die Schultern, um ihn aufzumuntern und sich selbst von diesen schwermütigen Gedanken abzulenken. Es war viel geschehen seitdem, doch das Gefühl der Schuld steckte immer noch in seinem Herzen wie ein eingewachsener Splitter. Die unerwünschte Erinnerung an das neuerlich aufgetauchte Blutpferd drängte sich ihm wieder auf. Doch daran wollte er jetzt am Wenigsten nachdenken.
„Weißt du, Uke“, sagte er bemüht unbekümmert, „ich habe deinen Bruder sehr gemocht. Er ist ein wirklich feiner Kerl gewesen, so wie du auch einer bist.“ Er sah ihn lächelnd an und erkannte in Ukes traurig umschatteten Augen eine eigentümliche Freude aufleuchten.
„Wirklich?“, fragte Uke beinahe ungläubig, und Raen wunderte sich ein wenig darüber. Der Eisan war nicht viel älter als er, wirkte in seinem sensiblen Naturell aber um einiges jünger, was wohl an den unterschiedlichen Wegen liegen mochte, die sie bis hierher zurückgelegt hatten, dachte er. Uke war ein Eisan, der überall half, wo seine Hand benötigt wurde, und verstand allein aus diesem Grunde schon mehr von den verschiedenen Schwierigkeiten, die das Leben dem Menschen bieten konnte, als seine Kollegen aus den anderen geläufigen Zünften, doch von den Abhärtungen in der Welt der Krieger hatte auch er nicht die geringste Ahnung.
„Aber ja doch“, antwortete Raen väterlich, „du bist stets immer so besorgt um uns alle, das kann einen doch nicht ungerührt lassen.“ Er drückte noch einmal Ukes Schulter. „Was wäre das Hytena ohne dich und deine kleinen Aufmerksamkeiten? Ein allzu freudloserer Ort, wenn du mich fragst.“
Plötzlich fiel ihm Uke um den Hals und drückte sich fest an ihn. Erstaunt ließ Raen sich das gefallen, denn er dachte, Uke wäre auf seine empfindsame Art lediglich beglückt darüber, dass dies endlich einmal jemand bemerkt hatte.
„Oh, Raen, du weißt ja gar nicht, wie sehr ich mir das gewünscht habe!“, flüsterte Uke an seinem Hals. Die linke Hand des Eisan strich dabei scheinbar unbewusst liebevoll über Raens Nacken.
Raen runzelte die Stirn. Irgendetwas an dem, wie Uke ihn berührte, stimmte nicht. Und als er spürte, wie Ukes Lippen sanft seinen Hals streiften, traf ihn die Erkenntnis wie ein Hammerschlag. Fast gewaltsam befreite er sich aus dessen Umarmung und stieß ihn entsetzt von sich. „Bist du von Sinnen? Was machst du da, das ist ja abartig!“ Er wischte sich über die Stelle, die Uke geküsst hatte.
Der stand mit hängenden Armen und kümmerlich gebeugten Schultern im Stroh, und wirkte verletzlich wie ein junges Reh. Der Schmerz, den Raen in seinem Blick gewahrte, ließ ihn seine allzu groben Worte bereuen, doch er konnte sich nicht überwinden, auf ihn zuzugehen.
Der Zurückgestoßene strich sich mit einer seiner feingliedrigen Hände eine Strähne hinter sein Ohr und sah den größeren Krieger vorwurfsvoll an. „Aber ich dachte, du fühlst genauso wie ich“, stammelte er erstickt.
Raen schüttelte den Kopf, und er bemühte sich, sein unaussprechliches Befremden über Ukes Neigungen zu verbergen, dessen unzählige freundschaftliche Berührungen in der vergangenen Zeit ihm in den Sinn kamen. Unwillkürlich erschauerte er.
„Du verabscheust mich! Und ich weiß, was du jetzt denkst. Das, was all die anderen auch über mich denken: Widerwärtiger Abschaum ist er, so etwas gehört nicht in diese Welt!“ Es klang wütend und verzweifelt zugleich.
Aber Raen konnte nur wieder mit dem Kopf schütteln. Ganz entgegen dessen Vermutung verabscheute er Uke nicht, nein, er bedauerte ihn. Denn erst jetzt verstand er das Ausmaß seiner bitteren Einsamkeit, seit dem Tod seines Bruders. Raens Miene wurde wieder etwas weicher, und er rang mit sich um Worte für diesen armen Jungen, dem das Schicksal noch weitaus bizarrer mitgespielt hatte als ihm.
„Bei Hyaun, Uke, es ist nur so ... wie soll ich es sagen ... es ist so befremdlich. Du und Uma, ihr ... ihr ...“ Raen hasste sich dafür, dass er so unwürdig stammelte, aber er brachte es nicht fertig, es auszusprechen, so verrückt erschien es ihm.
„Wir lieben unseresgleichen, ja. Und wir liebten uns. Er war mein Bruder und mein Gefährte. In Hy hatten wir nur uns. Was sollten wir denn tun, keiner wollte uns verstehen!“ Er sah Raen offen an, aber in seinen Augenwinkeln funkelte es verräterisch.
Raen stützte sich an dem Querbalken zu seiner Rechten ab, an dem sonst die Pferde zum Satteln angebunden wurden. Das musste er erst einmal verdauen: Ein Mann, der sich nicht nur zu anderen Männern hingezogen fühlte, sondern auch noch seinen Bruder als Geliebten gehabt hatte! Beim Erhabenen, was hatten sie wohl zu Hause dazu gesagt? Er kratzte sich unwohl am Hals, denn es schien ihm, als jucke die Stelle von Ukes Kuss wie Brennnesselstiche. Bestimmt leuchtete das Schandmal für alle sichtbar auf seiner Haut.
In Borgossa, so hatte er im Laufe der Zeit erfahren, gab es durchaus so etwas wie Männerliebe, aber kaum öffentlich. Seine Mitstudenten hatten stets Witze darüber gemacht, dass es besonders unter den vornehmen Gecken am Hofe der Könige solche gab, die jene ekelerregenden und widernatürlichen Praktiken - so nannten sie es - bevorzugten. Manche sollen gar besonders hübsche, junge Knaben mit in ihr Bett nehmen, hatten sie gesagt und laut und schmutzig darüber gelacht, als ob sie es nicht im geringsten schockierte, dass es so etwas gab. Raen aber war schon damals mehr als nur verstört darüber gewesen. In Hy hatte er nie jemals von so etwas wie Männerliebe gehört und nicht zum ersten Mal hatte er sich in Borgossa gefühlt, als käme er von einem anderen Gestirn, so weit weg erschien ihm sein Volk von den anderen Völkern.
Und nun stand da ein Hy vor ihm, der ihm seine Zuneigung gestanden hatte, und er wusste nicht, ob er heulen oder lachen sollte. Doch von einer plötzlichen Eingebung erfasst, breitete sich mit einem Mal ein Grinsen in seinem Gesicht aus, und als er die Verwirrung in Ukes Augen sah, verbreiterte es sich noch mehr.
„Ich lache nicht über dich, Hyaun bewahre, bestimmt nicht. Ich lache über mich selbst, weiß du. Oh, Mann, muss ich vielleicht dämlich geguckt haben!“ Er hob beide Hände auf sich weisend. „Es tut mir leid. Aber du hast mich absolut auf dem falschen Fuß erwischt! Und das gelingt so schnell nicht jedem.“ Er fasste sich ein Herz und ging ein Schritt auf Uke zu, denn sein mitfühlender Teil in ihm wollte, dass dieser sich wieder besser fühlte.
„Es ist bestimmt sehr schwer für dich, erst recht da du jetzt allein bist. Verzeih, dass ich so schroff reagiert habe.“
Der Eisan blinzelte seine Tränen fort und begann zaghaft zu lächeln, solch eine verständnisvolle Behandlung war ihm noch nie widerfahren, selbst in Hy nicht.
„Raen, ach“, er schlug den Blick nieder, „nein, es muss eher mir leid tun, dass ich dir zu nahe getreten bin.“ Er sah wieder auf. „Aber ich hatte wirklich gedacht, dass du ...“
„Sprich nicht weiter, ich weiß. Lass es uns einfach als nicht geschehen betrachten, hm? Schwamm drüber, keiner wird es erfahren.“
„Ist gut, ich danke dir. Und Hyaun segne dein großes Herz, Raen. Du bist fürwahr etwas ganz Besonderes, selbst unter uns Hy.“
Raen blinzelte beschämt. So etwas hatte schon lange keiner mehr zu ihm gesagt.
„Ähm, danke. Aber sag mir noch eins, Uke, wissen die anderen eigentlich von deinen ... äh, Neigungen?“ Er hatte eigentlich nicht schon wieder herum stottern wollen, aber Uke schien es großzügig zu überhören.
„Ja, und nein“, antwortete er, „Uma und ich, wir waren immer sehr diskret, aber trotzdem bin ich mir sicher, dass die anderen davon wussten. Aber sie haben nie mit uns darüber geredet. Sie duldeten es schweigend, waren uns gegenüber aber auch niemals ablehnend aufgetreten. Selbst Sel nicht.“
Raen nickte. Ja, so werden bei uns Hy die meisten Probleme schlichtweg totgeschwiegen. Es störte ihn immer mehr, dass das die allgemeine Handhabe mit heiklen Themen war. Gib den unschönen Dingen einfach unschöne Namen, oder besser noch, gar keine, und verbanne sie aus deinem Sprachgebrauch! In gewisser Weise konnte man mit diesem Rezept den Problemen geschickt ausweichen, aber ganz aus der Welt schaffen tat man sie damit nie. Raen fragte sich, ob das jetzt ein eklatanter Missstand im menschlichen Umgang war, oder ob es einen bestimmten Vorteil für die Leute seines Volkes brachte, Probleme derart geheimniskrämerisch zu behandeln. Auf jeden Fall wurden solche Dinge in Borgossa rundweg anders praktiziert, zumeist mit wenig Taktgefühl und in aller Öffentlichkeit. Ob das allerdings nun die bessere Lösung war, konnte Raen auch nicht beantworten. Wie immer war der beste Weg wahrscheinlich der mittlere, und so beschloss er, seinen eigenen Weg dafür zu finden. Und damit konnte er gleich hier und jetzt anfangen. Er bot Uke an, er könne jederzeit zu ihm kommen, wenn ihn etwas bedrückte. Und zum ersten Mal seit dem Tod seines Bruders, so schien es zumindest, lächelte Uke glücklich bis über beide Ohren und er verneigte sich leicht vor dem Krieger, den er so verehrte.
Raen lächelte zurück, legte ihm schließlich ohne Scheu eine Hand auf die schmale Schulter und nahm ihm mit zur Stalltür hinaus. Dort blieben sie stehen und schauten auf den Garten mit den blühenden Obstbäumen und den blauen Himmel mit Wolken so weiß wie Gänseflaum darüber. Die milde Luft war erfüllt von Vogelgezwitscher und dem Summen der Bienen. Hrauna war hier in der Ebene von Borgossa schon viel kraftvoller erwacht als in den Bergen.
„Siehst du das?“, raunte Raen und machte eine ausschweifende Geste, die neben den Gärten auch noch das ausgeblichene Kalksteingemäuer ihres Hofes und die Weiden mit einschloss.
Uke nickte. Er hatte eine Hand über die Augen gelegt und sah versonnen einem Schwarm Tauben nach.
„Das alles ist doch wunderschön, nicht wahr? Und so friedlich, ich fühle mich hier wirklich sehr wohl.“ - ‚Wenn nur Sel nicht wäre, dann wäre es hier sogar noch viel friedlicher’, dachte er untröstlich, gestattete sich selbst aber nicht, vom Thema abzukommen. Er warf einen Seitenblick auf Uke. „Ich werde dir jetzt eines von meinen kleinen Geheimnissen verraten.“ Er zwinkerte dem Eisan verschwörerisch zu, der überrascht die Brauen hob. „Das behältst du aber schön für dich. Es ist ein kleiner Gegenpfand sozusagen.“ Uke nickte und konnte seine Freude darüber kaum bändigen, dass ihn jemand für vertrauenswürdig hielt.
Wieder machte der Größere eine allumfassende Handbewegung. „Wenn ich das hier alles so betrachte, die vorbildlich kultivierte Landschaft, die Stadt mit all ihren kleinen und großen Wundern und die interessanten Menschen, die darin wohnen, dann ertappe ich mich manchmal bei dem Gedanken, dass ich gar nicht mehr so gerne nach Hause zurück möchte“, flüsterte er andächtig, dabei war es noch nicht allzu lange her, da hatte er - die Schrecken der Fieberepidemie vor Augen - sich eingeredet, wirklichen Frieden und Glück nur Daheim im süßen Unwissen und an der Seite Sunekas finden zu können. Seine neue Überzeugung überraschte ihn selbst, auch dass er sie gerade ausgesprochen hatte. Aber er konnte seine Empfindungen nicht leugnen. Er fühlte sich in der Tat sehr wohl hier. Und egal, was seine Heimat ihm bot, und er ehrlich zu sich selbst war, so warteten doch dort ohnehin nur unliebsame Pflichten auf ihn. Borgossa aber, dieses wundersam lebendige Wesen aus verwundenen Mauern und Gassen und verschachtelten Dächern, aus leise plätschernden Kanälen und Brücken, flüsterte ihm unentwegt verheißungsvolle Versprechen zu, und die Versuchung, ihnen zu erliegen wuchs von Tag zu Tag und Woche zu Woche.
„Es ist ein gutes Leben hier, auch wenn wir Hy nicht dazu gemacht sind, in einer solchen Stadt zu bestehen. Aber trotzdem gelingt es uns, und darauf können wir stolz sein“, schloss er sein Geständnis und atmete zufrieden die duftende Frühlingsluft ein. Er sah, wie Uke nachdenklich seine Unterlippe bearbeitete und fragte sich, was dieser gerade dachte. Nicht einmal seinem Freund Manoen hatte er bisher von diesen Gedanken erzählt.
„Und was ist mit deiner Verlobten?“, fragte Uke nach einer Weile schließlich.
„Tja, ich befürchte, da liegt der Schlüssel zur Weisheit begraben. Ich habe ihr mein Versprechen gegeben, und das werde ich selbstverständlich auch halten.“ Mehr sagte er nicht, und Uke beließ es gnädigerweise auch dabei.
„Es ist nicht immer leicht, seine Versprechen zu halten“, bemerkte er lediglich zurückhaltend und strich sich wieder eine Strähne hinter das Ohr.
„Ach, es gibt wesentlich Schlimmeres, als in den Armen der Liebsten zu landen, denke ich.“ Raen winkte leichthin ab. „Los, komm, lass uns in die Küche gehen, dort treiben wir bestimmt etwas zu essen auf. Ich hab nämlich einen Bärenhunger!“
So beendeten sie ihre Unterhaltung und gingen hinüber zum Hof.
In der Küche trafen sie auf Manoen und Toruma in Gesellschaft der zwei Neuen, die im März im Hytena eingetroffen waren: Ein junger, sehr verschüchterter Banskeid, namens Taghat, der Raen sehr an Kaera in seinen unglücklichen Jahren erinnerte, und den Manoen vorerst unter seine Fittiche genommen hatte, und Koro, ein etwas älterer Kennarparta.
Als Manoen und Toruma Raen sahen, bestürmten sie ihn sogleich mit Fragen, wie der Ausflug mit der Prinzessin gewesen war, und er stöhnte innerlich auf. Ruhe würde er hier wohl vorerst auch nicht finden. Mit einem volltönenden Seufzer, der eigentlich besagte, dass ihm das ganz und gar nicht gelegen kam, setzte er sich zu ihnen in die Essecke, ließ sich von Manoen bedienen, und mit einem Krug kühlen Bieres in der einen und einem Stück Käse in der anderen Hand berichtete er allen schließlich von seinem Streifzug mit der Prinzessin und ihrem Bruder durch das Bergvorland.
In der Nacht fand er sich auf derselben Lichtung wieder, auf der sie vor zwei Tagen ihr Lager aufgeschlagen hatten, und ein Teil seines Bewusstseins stellte fest, dass er träumte. Beruhigen tat Raen das allerdings nicht.
‚Ich kann dich hören. Du kommst wieder zu mir!’, sagte die andere Stimme im Traum.
‚Nur warum? Sag mir, warum ich komme?’, fragte Raen zurück.
Es raschelte, und stampfende Schritte kamen aus dem Dunkel des Waldes auf ihn zu. Am liebsten hätte er die Augen geschlossen vor dem absurden, aber dennoch furchteinflößenden Geschöpf, das er gleich sehen würde, aber er wusste, dass das töricht war, denn er hatte seine Augen ja längst geschlossen, weil er schlief.
‚Vor diesen Bildern kannst du dich nicht verschließen, sie kommen von innen’, hallte die Stimme aus dem dunkelsten Winkel seiner Erinnerung.
Das Knacken der Äste und das Stampfen kam näher, und schließlich hatte Raen das Gefühl, als spürte er einen Luftzug auf seinem Gesicht. Er wappnete sich gegen das, was gleich geschehen würde, und schon im selben Moment begannen Blitze die Nacht zu erhellen.
In dem bläulich zuckenden Licht sah Raen das gespenstige Gesicht des Blutpferdes vor seiner Nasenspitze und obwohl er es erwartet hatte, wich er fast panisch davor zurück, bis er wieder einen Baum in seinem Rücken spürte.
„Warum hast du Angst vor etwas, das ein Teil von dir ist?“, fragte das Blutpferd beinahe belustigt.
„Ich habe keine Angst vor dir, sondern vor dem, was du bedeutest!“, gab Raen entschlossen zurück. Er sah, dass das Gesicht seinen Mund geöffnet hatte und zu ihm sprach: „So, was bedeute ich denn?“
„Immer, wenn du zu mir kommst, dann wird etwas geschehen. Und verzeih meinen Mangel an Optimismus, aber es wird nichts Gutes sein! Es waren nie gute Dinge, die du mir gezeigt hast. Deshalb ist diese Furcht in mir.“
Wieder erklang ein angenehm warmes und vertrauensvolles Lachen aus dem Mund dieser aberwitzigen Kreatur. Ein Blitz beleuchtete die Züge des Gesichtes. Es lächelte gütig.
„Warum bist du wieder hier?“, fragte Raen mutiger.
„Ich bin nicht wieder hier. Ich war niemals fort. Ich war stets an deiner Seite! Auch wenn ich nicht auftauche, bin ich immer bei dir. Ich wurde dafür erwählt, dich zu geleiten.“
„Und wohin sollst du mich geleiten?“
„Du wirst nie müde, Fragen zu stellen, nicht wahr?“, lachte das Blutpferd. „Das ist gut, das ist sehr gut.“ Das Wesen mit seinem Menschengesicht blinzelte und sah ihn durchdringend mit seinen drei Augen an. „Ich bin hier, um dich an deine Aufgabe zu erinnern.“
„Welche Aufgabe? Die hier in Borgossa? Aber ich erfülle sie doch. Ich tu doch ganz und gar nichts anderes mehr, als mich auf mein Studium zu konzentrieren.“
„Nein, Borgossa ist es nicht; das ist nur etwas, das ein paar unbedeutende Leute von dir wollen. Das, was ich meine, ist etwas viel Bedeutsameres, etwas viel Höheres.“ Raen dämmerte es unheilvoll. „Aber die Prophezeiung von Soghul habe ich doch erfüllt!“, protestierte er vehement gegen diesen neuerlichen Versuch, ihm etwas aufzubürden, das er gar nicht haben wollte. Er wollte nicht wieder der Handlanger höherer Bestimmungen sein. Nein, das wollte er nie wieder! Er legte beide Hände auf seine Ohren. „Raen, du kannst dich nicht dagegen wehren. Lass es bleiben, es ist sinnlos, denn dein Schicksal ist bereits beschlossene Sache! Und du wirst tun, was von dir verlangt wird!“, dröhnte die Stimme des Blutpferdes streng, und es fühlte sich an, als würde sich dabei ein starker Wind erheben. „Nein, das werde ich nicht! Ich will das nicht mehr!“
„Raen! Du bist …“
„Nein! Nein! Nein! Verschwinde!“, schrie er so laut er konnte, um die Stimme zu übertönen, während der Wind zum Sturm anwuchs, ihm den Atem nahm und an seiner Kleidung zerrte. Unablässig zuckten Blitze durch die Schwärze des Waldes, doch Raen schrie weiter, er brüllte sich die Seele aus dem Leib, um das Pferdewesen nicht mehr weiter zu Wort kommen zu lassen.
Und ganz plötzlich ließ der Sturm nach, das Getöse legte sich, und nur noch ein paar Blätter wirbelten durch die Luft. Lautlos segelten sie zu Boden. Dort blieben sie neben tief eingedrückten Hufspuren liegen, die mit frischem Blut gefüllt waren.
Als Raen die Augen aufschlug, drang bereits das graue Licht der Morgendämmerung durch die Schlitze der Fensterläden. Erleichtert strich er sich über die schweißnasse Stirn. Dabei berührte er sein Aun, und für den Bruchteil eines Herzschlages blitzten die Bilder aus seinem Traum wieder auf. Dieselbe Hand zur Faust geballt, klopfte er sich schließlich unsanft immer wieder gegen den Schädel, als könne er so das Unangenehme dazu bewegen, sich einen ruhigeren Ort als seinen Kopf zu suchen.
Bis zum Sonnenaufgang lag er fast regungslos auf dem Rücken, einen Arm über die Augen geschlagen, gefangen in einem endlosen Kreislauf von Gedanken. Alles in ihm sträubte sich dagegen, die Wiederkehr des Blutpferdes zu akzeptieren, und seine innere Stimme sagte in ständiger, monotoner Wiederholung: ,Ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht ...’ - als sei es ein wirksamer Gegenzauber.
Er war bemüht, sich einzureden, sich dem Bann des Blutpferdes entziehen zu können, wenn es ihm nur gelänge, diese grausige Figur immer wieder in das unselige Dunkel des Universums zurückzudrängen, aus dem es jede Nacht scheinbar stets neu geboren wurde. Doch wie lange würde er das durchhalten? Wie lange hätte sein Ungehorsam gegen das Blutpferd Bestand?
Wie gewöhnlich begann das neue Circulum im Mai. Die Studenten fanden sich zu den Lektionen an der Akademie ein, und da die Pause dieses Mal so kurz gewesen war, war die Wiedersehensfreude etwas weniger ausgeprägt euphorisch. Dennoch freute sich Raen, seine graçenischen Freunde Jovani und Anthones wiederzusehen und auf altbekannte Weise mit ihnen zu scherzen, und er hoffte, durch das Studium von seinen Gedanken an das Blutpferd abgelenkt zu werden. Zusammen mit seinen Freunden besuchte er die Lektionen über höhere Kriegstheorie, die Übungen zum Gebrauch von stumpfem Kampfgerät und Bauernwaffen und deren Sinn in der Kriegsführung, und die Lektion über Verhandlungstaktik auf dem Felde sowie am Tisch. Und sehr zu Raens Freude hatten sich auch die Prinzessin und ihr Bruder in diesen Disziplinen eingeschrieben.
Die beiden Ohaoudis hatte er bis zu diesem Tag nicht wiedergesehen, denn jeder hatte seinen Verpflichtungen nachgehen müssen. Als sie sich aber jetzt im Gedränge vor dem Lektionssaal begegneten, und die Prinzessin ihn über mehrere Köpfe hinweg anlächelte, machte Raens Herz einen ganz unvermuteten Satz, so dass er sich selbst über die Heftigkeit seiner eigenen Empfindungen wunderte. ‚Was war das nur mit dieser Frau?’, fragte er sich und lächelte zurück, ohne sich etwas von seiner frisch aufkeimenden Unsicherheit anmerken zu lassen.
„Hallo, Campione! Wie geht es Euch?“, rief die Prinzessin ihm zu.
Doch das hörte auch Sel, der vor Raen ging, und er wandte seinen Kopf in ihre Richtung.
‚Du bist ganz bestimmt nicht damit gemeint, du eitler Gockel, auch wenn du dich jetzt gleichfalls Campione nennen darfst!’, dachte Raen grimmig und lavierte durch die Menge zur Prinzessin hinüber.
Sel, der gesehen hatte, wer seinen Titel fälschlicherweise missbraucht hatte, wandte sich unwirsch wieder ab und wartete mit finsterem Blick und hasserfüllten Gedanken darauf, endlich in den Saal eingelassen zu werden. Er freute sich darauf, den einzigen Menschen wiederzusehen, der ihm nahe stand: Karbald!
Prinzessin Keï, die nichts von dem unheilvollen Bund, den diese zwei Menschen offenbar miteinander geknüpft hatten, ahnte, wunderte sich im Verlauf der ersten Lektion doch sehr darüber, wie unnötig oft und ungerechtfertigt Maestro Karbald Raen maßregelte, und warum er so erpicht darauf war, den Hy besonders vor den neuen Scolarios lächerlich zu machen. Mit wachsender Missbilligung sah sie mit an, wie der übelgelaunte Maestro nicht müde wurde, Raen del Shari als Trottel hinzustellen. Immer wieder musste der Hy sich in seiner Bankreihe erheben und die Beleidigungen über sich ergehen lassen. Keï bewunderte seine stoische Ruhe, mit der er die Schmach scheinbar aufrecht hinnahm, doch sie meinte auch, hinter seiner gleichgültigen Maske tiefe Verärgerung zu erkennen, darüber dass er als Krieger sich derart erniedrigen lassen musste.
Es tat ihr leid, ihn so zu sehen, doch sie konnte trotz ihrer gehobenen Stellung nichts dagegen unternehmen. Überall in Borgossa hatte ihr Titel Gewicht, hier an der Akademie aber war er wertlos. Hier hatten die Maestros die uneingeschränkte Macht! Darüber hinaus wäre ihr hyaunischer Freund aller Wahrscheinlichkeit nach vor Scham im Boden versunken, wenn sie auch nur versucht hätte, sich einzumischen.
Nach der Lektion versammelten sie sich im großen Vorraum, und Manoen klopfte seinem Freund mitfühlend auf die Schulter.
Keï beobachtete ihn dabei und wünschte sich, sie könnte es ebenfalls tun. Denn diese schlichte männliche Bezeugung der Freundschaft sagte all das aus, was sie in diesem Augenblick empfand, und wäre sie ein Mann, dann wäre nichts natürlicher gewesen, als diese eine Geste. Aber da es sich für eine Frau nicht ziemte, musste sie darauf verzichten und sich selbst ermahnen, wieder mehr auf ihre Manieren zu achten. Sie musste eine gewisse Distanz zu den Mitstudenten einhalten, um ihre und die Integrität der anderen zu wahren. So sagte sie lediglich ein paar aufmunternde Floskeln, die Raen aber dennoch zu freuen schienen, denn er lächelte ihr kurz zu. Mit einer wegwerfenden Handbewegung erklärte er die Angelegenheit schließlich für unbedeutend und kam auf erbaulichere Dinge zu sprechen: „Was gibt es zu essen?“
„Hirsegrütze“, sagte Manoen.
„Hmm, da esse ich lieber Rattendreck und Kanalschlamm!“, knurrte Anthones reichlich angeekelt, und Raen zog bei der Abwägung beider Alternativen die Nase kraus. Aber das Essen, das für die Studenten in der Universitätsküche gekocht wurde, gehörte auch nicht gerade zu den Geschmackserlebnissen, die ein Mensch in seinem Leben unbedingt probiert haben sollte. Mit anderen Worten: Es war ein elender Fraß. Erst recht für die gaumenverwöhnten Herrschaften des graçenischen Adels unter ihnen.
„Wir können uns ja etwas von den fliegenden Händlern auf dem Campo holen“, schlug Jovani vor, und alle stimmten sofort zu. Das Essen dort war zwar teurer, aber dafür schmeckte es wenigstens nach etwas. Unschlüssig stand die Prinzessin bei ihnen.
„Kommt Ihr auch mit?“, fragte Raen sie.
Doch Keï schüttelte den Kopf. „Lieber nicht.“
„Ach, nun lasst Euch nicht zweimal bitten. Einladungen auszuschlagen, ist doch wohl eher meine Spezialität!“ Er zwinkerte ihr lachend zu, und Keï zog verlegen die Schultern hoch. Es schmeichelte ihr, dass er wollte, dass sie mitkam.
„Na, gut“, sagte sie nach einer Weile, „ich bin dabei.“
„Alsdann, nach Euch!“, scherzte Raen weiter und machte eine einladende Geste, dass sie und ihr Bruder vorausgehen sollten. Ihm fiel offensichtlich nicht auf, dass Jovani im Hintergrund ein langes Gesicht zog und von einem Moment auf den nächsten schweigsam wurde. Keï dafür sehr wohl. Sie wusste, dass der Graçener nicht gut auf sie zu sprechen war und seine politische Meinung über sie und ihr Volk nur deswegen so vornehm zurückhielt, weil die Regeln der Universität es so verlangten. Mit unbekümmerter Miene schloss sie sich der Gruppe an, zu der unter anderem auch der schüchterne neue Hy namens Taghat gehörte. Wie ein magerer Schatten hing er an der Seite des großen Manoen, und es schien, als traue er sich nicht, auch nur einen Schritt von ohne ihn zu tun.
Gemeinsam gingen sie zum Campo hinüber, erstanden je eine Schale scharf gewürzte Linsen mit Lauch als Einlage und dazu süßen Kuchen mit Rosinen. Auf einem freien Platz unter den schattenspendenden Platanen ließen sie sich nieder und aßen mehr oder weniger still. Deshalb fiel auch niemandem bis auf Keï auf, dass Jovani kein einziges Wort mehr sprach. Hätte man ihn sich jedoch genauer betrachtet, hätte man bemerkt, wie verdrossen er auf seinem Essen herum kaute und jeden Blickkontakt mit der Prinzessin oder ihrem Bruder vermied.
Doch Keï hielt es für besser, sich gleichfalls nicht anmerken zu lassen, und lachte hin und wieder über einen Witz, den jemand machte.
Dafür beobachtete sie lieber Raen, der allenthalben einen Löffel von seinen Linsen aß und sich dabei nicht davon abhalten ließ, fröhlich mit zu scherzen. Er saß ihr schräg gegenüber, und sie bemerkte, dass auch er ihr immer wieder ganz beiläufig Blicke zu warf, aber jedes Mal gleich wieder wegsah. Sie wusste nicht, warum sie von ihm so fasziniert war, dass sie ihn anstarrte? Aber ihre Augen schienen wie von ganz allein immer wieder in seine Richtig gezogen zu werden, als ob alles, was sie sehen wollten, dieser junge fremdländische Krieger war und wie er seinen Eintopf aß.
„Was hast du sie die ganze Zeit so angesehen?“, fragte Manoen seinen Freund später, als sie auf dem Heimweg waren. Raen fuhr herum und musterte seinen Freund. Er sah, wie ein anzügliches Lächeln dessen Mundwinkel umspielte. Taghat, der mit ihnen war, tat unbeteiligt.
„Habe ich doch gar nicht!“, stritt er schließlich ab. Er hatte kein Bedürfnis, Rede und Antwort für etwas zu stehen, das er selbst noch nicht ganz begriff, und erst recht nicht vor Taghat.
Aber Manoen blieb hartnäckig. „Ich habe dich genau beobachtet. Und sie auch. Sie hat dich mindestens genauso oft angesehen, wie du sie!“
Raen schwieg trotzig. Es war ihm unangenehm, weil Manoen sie beide beobachtet hatte, ohne dass er etwas davon mitbekommen hatte.
„Habt ihr was miteinander?“, fragte er rundheraus.
Raen sah, wie Taghats Kopf nun doch herum schnellte.
„Sag mal, spinnst du jetzt völlig?“, fuhr er den Rotschopf brüsk an. Es ärgerte ihn maßlos, dass Manoen immer so verdammt indiskret sein musste.
„Wieso? Man braucht doch nur Augen im Kopf zu haben, um zu sehen, dass da etwas zwischen euch ist!“
„Das ist völliger Blödsinn! Nur weil du scharf auf sie bist, muss ich das noch lange nicht sein!“ Er trabte mit Jakori an als Zeichen, dass das Gespräch für ihn beendet war. Er wusste nur allzu gut, dass Manoen, seit er Keï zum ersten Mal gesehen hatte, seine Leidenschaft für Frauen ihrer Herkunft entdeckt hatte. Und in La Gioia gab es selbstverständlich auch solche dunkelhäutigen Schönheiten käuflich zu erwerben. Denn in La Gioia gab es alles, was ein Mann sich wünschen konnte. Aber ganz entgegen Manoens irriger Annahme war er sich sicher, dass er diese Leidenschaft nicht mit ihm teilte.
„Mir kannst du doch nichts vormachen, Raen. Ich kenne dich!“, rief der Rotschopf ihm hinterher, und Raen hätte ihm am liebsten den Hals umgedreht, weil er so laut daher grölte!
Da er inzwischen schlechte Laune von dieser Unterhaltung bekommen hatte, trieb Jakori noch weiter an und gewann mehrere Längen Vorsprung.
„Ja, hülle dich nur in vornehmes Schweigen. Aber das hilft dir auch nichts, denn ich habe dich längst durchschaut. Gib es doch endlich zu, du bist scharf auf die Prinzessin! So scharf wie ein Kerl es nur sein kann!“
Als diese freche Behauptung in Raens Gehirnwindungen angekommen war, zügelte er so plötzlich Jakori, dass die Stute einen überraschten Laut von sich gab und abrupt vor Manoens Pferd zum Stehen kam. Um ein Haar wäre der Hüne in sie hineingeritten, aber sein Hengst schrammte haarscharf an Jakoris Seite vorbei und kam ungalant mit rutschenden Hinterhufen zum Stehen. Auch Taghat hielt erschrocken sein Pferd an. Mit großen, unsicheren Augen blickte er vom einen zum anderen.
„Sag mal, bist du verrückt geworden?“, keuchte Manoen erschrocken. „Beinahe wäre ich herunter gesegelt!“ Er sammelte sich und sein Pferd.
Raen funkelte ihn an. Er kochte innerlich.
„Wenn hier einer ganz offensichtlich nicht bei Trost ist, dann bist doch wohl du das! Schreist deine Klatschgeschichten hier herum wie ein Viehverkäufer, dass alle es mitbekommen! Du wirst so etwas nie wieder sagen, hast du mich verstanden?“, zischte er drohend. „Nicht in aller Öffentlichkeit und schon gar nicht vor ihm!“ Er deutete in Taghats Richtung.
Manoen blinzelte verwirrt und zog unwillkürlich den Kopf ein, so wie er es immer tat, wenn ein Konflikt heraufzog.
„Deine haltlosen Spekulationen gehen mir langsam zu weit, Manoen adh Shajun! Mäßige gefälligst dein unverschämtes Mundwerk!“
Dem Rotschopf fiel die Kinnlade herunter. So hatte sein Freund noch nie mit ihm geredet.
„Ich will, dass du nie wieder etwas über die Prinzessin sagst, was sie in Verruf bringen könnte! Und wenn, dann mach es bitte in Hyaunisch, so dass es keiner versteht. Denn solche Gerüchte, wie die deinen sind sehr gefährlich! Die Prinzessin hat es ohnehin schon schwer genug. Und was mich betrifft, so geht es dich einen feuchten Kehricht an, was ich von ihr halte! Doch eines ist mit Sicherheit klar: Scharf bin ich ganz bestimmt nicht auf sie! Und jetzt will ich dieses schwachsinnige Gequatsche nicht mehr hören!“ Raen schnalzte mit der Zunge, und Jakori galoppierte aus dem Stand an.
Manoen blieb nur noch übrig, die Staubwolke zu betrachten, die sein Freund hinterließ. Aber er war auch viel zu schockiert von dessen heftiger Reaktion, um etwas auf die rüde Zurechtweisung entgegen zu können. Nur langsam und sehr nachdenklich setzte er mit dem schweigenden Taghat seinen Weg fort.
Als er im Hytena ankam, sah er, dass Raen wie ein Besessener den Hof fegte und dabei mehr Staub aufwirbelte, als denselben zu beseitigen. Ihn umgab eine Aura, die Gefahr signalisierte und zusammen mit der Staubwolke den ganzen Hof erfüllte.
Am liebsten hätte Manoen sich unsichtbar gemacht, um an ihm vorbeizukommen, denn er war nicht scharf darauf, noch einmal mit ihm aneinanderzugeraten. Wie das personifizierte schlechte Gewissen, drückte er sich vorsichtig an Raen vorbei, der ihn keines Blickes würdigte, und verschwand schnell auf der rettenden Treppe. In seinem Zimmer nahm er sich seinem Helm ab, legte ihn auf die Truhe und ließ sich auf sein Bett fallen. Mehrmals strich er sich unruhig über die kurzen, rotbraunen Haarstoppeln auf seinem Scheitel und flüsterte: „Er hat völlig Recht, du machst dir mit deinem Schandmaul noch mal alles kaputt!“ Und insgeheim quälte ihn die Angst davor, Raen als seinen Freund zu verlieren. Er hatte sich so sehr an ihn gewöhnt, dass er sich nicht vorstellen konnte, jemals wieder ohne ihn an seiner Seite zu sein. Zu tief hatte er ihn in sein Herz geschlossen - und dessen schützende Riegel wussten nicht viele Menschen zu öffnen! Ihm graute vor dem unvermeidlich Tag, an dem Raen Borgossa verlassen würde. Ihm graute davor, wieder allein im Hytena zu sein.
Der Juni war ungewöhnlich mild, Seewinde brachten frische Luft und viele Wolken mit sich, und die Bürger von Borgossa nutzten die Wochen vor der Hitze für ihre Geschäfte. Doch als der heiße Brodem des Sommers im Juli schließlich über die Stadt kam, war es, als sei er ganz plötzlich wie ein schweres, glühendes Eisen direkt aus der Sonne auf die Stadt gefallen, und von einem Tag auf den nächsten leerten sich die Straßen und Plätze. Nur noch ein paar Übereifrige und Unverbesserliche huschten zur Mittagsstunde durch die flimmernde Luft, oder mühten sich in ihren kleinen Booten über die stickigen Kanäle. Doch auch jene hatten bald ein Einsehen, blieben lieber in den Schatten ihrer Gärten und Häuser und wurden träge. Wie immer waren die Studenten die einzigen, ohne diese Möglichkeit der Wahl, und wie jedes Jahr beklagten sie sich heftig über die Schinderei an den ‚durstigen Tagen’. Aber wie jedes Jahr blieben die Maestros, die genauso schwitzten wie ihre Schützlinge, ungerührt. So auch Maestro Uberth, der die Kampfübungen auf dem in der Sonne brütenden Platz beaufsichtigte. Die Schatten, welche die umstehenden Zypressen und Platanen warfen, waren noch zu kurz, um den Scolarios Milderung zu verschaffen.
Raen und Manoen, die ihren kleinen Disput längst beigelegt hatten, und zu Manoens großer Erleichterung wieder miteinander vertraut waren, als sei nichts geschehen, hatten ihre Jacken und Untergewänder ausgezogen und ihre Helme abgesetzt. Mit bloßem Oberkörper standen sie da und ließen die langen Stäbe, mit denen sie seit einiger Zeit trainierten, lässig in der Luft kreisen. Wegen der Hitze hielt sich ihre Motivation in Grenzen, und immer wieder lugten sie zu Maestro Uberth hinüber, der alle Hände voll zu tun hatte, seine Scolarios anzutreiben. Jedes Mal, wenn er bei einer Gruppe stehen blieb, um den Unglückseligen mit unerschöpflicher Geduld zu erklären, wie der Stab zu führen sei, hielten die anderen Studenten in seinem Rücken unauffällig inne und verschnauften.
Lahm ließen Manoen und Raen ihre Stäbe aneinander klingen, als Uberth sich hinter Raens Rücken wieder in Bewegung setzte und einen Blick in ihre Richtung warf. Sie vollführten einen Schlagabtausch, der weder schnell, noch gekonnt war, der Raen aber in Siegerposition brachte, weil sein Stockende nach einem Abwehrfehler von Manoen auf dessen Rippen landete. Schweiß rann beiden über das Gesicht, und einen Moment teilten sie einen Blick, der besagte, dass beide es leid waren, hier wie Trockenobst gedörrt zu werden. Um jeden auch noch so kleinen Augenblick der Unterbrechung zu schinden, begaben sie sich nur ganz gemächlich wieder in ihre Ausgangsstellung, und Raen nutzte die erneute Pause, um über Manoens Schulter hinweg die Prinzessin zu beobachten, die ein paar Schritte von ihnen entfernt kämpfte. Die Hitze schien ihr nichts auszumachen, leichtfüßig attackierte sie ihren Gegner, doch sonderlich geschickt stellte sie sich nicht dabei an. Mit dem unhandlichen Stab, der sie um mehr als eine Elle überspannte, hatte sie erhebliche Schwierigkeiten, und Raen erinnerte sich daran, dass sie einmal gesagt hatte, diese Waffe läge ihr nicht besonders und sie hätte diese Lektion nur deshalb gewählt, um den Umgang mit ihr zu verbessern.
‚Ihr schafft das schon, Prinzessin’, dachte er schmunzelnd und wollte sich gerade wieder Manoen widmen, als er sah, wie Keïs Gegner ihr unnötig hart die Füße wegschlug und sie unsanft im Staub landete. Es hatte ihr offensichtlich weh getan, denn sie blieb mit schmerzverzerrtem Gesicht liegen und umfasste mit beiden Händen ihre rechte Wade. Raen verging das Lächeln, und auch Manoen wandte den Blick über seine Schulter. Keïs Gegner, einer von den jungen Kerlen, die dieses Jahr neu an die Akademie gekommen waren und noch dazu neigten, an maßloser Selbstüberschätzung zu leiden, hatte derweil, anstatt ihr aufzuhelfen, das eine Ende seines Stabes unmissverständlich auf ihre Kehle gerichtet. Raen wollte Anstalten machen, ihr zu Hilfe zu eilen, doch Manoen hielt ihn mit erhobener Hand zurück.
„Gib ihr die Chance, da allein herauszukommen. Du hättest es auch nicht gerne, wenn sich jemand bei dir einmischen würde. Außerdem gibt es hinterher nur Gerede, nicht wahr?“ Der Rotschopf zwinkerte ihm freundschaftlich zu, und Raen nickte. Nur ungern nahm er die Rolle des Beobachters ein, aber in diesem Falle hatte Manoen Recht. Trotzdem hielt er sich bereit, um jeden Moment eingreifen zu können.
Das Stabende immer noch auf die Kehle der Prinzessin gerichtet, sagte ihr Gegner schließlich in abfälligem Tonfall und so, dass jeder der Umstehenden es hören konnte: „Tja, Krieg ist eben nicht bloß ein Spielchen, mit dem Sennora Prinçipessa sich die Zeit vertreiben kann! Es ist ein hartes Einkommen, und man kann beileibe keine Rücksicht darauf nehmen, ob der Gegner ein Weib ist! Zu dumm nur, dass heute dein großer Bruder nicht da ist, um dich zu beschützen!“
„Er ist mein kleiner Bruder, und er muss mich nicht beschützen!“, stellte Keï mit trockener Stimme die Tatsachen über Bendan richtig, der seit ein paar Tagen krank war. Er hatte etwas Schlechtes gegessen, und nun plagte ihn schrecklicher Durchfall.
„Ist doch egal. Er ist wenigstens ein Kerl. Aber es ist eine Schande, dass die Akademie so etwas wie dich zugelassen hat. Dass ich jetzt auch noch mit dir üben muss und deine Unfähigkeit ausbaden darf, ist wirklich der Gipfel der Zumutung. Wie viel hat dein Vater wohl bezahlt, um dich hier einzukaufen, he?“ Die Rede des Graçeners war ganz und gar respektlos. Scheinbar legte er es bewusst darauf an, sie zu beleidigen, aber offensichtlich hatte er die Prinzessin auch noch nicht mit den Waffen kämpfen sehen, die ihr lagen, und unterschätzte sie aufgrund seiner Vorurteile gewaltig. Denn die Prinzessin war nicht nur in den abgeschirmten Gemächern der vornehmen Damen am Hofe ihres Vaters groß geworden, wie er vermutete, sie hatte auch einige Jahre mitten unter Männern verbracht, während ihrer kriegerischen Ausbildung, und sie wusste, wie man sich gegen derartige Anfeindungen wehrte. Noch ehe Raen also in irgendeiner Weise intervenieren konnte, hatte sie die Stabspitze ihres Gegners mit der Hand zur Seite gewunden, war langsam aufgestanden und hatte sich demonstrativ den Sand von der verschwitzten Haut ihrer Arme gestrichen. In ihrer vollen Größe und mit selbstsicherer Miene baute sie sich direkt vor dem übermütigen jungen Graçener auf, der ihrer entschlossenen Haltung ein arrogantes Lächeln entgegenzusetzen versuchte. Sie sahen sich auf gleicher Höhe in die Augen.
„Du behauptest also, Frauen hätten hier nichts verloren, ja?“, fragte die Prinzessin kühl, aber Raen erkannte die nur mit Mühe verhohlene Zornesglut in ihrem Blick. Er freute sich, dass sie sich nichts gefallen ließ, und verdeckte ein belustigtes Grinsen hinter einer Hand. Mit dem Stab unter den Arm geklemmt stand er da und wartete zusammen mit einigen anderen Neugierigen gespannt darauf, wie es wohl weitergehen mochte.
„Weiber sollten überhaupt nicht mit Waffen herumfuchteln, wenn du mich fragst. Wo kämen wir denn hin, wenn wir mit euch jetzt auch noch unseren Platz auf dem Schlachtfeld teilen und von euch obendrein noch Befehle entgegen nehmen müssten! Das ist doch vollkommen lächerlich, ein Weibsstück als General!“ Der junge Graçener lachte abfällig. „Besser, du scherst dich wieder in dein königliches Schlafgemach, machst brav die Beine breit und produzierst deine zukünftigen Thronfolger, wie es sich für eine Prinzessin gehört, statt dich hier herumzutreiben und Krieg zu spielen!“
Ohne Vorwarnung griff die Prinzessin an. Sie erwischte den Graçener mit ihrer Stabspitze hart vor die Brust. Der strauchelte zurück, presste eine Hand auf die schmerzende Stelle und keuchte überrascht nach Luft. Wut flammte aus seinen Augen, und als er sich von dem Schreck erholt hatte, holte er aus und schlug zurück.
„Du kleines Miststück!“, fauchte er und drang hitzig auf Keï ein. Immer schneller wurden seine Schlagkombinationen, und die Prinzessin hatte alle Mühe, sie zu parieren. Aber sie schien zu allem entschlossen, und das gab ihr Kraft, sich gegen ihn zu behaupten. Raen war stolz auf sie. Ihr Mut, sich mit einer Waffe zu duellieren, die sie nicht mit aller Sicherheit beherrschte, war wirklich anerkennenswert.
Eine Weile beharkten sich die beiden Kontrahenten wie zwei wildgewordene Platzhirsche, und die Schläge ihrer Holzstäbe klangen wie das Aufeinanderkrachen von Geweihen, aber dem Graçener wollte es trotz Keïs mangelnder Technik einfach nicht gelingen, bei ihr einen entscheidenden Treffer zu landen. Geschickt wich sie ihm immer wieder aus und zeigte dabei eine beeindruckende Akrobatik, welche die Zuschauer in johlende Ausrufe versetzte.
Doch plötzlich entstand im Kreis der Umstehenden Unruhe, und jemand rief: „Achtung, Uberth kommt!“
Schlagartig verstummten alle.
Der Graçener hielt inne und wandte wie alle anderen den Kopf. Keï nutzte diese Ablenkung und stieß ihm mit voller Wucht das Stabende in den Magen. Der Graçener stöhnte auf, ließ seinen Stab fallen und knickte ein, beide Hände um den Bauch gewunden.
„Du verfluchte Ohaoudi-Schlampe, das war regelwidrig!“, schnaufte er verkrampft.
Aber Keï lachte scheinbar unberührt von dieser rüden Beleidigung und entgegnete: „Krieg hat keine Regeln, Soldat, offensichtlich konnte dir das die ‚Ohaoudi-Schlampe’ noch beibringen!“ Während sie das sagte, trat Maestro Uberth zwischen sie und den gebückt dastehenden Graçener. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.
„Was soll das?“, krächzte er, und stemmte seine Hände in die Hüften. „Hier auf dem ehrbaren Grund der Akademie werden keine persönlichen Fehden ausgefochten!“
Alle, die dem Streit beigewohnt hatten, wichen vorsichtig Schritt um Schritt zurück und versuchten, sich unauffällig zu verdrücken.
„Ihr bleibt alle hier!“, befahl Uberth mit seiner rauen Stimme, und keiner wagte es mehr, sich zu bewegen. „Schämt ihr euch nicht, den Kodex der Universität zu entehren!“ Er sah rundum in die Gesichter, die schuldbewusst gen Boden gerichtet waren. „Solch eine Respektlosigkeit lasse ich mir von euch nicht bieten! Ihr bekommt alle eine Straflektion. Heute nach Sonnenuntergang hier auf dem Platz. Und wehe, einer von euch fehlt!“
„Wir etwa auch, Maestro?“, fragte einer derjenigen, die überhaupt nichts mit der ganzen Sache zu tun gehabt hatten.
Uberth drehte sich ruckartig zu ihm um und schnauzte den Scolario an: „Wenn ich sage alle, dann meine ich auch alle! Was ist daran so schwer zu verstehen? Ihr könnt euch später bei euren Kameraden hier bedanken, die es nicht für nötig gehalten haben, die Regeln der Universität zu befolgen.“
Böse blickten die Unschuldigen zu den Missetätern hinüber, und Uberth wandte sich wieder an Keï und den Graçener: „Und morgen will ich von euch beiden eine Entschuldigung, sonst gibt es noch ganz andere Konsequenzen für euch!“ Der stämmige Maestro war immer noch völlig außer sich. Sein Zeigefinger, mit dem er auf Keï und den Graçener deutete, bebte in der Luft.
Beide Beschuldigten nickten sichtlich betreten. Es beschämte sie, dass es wegen ihnen Gruppenkeile gab.
„Ihr beide kommt jetzt mit mir, für euch gibt es Extratraining!“ Uberth packte den Graçener am Kragen, drehte sich auf dem Hacken um und brüllte: „Und ihr anderen Lümmel begebt euch wieder an die Übung, aber ein bisschen plötzlich!“
Alle gehorchten augenblicklich.
Hinterher sprach keiner ein Wort. Die Unschuldigen waren sauer, da sie in die Sache mit hineingezogen worden waren, und die Schuldigen gaben sich reumütig. Doch das änderte an den unerfreulichen Folgen ihres Vergehens nichts mehr. Voller Unmut schlichen die beiden Parteien vom Platz und verteilten sich möglichst weit von einander entfernt auf dem Gelände. Bis zum Abend hatten sie nun noch einiges an Zeit totzuschlagen.
„Armer Taghat, jetzt bekommst du gleich mit, wie es hier zugehen kann, wenn man nicht spurt“, entgegnete Manoen und legte dem jüngeren Krieger mitfühlend die Hand auf die Schulter.
Taghat nickte nur stumm.
‚Mann, es wird langsam mal Zeit, dass der auftaut, er ist wirklich schrecklich schüchtern’, fand Raen. „Wo sollen wir denn dann pennen, wenn wir nicht aus der Stadt herauskommen?“, fragte er Manoen. Der zuckte mit den Schultern.
„Im Stall bei den Pferden“, schlug er vor. Doch beide sollten bald feststellen, dass sich diese Frage längst erübrigt hatte.
Sie blickten hinüber zu Keï und dem Graçener, die beide immer noch auf dem Trainingsgrund standen und in einträchtiger Leidensgenossenschaft Übungen absolvierten. Uberth hatte sie dazu verdonnert, je fünfzig Wiederholungen der zehn verschiedenen Schlagtechniken abzuarbeiten.
„Damit werden sie wohl bis zum Sonnenuntergang beschäftigt sein!“, bemerkte Manoen, aber es war kein Spaß in seiner Stimme.
„Sie hat sich dennoch gut geschlagen“, entgegnete Raen.
Manoen grunzte grimmig. Nach einer Weile fragte er: „Und was machen wir jetzt? Es sind bestimmt noch vier Stunden bis zum Sonnenuntergang.“
„Also, ich weiß ja nicht, was du vorhast, aber ich gehe jetzt mindestens einen Eimer Wasser saufen, etwas essen und dann hinüber in die Bibliothek.“
Manoen rümpfte die Nase. „Ah, der Herr geht noch studieren! Tz, du und deine Bücher, da scheint sich ja eine ganz innige Leidenschaft zu entwickeln.“
„Die Bibliothek hat wirklich viel Interessantes. Du solltest dich auch allenthalben mal dort blicken lassen. Es ist gut für den Ruf: Lass dich mit einem Buch sehen und du giltst als gelehrt“, lachte Raen.
„Gelehrt, pah! Mann, du bist ein Krieger. Was soll ein Krieger mit Büchern, frag ich mich? Das Schwert ist dein Werkzeug und nicht Federkiel und Tintenfass. Wenn Hyaun gewollt hätte, dass du hinter Büchern verschimmelst, dann hätte Er dich tatsächlich zum Priester gemacht!“
Raen lächelte nachsichtig. „Und wenn Hyaun gewollt hätte, dass du feurige Reden hältst, dann hätte Er dich zum Obersten aller Priester ernannt!“, gab er schließlich zurück, und Manoen verzog leicht säuerlich den Mund.
„Jetzt schau nicht so“, lenkte er ein, „du musst doch zugeben, dass du mutiger zum Wort greifst, denn zum Schwerte!“
Daraufhin hob Manoen beide Hände und gab sich geschlagen. „Oh, schon gut, entschuldige bitte, dass ich meine Meinung kundgetan habe. Aber ich kann einfach nicht mit ansehen, wie du das Talent, das dir geschenkt wurde, verschwendest.“
„Du meinst, weil ich meinen Ruf als einstmaligen Champion nicht ausnutze, um bei den Weibern zu landen?“ Raen musste lachen und stieß Manoen mit dem Ellenbogen an.
„So ein Quatsch, das meine ich doch gar nicht!“
„Keine Angst, ich habe schon verstanden“, besänftigte Raen ihn, „ich werde mein Talent schon nicht verschwenden, ich untermauere es lediglich mit der Macht des Wissens! Denn auf Dauer reicht es nicht, immer nur den Stahl sprechen zu lassen.“ Manoen winkte ab, dieses Gespräch wurde ihm offenbar zu tiefgründig. „Ist gut, wie du meinst. Geh du nur und schreib deine Wörtchen auf, mir ist gerade eine bessere Idee gekommen.“
„Aha.“ Raen hob vielsagend die Brauen. Er ahnte, was für eine Idee das sein könnte, von der sein Freund da sprach, hatte aber keine Lust, darauf einzugehen. „Wohlan“, sagte er als Zeichen des Aufbruchs, erhob sich und strich sich den Sand von den Handflächen. Er streckte Manoen eine Hand entgegen und zog ihn auf die Beine. Taghat erhob sich schnell, bevor einer der beiden anderen ihm behilflich sein konnte.
Sie sammelten ihre Kleidung ein und gingen zum Brunnen, wo sie sich wuschen und tranken.
Später, nachdem sie gegessen hatten, verabschiedeten sie sich voneinander und jeder verschwand in eine andere Richtung. Wie Raen vermutete hatte, steuerte Manoen nach Osten, wo La Gioia lag, und er hoffte, sein Freund möge wenigstens so vernünftig sein und nicht völlig betrunken wiederkommen. Taghat hatte ein wenig gezögert, als Manoen ihn gefragt hatte, mit wem er mitgehen möchte, und es war auch eine eher retorische Frage gewesen, aber schließlich hatte der Junge sich, still wie er war, Manoen angeschlossen, der für ihn zweifelsohne so etwas wie sein Steuermann durch die unruhigen Gewässer Borgossas darstellte.
Raen war froh darüber, denn er war bei seiner Arbeit in der Bibliothek sowieso lieber für sich. Außerdem konnte er mit dem wortkargen Taghat nicht viel anfangen. Es war einfach zu mühselig, etwas aus ihm herauszubekommen. Manoen hingegen schien da schon etwas mehr Geduld zu haben, zumindest kümmerte er sich aufopferungsvoll um den stillen Jungen.
‚Genau, wie er sich auch um dich gekümmert hat, als du frisch hier eingetroffen bist’, dachte Raen in nostalgischer Stimmung an die Zeit zurück. Tja, der Rotschopf war schon ein feiner Kerl.
Dann sah er an sich runter, rückte seine Kleidung zurecht und roch probeweise unter seiner Achsel. Kritisch verzog er das Gesicht. Aber es würde wohl gerade noch gehen, ohne unter den geruchsempfindlichen, piekfeinen Gelehrten und adretten Scolarios der anderen Fakultäten unangenehm aufzufallen.
Mit seiner Tasche unter dem Arm schlenderte er fröhlich pfeifend hinüber zu dem großen, unauffälligen Gebäude, das zwischen Akademie und dem Campo lag und das die größte Sammlung von Büchern und Schriftstücken von ganz Graçe und Mediana enthielt. Man fand dort Altes aus längst vergangenen Jahrhunderten, Neues und Zeitgenössisches aus der Gegenwart und Rätselhaftes in allen möglichen fremden Sprachen, und Raen bereute es, die Bibliothek von Borgossa nicht schon früher für sich entdeckt zu haben. Sie enthielt Wagenladungen von Antworten auf die meisten seiner Fragen. Und in letzter Zeit konnte man ihn in den Momenten, die ihm frei zur Verfügung standen, immer eher hier zwischen den Büchern antreffen, als auf dem Übungsplatz bei Wolfskopfspiel und Schwertübungen. Aber nicht nur all das gebündelte Wissen, das hier zu finden war, lockte ihn hierher, sondern auch seine neue Aufgabe, die er sich gestellt hatte.
Das erste Mal war er mit Prinzessin Keï hierher gekommen. Sie hatte ihn wie so oft dazu überreden müssen, aber schließlich hatte sie seinen Wiederstand gebrochen, ihn bei der Hand genommen und ihm alles gezeigt. Und bald hatte er seine Scheu vor der unnahbaren Ehrwürdigkeit der Bücher abgelegt und begonnen wie selbstverständlich in ihnen zu blättern und zu lesen. Er war in die Wunderwelt des Wissens eingetaucht und hatte davon gar nicht mehr genug bekommen können.
Eine Zeit lang hatte Manoen sich über ihn lustig gemacht, wie es seine Art war, wenn er Raens Beweggründe nicht so recht durchschaute. Der Rotschopf mochte Bücher nicht - wohl, weil er sie mit der ständigen Paukerei in Verbindung brachte, die er so verabscheute, da sie ihn vom wahren Extrakt des Lebens abhielt: Dem Vergnügen.
Dass Raen hingegen gerne lernte, schien ihm gar nicht erst in den Sinn zu kommen.
Aber der Jüngere hatte sich vom Spott seines Freundes nicht beirren lassen und seine Nase weiterhin in die Bücher gesteckt. Dabei war ihm eines Tages etwas ganz Besonderes in die Hände gefallen. Zu allererst hatte sein Interesse vornehmlich Berichten über sein eigenes Volk gegolten, doch er hatte schnell feststellen müssen, das es nicht viel über Hy gab, das man nachlesen konnte. Und das, was er gefunden hatte, waren lediglich heillos übertriebene Vorurteile und haarsträubender Irrglauben gewesen. Da er mittlerweile sehr gut im Graçenischen bewandert war, war es auch ausgeschlossen, es falsch verstanden zu haben. Stirnrunzelnd über diese sonderbar verquere Betrachtung seines Volkes hatte er die Schriften zur Seite gelegt und sich schließlich dem ärgsten Feind Hys gewidmet. Über das Königreich Askhar war schon wesentlich mehr zu erfahren gewesen. Wochenlang hatte er sich damit beschäftigt und dann eines Tages zwischen einigen Niederschriften, die in Askhari verfasst waren, ein Buch gefunden, das die Sprache der Askharer ins Graçenische übersetzte, Wort für Wort auf unzähligen Seiten. So etwas hatte er noch nicht gesehen: Ein Buch, das es möglich machte, die fremde Zunge zu erlernen, ohne einen Lehrer dafür zu benötigen, oder sich monatelang abzumühen. Fasziniert hatte Raen in dem Buch gestöbert und sich unwillkürlich an den lächerlichen Fetzen Pergament mit den paar gekritzelten Worten Graçenisch darauf erinnert, den man ihm mitgegeben hatte, als er nach Borgossa geschickt worden war. Warum hatte er damals auch nicht solch ein Buch gehabt? Dann wäre alles viel einfacher gewesen. Unvermittelt war ein lange vergessener Ärger in ihm erwacht. Wie hatten sie ihn nur so unvorbereitet und ahnungslos gehen lassen können?
Heftig erregt hatte er die Schränke und Truhen durchsucht, die ihm der Verwalter der Bibliothek zugewiesen hatte, nachdem er sich bei ihm über Wörterbücher erkundigt hatte, aber er hatte kein einziges Wörterbuch über die hyaunische Sprache gefunden. Alle möglichen Übersetzungen ins Graçenische hatte er aufgetan, sogar eine für Ohaoudi, aber in seiner Sprache schien keine zu existieren.
‚Das erklärt das Ganze vielleicht’, hatte er gedacht und sich wieder etwas beruhigt. Es gab einfach kein Wörterbuch, welches das Hyaunische in irgendeine andere Sprache übersetzte. Nachdenklich hatte er sich auf den Stuhl, der dort an einem Studierpult stand, niedergelassen und mit dem Zeigefinger auf das Holz geklopft. Es hatte nicht lange gedauert und sein Entschluss hatte festgestanden:
Er würde dieses Wörterbuch verfassen! Er, Raen Shari, würde dazu beitragen, dass in Zukunft niemand mehr nach Borgossa geschickt werden würde, ohne sich vorher darauf vorbereiten zu können! Ein solches Wörterbuch konnte als eine wirklich sinnige Verbesserung für alle betrachtet werden. Und es spiegelte weitaus mehr seine friedliebende hyaunische Seele wieder, als neue Kriegstaktiken zu lernen.
Seitdem war Raen ständig auf der Suche nach neuen Wörtern, die er sich zuerst von Jovani oder Anthones erklären ließ und dann zu seinen Listen hinzufügte. Doch sein neuer Zeitvertreib war auch recht kostspielig, und seine eigenen Mittel waren schnell erschöpft. Er hatte sich einen Förderer suchen müssen, der die Mengen an Tinte und Pergament bezahlte, und hatte diesen schließlich in Baeli gefunden, der sich als Hausvorstand von der außerordentlichen Bedeutung eines Wörterbuches hatte überzeugen lassen und dafür gerne einen Teil von Sels Preisgeld hergab.
Raen lächelte bei diesem Gedanken in sich hinein. Sel musste vor Wut kochen, weil sein Geld nun doch noch seinem Erzrivalen zugute kam.
‚Soll er doch‘, dachte er nicht ohne gewisse Häme und betrat das Bibliotheksgebäude, in dem es immer stickiger wurde, je höher man die Treppen stieg. Im ersten Stockwerk wandte er sich nach rechts in den Südflügel. Zielstrebig manövrierte er durch die unübersichtlichen Gänge mit Wänden aus Büchern und fischte kurz darauf das askharische Wörterbuch aus einem offenen Regal in jenem Teil des Raumes, der den ausländischen Schriften vorbehalten war. Dann ging er in den angrenzenden Raum, der Studiarium genannt wurde, weil sich hier die Studenten und Gelehrten sammelten, um in den Werken zu lesen. Es war etwas kühler, weil die Fensterläden fast immer geschlossen waren, aber da es später Nachmittag warbund somit die bevorzugte Studierzeit, waren viele der Tische und Lesepulte belegt. Doch Raen hatte Glück und fand noch einen freien in der hinteren Ecke. Kaum einer der anderen Studenten sah von seiner Lektüre auf, als er durch die Reihen ging und die Öllampe entzündete, die auf jedem der Tische stand. Alsdann kramte er sein Schreibzeug und Pergament hervor und setzte sich. Er öffnete das Tintenglas und nahm die etwas zerzauste Feder zur Hand. Das Schreiben mit diesem Gerät war ihm zu Anfang äußerst schwergefallen, denn die dünnflüssige Tinte und die biegsamen Federkiele, die ihren Inhalt empört ausspuckten, wenn man sie zu fest bog, oder zu sehr über das Papier kratzte, hatten ihn fast bis zur Verzweiflung getrieben. Seine ersten Mitschriften waren daher eine fürchterliche Kleckserei gewesen, wonach die Tinte eher an seinen Fingern zu finden gewesen war, als in Form von Worten auf dem Papier. Daheim in Hy hatten sie zum Schreiben einen Pinsel oder einen Holzgriffel benutzt, das war viel einfacher gewesen, aber derweil hatte er die nötige Übung und das Fingerspitzengefühl erlangt und schrieb ganz passabel.
Er nahm sich eine noch unfertige Liste vor, schlug das Wörterbuch auf und suchte den Begriff, bei dem er das letzte Mal aufgehört hatte. Dann setzte er die Feder auf das Pergament und schrieb: „Monte - Ghan.“
Und weil es nicht so viel mehr Aufwand bedeutete, fügte er gleich noch die askharische Bedeutung hinten an: „Bulek.“ Der Berg. Voller Eifer leckte er sich über die Lippen und fuhr fort: „Montuoso - ghansei - bulekis.“ Bergig.
Später einmal, so dachte er, würde er sein Werk von einem Kopisten vervielfältigen und es als Buch fertigen lassen - aber das Geld dafür würde er Baeli zuvor auch erst noch abschwatzen müssen. Ein Exemplar würde er dann feierlich dem Hytena vermachen und eines der Bibliothek von Borgossa. Den Rest würde er mit in die Heimat nehmen, wo er es hoffentlich mit dem gewünschten Erfolg und nicht ganz ohne Stolz an die Priesterschaft übergeben würde.
Ein seliges Lächeln huschte über seinen versunkenen Ausdruck, während die Listen Wort für Wort in die Länge wuchsen.
Als Raen das nächste Mal von seiner Arbeit aufsah, stand Manoen neben ihm. Er hatte ihn offenbar etwas gefragt, denn sein Gesichtsausdruck sah aus, als erwarte er eine Antwort.
„Was ist?“, fragte Raen flüsternd. „Hast du endlich meinen Rat befolgt, dich auch mal hier blicken zu lassen?“
Manoen schüttelte den Kopf, sah sich unbehaglich in dem gut gefüllten Studiarium um, und antwortete dann: „Mann, es ist schon fast dunkel draußen!“
„Ja, und?“
„Uberth wird dir den Kopf abreißen, wenn du nicht kommst! Und mir gleich mit! Alle sind schon da, nur du nicht“, entgegnete er etwas zu laut und einige der anderen Lesenden schauten missbilligend auf.
Raen schlug sich mit der flachen Hand vor den Kopf. „Die Strafeinheit, bei Hyaun, ich hätte sie beinahe vergessen! Danke, dass du mich daran erinnerst!“
„Nicht der Rede wert, aber jetzt komm endlich!“ Manoen machte eine ungeduldige Handbewegung, und Raen räumte schnell seine Sachen zusammen, verstaute sie unordentlich in seiner Tasche, als ihm lieb war.
Ohne die Öllampe zu löschen, hasteten sie schließlich aus dem Raum und die Treppe hinunter.
Draußen war es tatsächlich schon dunkel, und als sie den Übungsplatz erreichten, standen dort bereits schattenhafte Gestalten in Reih und Glied. Doch noch bevor sich die beiden Hy unauffällig dazu stellen konnten, donnerte Uberths Stimme von hinten in ihre Nacken: „Shari und Shajun, dass ihr auch noch kommt und uns mit eurer Anwesenheit beehrt!“ Es klang ganz und gar nicht freundlich, und Raen und Manoen duckten sich schnell in die Reihe.
„Verzeiht die Verspätung, Maestro Uberth, es war meine Schuld!“, brachte Raen zerknirscht hervor.
„Oh, das ist gut, dass du das gleich zugibst. Dann wissen die anderen wenigstens, wem sie die ersten fünf Strafrunden zu verdanken haben! Darf ich bitten, meine Herren!“
Alle murrten laut vernehmlich, setzten sich aber sofort in Bewegung. Und bald waren nur noch das Knirschen der Schuhe im Sand und das rhythmische Atmen der Läufer zu hören, während der Mond langsam zwischen den schwarzen Spitzen der Zypressen aufging.
Nach den fünf Runden schickte sie Uberth zum Zeughaus, wo sich alle den schweren Brust- und Rückenschutz aus Vollmetall anlegen mussten. Raen ahnte nichts Gutes und behielt damit recht. Zurück auf den Platz malträtierte Uberth sie mit Kräftigungsübungen bis der Mond einmal halb um das Karree gewandert war und sich nun über dem südlichen Horizont allmählich herabsenkte. Raen war am Ende. Nicht etwa, weil er müde war, nein, im Gegenteil, er war hellwach. Aber nachdem er mal bäuchlings, mal rücklings über der Erde in unzähligen Dutzenden von Durchgängen sein Körpergewicht und das des Brustpanzers stemmen musste, waren die Muskeln seiner Arme kurz davor, den Dienst zu verweigern. Mehrmals hatte er versucht, etwas langsamer zu machen und gehofft, Uberth würde es in der Dunkelheit nicht sehen, aber der Maestro hatte nicht nur die Stimme einer Krähe und die Beharrlichkeit eines Fischreihers, der stundenlang auf einem Bein im Wasser stehen konnte, er hatte dummerweise auch noch die Nachtsicht einer Eule. Sobald einer seiner Studenten auch nur einen Atemzug träger wurde, kam er wie aus dem Nichts herbei geschossen, schrie denjenigen zusammen und hielt ihm vor Augen, wie armselig es sei, höhere militärische Ränge anstreben zu wollen, wenn man es noch nicht einmal schaffte, die Strafe eines einfachen Soldaten zu bewältigen. Allein das schien Motivation genug, dass selbst die verwöhnten Herzogssöhne plötzlich all ihren Ehrgeiz mobilisierten und verbissen kämpften.
Nebenher fand Raen an dieser übertriebenen Tortur aber auch etwas Positives, denn diese Nacht musste er sich wenigstens nicht mit dem Blutpferd herumschlagen.
„Ich kann nicht mehr! Soll mich die Krähe doch rausschmeißen, es ist mir egal“, keuchte Manoen neben ihm.
„Reiß dich zusammen! Du bist hundertmal besser als die ganzen schlappen Grünschnäbel hier. Enttäusch mich nicht!“, feuerte Raen seinen Freund an, und noch im gleichen Moment hallte Uberths Stimme durch die Dunkelheit wie ein Peitschenhieb. Doch sie galt nicht ihnen. Es war die Prinzessin, die wieder einmal des Maestros schlechte Laune zu spüren bekam.
„He, Karima-Esala, glaub ja nicht, dass ich auf dich besondere Rücksicht nehme. Für mich bist du wie jeder andere von diesen Jammerlappen hier! Also, beweg deinen Arsch, oder du bist raus!“
Raen konnte nicht sehen, wie die Prinzessin die Zähne zusammenbiss und sich weiterquälte, aber er meinte ihren zähen Willen spüren zu können, und obwohl er selbst eine kleine Aufmunterung gebraucht hätte, wandte er den Kopf zu Manoen und flüsterte: „Wir werden nicht vor der Prinzessin schlapp machen, ist das klar! Komm, wir schaffen das!“ Er biss ebenfalls die Zähne zusammen und drückte sich hoch. Angestrengt stieß er den Atem aus und ließ sich wieder sinken. Dann stemmte er erneut und atmete aus. Trotz der kühlen Nachtluft lief ihm der Schweiß über das Gesicht und tropfte von seiner Nasespitze. Noch einmal. Er ließ sich sinken und presste sich hoch. Er verharrte kurz, denn er hatte das sichere Gefühl, dass das nächste Mal definitiv sein letztes Mal sein würde. Er ließ sich langsam runter und wollte sich hochstemmen, doch wie befürchtet gehorchten ihm seine Arme nicht mehr, und er stieß unsanft mit dem Kinn im Sand auf.
‚Es ist aus’, dachte er gleichgültig. ‚Ich werde jetzt einfach schlafen, ganz egal was passiert. Manoen, halt wenigstens du durch.’ Doch der erwartete Anpfiff von Uberth kam nicht, stattdessen krächzte er für alle das Kommando über den Platz, sich erheben zu dürfen und zu verschnaufen.
Die Wange im rauen Sand schloss Raen die Augen und dankte Hyaun.
Doch die Nacht war noch nicht zu Ende. Irgendwann packte ihn Manoen an den Schultern und zog ihn hoch.
„Komm schon, es geht weiter!“
„Was denn jetzt noch? Lass mich doch einfach. Uberth übersieht mich vielleicht!“, seufzte Raen matt und ließ sich hängen wie ein nasser Sack.
„Davon träumst du. Los, hoch mit dir!“
„Aber ich kann meine Arme nicht mehr bewegen. Wirklich nicht!“
„Die brauchst du auch nicht mehr. Wir gehen jetzt nämlich marschieren.“
Raen richtete sich auf und stöhnte. ‚Marschieren? Wahrscheinlich durch die ganze Stadt, was?’, dachte er zynisch, aber Manoen zog ihn schließlich einfach mit sich, und nachdem sich alle in Formation aufgestellt, und Uberth durchgezählt hatte, bekamen sie von ihm den Befehl, vorweg zu laufen. Krähe selbst ritt bequem auf seinem Schimmel hinterher und rief die Kommandos nach vorn, wo die Scolarios dann entweder links, rechts oder weiter geradeaus zu stiefeln hatten. Und tatsächlich verließen sie strammen Schrittes geradewegs das Gelände der Akademie und den Campo der Universität.
Zum Glück hatten Raens Beine noch Kraft und sie trugen ihn verlässlich in einer Reihe mit Manoen zu seiner Rechten und mit Taghat zu seiner Linken durch die dunklen Gassen von Borgossa.
„Weißt du, wo wir eben vorbeigekommen sind?“, fragte Manoen nach einer ganzen Weile. Sie durchquerten gerade das stille La Gioia, das um diese Stunde schon längst alle Lampen gelöscht hatte und schlafen gegangen war.
„Na, an deiner Lieblingsspelunke, schätze ich mal.“
Manoen nickte in der Dunkelheit. „Ja, fast richtig. Ich war seit langem mal wieder bei Jeja, meiner kleinen Wüstenblume. Konnte es mir bisher nicht leisten, aber gestern haben wir ja unser Geld von Baeli bekommen und da konnte ich endlich wieder hin. Außerdem wollte ich Taghat mal zeigen, welch zauberhafte Schönheiten es hier so gibt, nicht wahr Taghat?“, rief er hinter Raens Nacken zu dem Jungen hinüber.
Raen rollte mit den Augen, ob der Lautstärke, die seine müden Ohren traf.
„Komm zur Sache, Manoen“, brummte er missgelaunt. Verständlicherweise hatte er momentan keine besonders große Lust auf das übliche Frage- und Antwortspielchen seines Freundes.
„Sie ist schwanger“, sagte Manoen, und es klang ganz und gar nicht begeistert.
„Und du bist der Vater?“
„Nein, ich denke nicht. Und wenn es so wäre, wäre es mir egal.“
„Tatsächlich? Und was, wenn das Kind mit roten Haaren zur Welt kommt?“ Raen fand die Vorstellung von einen schwarzhäutigen Kind mit roten Haaren sehr amüsant.
„Das ist doch schließlich ihr Problem, oder nicht. Sie nimmt doch Geld dafür.“
Raen seufzte. Manoen hatte manchmal keinen Funken Anstand im Leib.
Der Rotschopf deutete sein Schweigen indes richtig und blaffte zurück: „Und du hast noch nie eine Hure geschwängert, oder was?“
Die Scolarios vor ihnen drehten neugierig die Köpfe.
„He, brüll hier nicht so rum, ja!“, rief Raen ihn zu recht. Die Prinzessin war nur zwei Reihen weiter vorne, und er wollte nicht, dass sie es auch hörte. „Ich weiß zumindest von keiner, die ich geschwängert haben könnte“, sagte er ganz leise. Unwillkürlich musste er an Suneka denken, und sein schlechtes Gewissen durchbohrte seine Brust wie ein Pfeil. Wie lange hatte er schon nicht mehr intensiv an sie gedacht? Er strich sich den erkalteten Schweiß von der Stirn und gab diesen unbehaglichen Gedanken nur unwillig freien Lauf. ‚Gib es doch zu, du weißt es nicht! Du bist ein elender Liederjan!’, beschimpfte ihn seine innere Stimme. Seine Liebste saß zu Hause und wartete auf ihn, und er hatte nichts Besseres zu tun, als darüber nachzusinnen, ob er eine Hure geschwängert haben könnte, oder nicht. Dabei wusste er doch, wie sehr Suneka sich ein Kind wünschte. ‚Aber es bringt doch auch nichts, den ganzen Tag nur an sie zu denken und dann selbst vor Liebeskummer zu vergehen!’, versuchte er sich selbstentschuldigend einzureden und verdrängte dabei geschickt die Tatsache, dass das Schicksal Suneka einen Mann beschert hatte, der sich gar nicht so sicher war, ob er überhaupt Kinder haben wollte und sich um diese Entscheidung eigentlich nur zu gerne drückte.
Raen bemerkte, dass sein Freund neben ihm schmollte. Er gab sich einen Ruck: „Manoen, versuch doch endlich einmal etwas Besseres zu finden. Ich meine, ein anständiges Mädchen, keines aus La Gioia.“
„Du hast leicht reden. Du kehrst zurück in deine kleine heile Welt, heiratest deine Liebste und kümmerst dich um deinen Nachwuchs.“
‚Meine kleine heile Welt?’, dachte Raen bitter. Nein, da täuschte sich sein Freund, das war seine Heimat mittlerweile längst nicht mehr.
„Und der dumme, tollpatschige Rotschopf bleibt hier und vergnügt sich weiter in La Gioia, weil er nichts Besseres findet“, sprach Manoen frustriert weiter.
„Dann geh’ zurück nach Hy und such’ dir dort eine Frau!“ Raen wusste nicht, in was für einer Krise sein Freund da wieder steckte. Bisher hatte er das Gefühl gehabt, Manoen sei mit dem Lotterleben, das er in Borgossa führte, eigentlich ganz zufrieden, deshalb verwunderte ihn dessen Verdruss jetzt.
„Ich soll zurück nach Hy? Ich?“ Manoen tippte sich mit dem Finger zuerst auf die Brustplatte und dann an die Stirn.
„Warum nicht?“, zuckte Raen mit den Schultern. „Du bist doch schon lange genug hier und hast deine Aufgabe bereits mehr als erfüllt. Was hält dich davon ab, zurückzugehen?“
„Ach!“, winkte Manoen missgelaunt ab und beschloss, nicht mehr weiterzusprechen.
‚Na schön, auch gut’, dachte Raen, ‚Irgendwann wirst du es mir vielleicht einmal erklären.’ Er richtete seinen Blick wieder auf den Rücken seines Vordermannes und versuchte, an nichts mehr zu denken, außer seine Beine in Bewegung zu halten.
Als sie später schweigend, nur noch stumpfsinnig einen Fuß vor den anderen setzend, den Hafen erreichten, erblickten sie am östlichen Horizont einen hellen Streifen über dem grauen Meer.
‚Bei Hyaun, die Dämmerung, wir sind erlöst!’, dachte Raen, blieb stehen und stützte seine Hände auf die Oberschenkel. Apathisch starrte er auf den sich langsam rotfärbenden, wolkenlosen Himmel hinter dem Gewirr von Masten.
Manoen war ebenfalls bis zur Gänze erschöpft, aber auch ein wenig stolz. „Wir haben es geschafft, Raen!“, kicherte er beinahe hysterisch und boxte ihn immer wieder auf den Oberarm. Er schien sich von seiner schlechten Laune erholt zu haben. „Wir haben es geschafft!“
Raen schüttelte müde den Kopf, er war blass, und um seine Augen hatten sich graue Ringe eingegraben. „Wir haben es erst geschafft, wenn wir wieder auf dem Campo sind. Denn dorthin müssen wir erst noch zurücklaufen, du Dummkopf!“
Manoen kratzte sich am Nacken. „Oh nein, daran hab ich gar nicht gedacht! Aber weißt du was, wir suchen uns hier im Hafen jemanden, der uns mit seinem Kahn zumindest bis zum Porto Mercado bringt.“
„Klingt ausnahmsweise einmal nach einer guten Idee, doch sehe ich hier leider niemanden.“ Raen blickte sich um. Es war noch vor dem ersten Hahnenschrei, im Hafenbecken dümpelten die Schiffe an ihren Tauen verlassen vor sich hin, und zwischen dem Abfall auf der Uferstraße erwachten gerade erst die streunenden Hunde. Nur die völlig zerstörten Scolarios, die sich, nachdem Uberth sie entlassen hatte, wo sie standen auf die Planken des Kais niedergesetzt hatten, waren die einzigen Menschen weit und breit, die man annähernd als wach bezeichnen konnte.
„Wo ist Taghat?“, fragte Raen.
„Da hinten, er kotzt sich die Seele aus dem Leib. War wohl ein bisschen viel für den Anfang.“
Raen empfand wenig Mitleid. Er sah Manoen an, und der schien sich an seine Idee zu erinnern.
„Warte hier, ich finde schon jemanden, der uns fährt“, sagte er und machte sich springlebendig davon. Raen fragte sich, woher er die Energie nahm. Er sah sich erneut um und setzte sich dann auf einen Stapel Holz vor einer Hauswand. Mit dem Rücken lehnte er sich zurück. Es stank nach Fisch und Pisse, aber es war himmlisch, nicht mehr stehen zu müssen.
Er öffnete die Augen erst wieder, als sich jemand neben ihm niederließ. Aber es waren nicht Manoen oder Taghat, sondern die Prinzessin. Sie versuchte ein Lächeln, doch es gelang ihr nicht. Ihr Gesicht war trotz ihrer dunklen Hautfarbe aschgrau und ihre Augen schienen winzig klein.
„Ihr habt es geschafft“, sagte Raen überflüssigerweise, und sie nickte. „Trotz Uberths Schikane, alle Achtung.“
Jetzt erhellte doch ein Lächeln ihre blassen Züge.
„Ich fand es nicht gut, dass er besonders Euch dauernd drangsaliert hat.“
„Oh, aber ich schon!“
Überrascht sah Raen sie an.
„Ich weiß, warum er das gemacht hat, und dafür bin ich ihm sogar dankbar“, erklärte Keï, doch Raen verstand immer noch nicht.
„Seht doch mal, jeder hat gesehen, dass ich wie ihr Kerle Uberths gefürchtete Straflektion überstanden habe, dass ich genauso gekämpft habe. Keiner wird jetzt mehr sagen, ich sei ein schwaches Weib und hätte hier nichts verloren. Sie werden in Zukunft hoffentlich etwas mehr Respekt vor mir haben. Vielleicht sogar auch dieser eingebildete, junge Schnösel!“
Ihre Argumentation war einleuchtend, doch Raen war immer noch skeptisch, was Uberth betraf. „Seid Ihr Euch sicher, dass Krähe es tatsächlich so gemeint hat?“
„Ja, bin ich. Uberth ist ein hervorragender Maestro, ich schätze ihn sehr. So, wie ich Euch sehr schätze.“ Sie lächelte wieder und blinzelte in das erste Licht der Sonne, die soeben glühend rot aus dem Meer gestiegen kam.
Raen sah sie verwirrt an, doch bevor er etwas sagen konnte, hörte er Manoen rufen.
„He, Raen, los, komm, ich habe einen gefunden, der uns fährt!“ Fröhlich winkte der Hüne vom anderen Ende des Kais.
König Katthike trat aus dem großen Zelt, das während des Feldzuges als sein Quartier diente. Es war luxuriös ausgestattet und enthielt in einer hinteren Apsis sogar ein Bad.
Er blickte in den Himmel. Das Wetter war mies, aber das machte ihm heute ausnahmsweise einmal nicht so viel aus. Seine Laune war trotzdem glänzend, denn soeben hatten die Herzöge der Baschai ihm über einen Boten ihre Kapitulation mitgeteilt. Der arme Bursche hatte vor Angst am ganzen Leib gebebt und kaum ein Wort hervorgebracht. Wahrscheinlich hatte er zu viele Gerüchte darüber gehört, dass bisher noch niemand - weder unliebsame Boten noch Kriegsgefangene - das Lager der Askharer je wieder lebend verlassen hatte. Aber Katthike war kein Unmensch, und gute Nachrichten stimmten ihn immer milde.
Den Boten hatte er mit der Aufforderung wieder zu dessen Herzögen geschickt, dass sie sich in zwei Tagen hier einzufinden hätten, um den Vertrag zu unterzeichnen, den sie mit Askhar abschließen würden. In freudiger Erwartung leckte Katthike sich in über die Lippen. Der Krieg war schneller vorüber und hatte wesentlich weniger an Geld verschlugen, als vermutet. Bhuras und Kanaima, dieses aberwitzig ungleiche Gespann, hatten sehr gute Arbeit geleistet. Sie waren wie einst Kasai und Lata zu ihren besten Zeiten, erinnerte sich Katthike mit etwas Wehmut an die ‚guten alten Tage’, in denen er sich blindlings auf seinen Freund Kasai hatte verlassen können. Aber wenn die Herzöge der Baschai in zwei Tagen brav den Vertrag akzeptierten, und nicht - was äußerst lästig wäre - aus irgendeiner Dummheit heraus darüber ihren Kopf verlören, dann hätten Bhuras und Kanaima einen ausgezeichneten Einstand gegeben und würden der königlichen Armee von Askhar in Zukunft noch viel größere Erfolge bescheren.
Aber vorerst brachte die Baschai zwei neue Provinzen ein, bestehend aus siebzehn steuerpflichtigen Lehen, und eine florierende Hafenstadt an der Schwarzen See mit guten Handelsbeziehungen, die bis weit in die fernen fremden Ostlanden reichten.
Katthike war damit sehr zufrieden. Sein Ruhm war jetzt schon größer als der irgendeines anderen askharischen Königs vor ihm. Selbst König Rendis Benthor der Eroberer, der vor über fünfhundert Jahren die wilden Stämme aus den Bergen an der Nordküste für Askhar gezähmt hatte, war neben ihm mittlerweile zu einem Waisenknaben verblasst. Doch Ruhm im eigenen Lande war für Katthike nicht alles, er wollte auch den Respekt der anderen Herrscher. Er wollte, dass die Könige von Graçe, Mediana, Sesa Noviè und wie sie alle hießen, tiefe Ehrfurcht empfanden, wenn sie seinen Namen hörten. Er wollte, sogar das überhebliche und selbstherrliche Ohaoud vor der Macht Askhars erzittern lassen.
Aber bis dahin war noch einiges zu tun, und er würde nicht eher ruhen, bis er seinem Sohn ein gesundetes und erstarktes Reich übergeben konnte, dem alle auf dem Kontinent ihre Achtung entgegenbrachten. Das Edikt zur Gesundung des Volkers hatte in den vergangenen zwei Jahrzehnten gut Fuß gefasst und war im Begriff, ihm endlich eine erste neue, von Grund auf starke Generation hervorzubringen, welche das künftige Askhar mit ihrer gesunden Lebenskraft zu einer neuen Blüte führen würde. Und Setna würde der König dieser Blütezeit sein. Der vollkommene Herrscher eines vollkommenen Volkes. Katthike bedauerte es ein wenig, diesen bedeutungsvollen und bewegenden Moment wahrscheinlich nicht mehr miterleben zu können, doch es wäre ganz allein sein Verdienst, und Askhar würde sich an ihn erinnern als den Mann, der Askhar mächtig gemacht hatte! König Katthike der I., der Erneuerer! Der Begründer des Wohlstandes!
Hinter dem König kam Setna aus dem Zelt und stellte sich neben seinen in Gedanken versunkenen Vater. Er hatte die Daumen in den Gürtel gehakt und sah ebenfalls sehr zufrieden mit sich und der Welt aus.
Da das Zelt auf einer kleinen Anhöhe stand, konnte man von hier aus die gesamte Zeltstadt des Lagers im abfallenden Gelände überblicken. In der Nacht hatte es stark geregnet, und die Zwischenräume zwischen den Zelten hatten sich in Schlammlöcher verwandelt, und auch jetzt noch hingen die Wolken so tief über ihren Köpfen, dass es aussah, als wollten sie jeden Moment erneut aufreißen und ihren Inhalt über sie ergießen. Einige Kochfeuer brannten mit nassem Holz und qualmten fürchterlich. Kaum einer der Soldaten ließ sich außerhalb seines Zeltes blicken. Der König bleckte kurz die Zähne. Nun wurde es ihm hier draußen doch ungemütlich, wie bei einem alten Kater, sträubte sich ihm sein Nackenhaar.
„Was für ein Sauwetter!“, knurrte er und zog den Kopf ein.
Setna blickte indessen über die riesige Zeltstadt, und ein Grinsen bemächtigte sich seiner Züge. Er war weit weniger empfindlich als sein Vater, ihm machte das bisschen Regen nichts aus. Überhaupt fand er sehr viel Gefallen an dem Leben im Feldlager. Der ganze Krieg war für ihn ein aufregendes Abenteuer - und der Spielgrund für seine brutalen Phantasien. In der Obhut seiner Leibwächter war er jeden Tag ausgeritten und hatte endlich die Heldentaten vollbracht, von denen er schon als Kind geträumt hatte. Hoch zu Ross war er durch die Reihen der feindlichen Fußsoldaten gepflügt und hatte mit dem Schwert in seiner blutgetränkten Rechten gewaltige Garben von Schlägen ausgeteilt. Und an jedem Abend eines solchen erfolgreichen Tages hatte er dann befriedigt auf das viele Blut auf seiner Rüstung hinabgesehen und selig gelächelt. Noch jetzt bekam er einen wohligen Schauer, wenn er an all die abgetrennten Gliedmaßen und rohen Stümpfe dachte, welche seine Opfer in grenzenlosem Entsetzen schreiend umklammert hatten. Er war wie ein Kind gewesen, dem kein Einhalt geboten worden war und das seine grausame Freude daran entdeckt hatte, einem Vogel bei lebendigem Leib die Flügel auszureißen, um dann neugierig dabei zuzusehen, wie er zu fliehen versuchte.
Wegen seiner gezielten Verstümmelung auf dem Schlachtfeld hatten ihm seine gleichaltrigen Kameraden einen neuen Spitznamen gegeben. „Fleischhauer“ nannten sie ihn jetzt halb ehrfürchtig, halb furchtsam, und Setna war stolz darauf, sich endlich einen solch blutrünstigen Namen gemacht zu haben, der bei seinen Landsleuten wie auch beim Feind gleichsam in aller Munde war. „Fleischhauer“, das war wirklich gut! Besser als Holzgesicht! Ein Schimmer des seligen Lächelns lag noch immer auf seinem Gesicht, als er seinen Blick weiter über die Zeltdächer schweifen ließ. Das Feldlager befand sich am östlichen Rand der großen Ebene der Baschai, die sich nach Westen hin bis zum Meer erstreckte. Sie hatten es an einem normalerweise sonnenbeschienenen Südhang der Hügelkette errichtet, welcher der ideale Ausgangspunkt für ihre Ausfälle in die umliegenden Ländereien und fruchtbaren Ebenen gewesen war. Die Herzöge der Baschai hatten ihnen nicht viel entgegenzusetzen gehabt, und so waren sie unaufhaltsam bis zu diesem Ort vorgedrungen und hatten sich hier niedergelassen, um von hier aus die Belagerung der Stadt Katayakant zu planen. Doch auch diese war unerwartet schnell zu Ende gewesen, nachdem die Stadtbewohner und ihre Obrigen die kleine, aber eindrucksvolle Armee von Katapulten gesehen hatten, die vor ihren Mauern Aufstellung bezog. Da war ihnen sofort klar gewesen, dass ihre schwachen Schutzwälle nicht lange standhalten würden und dass ihnen auch keine Verstärkung zu Hilfe käme, da die Truppen der Herzöge bereits zu weit zurückgeschlagen worden waren. Daraufhin hatten sie sich klugerweise ergeben, ohne auch nur einen Stein gegen die Angreifer geworfen zu haben.
Das war etwas, wie sein Vater sich ausgedrückt hatte, was er an der Baschai und ihrer Bevölkerung wirklich schätzte: Es gab hier erstaunlich viele kluge Leute. Setna hatte daraufhin mit böser Zunge behauptet, es sei schlicht Feigheit und Angst gewesen, welche die Menschen dazu bewogen hatten, aufzugeben, doch der König war geneigt gewesen, sie eher als einsichtig und vorausschauend zu betrachten. Mit ähnlich rührseliger Stimmung wie er hatte auch Setna nach der Kapitulation der Stadt auf die Katapulte geblickt, denn es waren genau jene Belagerungsmaschinen, die einst Kasai hatte bauen lassen. Sie waren dessen liebstes Steckenpferd gewesen und sie hatten dem ehemaligen Obersten General nach seinem Tod nun schließlich doch noch zu Ruhm gebracht.
„Wann wollt Ihr abrücken lassen?“, fragte der junge Prinz seinen Vater, nachdem er aus seinen Erinnerungen wieder aufgetaucht war.
„Erst wenn die Herzöge unterschrieben haben, und ich sichergehen kann, dass sie Askhar treu ergeben sind.“
„Aber das werden sie doch nicht allein durch eine Unterschrift und einen Schwur sein.“
Katthike lachte boshaft: „Oh doch, das werden sie ... wenn sie an ihrem Leben hängen. Und wenn nicht ... gibt es genug würdige Askharer, die nur darauf warten, ein Lehen von der Krone zu empfangen und an ihre Stelle zu treten.“
„Und was ist, wenn sie hinter Eurem Rücken eine neue Revolte planen? So wie sie es gegen ihren eigenen König vorgehabt hatten.“
„Ja, meinst du denn, ich würde sie vollkommen sich selbst überlassen? Das wäre wirklich etwas zu vertrauensselig. Ach, Setna, ich sehe, du brauchst noch etwas mehr Erfahrung in solchen Dingen. Vielleicht sollte ich dich doch noch zu Kanaima auf die Schulbank schicken.“
„Bloß nicht!“
„Warum nicht?“
„Ich bin Soldat und kein Theoretiker!“ Das letzte Wort betonte Setna abfällig.
„In erster Linie bist du der zukünftige König von Askhar! Und ich will nicht, dass du dich mit einem einfachen Soldaten vergleichst. Dir sollte bewusst sein, dass sich das für einen Mann in deiner Position nicht ziemt. Und im Übrigen hast du gefälligst immer noch das zu tun, was ich dir sage. Hast du das verstanden?“
Setna nickte und rollte kurz unbemerkt seine schwarzen Augen gen Himmel. Wann sah sein Vater endlich ein, dass er erwachsen war? Solche Reden schüchterten ihn schon lange nicht mehr ein.
„Ich werde jedem Herzog der Baschai einen askharischen Verwalter zur Seite stellen, der die Befugnisse hat, jederzeit die Bücher einzusehen. Außerdem werden die meisten Schlüsselpositionen mit meinen Männern besetzt sein. Dazu gehören der Stadtrat von Katayakant, die Statthalter der beiden Provinzen, denen alle Lehen treuepflichtig sein müssen, die Oberbefehlshaber der hiesigen Armee und das Oberste Gericht. Darüber hinaus wird ein Teil der Armee als Garnison hier bleiben und diesen Vorgang überwachen, bis die Baschai vollauf zu einem Teil Askhars geworden ist“, dozierte Katthike ungewöhnlich geduldig weiter. Es schien ihm äußerst wichtig zu sein, dass Setna verstand, was er tat. Denn seiner oft zitierten Meinung nach, gehörte zum Krieg nicht nur, wild das Schwert zu schwingen und dem Feind das Fürchten zu lehren, sondern auch das, was danach kam: Erobertes Territorium zu festigen. Erst dann gehörte es zum Königreich.
„Und um diese Festigung so verlässlich wie möglich zu besiegeln, habe ich nicht nur den besagten Knebelvertrag, sondern auch noch ein anderes, ganz spezielles Vorhaben im Sinn“, erklärte Katthike in geheimnisvollem Tonfall und sah Setna an.
„Und welches ist das, wenn ich fragen darf“, wollte der Prinz mit unbehaglicher Miene wissen. Er mochte derartige Andeutungen seines Vaters überhaupt nicht.
„Das verrate ich dir, wenn es soweit ist.“
‚Wieder eine Überraschung’, seufzte Setna innerlich.
Zu Füßen des Hügels preschte eine Abteilung berittener Soldaten an ihnen vorbei, und Schlamm spritzte unter den Hufen auf. Sie grüßten den König und galoppierten weiter zum Lager hinaus.
Katthike verzog das Gesicht. „In drei Tagen kehren wir nach Askhari-Kaise zurück“, sagte er. „General Bhuras und Kanaima werden hierbleiben und sich um alles Weitere kümmern.“
„Aber, Vater, kann ich nicht auch hier bleiben?“, bat Setna und sah den König von der Seite an.
„Nein, du kommst mit mir! Unsere Anwesenheit ist hier nicht länger von Nöten. Bhuras und Kanaima werden Askhars Interessen angemessen vertreten.“ Katthike wandte seinen Kopf und sah Setna direkt in die Augen. „Ich weiß genau, wie sehr es dir hier gefällt, aber ich kann nicht zulassen, dass mein Sohn zu viel Vergnügen am ordinären Soldatenleben findet. Dein Platz ist an meiner Seite und nicht zwischen all diesen verkommenen, dreckigen Söldnern und dem tumben Lagergesindel! Auf dich wartet in Askhari-Kaise eine andere Aufgabe. Eine viel wichtigere als diese hier.“
Setna fragte seinen Vater gar nicht erst, um welche Aufgabe es sich handelte, er hätte es ihm sowieso nicht verraten. Er nickte ihm gehorsam zu, obwohl sein Inneres nach etwas ganz anderem schrie.
Katthike lächelte zufrieden zurück, machte dann kehrt und verschwand wieder im Zelt, wo immer noch geduldig der Oberste Berater Lata auf seinen König wartete.
Draußen verzog Setna wütend das Gesicht, nicht nur weil ihn die ständige Bevormundung seines Vaters wurmte, sondern auch weil Kanaima plötzlich einen Rang als Stellvertreter zugesprochen bekam. Das war ihm nicht nur ein einzelner Dorn, sondern gleich ein ganzer Baum im Auge! Wie hatte dieser falsche Gelehrte, der als gerade mal zwölfjähriger Bursche einen heimtückischen Anschlag auf ihn, einen unschuldigen, wehrlosen Dreijährigen, verübt hatte, es vollbracht, dass sein Vater ihm wieder vertraute? Er sei geläutert und zur Vernunft gekommen und hätte überaus großes Wissen erlangt, erklärte Katthike ihm immer wieder, wenn Setna ihn wieder einmal danach fragte. Aber der junge Prinz fand diese Antwort natürlich unbefriedigend. Er spürte, dass mit Kanaima irgendetwas nicht stimmte. Warum nur spürte das sein Vater nicht? War er so geblendet von dem vornehmen und kultivierten Auftreten des Akademicus’? Zugegeben, Kanaimas Erscheinung war recht beeindruckend und gefällig, doch Setna meinte, hinter die Fassade blicken zu können und dort etwas entdeckt zu haben, das nicht mit dem äußeren Anschein des schlichten Gelehrtentums übereinstimmte. Er wusste noch nicht, was es war, aber dass dort etwas war, davon war er überzeugt. Er musste nur noch seinen Vater irgendwie dazu bringen, ihm zu glauben. Vielleicht sollte er General Bhuras um Hilfe bitten, denn der konnte sein besserwisserisches Gegenstück bekanntlich ebenso wenig leiden und würde vielleicht mit in sein Vorhaben einsteigen, diesen lästigen Konkurrenten loszuwerden. Nur hier würde er nicht mehr bewerkstelligen können, mit Bhuras unter vier Augen zu reden. Er würde vorerst damit warten müssen, bis der General ebenfalls wieder nach Askhari-Kaise zurückkehrte. Und das konnte etwas dauern.
Den einsetzenden Nieselregen ignorierend wanderte Setna verdrossen den Hügel hinab zu den provisorischen Stallungen. Er wollte sich ein Pferd satteln lassen und um das Lager reiten. Solange er noch hier war, wollte er es genießen, ein siegreicher Feldherr zu sein.
Kanaima sah verdrießlich gen Himmel, als ihn die ersten Regentropfen trafen. Schlechtes Wetter drückte auf seine Laune. In diesem Punkt war er seinem Vater leider sehr ähnlich. Er zog sich die Kapuze seines schwarzen Umhanges über den Kopf und setzte seine Inspektion fort. Er war im Gefangenenlager, das im Gegensatz zu ihrem eigenen Lager kaum Zelte hatte und ein einziges Schlammloch war. Die Gefangenen, die das Glück hatten, von höherer Geburt zu sein, hockten dicht gedrängt unter den wenigen schutzspendenden Leinwänden der Zelte und die weniger Glücklichen im Morast davor, nass und frierend. Ein paar Feuer brannten, brachten aber nur denen den Komfort der Wärme, die in deren Nähe sitzen konnten. Es stank nach menschlichem Unrat und drohender Krankheit. Und bei derartigen Witterungsbedingungen war die Ruhr eine der gefürchtetsten Plagen, die ein Heerlager heimsuchen konnte. Kanaima war froh, dass die Gefangenen in wenigen Tagen entlassen werden würden, natürlich nur gemäß des Falles, dass die Herzöge auch so vernünftig waren und den Vertrag unterzeichneten.
Die Kriegsgeiseln waren ausschließlich Männer aus der Baschai, kaum ein fremdländischer Söldner befand sich unter ihnen, und viele von ihnen waren rangniedrige Adlige, aber auch ein paar Herzogssöhne waren ihnen ins Netz gegangen. Sie würden gutes Lösegeld bringen. Kanaima empfand etwas Mitleid für sie alle. Sie hatten sich um ihre Anstifter geschart, um sich gemeinsam ihre Unabhängigkeit zu erkämpfen und um anschließend einer hoffnungsvolleren Zukunft entgegenzugehen, und jetzt waren sie dabei, unter ein noch viel härteres Joch zu geraten. Als askharische Provinz würde die Baschai sicherlich noch strikteren Gesetzen unterliegen, als sie es zuvor getan hat. Die Idee von einem eigenen freien Staat war gut und stark genug gewesen, um die Menschen der Baschai als Einheit unter einem Banner zu versammeln, doch sie hatte eine Schwäche beherbergt. Sie hatten nicht mit einberechnet, dass ihr Bruch mit Adjan ihre Widerstandskraft gegen andere Völker gefährlich minderte. So konnte es gehen, wenn man nicht darauf achtete, was hinter seinem Rücken vor sich ging, dachte Kanaima. Die Bascharen waren so sehr damit beschäftigt gewesen, ihre Souveränität zu planen, dass sie nicht bemerkt hatten, wie die askharische Königsschlange sich unauffällig von hinten an sie herangeschlichen hatte. Und als sie sich dessen schlussendlich doch gewahr worden waren, war es zu spät gewesen. Der Biss der askharischen Schlange war tödlich!
Kanaima verließ das Zelt, dessen Insassen er soeben begutachtet hatte, und betrat das nächste. Hier und da sah er ein ihm mittlerweile bekanntes Gesicht, doch das, wonach er eigentlich Ausschau hielt, hatte er noch nicht gefunden, und langsam dachte er, er könne es aufgeben, hier nach ihm zu suchen: Dem Gefangenen, von dem die Prophezeiung sprach. Er hatte eine gewisse Hoffnung gehabt, ihn hier zu finden, doch diese musste er wohl jetzt begraben. Einen Sohn des Lichts schien es unter den festgesetzten Bascharen nicht zu geben.
Kanaima trat aus dem Zelt und stieß seinen angehaltenen Atem aus. Hier draußen war der Gestank zwar nicht unbedingt besser, aber dafür etwas weniger stechend. Nachlässig schritt er die Reihen der niederen Soldaten ab. Befahl hier und da jemandem, sein Gesicht zu heben und ihn anzuschauen, doch nichts in deren Augen wies auf eine höhere Bestimmung hin. Eigentlich hatte er sich auch nur noch ein letztes Mal vergewissern wollen, bevor das Gefangenenlager endgültig aufgelöst werden würde.
‚Und das hast du hiermit getan’, raunte eine Stimme in ihm. ‚Gib es auf, hier findest du ihn nicht!’ Kanaima befolgte seinen eigenen Rat und ließ sich die Zügel seines Pferdes reichen. Inzwischen hatte es sich eingeregnet, und er war froh, den schlammigen Hügel nicht zu Fuß erklimmen zu müssen, wo das Kommandozelt stand. Dort, so ahnte er, saß Lata bereits auf heißen Kohlen und wartete auf seine Unterstützung.
Ein Diener kündigte Kanaima beim König an, und er betrat mit gesäuberten Stiefeln das große Zelt. Der Boden war mit Brettern und trockenem Stroh bedeckt, und Katthikes Stuhl stand sogar auf einem Bärenfell. Einige Kohlebecken waren angezündet worden und verbreiteten angenehme Wärme. Kanaima verneigte sich leicht vor dem Tisch, an dem der König und sein Berater in ungezwungener Haltung saßen und heißen Würzwein tranken. Katthike forderte ihn auf, sich ebenfalls zu setzen, und er ließ sich auf einem der Stühle gegenüber von Lata nieder. Elmir, der Mundschenk, reichte ihm einen Weinkelch. Der tiefrote Inhalt dampfte und roch nach den Bitterkräutern, welche die Wirkung des Weins noch verstärkten. Dankbar für diesen heißen Göttertrunk legte Kanaima zuerst beide Hände um den silbernen Kelch, bevor er einen Schluck daraus nahm. Alle schwiegen, bis der Maestro sich an dem Wein gewärmt hatte und offen in die kleine Runde blickte.
„Konsultas Lata hat den Vorschlag gemacht“, begann Katthike, „die restlichen Kriegsreserven zu nutzen, um einen neuen Angriff auf Hy zu wagen. Er ist der Meinung, die Armee habe momentan die beste Moral für ein solches Unternehmen. Außerdem hält er es für einen großen Vorteil, dass alle Welt jetzt mit großer Sicherheit denkt, wir gäben uns mit der Eroberung der Baschai zufrieden. Er rät, diesen Moment auszunutzen.“
Kanaima tat überrascht und lehnte sich in seinem Stuhl interessiert vor. Auch Lata ließ nicht erkennen, dass er zuvor alles schon mal mit Kanaima besprochen hatte. Er blickte seinen König erwartungsvoll an.
„Was haltet Ihr davon, Maestro?“, wollte Katthike von seinem leiblichen Sohn wissen.
Kanaima faltete bedächtig seine Hände. „Nun, ich würde das als eine Idee ansehen, über die es sich lohnt, nachzudenken.“
Katthike forderte ihn mit einer kreisenden Handbewegung auf, weiterzusprechen.
„In der Tat, so hat mir der Schatzmeister berichtet, sind die Kassen derzeit noch gut gefüllt, und die Stimmung unter den Soldaten geradezu überschwänglich, so etwas sollte ein Kriegsherr stets ausnutzen ...“ Während Kanaima die Fakten aufzählte, tat Lata sich offenkundig schwer, seine Freunde über Kanaimas Fürsprache zu unterdrücken.
„Aber es gibt auch Argumente, die gegen einen solchen Feldzug sprechen!“, bekundete derweil Kanaima sachlich, und bei diesen Worten gewahrte er aus den Augenwinkeln, wie Latas Lächeln gefror.
Hatte der Konsultas tatsächlich gedacht, er würde ihn bedingungslos unterstützen?
‚Du wirst alt, mein Bester, alt und nachlässig! Aber du wirst lernen müssen, dass von uns beiden ich derjenige bin, der das uneingeschränkte Sagen hat! Schließlich werde ich der künftige König von Askhar sein und mich nicht von einem einfachen Berater gängeln lassen. So weit wird es nicht kommen, dass du dieses Spielchen auch mit mir treibst. Es genügt, dass Katthike deinen Einflüsterungen erliegt. Deine Ideen können allerdings auch mir ab und an recht nützlich sein, denke ich.’ Befriedigt ob seiner Macht, die er schon nach so kurzer Zeit über Lata hatte, sprach Kanaima weiter und sah dabei nur den König an.
„Wir wissen doch, dass die Hy durch ihr Orakel namens Al Setna stets gewarnt werden, wenn wir kommen. Es ist nicht möglich, sie zu überraschen. Jedes Mal stehen sie uns mit einer gleichwertigen Armee gegenüber.“
„Bei der Großen Eroberung damals wussten sie aber nicht, dass wir kommen!“, unterbrach Lata hitzig.
Katthike brachte ihn mit einer knappen, ärgerlichen Handbewegung zum Schweigen.
„Ja, damals vor zwanzig Jahren hat es tatsächlich diesen einen unerklärlichen Umstand gegeben, wo die Hy scheinbar ohne ihr Orakel gewesen sein müssen. Wie es jedoch zu jenem Umstand gekommen ist, wissen wir nicht, und es ist gänzlich unklar, ob dergleichen je wieder geschehen wird. Denn gemessen an den vielen Jahrhunderten der unüberwindbaren Wachsamkeit der Hy ist der damalige Verlust ihres Orakels - oder wie auch immer man das nennen mag - lediglich ein einziger, winzig kleiner Augenblick gewesen; ein Atemzug in den weiten Hallen der Götter. Es war ein unsagbarer Glücksfall, eben diesen einen Atemzug zu erwischen, in dem die Hy ohne Wehr waren. In Borgossa an der Akademie nennt man so etwas den caso impossibilé‚ den Fall des Unmöglichen. Und damit ist gemeint, dass allein die Götter ihre Finger mit im Spiel haben, nicht aber die Feldherren. Ein Feldherr sollte sich daher nur auf seine eigenen Fähigkeiten verlassen, keineswegs aber auf glückliche Umstände hoffen.“ Kanaima sah einmal von Katthike zu Lata und wieder zurück. „Ich will damit sagen, eine Vorbereitung auf einen Feldzug sollte sich nicht allein nur auf Glück stützen! Es benötigt viel mehr als das.“
Durch diese überaus gelehrten Worte besiegt, zog Lata sein Kinn ein und ließ seine Hände in den weiten Ärmeln seines feinen Höflingsgewandes verschwinden. Er sah glücklicherweise ein, dass eine Debatte mit dem Maestro niemals Früchte tragen konnte. Dem Wissen, das Kanaima sich auf der Akademie in Borgossa angeeignet hatte, hatte er nichts Sinnreiches entgegensetzen.
„Und wie sollte dann Eures Wissens nach eine Vorbereitung für einen solchen Feldzug aussehen?“, erkundigte sich Katthike etwas ungeduldig. Er war schon immer ein schlechter Zuhörer gewesen. Von seinem Mundschenk Elmir ließ er sich neuen Wein einschenken. Als dieser auch Kanaimas Kelch nachfüllen wollte, lehnte der Maestro ab, indem er seine Hand über die Öffnung hielt.
„Nun, wir müssen bedacht vorgehen.“ Kanaima erhob sich und ging ein paar Schritte vor dem Tisch auf und ab. Nun war er der Maestro und die beiden anderen seine Schüler. „Einfach auf die Grenze zustürmen, bringt nichts. Das haben wir beim letzten Vorstoß ja gesehen. Die Verluste dabei sind zu hoch. Nein, wir müssen ganz neu anfangen, etwas ganz Neues wagen und sollten alles vergessen, was wir zuvor versucht haben.“
„Etwas Neues?“, fragte Katthike skeptisch und zog dabei eine Braue hoch.
Abfällig dachte Kanaima, wie wenig sich die Askharer in ihrem Denken doch von den viel geschmähten Hy unterschieden; sie trennten sich genauso ungern von althergebrachten Verhaltensweisen. ‚Und gerade verhältst du dich wahrscheinlich genau wie ein hyaunischer Bauer, der einen neuen Pflug ausprobieren soll, mein lieber König.’
Um seine Gedanken zu tarnen, nickte Kanaima ernst und mit angemessenem Nachdruck.
„Zu allererst würde ich eine neue, genaue Betrachtung unseres Gegners empfehlen“, antwortete er schließlich.
„Und keiner kennt die Hy bekanntlich besser als ich!“, prahlte Lata, der scheinbar eine Lücke in Kanaimas Kenntnissen und seine Rückkehr in dieses Gespräch witterte. „In ganz Askhar werdet Ihr keinen finden, der mehr weiß als ich, denn ich bin der Einzige, der jemals selbst in Hy gewesen ist! Fragt mich etwas, und ich sage es Euch, Majestät. Ich weiß alles!“
„Aber Eure Informationen sind über zwei Dekaden alt, sie sind nicht mehr aussagekräftig“, vergalt Kanaima dem Konsultas seine Einmischung.
„In Hy verändert sich doch ohnehin nichts. In hundert Jahren würde es dort immer noch genauso sein wie heute!“
„Was lässt Euch da so gewiss sein? Warum sollte sich nicht auch in Hy etwas verändern? Alles verändert sich irgendwann.“
„Aber nicht in Hy! Ich weiß es!“
„Seht Ihr, und in eben dieser Annahme versteckt sich die Gefahr, sie falsch einschätzen. Wir verlassen uns zu sehr auf alte Märchen! Das ist schon einmal geschehen, und ich muss euch ja wohl nicht in diese Schmach erinnern.“
„Pah, Märchen?“, stieß Lata empört aus. „Wollt Ihr mein Wissen etwa als bloße Märchen abtun?“
„Lataaaa“, knurrte der König drohend dazwischen, „es wäre weitaus besser für Euer Wohlbefinden, wenn Ihr den Maestro jetzt endlich einmal ausreden ließet!“
„Aber, Majestät, mein Wissen ist von wesentlicher Bedeutung in dieser Sa-“
„SCHLUSS JETZT!“
„-che.“
Katthikes Faust krachte auf den Tisch, und Latas leerer Kelch kippte um und rollte von der Platte.
„Noch ein Wort von Euch und Ihr werdet Euch von dieser Zusammenkunft absentieren, Konsultas!“
Wie Kanaima erkannte auch Lata jenes jähzornige Funkeln in den Augen des Königs, das Gefahr verhieß, und der Berater besann sich. Ergeben senkte er den Blick. Eine seiner leichtesten Übungen, dachte Kanaima verächtlich.
„Maestro, fahrt fort“, entgegnete Katthike, nachdem er Lata noch einen langen, warnenden Moment über angestarrt hatte, und legte dann bedächtig die Fingerspitzen aneinander.
Kanaima räusperte sich etwas gestelzt, bevor er weitersprach. „Was uns also zunächst einmal wohlbekannt ist - und sich allein durch unser Zutun im Laufe der Jahre verändert hat, könnte man wohl sagen -, sind die Grenzen des hyaunischen Reiches: Im Westen haben wir keinen Zugang, da der Großkönig von Graçe sich aus verständlichen Gründen immer noch weigert, Verbände unserer Armee, die größer als hundert Mann sind, in seine Territorien zu lassen. Im Norden erwarten uns ähnliche Widerstände von Tan und Tschabastan, und der Osten lädt aufgrund seiner Steilküste und den davor liegenden Riffen nicht zu einer dortigen Landung ein. Es bleibt uns also nach wie vor nur der Süden. Doch die Grenze dort bietet, wie wir wissen, nur einen vernünftigen Zugang zum Hauptland: Den Doban-Pass. Der wiederum ist von dieser Mauer geschützt, die sehr stark und gut bewacht ist, auch das haben wir ja mittlerweile in Erfahrung gebracht. Askhars Armee hätte den Pass angreifen sollen, als die Mauer noch im Bau war, jetzt aber haben wir kaum noch eine Möglichkeit, sie zu bezwingen.“
„Hm, ja, es war damals eine schwere Wahl. Die Mittel - und das, was wir an Gold erbeutet hatten - wurden meines Ermessens nach eher für die Besiedelung Neu-Askhars benötigt, denn für die Aushebung einer neuen Armee. Es war die Zeit des Umbruchs, die viel Aufmerksamkeit meinerseits erforderte. Außerdem war meine Armee empfindlich dezimiert worden, zu jener Zeit am Pass. Man kann von Glück sprechen, dass die Hy damals nicht zurückgeschlagen haben“, räumte Katthike ungewohnt gedämpft ein, und das konnte man durchaus schon mit einer Rechtfertigung gleichsetzten, das wussten seine beiden Zuhörer.
„Ein durchaus nachvollziehbarer Entschluss, Majestät. Aber dennoch müssen wir jetzt nach anderen Durchlässen in diesem Gebirge suchen, wenn wir nach Hy hineingelangen wollen.“
„Vollkommen richtig, aber wie wir wissen, gibt es keine! Wir haben doch schon mehrmals danach gesucht.“
„Ja, weil es unter den falschen Gesichtspunkten geschehen ist, Majestät. Ein Pass, über den wir gefahrlos unsere gesamte Armee führen können, existiert nicht, das ist richtig ... deshalb müssen wir uns einen bauen!“
„Einen Pass bauen?“, entfuhr es Katthike entgeistert.
Kanaima verzog die Lippen zu einem nachsichtigen Lächeln. „Ja, bauen. Jene Übergänge müssen in ihrer Natur derart beschaffen sein, dass sie es uns erlauben, sie heimlich zu verbreitern. Sie müssen so angelegt sein, dass sie so lange wie möglich unentdeckt bleiben. Und ich spreche hier von mindestens drei denkbar weit von einander entfernt liegenden Stellen, die wir benötigen, um die Verteidigung der Hy entscheidend wirksam auseinanderzuziehen.“ In einer Prüfung von Im’Shumalayan hätte er es nicht besser erörtern können, erinnerte sich Kanaima mit durchaus berechtigtem Stolz an die Auszeichnung, die er damals nach seinem erfolgreichen Abschluss von dem ehrwürdigen Maestro erhalten hatte: Scolario, eccellente!
„Aber ein solches Unterfangen dauert Jahre, wenn nicht Jahrzehnte!“, rief Katthike aus. „Das ist unmöglich!“
„Nein, nicht unmöglich, lediglich unkonventionell. Aber es ist die einzige Möglichkeit, Hy ein für alle Mal zu besiegen! Ich hatte gedacht, dass es das ist, was Ihr wünscht. Entweder wir nehmen es ganz, oder wir brauchen es erst gar nicht zu versuchen! Mit kleinen Brocken können wir uns nicht mehr zufriedengeben! Askhar muss sich weiterhin Respekt verschaffen, und das geht nur noch mit Kriegen in respektabler Größe! Ferner bringen wir gleich jene zum Schweigen, die sich anmaßen, am lautesten über uns lachen!“ Kanaima hatte absichtlich etwas betonter gesprochen, um seinen Worten einen entsprechend entschlossenen Ausdruck zu verleihen, doch jetzt senkte er seine Stimme wieder. „Dies ist nur ein Vorschlag, den ich Euch unterbreite, Majestät. Ihr müsst ihn nicht in Betracht ziehen, wenn Ihr es nicht wollt.“ Er sah dem König direkt in die Augen, und sein Blick hielt dem eisblauen Strahl des bösen Spottes stand, den er schon in seiner Kindheit begonnen hatte zu hassen und der seinem Vater so zur Gewohnheit geworden war, dass er ihn gar nicht mehr zu bemerken schien. Es kostete ihm innerlich große Überwindung, mehrere ruhige Atemzüge hindurch nicht nachzugeben. Und tatsächlich war es am Ende Katthike, der einlenkte.
„Bitte, Maestro!“, sagte er und hob kurz eine Hand.
Kanaima verneigte sich und nahm den Faden wieder auf, als hätte sein kleiner Sieg nicht stattgefunden. „Kommen wir nun zu der Frage, wie stark jene Armee Hys ist, die uns erwarten wird, wenn es uns gelingt, ins Hauptland durchzubrechen. Vorsichtige Schätzungen meinerseits, die sich in diesem Falle auf Latas Angaben begründen, haben mir erlaubt festzustellen, wie viele Krieger man in Hy vermuten kann. Die etwa hundertfünfzig Sippen, die es in Hy gibt, fassen jeweils annähernd zehn Dutzend Menschen zusammen, darunter sind um die sechzig kampftaugliche Krieger zu zählen. Macht also insgesamt nicht weniger als neuntausend Mann, die es zu besiegen gilt. Nun muss man es aber leider so beurteilen, dass einer von ihren Kämpfern auf vier oder sogar fünf von unseren Soldaten kommt! Das bedeutet für uns also, Askhar müsste eine Armee von rund fünfzigtausend Mann aufstellen, um erfolgreich einmarschieren zu können!“ Kanaima sah, wie Katthike die Luft anhielt. Er wusste, dass das eine astronomisch hohe Zahl war, die er da soeben in den Raum geworfen hatte, solch eine große Armee hatte es noch nie in irgendeinem Land gegeben.
„Fünfzigtausend? Bei allen Göttern! Erst sollen wir mehrere Straßen über das Gebirge bauen und dann noch fünfzigtausend Soldaten ausheben, einschließlich der Bewaffnung? Wie soll ich denn das bezahlen?“, polterte Katthike schließlich ungehalten. „Das ist völlig unmöglich! Eine Armee in dieser Größe!“ Ihm schwindelte sichtlich von all den vielen Zahlen, mit denen Kanaima so mühelos jongliert hatte. Für ihn waren fünfzigtausend Soldaten, egal wie viel Vermögen er würde aufbringen können, vollkommen illusorisch.
Kanaima deutete mit einem Wippen auf die Zehenspitzen an, noch nicht am Ende seiner Darlegung zu sein.
„Wie gesagt, es ist nicht unmöglich, nur ungewöhnlich“, sagte er beinahe verschmitzt, wurde dann aber schnell wieder ernst. „Ein weiteres Erschwernis in einem solchen Krieg wäre, dass wir ganz auf den Einsatz von Spionen verzichten müssten, da es in diesem Fall wirklich unmöglich ist, sie bei den Hy einzuschleusen. Es wird also immer problematisch sein, die genauen Zahlen dieses Gegners einzuschätzen, noch können wir herausfinden, welche Taktiken sie tatsächlich beherrschen. In Borgossa gibt es sogar Hy, die an der Akademie für Kriegskünste studieren. Mindestens zwei sind mir dort aufgefallen. Es ist also obendrein möglich, dass ihre Generäle ...“
„Sie haben keine Generäle!“, brummte Lata das erste Mal seit seiner Verwarnung dazwischen.
„Also dann sind es eben ihre Anführer, die möglicherweise über das gleiche Wissen verfügen wie ich. Man sieht also, sie zu unterschätzen, wäre ein eklatanter Fehler!“ Er wandte sich direkt an Lata. „Als einfacher Kauffahrer habt Ihr erstaunlich viel Einsicht in die militärischen Begebenheiten Hys gehabt, wenn ihr mich fragt!“
Kanaima bemerkte, wie Lata blinzelte. Dennoch hielt der Berater den unschuldigen Ausdruck auf seinem hageren Gesicht bei. Er hatte die Spitze sehr wohl verstanden.
„Oh ja, die Hy sind gerissener, als man im Allgemeinen denkt!“, lenkte er schnell ein. „Bei diesem Volk ist durchaus Vorsicht geboten, besonders gegenüber den Kriegern! Sie vereinen die Kunstfertigkeit eines wohlausgebildeten Schlächters mit der Verschlagenheit eines Meuchelmörders! Man nehme nur das Schicksal des armen General Kasai.“Um seine ehrlich wirkende Betroffenheit noch zu unterstreichen, faltete Lata bedeutungsvoll seine beringten Hände und setzte eine betrübte Miene auf. Kanaima verspürte Abscheu gegen diesen Mann, der sich in diesem Moment hoffentlich besorgt fragte, was der Maestro gegen ihn in der Hand hielt.
‚Du glattwangiger, alternder Lurch’, dachte Kanaima verächtlich und warf einen kurzen Seitenblick auf Setna, der im Abseits an einem Kohlebecken saß und gänzlich unbeteiligt wirkte. ‚Es ist doch allzu offensichtlich, wenn man es weiß, nicht wahr? Dein kleines Geheimnis, Lata! Nicht einmal der Schatten eines Bartes, trotz deiner dunklen Haare!’ Kanaima war sich sicher, dass es so war, wie er vermutete, aber er behielt es für sich. Es war ein Trumpf im Duell gegen den Konsultas, der ebenfalls nichts von dem geheimen Bündnis zwischen ihm und General Bhuras ahnen konnte, und den Informationen, die er von dem General bekam. Insgeheim war Kanaima höchst zufrieden damit, dass der König und jeder andere bei Hofe zu glauben schien, er und Bhuras könnten sich auf den Tod nicht ausstehen. Das hatten sie auch immer wieder bewusst durch lautstarke Auseinandersetzungen zur Schau gestellt. Aber jeder Streit war nicht nur bloß Mummenschanz gewesen, sondern auch eine heimliche Verständigung in verschlüsselten Worten.
Man konnte ahnen, dass es hinter Latas Stirn beinahe hektisch arbeitete. Doch äußerlich blieb der Berater gelassen und bekundete betont grimmig: „Es ist wirklich eine Schande, dass uns damals dieser feige hyaunische Bastard durch die Lappen gegangen ist! Zu gerne hätte ich ihn für seine abscheuliche Tat büßen sehen!“ Lata warf einen kurzen Seitenblick zu Kanaima hinüber. Es war die Flucht nach vorn, erkannte dieser mit Genugtuung.
„Wohl wahr, und nur allzu gerne hätte ich ihm persönlich die Eingeweide herausgerissen!“, ging Katthike auf Latas Ablenkungsmanöver ein. „Es ist mir immer noch unbegreiflich, wie das überhaupt geschehen konnte. Kein Hy hat es jemals gewagt, uns von hinten anzugreifen!“
„Ich denke, auch das zeigt uns, dass sich die Dinge im Wandel befinden, selbst im ewig gestrigen Hy!“, warf Kanaima unverwandt ein und riss das Gespräch wieder an sich, obwohl er Lata mit Freuden noch weiter in Bedrängnis gebrach hätte. „Deshalb sollten wir unser Augenmerk auch auf Hy gerichtet lassen. Ich gebe Konsultas Lata vollkommen Recht, dass es Askhars Bestreben sein sollte, dieses Volk zu vernichten! Nur will der Feldzug, soll es denn der letzte gegen die verdammenswerte hyaunische Brut sein, äußerst gewissenhaft und von langer Hand geplant sein. Geduld und Disziplin werden von uns gefordert sein, ebenso wie unser Gold und unser Blut, doch am Ende, so verspreche ich Euch, Majestät, werden wir es sein, die den Sieg davontragen werden! Die Tage Hys sind gezählt. Ihre mächtigen Krieger werden fallen, und das Gold ihrer Tempel, das Erz ihrer Berge und ihre fruchtbare Erde werden uns gehören. Askhar wird ihr Schicksal sein, vor dem sie sich schon immer gefürchtet haben!“ Kanaima sah, dass seine Worte ihre Wirkung nicht verfehlten, denn Katthike lächelte schweigend und mit glänzenden Augen. Auch Lata hatte sich wieder beruhigt.
Kanaima lächelte in sich hinein. Es war gelaufen, wie er es geplant hatte. Der König hing an seinen Lippen, und Lata war auf seiner Seite und unter Kontrolle. Der Maestro war sehr mit sich zufrieden. Die Vorbereitungen für diesen fulminanten Feldzug, der mit Sicherheit beispiellos in der Geschichte Askhars sein würde, würden alle Aufmerksamkeit des Königs binden und ihm viel mehr Raum für seine eigenen Pläne geben. Und auch Setna, so hoffte er, hätte er dann vorerst für eine gewisse Zeit vom Hals.
„Wohlan, großartig, so machen wir es!“, rief der König erfreut aus und polterte wieder auf den Tisch, diesmal mit der flachen Hand. „Maestro, bitte kümmert Euch um den Entwurf dieses meisterlichen Vorschlags und legt ihn mir vor, sobald er fertig ist. Aber nehmt Euch soviel Zeit, wie Ihr dafür benötigt. Ich will nichts überstürzen in solch einer erfolgversprechenden Angelegenheit. Und ich gehe wohl recht in der Annahme, wenn ich behaupte, dass Ihr in Eurer gewohnten Umgebung sehr viel besser daran arbeiten könnt als hier in dieser elenden, stinkenden Schweinesuhle?“
Kanaima hob unbekümmert die Schultern. „Ich kann überall arbeiten“, log er.
„Ach was, Ihr werdet in ein paar Tagen zusammen mit mir nach Askhari-Kaise zurückreisen. General Bhuras wird die Baschai auch allein unter Dach und Fach bekommen!“
Kanaima frohlockte innerlich bei dem Gedanken daran, endlich von hier fortzukommen. Er verneigte sich wortlos, aber formvollendet. Und diesmal war es an Lata über seine übertrieben bescheidene Haltung verächtlich die Nase zu rümpfen.
„Eine Frage bleibt indes bei alldem noch offen“, gestand der König schließlich noch.
„Und die wäre?“ Kanaima blickte ihn aufmerksam an.
„Wird das Orakel der Hy nicht sehen, was wir vorhaben? Und wird es nicht dann Krieger schicken, um es zu verhindern?“
„Möglicherweise. Und exakt das gilt es als erstes im Kleinen zu erproben! Und auch, ob es noch mehrere dieser meuchelnden Grenzgänger gibt.“
„Hm.“ Katthike leckte sich nachdenklich über die Lippen. „Also gut, an die Arbeit!“, sagte er dann und scheuchte die beiden Berater aus dem Zelt.
Diese sahen sich draußen vor dem Eingang einmal kurz in die Augen und verschwanden dann jeder in eine andere Richtung.
Zwei Tage später unterschrieben die Herzöge der Baschai fügsam den Vertrag und behielten so ihre Köpfe. Dem Einflussreichsten unter ihnen stellte Katthike in Aussicht, Statthalter der südlicheren der beiden Provinzen zu werden, wenn er sich alsbald durch besondere Treue auszeichnete. Es sollte ein Signal dafür sein, dass Askhar Pflichtbewusstsein und uneingeschränkte Loyalität gegenüber Krone und Reich stets angemessen und generös belohnte, und es sollte die anderen Herzöge dazu ermuntern, diesem Beispiel zu folgen.
Anders als bei der Eroberung der südlichen Provinzen von Hy, bei der das Volk hingemetzelt und vertrieben worden war, und das Land neu mit Askharern besiedelt werden konnte, war die Bevölkerung von der Baschai noch da. Es galt also, sie so rasch und mit so wenig Abnützung der eigenen Soldaten wie möglich an die neue Herrschaft und die neuen Dekrete zu gewöhnen, und das ging am Besten, indem man ihnen wieder die alte Obrigkeit mitsamt ihrer alten, natürlich aber leicht geschmälerten, sowie straff überwachten Funktion vor die Nase setzte - lediglich ihre Schatullen und Siegel mit dem neuen askharischen Wappen versehen. Es war ein einfacher Weg, um Zeit zu sparen und die schlichten Gemüter der Landbevölkerung zu besänftigten. Denn verbarg man die verhasste Visage des Feindes hinter den vertrauten Gesichtern, so erhöhte dies bekanntlich das Hemmnis, sich gegen die neue Fremdherrschaft aufzulehnen.
Für Katthike war es also sehr von Vorteil, dass die Herzöge sich derart einsichtig und willfährig gezeigt hatten. So konnte er nach ihrem Treueschwur der Baschai beruhigt den Rücken kehren, um sich der neuen „alten“ Herausforderung zu widmen: Den Erzfeind Hy zu erobern. Doch bevor er seine Reise nach Hause antrat, nahm Katthike durch einen Boten erste Verhandlungen mit seinem neuen Nachbarn auf, dem König von Adjan. Er hoffte, Altibor würde seine ernste Lage erkennen und in das Angebot einwilligen, das er ihm machte. Durch seine Spione hatte Katthike nämlich in Erfahrung gebracht, dass Adjan ein Heer von über fünftausend gut ausgerüsteten Soldaten an der Grenze stehen hatte und nur darauf wartete, dass Askhar seinen Annektierungszug fortsetzte. Doch Adjan war ein weitaus härterer Gegner als die überrumpelten Dilettanten in der Baschai, und der Ausgang einer Schlacht gegen Altibors ausgeruhte Truppen wäre äußerst ungewiss. Dennoch stellte Askhar noch immer eine ernstzunehmende Bedrohung für Adjan dar und diese drohende Präsenz wollte Katthike nutzen, um König Altibor für ein Bündnis zu gewinnen, das Adjan ebenso wertvoll für ihn machen sollte, als sei es eine besetzte und verwaltete Provinz. Und Katthike schätzte, dass Altibor, wenn er ihm nur genug Zeit zum Nachdenken gab, etwas entschlussfreudiger sein würde, als der Großkönig von Graçe sich bisher gezeigt hatte, der noch immer zögerte, sich zu eng mit Askhar einzulassen. Doch auch das würde sich irgendwann ändern, dachte Katthike.
Am Morgen des dritten Tages nach dem Vertragsabschluss machte sich die königliche Reisegesellschaft auf den Weg nach Westen. Kanaima hatte zwar vorgeschlagen, mit dem Schiff von Katayakant nach Kantaka-Stadt zu fahren, was viel angenehmer gewesen wäre, doch Katthike verabscheute das Meer und hatte darauf beharrt, dass sie alle auf dem Landweg nach Askhari-Kaise reisten.
So ließ der Kopf der askharischen Schlange seinen langen Schwanz zurück und kehrte zurück in ihre Höhle, wo sie zusammen mit ihrer Brut verharren würde, bis ihr Kriegshunger von neuem erwachte.
*
Resas Faust schloss und öffnete sich, immer wieder wie eine Blüte des Zorns. Die Stimme hatte Recht behalten. Er biss die Zähne aufeinander. Sie alle waren böse. Alle. Auch seine Schwester, die immer so tat, als sei sie seine Freundin, doch eben in diesem Moment war sie bei dem Obersten der Dämonen und verriet ihm alles. Das Gefühl ohne Namen, oder Furiosa, wie sein Bruder es genannt hatte, war so stark wie nie in ihm und schnürte ihm die Kehle zu. Der Drang, einfach aus seinem Versteck zu springen und seine ruhelosen Finger um Andras Hals zu legen, war übermächtig!
Er war ihr hinterhergeschlichen, bloß aus Neugierde - es machte ihm Spaß, andere zu beobachten, wenn sie dachten, sie seien allein -, und belauschte nun ihr Gespräch mit Loenka, der sein wahres Gesicht hinter seiner Maske aus Menschenfleisch verbarg. Resa aber wusste es besser, er wusste, was sich dahinter verbarg. Er hatte Loenka als einziger durchschaut, diesen falschen Priester!
Er spähte durch die Ritze in der Wand und sah den Rücken des Hyaunset suer und Andra, die ihm genau gegenüber saß. Ihre Miene spiegelte Besorgnis wieder. Resa verzog angewidert die Lippen. Beinahe hätte er ihr geglaubt und das, obwohl die Stimme ihn immer wieder davor gewarnt hatte. Aber Andra hatte so ehrlich geklungen, und er sehnte sich doch so sehr nach Verständnis und Geborgenheit. Sie hatte ihm gesagt, er könne immer zu ihr kommen und ihr alles erzählen. Und er hatte das auch getan, nachdem sie ihm Glauben gemacht hatte, sie sei seine Verbündete und schweigen würde wie ein Baum. Tatsächlich hatte er begonnen, sich bei ihr wohl zu fühlen - und er hatte sich ihr anvertraut. Aber diese falsche Dienerin der Dämonen hatte ihn reingelegt! Sie hatte ihm Sand in die Augen gestreut! Seine Fingernägel gruben sich in seine Handballen, doch der selbstzugefügte Schmerz brachte in diesem Moment kaum Erleichterung. Er dachte an sein kleines Messer. Die grobgeschmiedete, schwarze Klinge war sein bester Freund, immer wenn Furiosa drohte allzu übermächtig zu werden.
Nein, damit musste er bis später warten. Jetzt wollte er erst einmal hören, was sein größter Feind gegen ihn sprach. Sein Ohr näherte sich der Ritze. Andra erzählte, und ihre Stimme klang sorgenvoll und schuldbewusst, doch darauf würde er nicht mehr hereinfallen.
„... hat er gesagt, Hyaun würde seinen Kall vorbereiten, doch zuerst müsse er den Obersten der Dämonen zu Fall bringen. Sehr oft nennt er sich dann Resa Furiosa, der Erretter.“
„Furiosa, hat er wirklich dieses Wort gemeint?“
„Ja, Fu-ri-o-sa, genau so hat er es gesagt. Was bedeutet es, und woher hat er es?”
„Es kann nur einen geben, von dem er dieses unselige Wort hat: Raen“, brummte Loenka. „Das hätte ich nicht von ihm gedacht. Er hat seinen Eid gebrochen und dem Unaussprechlichen einen Namen gegeben. Das ist nicht gut, dieses Wort muss verschwinden.“
„Aber was bedeutet es denn?“, hakte Andra sichtlich neugierig nach.
„Da du es jetzt schon einmal kennst, verrate ich es dir, aber du musst mir versprechen, dass du es für dich behältst! Am besten, du vergisst es gleich wieder.“
Andra nickte eifrig.
„Es ist ein graçenisches Wort für eines der unaussprechlichen Gefühle, das die Menschen vergiftet. Und wir müssen zusehen, dass auch Resa es nicht mehr verwendet.“
„Das Unaussprechliche, oh! Hyaun beschütze uns!“ Andra flüsterte schnell die Beschwörungsformel gegen das Unheil.
Doch Resa, verborgen in seinem Versteck, sah, dass sie sich verstellte. Das Unaussprechliche, das Gefühl ohne Namen - Furiosa - war auch ihr geheimer Fluch, den sie immer sorgsam im Verborgenen zu halten trachtete.
„Und wen meint Resa mit dem Obersten der Dämonen?“, wollte Loenka wissen.
Resa starrte hasserfüllt auf seinen Nacken.
Andra zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Dass er überhaupt von Dämonen spricht, beunruhigt mich. Er ist beinahe besessen davon.“
„Hm, in der Tat sehr besorgniserregend.“
„Da ist noch etwas“, druckste Andra. Ihr schien nicht wohl dabei, ihren Bruder derart anzuschwärzen, doch sie hatte es getan, und das würde Resa ihr nie verzeihen. Während er weiter lauschte, entzündete sich Furiosa, brannte heiß und verzehrend, erlosch dann plötzlich und floss zäh und schwarz durch seine Venen. Furiosa in ihrer feinsten Güte.
„Ich habe Resa heimlich im Waschhaus beobachtet. Zuerst habe ich gedacht, er geht deshalb immer allein dorthin, weil er sich schämt. Na ja, in dieser Phase der Heranwachsens waren wir ja alle etwas genant. Aber dann habe ich gesehen, dass seine Arme voll von Narben sind!“ Sie tat so, als schneide sie sich mit der Handkante in den Oberarm. „Ein Schnitt säuberlich über dem anderen - einige verheilt, andere frisch. Es sieht schrecklich aus!“
Resas Blick hinter dem Astloch wurde noch finsterer. Andra hatte ihn beobachtet? Scharf sog er Luft ein. Das würde sie büßen! Sie würden es alle büßen, alle, die es wagten, ihn zu verraten!
Loenka strich sich über das Kinn. „Womit schneidet Resa sich selbst?“
Andra zuckte mit den Schultern. „Ich schätze mit dem kleinen Messer, das er von Raen hat.“
„Das muss unbedingt einer Reinigung unterzogen werden. Ich werde es von ihm verlangen. Weiß eigentlich euer Vater davon?“
„Nein.“
„Gut, so soll es auch bleiben. Das würde ihn nur unnötig bekümmern.“
Andra nickte.
„In einer Woche werde ich nach Tena-lo-Ghan reisen und mich bemühen, dort Rat für diesen Fall einzuholen. Das hier überschreitet bei weitem meine Kompetenz. Bis dahin solltest du versuchen, Resa weiterhin zu beeinflussen, Andra. Versuche, ihn zu halten, denn das ist es, was er braucht: Einen festen Halt.“
„In sechs Monaten kommt Raen wieder. Er hat bestimmt mehr Einfluss als ich. Ich denke, Resa vermisst ihn am Meisten. Raen ist sein großes Vorbild, sein Wegweiser, wenn man es so will.“
„Ja, richtig. Ich bedauere es, dass er im Frühling nicht zu Besuch gekommen ist. Was auch immer ihn davon abgehalten haben mag. Arme, tapfere Suneka. Sie hat einiges zu entbehren. Und du vermisst ihn auch.“
Andra sah auf, ihre grünen Augen wirkten sehr traurig. „Ja, sehr. Und ich wünschte, er wäre hier bei seiner Familie, seinem Bruder, bei Suneka und ..., ach, es ist nicht recht, dass ihm das alles vorenthalten wird.“
Loenka schien aufzuhorchen. Ein Ruck ging durch seinen geraden Rücken. „Du denkst es wird ihm vorenthalten?“
„Nun ja, es erscheint mir zumindest so. Ich kenne doch Raen, freiwillig wäre er bestimmt nicht gegangen.“
„Oh doch, ob du es glauben magst oder nicht, er ist freiwillig gegangen. Wir haben es ihm zur Wahl gestellt, und er hat nicht lange gezögert und es angenommen. “
Andra wirkte nicht gerade überzeugt. Und Resa dachte, dass sie natürlich nicht wissen konnte, wie angestrengt der Dämon Loenka sich gerade um die Wahrheit herum wand.
„Und wer sollte deiner Ansicht nach Raen überhaupt fortschicken wollen und warum?“, wollte Loenka offenbar die Reichweite von Andras Gedankengängen ergründen.
Andra blickte kurz über die Schulter des Oberpriesters an die Wand, als sei sie um eine Antwort verlegen.
Auf der anderen Seite wich Resa erschrocken zurück, denn fast hätte man glauben können, sie hätte ihn direkt angesehen. Nur vorsichtig näherte er sich wieder dem Spalt. Andra hatte ihren Blick wieder auf Loenka gerichtet.
„Ich denke, die Priesterschaft und der Clanrat haben das beschlossen als Strafe für das, was er an der Grenze getan hat“, warf sie unerwartet mutig ihren Verdacht in den Raum.
Loenka tat so, als grübele er. „Hm, ich glaube, das siehst du grundlegend falsch, die Strafe für seinen unerlaubten Grenzübertritt hat er mit den Tempelwachen nachweislich abgebüßt. Er ist gereinigt von jedweder Schuld. Indes ist es vielmehr so, dass Raen für diese wichtige Aufgabe in Dorpal ausgewählt wurde, weil er die besondere Befähigung dafür besitzt.“
„Besondere Befähigung?“, echote Andra zweifelnd und durchdrang dabei den Hyaunset suer mit ihrem Blick.
„Gerade du solltest eigentlich wissen, was ich damit meine.“ Er hielt sie mit einem gleichsam prüfenden Blick fest. „Für unser Volk ist es von größter Bedeutung, dass immer wieder solch ausgesuchte Vertreter aus unserer Mitte nach Dorpal geschickt werden, es ist unerlässlich.“
„Warum?“, fragte sie unbeirrt.
Hinter der Wand freute sich Resa darüber, wie sehr Andra dem Oberpriester mit ihren hartnäckigen Fragen unter Druck setzte. Doch der Dämon wand sich weiter.
„Nun, das, meine liebe Andra, sind sehr komplexe Sachverhalte, die zu begreifen ein ungleich weitreichenderes Verständnis erfordern, als du es je aufbringen könntest. Die Obliegenheit, sich darüber Gedanken zu machen, kannst du getrost jenen anderen überlassen, die im Besonderen dafür ausgezeichnet worden sind“, wies er sie reichlich übertrieben streng zurecht.
„Und du gehörst zu diesen Ausgesuchten?“ Andra klang schon etwas milder.
„Beileibe, nein.“ Loenka hob beide Hände. „Nicht einmal mir als Hyaunset suer ist es erlaubt, an den Entscheidungen Tena-lo-Ghans wahrhaft teilzunehmen. Die Berater des Setna, die Palansetna, waren es, die nach Raen verlangt haben. Seit Er unser Volk auserwählt hat, bestimmen sie und der Setna, was für uns gut ist und das bisher ohne Fehl und Tadel, will ich meinen.“
Sichtlich zerknirscht kaute Andra an ihrem Daumennagel und sah dabei aus wie Raen.
„Dann tut es mir leid, was ich gesagt habe“, räumte sie schließlich ein.
Loenka winkte großzügig ab. „Ach, mein Mädchen, Zweifel sind dein gutes Recht. Aber als Gärtner im heiligen Garten Hyauns kann ich dir sagen, dass es auf jede noch so fragwürdige Begebenheit immer auch eine Antwort gibt.“
„Du hast Recht, ich war im Irrtum, verzeih.“ Sie verneigte sich.
„Dir sei verziehen. Und jetzt zurück zu unserem Problemkind.“
Hinter der Wand biss sich Resa in den Zeigefinger, um vor Wut nicht zu schreien. Loenka hatte eiskalt gelogen! Natürlich war auch er es gewesen, der Raen fortgeschickt hatte. Er hatte es ganz genau gehört, als er ihn damals bei einem Gespräch mit Gahin, dem alten Oberpriester, und einem Abgesandten aus Tena-lo-Ghan belauscht hatte. Diese verlogene Natter! Aber lange würde er sein Unwesen nicht mehr treiben können. Deshalb war er von Hyaun zum Erretter ernannt worden, er, Resa Furiosa!
„Du wirst Resa im Auge behalten, Andra, und wenn ich aus Tena-lo-Ghan zurück bin, dann werden wir wissen, was wir tun können.“
„Und was ist, wenn er seinen Kall hat, während du fort bist? Er redet ständig davon, dass ich langsam Angst bekomme, es könnte tatsächlich passieren.“
„Wenn dem so ist, dann müssen wir Hyauns Entscheidung annehmen. Es ist Sein Wille.“
‚Nichts als Heuchelei aus deinem Munde!’, dachte Resa. ‚Du tust doch alles, um genau das zu verhindern! Du maßt es dir an, dich unter deiner scheinheiligen Hülle in Seine Belange einzumischen und spuckst dabei selbst Zaizura auf ihr ehrwürdiges Haupt! Du wirst uns alle noch ins Unglück stürzen. Weiche, Dämon aus der Unterwelt, kehre in das dunkle Loch zurück, aus dem du gekrochen kamst!’
„Hab keine Angst, Andra, Sein Einfluss wird gut für Resa sein, denn Er tut stets nur Gutes für Seine Kinder“, säuselte Loenka indes weiter.
„Dann sollte ich also besser dafür beten, der Erhabene möge Resa auch tatsächlich erwählen?“
„Das Beten überlasse nur getrost mir, ich denke, das kann man als meine oberste Aufgabe betrachten, kümmere du dich lieber mit Wort und Tat um deinen Bruder. Damit erweist du nicht nur ihm, sondern uns allen einen großen Dienst.“
Andra nickte. „Ich werde alles tun, was in meiner Kraft steht, Hyaunset suer.“
„Gut, dann geh jetzt, und wir werden wieder miteinander sprechen, wenn ich von meiner Reise zurück bin.“
Andra erhob sich, vollführte eine tiefe Verneigung vor dem obersten geistlichen Würdenträger des Clans und verließ den Raum. Mit ihr würde sich Resa später beschäftigen.
Nachdem Loenka die Lampen gelöscht hatte und ebenfalls gegangen war, zog Resa sich zurück. Er hatte noch eine Woche Zeit.
Gegenüber Andra gab Resa sich die nächsten Tage, als wüsste er von ihrer Unterredung mit Loenka nichts, und sie versuchte ihrerseits sachte auf ihn einzuwirken, wie sie es dem Priester versprochen hatte.
Eines Tages - sie waren gerade oben auf der Mauer bei seinem Lieblingsplatz - packte sie ihn heftig am Oberarm, vermeintlich weil er nicht fallen sollte, wie sie es deklarierte. Doch er wusste es besser, denn ihre Hand drückte rein zufällig genau auf den frischen Schnitt, den er sich zugefügt hatte, und er musste den Schmerzensschrei mit aller Macht zurückhalten. Dabei biss er sich beinahe die Zunge ab. Aus den Augenwinkeln nahm er ihren forschenden Blick wahr und auch die darauf folgende Verwunderung, als er keinerlei Regung zeigte. Seine Verstellungstaktik wirkte, denn Andra ließ von ihm ab, ohne ihn darauf anzusprechen. Zum Glück stahl er sich aus den Vorräten der Medizi jedes Mal frisches Verbandsleinen und umwickelte die Schnitte damit fest, sonst hätte sich spätestens jetzt ein verräterischer roter Fleck auf seiner grünen Jacke gebildet. Aber Resa spürte trotzdem, dass die Wunde wieder aufgeplatzt war, und er verfluchte seine Schwester stumm für ihren plumpen Versuch, ihn zu einem Geständnis zu bewegen. Was würde ihr wohl als nächstes einfallen?
Dazu durfte es erst gar nicht kommen, dachte er. Und er würde sie wohl vor den Kopf stoßen müssen, wenn sie ihn vorerst in Ruhe lassen sollte.
„Sag mal, Andra, so viel Kraft, wie dein Osa in den Armen hat, so wenig hat er in seinen Lenden, oder warum habt ihr noch keine Kinder?“, fragte er plötzlich aus dem Nichts heraus.
Der Gesichtsausdruck seiner Schwester versteinerte sich prompt. Resa kannte den richtigen Grund für ihre bisherige Kinderlosigkeit, denn auch Andra belauschte er zu gerne, besonders wenn sie und Osa intim waren, und er wusste auch, dass er sie damit hervorragend verletzen konnte. Und tatsächlich, es wirkte. Unbewusst hart presste sie die Lippen zu einem Strich.
Resa setzte noch einen drauf: „Selbst Raen hat es schon geschafft, obwohl er es gar nicht wollte, nur ihr noch nicht!“
„Resa, ich denke, das ist etwas, das ich dir gegenüber nicht erläutern muss“, sagte sie verschlossen. „Wir haben unsere Gründe.“
‚Aha, und so verhält es sich also mit deinem Vertrauen, liebste Schwester’, dachte Resa missfällig, ‚ich soll dir bedenkenlos meine Geheimnisse anvertrauen, du mir aber nicht deine! Trotzdem habe ich herausgefunden, woran es liegt. Du hast Angst, es könnte dir genauso ergehen wie unserer Mutter. Du fürchtest dich davor, Kinder zu bekommen, weil du nicht so enden willst wie sie. Das ist auch der Grund, warum du überhaupt Medizi geworden bist: Damit du in Zukunft andere Frauen vor diesem Schicksal bewahren kannst. Welch edle Gesinnung. Doch wie wir alle wissen, lässt Zaizura sich nicht bestechen! Und auch ein Osa wird nicht auf ewig geduldig sein.’ Er tat so, als interessiere es ihn nicht mehr weiter und sah beinebaumelnd in die Ferne.
Ungewohnt wortlos, ließ Andra ihn daraufhin allein.
Resa aber grinste. Er hatte sein Ziel erreicht und konnte seine Gedanken endlich wieder den wichtigen Dingen zuwenden.
Am nächsten Morgen erwachte Loenka noch vor dem Weckruf zum ersten Gebetszirkel, der den Tag zum Sonnenaufgang einleitete, weil er einen schlechten Traum gehabt hatte. Er berührte vorsichtig sein Aun. Obwohl er es schon seit zwei Jahren trug, war es ihm doch manchmal noch sehr ungewohnt. Er starrte an die dunkle Zimmerdecke, und die Gegenwart des Setna rieselte angenehm summend durch sein Bewusstsein. Aber da war auch etwas anderes gewesen. Ein Bild leuchtete blass vor seinem geistigen Auge. Jemand hatte ihn warnen wollen. Merkwürdig war nur, dass dieser Jemand Raen gewesen war, so glaube Loenka zumindest, denn er meinte, sich daran zu erinnern, in seinem Traum immer wieder dessen Gesicht gesehen zu haben. Das Aun kribbelte unter seinen Fingerspitzen. Ja, es war Raen gewesen. Loenka zog die Augenbrauen zusammen. Aber was hatte er versucht, ihm zu sagen? Seine Finger massierten die Nasenwurzel. War das überhaupt wichtig? Es war doch nur ein Traum. Loenka warf die Decke zurück und stand auf. Das ungute Gefühl aber blieb.
‚Eine erfrischende Morgenwäsche wird Wunder wirken’, dachte er, ‚und das anschließende Gebet wird noch sein Übriges tun, um meinen Geist wieder auf Vordermann zu bringen.’ Er ging in die leere Waschstube, entzündete mehrere Öllampen, die auf dem umlaufenden Wandsims standen, und steckte dann seinen Kopf unter einen der Wasserstrahlen. Die Kälte war herrlich.
Mitten im plätschernden Regen des Wassers blitzte plötzlich wieder ein Bild auf, klar und funkelnd wie die Tropfen. Darin sah Loenka sich fallen, er stürzte in einen düsteren, bodenlosen Abgrund. Von plötzlicher Furcht bedrängt, zog er seinen Kopf unter dem Wasserstrahl fort und rieb sich mit beiden Händen das Nass aus dem Gesicht. Über sich hörte er das Fußgetrappel und den Gong des Weckdienstes durch die Gänge im ersten Stock eilen.
Loenka blinzelte. Das Bild war fort und mit ihm die Furcht. Energisch schüttelte er den Kopf. Was für ein Unfug: Ein Oberpriester, der Angst vor seinen Träumen hatte!
Und als er wenig später zusammen mit den anderen Priestern den Tag mit dem Morgengebet begrüßte, rückte der Traum immer weiter fort aus seinem Gedächtnis.
Resa hatte alles genau ausgeklügelt und schon seit gestern befand er sich in einer erwartungsvollen Hochstimmung, die er sich jedoch auf keinen Fall anmerken lassen durfte. Mit hölzerner Miene brachte er sich durch die übliche Routine des Tages. Zuerst der leidige Schulunterricht, dann das Bündeln und Einfahren des trockenen Heus von den Wiesen, wobei alle Kinder helfen mussten, die größer als der Stiel einer Heugabel waren und demnach einen ganzen Ballen umfassen konnten, und anschließend die Küchenarbeit - keine Zeit für Müßiggang.
Lediglich sein Essen schlang er beim Nachtmahl schneller herunter als üblich und verschwand danach sofort.
Die Sonne stand noch mehrere Fingerbreit über den Hügeln am westlichen Horizont, als Resa sich unbemerkt in den Tempelgarten und zu dem langgestreckten Gartenhaus schlich, das seitlich an die steile Steintreppe grenzte. Sie führte hinauf zu der Verbrennungsstätte, wo Loenka jeden Abend die Sonne segnete und den Tag verabschiedete.
Resa betrat das Häuschen, das die Priester als Aufbewahrungsort für die Gartengeräte und zum Trocknen von ausgesuchten Kräutern benutzten. Geduckt wand er sich unter den von den Querbalken hängenden Sträußen hindurch in einen kleinen, stillen Winkel hinter einem Regal, das voller kleiner Holzkästchen stand, in denen die Sämereien verwahrt wurden. Dort hockte er sich nieder, griff in den Ausschnitt seiner Jacke und zog einen jungen Maragi hervor. Er hielt ihn fest an seine Brust gepresst, denn das Tierchen wehrte sich mit allen vieren, um ihm entkommen zu können. Leise redete er auf den Maragi ein, damit er sich beruhigte. Er hatte ihn aus einem der Nester genommen, die sich zu mehreren auf den Dachböden der Lagerhäuser befanden, und ihn in einer Kiste versteckt gehalten.
„Jetzt entspann dich, meine Hübsche. Du solltest stolz darauf sein, mein Werkzeug sein zu dürfen, weiß du das?“, wisperte er in eines der spitzen Ohren und strich der Schleichkatze liebevoll über das Köpfchen. Doch der Maragi knurrte widerspenstig.
„Schhh, meine Hübsche, gleich ist es soweit. Danach wirst du wieder frei sein, das verspreche ich dir.“
Er richtete sich auf, das Tier noch immer an seiner Brust. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand zu sehen war, trat er leise aus der seitlichen Tür des Häuschens in die tiefen Schatten der Mauer. Nicht mehr lange, und die Sonne würde untergegangen sein. Resa kauerte sich in den steinernen Bogen unter der Treppe und wurde unsichtbar. Noch immer war kein Mensch im Garten.
Gut so, dachte er, dann würde er nachher wenigstens unentdeckt fliehen können.
Einige Mannslängen über dem versteckten Jungen auf der Mauer drehte sich Loenka vom nun schnell schwindenden Licht ab. Er hatte den feurig roten Ball beobachtet, bis dieser hinter den Hügeln versunken war, und ihn mit segensreichen Formeln beschworen, er möge morgen wieder aufgehen und den Menschenwesen einen weiteren Tag voller Frieden und fruchtbarem Gedeih schenken.
Loenka mochte dieses Ritual am Ende des Tages. Es schenkte ihm jedes Mal viel Ruhe und Zufriedenheit. Immer wenn er die altehrwürdigen Worte sprach, und die Sonne den Horizont küsste, fühlte er sich unvergleichlich berührt von diesem machtvollen Moment; dann befand er sich tatsächlich im Zwiegespräch mit den höheren Mächten des Universums, und alles war so, wie es sein musste. Jedes Elementarteilchen rückte wieder auf seinen angestammten Platz.
Eingehüllt in seine friedlichen Gedanken betrat er die Treppe, seine vom glosenden Licht der Sonne geblendeten Augen weit geöffnet und auf den im Dunklen liegenden Abstieg gerichtet. Dabei schein es ihm, als steige er in ein undurchdringliches Meer aus schwarzen Schatten hinab, das sich innerhalb der Mauern des Chorten aufgestaut hatte und aus dem nur noch die zwei Wohntürme hell aufragten. Doch auch sie würden bald vom Mantel der Nacht verhüllt werden.
Loenka tastete nach dem Geländer. Fledermäuse flatterten über seinem Kopf in den Abendhimmel auf und auf seinem taumelnden Flug in den letzten Streif Dämmerung streichelte ein Nachtfalter seine Wange. Auch das Königreich der Nacht hatte seine Ordnung, dachte er und nahm die ersten Stufen der Treppe.
Doch ein Elementarteilchen war an diesem Abend unglücklicherweise ganz und gar nicht da, wo es hingehörte, denn plötzlich stießen Loenkas Füße auf etwas, das panisch zwischen seinen Beinen hin und her hüpfte.
„Was - ?“ Ein leises Knurren ertönte. „Ein Maragi? Verflixt!“
Sein nächster Schritt wich dem länglichen, gefleckten Körper aus, dabei geriet er ins Schwanken und in eine gefährliche Vorlage. Loenkas Hand fuhr zum Geländer, doch mit dem zweiten Schritt traf sein Fuß auf etwas Nachgiebiges, das noch im selben Moment einen schrecklichen Todesschrei von sich gab. Es war der Maragi, dem er soeben das Kreuz gebrochen hatte. Doch noch bevor diese Erkenntnis in jeder Faser seines Körpers angekommen war, und er auf die Umstände hätte entsprechend reagieren können, erfüllte ihn ein anderes Erinnern mit jähem Schrecken. Der Traum!
‚Es ist wahr, ich falle!’, schrie sein Unterbewusstsein ungläubig. ‚Und du Narr wolltest dir selbst nicht glauben!’
Danach tauchte Loenka kopfüber in die Schatten ein.
Zuerst krachte er mit den Knien auf die Stufen, hernach überschlug er sich mehrere Male, prellte sich Kopf und Rücken und hörte schließlich, wie mit einem widerlichen Knacken seine Hüfte brach. Der Schmerz war überwältigend, und Übelkeit schoss in seinen Magen. Als er nach seinem stummen Sturz am Fuße der Treppe endlich zum Liegen kam, schwanden ihm die Sinne. Alles, was er noch herausbrachte, war ein klägliches Röcheln.
Resa warf einen schnellen, befriedigten Blick auf Loenka, der mit verrenkten Gliedern dalag, das Weiße der Augen im dämmrigen Licht gen Himmel gekehrt. Danach verschwand er schleunigst zur Zaunpforte hinaus auf den Hof.
‚Der Dämon ist besiegt. Der Dämon ist tot!’, jubilierte sein Innerstes. ‚Nun, oh Hyaun, kannst du mich zu dir rufen! Ich bin bereit.’
Als Resa in den Wohnturm gelangte, verlangsamte er bewusst seinen Schritt und schlenderte hinauf in das Zimmer der Jungen, in dem er sein Schlaflager hatte. Dort legte er sich gemächlich zur Ruhe, und schlummerte bereits tief und selig, als Loenka von den Priestern aufgefunden wurde, und der ganze Chorten zu so später Stunde in helle Aufregung geriet.
Noch hatten Andra und Osa nicht geschlafen, als ein völlig aufgelöster Priester seinen Kopf zur Tür hereinsteckte.
„He, was soll das? Ist das Klopfen jetzt etwa abgeschafft worden?“, blaffte sie ihn ungehalten an. Nur wenige Augenblicke später und er hätte sie mitten im Liebesakt erwischt.
„Medizi Andra, bitte kommt schnell. Der Hyaunset suer liegt im Sterben!“
„Was!“ Mit einem Ruck setzte Andra sich auf und es war ihr egal, dass der Priester ihre nackten Brüste sehen konnte.
Doch der nahm es gar nicht wahr, so geschockt war er von den Ereignissen. Den Tränen nahe wedelte er mit der Hand.
„Schnell!“, presste er mit hysterisch hoher Stimmlage hervor.
„Wo ist er?“, rief Andra und sprang aus dem Bett. Auch Osa bemühte sich, so schnell wie möglich auf die Beine zu kommen.
„Am Fuße der Treppe zur Westmauer“, antwortete der Priester und hastete überstürzt davon. Es gab einen kleinen Radau auf dem Flur, weil er aller Vermutung nach die ersten Stufen der Treppen mehr gefallen als gelaufen war, und dann riss auch schon Andra, dürftig in ihr Schlafgewand und eine Jacke gewickelt, die Tür auf und polterte Hals über Kopf hinterher.
Als sie bei Loenka ankam, lag er immer noch genauso, wie er am Fuße der Treppe zum Liegen gekommen war. Keiner hatte es gewagt, ihn zu bewegen, nur eine Decke hatten sie über ihn gebreitet. Sich auf das Schlimmste gefasst machend, lüftete sie das Wolltuch. Ungewollt entfuhr ihr entsetzt der Atem.
Derweil kamen zwei weitere Medizi zum Unglücksort und hielten ebenfalls erschrocken inne, als sie Loenkas unnatürlich verbogenen Körper sahen.
„Wie ist das denn passiert?“, wollte der eine wissen.
„Er muss die Treppe hinuntergestürzt sein.“ Einer der Priester deutete auf die dunklen Stufen.
„Bringt mehr Licht!“, rief Andra, und zwei Priester entfernten sich schnell. Kurz darauf kamen sie mit zwei großen Öllampen wieder, die sie neben dem Verunglückten abstellten.
„Gut.“ Andra fühlte den Puls an der Halsschlagader.
Loenka lebte. Noch.
Dann untersuchte sie ihn behutsam, bettete ihn in eine seitliche Lage und bewegte sachte jedes einzelne seiner Glieder.
„Sein linker Unterarm ist gebrochen. Beide Knochen. Am Kopf hat er eine tiefe Wunde, aber sie ist die einzige, die blutet. Macht einen festen Verband“, wies sie ihre Kollegen an und besah sich Loenka weiter. Sein Atem ging flach, und er war nicht bei Bewusstsein. Glücklicherweise, denn die Schmerzen mussten unerträglich sein. Sie ertastete eine Unebenheit. „Einige Rippen sind auch durch. Aber ich denke, er hat keine inneren Verletzungen, sonst hätte er schon längst Blut gespuckt. Der Rücken ist geprellt, des Weiteren aber scheinbar unverletzt.“ Sie tastete sich weiter nach unten vor und sah aus den Augenwinkeln die blau angelaufenen Kniescheiben.
„Oh!“, entfuhr es ihr. „Die könnten auch kaputt sein.“ Ihre Hände nahmen das linke Bein, das den merkwürdigen Winkel aufgewiesen hatte, und bewegten es. Grübelnd zog sie die Stirn in Falten. Sie drehte Loenka auf den Rücken und bewegte das andere Bein. Wieder ein Stirnrunzeln. Sie drehte ihn wieder auf die Seite, lüftete schließlich ungeniert seine Robe, und alle Anwesenden starrten erschüttert auf ein Hämatom, das sich bereits über die ganze linke Hüfthälfte ausgebreitet hatte.
„Und seine Hüfte ist gebrochen“, sagte sie und klang dabei unbeabsichtigt entmutigt. So etwas hatte sie noch nicht behandelt. Zwar hatte ihre strenge Lehrmeisterin Seya mit ihr die Theorie abgehandelt, wie solch eine Verletzung zu behandeln sei, doch das war lange nicht das Gleiche wie ein tatsächlicher Fall. Sie fühlte ihren Mut sinken. „Kann einer von euch das?“
Die restlichen Medizi schüttelten den Kopf. Andra biss sich auf die Unterlippe und wischte sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn.
‚Nun gut’, dachte sie, ‚dann muss ich es eben allein in die Hand nehmen!’ Sie ging wieder zu Werke und versuchte, sich genau an das zu erinnern, was Seya ihr über die Hüfte erzählt hatte.
In unzählige Verbände gewickelt und sein linkes Bein ausgestattet mit einer komisch anmutenden Streckvorrichtung aus Lederschlaufen und Holzlatten, die der Tischler schnell zurechtgezimmert hatte, lag Loenka stabil gebettet zwischen den Kissen. Andra hatte vergeblich versucht, ihm einen Sud aus Veda und Schafgarbe einzuflößen und harrte nun an seinem Lager darauf, dass er wieder zu Bewusstsein kam und die Medizin, die er so dringend brauchte, aufnehmen konnte. Sie war schrecklich müde und immer noch zutiefst erschüttert. Welch schrecklicher Unfall!
Draußen ging allmählich die Sonne auf, und es schien, als wolle sie gleichfalls besorgt nach dem Verletzten schauen, der zwischen Leben und Tod schwebte. Ihre lebensspendende Kraft schimmerte sanft zum Fenster hinein, und wie ausgestreckte Finger tastete ihr Licht langsam nach dem reglosen Körper unter dem Laken.
„Ich hole dich zu mir, und dann wirst du die Stelle deines Bruders einnehmen!“
„Oh, ja!“, flüsterte Resa sehnend. Doch dann fiel ihm etwas auf. „Aber warum soll ich Raens Stelle einnehmen?“
„Weil er nicht mehr wiederkommen wird. Er ist uns allen untreu geworden. Er ist der Versuchung erlegen, hat die Prüfung nicht bestanden, die ihm gestellt wurde.“ Die Stimme lachte leise und fuhr dann fort: „Raen hat sich als schwach erwiesen. Er ist es nicht länger wert, dass du dich neben ihm erniedrigst. Denn du bist der Erretter, du wirst meine starke Hand sein und der Mund, der meine Worte verkündet!“
„Oh, bitte, Hyaun, nimm mich zu dir. Jetzt!“
„Dann komm ... erhebe dich! Erhebe dich über sie!“
Resa stand auf, und gefangen in seinem fatalen Irrtum setzte er sich in Bewegung.
„Medizi Andra, lass dich ablösen, du hast fürs Erste genug getan”, sagte eine gutmütige Stimme hinter ihr. Es war einer der anderen Medizi, ein älterer Fachgenosse mit langen, grauen Haaren.
„Hm, gut, aber gib Acht, wenn er aufwacht, dann ruf’ mich, ja?“
„Ist gut.“ Er ließ sich nieder, und Andra erhob sich und streckte ihre eingeschlafenen Beine.
Wenig später stieg sie die Stufen hinab, ließ die gut besuchten Waschräume links liegen und trat auf den morgendlich sonnenbeschienenen Hof. Nachdem sie einige zur Frühwaschung eilende Männer und Frauen gegrüßt hatte, blieb sie stehen und hob ihr Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne entgegen. Ein Moment der Ruhe.
Da tippte ihr ein Finger auf die Schulter, und sie öffnete die Augen wieder. Einer der Priester stand vor ihr und sah sie mit besorgter Miene an.
„Es geht ihm unverändert schlecht. Es tut mir leid, dass ich dir keine bessere Nachricht bringen kann“, berichtete sie ihm.
„Wird er es schaffen?“, erkundigte sich der Priester ängstlich.
„Sein Leben liegt in Zaizuras Hand.“
Der Priester legte die Hände aneinander, senkte den Kopf und flehte Hyaun an. Er bot Ihm sogar sein Leben als Pfand für das des Oberpriesters.
„Entschuldige mich jetzt bitte, ich bin sehr müde“, sagte Andra und wollte am Priester vorbei.
„Da ist noch etwas. Dein Vater lässt dir ausrichten, dass er bei ihm ist.“
„Bei wem?“, fragte Andra den viel älteren Priester gereizt. Sie war unendlich erschöpft.
„Bei deinem Bruder. Resa hatte seinen Kall. Der Erhabene hat ihn zu sich gerufen ... ausgerechnet heute in dieser ... unglückseligen Nacht.“ Der Priester senkte erneut sein Haupt. „Was mag das nur zu bedeuten haben?“
Andra starrte auf den geschorenen Schädel des Hyaunset. Eine ganz und gar böse Ahnung sickerte in ihre Brust und überträufelte ihr Herz mit kalter, flüssiger Angst.
„Danke für die Nachricht“, versetzte sie monoton und ließ den Priester stehen. Sie musste unbedingt zu Osa, musste seine Wärme spüren, seine Liebe, das Gute in seinem Herzen. Nur er konnte diese alles gefrierende Kälte wieder vertreiben, die sie zu erobern drohte.
Resa, um Himmelswillen, Resa! Hast du es getan? Hast du den Dämon gestürzt? Oh, Hyaun, wie konntest du das zulassen?
Getrieben von diesem schrecklichen Verdacht rannte sie den Wohnturm hinauf in ihr Zimmer, wo Osa sich gerade aus dem Bett pellte. Er hatte ebenfalls tiefe, graue Ringe unter den Augen, denn er war nach dem Unglück noch lange wach gewesen. Verwundert und mit zerzauster, dunkler Haarpracht schaute er zu Andra auf.
Ohne zu zögern, stürzte sie sich in seine Arme.
„Halt mich fest, ganz fest!“, stieß sie zitternd hervor und umklammerte Osas breiten Brustkorb.
„Ist er ... tot?“, fragte Osa stockend.
„Wer?“, klang es erstickt an seinem Hals. Etwas verwundert zog Osa die Stirn kraus.
„Na, Loenka!“
„Ach ... nein, er ist nicht tot. Aber es steht auch nicht gut um ihn. Bitte, sag jetzt nichts mehr, halt mich einfach nur fest.“
Und das tat Osa. Eng hielt er seine Frau mit seinen kräftigen Armen umschlungen und wiegte sie sanft vor und zurück - bis sie eingeschlafen war.
Zwei Tage später wachte Loenka aus seiner Bewusstlosigkeit auf, die sein Körper als eine Art Schutz aufrecht erhalten hatte.
„Da war ein Maragi ... ich bin über ihn gefallen“, waren die ersten Worte des Oberpriesters, und alle wunderten sich, dass er sich trotz seiner schweren Kopfwunde sofort erinnern konnte.
Der diensthabende Medizi bestätigte Loenkas Aussage, ohne zu zögern, denn sie hatten noch in der Nacht des Unglücks das tote Tierchen auf der Treppe gefunden.
„Es war ein verhängnisvoller Zufall“, beteuerte einer der Priester, der sogleich gerufen worden war, als der Hyaunset suer die Augen aufgetan hatte.
„Ja, wahrlich ... ein verhängnisvoller Traum ...“, murmelte Loenka schwach und glitt hinüber in die angenehm beruhigende Umarmung des Veda.
Es dauerte noch fünf Tage, bis Loenka endlich außer Gefahr war.
Er würde es schaffen, verkündeten die Medizi. Doch womöglich würde er niemals wieder richtig laufen können.
Die Gemeinschaft des Shari-Chorten reagierte erleichtert und betrübt zugleich über diese Neuigkeit und sie schlossen den Oberpriester in ihre wohlwollenden Gedanken und Gebete ein.
Ganz entgegen dem allgemeinen Befinden, das sich allmählich im Aufwind befand, verhielt es sich mit Andras Gefühlswelt. Sie schwebte zwischen Besorgnis und tiefstem Seelenkummer, und der grässliche Verdacht bedrängte unentwegt ihr Herz, als wolle er es unter seiner Zentnerlast zerquetschen. Natürlich behielt sie das alles für sich und sie quälte sich Tag um Tag von allen unbemerkt mit der brennenden Frage herum, ob Resa etwas mit dem Unfall zu tun hatte. Leider war es momentan unmöglich, das auf irgendeine Weise herauszufinden. Denn Resa war seit der Nacht seines Kalls für sie unerreichbar im Oberen Heiligtum interniert, zu dem sie keinen Zutritt hatte. Sicher, der tote Maragi sprach eindeutig für einen Unfall, aber ein untergründiges Gefühl flüsterte ihr zu, dass das Tier womöglich nicht aus freien Stücken dort herumgelaufen war.
Eines Abends klopfte sie an die Tür ihres Vaters, hinter der nun auch Hanenka ihr Quartier bezogen hatte. Romans Stimme erklang, und sie trat in den vertrauten Raum ihrer Kindheit.
Ihr erster Blick fiel geradewegs auf den Erker, der so viele Erinnerungen barg, danach wandte sie sich den Alkoven zu, wo ihr Vater mit bloßem Oberkörper auf der Bettkante saß und sich von Hanenka, die hinter ihm kniete, seinen Nacken kneten ließ.
Er lächelte fröhlich, als er sah, dass es seine Tochter war, die ihn besuchte.
„Oh, Andra, welch seltene Ehre, komm herein. Es war ein anstrengender Tag für mich draußen auf den Feldern, deshalb brauche ich etwas Auflockerung.“
„Sei gegrüßt, Vater, auch du, Hanenka.“
Die Geliebte seines Vaters nickte ihr freundlich zu und ließ ihre Hände weiter unermüdlich über Romans immer noch stattlichen Schultern gleiten. Er war mittlerweile weit über Vierzig, aber bis auf seine grauen Haare und ein paar mehr Lachfältchen um Augen und Mund, konnte Andra kaum einen Unterschied zu früheren Jahren feststellen. Er sah blendend aus, und es war nur allzu offensichtlich für jedermann, dass ihm das Leben mit der jungen Hanenka gut bekam. Die beiden hatten vom Clanrat die Erlaubnis erhalten, zusammen in ein Zimmer ziehen zu dürfen, obwohl sie noch immer nicht verheiratet waren. Denn Resa sträubte sich auch weiterhin, seine Einwilligung zu geben, aber so war es den beiden wenigstens vergönnt, nah beieinander zu sein. Andra freute sich darüber. Ihr Vater hatte es verdient.
Etwas unsicher ob Hanenkas Gegenwart formulierte sie umständlich ihr Anliegen. Es war nicht so, dass sie Hanenka nicht mochte, im Gegenteil sogar, aber das, worüber sie mit ihrem Vater sprechen wollte, war etwas, das nur ihren Teil der Familie etwas anging. Glücklicherweise musste sie nicht lange herum stammeln, denn ihr Vater, der schon immer ein gutes Gespür für solche Dinge hatte, kam ihr zu Hilfe.
„Hanenka, sei so gut und lasse uns ein wenig allein, ja? Dies ist sozusagen ein Vater und Tochter Gespräch“, sagte er und strich seiner Geliebten über die Hand auf seiner Schulter.
„Dem will ich natürlich nicht im Wege stehen. Nur zu, ich bin schon weg.“ Hanenka sprang leichtfüßig aus dem Bett, zwinkerte Andra im Vorbeigehen zu und war zur Tür hinaus, während ihr Vater sich seine Jacke überzog.
Erleichtert setzte sich Andra neben ihn Vater und legte ihre Hände in den Schoß. Sie kam sich vor wie das kleine Mädchen, dass sie einst gewesen war. Wie oft hatte sie hier gesessen und ihrem Vater ihr Herz ausgeschüttet, zumeist über die Ungezogenheiten Raens? „Es geht um Resa“, begann sie schließlich.
Doch Roman schein das gespürt zu haben, denn er nickte wissend.
„Wie geht es ihm?“, erkundigte sie sich.
„Ich will nicht sagen glänzend, aber das kommt dem doch sehr nahe.“
„Sein Wunsch ist in Erfüllung gegangen.“
„Ich weiß.“
„Das klingt so, als ob du damit nicht gerade besonders glücklich bist.“ Sie sah Roman an.
Ihr Vater lachte. „Ich bin genauso glücklich, wie bei Raens Kall.“
„Du wolltest es nie, stimmt es?“
„Ich denke, es ist deutlich, warum.“ Roman schnippte eine Fliege von seinem Ärmel und sog tief Luft ein. „Raen ist fort.“
„Aber doch nicht für immer.“
Der Blick, den Roman Andra daraufhin zuwarf, jagte ihr noch mehr Furcht ein, als sie ohnehin schon verspürte.
„Vater?“, fragte sie reichlich blass.
Roman schüttelte den Kopf. „Was zählt ist doch, dass er jetzt nicht hier ist, oder?“ Er rang sichtlich mit sich selbst, und wieder sprachen seine Augen Bände. Sie sah die Kümmernis darüber, wie sehr er seinen Sohn vermisste und wie sehr er ihn liebte. Ihr Herz wurde erneut eng.
Er seufzte. „Resa hat auch hellsichtige Träume, weißt du das?“
Sie wusste es. Natürlich.
„Und er hat mir gesagt, dass Raen nicht wiederkommen wird“, verriet er schließlich.
„Und du glaubst ihm?“
„Hmm, so, wie ich gelernt habe, Raen zu glauben.“
Sie nickte, das lag irgendwie nahe. Angestrengt versuchte sie ihre aufsteigende Verzweiflung zu verbergen. Ohne Raen würden sie mit Resa nicht fertig werden. Ohne ihn wären sie ganz allein mit dessen gefährlichem Wahnsinn. Jemand anderes als Loenka musste nach Tena-lo-Ghan reisen und dort um Hilfe bitten. Nur wer?
„Was sollen wir tun?“, fragte sie mutlos.
„Nichts, außer beten und warten. Es wird schon einen Grund dafür geben, warum Zaizura das alles so gewollt hat. Darauf müssen wir vertrauen.“ Es klang beherrscht, fast so als hätte einer der Priester gesprochen, aber Andra hatte trotzdem deutlich die Traurigkeit herausgehört, die sich dahinter verbarg. „Andra, ich bin wirklich froh, dass wenigstens du da bist! Du bist die Vernünftigste von meinen Kindern.“
Sie sahen sich lange an, und Andra wurde schmerzlich bewusst, dass sie schon ewig nicht mehr so vertraut miteinander geredet hatten. Seit sie mit Osa verheiratet war, an den sie sich lehnen konnte, suchte sie immer öfter den Rat bei ihren Ehemann. Ganz langsam ließ sie sich an die Schulter ihres Vaters sinken, und er legte einen Arm um sie. Leise begann sie die Tränen zu weinen, die sie bei Osa nicht weinen konnte, und verlor sich dabei ganz im vertrauten Geruch der Kleidung ihres Vaters. Und für einen Moment lang fühlte sie sich tatsächlich zurückversetzt in die Tage, da die Welt noch aus den Fragen bestanden hatte, die ihr Vater stets alle hatte beantworten können.
„Shari, wiederhole, was ich soeben gesagt habe!“
Raen blinzelte verwirrt, als habe man ihm aus dem Tiefschlaf gerissen.
„Äh, Maestro Karbald, wie meinen?“ Er bemühte sich, seine Gedanken zu ordnen.
„Du sollst wiederholen, Himmeldonner!“
Raen überlegte. Über was hatte Karbald gerade gesprochen, bevor ... bevor er schon wieder an Loenka hatte denken müssen?
„Verzeiht, Maestro.“ Warum nur, kam ihm ständig Loenka in den Sinn? Warum sah er ihn fallen? Immer wieder. „Das kann ich leider nicht.“
Karbald verzog beinahe triumphierend das Gesicht. ‚Habe ich es doch gewusst!’, sagte es.
„Falls dein Spatzenhirn in der Lage ist, solch anspruchsvolle Theorien überhaupt zu verstehen - aber es ging gerade um die Möglichkeit eines Protektoratskontraktes, den zu schließen ein jeder Feldherr stets im Bewusstsein haben sollte.“
Raen runzelte die Stirn. „Ahh, jaa“, sagte er abwesend, bemühte sich aber, wieder geistig an der Lektion teilzunehmen. Er beugte sich über seine Papiere und las die letzten Worte, die er notiert hatte, dann warf er einen Blick neben sich auf Keïs Mitschrift.
„Shari!“, schmetterte es daraufhin wieder durch den Raum, und Raens Kopf fuhr erneut hoch. Was war denn nun schon wieder? Konnte Karbald ihn denn heute nicht einfach mal in Ruhe lassen?
„Shari, das Maß ist so gut wie voll! Ich warne dich jetzt ein letztes Mal. Besser, du investierst deine Zeit darein, dich an meiner Lektion zu beteiligen, als Löcher in die Luft zu starren, oder derart schamlos die Prinzessin anzubuhlen!“, wetterte Karbald.
‚Aber ich wollte doch nur wissen, wie man das Wort Protektoratskontrakt schreibt’, dachte Raen müde und ohne wirklich mitbekommen zu haben, welch freche Anschuldigung der Maestro da vom Stapel gelassen hatte.
Er erschrak regelrecht, als Bendan und Manoen neben ihm gleichzeitig aufsprangen und empört protestierten.
„Mit Verlaub, Maestro!“ Beide tauschten einen Blick, und schließlich überließ Manoen dem Prinzen von Ohaoud bereitwillig nickend den Vortritt. Der dunkle Hüne wandte sich darauf wieder an Karbald. „Bei allem Respekt, Maestro Karbald! Solcherlei Verleumdungen gegen meine Schwester muss ich mir verbitten! Obwohl wir hier an der ehrenwerten Universität zu Borgossa sind, und ich ihre Regeln anerkenne. Aber ich fühlte mich verpflichtet, Euch darauf hinzuweisen, dass Ihr hier die Tochter des Königs von Ohaoud vor Euch habt. Sie ist die Nachfolgerin auf dem machtvollen Thron des Falken, welchen unsere Familie schon seit acht Generationen inne hat, und ich erwarte diesbezüglich mehr Respekt von Euch, Maestro!“
Karbald sah Prinz Bendan von seiner Cathedra aus herablassend an.
„So?“, fragte er.
Der Prinz ließ sich nicht beirren und sprach mit seiner tiefen Stimme weiter, während die Prinzessin starr vor sich hinblickte: „Maestro, ich empfehle Euch, Eure unbegründeten Vermutungen in Zukunft für Euch zu behalten, sie schädigen die Reputation meiner Schwester und beleidigen den Namen der Familie Karima-Esala!“ Das war eine versteckte Warnung, denn die Ohaoudis nahmen solcherlei Angelegenheiten sehr ernst, bei denen es darum ging, ihren Namen von Verunglimpfung rein zu halten.
Aber Maestro Karbald ging nicht darauf ein. Er verzog seinen Mund zu einem spöttischen Lächeln. „Oh, ich denke, diese Anschuldigung kann ich getrost von mir weisen, denn es ist ja wohl offensichtlich, dass sich deine Schwester die Schädigung ihres Rufes höchstselbst zuzuschreiben hat. Schließlich hat sie sich doch nach eigenem Wissen mit diesem schäbigen Vaganten eingelassen.“
Nun wollte neben Manoen endlich auch Keï protestieren, doch Bendan kam ihnen beiden erneut zuvor: „Wenn Ihr damit Raen del Shari meint, so muss ich mich dagegen verwahren. Dieser Mann ist ohne jeden Zweifel ein Ehrenmann und der Prinzessin treu zu Diensten. Er ist ein Campione und er hat sich bereiterklärt, für ihre Sicherheit zu sorgen, so lange sie hier in Borgossa weilt. Sal al In’Sadhi Keï hat einen Vertrag mit ihm abgeschlossen, nichts anderes.“
Raen kratzte sich verlegen hinter dem Ohr und sah vor sich auf seine Schreibbank. Mittlerweile bezweifelter es, dass dieser Vertrag eine so gute Ideen gewesen war. Er brachte nichts, als Gerede. Aber er war dennoch beeindruckt von Bendans Redekunst. Dafür dass der Prinz sonst nur unreife Flausen im Kopf hatte, schlug er sich erstaunlich gut. Und er war ja auch im Recht. Karbald war eindeutig zu weit gegangen. Doch war es ihm trotzdem unangenehm, dass seine Beziehung zu der Prinzessin hier derart offen zur Sprache kam.
„Ehrenmann, so so“, sagte Karbald zweifelnd, und Sel, der neben dessen Cathedra an einem kleinen Pult saß, gab sich keine Mühe, seine diebische Freude über diesen Disput zu verbergen, der nun auch die Ohaoudis bei Karbald in Misskredit gebracht hatte.
Prinzessin Keï wandte angewidert ihren Blick ab. Auch ihr war offensichtlich klar, dass diese Gerüchte, die unlängst unter den Studenten der Akademie kursierten und jetzt scheinbar auch die Maestros erreicht hatten, auf dem Mist dieses selbstversessenen Kerls gewachsen waren. Raen hatte ihr gestanden, dass Sel mit ihm noch eine Rechung offen hatte und umgekehrt, und dieser deshalb alle möglichen Unwahrheiten über sie herum erzählte. Aber dass dieses ganze lächerliche Klatschthema jetzt hier offen vor allen Studenten diskutiert wurde, ging wirklich zu weit!
‚Sel du, Hund!’, dachte Raen mit blitzendem Blick. ‚Dahinter steckst du, das ist sicher!’ Der ungeliebte Rivale war mittlerweile zu Karbalds rechter Hand aufgestiegen; seelenverwandte Charakterschwächen schienen sich gegenseitig anzuziehen.
Noch während Raen darüber nachsann, wie er den unseligen Sel endlich zum Schweigen bringen konnte, ballte die Prinzessin neben ihm die Fäuste auf dem Tisch. Bendan und Karbald stritten sich noch immer lautstark, und plötzlich stand sie auf. Raen blickte sie an, in banger Erwartung, was sie nun in dieser Angelegenheit zum Besten geben würde.
„Maestro Karbald!“, sprach sie mit klarer und fester Stimme, und Karbald hielt mitten seiner Rede inne. Sein erregter Blick sprang unvermittelt von Bendan auf sie über.
„Ich denke“, fuhr die Prinzessin fort, „Ihr habt Euch jetzt genug vor all Euren Schülern blamiert, und ich werde gegen Euch Beschwerde beim Dekan einreichen! Wie könnt Ihr es zulassen, dass Eure Lektion zum Schauplatz für einen derart schändlichen Streit um Eure persönliche Meinung verkommt, das frage ich Euch?“
Man konnte regelrecht sehen, wie Keïs Worte ihn tief im Inneren seiner verbissenen Selbstherrlichkeit trafen. Sein Mund kräuselte sich, und sein fanatisch glühender Blick erkaltete schlagartig wie Lava, die ins Meer floss.
„Tu, was du zu tun gedenkst, törichte kleine Närrin! Du kannst mir eh nichts anhaben“, sagte er schließlich unberührt. „Die Lektion ist beendet!“ Er machte eine ungeduldige Handbewegung, um sie alle hinauszuscheuchen.
„Wird’s bald!“, schrie er plötzlich ungehalten, und die Scolarios packten hastig ihre Sachen zusammen.
Wie eine Schar aufgeregt flatternder Hühner verließen sie mit wehenden Gewändern den Raum und schlossen schnell die Türen. Nur Sel war als einziger drinnen geblieben.
Am liebsten hätte Raen nicht mehr über diesen Vorfall gesprochen, doch es wurde überall an der Akademie darüber diskutiert und verbreitete sich in Windeseile immer weiter über den gesamten Campo. Schon am Abend wusste es jeder Student, egal von welcher Fakultät er war, und so nahm Karbalds unbedachte Äußerung schon bald die Ausmaße eines saftigen Skandals an. Doch der cholerische Maestro hatte dieses Mal seine Macht überschätzt und sich die falschen Opfer ausgesucht. Auch wenn es an der Universität keine Standesunterschiede gab, so mochte das Wort einer Prinzessin beim Dekan durchaus doch etwas mehr ins Gewicht fallen - besonders wenn es sich dabei um die Tochter des einflussreichsten und gefürchtetsten Königs des östlichen Kontinentes handelte!
Raen freute es einerseits, dass es dem Tyrannen endlich einmal an den Kragen ging, doch andererseits war er nicht gerade unwesentlich daran beteiligt, und das Gerede um ihn und die Prinzessin würde hernach bestimmt nicht besser werden. Er dachte an Manoens Warnung und überlegte, ob er den Vertrag mit ihr brechen, und sie fortan besser getrennte Wege gehen sollten.
Sein Freund hatte ihm davon abgeraten, in die Dienste der Prinzessin zu treten, denn er hatte befürchtet, dass es Probleme geben würde, und außerdem ließ sich das Schwert eines Hy-Kriegers nicht kaufen. Ein Hy kämpfe allein nur für sein Volk und es sei unter seiner Würde, sich als Leibwächter anstellen zu lassen, hatte er gesagt, und Letzterem hatte Raen grundsätzlich zustimmen können. Doch im offiziellen Dienst der Prinzessin, so hatte er gehofft, wären alle Bedenken um seine Absichten endlich ausgelöscht, und er könnte sich endlich ohne Vorbehalte in ihrer Gesellschaft aufhalten. Obendrein war das Geld, das er dafür bekam, ein willkommenes Nebeneinkommen, das ihn - und auch Manoen, denn er wollte es mit seinem Freund teilen - unabhängig von den monatlichen Zuteilungen des Hytena machte. Aber Manoen hatte ihn prüfend angesehen und dann den Kopf geschüttelt. Er hatte Recht. Letztendlich wusste auch Raen, dass all das nur lahme Ausreden für etwas waren, das unvorhersehbare Folgen haben konnte. Er ahnte, dass er sich langsam immer tiefer in einen drohenden Schalmassel hineinmanövrierte, und nicht wusste, wie er da jemals wieder herauskommen sollte. Nur wollte und konnte er einfach nicht zugeben, dass er sich verliebt hatte.
Langsam wuchs auch in Keïs Kopf ein Plan heran, und sie war ganz stolz darauf, ohne Hilfe zu einer Lösung gelangt zu sein. Ihr Vater betonte immer, sie müsse selbst lernen, wichtige Entscheidungen zu treffen, denn als Königin würde sie später eine rasche Auffassungsgabe und eine kristallklare Urteilskraft benötigen, um klug handeln zu können. Und beides würde sie ihm jetzt beweisen. Keï lächelte still bei dem Gedanken an ihren Vater. Sie vermisste ihn und seinen Rat. Für sie war er immer allwissend gewesen, so allwissend wie der erhabene Ashallah, der über die Menschen und die Welten wachte und der jedem, der sich seiner Lehre anvertraute, seine Weisheit und Güte schenkte. Für Keï saß ihr Vater deshalb stets gleichauf mit dem ehrwürdigen Gott der Ohaoudis, der seinen Propheten M’Hamath ausgeschickt hatte, den Sterblichen seine Worte zu verkünden. Doch hier in Borgossa war sie allein auf sich gestellt. Es war eine Prüfung - eine von vielen, die ihr Vater ihr auferlegt hatte.
Sie blickte aus dem offenen Fenster im zweiten Stockwerk ihres Hauses und genoss die kühle Luft des späten Augustabends. Die Sonne war bereits hinter den ziegelgedeckten Dächern versunken, und eine leichte Brise wehte vom Meer her in die Stadt. Auf den Straßen in diesem Teil des Nuovo Çirco war nicht mehr viel los. Die unbescholtenen Bürger, die hier lebten, gingen früh zu Bett und trieben sich nicht mehr herum wie das zweifelhafte Gelichter in der Altstadt.
Keï seufzte verträumt. Sie stützte ihr Kinn in eine Hand und sah hinauf zum dunkelblauen Firmament, an dem nach und nach immer mehr Sterne auftauchten. Wie so oft in letzter Zeit schweiften ihre Gedanken, ohne dass sie es wollte, zu dem Hy, der ihr Freund geworden war. Raen. Was machte er jetzt wohl gerade draußen in seinem Hytena? Lag auch er schon im Bett, oder hielt er noch ein Schwätzchen mit dem lustigen Manoen?
Es klopfte an die Tür. Faïshe, ihr Kammermädchen, stand von ihrer Näharbeit auf und öffnete. Bendan trat ein.
„Störe ich?“, fragte er.
„Nein, komm und setz dich zu mir.“ Sie war ihm gegenüber ungewohnt milde gestimmt. Vielleicht weil es sie überrascht hatte, wie überzeugend und leidenschaftlich er ihre Ehre vor Karbald verteidigt hatte. „Möchtest du einen Becher Wein?“
„Gern.“
Faïshe kam und schenkte ihm ein. Schweigend tranken sie ein paar Schlucke und schauten dabei aus dem Fenster.
„Bendan“, sagte Keï schließlich, und ihr Bruder sah sie erwartungsvoll an, „ich möchte dir danken, für das, was du heute getan hast. Das war sehr mutig von dir. Weißt du, man muss nicht nur im Kampf mit dem Schwerte Mut zeigen, in einem Wortgefecht ist es das Gleiche. Du hast dich gut geschlagen, Vater wäre stolz auf dich!“
Bendan lächelte. Und Keï wusste, auch wenn sie ständig an ihm herumnörgelte und ihre vorrangige Stellung gegenüber ihm manchmal schamlos ausnutzte, war ihm ihr Lob doch teuer. Ihre Hand näherte sich unauffällig der seinen und tippte sie mit dem Zeigefinger an. Es war eine vertraute Geste zwischen ihnen beiden, die besagte, dass ihr noch mehr auf dem Herzen lag, das er unbedingt wissen sollte. Auch wenn sie sich oft spinnefeind waren, so waren sie doch Bruder und Schwester. Ihre gemeinsame Kindheit, in der sie alles miteinander geteilt hatten, hatte sie zusammengeschweißt. Bendan stand Keï näher als irgendein anderes ihrer restlichen Geschwister, was vielleicht auch daran lag, dass sie nur ein Jahr sie voneinander trennte. Die fünf anderen Kinder des Königs waren dagegen noch viel jünger.
Sie druckste herum, sprach es aber schließlich aus: „Es war ... nun ja, es war auch gut, dass du Raen del Shari in gleicher Weise verteidigt hast.“
„Ich habe doch nur die Wahrheit gesagt, mehr nicht. Das, was Karbald behauptet, war nicht richtig, und ich mag es nicht, wenn jemand falsches Zeug erzählt. In erster Linie war ich allerdings um dich besorgt, denn was über Raen del Shari gesagt wird, fällt später auf dich zurück.“
Sie nickte und zog ihre Hand zurück.
„Schwester?“
„Hm, ja?“ Sie sah ihm etwas unsicher in die Augen, was nicht oft vorkam, aber sie ahnte, was kommen würde und sie ahnte auch, dass sie darauf nicht angemessen reagieren würde. Sie wappnete sich innerlich.
„Du musst mehr Abstand zu ihm halten.“
Sie biss sich auf die Lippe.
„Er bringt dich in Schwierigkeiten. Das Gerede um ihn und dich ist nicht gut. Wenn Vater davon erfährt, dann ...“
„Dann erfährt er es eben. Und wenn schon, was soll er dagegen sagen, dass ich mir die Dienste des Mannes versichert habe, der besser reitet und mit dem Schwert kämpft als du und meine unerschrockenen Leibwächter zusammen!“, schnauzte sie zurück, ganz wie sie es geahnt hatte. Immer wenn Bendan sie auf Raen ansprach, fühlte sie sich von ihm angegriffen.
Bendan hob ruhig beide Hände, natürlich hatte auch er es geahnt. „Jetzt rege dich nicht gleich wieder so auf. Alles, was ich sagen will, ist, dass du es überdenken solltest, ihn in deinen Diensten zu behalten. Du siehst doch, wo das hinführen kann. Morgen spricht die ganze Stadt davon. Und es wäre nicht das erste Mal, dass es heißt: Die Prinzessin und ihr hyaunischer Scherge! Keï, pass bloß auf!“
„Das tue ich, keine Sorge!“, blaffte sie ihn an.
„Das tust du eben nicht! Was findest du nur an ihm?“, wollte Bendan zum unzähligsten Male wissen.
„Er ... ist ... nett“, entgegnete sie.
„Nett!“
„Ach, du verstehst das nicht. Er ist eben nicht so, wie all die anderen Kerle an der Akademie. Er weiß sich zu benehmen.“
Bendan schwieg, aber es bedeutete nur, dass er noch lange nicht zufrieden war mit dieser Antwort.
„Es ist nicht leicht für mich hier. Ständig muss ich mich beweisen, nur weil ich eine Frau bin. Ich habe keine Freunde gefunden, so wie du. Du bist ja ständig mit ihnen unterwegs in La Gioia, oder Ashallah weiß wo sonst noch. Ich aber habe nur Faïshe und sonst niemanden. Ich kann mich nicht durch diese Stadt bewegen, wie du es kannst, und andauernd muss ich ständig aufpassen, was ich sage und was ich tue! Das ist nicht gerecht.“ Keïs Kehle wurde eng, aber sie redete sich all ihren Frust von der Seele, der sich im vergangenen Jahr angestaut hatte. „Ich bin verdammt einsam hier, weißt du das?“ Sie versuchte den Kloß hinunterzuwürgen, denn sie wollte um keinen Preis vor ihrem Bruder weinen. ‚Verflucht sei der Tag, an dem ich zuerst das Licht der Welt erblickt habe! Selbst vor Bendan kann ich nicht so sein, wie ich will’, dachte sie wütend und laut sagte sie: „Und Raen del Shari ist der einzige, der mir seine Zeit schenkt, ohne irgendwelche Hintergedanken dabei zu haben. Er ist er einzige an der Akademie, der mich nicht behandelt, als sei ich eine Aussätzige!“ Ihre Lippen bebten und sie biss sich wieder hart darauf. Der Schmerz half ihr, sich unter Kontrolle zu halten.
„Jetzt übertreibst du aber!“, wies Bendan sie zu recht.
„Das tu ich nicht. Du hast ja keine Ahnung, wie es sich anfühlt, unerwünscht zu sein, und wie es ist, um jeden Fingerbreit Anerkennung kämpfen zu müssen!“
„Oh, doch, das weiß ich, Schwester“, sagte Bendan betrübt. „Ständig stehe ich in deinem Schatten. Die große Keï, unsere zukünftige Königin, ist sie nicht wunderbar, ist sie nicht stark!“
Keï senkte schuldbewusst den Blick. Sie wusste, dass Bendan ihr den Thronanspruch beileibe nicht neidete, denn ihr Bruder sah an ihrem Beispiel nur zu gut, welche Pflichten gleichfalls damit verbunden waren.
„Weißt du“, fuhr er tadelnd fort, „manchmal siehst du nur dich selbst und die Dinge, die vor deiner Nasenspitze liegen. Wie es mir dabei geht, ist dir in diesen Momenten völlig gleich. Und wenn mal etwas nicht so läuft, wie du es dir vorgestellt hast, so haderst du mit dem garstigen Schicksal, das dir aufgebürdet wurde, oder du gibst mir die Schuld!“ Nach diesen ehrlichen Worten trank er den Becher auf einen Zug aus und knallte ihn auf den Tisch, dass Faïshe im Hintergrund vor Schreck zusammenfuhr. „Du wirst es schon schaffen! So, wie du es immer schaffst. Du bekommst was du willst! Also, hör endlich auf, zu jammern. Vater würde das gar nicht gefallen!“ Dieser Satz entwaffnete sie immer, das wusste er, und so war es auch jetzt. Keï ließ die Schultern sinken und umfasste ihren Becher mit beiden Händen.
„Du hast ja Recht“, gab sie kleinlaut zu und bemühte sich, ihre Niedergeschlagenheit nicht allzu sehr zu zeigen.
Doch Bendans Mitgefühl schien sich zu regen, denn seine Hand schob sich vor und tippte mit dem Zeigefinger auf ihren Unterarm. Sie sah vom Wein zu ihm auf.
„Auch wenn Raen del Shari ein Freund für dich ist, versuch darüber nachzudenken, ob du dich nicht besser von ihm fernhältst. Ich meine es nur gut“, sagte er, und seine dunkle Stimme war dabei milde wie die Nacht vor dem Fenster.
Sie nickte und trank den Wein aus. Ihr Bruder würde nie verstehen, was in ihr vorging - so wie sie es selbst auch nicht verstand.
Es war Nachmittag, und die Lektionen waren gerade zu Ende. Keï wusste genau, wo sie Sel abfangen konnte, um mit ihm allein zu sprechen. Sie postierte sich hinter einer Hausecke, die auf dem Weg lag, den er immer zu den Stallungen nahm, und wartete geduldig. Zwei andere Studenten ließ sie passieren, ohne dass sie sie bemerkten. Ihre Leibwächter hatte sie hinter die nächste Ecke verbannt - nur für alle Fälle. Aber sie glaubte, auch allein mit Sel fertigzuwerden.
Keï hörte ihn, noch bevor sie ihn sah, denn er pfiff immer diese eine Melodie, von der sie sich fragte, woher sie stammte. Wahrscheinlich von einem hyaunischen Lied, dachte sie und straffte ihre Schultern. Sel ging keine drei Schritt entfernt an ihr vorbei, und sie rief seinen Namen. Überrascht drehte er sich um, aber da war sie schon bei ihm, packte ihn mit einer Hand am Kragen seiner Jacke, der gleichen schwarzen Tracht, wie sie Raen und der Rotschopf immer trugen, und mit der anderen zog sie geschickt Sels Schwert samt Scheide hinten aus dem Gürtel, das er im Gegensatz zu Raen aus Eitelkeit immer bei sich trug. Und diese Sucht nach Gefälligkeit würde sie nun nutzen, um ihn in die Knie zu zwingen.
„He! Was soll das denn?“, protestierte Sel, aber da Keï recht kräftig war, gelang es ihr, den Überrumpelten mit dem Rücken an die Wand des Gebäudes zu drängen. Dort ließ sie ihn los, als sei er ein vielbeiniges, ekelerregendes Ungeziefer. Unwillkürlich wischte sie sich die freie Hand an ihrem ärmellosen Wams ab.
„Das werde ich dir gleich sagen, mein Freund!“, flüsterte sie grimmig und trat schließlich einen großen Schritt zurück.
„Oh, und ich dachte schon, du hättest es jetzt auch auf mich abgesehen und nicht mehr auf meinen lieben Kamerad Raen. Trotzdem fände ich es gut, wenn du mir mein Schwert wiedergeben würdest. Das ist kein Spielzeug für kleine Mädchen!“ Er streckte fordernd die Hand aus, doch Keï ignorierte sie.
„Schweig, du Schandfleck!“, fuhr sie ihn gedämpft an. „Du wirst dir jetzt anhören, was ich zu sagen habe, denn es wird die einzige Gelegenheit sein, die ich dir geben werde, dich zu besinnen!“
Sels Augen blitzten vergnügt auf. Sie waren grün, fiel Keï auf, doch lag in ihnen ein ganz anderer Glanz, als in denen von Raen. Es war ein tiefgründiger, unstillbarer Hass auf die Welt, der sie zum Leuchten brachte wie zwei kalte Kristalle.
„Soll das eine Drohung sein?“, spottete der ältere Hy-Krieger halb amüsiert, halb abfällig und ließ die Hand wieder sinken. „Vor dir habe ich keine Angst, Prinçipessa, auch wenn du mein Schwert hast. Aber mit dem kannst du eh nichts anfangen, denn du darfst es nicht ziehen.“
Keï lächelte überlegen. ‚Du bringst es auf den Punkt, Freundchen!’, dachte sie und packte das Schwert mit der anderen Hand am Griff. „Wer sagt denn, dass ich es nicht ziehen darf? Es ist doch nicht meins. Nur der Besitzer bekommt eine Menge Ärger, wenn ich es tue! Und das bist du, wenn ich mich nicht irre.“
Der eben noch belustigte Ausdruck verschwand schlagartig aus Sels Augen. Er schien schnell zu begreifen. Ein jeder, der eine Waffe in die Stadt brachte, war auch dafür verantwortlich und haftete dafür. Wenn sie das Schwert nun blank zog, dann würde er nie wieder in die Stadt gelassen werden. Wütend mahlten seine Kiefer.
„Ich kann es nicht fassen! Du kleine Schlampe willst mich mit meinem eigenen Schwert erpressen?“, raunte er bösartig. „Allein, dass du es mit deinen ungeweihten, ausländischen Pfoten anfasst, ist eine Beleidigung gegen das heilige hyaunische Gesetz. Niemand außer mir darf das Schwert berühren, hat dir das dein feiner Freund Raen nicht beigebracht?“ Vorsichtig machte er einen kleinen Schritt auf sie zu.
Keï blickte ihn triumphierend an.
Blitzschnell sprang er auf sie los, um ihr das Schwert zu entreißen, doch sie hatte natürlich mit diesem Vorstoß gerechnet und wich gewandt zur Seite wie einer der Akrobaten, die zum Frühlingsfest stets ihr Können zeigten, wo sie heranstürmenden Kühen mit angespitzten Hörnern kunstfertig auswichen. Sel fiel mit ausgestreckten Händen über ihr Bein und schlug lang auf die groben Pflastersteine. Hastig drehte er sich auf den Rücken und starrte Keï an.
„Das war wohl nichts, Campione!“, verhöhnte sie ihn nicht ohne gewisses Vergnügen. Sie hielt ihn am Boden, indem sie das Schwert in der Scheide an seine Wange hielt, so wie er es damals bei dem Turnier mit Manoen gemacht hatte, und Sel war klug genug, nicht danach zu greifen, denn Keï hätte es sofort gezogen. Kühl und knapp warf sie ihre Worte auf ihn hinab: „Hier ist mein Angebot: Du lässt Raen und die deinen in Zukunft in Ruhe und verbreitest keinerlei Gerüchte mehr über mich und ihn, und ich lasse die Siegel an deinem Schwert unversehrt. Dann bekommst du am Stadttor keine Probleme. Hältst du dich an unsere Abmachung und bewahrst Stillschweigen darüber, so wird dein Aufenthaltsrecht in Borgossa nicht gefährdet sein. Brichst du aber dein Wort - wovon ich nicht ausgehe, denn du bist ja ein Hy-Krieger, der stets zu dem steht, was er verspricht -, so weißt du, was geschehen wird.“ Sie deutete auf das Schwert. „Dies ist nur eine der Möglichkeiten, dich zur Vernunft zu bringen, und glaub mir, es gibt derer noch mannigfache. Besser, du denkst gut darüber nach, ob du mir dein Versprechen als Ehrenmann gibst, oder nicht!“
Sel befreite sich unwirsch aus der demütigenden Haltung und kam auf die Füße. Er blickte sie immer noch unverwandt feindselig an.
„Das wirst du mir büßen, Miststück!“, zischte er unheilvoll. „Und dann wird dir selbst Raen als dein alberner Leibwächter nichts mehr nützen! Ihr beide werdet es mir büßen!“
Keï lief unwillentlich ein Schauer über ihre nackten Arme. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass ihr jemand derartig direkt und mit so viel Abscheu drohte. Aber jetzt war es zu spät, um umzukehren, sie hatte sich mit diesem unberechenbaren Kerl angelegt, mit dem nicht einmal Raen zurechtkam. Doch schließlich hatte sie gewusst, wie gefährlich es werden könnte.
‚Oh, Vater, du wirst sehen, deine törichte Tochter wird dieses Problem schon lösen!’, flüsterten ihre Gedanken. Sie hatte sich genau überlegt, was sie tat und warum sie es tat. Es war eine Art selbstauferlegte Prüfung und sie musste dieser Gefahr aufrecht ins Auge sehen, wenn sie ihren Mut und ihr Geschick unter Beweis stellen wollte. ‚Es sind aber nicht deine eigenen Probleme, sondern die eines Fremden, in die du so unbefugt deine Nase reinsteckst!’, drang eine andere Stimme tadelnd auf sie ein, doch Keï wischte sie schnell beiseite, ehe sie beginnen konnte, darüber ins Grübeln zu verfallen. Schroff fragte sie stattdessen Sel: „Und? Wie entscheidest du dich, Hyaun Banskeid?“ Sie wählte mit Absicht seinen hyaunischen Titel, um ihn an den kläglichen Rest seiner mottenzerfressenen Ehre zu erinnern.
Unterdessen schlenderten zwei Studenten an ihnen vorbei, schienen aber wegen ihres angeregten Gesprächs nicht zu bemerken, was sich hinter der Hausecke abspielte. Keï sah den beiden nach, bis sie verschwunden waren, und warf ihrem Gegenüber dann einen fordernden Blick zu.
Sels Nacken spannte sich, und er ballte die Hände zu Fäusten. Sein Gesicht war blass vor Zorn, und er sah aus wie ein Stier kurz vor einem Angriff. Keï ignorierte ihre Furcht und ließ ihre Hand weiterhin demonstrativ auf dem Schwertgriff ruhen. ‚Ich tue es, wenn du dich auch nur einen Deut falsch bewegst!’, sagte ihre Haltung.
„Was bekommst du eigentlich von Raen dafür, dass du das hier für ihn tust, hm? Eine Einweisung in die berühmte hyaunische Liebeskunst? Muss dir ja sehr gefallen, dass du dafür deine Ehre aufs Spiel setzt.“
Keï überhörte diese schmutzige Stichelei und wurde langsam ungeduldig. Warum lenkte er ab? Es hatte doch nicht den geringsten Sinn, ihr Angebot ließ ihm keine Hintertüren offen, das war sicher. Er musste darauf eingehen, wenn er in Borgossa bleiben wollte.
„Gehört das eigentlich auch zu eurer erhabenen ‚Sache’, euch hier in Borgossa gegenseitig das Leben schwer zu machen? Ist das wohl im Sinne eurer hyaunischen Volksväter?“, gab sie schließlich gleichsam bissig an ihn zurück.
„Was weißt du schon davon!“, versetzte Sel giftig. „Du bist eine Unwissende, eine, die niemals die große Weisheit Hyauns begreifen wird! Zu klein und unwürdig, um über Sein erwähltes Volk Urteil zu sprechen. Du bist ein Nichts unter Seinen Augen!“
„Das mag in diesem Sinne wohl auch stimmen, aber ich bin mir nicht sicher, ob du nicht ebenfalls längst zu einem Unwissenden geworden bist, zu einem Abtrünnigen, der seinen Glauben und seine eigenen Werte zugunsten zweifelhaftem Ruhms verschachert! Und unter den Augen aller Götter gibt es noch etwas viel Schlimmeres als bloß unwissend zu sein: Nämlich seine Erinnerung an das zu verlieren, was man ist!“ Sie ging zu weit, das war ihr klar. Sie hatte kein Recht, so mit ihm zu sprechen, aber es war der einzige Weg. Ihr brodelnder Zorn auf diesen Kerl, der sich anmaßte, den erhobenen Zeigefinger zu spielen, obwohl er selbst den ehernen Harnisch der Untadeligkeit längst abgelegt hatte, machten sie ganz kribbelig, und sie vergaß für einen Moment, dass sie sich gegenwärtig in etwas einmischte, das sie nun wirklich ganz und gar nichts anging.
„Es ist eine Schande, dass du dich von den wunderschönen Tugenden deines Volkes abgewendet hast! Du verschleuderst das Geschenk Hyauns an dein Volk für ein kleines Stückchen selbstgefälligen Abglanz! Das ist wahrlich traurig. Und nichts anders bist du: Eine arme, traurige Gestalt, die von ihrem Weg abgekommen ist!“
„Was fällst dir dreckigen Hure ein, es zu wagen, den Namen Hyauns in deinen kleinen, schmutzigen Mund zu nehmen und ihn mit deiner schändlichen, ohaoudischen Zunge zu beschmutzen!“, entfuhr es Sel wütend. Es fiel ihm offenkundig schwer, sich zu beherrschen, denn er sog tief Luft ein und warf einen kurzen Seitenblick auf die nächste Hausecke.
‚Nur zu!’, dachte Keï, ‚meine Leibwächter warten dort und sie werden nicht einen Moment zögern, dich in den Boden stampfen, wenn du mir auch nur ein Haar krümmst. Ich habe dich in der Hand, sieh es endlich ein!’
„Was ist jetzt?“, fragte sie laut und funkelte Sel entschlossen an. „Wie viele Aufforderungen brauchst du noch?“
Deutlich sichtbar, rang Sel den Drang nieder, sich einfach auf sie zu werfen und sie windelweich zu prügeln. Und erst als sie meinte, eine Veränderung in seinem Blick wahrzunehmen, entgegnete er: „Mir bleibt ja wohl nichts anderes übrig, als mich deiner ebenso liebenswürdigen wie nachdrücklichen Bitte zu beugen.“ Er konnte es nicht länger ertragen, in ihr Gesicht zu sehen. Er senkte den flackernden Blick und streckte ganz langsam seine Hand aus. Es war klar, dass er dieser erniedrigenden Situation entkommen wollte. Ein paar Mal zuckten seine Finger. „Gib mir mein verdammtes Schwert!“
Keï zog die Augenbrauen hoch. „Einen Moment noch, erst möchte ich wissen, ob das zuvor eine Feststellung oder eine Zustimmung gewesen war?“, fragte sie und legte einen Finger auf ihr Ohr.
„Es war eine Zustimmung, was sonst!“, stieß Sel hervor und es klang so, als koste es ihn unmenschlich viel Kraft, diese Worte zu formen.
‚Endlich sieht er es ein!’, dachte Keï erleichtert, und leiser Triumph, so wunderbar leicht wie der Flügelschlag eines Falken, erfüllte ihre Brust.
„Also gut, dann ist es abgemacht, hier ist dein Schwert.“ Sie ließ es in seine Hand fallen, und bevor Sel ihr den Rücken kehrte, sah er sie noch einmal letztes Mal an.
Tödliche Funken seines Hasses trafen sie aus den leuchtend grünen Augen unter den schwarzen Brauen, und von nun an würde es ein sehr persönlicher Hass sein, der sie verfolgte.
Erst als er verschwunden war, getraute Keï es sich, sich zu rühren und nach ihren Leibwächtern zu pfeifen. Sie kamen sogleich hinter der Ecke hervor und erkundigten sich besorgt nach ihrem Wohlergehen, als sie ihre angespannte Miene bemerkten.
„Es ist alles in Ordnung“, sagte sie abwehrend, doch fühlte sie plötzlich, wie weich ihre Knie geworden waren. ‚Ach was, stell dich nicht so an! Sel ist ein eitler Geck. Ob nun Champion hin oder her, er wird dir schon nichts tun, er wird es nicht wagen’, sprach die vernünftig klingende Stimme in ihr. Doch Keï konnte ihr, obwohl sie es nur allzu gerne wollte, nicht so einfach Glauben schenken. Sie hatte sich auf ein gefährliches Spiel eingelassen!
Tief in seine Erinnerungen versunken, saß Raen am Rand der Pferdeweide und lockte Jakori mit einem Apfel. In seinem Kopf hallte die Stimme der Prinzessin wider:
„Wenn alle sagen, dass Ihr mein neuer Leibwächter seid, dann lassen wir das doch einfach wahr werden!“ Zum unzähligsten Male entsann er sich an diesen folgenschweren Satz, den die Prinzessin vor wenigen Wochen zu ihm gesagt hatte, nachdem er ihr im dichten Gedränge des frühen Abendverkehrs auf der Straße zufällig den Hals und somit vermutlich auch das Leben gerettet hatte.
Sie waren damals auf dem Weg von der Akademie zum Çirco Nouvo gewesen. Die Prinzessin hatte ihn eingeladen, zum Nachtmahl mit in ihr Haus zu kommen. Natürlich hatte er erst bei ihrer dritten Bitte zugesagt. Das war inzwischen zu einem Spielchen zwischen ihnen geworden, und die Prinzessin machte sich einen Spaß daraus, ihn damit zu necken, dass er sich jedes Mal zierte wie ein Schuljunge.
Raen versuchte sich an diesen speziellen Tag zu entsinnen, der ihn plötzlich in so unerwartete Nähe zu der Prinzessin gebracht hatte, denn er nahm an, es war genau jener Zeitpunkt gewesen, da er begonnen hatte, die Kontrolle übe seine Gefühle zu verlieren. Nachdenklich reichte er Jakori einen der Äpfel, die er unter den Bäumen auf der Obstwiese eingesammelt hatte. Sie nahm ihn vorsichtig mit ihren Lippen von der Hand und kaute genüsslich mit dem Kopf nickend darauf herum. Danach stupste sie ihren im Gras sitzenden Herren mit der Nase an, weil sie spürte, dass mit ihm etwas nicht stimmte.
„Ach, Jakori, sag, was ist bloß passiert?“, seufzte Raen und kraulte ihr den Stirnschopf.
An dem besagten Tag war es sehr heiß und die Leute auf den Straßen waren dementsprechend gereizt gewesen. Sie waren nebeneinander hergeritten, die zwei Leibwächter und Bendan im Schlepptau, doch die Leute hatten ihnen kaum Platz gemacht, weil sie es entweder nicht konnten, oder keine Lust dazu hatten. Plötzlich hatte ein Tagedieb Keïs lebhafter Stute gehässig auf das Hinterteil geschlagen. Raen hatte nur die rollenden Augen und die geblähten Nüstern des Pferdes gesehen, doch noch ehe er in die Zügel hatte greifen können, war es mit einen kräftigen Satz nach vorn gesprungen, der die Prinzessin mit dem Oberkörper nach hinten geworfen hatte. Keï entglitten die Zügel, doch sie konnte sich gerade noch an der Mähne festklammern. In heller Panik galoppierte ihr Pferd durch die Menschenmenge und stieß die Leute um, die nicht rechtzeitig fliehen konnten. Raen reagierte sofort, er flüsterte Jakori einen schnellen Befehl zu, und wie von selbst nahm sie die Verfolgung auf. Laut rufend warnte er die Leute, aus dem Weg zu gehen, und mit einem Mal spritzten sie auseinander wie Wasser vor einem Schiffsbug. Keïs Pferd war mehrere Längen vor ihm und sprang unkontrolliert über eine Ladung Tuchballen, die auf der Straße standen. Ohne zu überlegen, setzte Raen hinterher und gewann immer mehr an Boden. Jakori war zwar weniger schnell als das edle Ross der Prinzhessin, dafür aber genauso wendig, und bereits an der nächsten Kreuzung holte er sie ein. Doch in dem dichten Gedränge konnte er nicht an ihre Seite kommen. Keï hatte sichtlich Mühe, sich oben zu halten, ihr Pferd vollführte bei jedem Hindernis geradezu halsbrecherische Haken.
‚Wie ein Hase auf der Flucht’, dachte Raen, und plötzlich geriet die Schimmelstute vor einen schwer beladenen Ochsenkarren und stieg bei diesem unüberwindbaren Hindernis so abrupt in die Höhe, dass Raen fürchtete, sie würde sich dabei selbst überschlagen.
‚Wenn Keï jetzt fällt, dann wird sie von den Hufen ihres eigenen Pferdes zertrampelt!’, schoss es ihm entsetzt durch den Kopf.
Doch glücklicherweise hielt sich die Prinzessin mit einem überraschten Schrei weiterhin fest. Ihr Pferd drehte sich in einem waghalsigen Kunststück auf der Hinterhand und kam seitlich des Ochsenkarrens wieder zu Boden. Jakori kam inzwischen von selbst zum Stehen und blockierte der Stute den Rückweg. Und endlich bekam Raen, der sich weit über Jakoris Seite gebeugt hatte, die Zügel zu fassen und ließ sich aus dem Sattel gleiten. Das edle Pferd wollte vor Schreck wieder steigen, doch Raen hängte sich mit aller Kraft an ihren Kinnriemen, so dass die Prinzessin absteigen konnte. Mit sichtlich weichen Knien stieß sie gegen ihn und hielt sich an ihm fest. Wie selbstverständlich streckte er einen Arm aus und stützte sie. Ihre Hand steifte aus Versehen seine Wange, und er spürte ihren Körper an seiner Seite. Er nahm den verlockenden Geruch ihrer Haut wahr, und schlagartig traten nun auch ihm Schweißperlen auf die Stirn. Doch als der Schreckmoment vorüber war, schien auch die Prinzessin zu bemerken, dass sie ihm viel zu nahe war und sie löste sich. Mit wackeligen Bienen wankte sie zu dem Karren, dessen Fahrer sich besorgt bei ihr um ihr Wohlergehen erkundigte, und stützte sich dort ab.
Die Leute kamen zusammen und glotzten ungeniert, wie sie es bei jedem Spektakel taten, das sich in den Straßen von Borgossa abspielte. Raen hatte unterdessen die Schimmelstute beruhigt, und endlich kamen auch die Leibwächter und Bendan bei ihnen an und kümmerten sich um die Prinzessin.
‚Allesamt miserable Reiter’, dachte Raen und trat dann zu Jakori, um sie für ihre gute Arbeit zu loben. Im Hintergrund hörte er, wie die Prinzessin ihre Leibwächter in ihrer Sprache wüst beschimpfte, und auch wenn er kein einziges Wort verstand, so war ihr scharfer Ton doch unmissverständlich. Zischend stieß er Luft zwischen den Zähnen aus, aber da die Sache so glimpflich ausgegangen war, gestattete er sich nun noch ein verstohlenes Lächeln.
Das Ereignis hatte sich in den Tagen danach schnell herumgesprochen: Ein Hy-Krieger hatte die ohaoudische Prinzessin gerettet! Und natürlich war die Geschichte noch mit viel mehr Farben ausgeschmückt worden. So war aus dem hyaunischen Krieger schließlich der persönliche Leibwächter geworden und aus dem Tagelöhner, vor dem Ihr Pferd gescheut hatte, ein Straßenräuber, der sie bedroht hatte.
Und in ganz ähnlicher Weise hatte sich auch in Raens Wahrnehmung etwas verändert, das spürte er, obwohl er es nicht wahrhaben wollte. Am Morgen jenes Tages war die Prinzessin für ihn noch schlicht die Prinzessin gewesen, ein Freund und nichts anderes, doch am Abend, als er auf seinem Lager gelegen und über alles nachdacht hatte, hatte sich die Prinzessin mit einem Mal in Keï verwandelt. Keï, die nicht mehr die mannhaft verwegene Thronfolgerin eines fremden Reiches war, sondern eine Frau, zu der er sich hingezogen fühlte ... eine Frau, die er begehrte.
„Ach, Jakori, was soll ich nur tun?“ Er strich seiner schwarzen Stute wieder über die Stirn. Ihr warmer Pferdegeruch war eigentümlich beruhigend. Es war der Geruch seiner Kindheit, der Ställe Henendras und der seines einstigen Freundes Hereke, der jetzt wohl glücklich mit seiner Frau und seinem Kind auf dem Hof seines Vater lebte und nichts mehr von ihm wissen wollte.
Er steckte Jakori den letzten Apfel zu und erhob sich. In gewisser Weise beneidete er Hereke um dessen Leben, das um so vieles einfacher war als das seine. Er beneidete ihn um seine Unwissenheit; dass er keinen Schimmer davon hatte, wie kompliziert die Welt außerhalb der Grenzen Hys war. Er beneidete sie alle um ihr kleines, sorgsam behütetes Dasein zu Hause. Und er grollte ihnen, weil sie von ihm verlangt hatten, genau das zu opfern. Raen wusste, dass seine Anschuldigungen ungerecht waren, denn er hatte es sich andererseits ja auch immer selbst gewünscht, hinaus in die Welt zu gehen und Abenteuer zu erleben, aber in einem versteckten Winkel seines Herzens fühlte er sich aus der Gemeinschaft seines Clans ausgeschlossen.
Von der Stadt klang fernes Glockengeläut herüber. Die Anhänger des Glaubens des Kreuzes wurden zur Sonntagsandacht gerufen und Raen überlegte, was er mit dem Tag anfangen sollte. In letzter Zeit fiel es ihm immer schwerer, sich diesen freien Tag in der Woche zu vertreiben. Ständig geriet er ins Grübeln, wenn er nichts zu tun hatte. Aber auch wenn Manoen ihn fragte, ob er mit ihm nach La Gioia kommen wollte, um in netter Gesellschaft einfach nur die Seele baumeln zu lassen, hatte er keine Lust dazu. Nichts konnte ihn ablenken, außer Arbeit ... und ihre Gesellschaft. Er war ein unrettbarer Fall, wie Manoen bereits festgestellt hatte. Er litt an jener fatalen Krankheit, welche all diejenigen befiel, die hoffnungslos verliebt waren.
Verdrossen trottete Raen zum Haus hinüber, und Jakori wieherte sehnsüchtig hinter ihm her, aber er hatte nicht vorgehabt, mit ihr auszureiten. Im Hof kam ihm Sel entgegen. ‚Das hat mir gerade noch gefehlt‘, dachte er düster. Bei all den Leuten, die er kannte, wollte er jetzt bestimmt nicht ausgerechnet Sel begegnen. Er versuchte, seinen Erzfeind zu ignorieren, doch dieser grinste aufdringlich von einem Ohr zum anderen und tönte aus vollem Halse: „Ah, da kommt ja der heimliche Wilderer im Garten der Prinzessin!“
Raen überlegte es sich anders und ging schnurstracks auf ihn zu.
„Na, wie ist sie so?“ Sel leckte sich anzüglich über die Lippen; eine durchaus obszön gemeinte Geste.
Unvermittelt packte Raen ihn an beiden Schultern und rammte ihm ohne Vorwarnung sein Knie in die Weichteile. Sel stieß keuchend Luft aus und sank vor ihm auf die Knie. Mit beiden Händen hielt er seinen Schritt und stöhnte.
„Den hattest du noch gut bei mir, Sel, und ich habe ihn mir wahrlich lange aufgespart! Aber wenn du weiterhin Gerüchte über mich und die Prinzessin in die Welt setzt, dann tu ich dir noch ganz andere Dinge an, das schwöre ich dir!“, fauchte Raen den am Boden Liegenden an. Er konnte ja nicht ahnen, dass Keï das alles schon einige Tage zuvor geregelt hatte.
Sel begann manisch laut den staubigen Boden vor seiner Nase anzulachen. „Der Kavalier der Prinzessin! Ha, ha, ha! Sieh dich doch nur an, wie lächerlich du bist.“ Er warf einen verkrampften Blick zu ihm hoch, sein Gesicht war eine rotangelaufene, verzerrte Fratze. „Schande über dich! Du bist unseres Kriegerordens nicht länger würdig, verkaufst dich wie eine billige Hure an Fremdlinge und verrätst ihnen unsere Geheimnisse! Du bist eine Hure, eine HURE!“, keifte er wie von Sinnen und Speichel rann ihm dabei über die Unterlippe.
Angewidert ließ Raen seinen ewigen Rivalen, wo er war, und stapfte durch den Innenhof, doch Sel lachte weiter hysterisch hinter ihm her.
Missmutig zog er den Kopf zwischen die Schultern und gab vor, nichts zu hören. Sel war so gut wie erledigt, das wussten alle! Jetzt, da Maestro Karbald vom Dekan der Akademie öffentlich abgemahnt worden war, ging es auch seinem beflissenen Adlatus an den Kragen. Und Raen vermutete, dass eben dies der Grund dafür war, warum Sel sich in letzter Zeit wie irre benahm. Der Gute war verzweifelt. Er musste machtlos mit ansehen, wie sein letztes Quäntchen Einfluss schwand.
Schnell stieg Raen die Treppe zur Galerie hinauf, wo Manoen lässig auf das Geländer gestützt stand.
Er pfiff leise durch die Zähne und sagte: „Dem hast du’s aber gegeben. Wurde ja auch langsam mal Zeit! An deiner Stelle hätte ich ihm gleich noch einen verpasst! Das hat noch nicht gereicht, fürchte ich. Die Glocken haben noch nicht laut genug geklingelt!“
„Halt die Klappe, Manoen!“, zischte Raen ihn an und wollte an ihm vorbeigehen, doch der Rotschopf hielt ihn zurück und fragte: „Sag mal, stimmt das, was Sel da eben gesagt hat?“
„Was denn? Dass ich etwas mit der Prinzessin hätte? Glaubst du das immer noch? Ich dachte, das hätten wir geklärt? Ein schöner Freund bist du!“, entfuhr es dem Jüngeren. Er blitzte Manoen gefährlich an, der beschwichtigend eine Hand hob. Vielleicht aber auch aus Vorsicht, denn er wusste ja, wie locker Raens Faust saß, wenn er wütend war.
„Nein, ich meine, dass du ihr unsere Geheimnisse verrätst.“
Raen schnaubte gereizt.
„Raen, ich bin verpflichtet, dich das zu fragen, denn es geht dabei um mehr als nur das Ausplaudern persönlicher Dinge. Glaub mir, du kannst ihr gerne deine ganze Lebensgeschichte erzählen, die deiner Familie und von mir aus auch die deines Pferdes, aber die Geheimnisse Hys dürfen unter keinen Umständen an Fremde geraten. Ist das hier in deinem Oberstübchen angekommen?“ Manoen tippte Raen unsanft gegen die Stirn.
Der wich empört von dem Hünen fort. „Spar dir deine Predigt, Manoen! Auch wenn du denkst, dass ich nicht mehr ganz bei Trost bin, seit ich bei der Prinzessin in Diensten stehe, aber mir ist sehr wohl noch bewusst, was ich sagen darf und was nicht!“
„Gut, dann bin ich ja beruhigt.“ Manoen ließ seine erhobene Hand wieder sinken. Einen Moment herrschte Schweigen zwischen ihnen.
„Bist du fertig?“, fragte Raen brüsk.
„Ja, bin ich. Nein, warte, eins noch. Wenn du reden möchtest, dann ...“
„Bist du für mich da, ja ja, ich weiß!“, setzte Raen den nett gemeinten Satz seines Freundes ungeduldig fort, starrte dabei aber hartnäckig geradeaus die Galerie entlang. Dann senkte er den Blick, murmelte eine Entschuldigung und setzte endlich seinen zuvor geplanten Weg fort.
Manoen schürzte die Lippen und sah seinem Freund hinterher, bis dieser in seinem Zimmer verschwunden war.
‚Der Kavalier der Prinzessin!’, wiederholte er in Gedanken. ‚Wenn das mal gut geht.’
Das Wetter war großartig wie immer an diesen ersten Tagen im September, und das Fest der Masken zog wieder jede Menge Leute an. Überall in der Stadt herrschte eine ausgelassene Stimmung.
Doch sehr zu Manoens Leidwesen hatte sich Raen dazu entschlossen, dieses Mal nicht am großen Turnier teilzunehmen. Ein Championstitel genügte ihm, hatte sein Freund gesagt, so wie ihm auch eine Niederlage gegen Sel ausreichte, der sich als Titelverteidiger selbstverständlich für den Wettkampf eingeschrieben hatte. Manoen vermutete, dass das Einzige war, was der unliebsame Kamerad noch tun konnte, um seinen durch seine fragwürdigen Machenschaften mit Karbald angegriffenen Ruf wieder zum Glänzen zu bringen. Sollte der Narr sich doch allein durch die anstrengenden Runden schlagen, hatte Raen zufrieden gesagt. Er würde in seinem abschließenden Jahr in Borgossa jedenfalls lieber entspannt durch die Straßen ziehen und das Fest der Masken an der Seite einer besonderen Frau feiern, anstatt sich unnötige Blessuren einzufangen.
Manoen war enttäuscht. Denn zum Einen fühlte er sich von Raen zurückgestellt, der die Gegenwart der Prinzessin immer mehr der seinen vorzog, und zum Anderen hätte er auf dem Turnier wirklich gerne wieder den Zeremonienmeister für seinen Freund gespielt und nebenbei natürlich auch ein wenig von dessen Ruhm eingeheimst. Mehrmals hatte er versucht, ihn zu überreden, doch Raen war hart geblieben. Manoen gab sich beleidigt und sah die Schuld dafür einzig und allein bei der Prinzessin, denn diese hatte Raen mittlerweile dermaßen für sich in Beschlag genommen, dass er nichts mehr tat, ohne vorher ihr Einverständnis einzuholen. Mit ihrer charmanten Art, für die Raen auf einmal nun doch so empfänglich war, hatte sie ihn beschwatzt, das Fest doch mit ihr, anstatt mit all seinen anderen Freunden zu besuchen, und Manoen musste einräumen, mittlerweile mordsmäßig eifersüchtig auf sie zu sein. Immer wieder hatte er in den vergangenen Wochen festgestellt, dass er seinen Freund nur ungern mit dieser Frau teilte. Leider schien Raen bereits jenseits von Gut und Böse zu sein und für Vernunft nicht mehr zugänglich, und Manoen begann sich langsam ernsthafte Sorgen zu machen. Die Prinzessin und ihr neuer Leibwächter verbrachten auffällig viel zu viel Zeit gemeinsam. Und wenn er sich bereits fragte, was es neben diesem unseligen Vertrag wohl noch gab, das die beiden so eng miteinander verband, dann waren andere mit aller Wahrscheinlichkeit schon längst auf denselben Gedanken gekommen. Keiner konnte abschätzen, was das für Raen für Folgen haben konnte, wenn es für den mächtigen Vater der Prinzessin auch nur so aussah, als könne der Hy-Krieger sie in irgendeiner Weise kompromittieren - und Raen selbst wohl noch am wenigsten. Manoen fürchtete zwar nicht, sein Freund könnte einen derart idiotischen Fehler begehen und der Prinzessin in dieser Form zu nahe treten, aber er beschloss trotzdem, ein waches Auge auf ihn zu haben. Das war gewiss nicht leicht, doch er würde es für Raen tun, der in seiner ganzen Vernarrtheit womöglich blind in einen sehr tiefen Schlamassel tappte, wenn er es nicht verhinderte.
Keï empfing Raen am Tor ihres Hauses. Es war bereits dämmrig, und die ersten Lichter wurden entzündet. In den Straßen war schon jetzt der Bär los; von überall her tönte Musik und lautes ausgelassenes Gelächter. Tanzende Menschen in phantasievollen Kostümen kamen immer wieder an ihnen vorbei, und versuchten, sie in ihren Tanz mit einzustimmen. Keï lächelte ihrem galanten Begleiter im matten Licht des Abends entgegen, wie sie es immer tat, wenn sie sich sahen, und Raen sonnte sich in diesem Lächeln, das nur ihm ganz allein gehörte. Sie hatte eine Maske auf dem Scheitel sitzen, die ein zähnefletschendes Ungeheuer mit einer wilden Mähne darstellte. ‚Löwe’ wurde dieses Geschöpf genannt, wusste Raen, obgleich er noch nie einem solchen begegnet war. Die Prinzessin hatte ihm von diesen mächtigen Katzentieren erzählt, die so groß wie Bären waren und so gefährlich wie in ganzes Rudel Wölfe. Sie waren die Herrscher der Nacht, hatte Keï ebenso respektvoll wie furchtsam geraunt, und Menschen, die in ihr Reich eindrangen oder sich einfach nur darein verloren, töteten und fraßen sie, wie sie auch ihre anderen Opfertiere verschlangen. Wer in ihrem Schlund verschwand, der verschwand auf Nimmerwiedersehen, und nicht einmal der große Ashallah konnte sie dann noch finden, um sie ins Paradies zu führen. Ungläubig hatte Raen ihr zugehört, war aber insgeheim froh gewesen, dass es diese unheimlichen Kreaturen - sofern es sie denn tatsächlich gab - glücklicherweise nur in den Ländern südlich des Mittleren Meeres existierten.
Aber ob nun Fabelwesen oder nicht, die Prinzessin wollte augenscheinlich für diese Nacht die Herrscherin derselben sein. Raen lächelte in sich hinein und verneigte sich leicht.
„Für Euch habe ich auch eine Maske!“, sagte sie vergnügt und reichte sie ihm. Er nahm das aus Leder gemachte und kunstvoll bemalte Verkleidungsstück entgegen und besah es sich. Es war ein ebenso furchterregendes, schwarzes Wolfgesicht, mit einer langen Schnauze. Kaum verwundert blickte er Keï an.
„Ich dachte, das sei passend, da es das Tier ist, dem Ihr in Eurer Heimat den meisten Respekt zollt“, entgegnete sie, und Raen bedankte sich für das sicher sehr kostspielige Geschenk. Er setzte die Maske auf und knurrte kurz wie ein Wolf. Keï tat das Gleiche und ahmte verhaltenes Löwengebrüll nach. Es klang so komisch, dass beide in gelöstes Gelächter ausbrachen.
„Alsdann, wollen wir?“, fragte Raen, seine Stimme klang hinter der Maske gedämpft. Er breitete einen Arm einladend in Richtung der Straße aus.
„Ja, einen Moment noch.“ Keï wandte sich zur Tür und zog an einem Ärmel ihr Kammermädchen aus dem Schatten hervor. „Faïshe kommt mit. Sie wird heute unsere Anstandsdame sein.“
Raen betrachtete das Mädchen, das viel zierlicher und wesentlich kleiner war als die Prinzessin, aber ebenso wundervolle samtbraune Haut hatte. Sie grüßte ihn, und er nickte höflich zurück. Faïshe trug eine Tunika aus leichtem, fliederfarbenem Stoff und eine hübsche Vogelmaske auf dem Kopf. Und in ihrem kurzen Haar steckten tatsächlich ein paar graue Taubenfedern. Über dieses Detail musste Raen hinter seiner Maske schmunzeln.
Verschüchtert schaute Faïshe vom Wolfsgesicht zur Löwenmaske und fragte sich wohl, wie sie zwischen zwei solch furchteinflößenden Fratzen einen angenehmen Abend verbringen sollte.
Raen ging auf, was Keï soeben gesagt hatte und wandte sich wieder an die Prinzessin. „Wieso Anstandsdame? Kommen Eure Leibwächter und Euer Bruder etwa nicht mit?“
„Nein, meine Leibwächter bleiben hier, und mein Bruder vergnügt sich mit seinen Freunden.“
„Aber das ist viel zu riskant!“, äußerte Raen seine Bedenken, obwohl er sich eigentlich darüber freute, diesen Abend einmal ohne die allgegenwärtige Begleitung der Prinzessin zu verbringen.
„Wir haben doch gesehen, wie gut die beiden auf mich aufpassen können, wenn es brenzlig wird!“, brummte die Prinzessin zynisch. „Und heute reicht es durchaus, wenn Ihr an meiner Seite seid! An keinem anderen Tag ist Borgossa so sicher wie am heutigen Abend.“
„Hm, Ihr solltet nicht so schlecht von Euren Leibwächtern denken. Sie sind doch stets bemüht“, verteidigte Raen die beiden für Keïs Sicherheit zuständigen Ohaoudis, die jetzt wohl so etwas wie seine Zunftgenossen waren. ‚Das einzige, was diese beiden griesgrämigen Riesen tatsächlich nicht können, ist mit Pferden umgehen’, fügte er in Gedanken hinzu. ‚Aber ansonsten machen sie ihre Arbeit sehr gewissenhaft.’
„Ach was, sie sind nichtsnutzige Tölpel“, winkte Keï ab.
Raen verzog hinter seiner Maske das Gesicht. Er hoffte, dass die Prinzessin über ihn nicht irgendwann genauso dachte, wenn er wie die beiden Leibwächter einmal in Ungnade fiel.
„Nun gut, dann lasst uns gehen. Das Fest wartet nicht auf diejenigen, die trödeln“, sagte die Prinzessin und schloss die Tür.
„Und wo wollen wir zuerst hin? Zum Campo della Indipendença?“
„Von mir aus“, antwortete sie und setzte sich schwungvoll in Bewegung, so dass ihr hellbrauner Umhang hinter ihr her wehte.
Während sie durch die Gassen gingen, betrachtete Raen sie heimlich. Ihre stiefelbewehrten Füße griffen weit und undamenhaft aus. Ihre Beine steckten in einer weiten, sandfarbenen Hose und der Oberkörper in einer kurzen, ärmellosen und reich bestickten Tunika derselben Farbe. Ein mit Messingbeschlägen besetzter Gürtel umfasste ihre Hüften und betonte ihre weibliche Figur mehr als ihr womöglich lieb war. Um ihre Oberarme spannten sich breite Reifen aus Messing und um die Handgelenke weiche Lederstulpen. Auch wenn Raen fand, dass ihr nichts besser stand, als das erhabene, königliche Blau ihrer Frauengewänder mit einem Hauch von Gold, so war auch heute ihre ganze Erscheinung, obwohl es eine Verkleidung war, äußerst geschmackvoll, und er kam nicht umhin, ihr immer wieder verstohlene Blicke zuzuwerfen. Irgendwann stellte er fest, dass er auf niemanden mehr achtete und nur noch sie anstarrte. Beinahe schamlos nutzte er den Schutz der Maske aus, um sich sattzusehen. Zu dumm nur, dass das Gesicht der Prinzessin durch jenes schauerliche Löwenantlitz verhüllt war; gerne hätte er auch unbemerkt ihren ausgelassenen Gesichtsausdruck studiert, den sie haben musste, denn sie lachte in einem fort.
„Schaut nur, der sieht ja lustig aus!“, rief sie vergnügt aus und zeigte auf ein urkomisches Eselskostüm, in dem augenscheinlich zwei Menschen steckten. Torkelnd, das Hinterteil nicht wissend, wo das Vorderteil hinwollte, kam das Getier auf sie zu, klappte sein Maul aus Holz einmal auf und zu und tanzte dann mit verdrehten Körperteilen weiter die Straße entlang, auf der es allmählich immer voller wurde. Die meisten Verkleideten hatten dieselbe Richtung eingeschlagen: Hin zu dem großen Platz, der sonst als Marktplatz diente, auf dem sich heute Abend aber alle möglichen Gaukler, Komödianten und die Artisten des Fahrenden Volkes trafen, um Vorführungen für alle abzuhalten.
Der Menschenstrom wurde immer dichter, und schließlich öffnete sich vor ihnen der Platz. Die flankierenden Häuserzeilen waren üppig geschmückt mit langen Fahnen, Wimpeln und Laternen, und der weitläufige Campo selbst war angefüllt mit farbenprächtigen Ständen, Wagen und Zelten. Dazwischen wogte die Flut der Kostümierten; einige tanzten und sangen zur Musik, die kleine Gruppen von Spielleuten zum Besten boten, andere wiederum bogen sich vor Lachen zu Füßen einer Bühne, auf der sich schellenbesetzte Narren gegenseitig an der Nase zogen. Doch alle waren sie hier zusammengekommen, um gemeinsam das Fest zu feiern, bei dem für einen Abend alle Standesunterschiede hinter Masken verborgen blieben. Hier dröhnte ein reicher Kaufmann neben einem Tagelöhner ein zotiges Liedchen, und dort stieß eine vornehme Dame den Weinbecher schwungvoll mit ihrer Magd an. Das Fest der Masken machte alle Sorgen vergessen und ließ einen jeden, ob arm oder wohlhabend, für einen Tag glücklich sein.
So erging es auch Raen, der sich nahe an Keïs linker Schulter hielt, als sie sich in das Gewimmel auf dem Platz stürzten.
Doch keiner von ihnen bemerkte den schwarz gewandeten Schatten, der ihnen in einigem Abstand folgte.
Es war gar nicht so einfach, die drei in diesem unübersichtlichen Gewimmel zu verfolgen. Schon zweimal hätte er sie beinahe verloren. Das eine Mal hatte sich ihm so ein dämliches Eselskostüm quer in den Weg gestellt, dass er sie für einen Moment aus den Augen verloren hatte, und das andere Mal war er nicht an einem aufdringlichen Zuckerwerkverkäufer vorbeigekommen, ohne etwas zu kaufen.
Manoen warf die Reste des fürchterlich süßen Zeugs weg, das ihm den Mund verklebte, und konzentrierte sich wieder auf seine Aufgabe. Vor ihm präsentierte sich der Campo della Indipendença in bereits fortgeschrittener weinseliger Stimmung, und er fühlte sich von einer unsichtbaren Kraft mitten unter die Leute geweht wie ein buntes Herbstblatt, das der Wind mit vielen anderen zu einem großen Haufen vereinte. Bereits nach den ersten paar Schritten zwischen den dichtgedrängten und sich wiegenden und biegenden Leibern beglückwünschte er sich für seine Körpergröße und sein schlicht gehaltenes Kostüm, so hatte er einen guten Blick über die meisten geschmückten Häupter hinweg und genügend Bewegungsfreiheit.
Raen und Keï waren mehrere Schritte weiter vor ihm, gleichauf mit drei ganz in knöchellange, schwarze Umhänge gehüllte Gestalten mit weißen, langnasigen Wachsmasken und spitzen, schwarzen Hüten. Dieses Kostüm war, auch wenn es einen recht makaberen Hintergrund hatte, eines der beliebtesten Verkleidungen auf dem Fest. Es gab Dutzende davon und es stellte den Dottore della Pestilençia dar, den Pestarzt. Er war ein Sinnbild für das vergebliche Bemühen, das ewige Übel zu bekämpfen, und auch für den idealistischen, aber vollkommen närrischen Versuch, sich gegen das Unausweichliche des Schicksals zu stellen. Und wahrscheinlich konnte Manoen diese Verkleidung deshalb nicht leiden. Sie erinnerte in zu sehr an die unablässig erhobenen Zeigefinger der Dottersäcke zu Hause in Hy. Aber vielleicht wies diese Figur auch nur zu große Ähnlichkeit mit seinem eigenen Charakter auf.
Plötzlich geriet der stetige Strom der Kostümierten ins Stocken, und Manoen blieb stecken. Vor einem Wagen, auf dessen erhöhter Bühne ein albernes Stück aufgeführt wurde, in dem ganz augenscheinlich der oberste Stadtvater von Borgossa und der Großkönig von Graçe aufs Korn genommen wurden, hatte sich ein undurchdringlicher Menschenpulk gebildet. Es ging weder vor noch zurück. Manoen reckte seinen Kopf über den wilden Federbusch seines Vordermannes und schielte daran vorbei. Raen und Keï waren nicht mehr zu sehen. Verdammt!
Er versuchte sich mit sanfter Gewalt an dem Federbuschmann vorbeizudrücken, doch das brachte ihm lediglich einen unsanften Ellenbogenhieb und ungehaltene Beschimpfungen ein, statt einer Passage in die Freiheit. Eingekeilt musste er ausharren, stellte sich aber erneut auf die Zehenspitzen, um die Menge abzusuchen. Doch Raen und die Prinzessin blieben in ihr verborgen. Da tat sich mit einem Mal doch eine Lücke auf, und Manoen fackelte nicht lange. Rasch schlüpfte er hindurch und vorbei an dem Menschenstau vor der Bühne. Immer wieder den Kopf wendend wie ein nervöser Uhu blickte er sich um. Er hatte gewusst, dass es ein beinahe unmögliches Unterfangen war, Raen auf Schritt und Tritt zu verfolgen, ihn immer im Auge zu behalten, besonders an einem Abend wie diesem. Aber bis jetzt hatte er es recht gut gemeistert, und es hatte ihm sogar auf gewisse Weise Spaß gemacht, denn er hatte dabei das Talent bei sich entdeckt, Leute zu beschatten. Ein ungewohnter Ehrgeiz beseelte Manoen seitdem und ging Hand in Hand mit einem unverhofften Glücksgefühl. Endlich einmal gab es etwas, das er wirklich gut konnte.
Doch jetzt hatte er sie verloren. Manoen fluchte leise und kratzte sich unter dem flachen, weißen Filzkegel, der seine Kopfbedeckung darstellte, am kurzgeschorenen Schädel. Das Kostüm hatte er sich von Uke geborgt, besser gesagt von dem unglückseligen Uma. Alles daran war ihm etwas zu klein, aber das war egal, es erfüllte seinen Zweck. Der blaue Umhang und die rote Maske mit der Knollnase machten ihn unkenntlich. Manoen wurde unruhig, er spürte, dass es gerade heute von besonderer Dringlichkeit war, an den beiden unverbesserlichen Turteltauben dran zu bleiben. Die zügellose Atmosphäre des Festes hatte schon so mancherlei ehrbare Dame und vernünftigen Herren zu verhängnisvollen Fehltritten verleitet. Und auch wenn über alles, was an diesem Abend geschah, stets ein Mantel des diskreten Schweigens gebreitet wurde, so war es Manoen doch zu riskant, einen derart delikaten und folgenschweren Ausrutscher einfach so geschehen zu lassen.
Er stoppte das Drehen um die eigene Achse. Es war vergebens, sie waren nirgendwo zu sehen. Manoen fluchte erneut. Doch gerade als er sich eingestehen wollte, sich in seinem Talent wohl doch überschätzt zu haben, gewahrte er rechterhand von dem grünen Zelt der Artisten zwei schwarzhäutige Riesen, die sich ebenso unauffällig wie er durch die Menge zu kämpfen versuchten. Die beiden Leibwächter der Prinzessin, kein Zweifel! Manoens Herz klopfte schneller, dann konnten die beiden auch nicht weit sein. Stracks schlängelte er sich hinter den in grüne Mäntel gehüllten Ohaoudis hinterher und nutzte dabei die Bresche, die ein weiterer dieser schwarzen Doktoren geradewegs vor ihm pflügte.
Er gewann schnell an Boden und als er die Leibwächter eingeholt hatte, erkannte er die fransige Mähne von Keïs Maske und das Wolfsgrinsen Raens, von der kleinen Faïshe sah er nur den befiederten Scheitel. Manoen verlangsamte seinen Schritt, so wie auch der Dottore vor ihm, und auch die Leibwächter scherten unauffällig aus und verbargen sich hinter den Säulen der benachbarten Arkaden. Augenscheinlich wollten sie auch nicht bemerkt werden. Bestimmt hatten sie den Auftrag, die Prinzessin zu beobachten, auch wenn sie es ihnen verboten hatte, mitzukommen. Dann war es nur umso wichtiger, dass er auch hier war und eingreifen konnte, noch bevor es verfänglich werden würde. Doch bis jetzt verhielten sich die Prinzessin und ihr neuer Leibwächter nicht mehr oder weniger vertraut als sonst. Sie bestaunten gerade, jeder einen Weinbecher in der Hand, die Artisten bei ihrer waghalsigen Vorführung, einen wankenden Turm aus Menschen zu bauen; immer einer auf den Schulter des andern. Vier Männer standen bereits so übereinander, und ein fünfter schickte sich gerade an, mit einer kleinen Fackel zwischen den Zähnen die Spitze zu erklimmen. In der Form hätte er bequem in die Fenster des zweiten Stockwerkes der Häuser blicken und einer holden Angebeteten einen blühenden Pflaumenzweig überreichen können, dachte Manoen und musste hinter seiner Maske über diese Vorstellung vergnüglich grinsen.
Der Dottore vor ihm war auch stehengeblieben und hatte seinen Kopf in den Nacken gelegt. Etwas an seiner Haltung schien Manoen vertraut. Diese hochgezogenen Schultern! Er schüttelte den Kopf. Nein, das konnte nicht sein. Der würde sich heute am Abend vor dem großen Turnier bestimmt nicht amüsieren gehen.
Der Menschenturm erhielt seine neue fackelwedelnde Spitze, und die Leute jubelten und applaudierten begeistert. Der Mann auf der schwankenden Spitze breitete die Arme aus und lächelte breit unter seinem schwarzen Schnurrbart. Doch dann ließ er sich ganz unvermittelt, die Fackel noch immer in der linken Faust, nach hinten fallen, und für einen kurzen, atemlosen Moment lang sah es so aus, als sei er gestürzt. Hier und da schrie eine Frauenstimme erschrocken auf, und Hände wurden vor die bunten, starren Münder der Masken gehoben. Aber zu Füßen des Turmes wurde der Artist von drei anderen aufgefangen, als wiege er nicht mehr als ein Weizenbrot. Federnd sprang er auf die Füße und verbeugte sich. Wieder brandete Beifall auf, diesmal mit viel Erleichterung darin.
Als der Menschenturm sich dergestalt wieder in seine einzelnen Bestandteile aufgelöst hatte, schlenderten Raen und Keï weiter. Und auch der schwarze Dottore machte sich wieder auf den Weg, in seinem Rücken Manoen und die beiden Leibwächter.
Raen trank den letzten Schluck aus seinem Becher und blickte hinauf in den klaren Sternenhimmel. Er wusste nicht so genau, ob es nun die Wirkung des Weines war, den sie bereits ausgiebig genossen hatten, oder die intensive Nähe der Prinzessin, die ihn ganz trunken auf den Schwingen der Glückseligkeit schweben ließ. Der mal wiegende, mal lebhaft tänzelnde Frauenkörper an seiner Seite machte ihn ganz verrückt, schürte seine heftige Sehnsucht, die sich unweigerlich als angenehm begehrliches Ziehen in seiner Lendengegend manifestierte. Wie lange schon hatte er nicht mehr bei einer Frau gelegen? Es war mindestens sechs Monate her. Oder noch länger? Er erinnerte sich kaum noch daran. Kein Wunder, dass das Verlangen jetzt mit ihm durchging!
Er sah sich um. Überall hatten Männer Frauen im Arm, schäkerten mit ihnen oder vergingen sich bereits ungeniert in tiefgründigere Erforschungen ihres Gegenübers.
Eigentlich wäre heute der beste Abend für ein amouröses Abenteuer, dachte Raen heimlich seufzend. Das Fest ließ alle Hemmungen vergessen, und der in rauen Mengen durch die Kehlen fließende Wein machte die Mädchen willig. Welch günstigeren Zustand konnte es für einen Mann geben, ganz ohne große Mühen genau das im Überfluss zu bekommen, was er brauchte, um glücklich zu sein?
Wehmütig dachte er an Manoen, der jetzt bestimmt schon auf der Jagd nach dem unschuldigsten Lächeln und dem griffigsten Hinterteil war und dabei mit aller Sicherheit die Qual der Wahl hatte. Ein wenig bedauerte er es, jetzt nicht mit dem Rotschopf unterwegs zu sein und sich mal wieder so richtig zu amüsieren, mit allem, was dazu gehörte. Er nahm sich vor, das nachzuholen. Er hatte seinen Freund in letzter Zeit arg vernachlässigt. Doch jetzt brauchte er mehr Wein! Er sah sich nach dem nächsten Stand um, wo der berauschende Saft ausgeschenkt wurde, und erspähte einen am Rande des Campo.
Er wandte sich zu Keï um und stellte fest, dass sie ihn die ganze Zeit über angesehen hatte. Sie hatte sich die Maske auf den Scheitel geschoben, und ihre schwarzen, mit Kohlestift umrandeten Augen glühten in einem eigentümlichen Glanz, der ihm abwechselnd Hitze und Kälte durch die Glieder jagte.
„Ich gehe und hole uns noch Wein“, sagte er schnell und streckte die Hand nach ihrem Becher aus. Doch die Prinzessin lächelte nur. Etwas Verträumtes, Entrücktes lag auf ihren Zügen. Hatte sie schon zu viel getrunken? Raen schob nun auch seine Maske hoch.
„Geht es Euch gut?“, fragte er besorgt.
„Äh, ja, natürlich.“ Sie schlug die Augen nieder, lächelte aber versonnen weiter. „Ich dachte nur, wir könnten vielleicht irgendwo einkehren. Ich muss mich mal hinsetzen. In einer der Schenken wird sich doch wohl ein Plätzchen finden lassen.“
Raen nickte. „Versuchen wir es in den Seitengassen, dort wird es nicht so voll sein.“ Zügig ging er voran. Er brauchte dringend etwas zu Trinken! Mehr Wein. Sonst würde er an diesem Abend noch innerlich verbrennen!
Sie bogen in die Straße ein, die zum Porto Mercado führte, und von ihr aus wieder in eine der Gassen, welche zu dem etwas gehobeneren Vergnügungsviertel gehörten. Hier kehrte vornehmlich die feine Gesellschaft von Borgossa ein, nachdem sie in La Gioia gewesen war. Genau das richtige für den Besuch einer Prinzessin, dachte Raen und wählte die erstbeste Tür.
Die schummerige Schankstube war voll, aber ein kleiner Tisch - mehr ein Hocker auf hohen Beinen - in einem der hintersten Winkel bot noch Platz. Sie ließen sich dort mit Faïshe nieder und bestellten Wein bei dem recht freizügig gekleideten Schankmädchen, das sich geduldig, aber bestimmt seinen Weg durch die unverschämt grabschenden Hände der Betrunkenen kämpfte.
Keï lehnte sich zurück. Sie wirkte erschöpft, dabei war es noch nicht einmal Mitternacht. Na, das versprach ja ein kurzer Abend zu werden! Auch gut, dachte Raen, dann konnte er sich vielleicht hinterher noch einmal in die allgemeine Fröhlichkeit stürzen und womöglich doch noch die ein oder andere Eroberung machen.
Das Schankmädchen kam mit dem Wein, und Raen nahm einen tiefen Schluck des sauren, nur mäßig guten Tropfens. Egal, Hauptsache, er konnte damit die ungestüme Flamme seiner Begierde so lange klein halten, bis er sich austoben konnte. Er bestellte sogleich einen zweiten.
Keï blickte ihn verwundert an.
„Durst!“, entgegnete Raen schlicht und trank den Rest des ersten Bechers auf einen Zug leer.
„Alsdann, auf Euer Wohl!“, prostete sie ihm zu und hob ihrerseits den Becher an die Lippen.
Danach entstand ein langes Schweigen, denn nicht nur Raen war diese neue, ungemein intime Situation mit einem Mal nicht mehr geheuer, auch Keï betrachtete abwesend ihre Finger.
„War wohl doch keine so gute Idee?“, fragte sie nach einer ganzen Weile mit einem verlegenen Augenaufschlag.
Raen schürzte die Lippen, lächelte dann aber gutmütig. „Im Gegensatz zu Euren Leibwächtern kann ich, obwohl ich gewissermaßen ganz ähnlich in Euren Diensten stehe, eigene Entscheidungen fällen. Und die war es, diesen Abend mit Euch zu verbringen“, sprach er beinahe feierlich.
„Und ich denke, Ihr hättet Euch besser ohne mich amüsieren können“, gab sie nüchtern zurück.
„Ach, iwo! Was hätte ich denn heute groß tun können, was ich nicht längst schon auf diesem Fest getan habe. An Eurer Seite aber ist es etwas ganz Besonderes.“
„Ich hoffe, Ihr meint das auch ehrlich!“
„Aber natürlich!“, bekräftigte er und legte sich mit einer übertriebenen Geste, die zeigte, wie reichlich betrunken er schon war, eine Hand auf die Brust. „Wie könnt Ihr nur die Aufrichtigkeit eines Hy anzweifeln?“
„Weil Ihr auch eine Menge von einem ganz normalen Menschen in Euch habt.“
„Was soll das denn heißen, normal?“
„Das heißt, Ihr schummelt wie jeder andere auch, nur eben netter!“
„So?“ Raen versuchte, böse dreinzuschauen.
„Hm hm.“ Die Prinzessin nickte nachdrücklich. „Bestimmt sogar! Ihr braucht gar nicht so zu gucken, das beeindruckt mich keineswegs.“
Schmollend lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme. „Ihr macht Euch mal wieder über mich lustig!“
„Nein, das ist nicht wahr.“ Sie kicherte wie ein kleines Mädchen, nahm den letzten Schluck aus ihrem Becher und stülpte ihn dann umgekehrt auf den Tisch.
Faïshe, die schüchtern neben ihr saß, warf ihr einen besorgten Blick zu. Sie hatte nicht so viel getrunken wie die beiden anderen und fühlte sich nun verantwortlich für ihre Herrin, doch sie sagte nichts. Auch nicht, als Keï einen weiteren Becher bestellte.
Raen starrte die Prinzessin ungeniert an. Er brannte lichterloh. Er wollte diese Frau! Diese eine und sonst keine! Er spürte, wie sich die Erregung, die er bislang nur mit viel Mühe und Wein im Zaum gehalten hatte, ihre Bahn brach und sich in seiner Hose fest aufrichtete. Verlegen lehnte er sich vor und stützte einen Ellenbogen auf seinem Knie ab. Aber in seinen Gedanken nahm er bereits mit beiden Händen Keïs Gesicht und küsste ihre herrlich vollen Lippen. Ruckartig griff er nach dem Weinbecher, blies einmal die Backen auf und trank.
Manoen war die Veränderung, die in Raens Gesicht vor sich gegangen war, nicht entgangen. Und dessen verkrampfte Haltung sagte ihm alles.
‚Oh, Raen, bleib standhaft!’, dachte er, wurde sich aber sogleich der ironischen Zweideutigkeit bewusst und rollte mit den Augen. Manoen saß direkt am Eingang auf einer Bank neben einem ziemlich betrunkenen Kerl, der ununterbrochen auf ihn einredete. Das war ganz gut, denn so erweckte es den Anschein, als unterhielte er sich, und es fiel nicht sonderlich auf, dass er stattdessen das seltsame Pärchen an dem Tisch einmal quer durch den Raum beobachtete.
‚Tu bitte nichts Dummes!’, beschwor Manoen seinen Freund. Gerade lehnte sich die Prinzessin weit über den kleinen Tisch und zupfte Raen scherzhaft am Kragen seiner Jacke.
Manoen verstand nicht, was die beiden redeten, sah nur ihre Gesten. Und diese waren überdeutlich! Jeder in diesem Raum - wenn er denn nüchtern gewesen wäre - hätte die Wahrheit daraus lesen können. Nämlich, dass auch die Prinzessin, betrunken oder nicht, den Hy, der ihr gegenübersaß, nicht nur neckte, sondern ihm durchaus eindeutige Gefühle entgegenbrachte. Unvermittelt stach Manoen die Eifersucht in die Eingeweide, weil Raen das geschafft hatte, was er sich niemals zugetraut hätte, ja, was er niemals auch nur gewagt hätte. Dieser verdammte Mistkerl! Ständig hatte Raen ihn als Draufgänger und schürzenjagender Tunichtgut beschimpft und nun saß er hier und schmiss sich ungeniert selbst an eine der höchsten Damen heran, die Borgossa zu bieten hatte! Nur gut, dass ihre Leibwächter das gerade nicht sahen, sonst befände sich Raen womöglich jetzt schon in des Teufels Küche. Aber die beiden Trottel hatten die Spur der Prinzessin verloren, als sie sprungartig den Campo verlassen hatte. Die hatten wirklich mehr Muskeln am Körper als Grips im Hirn, dachte Manoen abfällig.
Merkwürdigerweise war nur wenig später auch der schwarze Dottore in die Schenke getreten und hatte sich an einen anderen Tisch zu einer johlenden Bande von grüngesichtigen Waldgeistern gesetzt, die einen unter ihnen anfeuerten, irgendetwas zu tun, was Manoen von seinem Platz aus nicht sehen konnte. Doch vielleicht irrte er sich auch, und es war ein ganz anderer Dottore. Die sahen ja alle gleich aus. Sein Blick wanderte wieder zu Raen und der Prinzessin, und er überlegte, wann er in das Geschehen eingreifen sollte.
Sel war es langsam überdrüssig. Den ganzen Abend war er Raen und dieser dunkelhäutigen Schlampe gefolgt, doch eine geeignete Gelegenheit hatte sich nicht ergeben. Stattdessen musste er nun mit ansehen, wie die beiden sich schamlos anhimmelten. Widerwärtig! Warum war bloß keiner von den Leibwächtern hier? Sie hätten aus Raen Hackfleisch gemacht, wenn sie gesehen hätten, wie er nach der Prinzessin gierte. Dann hätte er sich selbst nicht die Hände dreckig machen müssen.
So wie es aussah, waren die beiden ganz schön betrunken, nur die Dienerin der Prinzessin wirkte noch aufmerksam. Doch so lange sie dort saßen, konnte er nichts unternehmen.
Übellaunig verzog er sein Gesicht hinter der Maske. Wenn doch die Idioten mit den grünen Waldgeistmasken neben ihm etwas leiser grölen würden! Dröhnend drangen die weinbekleckerten Stimmen der Besoffenen in sein Ohr. Das war ja kaum auszuhalten im nüchternen Zustand.
Er sah zur Seite. Dort drüben am Eingang saß ein Kerl mit einer roten Maske, der ihn anzustarren schien. Oder sah er nur auf die randalierenden Grünmasken? Auf jeden Fall unterhielt er sich mit seinem Tischnachbarn. Er nickte und prostete ihm zu.
Da krachte eine Hand auf Sels Schulter, und einer der Grünmasken polterte: „He, Dottore, trinkt doch einen mit uns, Ihr seid eingeladen!“ Und ehe er sich versah, hatte er einen gutgefüllten Weinbecher in der Hand.
„Auf die prallen Brüste der Königin von Graçe!“, brüllte einer der grünen Geister, offenbar Graçener, und alle stimmten mit ein.
Sel tat so, als ob er mittrinken würde, verschüttete aber einen Großteil des Gesöffs. Für sein Vorhaben musste er nüchtern bleiben.
Die vielen lauten Menschen und das Gedränge zerrten an seinen Nerven, aber dieser Abend würde der beste sein, um Rache zu üben. Er würde es ihnen beiden zeigen. Auf dem Heimweg würde er die Schlampe erwischen, und dann waren auch Raens Tage in Freiheit gezählt.
Unwillkürlich glitt Sels rechte Hand unter seinem Umhang und strich liebevoll über die Klinge des Messers, das er schon Tage zuvor in die Stadt geschmuggelt hatte. Es war eines der Messer aus der Küche des Hytena, mit dem sie Fleisch schnitten. Eine Blutklinge! Die innige Vorfreude auf Raens Untergang hüpfte in seinem Bauch auf und ab. Und keiner konnte sehen, dass er hinter der weißen Wachsmaske ein dämonisches Grinsen bleckte.
Keï spürte, dass sie im Begriff war, genau das Gegenteil von dem zu tun, was ihr Bruder und die Vernunft ihr rieten, aber es war ihr in diesem Augenblick gleichgültig. So dermaßen gleichgültig, dass sie es am liebsten draußen auf der Straße laut in den Nachthimmel gesungen hätte. Der Wein hatte ihre Sinne in die Lüfte gehoben und drehte sie nun im Kreise, mal schwindelerregend schnell mal betörend langsam. Und das erste Mal, seitdem sie hier in Borgossa war, fühlte sie sich gänzlich unbeschwert. Ein Gefühl, das sie nur aus ihren Kindertagen kannte, als ihr noch nichts von ihrer künftigen Verantwortung bewusst war.
Ihr Herz bebte heftig in ihrem Brustkorb, und jedes Schlagen war eine tiefe Erschütterung, wenn sie Raen anblickte, und sie das grüne Blitzen seiner Augen sah. Sie ahnte, dass nicht mehr viel fehlte, und sie würde eine leichtsinnige Tat begehen. Dann würde sie sich einfach nehmen, wonach sie sich schon so lange Zeit sehnte! Zum Teufel mit der Verantwortung, zum Teufel mit ihrer Prinzessinnenwürde! Das alles konnte bei weitem nicht so gewichtig und erfüllend sein wie das Glück, das einer Frau zuteil wurde, wenn sie sich in die Arme des Mannes gab, den sie liebte. Und sie wollte sich ihm hingeben, so sehr, dass es schmerzte. Nur für diese eine Nacht wollte sie vergessen, dass sie Keï, die Prinzessin von Ohaoud, war und der Mann, mit dem sie sich einließ, ein fremdländischer Krieger. Und eines war ihr auch klar: Wenn sie es heute nicht tat, dann würde sie es niemals tun! Es gab nur diese eine Gelegenheit, da sie mit ihm allein sein konnte. Nur diesen einen Abend!
Sie fasste sich ein Herz und lehnte sich über den Tisch, ihre Hand tastete nach der seinen und traf seine Fingerspitzen.
„Hoppla und hallo! So ein Zufall, dass ich Euch hier antreffe!“, dröhnte es plötzlich über ihren Kopf hinweg.
Ihre Hand schnellte zurück und ihr Kopf in die Richtung, aus der diese unerwartete Begrüßung gekommen war. Zu ihrer Linken ragte ein großer Kerl in blauem Umhang und roter Maske auf. Sie fühlte sich ertappt und blinzelte benommen zu ihm auf. Auch Raen hatte sich dem Störenfried zugewandt.
Der Große nahm sich die Maske vom breit lachenden Gesicht, und Keïs Augen weiteten sich überrascht.
„Manoen! Was machst du denn hier? Ich ... ich dachte, d-du bist mit Jovani unterwegs“, rief Raen etwas lallend an ihrer Stelle und sprang auf.
Manoen war ihm offenbar dankbar für das Stichwort, und erklärte seinem Freund, dass das der Grund sei, warum er hier in die Schänke gekommen war. Er hätte Jovani im Gewimmel verloren und gedacht, ihn hier hereingehen sehen. „Ist er hier irgendwo?“, fragte der Hüne mit unschuldiger Miene.
„Nein, nicht dass ich wüsste. Komm, setz dich zu uns!“, forderte Raen seinen Freund auf.
Doch Manoen lehnte zu Keïs Erleichterung ab.
„Ähm, ich möchte euch dezent darauf hinweisen, dass da noch wer gekommen ist, um nach euch zu suchen“, entgegnete er stattdessen leise und hob seinen Daumen zum Eingang.
Keï spähte um ihn herum und erblickte ihre beiden Leibwächter. Schlagartig sank ihre Laune. ‚Verdammt! Ich hatte denen doch gesagt, sie ... oh, Vater! Ich hätte es wissen müssen!’, dachte sie ärgerlich, als ihr aufging, warum die beiden hier waren. Sie warf einen kurzen Blick auf Raen und bedauerte sich in diesem Moment zutiefst selbst für ihr Schicksal. Es war einfach unmöglich, aus diesem verfluchten, goldenen Käfig der Pflichterfüllung auszubrechen. Was in dieser Nacht hätte geschehen können, würde ihr nun auf ewig verwehrt bleiben. ‚Finde dich damit ab, du hoffnungslos, romantische Närrin. Je eher, desto besser ist es für dich!’ Sie hob eine Hand an ihre Stirn. Vor ihren Augen verschwamm das Bild des Schankraumes kurz, klärte sich dann aber wieder.
„Ich glaube, wir gehen jetzt besser“, sagte sie kurz angebunden.
„A-aber warum?“ Raen sah sie mit herzerweichender Enttäuschung an. Wie gerne wäre sie heute in diesem Blick ertrunken. Sie riss sich los.
„Mir ist schon ganz schummerig.“ Keï stand auf. „Sehen wir uns morgen bei dem Turnier? Ich kann Euch mit auf die Ehrenloge nehmen. Äh, ich meine natürlich nur einen von Euch.“ Verlegen sah sie von einem zum anderen.
Manoen winkte ab. „Da unser Champion hier nicht mitficht, spare ich mir das Spektakel. Sel will ich beileibe nicht noch einmal beim Siegen zusehen. Geht ihr nur allein. Ich werde morgen früh ganz gemütlich meinen Rausch ausschlafen.“
„Alsdann, treffen wir uns zu Beginn vor dem Kastell?“, fragte Keï.
Raen nickte. „N-natürlich, st-stets zu Euren Diensten!“ Er verneigte sich schwerfällig.
Keï zog sich die Maske über das Gesicht. „Noch einen angenehmen Abend wünsche ich den Herren!“
Faïshe folgte ihr, als sie breitbeinig gegen ihr Schwanken zu den beiden Leibwächtern hinüber stapfte und mit ihnen aus der Schänke verschwand.
Als die Prinzessin fort war nahm Manoen Raen am Arm und zog ihn auf die Beine. Der Gute war mächtig voll und würde morgen wohl so schnell nirgendwo hingehen, dachte er und sagte: „Und du kommst jetzt mit mir! Genug gezecht!“
Ohne große Gegenwehr ließ Raen sich von seinem Freund nach draußen bringen.
Hinter ihnen schlüpfte auch der schwarze Schatten auf die Straße, stumm fluchend, da seine Pläne vereitelt waren, und tauchte in das Dunkel der Nacht ein.
„Sag mal, bist du vollkommen wahnsinnig?“, ranzte Manoen den Jüngeren an, als sie einige Gassen weiter waren.
„W-wieso? Was denn? Ich habe doch g-gar nichts gemacht?“
„Nichts gemacht, ha! Du warst auf dem besten Wege, dich sehenden Auges ins Unglück zu stürzen, und sie gleich an Ort und Stelle zu bespringen wie ein brünstiger Esel!“
„Pfff, ich doch nicht.“
„Euer Techtelmechtel war unübersehbar!“
„Unser was?“, lallte Raen.
„Gute Güte, Raen, das war haarscharf! Weißt du, was mit dir geschehen wäre, wenn die zwei Muskelprotze dich dabei erwischt hätten? Sie hätten dir höchstpersönlich die Eier abgerissen und sie den Schweinen auf der Straße zum Fraß vorgeworfen!“
„Schweine?“, fragte Raen blöd.
Manoen stöhnte entnervt. Es hatte keinen Sinn, auf Raen einzureden, wenn dieser so voll war wie zehn Matrosen auf Landgang.
„Du brauchst dringend Schlaf oder eine kleine Abwechslung, fürchte ich.“ Er packte seinen torkelnden Freund um die Hüfte und bugsierte ihn weiter die Straßen entlang nach La Gioia, wo ein schönes Heubett auf sie wartete.
Doch Manoen würde sich zum Abschluss dieses Abends noch eine nette Zerstreuung mit zwei straffen Hinterbacken gönnen, da ihm andere erquickliche Gelegenheiten heute ja leider durch die Lappen gegangen waren, während er Leibwächter für den ehrenwerten Leibwächter der Prinzessin hatte spielen müssen.
„Oh, Raen, wo soll das noch alles hinführen?“, fragte er sich leise kopfschüttelnd und bog in die Toreinfahrt zum Lachenden Akademicus ein.
Draußen vor dem offenen Fenster stieg die unbeschwerte Stimmung der Stadt noch immer fröhlich säuselnd empor in den sternenbeschienen Nachthimmel.
Keï lag in ihrem Bett und konnte keinen Schlaf finden. Sie ertrank geradezu in Selbstmitleid und in der maßlosen Enttäuschung darüber, dass dieser verfluchte, taktlose Rotschopf ihr den Abend vermasselt hatte. Dass er sie damit womöglich aber auch vor verhängnisvollen Folgen bewahrt hatte, die es unausweichlich gehabt hätte, wenn ihre Leibwächter sie dabei erwischt hätten, wie sie diesen unseligen Ausländer küsste, kam ihr nicht in den Sinn.
Sie bedauerte sich einzig und allein um diese eine vernichtete Gelegenheit, die niemals wiederkehren würde. Wiederholt würgte sie den Kloß in ihrem Hals herunter und sah auf die Tür zum Nebenzimmer, hinter er Faïshe schlief. Wie gern hätte sie ihr jetzt ihr Herz ausgeschüttet, sich an ihre Schulter gelehnt und sich von ihr trösten lassen. Faïshe hätte ihren Schmerz verstanden. Sie war ihre engste Freundin, ihre heimliche Verbündete in allen Angelegenheiten. Auf sie konnte sie sich immer verlassen, auch wenn sie ihre Dienerin war. Sie waren von klein auf zusammen und wussten gegenseitig von allen ihren innigsten und geheimsten Wünschen. Sie teilten Kummer und Sehnsucht miteinander wie zwei Schwestern.
Keï überlegte, ob sie Faïshe einfach wecken sollte, noch nie hatte sie sie so sehr gebraucht wie jetzt. Doch dann entschied sie sich, sie schlafen zu lassen. Es war nicht recht, dass sie sich auch noch schlecht fühlen sollte.
Raen. Keï bemühte sich, an etwas anderes zu denken, doch was sie auch tat, sie konnte seiner übermächtigen Präsenz in ihrem Kopf nicht entkommen. Ihre Gedanken klebten an ihm wie eine Ameise an einer Honigfalle. Wenn sie die Augen schloss, sah sie die ebenmäßigen, beinahe schönen Züge seines Gesichtes vor sich, und wenn sie ins Dunkel ihrer Kammer starrte, hörte sie seine Stimme und sein Lachen.
Er war so anders; so fremd und doch auch wieder vertraut. Seine unbewusste Offenheit und Gutmütigkeit reizten sie, ihn ständig zu necken und herauszufordern. Und doch bestach er immer wieder durch seine erstaunlich klugen und wohl durchdachten Äußerungen. Er betrachtete die Welt weitaus kritischer als sie. Und durch ihn hatte sie gelernt, sie ebenfalls anders zu sehen.
„Geistreich und gewandt“, flüsterte sie leise vor sich hin. Raen war für sie längst zum Inbegriff des edelmütigen und gerechten Helden geworden, von dem sie schon als kleines Mädchen geträumt hatte. Ein Mann, der sich seiner Stärken durchaus bewusst war und der aufrecht allen Widrigkeiten dieser Welt trotzte, der treu und warmherzig war.
Keï schalt sich für ihre einfältigen Schwärmereien, die einer erwachsenen Frau und erst recht einer Prinzessin nicht anstanden. Einen solchen Helden, wie sie ihn sich vorstellte, gab es nicht! Männer waren alle gleich. Rücksichtslos und nur auf ihren Vorteil bedacht. Keiner von ihnen wusste auch nur annähernd, was eine Frau wirklich wollte. Sie waren ungehobelte, angeberische Tölpel! Und Frauen waren lediglich ein kleines Abenteuer, mit dem sie sich nur allzu gerne brüsteten, nicht aber eine gleichwertige Gefährtin. Eine Gefährtin, mit der man gemeinsam durch die Höhen und Tiefen des Lebens ging.
Doch je mehr sich Keï auch gegen die Männer in Rage brachte, desto weniger Übereinstimmung fand sie mit Raen. Er war nicht wie die anderen Kerle mit ihrem betont virilem Herumgeprotze, er hatte eine ganz spezielle, natürliche Würde.
In einem plötzlichen Anfall von Liebeskummer zerknüllte sie die Decke über ihrer Brust. Ihr Mund öffnete sich zu einem stummen Wutschrei, und sie begann sich mit den Fäusten gegen ihr Herz zu trommeln. Ein kläglicher Protest gegen ihr unabänderliches Los. Sie war eben doch nur ein schwaches Weib!
Ihr Vater hätte sie ausgelacht, wenn er gesehen hätte, wie töricht und kindisch sie sich benahm, so wie er immer über ihre jugendlichen Flausen gelacht hatte. Und er hätte sie ihr schnell ausgetrieben, denn er sah die Dinge stets kühl und sachlich. „Liebe ist nichts, worüber sich eine Prinzessin Gedanken machen sollte“, hätte er gesagt. Punkt, aus! In ein paar Jahren - wenn sie es nicht mehr länger würde hinauszögern können - würde sie den aufgeblasenen Sohn irgendeines hochangesehenen Kronvasallen oder eines edlen Wüstenfürsten ehelichen und mit ihm den Akt der Vereinigung nur vollziehen, um den nächsten Thronfolger zu zeugen. Welch ernüchternde Vorstellung. Aber ihr Vater ahnte stets, was gerade in ihrem Kopf vorging, und nahm ihre Probleme ernst. Er brachte sie immer auf den richtigen Weg zurück. Deshalb hatte Keï auch eine ganz besonders innige Beziehung zu ihm. Und sie war für ihn nicht nur seine Nachfolgerin und die Zukunft des ohaoudischen Reiches, sondern auch sein kleines Mädchen, sein ganzer Stolz. Keï lächelte bei dem Gedanken an ihren guten, alten Vater und sie verspürte Sehnsucht nach ihm und nach der Heimat; nach glühendem Sand unter ihren Füßen und heißem Wind im Gesicht.
Und als sie endlich einschlief, träumte sie von der tröstlichen Freiheit der endlosen Wüste und den weißen Marmortürmen des Königspalastes in der Hauptstadt Reschent, in dessen Wände überall, wohin man schaute, das Wort Ashallas eingemeißelt war: „Im Namen des Allmächtigen und Barmherzigen, der gebietet über die Welten.“
Raen erwachte mit einem fürchterlichen Durst und dem schalen Nachgeschmack verblichener nächtlicher Leidenschaft im Mund. Die Erinnerung kam sofort, was erstaunlich war, denn sein Kopf dröhnte schwer, als er sich aufsetzte und sich benommen umsah. Die meisten der Heugäste schliefen noch tief und fest, auch das Mädchen unter seiner Decke neben ihm. Sie hatte ihm ihren nackten Rücken zugedreht und ihre weizenblonden Haare vermischten sich mit dem Heu.
Er erhob sich vorsichtig und bedeckte seine Blöße mit seiner Kleidung, die er sich rund um sein Lager zusammensuchen musste. Dann sah er die Wolfmaske und hob sie auf. Er betrachtete das zähnefletschende Gesicht und plötzlich kam er sich schäbig vor.
‚Du bist und bleibst ein elender Hurenbock! Nicht ein Scherflein Beherrschung steckt in deinem Leib! Kaum spricht dein kleiner Geselle, lässt du dich von ihm leiten, als hättest du keinen eigenen Willen mehr!’
Ohne die Straßendirne zu seinen Füßen noch eines Blickes zu würdigen, verließ er den Stall. Er ekelte sich vor sich selbst, und der Drang, die letzte Nacht von sich abzuwaschen, wurde übermächtig. Er überquerte den Hinterhof, erleichterte sich auf dem Abort und schimpfte, während er pinkelte, auf sein bestes Teil, das ihn einmal mehr zur Triebhaftigkeit verführt hatte. Anschließend ging er zu dem Brunnen in der Mitte des Hofes und spülte sich mit dem ersten Eimer, den er sich hochzog, den Mund. Danach soff er den Rest wie ein durstiger Ochse. Den zweiten Eimer schüttete er sich mit Schwung über den Kopf. Sofort drang die Kälte in seine Haut ein und schälte seinen Kopf frei von der dumpfen Hülle des Katers. Prustend rieb er sich ab, um sich sogleich noch einen weiteren Eimer zu geben. Dann zog er sich an, ohne sich vorher abzutrocknen. So bekam wenigstens auch seine Kleidung etwas von dem reinigenden Nass ab.
Wenig später marschierte er durch die stillen Gassen zum Campo der Universität. Ganz Borgossa schlief noch seinen Rausch aus. Er holte Jakori aus dem Stall der Akademie und machte sich auf den Weg zum Kastell. Sein Schädelbrummen hatte sich wieder eingestellt und machte den übermütigen Trab der unausgelasteten Stute zur Tortur.
Die Straßen füllten sich langsam mit Leuten, die sich ihr Morgenmahl in einer der öffentlichen Wegküchen holten. Raens Magen rebellierte bei dem Gedanken an etwas zu essen, und er musste trocken schlucken. Auch der Höllendurst hatte sich noch nicht gelegt.
Vor dem Porta Castello, dem Stadttor, das zu der Festung Borgossas führte, herrschte schon reger Durchgangsverkehr. Alle zog es in erregter Erwartung zum Waffenfeld.
Raen ließ Jakori Schritt gehen, angelte mit der Rechten nach seinem Wasserschlauch, den er in weiser Voraussicht mitgenommen hatte, und trank ein paar tiefe Züge. Oben im Kastell würde er ihn noch einmal auffüllen, denn Wasser war alles, was er heute brauchen würde.
Er überquerte die Zugbrücke, passierte das erste Tor und erreichte den Zwinger des Castello. Als er Jakori in die Stallungen gegeben und seinen Schlauch am benachbarten Brunnen aufgefüllt hatte, sah er ein bekanntes Gesicht über den Hof spazieren.
Auch Jovani bemerkte ihn und kam lächelnd auf ihn zu. „He, Raen, guten Morgen. Ich sehe dich ohne Schwert. Heute nur Zuschauer?“
„Ja, und was ist mit dir? Wirst du mitfechten?“ Raen fiel auf, dass sie sich lange nicht gesprochen hatten.
„Ich? Nein, nein, Gott bewahre!“ Jovani wedelte mit dem Zeigefinger. „Ich bin doch nicht lebensmüde! Würde meine Gliedmaßen gerne noch etwas länger behalten.“
„Und nur zum Zuschauen hast du dich so früh aus den Federn gequält?“
Der blonde Graçener verzog schmerzerfüllt das Gesicht. „Verdammt früh, wenn du mich fragst, aber da ich die vorherigen beiden Turniere ja mehr oder weniger verpennt habe, habe ich gedacht, dass ich dieses Jahr dabei sein sollte, bevor ich Borgossa endgültig verlasse. Sonst muss ich mir von meinen alten Herrn zu Hause ewig vorwerfen lassen, ich hätte nur die Annehmlichkeiten des Studentenlebens genossen. Hach, ich werde diese Stadt vermissen daheim in Campeggio in der tiefsten Provinz. Das wird verdammt öde sein ohne euch alle. Vielleicht kann ich meinen Vater ja überreden, und er lässt mich an den Hof des Großkönigs von Graçe gehen, dort ist wenigstens was los.“
Raen seufzte innerlich bei dem Gedanken, dass auch er Borgossa bald würde verlassen müssen. Sein Studium war beinahe beendet und damit auch seine Aufgabe hier. Nur ungern widmete er sich der Frage, was danach geschehen sollte. Sein Leben in Shari mit Suneka an seiner Seite und einer Schar Kinder um sich herum erschien ihm in letzter Zeit immer weniger als die Erfüllung.
„Die drei Jahre sind schnell vorübergegangen, und viel ist passiert. Es war eine gute Zeit“, sagte er zu seinem graçenischen Freund.
„Oh ja, das war es! Raen, lass uns doch zusammen nach Hause reisen, wie schon einmal.“
„Etwa mit dem Schiff?“
„Selbstverständlich mit dem Schiff.“ Jovani lachte über Raens wehleidige Miene. „Das wird einen Kerl wie dich doch wohl nicht daran hindern, einen guten Freund zu begleiten?“
Raen fühlte sich geschmeichelt. Es freute ihn, dass der Graçener ihn noch immer einen Freund nannte, obwohl sie sich in den vergangenen Monaten etwas voneinander distanziert hatten. Raen hatte geahnt, warum, aber ihn nie danach gefragt.
„Und vielleicht nimmst du ja dieses Mal meine Einladung an, mit nach Campeggio zu kommen und ein paar Tage dort zu bleiben?“
„Natürlich, danke!“
„Gut. Im Übrigen, von wo aus wirst du dir das Spektakel anschauen?“
„Nun, von der Ehrentribüne aus“, druckste Raen herum und kratzte sich verlegen im Halsausschnitt seiner Jacke.
„Ah, hätte ich mir ja denken können. Wo ist sie denn?“
„Kommt noch.“
Jovani nickte.
Raen sah genau, was er dachte.
„Na, dann will ich mal. Ich muss mir meinen Platz zwischen all dem anderen Gelump schließlich noch erkämpfen. Wir sehen uns.“
Doch bevor Jovani sich abwandte, fasste Raen sich ein Herz und fragte: „Sag mal, was hast du eigentlich gegen sie?“
Der Graçener drehte seinen Kopf und forschte lange in Raens Blick. „Ich habe nichts gegen sie als Person. Vielmehr habe ich etwas gegen ihr ganzes Volk, für das sie demnächst der Stellvertreter sein wird.“
„Und warum?“
„Das hat etwas mit unserer Geschichte zu tun, mit meinem Volk.“
Raen ahnte, dass auch Jovani ein Opfer des kollektiv auferzwungenen Hasses war, mit dem in allen Ländern und Schichten Politik gemacht und schon den Kindern mit in die Muttermilch geben wurde. Dieser bei jeder Gelegenheit gepredigte Abscheu, der daran Schuld war, dass die Völker niemals zu einer friedlichen und verträglichen Verständigung kommen würden.
„Was dein Volk gegen die Ohaoudis hat, weiß ich. Was aber denkst du persönlich?“
„Ich denke, dass diese Rußgesichter nichts als großmäulige, stinkreiche Ignoranten sind, die nie am eigenen Leibe erfahren haben, was Notleiden heißt. Ihre geringschätzige Weltanschauung teilt Menschen in jene ein, die bezahlen können, und jene, die nicht mehr wert sind als der trockene Sand unter ihren Füßen. Alles, was weniger als auch nur eintausend Silberscheffel Einkommen hat, ist für sie kein bedeutendes Adelshaus - es existiert quasi nicht -, und es ist unter ihrer Würde, sich mit solch niederem Pack abzugeben!“ Jovani holte einmal tief Luft. Er schien jetzt, da er endlich nach seiner Meinung gefragt worden war, so richtig in Fahrt zu kommen. „Sie leben selbstherrlich in ihren goldenen Türmen und lassen nichts und niemanden an ihrem immer größer werdenden Reichtum teilhaben. Und das nennen sie zu ihrer Rechtfertigung auch noch gottgefällig. Aber wenn du mich fragst, dann ist der einzige Sinn, für den sie leben, waschechter Eigennutz. Sie verleihen ihr Gold mit wuchernden Zinsen und treiben die Verzweifelten in noch größere Verzweiflung. Sie sind noch gewinnsüchtiger und gewissenloser als die schlimmsten der borgossinischen Kaufleute. Anstatt den Bedürftigen eine helfende Hand zu reichen, locken sie sie an wie hungrige Mäuse mit fettem Speck und lassen dann die Falle der Abhängigkeit zuschnappen. Tja, so machen sie sich ihre Verbündeten. Mögen diese Kameltreiber an ihrem eigenen Prunk und Wohlstand ersticken, möge der Wüstensand sie eines Tages unter sich begraben und sie für tausend Jahre nicht wieder auftauchen lassen!“
Das war deutlich, dachte Raen, wagte aber trotzdem noch einen Versuch: „Jovani, ich bitte dich, das sind doch samt und sonders Vorurteile!“
„Mag sein, aber bisher hat mich auch noch kein Ohaoudi vom Gegenteil überzeugen können.“
„Nimm doch mich einmal als bestes Beispiel dafür, daß du dich irrst. Ich habe nicht einmal ein Kornscheffel Einkommen und bin obendrein noch ein Angehöriger eines vollkommen unbedeutenden Volksstammes. Nach dem, was du behauptest, dürfte mich die Prinzessin nicht einmal mit dem Allerwertesten ansehen. Warum also tut sie es doch?“
Schon im Rückwärtsgehen zuckte Jovani mit den Schultern. „Das musst du schon selbst herausfinden. Ich wünsche dir jedenfalls viel Vergnügen beim Turnier, mein Freund“, Danach verschwand eiligen Schrittes, und Raen sah ihm verwundert hinterher.
„War das eben nicht Jovani?“, fragte die Stimme der Prinzessin plötzlich hinter ihm.
Er drehte sich zu ihr um, und es dämmerte ihm. Jovani hatte sie in seinem Rücken wohl kommen sehen und war schließlich geflüchtet.
„Schön, Euch zu sehen“, sagte die Prinzessin mit einem nicht ganz eindeutigen Blick vom Pferderücken aus zu ihm hinab. „Ich hätte nicht gewagt zu hoffen, dass Ihr es tatsächlich heute hierher schafft, wenn ich mich an Euren Zustand gestern Abend erinnere.“
„Mit Verlaub, aber Euer Zustand war auch nicht mehr ganz taufrisch.“
Keï lachte leise und ließ sich aus dem Sattel ihres Schimmels gleiten. Raen begrüßte derweil ihren Bruder, dessen Augen noch ganz klein vom wenigen Schlaf der vergangen Nacht waren.
Bendan grüßte zurück und gähnte ungeniert.
„Kommt, wollen wir doch mal sehen, ob sie auf der Ehrentribüne schon etwas zu essen servieren. Ich habe einen Mordshunger!“ Mit gewohnt großen Schritten schlenderte die Prinzessin voran, gehüllt in ihr luftiges, blaues Festtagsgewand, das Raen so mochte und jedes Mal schier um den Verstand brachte, wenn er sie darin sah. Heute jedoch machte es ihn befangen. Er musste an die kleine, blonde Dirne denken, an der er letzte Nacht sein Mütchen gekühlt hatte, und fühlte sich, als hätte er Keï mit ihr betrogen.
Aber auch die Prinzessin schien an diesem Morgen nicht so gut aufgelegt zu sein. Sie wirkte irgendwie kühl und angestrengt gesammelt, so als versuche sie, all ihre Sinne wohl geordnet zu halten.
Neugierige Blicke musterten Raen, als er mit der Prinzessin die Tribüne betrat. Was tat ein schwarzberockter Hy hier unter all den erlauchten Persönlichkeiten?
„Er ist ein Campione, und hat ein Recht darauf, hier zu sitzen!“, erklärte die Prinzessin knapp und steuerte selbstbewusst auf ihren Platz zu. Raen verneigte sich galant vor jedem, der ihn unverhohlen anglotzte, verabscheute es aber innerlich, sich diesem Spießrutenlauf freiwillig ausgesetzt zu haben. Er ließ sich zu Keïs Linken nieder und bemühte sich, interessiert in die Arena zu schauen.
In der Zeit, in der die Prinzessin und ihr Bruder nun hingebungsvoll eine derart beachtliche Menge kaltes Hühnerfleisch mit scharfer Tunke zum Morgenmahl vertilgten, dass Raen daneben ganz kodderig davon wurde, gingen die ersten Vorrundenkämpfe vonstatten.
Auch Sel war tatsächlich wieder dabei und schlug sich ohne große Schwierigkeiten von einem Duell ins nächste.
‚Nun, er ist ja auch der Titelverteidiger’, kam es Raen dumpf in den Sinn, doch er war so sehr mit seinen eigenen Gedanken um den letzten Abend beschäftigt, dass er bei jedem Sieg Sels kaum Missgunst empfinden konnte, oder gar Häme, wenn er einmal in Bedrängnis geriet.
Der Tag zog an ihm vorbei wie ein blasses, halbdurchsichtiges Tuch, das vor seinen Augen entlang gerafft wurde, und erst als die Mittagssonne den Sand der Arena und die Recken, die sich darin beharkten, buk, kam er langsam zu sich. Auch wenn man auf der Ehrentribüne vornehm im Schatten saß, quälte ihn fürchterlicher Durst, und er ließ sich einen Becher mit Wasser bringen. Gierig stürzte er ihn hinunter und strich sich mit der Rechten den Schweiß von der Stirn. Es war unerträglich stickig unter dem Sonnendach.
Verstohlen warf er einen Seitenblick auf die Prinzessin. Sie schien gleichfalls nicht ganz bei dem Geschehen in der Arena zu sein. Immer wieder nippte sie an einem Becher mit Wein oder kaute abwesend auf ihrer Unterlippe.
Bis jetzt hatten sie nur wenig miteinander geredet, und fast wünschte Raen sich, er wäre mit Jovani gegangen. Das wäre weitaus vergnüglicher gewesen.
Um sich von der stauenden Hitze abzulenken, versuchte er, sich auf die Kämpfe in der Arena zu konzentrieren. Vor einem Jahr hatte er selbst dort unten gefochten und gegen Sel verloren.
Heute stand dort sein ärgster Widersacher im Schein des Wohlgefallens der Zuschauer und machte eine ungemein gute Figur. Er kämpfte gerade gegen einen erstaunlich wendigen Askharer.
‚Ob er diesmal auch betrügt?’, fragte er sich. ‚Ob er wieder Zhangha gestohlen hat?’ Er studierte Sels geschmeidige Bewegungen, konnte darin aber keine Anzeichen von der Beflügelung eines Zhangha-Rausches entdecken. ‚Vielleicht hat er es heute nicht nötig, weil ich ja nicht dabei bin’, dachte er abfällig und drehte sich erneut nach dem Diener um, der das Wasser ausschenkte.
Da stöhnte das Publikum plötzlich entsetzt auf. Wie eine bebende Welle schwappte der Laut durch die Reihen. Raen sah auf Keï, die bestürzt, eine Hand vor dem Mund haltend, in die Arena starrte.
Nach dem kollektiven Ausruf des Entsetzens gefror jeder Laut auf den Tribünen. Was war los? Hatte Sel seinen Gegner verwundet?
„Oh, mein Gott! Das ist ja schauderhaft!“, rief eine spitze Frauenstimme. Es war die der Großkönigin von Graçe, die ein paar Plätze weiter neben ihrem Gemahl saß. Ihr üppiger Busen wogte, und eine Ohnmacht drohte, sich ihrer zu bemächtigen.
Raen blinzelte in das grelle Sonnenlicht und versuchte, etwas zu erkennen.
Im Staub des Kampfplatzes kniete Sel. Seine Linke umklammerte sein rechtes Handgelenk, und mit offenem Mund stierte er ungläubig auf die andere Hand, die das Schwert noch umklammernd vor ihm im aufgewühlten Sand lag. Sein Gegner, der Askharer, stand breitbeinig über ihm, und als er die Hände zum Siegesschrei in die Lüfte reckte, entließ auch der Schreck die gaffenden Zuschauer aus seinem Griff, und geräuschvoller Applaus löste das sensationslüsterne Getuschel ab.
Raen reagierte, ohne nachzudenken, und sprang auf wie von der Sehne geschnellt. Ohne ein Wort der Entschuldigung flog er die Stufen der Tribüne hinab, schwang sich am Ende mit einem Satz über die Brüstung und landete unten in der Arena.
Als er bei Sel ankam, sah er, dass auch die Turnierärzte bereits im Laufschritt unterwegs waren.
Sel hob langsam den Kopf und blickte zu Raen hinauf. Er war kreidebleich. Seine Lippen bebten, konnten jedoch kein Wort formen, während sein Blut in einem stetigen Strom aus dem Stumpf troff.
„Es ist nicht das erste Mal, dass ich einen von euch Schweinehirten verstümmele. Und es wird auch nicht das letzte Mal sein! Kampf auf ewig!“
Raen horchte auf. Der Askharer hatte zu ihm gesprochen, und er hatte es verstanden, obwohl dieser seine eigene Sprache verwendet hatte. Für einen Augenblick war er erstaunt. Hatte er schon beim bloßen Abschreiben der Wörter soviel Askhari gelernt? Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, blickte den Askhari-Krieger durchdringend an und kramte in seinem Gedächtnis nach einer treffenden Antwort.
„Was glotzt du so?“, blaffte der Askharer ihn an.
„Euch Euer Sieg über seinen Leib nicht genügt? Warum Ihr ihn auch noch an seiner Seele demütigen?“, entgegnete er daraufhin.
Der Askharer sah ihn überrascht an. Offensichtlich war es die richtige Wortwahl gewesen, dachte Raen.
„Ein Hy, der unsere Zunge spricht, das wird ja immer schöner! Was kommt als nächstes, dass euch Bärte wachsen und Haare am Arsch?“, knurrte der Kerl und spuckte vor Raen in den Sand.
Der schloss mit einem raschen Schritt die Lücke zwischen ihnen und funkelte ihn drohend an. Gesicht an Gesicht. Das Publikum johlte und pfiff.
„Noch mehr Beleidigung, und ich Kampf an seiner statt fortführen. Dann du denken, dass Hölle ein schönerer Ort sein, als Arena hier!“
Der Askharer verzog spöttisch das Gesicht. „Uh, jetzt bekomme ich aber Angst!“
Noch bevor Raen tatsächlich darauf eingehen und mit dem Schwert auf diesen widerlich stinkenden Kerl losgehen konnte, wurde er an den Schultern gepackt und weggezerrt.
„Lasst es, mein Herr. Wir benötigen Eure Hilfe hier.“
Raen sah den Askharer noch einen Augenblick an, als wolle er ihn an Ort und Stelle festnageln, ließ sich dann aber von dem Gehilfen der Ärzte zu Sel führen.
Er bemerkte einen Feuerkorb, den zwei bullige Kerle mittlerweile herbeigetragen hatten, und darin ein flaches Eisen orangerot glühen. Er wusste sofort, was jetzt kam: Es war die einzige Möglichkeit, die Blutung zu stoppen und die Wunde vernünftig zu schließen. Ihm wurde übel.
Einer der Ärzte nahm den mit dickem Leder umwickelten Griff des Eisens und gab den anderen ein Zeichen, Sels Arm auszustrecken und ihn festzuhalten. Schnell schob Raen seinem Landsmann seinen leeren Zhangha-Beutel zwischen die Zähne und hielt dessen Kopf an seine Brust gepresst.
„Hyaun, steh ihm bei!“, flüsterte er und biss gemeinsam mit Sel die Zähne zusammen.
Der Schrei war leiser, als er vermutet hatte; mehr ein ersticktes Wimmern, in dessen Anschluss Sel kraftlos in sich zusammensackte, da ihn endlich die gnädige Ohnmacht überkam.
Der beißende Geruch von verbranntem Fleisch beschwor in Raen vertraute Erinnerungen an mühsam verdrängte Erlebnisse herauf. Es war der Gestank des Krieges. Er lockerte seinen Griff und ließ Sel sanft in den Sand gleiten. Penibel überwachte er jeden Handgriff der Ärzte, während sie die Wunde mit sauberen Tüchern verbanden.
Erst als Sel versorgt war und auf eine Trage gehievt wurde, wandte sich Raen der abgetrennten Hand zu, die immer noch unbeachtet im Sand lag, als sei sie ein Teil des Schwertes. Er zog seine Jacke aus, löste die langsam erkaltende Hand vom Schwertgriff und wickelte sie schnell darin ein. Auch das Schwert nahm er an sich, und mit beidem im Arm und gesenktem Haupt ging er schließlich der Trage hinterher.
„Oh, Hyaun, Erhabener und Gütiger, halte deine Hand über ihn, der aus Verzweiflung gehandelt hat. Vergib ihm seine Verfehlungen, denn er ist ein Krieger, der deinen Namen trägt. Er ist gefallen. Gestürzt auf seinem Weg und hat nicht standgehalten können den Verführungen dieser anderen Welt. Nimm dich seiner an und geleite ihn wohl hinüber zu den heilsamen Gestaden deiner Zuversicht, dann wird er zu dir zurückfinden. Beschütze seine Seele vor noch größerem Schaden ...“ Er betete still, und all seine schlechten Gefühle gegenüber Sel waren in diesen Moment vergessen, denn das Mitgefühl war eine der mächtigsten Gaben, die ihm als Menschenwesen in sein Herz gelegt worden war. Diese wundersame Kraft, die alle Barrieren niederwarf und sie zu Staub zertrat, als seien sie nie gewesen.
Außerhalb der Arena hinter den Tribünen wurde Sels Trage wieder abgesetzt.
„Wir bringen ihn in das Hospitale am Campo der Universität“, sagte einer der Ärzte und winkte einen Karren heran.
„Nein, er kommt mit mir! Er muss ins Hytena, er soll unter seinesgleichen sein!“
„Das ist aber nicht ratsam. Im Hospitale hat er die beste Versorgung.“
„Die beste Versorgung hat er bei uns!“, beharrte Raen.
„Seid Ihr denn des Heilens kundig?“
„Und seid Ihr der heilenden Kraft des Glaubens mächtig, die einen verirrten Geist wieder auf den rechten Weg führt?“
Der oberste der Ärzte schüttelte über die wunderliche Rede des Hy verständnislos den Kopf, ließ ihn dann aber gewähren. Gegen Starrsinn konnte er schließlich nichts anderes machen, außer appellieren.
„Auf Eure Verantwortung“, sagte er und zog sich mit seinen Gehilfen zurück.
Sel wurde auf den Karren verfrachtet, und Raen sprang ebenfalls mit auf, nachdem er eilig Jakori aus dem Stall des Kastells geholt und sie an den Bock gebunden hatte. Er wusste, was er zu tun hatte, denn das war etwas, das er im Krieg gelernt hatte.
Auf dem ganzen langen Weg zum Hytena fühlte er sich unangenehm lebendig in die Vergangenheit versetzt. Schon einmal hatte er bei einem Verwundeten gesessen und ihn begleitet und versorgt. Und er hatte damals einen Schwur abgelegt, den er gleichfalls nie vergessen würde.
Nur der zutiefst erschrockene Uke war im Hytena, als sie dort ankamen, der Rest trieb sich noch irgendwo in der Stadt herum. Raen bezahlte den Karrenfahrer, und Uke half ihm dabei, Sel auf dessen Zimmer zu tragen. Es war Schwerstarbeit, denn Sel war noch immer bewusstlos und wog so schwer wie ein großer Sack Getreide.
Vorsichtig betteten sie ihn auf sein Lager, stopften ihm mehrere Kissen in seinen Rücken und deckten ihn zu. Raen fühlte Sels Stirn. Sie war bereits fiebrig.
„Was er jetzt braucht, ist Wasser! Er hat viel zu viel Flüssigkeit verloren.“
Unke nickte. Er war ganz blass um die Nase, hielt sich aber tapfer. Noch nie zuvor war er mit dieser Seite der Welt der Krieger in Berührung gekommen. Er ging los und kam wenig später mit frischen Tüchern und einem Krug voll Wasser wieder.
„Danke, Uke, du kannst jetzt gehen“, sagte Raen, tauchte ein Tuch in das kühle Nass und legte es Sel auf die Stirn. „Ich mache das hier.“
„Ich möchte aber auch etwas tun. Sag mir nur, was“, bat der Eisan fest entschlossen.
„Nun gut, dann versuch du, ihm etwas einzuflößen, ich kümmere mich derweil um das da.“ Er wies auf seine zerknüllte Jacke.
Uke blickte ihn fragend an.
„Besser, du weißt es nicht, glaub mir.“
Uke schluckte. Er konnte sich offenbar vorstellen, was in der Jacke eingewickelt war. Schnell wendete er sich seiner Aufgabe zu, und Raen nahm das Bündel auf und verließ den Raum.
Aus dem Gebetsraum holte der Krieger das kleine Säckchen mit den Seelenkräutern hervor und trug alles zusammen hinten hinaus auf den kahlen Platz vor dem Pferdegatter. Von dem Holzstoß neben dem Stall sammelte er einen Arm voll Äste und schichtete sie zu einem kleinen Scheiterhaufen auf.
Dann wickelte er die Hand aus der Jacke und legte sie bedächtig auf das Holz. Aus dem Beutel streute er etwas von den Seelenkräutern in die graue Handfläche. Besser war besser. Man konnte nie wissen, wie viel von der Seele in der Hand gefangen war.
Anschließend murmelte Raen ein Gebet und entzündete das Feuer. Es brannte zunächst nur widerwillig, doch dann fanden die Flammen ihre Nahrung, und ein zweites Mal an diesen Tag stieg ihm der Geruch von verbranntem Fleisch in die Nase. Er trat ein paar Schritte zurück und blickte aus sicherer Entfernung in das Feuer.
Zuerst nahm die Hand eine rote Farbe an, dann wurde sie braun, und die Haut schmurgelte zu einer Kruste zusammen wie bei einer gebratenen Hammelhaxe, und zuletzt wandelte sich das Braun in Schwarz, und die Muskeln und Sehnen der Hand zerfielen zu Asche. Nur noch das geschwärzte Knochenskelett ragte aus der Glut des Feuers, aber auch das würde brennen müssen, bis nichts mehr davon übrig war. So musste es sein.
Raen warf noch weiteres Holz nach und zwang sich, den Vorgang der Vergänglichkeit bis zum Schluss mit anzusehen, während er immer wieder seine Übelkeit herunter würgte.
„Was verbrennst du denn da? Das riecht ja grauenhaft!“
Manoen kam herbei und wedelte mit seiner Hand vor der Nase.
„Es ist Sels Hand! Seine rechte“, entgegnete Raen ohne Umschweife und er konnte beobachten, wie Manoens Kinnlade herunterklappte.
„S-seine Hand?“
„Er hat sie beim Turnier verloren.“
Manoens gesunde Gesichtsfarbe wich, und er musste sich auf einen Zaunpfahl stützen. Es war deutlich, dass auch er ihrem allseits ungeliebten Mitstreiter nie je ein solches Übel gewünscht hatte.
„Bei Hyaun, welch Strafe!“, flüsterte er.
Sie schwiegen lange.
„Hast du gesehen, wie es passiert ist?“, fragte Manoen, als er sich wieder gefangen hatte.
Raen schüttelte den Kopf. „Ich war in dem Moment abgelenkt gewesen.“
„Das kann ich mir denken“, sagte der Hüne vielbedeutend, und Raen starrte ihn einen Moment vorwurfsvoll an. Natürlich musste Manoen denken, er habe die ganze Zeit über nur die Prinzessin angestarrt.
„Ich habe Sel hierher gebracht. Er ist oben in seinem Zimmer und Uke ist bei ihm“, erklärte er stattdessen ernst.
„Und sonst war keiner von uns beim Turnier?“
„Nein.“ Eigentlich war das traurig, überlegte Raen. Sie hatten alle gewusst, dass einer von ihnen bei dem Turnier antrat und damit - wenn auch krankhafter Ehrgeiz sein Antrieb gewesen war - die Ehre ihres Volkes hochhielt, trotzdem war keiner hingekommen, um wenigstens auch nur zuzuschauen. So schlecht stand es also einstweilen um ihren Zusammenhalt im Hytena. Schuldbewusst senkte Raen den Kopf. ‚Ich war da gewesen, doch nicht, um Sel zu sehen.’ Er dachte an die Prinzessin. Er hatte sie ohne ein Wort verlassen. Sie würde es verstehen.
„Die Asche werde ich später zusammenfegen, wenn sie kalt ist. Dann kann Sel sie irgendwann selbst in die Winde streuen. Und nun lass uns in die Küche gehen, ich brauche einen mächtigen Schluck Wein!“
Manoen nickte, und Seite an Seite gingen sie durch den dunklen Torbogen in den Hof.
Die Nacht war fürchterlich gewesen. Raen hatte die ganze Zeit über bei Sel gesessen, der sich im Fieberwahn hin und her geworfen hatte, mal unheimlich still mit grotesk verzerrtem Gesicht und mal laut und markerschütternd schreiend. Unermüdlich hatte er Gebete gesprochen und gehofft, sie würden bis in Sels Bewusstsein vordringen und ihm ein rettender Fels sein, auf dem sein Geist ruhen konnte, während ihn die beunruhigenden Fluten des Deliriums unsanft umspülten. Am Morgen war Uke gekommen und hatte Raen abgelöst. Hundemüde hatte er sich auf sein Lager geschleppt und war augenblicklich eingeschlafen.
Leider war der Traum, der ihn hernach heimsuchte, alles andere als eine Erholung von den Geschehnissen der realen Welt.
Er träumte von Resa, seinem kleinen Bruder, und wie er von ihm die Treppen herunter gestoßen wurde. Immer wieder stürzte er in die Tiefe des sich unter ihm unendlich fortwindenden Treppengehäuses hinab, und über ihm thronte Resa mit einem bösen Lächeln und einem brennenden Schwert in seiner Faust, gleich einem geflügelten Rachedämon aus der Unterwelt. Das Bild veränderte sich, und Raen sah Resa im Tempel knien. In priesterliches Gelb gekleidet, rein und unschuldig, das Schwert ehrfurchtsvoll in beiden Händen haltend. An seiner Seite die Hyaunset und auf seiner Stirn das Aun. Hyaun hatte ihn zum Krieger berufen!
Raens Herz verkrampfte sich. Ein Hauch von Bedrohung lag in Resas unstetem, flackerndem Blick. Ein Hauch von Wahnsinn ... Das nächste Bild zeigte Resa eingesperrt in eine dunkle Kammer zusammen mit den entsetzlichen Wesen, die in solchen undurchdringlich schwarzen Ecken zu hausen pflegten und die nur darauf lauerten, dass sich ein Junge dahin verirrte. Resa schrie und flüchtete vor den monströsen Schatten, die sich drohend über ihrem Opfer auftürmten und ihre Schlünde nach ihm schnappen ließen. Er heulte und zerrte sich augenrollend an den Haaren, rannte gegen Wände, schlug sich den Kopf blutig. Das Blut färbte sein Gesicht zu einer grotesken roten Maske. Plötzlich fuhr die Zunge aus seinem Mund und leckte genussvoll über seine Wange.
Nein, es war keine Zunge, erkannte Raen, und Ekel packte ihn. Denn statt der Zunge ringelte sich plötzlich ein nackter, fetter Wurm zwischen Resas Lippen! Mit kalten, schwarzen Kopfaugen und einem Maul voller gläserner Zähne! Er fraß sich gründlich satt an dessen Blut und aalte sich vor Wonne zuckend im wunden Fleisch der Angst. Doch ganz unvermittelt hielt der Wurm in seinem Festmahl inne, drehte quälend langsam den Kopf und starrte ihn, den heimlichen Beobachter am Fenster der Traumwelt, an.
Unruhig wand Raen sich im Schlaf. Er ertrug dieses abstoßende Schauspiel nicht mehr länger.
‚Wach auf! Wach einfach auf, dann ist es vorbei!’, drängte sein Unterbewusstsein.
‚Du Narr, nichts ist vorbei, es hat ja noch nicht einmal angefangen!’, spie der Wurm mit verzerrter Stimme und Blut spritzte aus seinem Maul auf Raens Gesicht.
Er erwachte, weil er sich derart heftig mit seinen eigenen Händen auf seine Wangen schlug. Benommen sah er sich um. Helles Sonnenlicht drang durch die Schlitze der Fensterläden und zeichnete ein gestreiftes Muster auf seine Bettdecke. Dem Sonnenstand nach zu urteilen, war es bereits nach Mittag. Verwirrt fragte Raen sich, ob er so lange geschlafen hatte, doch dann kam durch die Schreckensbilder des Traumes die Erinnerung.
Seine Nachtwache an Sels Lager, und dass er sich im Morgengrauen zur Ruhe gelegt hatte.
Er setzte sich auf und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Da er nicht scharf darauf war, wieder in die beunruhigende Welt jenseits des Wachens einzutreten, entschloss er sich, aufzustehen und in der Küche nach etwas zu essen zu sehen. Das letzte Mal, dass er Nahrung zu sich genommen hatte, war am Abend des Maskenfestes gewesen. Das war eindeutig viel zu lange her, und als Bestätigung knurrte sein Magen auf. Raen strich die Decke fort und erhob sich. Jetzt erst einmal was Vernünftiges zwischen die Zähne und anschließend ein ausgiebiges Bad, dachte er sich, und tapste barfuß und nur in Hose vor die Zimmertür auf die Galerie und hinunter in den Hof.
Warum der Rotschopf ihr gegenüber so verlegen war, wusste Keï nicht, aber es störte sie auch nicht, ihn weiter mit ihren Fragen zu löchern. Neugierig ließ sie ihren Blick einmal durch die Küche des Hytena schweifen und wandte sich dann wieder an den großen Hy.
„Wird Sel es überstehen?“
„Keine Ahnung, wir werden sehen. Wenn er keinen Wundbrand bekommt, wird er es schaffen“, entgegnete Manoen und rührte weiter in einem Topf über dem Herdfeuer.
„Und was wird danach mit ihm geschehen?“ Natürlich interessierte Keï sich nicht wirklich für Sel, das war bloß ein Vorwand - und ein sehr geeigneter noch dazu -, um endlich einmal das Hytena besuchen zu können. Schon seit längerem hatte sie wissen wollen, wie die Hy hier hausten. Außerdem wollte sie Raen sehen, denn sie hielt es nicht einmal mehr einen Tag ohne ihn aus!
„Oh, Sel kann immer noch Karbalds linke Hand sein!“, stieß Manoen zusammen mit einem sarkastischen Lachen aus.
„Ich kannte mal einen einhändigen General“, erzählte Keï. „Es ist lange her, ich war noch klein, und er war sehr alt. Er stand in den Diensten meines Vaters, und der hat ihn sehr geschätzt, soweit ich weiß.“
„Leider nur hat Sel nicht das geringste Talent für den Generalsposten. Er ist ein Kettenhund. Mehr ein Befehlsempfänger als ein Befehlshaber. Für andere die Drecksarbeit machen, das kann er gut! Selbst aber Befehle erteilen …“ Manoen schüttelte nachdrücklich den Kopf.
„Nun redet doch nicht so schlecht von dem Armen. Er ist tief gestürzt und wird es schwer haben, wieder auf die Beine zu kommen“, entgegnete Keï darauf.
Manoen sah sie einen Moment fragend an, wohl um festzustellen, ob ihre Rede spöttisch gemeint gewesen war.
„Wo ist eigentlich Raen?“, erkundigte sich Keï ganz beiläufig, doch ihn diesem Punkt wurde sie von dem hochgewachsenen Rotschopf sofort durchschaut, denn jetzt grinste er verschwörerisch.
„Der schläft, er hat die ganze Nacht bei Sel gesessen. Verzeiht, dass ich nicht früher gefragt habe, aber mögt Ihr etwas trinken?“
„Ja, gerne.“
Manoen überließ den brodelnden Topf sich selbst und holte ihr und ihren beiden Leibwächtern Becher und einen Krug Wasser.
Verstohlen sah sie sich erneut in der Küche um. Es war alles sehr ordentlich und wie in jeder anderen Küche, bis auf die fehlenden Stühle und Tische, da die Hy traditionell auf dem Boden zu sitzen pflegten. Aber sie konnte nirgends eine Dienstmagd oder einen Koch erblicken. Sorgten die Männer hier etwa für sich selbst?
Manoen kam zurück und schenkte ihr ein.
„Wer kocht denn hier für Euch?“, fragte sie ihn ungeniert, als er sich wieder setzte.
„Na, das seht Ihr doch: Wir.“
„Was? Raen etwa auch?“
Manoen schien zu überlegen, ob Raens Ruf in irgendeiner Weise Schaden nehmen könnte, wenn er diese Frage offen beantwortete. Doch dann lächelte er breit. „Er ist sogar der beste Koch unter uns. Ich liebe seinen Kanincheneintopf.“ Er leckte sich über die Lippen wie ein kleiner Junge.
Keï sah ihn an, verwundert und amüsiert zugleich. „Also, ich könnte mir nicht einmal ein einfaches Süppchen zubereiten, wenn es sein müsste“, gab sie bereitwillig zu. „Und Ihr nehmt mich jetzt ganz bestimmt nicht auf den Arm?“
„Nein.“
„Hmm, welch versteckte Talente.“
„In der Tat“, grinste Manoen, „fragt ihn doch ruhig einmal danach.“
„Nach was soll sie mich fragen?“
Alle vier Anwesenden drehten sich abrupt zur Tür um.
Dort stand Raen und wusste offenbar nicht so recht, was er von dieser illustren Gesellschaft halten sollte, die sich da in der Küche versammelt hatte.
Keï schloss ihren Mund, und ihr Blick fiel ungewollt auf seine glatte, gleichmäßig gebräunte Brust. Raen verschränkte die Arme, blieb aber weiterhin in der Türfüllung stehen.
„Ihr dürftet nicht hier sein!“, sagte er tadelnd an sie gewandt, und Keï musste lächeln. Stets war er darauf bedacht, ihre Person vor übler Nachrede und Gespött zu beschützen. Darin war er auf rührend hingebungsvolle Weise sogar beinahe noch beflissener als ihre beiden eigenen Leibwächter.
„Ich wollte mich bloß nach Sel erkundigen“, gab sie schließlich schlicht zurück. Ihr Blick aber fuhr nach wie vor hingerissen über Raens gespannten Oberarme und den Rest seines überaus wohl ausgestatten Körpers. Sie sah ihn so nicht das erste Mal, aber in diesem gänzlich unerwarteten Moment hatte er etwas besonders Anziehendes. Etwas, das anders war als sonst. Sie überlegte, während er sie immer noch ungewöhnlich distanziert taxierte. Natürlich musste er es aufdringlich finden, dass sie ungefragt hierher gekommen war.
„Komm, steh’ da nicht so herum, setz’ dich zu uns“, forderte Manoen ihn auf. Und nur nach einigem Zögern trat Raen zu ihnen.
„Ist da noch etwas zu essen von gestern?“, wollte er wissen.
„Ja, dort im Kessel über der Feuerstelle. Ich hab es für dich warm gemacht. Es ist Hühnersuppe“, sagte Manoen.
Raen verzog das Gesicht, Hühnersuppe schien nicht gerade sein Leibgericht zu sein. Aber er hatte offenbar auch keine Lust, in ihrer Gegenwart darüber zu lamentieren und so ging er zum Herd. Keï beobachtete, wie er sich eine Schale aus dem wuchtigen Regal an der Wand daneben schnappte und zu dem dampfenden Topf ging. Das gab ihr die Gelegenheit, ihn auch noch einmal ausgiebig von hinten zu betrachten. Und jetzt erst kam sie darauf, was es war, das ihn heute so anders wirken ließ: Er trug seinen Helm nicht, ohne den er so gut wie nie vor die Tür ging.
Im Gegensatz zu Manoen hatte er ihn wirklich immer auf, und sie hatte sich schon so sehr daran gewöhnt, dass er ihr wie ein Teil von ihm vorgekommen war. Jetzt aber konnte sie die dunkle Farbe seiner kurzen Haare und die Form seines Kopfes erkennen, und es erschien ihr als eine sehr intime Betrachtung.
Nachdem Raen sich die Schale gefüllt hatte, kam er zurück und setzte sich neben seinen rothaarigen Freund. Nach einem beiläufigen Blick in Richtung der regungslos kauernden Leibwächter, ließ er sich nicht weiter stören und aß die Suppe.
„Sagt, wie sitzt das eigentlich auf Eurer Stirn fest?“, wollte Keï nach einer Weile wissen und zeigte auf sein Aun. Auch diese Frage hatte sie bisher zurückgehalten.
„Das weiß ich auch nicht. Nur unsere Priester können es abmachen“, antwortete Raen mit vollem Mund.
Keï bemerkte, dass Manoen dabei unauffällig auf seine Finger sah.
„Und wofür ist es gut?“, fragte sie weiter.
„Das darf ich Euch leider nicht verraten, entschuldigt.“ Raen schob sich den letzten Löffel in den Mund und stellte dann die Schale beiseite. „So, und was machen wir nun?“ Er klatschte sachte in die Hände. „Eine kleine Führung durch unser bescheidenes Anwesen?“ Seine Stimmung war spürbar besser geworden.
Die Prinzessin nickte lächelnd, und sie erhoben sich und verließen gemeinsam die Küche.
Draußen im Hof verabschiedete sich Manoen mit der Entschuldigung, er wollte nach Uke sehen, und stiefelte davon. Raen schlüpfte kurz in den anliegenden Waschraum, und kam, ganz zu Keïs Bedauern, in ein weißes Untergewand gekleidet wieder hinaus. Seine Füße aber, so fiel es ihr auf, blieben blank, während er ihr ausführlich das Hytena zeigte.
Da Raen mit der Prinzessin unterwegs war, nutzte Manoen die Gelegenheit und trat in Sels Zimmer. Die Tür war bereits offen, damit frische Luft zu dem Verwundeten gelangen konnte.
„Mach Schluss, Uke. Ich übernehme, bis Raen kommt“, sagte er zu dem Eisan, und der sah aus müden Augen fragend zu ihm auf.
„Es ist leichter für uns alle, wenn jeder einmal hier am Bett sitzt. Die anderen werden auch noch kommen, glaub mir.“
Erleichtert erhob sich Uke und bot Manoen seinen Platz neben dem schon viel ruhiger schlafenden Sel an.
„Er hat immer noch Fieber. Ich habe weiterhin seine Stirn gekühlt, und wenn es gar zu schlimm wurde, auch seine Waden“, erklärte der Jüngere.
„Ich weiß Bescheid, geh und ruh’ dich aus, Uke.“
Der junge Eisan ging.
Als Manoen allein war, betrachtete er das schweißglänzende, bleiche Gesicht Sels. Dessen Brustkorb hob und senkte sich nur unmerklich. Er schien dem Tode näher als dem Leben, und Manoen ertappte sich bei dem schimpflichen Gedanken, dass es keine große Trauer in ihm hervorrufen würde, wenn Sel zu weit auf die Seite des Todes geraten und sterben würde.
„Oh, Sel, welch ein Vermächtnis du uns hinterlässt! Es besteht nur aus bösen Erinnerungen!“, flüsterte er. „Böse Erinnerungen werden schnell vergessen, gute jedoch lange in den Herzen der Menschen bewahrt. Besinne dich, Sel, noch ist es Zeit, kehre zu dem Guten in dir zurück.“
Sel rührte sich nicht, nur die Augäpfel unter seinen Lidern rotierten unruhig. Manoen seufzte. Was versuchte er hier eigentlich? Es war vergebene Liebesmüh. Sel war Sel.
Er machte es sich bequem und tauschte allenthalben das Tuch auf der Stirn des Fiebernden aus. Seinen Gedanken nachhängend lauschte er auf dessen flachen Atem.
Als er sich nach einer Weile wieder zu dem Verwundeten wandte, blickten ihn zwei glänzende Augen direkt an. Sel war wieder bei Bewusstsein.
‚Endlich’, dachte Manoen und fragte knapp: „Wie geht es?“
Die spröden Lippen öffneten sich, und nur ein Flüstern drang heraus: „Höchst ergötzlich deine Frage, Feuerkopf, wie soll es mir schon gehen.“
Manoen verkniff sich einen Kommentar.
„Sag, was willst du? Du sitzt doch nicht freiwillig hier, oder? Es gibt einen Grund dafür“, erkannte Sel erstaunlich scharfsinnig für seien Zustand.
„Ja, den gibt es“, bekundete Manoen offen, „denn ich bin der Einzige, der das hier für dich tun kann.“ Demonstrativ zog er einen kleinen, schwarzen Beutel hervor.
„Ah, du hast es jetzt also“, hauchte Sel brüchig und sah wissend den Beutel an.
„Ja, er ist von Reko in meine Obhut übergegangen.“ Mehr verriet Manoen ihm aber nicht, zu sehr fürchtete er sich vor Sels unberechenbarem Trachten.
„Ich werde dir jetzt etwas davon geben, capisco?“
Sel nickte, verzog aber plötzlich gepeinigt das Gesicht und bog den Kopf zurück. Er musste wirklich fürchterliche Schmerzen haben. Manoen sah auf den von gelblichem Wundsekret durchdrungenen Verband. Der Stumpf wirkte abstoßend und grotesk. Manoen biss sich auf die Unterlippe. Nie wollte er solch ein Schicksal erleiden!
Er entnahm dem Beutel ein kleines Kügelchen und gab es Sel zwischen die Lippen, der es daraufhin langsam zerkaute.
Manoen kramte in einem anderen Beutel und holte eine langstielige, fragil wirkende Pfeife hervor. Er streute einige bräunliche Körnchen vorn in die winzige Öffnung und entzündete die Pfeife mit einem Kienspan. Er zog ein paar Mal daran und reichte sie dann Sel. Der nahm sie mit einem dankbaren Blick in seine Linke und inhalierte den Rauch mit geschlossenen Lidern. Nur wenige Augenblicke später ließ er die Pfeife sinken und ergab sich mit einem Seufzer in den sanften Schlaf des Mohns.
Manoen nahm die Pfeife, zog ebenfalls daran, bis das Opium aufgeraucht war, lehnte sich dann mit dem Rücken an Sels Truhe und genoss das wohlige Gefühl, das durch seine Glieder floss.
„Oh, da ist sogar eine Bogenschießbahn.“ Die Prinzessin wies auf die bunt bemalte Strohscheibe, die in einiger Entfernung auf einer der Weiden stand. „Nun, ich sehe, Ihr habt hier alles, was man braucht.“
„So könnte man sagen“, bestätigte Raen.
„Dürfte ich wohl noch einmal hierher kommen, mit meinem Bogen? Ich liebe das Schießen, doch das ist ja nirgendwo in Borgossa erlaubt. Ich bin bestimmt schon ganz eingerostet.“
Raen dachte daran, dass auch seine Schießkünste mal wieder etwas geölt werden müssten, und kam zu dem Schluss, dass ein Training in solch netter Gesellschaft durchaus seinen Reiz besaß.
„Aber sicher doch. Kommt, wann Ihr wollt“, bot er an.
Mit dieser schnellen Antwort hatte sie offenbar nicht gerechnet, denn sie lächelte ganz besonders strahlend. „Oh, vielen Dank.“
„Keine Ursache, es ist mir eine Freude.“
Sie schlenderten weiter auf die Streuobstwiese hinaus. Die Sonne sank langsam dem Horizont entgegen, tauchte alles in goldenes Licht, und der kleine, schwarzgefiederte Herold der Tag- und Nachtscheide saß in einem der Bäume und sang mit geschwellter Brust seine unnachahmliche Melodie. Es war ein schöner, ruhiger Moment, und Raen sog ihn mit jedem Atemzug tief in sich hinein. Doch nach einiger Zeit meldete sich auch sein Herz wieder zu Wort und machte seine Gedanken schwer. Warum konnte das Leben nicht so leicht sein wie dieser Abend, warum nicht so unbeschwert wie das Lied der Amsel? Warum konnte ein Mann nicht ein Mann sein und eine Frau einfach nur eine Frau?
Um sich abzulenken, pflückte er einen Apfel vom Baum und biss hinein. Er schmeckte saftig süß.
„Auch einen? Dann bedient Euch, sie sind gut“, empfahl er der Prinzessin, doch sie lehnte dankend ab. Für ein paar Herzschläge blickte sie ihn an, und es sah so aus, als wollte sie ihm etwas anvertrauen, doch dann sagte sie lediglich: „Ich denke, ich mache mich jetzt auf den Heimweg, damit ich noch in die Stadt komme, bevor die Tore geschlossen werden.“
Raen nickte.
„Auf bald, Raen del Shari“, sagte die Prinzessin wenig später, nachdem sie aufgesessen war, und Raen hob die Hand. Mit wachsendem Kummer in seiner linken Brust blickte er ihr hinterher, als sie gefolgt von ihren Leibwächtern auf die Straße vor dem Hytena einbog.
Die nächsten Tage vergingen friedlich und in gewohntem Rhythmus. Sel erholte sich unter den pflegenden Händen aller Bewohner, und die Wunde heilte gut. Recht bald konnte er aufstehen und hinaus ans helle Tageslicht gehen.
Der Herbst kündigte sich an, und der September zeigte sich von seiner berühmt charmanten Seite und brachte angenehm warme Tage und milde, sternenklare Nächte. Allerorts bogen sich die Tafeln unter den Früchten der reichen Ernte, Weinfeste und Herbstreigen fanden in den Dörfern und Weilern rund um Borgossa statt und waren gut besucht.
Doch Sel war nicht nach feiern zu Mute, obwohl die anderen ihn aufgefordert hatten, mitzukommen. Die gemeinsame Sorge um ihn hatte sie wieder etwas enger zusammenrücken lassen, zumindest bemühten sie sich darum. Aber Sel ließ sie ziehen und blieb allein zurück im Hytena. Verloren saß er dann die meiste Zeit hinter dem Hof in der Sonne auf einer hölzernen Rast, die einer der Bewohner irgendwann einmal aus groben Latten gezimmert hatte.
Jedoch auch an anderen Tagen, da alle im Haus waren, getraute sich niemand, sich einmal zu ihm zu setzen, zu groß war noch immer die Scheu vor seiner einstmals giftigen Zunge.
Aber das störte Sel nicht im Geringsten, denn er war viel lieber allein. Außerdem ertrug er die mitleidigen Blicke nicht, wenn sie, ob heimlich oder offen, seinen Handstumpf betrachteten. Er hasste es! Er hasste das, was mit ihm passiert war. Und nur schwer konnte er akzeptieren, dass seine rechte Hand fort war. Er war kein ganzer Mensch mehr, kein ganzer Krieger! Was war er denn jetzt noch wert? Würde er sein Schwert mit links je so führen können wie mit rechts? Viele konnten das, Raen zum Beispiel. Er selbst aber konnte es nicht. Seine Eingeweide zogen sich zusammen. Raen hatte seine beiden Hände noch. Er hatte überhaupt noch alles: Seinen guten Ruf, seine Würde, seine verdammte Kriegerehre. Und was war mit ihm? Er hatte alles verloren! Alles, was er sich erarbeitet hatte, er ganz allein! Der Kloß in seinem Hals, der seit seiner Genesung sein ständiger Begleiter war, drängte sich schonungslos auf seinen angestammten Platz. Die Versuchung war groß, doch er gestattete es sich nicht, zu heulen. Nein, diese letzte, kleine Freude würde er den anderen nicht gönnen! Sel schluckte gewaltsam und sah auf die Wolken am Himmel. Dann schloss er die Augen und atmete tief durch. Vor seinem inneren Auge tauchten gelbe Flammen auf, heißlodernde, reinigende Flammen. Damit brannte er sein Innerstes aus, versengte die quälende Schmach. Zurück blieb eine ausgebrannte, rußgeschwärzte Höhle, die sein Brustkorb war. Seine Linke tastete sich auf die Stelle, wo unter seiner Jacke ein kleines Beutelchen um seinen Hals hing. Darin war die Asche seiner Hand, die Raen für ihn zusammengefegt hatte. Der einzige ehrenhafte Akt, den dieser Hundsfott je vollbracht hatte, dachte Sel bitter, und gleichzeitig schmerzte es ihn bis tief ins Mark. Dadurch, dass es ausgerechnet Raen gewesen war, der ihm geholfen hatte, fühlte er sich noch gedemütigter als ohnehin schon. Fest hielt er das Beutelchen umklammert. Wenn er brennen musste, warum brannten dann nicht auch sie? Sie hätten es verdient. Dann wäre endlich Frieden ...
Setna folgte Kanaima unauffällig. Der Maestro durchquerte den Hof und stieg die Stufen zum Palastportal hinauf. Setna tat so, als schlenderte er ganz zufällig in dieselbe Richtung. Es war gar nicht so einfach, Kanaima zu verfolgen, ohne dass jemand darauf aufmerksam wurde, denn überall wurde er erkannt und gegrüßt. Eben noch hatten die beiden Torwächter einen tiefen Buckel vor ihm gemacht. Setna beschleunigte seinen Schritt, als Kanaima in der Eingangshalle des Palastgebäudes verschwand. Er musste ihm auf den Fersen bleiben. Bisher hatten seine Bemühungen noch keine Früchte getragen, doch früher oder später, so hoffte Setna, würde sein Stiefbruder einen Fehler machen und seine wahren Absichten verraten. Er trat in die Halle und sah gerade noch, wie Kanaima mit zügigen Schritten in den Ostflügel empor eilte, wo sich die Gemächer der hohen Würdenträger des Hofes und der Vertrauten des Königs befanden, unter anderem auch Latas und Bhuras’ Gelasse. Aber Bhuras war noch in der Baschai, also konnte Kanaima nur zu Lata wollen.
Setna spähte vorsichtig um die Ecke in den auch tagsüber dunklen Gang, von dem rechts und links die Türen zu den Gemächern abgingen, und sah, wie Kanaima sein Ziel erreichte und leise anklopfte. Die Tür öffnete sich, ein Strahl Sonnenlicht erhellte kurz das Stück des Korridors und Kanaima trat ein. Dann war es wieder dunkel.
Nachdem Setna kurz gewartet hatte, wagte er sich weiter vor, bis er schließlich direkt vor der Tür stand. Es war Latas Gemach, oder besser Gemächer, denn der erhabene Konsultas hatte ganze drei Räume zur Verfügung. Wofür er diese Räume allerdings gebrauchte, das wusste Setna nicht.
‚Wahrscheinlich, um all seine vielen Konkubinen in eine Reihe zu bringen’, dachte er abfällig.
Behutsam näherte sich sein Ohr der Tür. Sie war dick, und wenn Lata und Kanaima in einen der hinteren Räume gingen, würde er ohnehin nichts hören, aber auf einen Versuch wollte er es ankommen lassen. Seine Ohrmuschel berührte das über die Jahrzehnte glattgelauschte Holz.
Zuerst hörte er nichts, dann das Rücken von Stühlen und kurz darauf gedämpfte Sprechlaute. Er hatte Glück, sie hatten sich im Empfangsraum niedergelassen, womöglich an dem Tisch unter dem großen Fenster, das zum Hof hinausging. Setna musste sich anstrengen und immer wieder den Atem anhalten, um etwas verstehen zu können.
„... dass Ihr endlich zu mir kommen würdet, um das zu fragen“, hörte er Latas honigsüßes Gesäusel und Kanaimas tiefe, volltönende Stimme darauf antworten: „Ihr seid, wie Ihr vor einiger Zeit so schön betont habt, der Einzige, der dort war, und ich wäre ein Narr, Euch nicht danach zu fragen. In unserem Vorhaben kann jedes noch so unwichtig erscheinende Detail von Bedeutung sein.“
„Ganz recht. Nun, was wollt Ihr wissen? Ich stehe ganz zu Euren Diensten, Maestro!“
Vor der Tür lief Setna ein Schauer des Abscheus über den Rücken. Bei den Göttern, wie dieser schleimige Wurm reden konnte! Er schüttelte sich wie ein Habicht im Regen und hielt dann wieder den Atem an.
„... die Krieger in Borgossa sind? Welchen Grund könnten die Hy haben, sie überhaupt außer Landes zu schicken?“
„Oh, ich schätze, das hat etwas mit den einzelnen Kriegern im Persönlichen zu tun.“
„Wie meint Ihr das?“
„Mit ihrem Charakter, wenn man es so will.“
Stille.
„Aha, sie entsenden also jene, die in der Lage sind, in der Welt außerhalb ihrer Mauern zu bestehen, ohne dabei vor Angst zu vergehen?“, hakte Kanaima hörbar amüsiert nach.
„Nun, nein, ich denke, das ist es nicht.“
„Dann, weil sie Informationen heranschaffen sollen, als eine Art Spion?“
„Nein, auch das trifft es nicht ganz. Es ist mehr, dass sie -“
„Mein Prinz Setna? Seid Ihr dort?“
Setna schreckte auf und nahm ruckartig Abstand von der Tür.
Ein Diener stand am Ende des Korridors und glotzte ihn mit großen Augen an.
„Was willst du?“, zischte er ihn mit gesenkter Stimme an. „Und sprich gefälligst leiser!“
„Seine Majestät, der König, lässt nach Euch schicken, mein Prinz. Ihr mögt Euch bitte bei ihm in der Bibliothek einfinden.“
„Ist gut, hab ich verstanden, und jetzt verzieh dich, du Schmeißfliege!“
Der Diener wandte sich ab und ging.
Setna warf einen finsteren Blick auf die eisenbeschlagene Tür. Verdammt, ausgerechnet jetzt, da es gerade interessant wurde! Er strich sich mit beiden Händen beherrscht über die Brust und nur widerwillig machte er sich mit gemäßigtem Schritt auf den Weg zur Bibliothek, die sich im unteren Teil des Westflügels befand.
Als er wenig später dort von einem Diener in die geheiligte Denkwerkstätte des Königs eingelassen wurde, rief dieser ihn erfreut zu sich: „Ah, Setna, komm zu mir und bediene dich an diesem köstlichen Tropfen!“ Er saß mit übergeschlagenem Bein auf seinem Lieblingsstuhl inmitten all der Bücher und Pergamentrollen und hob bedeutungsvoll einen silbernen Kelch in seiner Rechten.
Setna folgte der Aufforderung und schenkte sich von dem dunkelroten, fast schwarzen Wein ein. Er schmeckte holzig und trocken und stieg ihm sofort zu Kopf.
„Ich habe eine Überraschung für dich!“, eröffnete Katthike mit einem selbstgefälligen Grinsen.
Setna schwante nichts Gutes und trank noch einen Schluck, um sich zu wappnen. Dann fuhr sein Vater fort.
„Du wirst heiraten, mein Sohn! Die Prinzessin von Adjan. In drei Monaten zur Wintersonnenwende.“
Setna verschluckte sich und prustete einen fein zerstäubten, roten Weinregen in die Gegend, glücklicherweise nicht auf seinen Vater. Den Handrücken vor den Mund gepresst würgte er den Rest hinunter und starrte dabei den König entsetzt an. All seine Hoffnungen zerbarsten in diesem Moment wie ein Regal voller Glaskelche, das zu Boden ging.
Seit sie aus der Baschai wieder zurück waren, hatte er im Stillen gehofft, sein Vater würde ihn mit auf den nächsten Feldzug gegen die Hy mitnehmen, doch jetzt wollte er ihn in das Bett einer Frau schicken; in die tödlich lähmenden Fänge der Ehe, anstatt in die Glorie heldenhafter Taten auf dem Schlachtfeld! Er wollte ihn verdammen zu einer Marter aus ödem, höfischem Weibergeschwätz und Kindergeplärr, zu Konversation und Benimm. Panik ergriff Setna. Er öffnete und schloss seinen Mund stumm wie ein Fisch, unfähig zu sprechen. Er schluckte trocken. Warum tat ihm sein Vater das an? Und warum grinste er so, als würde er gerade an der öffentlichen Folter einer seiner Erzfeinde teilnehmen? Gefiel es ihm etwa, auch ihn in einem fort zu quälen? Setnas Mundwinkel begannen zu zucken, und schnell senkte er den Kopf.
„Ich habe verstanden Vater. In drei Monaten also. Kann ich jetzt wieder gehen?“, fragte er mit immer enger werdender Kehle.
„Nein, denn ich habe noch eine Überraschung für dich“, posaunte Katthike.
Setna biss sich auf die Zunge und hoffte, dass es dieses Mal eine gute sein möge. Oh, wie sehr er diese Überraschungen seines Vaters hasste! Wie sehr er sich ihm ausgeliefert fühlte. Er zwang sich, aufzusehen. Ein Mann sollte immer aufrecht ins Verderben gehen.
Katthikes Lächeln hatte wieder einen annähernd väterlichen Zug angenommen. Die scheinbare Häme war verschwunden.
„Es wird dich freuen, zu hören, Setna, dass du dein erstes Kommando bekommen wirst! Das ist quasi mein Hochzeitsgeschenk an dich. Na, was hältst du davon?“
Setna lächelte zaghaft. War das wirklich wahr, oder nur ein böser Schachzug seines Vater, um ihn milde zu stimmen?
„Im kommenden Frühjahr wirst du nach Braud gehen, zusammen mit General Bhuras und Kanaima. Braud wird der Ausgangspunkt sein, von dem aus ihr euch an dem Gebirge entlang nach Osten vorarbeiten werdet. Eine der leichten Grenzerkundungstruppen wird dann unter deinem Befehl stehen. Aber ich erwarte natürlich von dir, dass du in allem, was Bhuras und Kanaima dir instruieren werden, absoluten Gehorsam zeigst.“
So nah beieinander konnten also der himmlische Platz bei den Göttern und der Schlund der Hölle liegen!
Setna nickte und zeigte trotz allem ein breites Lächeln. Ein wölfisches Zähnefletschen in einem schmalen, blassen Gesicht, umkränzt von einem wirren Gebüsch schwarzer Haarzotteln.
Dann würde er nur wenige Wochen bei seiner Frau bleiben und lediglich seine Pflicht erfüllen müssen, weiter nichts, rechnete er sich im Kopf aus. Nichts, außer ein paar Mal über sie hinweg steigen. Und vielleicht war sie ja auch noch hübsch und das alles kein solch großes Opfer. Dennoch fand er den Gedanken beunruhigend, in Zukunft an seinem Wamszipfel ein lästiges Weibsstück hängen zu haben, das seine Aufmerksamkeit forderte.
Katthike hob das Kinn und betrachtete Setna eingehend.
„Ich weiß wohl, dass dir noch nicht nach heiraten zumute ist, mein Sohn“, sagte er schließlich. „Aber“, er stieß einen Zeigefinger in die Luft, „die Tochter von König Altibor ist eine sehr gute Partie, die wir nicht ausschlagen können. Sie bringt uns ein wichtiges Bündnis mit Adjan ein, und obendrein veredelt sie dein fehlendes königliches Blut, verstehst du? Dann wird auch die Königsblutliga nicht mehr so laut zetern. Im Grunde genommen ist sie sogar seit etwa zweihundert Jahren mit unserer Linie verwandt. Mein Ururgroßvater, Buthwal der II. war es, glaube ich, der damals seine Tochter an die Linie des adjanischen Königshauses verheiratet hat. Das wird die Königsblutliga besänftigen.“ Er hob beide Hände und setzte eine theatralische Miene auf. „Askharisches Blut kehrt zurück nach Askhar, das klingt doch ausreichend rührselig, oder nicht?“
Setna runzelte die Stirn. „Warum fühlt Ihr Euch überhaupt dazu genötigt, Königsblut zu besänftigen? Lasst sie doch einfach verbieten, mein König, dann habt Ihr das Problem nicht mehr. Das würden die Patrioten im Übrigen sehr begrüßen.“
„Das wäre in der Tat schön einfach. Aber leider gehören Königsblut mittlerweile viele bedeutende Herzöge an, und es werden immer mehr. Sie zu verbieten, würde bedeuten, dass ich das Wort und die Unterstützung dieser Herzöge verlöre. Sie würden sich gegen mich stellen, und eine Revolte im eigenen Land können wir im Moment beileibe nicht gebrauchen.“
„Ihr lasst Euch also erpressen? Von Vasallen, die Euch einen Eid geschworen haben?“
„Nein, gewiss nicht! Nur muss man gegen die Königsblutliga anders vorgehen. Sie zu verbieten, würde nichts als Verdruss gegen uns aufbringen, und das wollen wir nicht. Der bessere Weg ist, sie auf unsere Seite zu ziehen.“
„Aber das geht nicht, solange ich Euer Thronfolger bin. Sie verabscheuen und verdammen mich!“
„Harte Worte, mein Sohn!“
„Aber so ist es, Vater. Ich weiß, was hinter meinem und Eurem Rücken über mich geredet wird. Sie nennen mich den Bastard vom Palastberg, einen Hurenbankert, der in den dunklen Gewölben der Verliese gezeugt wurde. Aber das ist es nicht, was mich kränkt.“
„Sondern?“
„Dass Ihr Kanaima zurückgeholt und diese leidige Diskussion damit erst wieder angefacht habt!“
„Setna, sei unbesorgt, der Platz auf dem Thron Askhars ist nur für dich bestimmt, und ich werde dafür sorgen, dass alle, die etwas dagegen haben, schweigen werden.“
„Wie soll Euch das je gelingen, frage ich?“
„Indem ich sie von deiner Tauglichkeit überzeuge.“
Setna sah seinen Vater zweifelnd an.
„Du wirst der Eroberer Hys sein! Du wirst den höchsten Ruhm in der Geschichte Askhars erlangen, du, der du für den armen, alternden König zu Felde ziehst. Du wirst den Segen der Götter haben und die Gunst des Volkes. Alle werden dir zujubeln, Setna, dem Großkönig! Vergiss Kanaima, er ist für dich bei dieser Sache nicht mehr als ein Handlanger.“
Setnas Lippen zogen sich erneut zu einem geisterhaften Lächeln auseinander. Das gefiel ihm, das gefiel ihm sogar sehr!
„Dafür habt Ihr ihn also zurückgeholt?“
„Ja, welch Ironie, nicht war? Er wird dein Wegbereiter sein! Kurz vor dem Ziel aber wird er plötzlich in Ungnade fallen, und selbst die Königsblutliga wird dann nichts anderes mehr tun können, als sich beschämt von ihm abzuwenden ... und dich als neuen König anzuerkennen.“
„Wirklich, Vater“, kicherte Setna böse in sich hinein, „warum habt Ihr mir das nicht schon viel früher gesagt?“
„Ich wollte erst sehen, ob es funktioniert, ob Kanaima sich auch so verhält, wie es meinen Plänen entspricht. Er ist ein brillanter Kopf, wahrlich, aber gegen Lata und mich kommt er nicht an. Dafür fehlt unserem rechtschaffenen Maestro das gewisse Maß an Niedertracht.“ Nun war es Katthike, der ein gehässiges Lachen anstimmte.
Kanaima strich sich über den Bart und musterte Lata. Das Gespräch mit ihm war durchaus aufschlussreich. Er wusste tatsächlich enorm viel über Hy - eigentümlich viel. Kanaima ließ seine Hand sinken.
„Bevor ich es vergesse, mir ist zu Ohren gekommen, dass einer unserer Schwertkämpfer, die in Borgossa an dem großen Turnier teilgenommen haben - im übrigen der beste Schüler Rebians - einem der hyaunischen Krieger die Schwerthand abgeschlagen hat, und dass der andere, der ihm daraufhin zu Hilfe geeilt war, unsere Sprache beherrschte. Zwar mehr schlecht als recht, aber dennoch verständlich.“
Lata hob die schmalen Augenbrauen. „Oh, tatsächlich? Das ist interessant ... und äußerst ungewöhnlich. Wo hat er das wohl gelernt? Ein Hy, der sich dazu herablässt, sich der askharischen Sprache zuzuwenden, welche Veranlassung hat er wohl dafür gesehen?“
Kanaima funkelte Lata ob dieser Bemerkung an, sagte aber dann: „Nun, das können wir leicht herausfinden, indem wir mehrere Spione nach Borgossa entsenden, welche die Hy dort überwachen werden. Das können wir noch diesen Monat in die Wege leiten.“
„Eine vorzügliche Idee, Maestro. Aber vielleicht sollten Eure Spione zusätzlich gleich auch noch die einschlägige Kunst des unauffälligen Eliminierens beherrschen, dann könnten wir uns der Hy gleich entledigen - nur für den Fall, dass sie doch nach Hause zurückkehren sollten, und dadurch das Wissen, das sie an der Akademie erlangt haben, in hyaunische Hände gerät.“
‚Wenn das nicht schon längst geschehen ist’, dachte Kanaima, nickte aber anerkennend. „Ihr denkt stets an alles, Konsultas!“, flötete er gekonnt überzeugend. „Die Zusammenarbeit mit Euch ist doch eine erfreuliche Abwechslung für jemanden wie mich, der sonst fortwährend nur mit engstirnigen Scholastikern zu tun hat, die sich lediglich innerhalb ihres doch sehr generalisierten und starren Kanons von Theorien bewegen können. Der sich im Übrigen an den modernen Universitäten längst überholt hat.“
„Ich dachte, Ihr habt Euch diese Leute selbst ausgesucht?“, fragte Lata mit verwunderter Miene nach.
„Oh ja, das habe ich auch, und sie arbeiten wirklich gewissenhaft, aber ihr Horizont ist doch in verschiedenerlei Hinsicht sehr beschränkt. Sie gehören einer anderen, einer alten Generation an, und es wird noch dauern, bis der Nachwuchs soweit ist, sie zu ersetzen. Dann aber wird sich Askhar einer Kriegsakademie rühmen können, die es mit der in Borgossa aufnehmen kann.“
Lata schnalzte mit der Zunge. „Das Wissen ist der Schlüssel zur Macht.“
„Ganz recht, jetzt aber zurück zu unserem Problem.“
„Welches keines mehr sein wird, sobald wir die richtigen Männer dafür nach Borgossa gebracht haben. Ich schlage vor, Ihr schickt sie als Studenten getarnt dorthin.“
„Hm, daran habe ich bereits gedacht, doch dann müssen sie dementsprechend jung und auch gebildet sein.“
Lata überlegte.
„Holt Euch die Einwilligung vom König und sucht Euch die Geeignetsten aus dessen Leibgarde aus, dort findet ihr die besten Männer, übrigens auch genau jene, die Euch damals in Borgossa beschattet haben, wenn ich mich recht entsinne.“ Der Konsultas zwinkerte ihm vergnügt zu.
Kanaima klopfte auf die Tischplatte und erhob sich. Wenn das die gleichen Männer waren und dann auch noch die besten, dann musste er ihnen wohl noch einige Kniffe beibringen. Aber diesmal ging es ja auch nicht darum, einen gerissenen Prinzen zu beschatten, sondern lediglich ahnungslose Hy.
„Ihr wisst doch sicher, wo ich den König finden kann?“, fragte er.
„Er ist in der Bibliothek und verkündet Setna womöglich gerade die baldige Ankunft seiner Braut und den Termin seiner Hochzeit.“
Kanaima verzog amüsiert das Gesicht. „Tja, die lieben Pflichten eines Thronfolgers. Setna ist wahrlich nicht zu beneiden. Den Göttern sei gedankt, dass ich damit nichts mehr zu tun habe! Übrigens, verehrter Kollege, Vorschläge Eurerseits sind bei mir stets willkommen. Zögert also in Zukunft nicht, mich in der Akademie zu besuchen, wenn es Euch dünkt“, verabschiedete er sich und wollte gehen.
„Da wäre noch etwas, Maestro.“
Kanaima blickte Lata von der Tür aus fragend an.
„Seht, ich habe lange darüber nachgegrübelt, bin aber zu keinem befriedigenden Ergebnis gekommen, da mir bisher die Mittel dafür versagt waren.“
Das Fragezeichen in Kanaimas Gesicht wurde größer, und beide Brauen zogen sich in die Höhe.
„Ihr entsinnt Euch der Gründe, welche die Hy dazu zwingen, einige ihrer Leute fortzuschicken?“
Kanaima nickte. „Selbstverständlich.“
„Nun, sie lassen nur einen Schluss zu.“ Lata legte erneut eine Pause ein. Er wollte es offensichtlich besonders spannend machen. Ungeduldig verlagerte Kanaima sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und musste sich Mühe geben, dem Konsultas nicht zu zeigen, was er von ihm hielt.
Gemächlich faltete Lata derweil seine Hände und lehnte sich in seinem Stuhl vor. „Es könnte durchaus sein“, begann er schließlich, „dass Euer sogenannter ‚Grenzgänger’ und der Mörder von Kasai sich in Borgossa aufhält, sofern er denn seine Verletzung von damals überlebt hat. Es wurde ja berichtet, er sei von einem verseuchten Pfeil getroffen worden. Ihr wisst, von wem ich rede?“
Kanaima nickte, und Lata fuhr fort: „Nun, vielleicht ist es sogar jener Krieger vom Turnier, der unsere Sprache beherrscht, wer weiß.“
„Das glaubt Ihr doch nicht im Ernst?“
Lata hob vielsagend die Brauen.
„Katthike würde alles tun, um den Mistkerl in die Finger zu bekommen, und Ihr sitzt hier und schweigt?“ Kanaimas ließ seiner Erregung über diese Information freien Lauf und trat zwei Schritte auf den Konsultas zu.
Lata hob beide Hände. „Es ist lediglich eine Vermutung. Wer weiß schon, ob der Kerl seine Verletzungen überlebt hat. Und auf eine bloße Vermutung hin wollte ich keinen Alarm schlagen. Der König hat es bekanntlich nicht gerne, mit ungarem Halbwissen belästigt zu werden. Jetzt aber können wir der Sache hinreichend nachgehen. Mit Hilfe von Euren Spionen.“
Kanaima kniff die Augen zusammen und lächelte verschlagen.
„Ihr seid wirklich gerissen, Lata. Bloß nicht in die eigene Schatulle greifen. Und erst recht nicht für eine längst vergangene Sache, die Euch auf so angenehme Weise Euren ärgsten Gegner vom Hals geschafft hat.“
Anstelle einer Antwort zwinkerte Lata ihm erneut zu.
„Und wenn ich den Kerl erwischen sollte, der Kasai erledigt hat, ist der Ruhm natürlich ganz auf meiner Seite. Verstehe“, fuhr Kanaima fort. „Dafür sollte ich Euch wahrscheinlich dankbar sein, nicht wahr? Nun ja, es wird sich zeigen, wie viel Eure Vermutungen wert sind.“
Er wandte sich erneut zum Gehen.
„Wie wäre es heute Nacht zur vertrauten Stunde im Badehaus?“, fragte Lata und sah ihn auffordernd an.
„Kann ich ein solch verlockendes Angebot ausschlagen?“
„Die Entscheidung liegt ganz bei Euch.“
Kanaima lächelte tiefgründig und öffnete die Tür.
„Auf bald, Konsultas“, sagte er vielbedeutend, den Riegel in der Hand.
„Auf bald, Maestro“, gab Lata zurück, und als die Tür sich hinter seinem Besucher geschlossen hatte, huschte ein zufriedenes Lächeln über das Gesicht des Obersten Beraters.
Schon wenige Tage später hatte Kanaima genug geeignete Männer zusammen und schickte sie auf direktem Wege nach Borgossa. Vier eifrige, junge Burschen, die sich durch ihre Tüchtigkeit in der Leibgarde bereits ausgezeichnet hatten. Allesamt gute Schwertkämpfer, von Rebian ausgebildet. Und zumindest der Anführer war mit ausreichend hellem Verstand ausgestattet, um als Student an der Akademie durchzugehen. Es war jener Leibgardist, der in Borgossa an dem Turnier teilgenommen hatte und er bot ihnen zwei ganz entscheidende Vorteile: Erstens würde er sich in der Stadt gut zurechtfinden und zweites kannte er das Gesicht des gesuchten Hy.
Kanaima stattete sie mit ihren Instruktionen, den Papieren, die jeder bei der Einreise in Borgossa vorlegen musste, und genug Barschaft aus, um sich dort für ein Jahr in einer Studenten-Burse einmieten zu können. Und er war sehr zufrieden mit den raschen Fortschritten, welche speziell diese Unternehmung machte; schon in wenigen Wochen würden sie die ersten Botschaften über die neu erschaffene Nachrichtenbrücke aus der Stadt des Friedens erhalten.
Es war zu Mitte des Kranichmondes, des Oktobers, als Kanaima schließlich höchst persönlich den fertiggestellten Kriegsplan bei Katthike vorlegte. Er war in Zusammenarbeit mit dem königlichen Schatzamt, dreien der vier Untergeneräle, den Waffenmeistern, dem Heeresmarschall, den Rüst- und Zeugwarten, dem obersten Steinbruchaufseher und den erfahrensten Steinbrechern entstanden. Unendlich viele, nicht enden wollende Listen hatten sie studiert, immer wieder neu verfasst und bis spät in die Nächte darüber diskutiert. Und Kanaima hatte unzählige eingehende Gespräche mit Lata geführt. In seinen Nachforschungen über die Hy war er sehr gründlich vorgegangen und hatte sogar einige von den Hy-Sklaven verhören lassen, die noch von der Beute des Großen Krieges übrig waren, also ursprünglich aus Hy kamen und keine Fremdzüchtungen waren. Das hatte sich allerdings als Sackgasse erwiesen. Kein einziger von ihnen hatte geredet, obwohl er ihnen als Belohnung die Freiheit versprochen hatte. Leider hatte er auch von einer Folter absehen müssen, denn er hatte sich dazu verpflichtet, die wertvollen Stücke unversehrt an ihre Besitzer zurückzugeben. Erst später war ihm in den Sinn gekommen, dass die Freiheit für diese tumben, seelenlosen Wesen keinerlei Wert mehr haben konnte, denn sie hätten ja, so entwurzelt wie sie waren, mit ihr ohnehin nichts mehr anfangen können. Die Freiheit hatte für sie keinen Reiz gehabt - wie überhaupt alles nicht die geringste Reaktion bei diesen schon seit langem geistig verwesten Kreaturen ausgelöst hatte. Und zum ersten Mal in seinem Leben war Kanaima die Absurdität klar geworden, die diese Hy-Sklaven darstellten.
Warum verschwendeten die Leute eine Menge Geld darauf, sich diese lebendigen Toten in ihre Häuser zu holen, sie bei ihren Familien wohnen zu lassen und sie ein Leben lang durchzufüttern? Sie waren nichts weiter, als stumme, verkrüppelte Haustiere; der fahle, fast durchsichtige Schatten einer menschlichen Existenz. Die meisten von ihnen waren nicht einmal fähig, irgendeine Art von sinnvoller Arbeit zu verrichten. Da war selbst jeder dahergelaufene Straßenköter zu mehr zu gebrauchen. Wie war es nur möglich, dass so etwas Nutzloses in Askhar zu den wertvollsten Gütern zählte, mit denen jeder Mann von Stand sich zu schmücken begehrte?
Kanaima begann ernsthaft in Erwägung zu ziehen, in einer Zukunft, in der er bestimmen würde, als erstes solch überkommene Traditionen in die Vergangenheit zu verbannen und sie abzuschaffen, um an ihre Stelle eine von Grund auf erneuerte Moralvorstellung zu pflanzen. Vielleicht würden damit dann auch endlich seine Erinnerung an das kümmerliche Dasein seiner Mutter ausgelöscht.
‚Doch alles zu seiner Zeit’, wie seine Tante immer zu sagen pflegte. Zunächst musste er sich auf die Präsentation seines Planes konzentrieren.
Mit besonders großen Schwierigkeiten hatte er dabei zwar nicht gerechnet, dennoch war Kanaima hinterher sehr erstaunt über die Reaktion des Königs, als dieser ihn regelrecht begeistert von der Ausführlichkeit des Entwurfs für seine gute Arbeit lobte.
Drei Tage hatte es in Anspruch genommen, den Plan mit ihm bis zur letzten Seite durchzuarbeiten. Drei Tage in der unmittelbaren Nähe Katthikes!
Das war ein zermürbender Kraftakt für Kanaima gewesen, der die Gegenwart seines Vaters schon keine zwei Herzschläge lang ertrug. Aber er hatte es vollbracht!
Jetzt würde der Plan, der bisher nur reine Theorie war, noch dem Obersten General zur Prüfung der Durchführbarkeit vorgelegt und anschließend dann in die Tat umgesetzt werden. Doch bis Bhuras wieder in Askhari-Kaise aufkreuzte, würden wohl noch einige Wochen ins Land ziehen. Spätestens aber bis zur Hochzeit Setnas würde er wieder hier sein, so war es vorgesehen. Die endgültige Zustimmung stand also noch aus. Bis dahin bedeutete das für Kanaima endlich wieder genügend Freiraum für seine eigenen Angelegenheiten.
Der Wagen mit Setnas Braut traf am Abend eines regnerischen Tages im Palast ein. Askhari-Kaise hatte es also vorgezogen, sich nicht gleich von seiner besten Seite zu zeigen. Wahre Juwelen bekamen ihren Glanz ja auch erst, wenn man sie mühevoll zurecht schliff. Und Askhari-Kaise war solch ein Juwel. Das würde auch die Prinzessin von Adjan noch herausfinden, vorausgesetzt Setna tat mit ihr nicht das, was der König mit seiner Angetrauten getan hatte, und sperrte sie ein. Für die unglückselige Braut konnte Kanaima nur hoffen, dass ihr Vater einen genügend großen Einfluss auf Katthike innehatte, damit ihr ein solches Los erspart bliebe ... oder dass sie hübsch genug war, um Setna zu beeindrucken, falls das bei diesem gefühllosen Lurch überhaupt möglich war.
Der Wagen mit vier schwarzen Pferden rumpelte über das nasse Pflaster des Innenhofes und hielt vor der großen Treppe. Kanaima äugte neugierig aus dem Fenster seiner Kammer, um die Prinzessin begutachten zu können. Das Licht war trübe, und das Grau des Tages verwischte jegliche Konturen, doch was da wenige Augenblicke später aus dem Wagen stieg, schien plötzlich den gesamten, verschmutzten Hof zu erleuchten. Wie verzaubert starrte Kanaima auf das zinnoberrote Haar, das in prachtvollen, üppigen Strähnen bis über die Hüften des aus dieser Entfernung sehr zierlich wirkenden Mädchens fiel.
Er sah, wie der Hofmarschall herbeigeeilt kam und die Braut in Empfang nahm, und er meinte, selbst von hier oben aus dessen gleichfalls erstaunten Gesichtsausdruck wahrnehmen zu können. Die Prinzessin von Adjan nahm anmutig die dargebotene Hand und ließ sich die Stufen zum Palasteingang emporführen, hintendrein eine kleine, stummverängstigte Schar von bunt gekleideten Dienerinnen, die allesamt aussahen, als treibe man einen Schwarm Paradiesvögel zum Schlachthaus. Die Prinzessin aber schritt aufrecht und furchtlos dem Tor entgegen, wo sie vermutlich schon von Setna und Katthike erwartet wurde, die Kanaima von seinem Blickwinkel aus allerdings nicht mehr sehen konnte, obwohl er sich schon weit aus dem Fenster heraus gelehnt hatte.
Als sich die Prinzessin nun gleichfalls seiner Sicht entzog, stieß er sich schwungvoll vom Fensterbrett ab und eilte geschwind hinunter. Ihre Begrüßung wollte er auf keinen Fall verpassen! Und es war ihm auch herzlich egal, dass er gar nicht offiziell dazu geladen worden war. Den Unmut, den er damit heraufbeschwor, würde er verkraften.
Unten im Eingangssaal musste sich Kanaima durch eine Traube von neugierig versammelten Höflingen und Dienern kämpfen, um schließlich hinter Lata Position zu beziehen, der wiederum gleich links hinter dem König stand. Unauffällig versuchte er, einen Blick auf das Gesicht der Braut zu erhaschen, doch alles, was er sah, waren rote Locken.
Lata bemerkte ihn als erster und drehte seinen Kopf.
„Ah, Ihr seid auch hier, Maestro. Die Braut des Prinzen ist soeben eingetroffen. Scheint recht hübsch zu sein“, flüsterte er und verzog seine Lippen zu einem vielsagenden Lächeln. „Eine wahre Vergeudung, wenn Ihr mich fragt.“ Der Konsultas wandte sich wieder dem Geschehen zu.
Indes schwammen die roten Locken zwischen all den Köpfen auf König Katthike zu. Kanaima wagte es nicht, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, denn das hätte nur Aufsehen erregt. Er musste sich also in Geduld üben. Kurz überdachte er sein eigenes Erscheinungsbild. Er trug ein schlichtes, dunkles, graçenisches Wams mit langen Ärmeln und Schößen, um die Hüfte mit einer schwarzen Schärpe gegürtet, dazu dunkle Beinlinge und bürgerliches Schuhwerk. Sein Bart war frisch gestutzt und im Gegensatz zu Setna hatte er die langen Haare zu einem ordentlichen Zopf zurückgebunden. An seiner linken Hand trug er einen silbernen Ring mit einem Karneol, sonst nichts. Also von Kopf bis Fuß ein recht manierlicher, aber auch durchaus vorzeigbarer Gelehrter.
Die Prinzessin wurde dem König vorgestellt. Kanaima sah den roten Schopf kurz ab- und wieder auftauchen, als sie einen tiefen Knicks vor ihrem zukünftigen Schwiegervater machte, und er fragte sich, ob sie überhaupt Askhari verstand. Schräg von der Seite sah er Katthike lächeln. Welche Färbung dieses Lächeln allerdings hatte, konnte er nicht erkennen. Wahrscheinlich von oben herab und die Ware begutachtend wie auf einem Pferde- oder noch besser Sklavenmarkt, schätze er.
Der rote Schopf bewegte sich nach rechts, von ihm weg. Er hielt vor Setna und verschwand erneut. Kanaima sah, dass Setna nicht lächelte. Sein Gesicht war aus Hartholz, wie immer, wenn er etwas Ungewissem, schwer Einschätzbarem gegenüberstand. Wahrscheinlich fürchtete er, auch nur den leisesten Hauch eines Gefühls vor diesem Mädchen preiszugeben. Stocksteif stand er da, der unerfahrene Welpe, und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.
‚Keine Reaktion ist auch eine’, dachte Kanaima und verbiss sich dabei ein gehässiges Grinsen. ‚So gibst du wenigstens nicht gleich deinen verdorbenen Charakter preis, Setna.’ Und schließlich konnte nicht jeder auf eine Weltgewandtheit zurückgreifen, wie er als Maestro aus Borgossa.
Die Reihe war nun an Lata, und endlich bekam der Schopf ein Gesicht. Ein Antlitz, das so schön war, wie es die Haarpracht zuvor hatte verheißen lassen: Haselnussbraune Augen, überspannt von zwei fein geschwungenen, roten Brauen, blickten klar und selbstbewusst in die Welt. Eine lange, schmale Nase führte wie ein Ausrufungszeichen zu einem kleinen, rotgemalten Mund. Doch was den Anblick erst perfekt machte, waren die Sommersprossen. Überall Sommersprossen! Wie bei Janita, dachte Kanaima und war hingerissen.
Derweil wurde die Prinzessin dem obersten Konsultas vorgestellt. Hündisch verneigte sich Lata vor ihr und wedelte dabei geckenhaft mit der rechten Hand in der Luft, dass die Preziosen daran aufdringlich im Licht der Fackeln glitzerten, die überall aufgehängt worden waren, um dem Palastinneren einen etwas freundlicheren Anschein zu geben.
Dann endlich stand sie vor ihm, und Kanaima konnte aus den Augenwinkeln deutlich das zuvor erwartete Missfallen in den Gesichtern der beiden Königlichen Hoheiten erkennen, weil er sich so schamlos dazwischen gemogelt hatte.
„Und dies ist“, sagte der Hofmarschall näselnd, „der ehrenwerte Akademicus der palasteigenen Waffenakademie, Maestro Militaris Kanaima“, er wandte sich an Kanaima. „Maestro, die Prinzessin Natalia Isabylla von Adjan.“
„Zu Euren Diensten“, sagte Kanaima auf Graçenisch und verneigte sich galant mit auf die Brust gelegter Hand. Als er sich wieder aufrichtete und in die braunen Augen des Mädchens blickte, erschien ein erstes Lächeln auf ihrem Gesicht, und es verlieh ihr einen noch schöneren Glanz. Charmant lächelte er zurück. Er hatte richtig gelegen. Sie sprach kein einziges Wort Askhari, dafür aber Graçenisch. Nebenbei dankte er im Stillen der dümmlichen Borniertheit des Hofmarschalls, seine weiteren Titel so geflissentlich unterschlagen zu haben. So brachte die Prinzessin ihn wenigstens nicht gleich sofort mit dem König in Verbindung, den sie mit Sicherheit schon jetzt nicht leiden konnte. Bestimmt verfluchte sie jenen Tag, an dem Katthike und ihr Vater diesen unseligen Pakt mit ihr als Pfand besiegelt hatten. Die Adjani waren nicht eben dafür bekannt, die Askharer als ihre neuen Nachbarn zu schätzen.
‚Nun, was nicht ist, kann ja noch werden’, dachte Kanaima, vermutete aber auch, dass eher das Gegenteil daraus erwachsen würde, wenn Setna die Prinzessin erst einmal in seine Finger bekam. Eigentümlich überrascht stellte Kanaima fest, wie dieser Gedanke ihm ganz und gar nicht gefiel. Schon vom ersten Augenblick an fühlte er sich zu dem unbekannten Mädchen hingezogen. Er schob es zunächst auf die gewisse Ähnlichkeit mit Janita und seine allzu sentimentalen Gefühle, die ihn seine Geliebte aus Borgossa nicht vergessen ließ. Doch er spürte, dass da noch etwas Anders war, das sich seinen Weg in sein Bewusstsein erst noch bahnen musste.
Die Prinzessin nickte ihm wortlos zu und wurde alsdann zum nächsten Würdenträger in der langen Reihe des Willkommensaufgebotes geführt. Kanaima warf ihr einen gedankenvollen Blick hinterher.
Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter, doch er brauchte nicht zu raten, um wessen Hand es sich dabei handelte. Angewidert erstarrte er, seinen Kopf in eine weit demütigere Haltung gebeugt als zuvor.
„Ein hübsches Täubchen ist da in unser Haus geflattert, nicht wahr?“, hauchte ihm Setna ins Ohr, und etwas Dunkles und Bedrohliches klang in seiner immer noch jungenhaften Stimme mit.
Kanaima bemühte sich, keine Miene zu verziehen.
„Und ich freue mich schon darauf, das Täubchen zu rupfen und in meinem Bett zu entsiegeln. Ein gar köstliches Vergnügen wird es für mich sein, diese königliche Pflicht zu erfüllen, auf die Ihr so großzügig verzichtet habt. Mein Dank ist Euch gewiss.“ Mit einem ekelhaften Augenzwinkern entfernte Setna seine blasse, spinnenartige Hand von Kanaimas Schulter und schwänzelte dem König hinterher.
Der Tross arbeitete sich langsam weiter an dem Spalier der Höflinge entlang. Später würden sie in der großen Halle speisen. Ohne ihn. Kanaima machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Eingangshalle. Eilig lief er durch den Regen hinunter zum Akademiegebäude, und es war, als flüchte er nicht nur vor den kalten Tropfen, die unablässig von oben auf ihn herab platzten, sondern auch vor der seltsamen Stimmung, die ihn erfasst hatte.
In den Räumlichkeiten der Akademie angelangt, schüttelte er die Nässe von sich ab wie ein Hund, stieg die Treppe hinauf und trat in sein Arbeitszimmer. Dort entzündete er den Kamin und ließ sich dann auf einem Stuhl in Reichweite der Wärme nieder.
Er musste nachdenken, die Dinge hatten sich auf unvorhersehbare Weise geändert.
Nur wenige Tage später begegnete Kanaima der Prinzessin erneut. Zufällig. Er stand in den Stallungen und wartete darauf, dass sein Rotfuchs gesattelt wurde, als sie in Begleitung zweier ihrer Dienerinnen zum Tor hereingeweht kam. Das Rot ihrer Locken loderte im Dämmerlicht des Stalls, und fast hätte man fürchten können, sie würde damit das Stroh zu ihren Füßen entzünden.
Die Prinzessin genierte sich nicht im Geringsten, die verführerische Pracht ihre Haare zur Schau zu stellen, welche die Natur ihr geschenkt hatte. Mit einer anmutig und zugleich kecken Kopfbewegung warf sie das wallende Rot zurück; züngelnde Flammen, die nach allen Seiten ausgriffen. Sie war eine Flammenbändigerin! Und sie schien genau zu wissen, welche Wirkung ihr Haar auf die Männerwelt hatte, denn sie fügte ein spitzbübisches Lächeln hintenan.
Noch war sie nicht verheiratet und durfte beides offen zeigen, das Lächeln und ihr Haar.
Kanaima dachte, dass es an ein Verbrechen grenzte, wenn beides nach der Hochzeit verschwinden würde. Das Haar unter einer Haube und das Lächeln spätestens, wenn Setna sein Recht geltend machte und sein wahres Wesen offenbarte.
Untypisch für askharische Gewohnheiten, ergriff die Prinzessin die Initiative und öffnete ihren Mund, um das erste Mal etwas zu sagen. Dabei sah sie ihm direkt in die Augen.
„Maestro Kanaima.“
Sie erinnerte sich an seinen Namen. Kanaimas Herz machte einen ungewollten Satz, und sogleich tadelte er sich für diese närrischen Gefühle.
„Prinzessin Natalia Isabylla.“ Er verneigte sich, wie er es bei ihrem ersten Treffen getan hatte.
„Ihr sprecht Graçenisch“, stellte sie fest.
„Ja, ich war viele Jahre in Borgossa an der Universität“, gab er bereitwillig an. „Und Ihr? Ihr sprecht gleichfalls die Sprache der Gelehrten, wie ich sehe.“
„Mein Vater wollte, dass ich sie lerne. Ich habe es gehasst. Aber jetzt hat sie ja doch noch ihren Nutzen. Eure Sprache hingegen ist der wahre Schrecken, jedes Wort ein Massaker an meiner Zunge. Ich glaube, ich werde Jahre brauchen, um sie zu lernen.“
Kanaima war überrascht von ihrer Offenheit und er mochte sie gleich noch mehr. Er lächelte.
Auch Natalia Isabylla gefiel der unerwartet attraktive Maestro, der ihr da gegenüberstand und so gar nicht in das Bild passte, welches sie von den verhassten Askharern hatte. Er war kein ungehobelter Widerling wie der König und der Prinz, und er hatte als Einziger die Höflichkeit besessen, sie bei ihrer Begrüßung mit einer Sprache anzureden, die sie auch verstand. Er hatte so etwas wie Rücksicht gezeigt und sie nicht wie alle anderen als ein Stück Vieh in diesem Kuhhandel angesehen, der beiden Königreichen ein vielversprechendes Bündnis einbringen sollte.
Natalia war skeptisch. Es stand für sie doch auf recht wackeligen Beinen, ob diese Verbindung dauerhaft von Bestand sein würde und ob ihr Opfer, sich mit diesem kläglichen Wurm von einem Prinzen zu vermählen, es wert war. Zu sehr unterschieden sich ihre Völker. Aber sie war ihrem Vater nun einmal ihren Gehorsam schuldig und würde tun, was er von ihr verlangte. Auch wenn das hieß, beim Feind im Exil zu leben. Als höchste Tochter des Reiches würde sie dieses Los erhobenen Hauptes ertragen, denn wenigstens ihre stolze, adjanische Würde war etwas, das ihr diese unkultivierten Halbwilden nicht nehmen konnten.
Sie sah den Maestro noch immer abschätzend an.
„Nun, ich denke, es wird eine Leichtigkeit für Euch sein“, sagte dieser, „Askhari zu lernen. Es ist längst nicht so anspruchsvoll wie das Graçenische, dessen Ihr so vortrefflich mächtig seid. Aber als zukünftige Königin solltet Ihr die Sprache Eurer Untertanen beherrschen. Denn auch ich bin ein solcher Untertan, und es wäre eine große Ehre für mich, meine Sprache aus Eurem entzückenden Munde zu hören, Prinzessin.“
Natalia Isabylla lächelte über dieses Kompliment. Doch sie war es gewohnt, solche Dinge von Männern zu hören, und deshalb brauchte es auch etwas mehr, um sie wirklich zu beeindrucken.
„Ihr sprecht zu mir, als wäre ich bereits die Königin, Maestro. Noch bin ich aber nicht einmal mit dem Kronprinzen verheiratet. Folglich entspricht mein Status vorläufig wohl nur dem eines geduldeten Gastes.“
Obwohl sie damit Recht hatte, war sie in Kanaimas Herzen bereits längst zu seiner Königin aufgestiegen, doch das sagte er ihr natürlich nicht. Vornehme Zurückhaltung war der bessere Weg, sie für sich zu gewinnen, denn sie schien alles andere, als einfältig zu sein. Er löste seinen Blick von ihr und betrachtete kurz ihre zwei Begleiterinnen, die regungslos dem Gespräch lauschten, von dem sie womöglich nichts verstanden.
„Wo ist im Übrigen die derzeitige Königin? Ich habe sie gar nicht zu Gesicht bekommen. Ist ihr nicht wohl?“, fragte die Prinzessin. Sie konnte ja nicht ahnen, dass es sich dabei nicht etwa um die Mutter des Kronprinzen handelte, sondern um die des Maestros.
Kanaimas Blick schwenkte wieder auf die Sommersprossen auf ihren Wangen. Eine pikante Frage, und er musste vorsichtig sein, sie so zu beantworten, dass er dabei nicht zu viel über sich selbst verriet und sie womöglich verschreckte. Sie würde noch früh genug über die verkommenen Verhältnisse in der königlichen Familie aufgeklärt werden, wenn sie es ohnehin nicht schon längst sah! Kanaimas Gesicht, das jedermann so offenkundig erzählte, von wem er abstammte!
„Königin Larjha ist vergangenes Jahr gestorben. Sie war lange Zeit schwer krank gewesen.“
„Oh, das tut mir leid. Woran hat sie denn gelitten?“
Kanaima überlegte. ‚An gebrochener Seele‘, wäre die richtige Antwort gewesen, aber er antwortete: „An schwachem Herzen.“
„Und es gibt noch keine neue Königin?“
„Nein.“
„Findet Ihr das nicht sehr leichtsinnig? Der König hat doch nur einen Sohn. Was ist ... ich meine, was ist, wenn dem Kronprinzen etwas zustößt, bevor dieser Nachwuchs gezeugt hat?“ Sie hatte dies so neutral gesagt, als verbanne sie selbst die Tatsache aus ihrem Bewusstsein, dass sie diejenige sein würde, die Askhar den königlichen Erben gebären sollte. „Was ist, wenn er im Krieg fällt, oder ebenfalls krank wird?“, fügte sie vorsichtig hintenan.
‚Dann besteige ich den Thron, mein Herz, und nehme dich als meine Königin’, dachte Kanaima. Und plötzlich machte er eine schreckliche Feststellung. Es lag an etwas, das ihm eben erst durch den Kopf gegangen war.
‚Bei den Göttern, wie konnte ich das nur übersehen!’ Wenn die Prinzessin Setna einen Erben schenkte, dann würde Setna nur eine der minderen Gefahren sein, welche der Prinzessin hier im Palast drohten.
Natalia Isabylla runzelte die Stirn. Sie hatte offenbar bemerkt, dass in Kanaima etwas vorging.
„Nun, ich gehöre nicht zu dem Kreis von Auserwählten, die berechtigt sind, das zu diskutieren, Prinzessin“, beantwortete er schnell ihre Frage, um sie abzulenken. „Solche Dinge werden gemeinhin nicht mit mir erläutert. Ich bin lediglich der Akademicus und zuständig für militärische Strategien und die Ausbildung der Offiziere. Meine Leidenschaft sind die Lehre und meine Studenten, nicht Staatsränke und Politik!“
Die Prinzessin nickte. Doch bevor sie noch etwas darauf erwidern konnte, kam der Stallbursche mit Kanaimas Fuchs am Zügel herbei.
„Maestro, Euer Pferd“, sagte er mit einer kleinen Verbeugung und übergab die Zügel.
„Ihr verreist?“, fragte die Prinzessin mit Blick auf das größere Gepäck am Sattel.
„Ja, der König hat mir erlaubt, meine Schwester zu besuchen.“
„Ihr habt eine Schwester?“
Kanaima nickte. „Sie lebt in Ebida, das ist in Neu-Askhar.“
„In Neu-Askhar“, wiederholte sie nachdenklich. „Und wie werdet Ihr die Baschai nennen, jetzt da Ihr sie erobert gehabt?“
„Darüber wurde noch nicht entschieden. Baschaischan vielleicht.“
„Klingt beinahe wie der alte Name, Baschai-Adjan.“ Sie senkte kurz den Blick und sah ihm dann aber wieder in die Augen. „Dann bleibt mir wohl nichts anderes mehr, als Euch eine gute Reise zu wünschen, Maestro.“
„Ich danke Euch. Gehabt Euch wohl, Prinzessin.“
Sie neigte ihr Haupt, raffte anschließend ihre Röcke zusammen und schritt würdevoll an ihm vorbei, die zwei Dienerinnen trippelten hinter ihr her.
Kanaima führte sein Pferd hinaus und stieg auf. Seine Gedanken kreisten unentwegt um die Erkenntnis, die ihn soeben aus beinahe heiterem Himmel getroffen hatte - er selbst hatte in dieser Angelegenheit erst vor einiger Zeit seine Zustimmung gegeben. Natürlich versuchte die Königsblutliga auf geheimem Wege auch, zu verhindern, dass die Prinzessin und Setna einen Erben zeugten, denn ein königliches Kind würde ihren Absichten selbstverständlich nur zusätzlich im Wege stehen. Es durfte nur einen Nachfolger in der direkten Linie des königlichen Blutes geben, und das war er, Prinz Kanaima! Alles andere würde nur unnötige Probleme bereiten.
Kanaima galoppierte an und lenkte den Fuchs durch den Zwinger zum Äußeren Tor hinaus. Er musste dringend Kontakt zu Karlis aufnehmen! Königsblut durfte der Prinzessin nichts tun. Er wollte sie für sich haben. Sie sollte die Mutter seiner Kinder werden! Es musste einen anderen Weg geben, sie und Setna zur Kinderlosigkeit zu verdammen, bis es soweit war, und Kanaima hatte da auch schon so eine Idee. Doch zuerst musste er sich mit seinem Onkel besprechen!
Als er das Äußere Palasttor passiert hatte, stahl sich ihm schließlich doch ein Lächeln auf seine Lippen. Und als er den Palastberg endlich hinter sich wusste, entstieg ein tiefer Seufzer der Erleichterung seiner Brust. Für drei Wochen würde er nun in Besitz der süßen, herrlichen Freiheit sein, und er wollte sie gut nutzen!
Geradezu gierig sog ihn Askhari-Kaise, die Königliche, in ihre Straßen auf, und bald war er nur noch eine Ameise unter vielen, die sich durch dieses riesenhaft labyrinthische Wesen aus Stein, Holz und Ziegeln drängelten.
Sie suchten im tiefen Gras der abfallenden Böschung nach den Pfeilen, die nicht auf der Zielscheibe gelandet waren. Glücklicherweise war im Graben hinter der Schießbahn kein Wasser, denn es hatte lange nicht geregnet.
Keï stocherte mit einem Fuß systematisch im Gras, doch fand sie keine Spur von ihren buntbefiederten Geschossen. Das Gras war einfach zu hoch. Wahrscheinlich würden die Pfeile erst im Winter wieder auftauchen, wenn das Gestrüpp verdorrt war. Sie sah auf.
Raen stapfte mit gesenktem Kopf ihn ihre Richtung, ebenfalls bis jetzt erfolglos. Unerwartet packte sie eine verrückte Idee. Einen Moment überlegte sie, dann steuerte sie leicht geduckt geradewegs auf ihn zu. Von der Schießlinie aus, wo die Leibwächter warteten, war bestimmt nichts von ihnen zu sehen.
Raen hob erst den Kopf, als sie direkt vor ihm stand, und so geschah es, dass sie sich für einen kurzen Moment tief in die Augen sahen. Keï fühlte, wie sie sank, immer tiefer in das unvergleichliche Grün seines Blickes, das sie an Gerstenfelder im Mai erinnerte, und als sie darin plötzlich die Antwort auf ihre ungestellte Frage las, galoppierte ihr Herz im wilden Sturm einfach davon, losgerissen von sämtlichen Stricken. Wie ganz von alleine legte sich ihre Hand auf Raens Wange, und ihr Gesicht näherte sich dem seinen. Im letzten Moment, als die Furcht ihren Hinterkopf erfüllte, er könnte sich doch noch zurückziehen, trafen sich ihre Lippen, und es war, als schließe sich ganz selbstverständlich die zuvor noch so unüberwindlich erschienene Kluft zwischen ihren zwei Welten. Mutig schlugen ihre Herzen eine Brücke über den reißenden Fluss, der ihre Leben voneinander trennte, und sie verschmolzen miteinander, schwebend über dem gewaltigen Strom.
Als ihre Lippen schließlich voneinander abließen, verharrten sie Wange an Wange, überrascht, atemlos.
‚Oh, wie grausam und unbarmherzig du sein kannst, Ashalla!’, dachte Keï überwältigt von ihren Gefühlen. ‚Führst mir die unerreichbare Liebe so nah vor Augen und ließest sie mich schmecken.’
Raen hielt sie noch ein paar Atemzüge lang in seinem Arm, und sie konnte sein Herz klopfen spüren, heftig und ungezügelt wie das ihre; die Sprache des unerfüllten Sehnens. Dann ließ er sie los, ... und die Vernunft kehrte in ihr Denken zurück.
Nur widerwillig ließ sie es geschehen. Langsam klärte sich ihr Blick, und sie senkte schuldbewusst den Kopf. Was hatte sie da nur getan? Warum betrog sie ihre Familie, ihren Vater, riskierte ihre Ehre, ihre Zukunft für dieses kurze, zweifelhafte Vergnügen? Ein Kloß wuchs in ihrem Hals. Außerdem hatte sie, nur weil ihr der Sinn danach stand, kein Recht dazu, Raen, der seiner Verlobten zu Hause sein Versprechen gegeben hatte, den Kopf zu verdrehen und ihn damit womöglich ins Unglück zu stürzen. Ihre Lippen begannen zu beben.
Aber sie hatte es doch deutlich in seinen Augen gesehen! Was war so falsch daran?
Raen hob sanft ihr Kinn an, als die ersten Tränen sich aus ihren Augenwinkeln stahlen.
„Entschuldigt“, flüsterte sie und wich seinem Blick aus.
„Es gibt nichts, wofür Ihr Euch entschuldigen müsstet.“ Er strich ihr mit dem Daumen die Tränen fort und sah dabei ebenfalls sehr traurig aus.
„Es ist meine Schuld, denn ich wollte es auch“, sagte er so sanft, das es sie beinahe um den Verstand brachte.
Sie nickte und nahm eine seiner Hände in die ihren.
„Raen ...“
„Sagt nichts mehr. Wir wissen es beide.“
Sie nickte wieder. Dann straffte sie ihren Nacken und sagte: „Ihr bleibt hier unten und wartet einen Moment, damit ich an einer anderen Stelle aus dem Graben kommen kann. Die warten bestimmt schon ungeduldig.“
Sie strich sich die Wangen glatt, schlich ein paar Schritte geduckt fort, erhob sich dann schwungvoll und rief: „Ich habe ihn gefunden!“ Dabei wedelte sie mit einem Pfeil in der Luft, den sie zuvor aus dem Köcher an Raens Hüfte stibitzt hatte.
Dr Hy-Krieger stieg gleichfalls die Böschung hinauf, sichtlich darum bemüht, sich ebenfalls nichts anmerken zu lassen.
Getrennt von einander gingen sie an die Schießlinie zurück, und über ihren Köpfen drohten dunkle, tief dahinziehende Wolken mit Regen.
„Also, dann wollen wir mal sehen, ob ich das vermaledeite Ding nicht doch noch treffe, was sagt Ihr?“, verkündete die Prinzessin und ergriff voller Tatendrang ihren Bogen.
„Nur zu“, ermunterte Raen sie bewusst neutral. Er hatte das Gefühl, sein Gesicht würde brennen, und er hoffte, niemand würde es bemerken. Zu sehr hatte ihn Keïs Kuss in seinem geheimsten Sehnen getroffen.
Die Zielscheibe stand über achtzig Schritt von ihnen entfernt, und es erforderte schon einiges an Übung, sie zu treffen.
Das erinnerte Raen erneut ungewollt an seinen Meisterschuss, mit dem er damals von der Felsnase aus den askharischen General erledigt hatte. Ein äußerst glücklicher Schuss, wahrlich, aber seitdem war es vorbei mit seiner unvergleichlichen Treffsicherheit. Die Pfeile schienen nicht mehr eins zu mit seinem Willen sein, wie es früher einmal der Fall gewesen war. Er hatte sein Können eingebüßt, eingetauscht gegen ein ewiges schlechtes Gewissen.
‚Egal’, dachte er und legte einen Pfeil auf. Er schoss immer noch recht passabel.
Neben ihm fluchte die Prinzessin unflätig, weil sie die Scheibe zum wiederholten Male verfehlt hatte. Wieder ein Pfeil im tiefen Gras.
Raen schmunzelte und hob den Bogen. Er zog die Sehne aus, bis seine Hand an seiner Wange lag, fühlte mit Auge und Herz das Ziel und löste ruhig die Sehne. Der Flug des Pfeils war mehr zu hören, als zu sehen, aber am Ende hörten sie ihn mit einem trockenen Klopfen in der Scheibe einschlagen.
„Er ist drauf!“, sagte die Prinzessin begeistert. „Ihr seid wirklich ein hervorragender Schütze!“
‚Hm, ja. Er ist drauf, aber früher hätte ich mit Leichtigkeit die schwarze Mitte getroffen’, dachte Raen missmutig und legte einen neuen Pfeil auf.
„Verglichen mit Euch bin ich absolut untauglich“, plauderte die Prinzessin indes freimütig weiter. Raen beobachtete sie von der Seite. Keï wirkte unnatürlich heiter, versuchte wohl das, was soeben im Graben geschehen war, hinter ihrer aufgesetzten Fröhlichkeit zu verbergen.
„Das wirft nicht gerade ein gutes Licht auf die ohaoudischen Bogenschützen, nicht wahr?“, fuhr sie fort, scheinbar ohne Raens Blick zu bemerken. „Aber Ihr könnt mir glauben, sie sind berühmt für ihre Kunst. Sie können sogar vom Pferderücken aus im vollen Galopp eine an einen Pflock genagelte Kupfermünze treffen.“
Raen hob beeindruckt die Brauen.
„Aber darin brauche ich mich gar nicht erst zu versuchen, das würde nur ein Unglück geben. Wahrscheinlich würde ich mir dabei selbst ins Bein schießen“, lachte Keï, legte einen neuen Pfeil auf, zielte und schoss. Wieder daneben.
„Das war knapp“, sagte Raen und verkniff sich dabei einen spöttischen Unterton.
„Was? Das war meilenweit vorbei. Was redet Ihr?“ Erst jetzt sah sie ihn an, lenkte ihren Blick aber schnell wieder fort.
„Nun gut, ich gebe zu, mit dem Schwert seid Ihr eindeutig erprobter, Sal al In’Sahdi“, sagte er, um die Situation unverfänglich zu halten, „aber Ihr habt durchaus das Talent zu einem Bogenschützen. Ihr braucht nur etwas länger, es zu entdecken.“
„Oh, Ihr heuchlerischer Schuft, welch ungemein geneigtes Kompliment! Aber Ihr habt Recht. Lassen wir es für heute genug sein. Ich habe mich wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert.“ Sie drückte einem der beiden Leibwächter ihren geschwungenen Bogen in die Hand. „Außerdem ziehen dort einige sehr schwarze Wolken heran, und ich möchte nicht auch noch nasswerden, wenn schon nicht Glanz und Glorie ob meiner Schießkünste auf mich herabregnen.“ Sie bedeutete ihren Leibwächtern, für sie die Pfeile zu holen, und wandte sich wieder an Raen. „Gehen wir nach drinnen in die warme Stube?“
Raen nickte, sammelte seine Sachen ein, und führte die Prinzessin in Richtung Hof. Die ersten Tropfen trafen bereits auf seinen Helm.
„In der Küche können wir warten, bis es wieder aufhört und derweil etwas Heißes trinken“, schlug er vor.
„Oh, ja“, flüsterte die Prinzessin erwartungsvoll und hauchte in ihre Finger.
Es war kühl geworden. Ungewohnt abrupt hatte der goldene September abgedankt und dafür den mies gelaunten Oktober auf die Bühne gelassen.
Sie erreichten den Durchgang; ein finsteres Loch in der Hauswand, dahinter im trüben Licht der grob gepflasterte Innenhof. Raen warf einen Blick über die Schulter. Nichts zu sehen von den Leibwächtern, die wahrscheinlich gerade verzweifelt das Gras nach ihren Pfeilen durchkämmten.
Sie tauchten in den Schatten des Torbogens ein. Auch im Innenhof war niemand zu sehen.
„Raen?“
„Hm?“
Noch ehe er es sich versah, spürt er erneut Keïs Körper an seiner Seite und ihre Hand in seinem Nacken. War es ein Traum, oder war es Wirklichkeit? Er drehte den Kopf und empfing ihre weichen Lippen.
Es musste ein Traum sein!
Er hob die Arme und legte sie um die Frau, die dabei war, ihm die Sinne zu rauben. Warum den Traum nicht auskosten?
Lange hielten sie sich umschlugen und ließen erst voneinander ab, um kurz Luft zu schnappen. Ein jeder gefangen im magischen Bann des anderen.
Erst ein scharrendes Geräusch ließ sie aus ihrer Umarmung schrecken und einen gehetzten Blick um sich werfen. Doch da war nichts. Nicht einmal die Leibwächter waren zu sehen.
Auf einen Schlag setzte der Regen ein, und dicke Tropfen prasselten zu beiden Seiten des Durchganges auf die Steine.
„Jetzt werden sie gleich kommen. Sie sind zwar Hohlköpfe, aber nassregnen lassen auch sie sich nicht“, flüsterte Keï.
Raen war immer noch ganz ergriffen von dem, was ihm soeben passiert war, und murmelte etwas Unverständliches.
„Kommt.“ Keï zog ihn am Ärmel. Er kam zu sich und setzte sich in Bewegung.
Um sich vor dem Regen zu schützen, liefen sie mit raschen Schritten unter der Galerie entlang zur Küchentür. Raen stieß sie auf, ließ Keï den Vortritt und trat schnell hinter ihr ein.
Sie waren nicht allein. Uke und Taghat waren gerade dabei, das Nachtmahl vorzubereiten.
„Nun, dann kann ich Euch wohl mit gutem Gewissen anbieten, heute noch an unserem Essen teilzuhaben, wenn Euch danach ist. Uke ist bekannt dafür, wahre Gaumenfreuden zu zaubern“, verkündete Raen bemüht, seine Stimme humorvoll klingen zu lassen. „Jetzt aber werde ich Euch erst einmal eigenhändig einen Tee zubereiten.“
„Hört, hört!“, rief Uke vom Herd herüber. „Seid Willkommen, Hoheit!“
Keï ließ sich in der Essecke nieder, nachdem sie die beiden anderen Hy begrüßt, und diese sich artig verneigt hatten.
Raen nahm zwei Becher vom Regal und war dankbar, dass Uke und Taghat viel zu sehr mit der Zubereitung des Essens beschäftig waren, um die seltsame Stimmung zu bemerken, die zwischen ihm und der Prinzessin herrschte. So hatte er genügend Zeit, sich wieder zu fangen und ein gelassenes Gesicht aufzusetzen. Geübt hantierte er mit dem Kessel über der Feuerstelle und schöpfte schließlich mit einer Kelle das sprudelnd heiße Wasser auf die frischen Minzblätter, die er zuvor in die Becher getan hatte. Der ätherische Duft stieg ihm beruhigend in die Nase, und er schloss für einen kurzen Moment die Augen, den verflossenen Traum mit bebendem Herzen noch einmal durchlebend.
Draußen erreichten derweil die beiden Leibwächter den Schutz des Durchganges. Obwohl sie die Beine in die Hand genommen hatten und vom Graben bis hierher gelaufen waren, hatte der Regenguss sie bis auf die Haut durchtränkt. Wie riesige, nasse Bären tapsten sie durch den Torbogen in den Innenhof und bogen dahinter zur Küchentür ab.
Auch sie hatten ihn nicht bemerkt, dachte er beinahe amüsiert. Vorsichtshalber ließ er noch ein paar Atemzüge vergehen und löste sich erst dann aus der schmalen Nische, die sich in der Wand des Durchgangs befand. Der nahende Regen hatte ihn von seiner Rast vertrieben, und er war hierher geflüchtet, um sich unterzustellen. Seine schwarze Kleidung hatte ihn unsichtbar werden lassen, und so hatte Sel aus erster Hand beobachten können, was den Skandal endgültig perfekt machte: Die Prinzessin und Raen waren ein Liebespaar!
Also hatte Raen immer wieder gelogen! Wie lange hielten sie die Öffentlichkeit wohl schon zum Narren? Sel fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Lippen und dachte darüber nach, wie er die soeben gewonnene Erkenntnis gegen sie verwenden und es vor allem auch möglichst überzeugend darstellen konnte? Er hatte ja schon so einiges herumerzählt, doch würde man ihm auch dieses Mal Glauben schenken? Seine Finger wanderten hinab zu dem verstümmelten Handgelenk. Noch immer trug er einen leichten Verband, um den Schorf darunter zu schützen. Behutsam umfasste er den Stumpf. Muskeln und Sehnen unter der Haut waren nutzlos geworden. Plötzlich spürte Sel pulsierende Hitze in sich auflodern. Nicht mehr lange, und Raen würde mehr als nur seine Hand verlieren!
Schweigend tranken Raen und die Prinzessin den Tee, beflissentlich bestrebt, den Blick nicht allzu lange auf dem anderen haften zu lassen. Da traten die Leibwächter ein. Beinahe demonstrativ schüttelten sie das Nass von sich ab, und Keï zog missbilligend die Augenbrauen zusammen.
„Ihr Tölpel, dies ist eine Küche und kein Kuhstall!“, fuhr sie die beiden schwarzen Hünen böse an und stieß mit einem Finger auf die offene Feuerstelle, in der anheimelnd das Feuer prasselte. „Dort drüben könnt ihr euch mitsamt eurer Kleidung zum Trocknen aufhängen.“
Mit unbeteiligter Miene pustete Raen in den heißen Becher. Eigentlich könnte er jetzt etwas Stärkeres gebrauchenr. Sehnsuchtsvoll dachte er an die Fässer mit dem Wein in ihrer Vorratskammer, aber das würde nur einen schlechten Eindruck machen. Später vielleicht.
Die Küche füllte sich langsam mit den restlichen Bewohnern des Hytena, und ein köstlicher Duft schwebte vom Herd zu ihnen herüber. Die Ankömmlinge begrüßten den hohen Gast und begannen sich anschließend ungehemmt untereinander zu unterhalten.
Manoen erkundigte sich bei Keï höflich nach ihren Fortschritten im Bogenschießen, und schon bald herrschte eine fröhliche und gelöste Stimmung.
Fern lag der Traum im Gewölk des Gewesenen.
Das Essen wurde ausgeteilt, und alle machten sich hungrig darüber her. Selbst den Leibwächtern gestand die Prinzessin gnädig eine kleine Portion zu.
Doch lange hielt es sie nicht mehr in der warmen Küche der Hy. Schon gleich, nachdem sie den letzten Löffel gegessen hatte, bedankte sie sich und schickte sich zum Gehen an.
„Aber Ihr könnt auch bleiben, wir haben noch viele leere Zimmer hier, die Gäste für die Nacht aufnehmen können.“
Eine Verlockung.
Doch Keï schüttelte den Kopf. „Nein, das geht leider nicht, aber habt alle recht vielen Dank für Eure vorbildliche und großzügige Gastfreundlichkeit.“ Und um ihre Ablehnung nicht unhöflich erscheinen zu lassen, fügte sie später, als sie sich allein von Raen verabschiedete, noch eine Erklärung hinzu: „Wisst Ihr, ich habe meinem Vater versprochen, Bendan jeden Abend eine gute Nacht zu wünschen.“
„Welch komisches Versprechen“, sinnierte Raen.
Keï schwang sich in den Sattel.
„Aber es ist doch verbindlich, wie jedes Gelöbnis. Und auch wenn ich viele Regeln bedenkenlos breche, so sollte ich diese doch einhalten.“ Sie sah ihn vom Pferderücken aus vielsagend an.
Er wich ihrem Blick aus, und auf unerfindliche Weise schmerzte es sie. Die Sehnsucht wallte erneut heftig in ihr auf.
„Da mögt Ihr Recht haben“, meinte Raen schließlich ungewohnt zurückhaltend. „Ich wollte es Euch lediglich angeboten haben. Nun werdet Ihr doch noch nass.“ Ein zaghaftes Lächeln folgte. „Kommt gut Heim.“
Keï seufzte. „Macht Euch keine Sorgen, ich werde gerade rechtzeitig zurück sein, um meinem dickfälligen Tunichtgut von Bruder einen Gutenachtkuss zu geben.“ Sie zwinkerte Raen versteckt zu, und der verneigte sich steif.
Als sie endlich fort war, atmete er auf. Im Schutz der Galerie lehnte er sich mit dem Rücken an die kalte Wand und sah mit schlagartig betrübten Gedanken hinauf in den Regen. Es wurde dunkel. Zumindest nahmen die Wolken nach und nach einen noch finstereren Ton an.
Wenn sie geblieben wäre, hätte er nicht sagen können, was diese Nacht geschehen wäre.
‚Auf jeden Fall nichts, was ihr Vater gebilligt hätte’, dachte er erfüllt von bitterem Sarkasmus und stieß sich von der Wand ab. Er brauchte Wein! Und er musste allein sein! Er fühlte sich noch immer, als hätte man ihm mit einer langen Latte vor den Kopf geschlagen.
Als der letzte der Bewohner die Küche verlassen hatte, stahl Raen sich wieder hinein. Er musste kein Licht anzünden, um den Weg in die Vorratskammer und zu den beiden Weinfässern zu finden. Leise klopfte er gegen das erste hölzerne Behältnis. Es klang leer. Stirnrunzelnd pochte er an das zweite. Auch leer!
‚Verdammt, Uke, du hättest sie auffüllen müssen! Was mache ich denn jetzt?’ Mit aufsteigender Verzweiflung lehnte er sich gegen die leeren Fässer. Er brauchte dringend Alkohol, um sich von den aufreizenden Phantastereien abzulenken, die sein Hirn ohne Unterlass produzierte. Doch hier würde er keinen Wein finden, und um in die Stadt zu reiten, war es längst zu spät. Verdammt, verdammt, verdammt! Seine Faust hieb gegen das Fass in seinem Rücken. Ein dumpfer, hohler Laut erklang. Raen legte den Kopf zurück an das bauchige Eichenholz. Noch immer war es, als loderte Keïs Kuss auf seinen Lippen und die Berührung ihrer Hände auf seiner Haut.
Direkt über seinem Kopf sah er im Dunklen mehrere trockene Wermutsträuße von der Decke baumeln. Vage konnte er den Geruch wahrnehmen, den sie ausströmten. Das brachte ihn auf einen Gedanken. Irgendwo mussten sie doch noch Krüge mit geharztem Wermutwein haben. Das war eine borgossinische Spezialität, die nur zu besonderen Anlässen hervorgeholt wurde.
‚Und dies ist ein besonderer Anlass’, dachte Raen während er in der hintersten Ecke der Vorratskammer nach den Krügen suchte. Er fand sie reichlich angestaubt auf einem Regal über Kopfhöhe.
‚Hab ich euch!’ Es waren zwei glasierte und mit Wachsdeckeln verschlossene Gefäße. Jedes fasste um die sechs Maß. Er nahm sich eines, klemmte es sich in die Armbeuge und ging damit zurück in die Küche zur Feuerstelle. Die die Steine des Kamins waren noch warm. Er stellte den Krug ab, nahm sich den Helm vom Kopf und ließ sich mit einem erwartungsvollen Seufzer nieder. Mit ausgestreckten Beinen lehnte er an der warmen Kamineinfassung und öffnete mit seinem Messer den Wachsdeckel des Kruges. Er füllte den Becher, doch bevor er den ersten Schluck nahm, roch er an dem würzigen Gebräu. Es würde seinen Zweck hinlänglich erfüllen. Dann leerte er den Becher mit einem Zug.
Der bitter herbe Geschmack prickelte auf seiner Zunge und in seiner Kehle. Raen schnalzte zufrieden.
Mehr davon! Sogleich schenkte er sich nach.
In schneller Folge trank er mehrere Becher, und bereits nach dem vierten setzte die erwünschte Wirkung ein. Von seiner Leibesmitte aus durchflutete wohlige Wärme seine Glieder, und in seinem Kopf begann sich alles zu drehen, zuerst träge und dann schnell. Seine Gedanken bekamen Flügel und reihten sich ein in die schwerelose Fahrt immerzu im Kreise, immer höher ... auf und davon.
Noch mehr!
„Was soll’s, weg damit!“, lallte er laut vor sich hin und legte beim Trinken den Kopf in den Nacken.
Doch die Verzweiflung, die er allem voran zu verdrängen versuchte, ließ sich nicht narren. Sie kam zu ihm zurück, nachdem aus dem angenehmen Schwirren ein schwindelerregendes Sausen geworden war. Und sie traf ihn wie ein Huftritt schlimmer als je zuvor.
Gequält verzog er das Gesicht und wand sich gepeinigt, als sei all die Harm körperlich. Er fühlte sich wie ein Wurm unter dem Absatz des hämisch auf ihn herab lachenden Schicksals.
„Zaizura, warum tust mir das an? Habe ich nicht immer getan, was du von mir verlangt hast? Warum lässt du mein Leben nicht in Ruhe voranschreiten?“ Er trank den letzten Schluck. „Weißt du, ich hasse dich, Zaizura! Und ich hasse es, dass du mich hierher geführt hast!“ Er schenkte nach. „Alles ist verloren. Alles hat seinen Sinn verloren“, jammerte er immer weinerlicher. „Was bleibt mir jetzt noch?“
Plötzlich fühlte er sich beobachtet, und sein Kinn fuhr von seiner Brust hoch. Schwerfällig knallte er den Becher neben sich auf den Fußboden, das der Wein über schwappte. Seine Augen wanderten über die Schatten der Küche. Sie schienen mit dem Finger auf ihn zu zeigen und ihn zu verhöhnen.
„Was wollt ihr?“, rief er auf Graçenisch zu ihnen hinüber. „Was zum Teufel lacht ihr so? Was fällt euch ein ... kümmert euch um euren eigenen Dreck!“ Wieder knallte er den Becher auf den Stein.
Einer der Schatten bewegte sich stärker als die anderen, schien quer durch die Küche zu wabern.
„Und du! Ja, du, schleich dich nur fort und erzähl’ es allen, die es wissen wollen: Raen liebt die Prinzessin!“
Sel gefror in seiner Bewegung. Hatte er ihn etwa gesehen? Regungslos wartete er ab, verschmolz mit all den anderen dunklen Silhouetten der Küche.
„Ihr verfluchten Frevelzungen! Du und du ... und du! Ja!“ Total besoffen stieß Raen mit dem Finger auf den Holzpfeiler neben Sel. „Zieht aus und verkündet es allerorts: Raen betrügt Suneka! Raen betrügt seine Familie. Er betrügt sein Volk ... und er betrügt sich selbst ...“ Wieder das knallende Geräusch des Bechers und danach jämmerliches Schluchzen.
Sel atmete vorsichtig auf. Nein, Raen sah ihn nicht. Seelenruhig setzte er seinen Weg durch die Küche fort und schlüpfte schließlich zur Türe hinaus. Draußen rollte er verächtlich mit den Augen. Raens Gelalle war wirklich pathetisch, nichts als erbärmliches Selbstmitleid, zu dem er gar keine Berechtigung hatte. Was hatte er schon verloren, das den Wert einer Hand aufwiegen konnte? Welch schweres Los hatte er schon zu beklagen? Lächerlich! Sel presste vor Wut die Lippen aufeinander, bittere Galle floss in sein Herz.
‚Tu es jetzt’, sagte es ihm, ‚er ist vollkommen unfähig, sich zu wehren nach dem vielen Wein. Es ist ganz leicht, und jeder wird denken, er hätte sich selbst etwas zugefügt. Jetzt ist der richtige Moment!’
Seine Zähne bissen so hart auf seine Unterlippe, dass sie zu bluten begann.
„Nein!“, rief er sich selbst zu recht. Seine Hand suchte das Beutelchen mit der Asche um seinen Hals. Er musste sich beherrschen und warten. Denn nur, wenn er beide zusammen erledigte, würde seine Rache vollkommen sein, und das Feuer in seinem Innern gelöscht werden.
Er leckte sich das Blut von der Lippe und verschwand lautlos die Treppe hinauf in seinem Zimmer.
Nachdem er eine Weile vor sich hin geheult hatte, bekam Raen das Gefühl, sein Kopf müsse gleich platzen. Fahrig fuhr er sich mit den Händen über das Gesicht, doch es wurde nicht besser. Vielleicht sollte er kurz an die frische Luft gehen?
Mühsam stemmte er sich auf die Beine und wankte tastend durch die Küche, dabei stieß er sich mehrfach die Hüfte an. Laut fluchend erreichte er endlich die Tür und zog sie schwungvoll auf.
Draußen hatte es aufgehört, zu regnen, und die Sterne standen klar am Himmel. Die feuchtkalte Luft sickerte in seine Lungen wie eine kühle Flüssigkeit, und er sog sie tief ein. Doch die erhoffte Milderung trat nicht in Kraft.
‚Dann ab ins Bett’, dachte er sich und wollte den Hof überqueren. Aber schon nach den ersten paar Schritten begann der Boden unter seinen Füßen zu schwanken, als befände er sich auf hoher See, und genauso übel wurde ihm auch mit einem Mal. Tosende, haushohe Wellen warfen das Schiff hin und her, in das sich der Hof verwandelt hatte. Und er wollte nichts anderes, als sich an die Reling zu klammern und betend und flehend die erzürnten Götter des Meeres zu beschwören.
Böse schlingernd bewegte Raen sich auf die Hauswand zu. Dort stützte er seine Stirn auf dem Unterarm und übergab sich krampfhaft immer wieder, Schwall für Schwall. Es schien ihm, als wolle er gar nicht mehr aufhören, sein Innerstes nach außen zu kehren. Kraftlos krallte er sich an der Mauer fest und schnappte keuchend nach Luft.
„He, Raen, was ist los?“
War das wirklich Manoens Stimme, die da durch den schweren, nebligen Vorhang des Rausches zu ihm durchdrang? Erschöpft hob er seine Stirn vom Unterarm. Tatsächlich, da stand er.
„W-was willsu?“
„Du bist ja völlig betrunken!”
„Was gehdas dich wasan? Mussmir nich’ ständich hinerherspioniern!“, pöbelte Raen ihn an.
„Schhh, nicht so laut, du weckst noch alle auf. Du liebe Güte, hast du etwa den Wermutwein getrunken?“ Manoen wedelte mit der Hand vor seiner Nase.
„Naund!“
„Wie viel?“ Der Rotschopf klang besorgt.
Mit dem Gesöff war nicht zu spaßen, das wusste eigentlich auch Raen. Zu viel davon konnte einem Mann auf Dauer den Verstand zerstören.
„Weisnich. Oh, ismir schlecht.“ Schnell stützte er seine Stirn wieder auf den Unterarm und wölbte seinen Rücken. Das Würgen wollte kein Ende nehmen.
Eine Weile schien Manoen zu warten. Aber Raen lehnte weiter in unveränderter Haltung vorübergebeugt an der Wand. Sein Atem ging schwer, und er kämpfte um seine Beherrschung
„Raen? Alles in Ordnung?“, fragte der Hüne und legte ihm sachte eine Hand auf den Rücken.
„Hmm“, brachte Raen ermattet hervor.
„Willst du es mir erzählen?“
Raen schwieg. Bestimmt ahnte sein Freund, um was es ging.
Einige Augenblicke vergingen und er rührte sich nicht. Er konnte nicht. Noch immer verstopfte ihm die Übelkeit seine Kehle.
Der Rotschopf schaute derweil zu den Sternen hinauf. Ohne den Mond, der ihnen in vielen Nächten ihr Licht stahl, leuchteten sie hell und klar in eigener unverminderter Stärke auf sie hinab. Kleine, weißstrahlende Kristalle auf dem tiefschwarzen Mantel des Herrschers der Nacht.
„Ich liebe sie“, wimmerte Raen unvermittelt und lächelte unglücklich zu seinem Freund auf.
„Ich weiß, mein Freund, ich weiß“, flüsterte dieser schließlich und drückte mit einer Hand Raens Oberarm. „Komm.“
Langsam richtete der Jüngere sich auf und taperte mit hängenden Schultern neben Manoen her, der ihn hinauf in sein Zimmer brachte und ins Bett steckte.
„Aber sag es keinem, ja?“, wollte Raen sich in beinahe ängstlichem Tonfall versichern. Er lag da wie ein Kind in seine Decke gekauert und sah mit großen Augen zu dem Älteren auf.
„Niemals!“, beteuerte Manoen ernst, löschte das Licht und schloss die Tür.
Am nächsten Morgen klopfte es laut an seine Türe.
Raen murmelte etwas, ohne zu wissen, wie spät es war oder welchen Tag sie hatten, und die Tür ging auf.
„He, genug geschlummert, mein Freund, es ist bereits Mittag!“, ertönte es. Und zusammen mit dem gleißenden Licht, das direkt auf sein Bett fiel, trat Manoens Silhouette in das Zimmer.
Raen stöhnte laut auf und warf sich beide Arme über die Augen. „Oh, mach’ die Tür zu! Bitte!“
Manoen tat, wie ihm geheißen. Naserümpfend über den üblen Dunst, der offenbar im Zimmer herrschte, ging er zum Fenster und öffnete es weit.
„Nicht schon wieder! Das ist viel zu hell“, jammerte Raen erneut.
„Wer sich besäuft, der muss auch die Konsequenzen tragen! Hier stinkt es wie in einem Bärenkäfig. Du brauchst frische Luft!“, schimpfte Manoen, als sei er seine Mutter, und hockte sich zu ihm ans Bett.
Raen sah ihn schmollend an. Die Augen noch immer gegen das Sonnenlicht zusammengekniffen, das wie tausend kleine Nadeln in seine Pupillen stach.
„Ich habe dir was zu essen mitgebracht. Du wirst sehen, es wirkt Wunder.“ Der Rotschopf hielt Raen eine Schale mit sauer eingelegtem Kohl hin. Genau das Richtige nach einer durchzechten Nacht. Aber Raen war nicht nach essen zumute. Mit einem ablehnenden Blick auf das Angebotene schüttelte er heftig den Kopf. Dies bereute er jedoch sogleich, da ihm die Bewegung einen Schwall pulsierender Schmerzen einbrachte.
„Ich krieg nichts runter. Mir ist immer noch speiübel. Tu es weg, wenn ich es nur rieche, dann ...“
„Schon gut, ich stelle es hier hin. Du kannst es ja essen, wenn dir danach ist.“
Raen nickte und schloss die Augen. Er hoffte, gleich wieder allein gelassen zu werden. Ihm war so elend, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Und er verspürte wenig Lust, sich schon wieder vor seinem Freund zu blamieren, indem er ihm vor die Füße spie.
Doch Manoen machte keine Anstalten, zu gehen. Schweigend verharrte er neben dem Bett.
Raen seufzte.
„Na los, mach’ schon“, forderte er ihn schließlich auf, mit seiner Standpauke endlich zu beginnen. Seine Stimme klang dabei fürchterlich, und seine Kehle war ausgedörrt. Und er dachte darüber nach, dass er, wenn er schon nichts essen konnte, es wenigstens wagen könnte, etwas zu trinken. Nur ein paar Schlucke kalten, klaren Wassers. Er setzte sich auf.
„Dein Glück, dass heute Sonntag ist“, begann Manoen wie erwartet, „sonst hätte ich dich zur Akademie geprügelt, egal, ob du den ganzen Weg von hier bis in die Stadt über gekotzt hättest!“
Raen schluckte mehrmals, doch seine Zunge heftete sich immer wieder wie ein klebriges Gewölle an seinen Gaumen.
Manoen fuhr unbeirrt fort: „Und du solltest dich bei dem Rest des Hauses entschuldigen, du hast letzte Nacht ganz schön herum gepoltert.“
„Werde ich tun.“ Raen sah sich um. Nirgendwo Wasser? Plötzlich fiel ihm sein Geständnis im Suff wieder ein. Er erstarrte und sah dann ganz langsam seinen Freund an.
„Manoen?“
„Ja?“
Raen kämpfte mit dem unwilligen Brei seiner Zunge. „Was habe ich gestern zu dir gesagt?“
„Nichts, was ich nicht schon wusste.“
Er blinzelte und schluckte erneut. Ein trockenes Klicken.
„Keine Angst, ich werde es nicht verraten“, wiederholte Manoen sein Versprechen, das er ihm noch in derselben Nacht gegeben hatte.
Raen hielt sich eine Hand vor die noch immer schmerzenden Augen und sagte dann: „Gestern ist etwas passiert, Manoen ... etwas, das ich nicht einmal in meinen Träumen für möglich gehalten hätte.“
Der Rotschopf wartete höflich ab, bis er den Mut fand, weiterzuerzählen.
„Nun, es war so: Sie ... Keï hat mich geküsst!“
Manoen schwieg noch immer, nur ein versonnenes Lächeln stahl sich auf seine Lippen.
Raen massierte sich mit den Handknöcheln seiner Fäuste die Stirn.
„Warum hat sie das getan?“
Manoen zuckte mit den Schultern. „Weil sie dich mag?"
„Aber das ist nicht gut, verdammt noch mal!“, platzte es plötzlich heftig aus Raen heraus, und er schlug mit der flachen Hand auf das Bett. „Wenn ich so fühle, dann ist das eine Sache und ganz allein mein Problem, aber wenn es ihr auch so geht, dann ist das ... ach, dann ist alles aus und vorbei!“ Erneut fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, weil er mit dem Gefühlsausbruch sein Blut und damit auch die Schmerzen erneut in Wallung gebracht hatte. Nach ein paar tiefen Atemzügen sah er gequält zu Manoen auf. „Sie darf nicht so empfinden wie ich, verstehst du, das ist gefährlich für sie! Ich will nicht, dass ihr etwas passiert, oder dass sie ihre Ehre aufs Spiel setzt!“
„Das hat sie doch schon längst getan, als sie dich in ihre Dienste genommen hat. Das muss dir doch bewusst gewesen sein, Mann!“ Manoen sprach nun zum ersten Mal ernst zu dieser Sache.
Raen blickte schuldbewusst auf seine nackten Zehen, die sich ruhelos in die zerknüllte Decke gruben.
„Und wenn du mich fragst, dann hat auch sie es ganz genau gewusst!“
Die Zehen gruben sich tiefer, wollten durch die Matratze dringen. Raen zwang sich zu einer Antwort. „Solange nur ich sie geliebt habe, war die Angelegenheit einfach. Allein in ihrer Nähe sein zu dürfen, war genug, um mich glücklich zu machen. Ehrlich, das hat mir gereicht. Es ist die Liebe aus der Ferne - reine, geistige Liebe. Mein Vater hat einmal gesagt, sie sei genauso erfüllend wie die körperliche Leidenschaft. Und es stimmt, er hatte recht, das ist sie wahrlich.“ Mit Gewalt fing er seinen schwärmerisch umherschweifenden Blick wieder ein und richtete ihn starr auf die Wand, wie um sich selbst zu kasteien. „Doch was wird nun sein, Manoen? Sie weiß von meiner Liebe und ich von ihrer. Wie können wir uns je wieder in die Augen sehen, ohne uns dabei zu verraten.“ Er legte seine Stirn auf die Knie. „Das alles ist eine Qual! Allein der Gedanke, dass wir nie zusammen sein können, ist unerträglich!“
Manoen hob eine Hand. „Aber denke doch an Suneka. Was mit ihr? Liebst du sie denn nicht mehr?“, fragte er besorgt.
Raen hob den Kopf und schüttelte ihn. „Ich weiß es nicht! Ich weiß weder, ob ich sie liebe, noch was ich tun soll, jetzt, oder wenn ich nach Hause komme - falls ich überhaupt jemals wieder nach Hause kommen sollte! Aber ich befürchte, ich habe nun endlich auch das zerstört! Warum nur verliere ich immer alles, was ich liebe?“ Resigniert ließ er die Schultern hängen.
Manoen blieb stumm, es hatte keine Antwort darauf.
„Ach, Manoen, langsam bereue ich es, jemals hierher gekommen zu sein. Ich fühle mich, als wurde ich hinters Licht geführt. Auf so viele Dinge war ich nicht vorbereitet, so viele Dinge haben sie mir verschwiegen. Und das alles hier fühlt sich, ehrlich gesagt, nicht so an, als erfülle ich eine ehrenvolle Aufgabe zum Wohle unseres Volkes, sondern es erscheint mir vielmehr wie eine Verbannung, eine Strafe für etwas, das ich getan habe!“
Manoen blinzelte, als wolle er etwas sagen, doch er ließ Raen weiterreden.
„Manchmal denke ich, wir alle hier haben uns etwas Bestimmtes zu Schulden kommen lassen, das nicht unter die geltenden Gesetze Hys fällt. Wir sind sozusagen eine andere Art von Verbrechern. Grenzgänger und Andersdenker, und für solcherlei Vergehen braucht es, so vermute ich, gesonderte Maßnahmen. Man tut so, als sei es unabdinglich für unser Volk, dass wir, die wir außerordentliche Fähigkeiten besitzen, in die Fremde gehen. Man schickt uns also hierher - reinen Gewissens natürlich - und hofft, dass wir ... ach“, er winkte heftig ab, „was rede ich da nur für einen Unsinn, vergiss, was ich gesagt habe. Ich bin lediglich frustriert und sollte die Schuld dafür lieber bei mir selbst suchen, als die Daheim derart schmählicher Absichten zu bezichtigen.“ Er wollte sich erheben, doch Manoen hielt ihn beinahe gewaltsam am Unterarm zurück. Verwundert sah Raen ihn an. Ein unheimliches Schimmern lag im Blick des Freundes, und es schien all das, was er soeben mehr oder weniger mutwillig geäußert hatte, auf beunruhigende Weise zu bestätigen. Raen wurde unwohl zumute und er spürte neuerlich die unangenehme Trockenheit seiner Zunge. Wasser, schrie sie! Doch sie bekam keines.
„Setz dich!“, befahl Manoen.
Raen ließ sich sofort wieder auf seinen Hintern sinken und schaute seinen Freund bang an. Mit einem Mal hatte er gar keine Lust mehr, zu erfahren, was dieser gleich zu sagen hatte. Übelkeit breitete sich in ihm aus wie kalter Nebel in den Gassen Borgossas.
„Du weißt es also“, begann der Rotschopf geheimnisvoll.
Raen rührte sich nicht. Er war das Kaninchen und Manoen die Schlange. Gleich würde sie zubeißen und er würde nichts dagegen tun können - weil er es natürlich längst wusste, es nur nicht wahrhaben wollte.
„Wie bist du darauf gekommen?“, beharrte der Ältere.
Raen hob die Schultern. Ja, wie war er darauf gekommen? Viele kleine Ereignisse waren es gewesen, die seine Gedanken irgendwann in diese Richtung gebracht hatten. „Durch Uke und Uma“, antwortete er schließlich, „durch Sel, ... durch dich und mich. Wir alle hier im Hytena haben etwas gemeinsam.“
Manoen zog die Augenbrauen zusammen.
„Du hast mir von deiner Kindheit erzählt, Manoen, und sie ist meiner sehr ähnlich. Ich meine damit den Ungehorsam und den Drang, alles in Frage zu stellen. Wir waren, nein, wir sind anders als die anderen.“ Raen bemühte sich, möglichst unbekümmert zu wirken, da sich Manoens Miene noch immer nicht aufhellen wollte.
„Und damit kommen die Daheim nicht zurecht, deshalb schicken sie uns fort. Sie hoffen, dass wir hier in der Fremde eine neue Heimat finden und nicht mehr zurückkommen. Problem gelöst.“ Er hob beide Hände. „So einfach ist das.“
Manoen schien wie erstarrt, und Raen war erleichtert, als der Rotschopf endlich seinen brennenden Blick senkte. Doch gleichzeitig war es, als stürze ein Gebäude in sich zusammen. Erst bröckelte es langsam, dann barsten immer größere Stücke aus der Fassade, und schließlich kollabierten sämtliche Mauern. Zurück blieb nur ein Haufen rauchender Trümmer und Schutt. Die Ruine ihres Lebens.
‚Es war alles umsonst’, sagte sich Raen. ‚All die Jahre!’ Wut stieg in ihm hoch. Unfassbare Wut! Jetzt, nachdem er offen ausgesprochen, was er lange vermutet hatte.
Man hatte sie auf schändlichste Weise belogen und betrogen, ihrer Heimat beraubt, ihrer Zukunft und ihrer Hoffnungen!
Der hochgewachsene Freund hob seinen Blick, und sie sahen sich lange an. Stummer, hilfloser Zorn auf beiden Seiten.
„Und dich haben sie fortgeschickt, weil du genau das herausgefunden hast, du hattest sie durchschaut, das war dein Vergehen“, sagte Raen schließlich mit bebender Stimme, und Manoen nickte.
Raen schluckte vernehmlich. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals. Er fühlte sich schrecklich. Belogen von den eigenen Leuten! Und das, obwohl Lügen eine der größten Sünden in Hy war. Er biss sich auf die zitternden Lippen.
„Weißt du, ich versuche, das Ganze einfach als eine Art Prüfung anzusehen“, entgegnete der Ältere schließlich nach einer Weile und erstaunlich gefasst. „Wir werden geprüft, härter als irgendjemand aus unserem Volk, und am Ende werden wir gestärkt daraus hervorgehen.“
„Gestärkt wofür, frage ich dich nur?“ Raen bekam kaum noch Luft, so sehr schnürte ihm die Enttäuschung die Kehle zu.
„Für die Freiheit!“ Manoen breitete die Arme aus. „Tonansene, la Libertà, si capisco? Die zu Hause haben keine Macht mehr über uns. Wir sind Ichor, Heimatlose, und das ist kein Schimpfwort mehr! Wir sind frei, Raen! Wir haben das Wissen, und Wissen ist Macht, Wissen ist Freiheit!“ Die Worte des Hünen glühten vor Eifer. „Weißt du, was es heißt, frei zu sein?“
Raen nickte langsam. Er befürchtete, dass er es sogar ganz genau wusste. Er schwang sich zu einer Antwort auf. „Frei zu sein, bedeutet keine Heimat zu haben und doch -“
„- überall zu Hause zu sein“, beendete Manoen den Satz und tippte sich mit dem Finger unter sein linkes Auge, dort war auch die Narbe von Sel. „Freiheit bedeutet, einen eigenen Willen zu haben. Du kannst gehen, wohin du willst, Raen“, in seinen Augen blitzte es auf, „sogar mit deiner Prinzessin nach Ohaoud, wenn das dein Wunsch ist! Für dich und mich gelten die Regeln der Gemeinschaft nicht mehr oder die Gesetze unseres Landes. Das wissen die zu Hause, und das wissen wir. Es war besiegelt noch im selben Moment, da sie uns fortgeschickt haben. Doch am meisten graut es ihnen davor, dass wir wiederkommen könnten. Das macht ihnen eine Höllenangst, denn sie fürchten das, was wir mitbringen: Unser Wissen! Das Wissen von ihren abscheulichen Machenschaften.“
„Meinst du, auch meine Familie fürchtet sich vor mir?“
„Nein, die ahnen nichts von dem, worüber wir hier sprechen. Die normalen Menschen in Hy sind Schafe, träumende Schafe. Nein, ich spreche von den Priestern, dieser verdorbenen und wurmzerfressenen Bruderschaft von scheinheiligen Schwindlern, die vorgibt, stets immer nur zum Wohle der Allgemeinheit zu handeln, um sie vor allem Übel zu beschützen. Aber weit gefehlt! Ich sage dir: Sie sind die eigentliche Wurzel allen Übels. Sie bestimmen über jeden einzelnen von uns, ohne dass wir es merken, und verstecken das alles hinter ihrer frommen Robe der Gottgefälligkeit.“
„Aber das ist nicht möglich!“, rief Raen aufgebracht aus. „Das ist Gotteslästerung! Das würde Hyaun niemals zulassen! Manoen, du ... du darfst so etwas nicht sagen! Wir dürfen so etwas nicht denken!“ Er presste sich die Fingerspitzen an die Schläfen und versuchte, wieder Klarheit in seine Gedanken bringen. Er bangte um den letzten Rest seiner inneren Haltung. Wenn Manoen jetzt dort weitermachte, wo er angelangt war, dann ... Doch seine Kopfschmerzen machten ihn fast wahnsinnig, und er hatte das seltsam bedrohliche Gefühl, sich in einem seiner Alpträume zu befinden. Er begann seine Schläfen zu massieren. Kleine beruhigende Kreise. Sie durften ihren Pfad jetzt nicht verlassen! Durften sich nicht von ihren Idealen, ihrem Glauben abwenden! Sie waren hyaunische Krieger, Er hatte sie erwählt!
„Hyaun steh uns bei!“, entfuhr es Raen, und Manoen stieß ein grunzendes Lachen aus.
„Der wird dir auch nicht helfen können, Er ist auch nur ein Werkzeug der Priester!“
„Nein, das stimmt nicht! Er hat zu mir gesprochen!“, schrie Raen innere Stimme laut aus ihm heraus. „Hyaun ist bei mir!“
„Genau wie der Setna und das Aun. Es sind alles Werkzeuge der Manipulation. Aber ich kann dich davon befreien, wenn du willst. Reko hat es mir beigebracht. Er hat mir auch das Zhangha überlassen, genau aus diesem einen Grund, capisco.“
„Nein!“
„Raen, glaube mir, du bist ein guter Mensch. Einer der verdammt besten, die ich je kennengelernt habe! Und trotzdem haben sie dich weggeschickt. Siehst du nicht, wie egal es denen ist, wie es in deinem Herzen aussieht? Sie scheren sich einen Dreck darum, dass du deine Familie und deine Heimat liebst, ja, für sie ihr Leben geben würdest! Wir sind nichts als Störenfriede für sie!“
Raen schüttelte abwehrend den Kopf. Doch es gab nichts mehr zu retten, das Gebäude war längst eingestürzt, da war nichts mehr, außer Schutt.
„Es ist die Wahrheit, das weißt du genauso gut wie ich. Du brauchst nur etwas Zeit, um es zu kapieren.“
Ein himmelhoher Haufen Schutt und darin begraben, mit einer Schicht grauen Staubes bedeckt, lagen die Gesichter der Menschen, die er zurückgelassen hatte: Suneka, Andra, sein Vater, Resa, Hereke, Kaera, Kensa, Shani ... und Loenka! Loenka, der Verräter! Er hatte all das zugelassen.
Plötzlich wurde ihm übel, und Raen biss die Zähn zusammen.
„Was ist los? Musst du gleich kotzen?“, fragte Manoen, als er das schlagartig kalkweiße Gesicht seines Freundes sah.
Doch Raen antwortete nicht, er sprang auf, seinen zerberstenden Schädel und das Schwindelgefühl ignorierend, und taumelte die Treppe auf den Innenhof hinunter, wo er sich direkt auf das Pflaster übergab. Es war nicht viel, was da herauskam, aber es dauerte einige Zeit, bis er sich wieder im Griff und das Würgen nachgelassen hatte.
Erschöpft ließ er sich anschließend in den Staub sinken, während die Oktobersonne erstaunlich warm auf seinen nackten Oberkörper schien.
Neugierig steckte Uke einen Kopf zur Küche hinaus. Als er Raen dort im Hof wie ein Häufchen Elend sitzen sah, kam er sogleich herbeigeeilt und erkundigte sich besorgt nach seinem Wohlergehen. Aber Raen war nicht in der Lage, irgendetwas zu erwidern. Seine Zunge war nun endgültig mit seinem Gaumen verklebt.
„Er hat gestern zu viel von dem Wermutwein getrunken“, kommentierte Manoen von der Galerie hinab und kam dann die Treppe hinunter. „Ich hole Wasser.“
‚Endlich!‘, dachte Raen.
Der Rotschopf ging zum Brunnen und stellte den Eimer anschließend wortlos vor ihm ab. Er sah zu ihm auf und musste dabei seine Augen vor der Sonne abschirmen.
Auch Uke sah das aufmunternd verschwörerische Zwinkern in den Augen des Hünen.
Raen stülpte sich den Helm über den frisch geschorenen Kopf. Das frühmorgendliche Waschritual nach alter, lange nicht mehr so ausführlich praktizierter Tradition hatte gut getan und auch die Meditation am Vorabend, bei der er sich selbst hatte überzeugen müssen, dass Hyaun wirklich und wahrhaftig war und nicht bloß eine Erfindung der Priester.
Er glaubte zwar nicht, dass Manoen ihn belogen hatte, aber er tat sich auch schwer, das Gehörte einfach so zu glauben. Sicher, Manoen war bitter enttäuscht in seinem Herzen, und wahrscheinlich leugnete er auch deshalb die Existenz ihres Gottes. Er fühlte sich von Hyaun verlassen und hernach gab es Ihn für Manoen auch nicht mehr. Raen empfand Mitleid mit seinem Freund, der noch nicht einmal mehr seinen Gott hatte, dem er sich in der Stunde der Not hätte anvertrauen können.
Er selbst aber spürte seit dem heutigen Tage umso stärker, dass, egal was passieren mochte, ob er seine Heimat würde entbehren müssen oder Suneka und seine Familie, er doch niemals seinen Glauben an Hyaun verlieren würde. Diese Gewissheit durchfloss ihn wie ein breiter, ruhiger Strom. Unmöglich, dass dieser Strom sein seit dem Anbeginn des Universums gegrabenes Bett verlassen würde.
Im Geiste erfrischt, atmete Raen die kühle Morgenluft ein. Er fühlte sich aufgeräumt, doch er wusste nicht, ob das auch so bleiben würde, wenn er nach alldem, was geschehen war, wieder der Prinzessin gegenüber stand. Er hatte sich sorgsam zurechtgelegt, wie er sich verhalten wollte. Zurückhaltung war dabei das Stichwort. Wenn er nichts Schimpfliches tat, dann konnte ihm auch nichts Derartiges angekreidet werden. Er würde sich beherrschen müssen und abwarten. So war zumindest sein Plan.
Gemeinsam mit Manoen ritt er zu Sonnenaufgang in die Stadt, und als sie an der Akademie ankamen, war alles wie immer.
‚Warum sollte es auch anders sein?’, lachte Raen im Stillen über seine törichte Sorge. ‚Niemand außer Manoen weiß das mit der Prinzessin und mir.’ Eine wohlige Erregung breitete sich in ihm aus. Eigentlich war es aufregend, solch ein delikates Geheimnis zu haben, und es würde noch prickelnder sein, es im Verborgenen fortzuführen.
Sie begegneten sich in der Lektion von Karbald, doch saßen sie heute nicht beieinander. Der erste Blick, den er mit ihr tauschte, wirkte für alle Außenstehenden durch und durch harmlos, für die beiden Verliebten aber lagen in diesem kurzen Augenkontakt all ihre versteckten Gefühle offenkundig zu Tage, wohl weil sie etwas sahen, was weit hinter dem Wahrnehmbaren lag.
Raen setzte sich, holte geschäftig seine Schreibutensilien hervor und versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was Karbald in nicht enden wollender, öder Litanei von sich gab. Die Herbstprüfungen standen an, und der unliebsame Maestro wurde nicht müde, seine Scolarios immer wieder mahnend darauf hinzuweisen. Der Platz zur Rechten des Maestros war noch immer leer, und ob Sel ihn je wieder einnehmen würde, war fraglich.
‚Nun, den Zuchtprügel würde er auch mit links führen können‘, dachte Raen ohne jegliche Regung. ‚Wenn sich Sel überhaupt je noch einmal aus dem Hytena in die Stadt wagen sollte.‘
„Shari?“
„Ja, Maestro?“ Notgedrungen stand Raen auf. ‚Verdammt, du Idiot, du hast schon wieder nicht aufgepasst, du lernst aber auch nie dazu!’, schimpfte er sich. Er war es unendlich leid und konnte es kaum erwarten, dass das alles im März endlich ein Ende hatte. Dann wäre er für immer von Karbald befreit.
„Wiederhole!“
„Verzeihung, kann ich nicht.“ Warum ging er nicht einfach schon jetzt? Er war frei, wie Manoen gesagt hatte. Frei, zu gehen. Warum quälte er sich überhaupt noch? In Wahrheit war er doch niemandem gegenüber zu etwas verpflichtet. Niemand zu Hause interessierte sich ernsthaft für das, was er hier tat. Raen kam in den Sinn, was Loenka ihm damals vor beinahe drei Jahren zum Abschied gesagt hatte, und seine Eingeweide zogen sich vor Enttäuschung zusammen. ‚Sieh und lerne für dein Volk, Raen. Deine Augen und Ohren sind die deines Volkes, und dein Herzschlag ist unser Herzschlag! Ich bin stolz auf dich, mein junger Freund!’ Hatte Loenka seine Worte ehrlich gemeint, oder war es nur eine heuchlerische Täuschung gewesen?
„Wie du die Prüfungen schaffen willst, ist mir ein Rätsel, Shari!“, schnarrte Karbald indes. Immer dieselbe Leier. Blabla. „Du kannst froh sein, dass ich noch keinen neuen Adlatus habe! So bleibt mir nur, dich ein weiteres Mal zu ermahnen, in der Hoffnung, meine Worte mögen irgendwann noch Wirkung in deinem Hirn finden.“ Man konnte deutlich spüren, wie sehr Karbald sich zurücknahm. Nach der Verwarnung durch den Dekan hatte er fühlbar an Schärfe eingebüßt.
Ein Hund ohne Zähne, dachte Raen, war aber bemüht, weiterhin ein unschuldiges Gesicht zu zeigen. Los, geh endlich, tu es! Du musst dir das nicht länger antun! Er straffte seine Erscheinung, alle Augen waren auf ihn gerichtet.
„Maestro, ich ...“, er hielt inne.
„Ja, ich höre.“ Karbald hielt sich spöttisch eine Hand hinter sein Ohr.
Einen Blick spürte Raen plötzlich ganz besonders auf sich lasten. Es war der von Keï. Wenn er jetzt ging, dann war das Studium beendet, ohne Abschluss, ohne Titel. Nichts hätte er dann erreicht, es wäre wirklich vollkommen umsonst gewesen, vergeudete Zeit seines Lebens.
‚Aber das würde sie nicht wollen’, fuhr es ihm durch den Kopf, ‚sie würde darauf bestehen, dass ich den Titel erlange.’ Um ein Haar hätte er sich zu ihr umgewandt und sie angesehen, doch Karbald kam ihm zuvor.
„Shari, ich warte!“, dröhnte er. Er schien kurz davor, die Geduld zu verlieren.
Raen schüttelte mit dem Kopf. „Nichts, Maestro. Es ist nichts. Entschuldigt bitte.“
Karbald kniff verbiestert die Lippen zusammen, rang sich aber schließlich doch eine begütigende Handbewegung ab und bedeutete Raen, sich wieder setzen zu dürfen. Ungerührt fuhr Karbald daraufhin mit der Lektion fort und verfluchte in aller Stille den hyaunischen Taugenichts in der zweiten Reihe, der mittlerweile schon wieder mit seinen Gedanken an einem ganz anderen Ort zu weilen schien. Die Prüfung würde ihm schon zeigen, dass bloße Anwesenheit in der Lektion nicht viel einbrachte, dachte der Maestro griesgrämig. Und wenn der Kerl dafür noch ein Jahr länger studieren musste, dann war das nur die gerechte Strafe für sein unverbesserliches Verhalten!
„Karbald kann es einfach nicht lassen, was?“, scherzte Manoen später, als sie bei Erbsenmus versetzt mit ranzigem Speck und Brot dicht gedrängt in der stickigen Studentenküche saßen, denn draußen regnete es in Strömen.
„Lass uns von etwas Anderem reden. Ich bin es wirklich überdrüssig“, brummte Raen verstimmt.
Ihm gegenüber nickte die Prinzessin. „Kann ich verstehen.“
Manoen winkte ab. „Ach was, Raen setzt sich ein paar Tage hin und lernt den Kram und dann wird er mit Leichtigkeit bestehen. So läuft das doch immer. Und unsereins muss büffeln, bis einem die Augen wund werden, und dann kommt Raen daher, krümmt einmal den kleinen Finger und siehe da ... Er ist eben ein verdammtes Naturtalent. Hab ich Recht? Ein Pfiffikus!“ Feixend stieß er seinem Freund in die Seite.
Dem Jüngeren entwich ein Grinsen, obwohl er nicht vorgehabt hatte, heute noch einmal fröhlich zu sein, dabei wagte er es aber auch nicht, die Prinzessin anzusehen. In schneller Folge löffelte er seine Schale leer und verschlang im Anschluss das harte Brot.
„Hm, das war doch ausgesprochen wohlschmeckend!“ Er rülpste unflätig.
Nun war es Keï, die lachen musste, und Raen konnte sich einen Blick auf ihr niederschmetterndes Lächeln nicht unterdrücken. Sofort durchwallte ihn Hitze. Deutlich meinte er, sich daran zu erinnern, wie ihre Lippen sich auf den seinen angefühlt hatten. Ihre Blicke trafen sich. Ob sie das gleiche dachte?
Irgendwann - es war ein viel zu langer Moment gewesen - wandte Raen seinen Blick ab. Verlegene Stille machte sich breit. Doch bevor es verdächtig werden konnte, sprang Manoen in die Bresche und riss einen seiner berühmten schmutzigen Witze. Brüllend brach Gelächter unter den Scolarios aus, und der kritische Augenblick war unbemerkt vorüber.
Raen aber spürte, wie Manoen ihm einen versteckten Ellenbogen zwischen die Rippen gab, der bedeutete: ‚Reiß dich am Riemen! Du spielst mit dem Feuer!’
Raen warf seinem Freund einen verstohlenen Seitenblick zu und gewahrte die Warnung auch in dessen Augen. Er nickte kaum merklich. Er hatte verstanden.
In den nächsten Tagen gelang es Raen immer besser, seine wahren Gefühle zu verbergen, und auch die Prinzessin spielte das Spiel mit. Bald hatten sie sogar einige Geheimzeichen entwickelt, mit denen sie sich gefahrlos verständigen konnten.
Doch immer wenn es die Umstände erlaubten, und sie sich allein wähnten - was zum Leidwesen der beiden natürlich viel zu selten geschah -, fielen sie übereinander her und tauschten gierig Küsse aus.
Von Zurückhaltung war keine Spur mehr! Sein so sorgsam zurechtgelegter Plan fiel einfach in sich zusammen. Und alle Vorsicht war längst vergessen, wenn er ihre Lippen schmeckte. Das Einzige, was zählte, war sie!
Wie Manoen es vorausgesagt hatte, bestand Raen die Prüfungen problemlos, selbst die bei Karbald.
Liebe verlieh eben doch tatsächlich Flügel, dachte der Rotschopf, und er musste sich eingestehen, dass er sich mehr nach desgleichen sehnte, als er bisher wahrhaben wollte. Er versuchte, sich zu erinnern. Aber wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, so war ihm aufrichtige und wahrhaftige Liebe noch nicht begegnet. ‚Liebe im Geiste’, hatte Raen gesagt und damit unbeabsichtigt zielsicher einen Finger in eine seiner tiefen, nicht heilen wollenden Wunden gelegt. Nicht einmal für seine Eltern oder seine Geschwister verspürte er eine solche Art von Liebe, und auch nicht für Hyaun.
„Was für ein wahrlich von allem verlassener Tropf du doch bist“, murmelte Manoen in Gedanken, und eine lange vergessene Traurigkeit überwältigte ihn. Überrascht von der Heftigkeit dieser Empfindung ließ er sich auf der Rast hinter dem Hytena nieder, auf der sonst Sel immer saß, und er musste zulassen, dass die fest verschlossene Truhe in seinem Herzen aufsprang und die Bilder seiner Erinnerungen freigab.
Die dichten Winterwolken zogen rasch über ihn hinweg, und der kühle Wind zerzauste die kahlen Kronen der Obstbäume, als Manoen sein Gesicht in beiden Händen vergrub und bitterlich über den Verlust weinte, den er hatte erleiden müssen. Niemals hatte er von zu Hause fort gewollt, sie hatten ihn dazu gezwungen.
„Wir wollen dich hier nicht mehr haben!“, hatte der Oberpriester ihm in sein Ohr geraunt, als er ihn zu seiner Segnung mit beiden Armen umfangen hatte. Und für seine Eltern musste es tatsächlich so ausgesehen haben, als ob ihrem Sohn eine besondere Ehre zuteil würde.
„Du kannst es dir aussuchen. Entweder du lässt es so erscheinen, als ob du freiwillig gehst, oder wir verbannen dich offiziell ... als Verbrecher und löschen deinen Namen. Denke genau darüber nach, ob du das deinen Eltern antun willst!“ Freundlich hatte der Hyaunset suer dabei geklungen, und über dessen Schulter hinweg hatte Manoen auf seine Eltern geschaut, die selig lächelnd vor dem Altar gesessen und zu ihnen aufgeblickt hatten. Sie waren so fromme und brave Leute gewesen, und er hatte ihnen nicht mehr länger weh tun wollen.
Für seine Eltern war das Wort Hyauns alles. Es bestimmte ihr Denken und ihr Leben, und es hätte sie vollkommen verstört, wenn ihr Sohn sich dagegen gestellt hätte. So hatte er seine neue „Aufgabe“ schließlich angenommen und war wenige Wochen später mit fürchterlichen Gefühlen in seinem Bauch in die Fremde aufgebrochen. Nur einmal noch war er nach Shajun zurückgekehrt, und das war, um seiner Familie zu sagen, dass er für immer in Borgossa bleiben würde. Ihre Trauer hatte ihn tief berührt, da er nicht geglaubt hatte, sie würden ihn überhaupt vermissen, und er hatte schwer daran gelitten, sie so zurückzulassen. Doch da war auch die verstohlene Freude gewesen, die er in den Augen des Oberpriesters wahrgenommen hatte, und er war kurz davor gewesen, ihm seine mickrige Gurgel umzudrehen. Wahre Mordlust hatte ihn damals gepackt, und er war darüber sehr erschrocken gewesen.
‚Sie haben alle Recht gehabt, ich passe nicht in dieses friedliche Leben!’, hatte er in jenem Moment gedacht und war einen Tag später Hals über Kopf abgereist. Für immer!
Das war nun über vier Jahre her, und Manoen hatte es vollbracht, diese Erinnerungen seitdem erfolgreich unter Verschluss zu halten. Doch etwas hatte sie wieder geweckt. Und er wusste auch genau, was es gewesen war. Direkt vor seinen Augen verlief Raens Schicksal haargenau wie das seine, und es bereitete ihm unerträgliche Qualen, es mit ansehen zu müssen, ohne etwas dagegen tun zu können. Dass er letztendlich aber nicht aus seiner Haut gekonnt und sich nun doch eingemischt hatte, beschämte ihn bis aufs Mark. Er hatte einfach kein Rückgrat! Das war sein Schicksal. Er war ein rückgratloser Tunichtgut! Und dass Raen nun zum Ichor wurde, war nun auch mit seine Schuld.
‚Aber ich habe doch nur die Vermutungen bestätigt, die er ohnehin schon gehabt hatte. Ich war es doch nicht, der ihn fortgeschickt hat. Das waren sie gewesen ... unsere Priester ’, bemühte er sich um eine Entschuldigung, die ihn endlich wieder ruhig würde schlafen lassen. Aber sein Gewissen ließ es nicht zu. ‚Trotzdem’, meldete es sich nachdrücklich zu Wort, ,eine geringe Hoffnung hätte durchaus bestanden, dass er zurückkehrt. Immerhin hat er noch jemanden in der Heimat, der auf ihn wartet. Und er wusste nichts davon, dass die Priester hinter alldem stecken. Er hatte noch seinen unbeirrbaren Glauben. Jetzt aber hast du ihm nur einen weiteren Grund dafür geliefert, sich davon zu lösen. Das war egoistisch von dir. Du wolltest doch nur, dass er hier bei dir bleibt, gib es doch zu!’ Manoen ballte die Hände zu Fäusten und drückte sie auf seine Augen. Er fühlte sich unsagbar mies. Nur gut, dass Sel gerade nicht da war und ihn so sah, es wäre Wasser auf den ewig mahlenden Mühlrädern seiner Selbstgerechtigkeit gewesen.
Manoen dachte an seine immerwährend zur Schau getragene gute Laune. Sie war sein magischer, goldstrahlender Schutzpanzer, der ihm Unverletzlichkeit gegenüber jedweden Anfeindungen verlieh. Und das sollte auch so bleiben.
Er strich sich über das gerötete Gesicht, setzte die Maske der Unbekümmertheit wieder auf und verließ die Rast.
Zur gleichen Zeit saß Sel im Vorraum zu Karbalds Arbeitszimmer an der Akademie und wartete darauf, eingelassen zu werden.
Er wartete lange. Viel zu lange, wie ihm schließlich aufging. Und als Karbalds Schreiber endlich aus der Tür trat und ihn herein rief, war seine Laune gefährlich gesunken.
Sel betrat das Zimmer, in dem der Maestro an seinem reich mit Schnitzereien verzierten Arbeitstisch saß, den er so gut kannte, weil er selbst schon oft mit daran gesessen hatte. Doch diesmal bot ihm Karbald nicht den Stuhl davor an. Er ließ ihn stehen.
„Nun, was führt dich hierher, Scolario?“ der Maestro stützte seine Ellenbogen auf die Platte, schränkte die Finger ineinander und sah ihn despektierlich an.
Sel wunderte sich über seine abweisende Haltung. War er denn nicht noch immer sein Adlatus? Verlegen umfasste er seinen Armstumpf, den er im Ärmel der Jacke versteckt hielt.
„Verzeiht die Störung, Maestro, aber ich habe eine wichtige Neuigkeit für Euch und wollte mich -“
„Eine Neuigkeit?“, unterbrach Karbald ihn seufzend, aber Sel nickte eifrig zur Bestätigung. „Nun gut, dann heraus damit, aber ich will keine überflüssigen Umschweife hören.“
Kriecherisch verneigte sich Sel vor seinem ehrwürdigen Meister, im Herzen still frohlockend. Jetzt würde seine große Stunde kommen.
„Es ist nun endlich bewiesen, Maestro, die Prinzessin Keï und Raen Shari haben ein geheimes Verhältnis!“ Ein triumphierendes Grinsen nicht unterdrückend, wartete er auf die Reaktion von Karbald. Jetzt war Raen fällig!
Doch Karbalds Reaktion, war nicht wie erhofft. Er zog lediglich die Mundwinkel herunter und tippte sich nachdenklich mit seinen Zeigefinger an die Lippen, blieb ansonsten aber stumm.
Sel wurde ungeduldig. „Und? Was sagt Ihr zu dieser unerhörten Enthüllung, Maestro?“
Karbald blickte ihn weiter unbewegt an.
„Das ist doch genau das, was Ihr benötigt, um sie von der Akademie werfen zu lassen, und vielleicht bekommen sie ja noch eine viel schlimmere Strafe“, fuhr Sel nervös fort. „Jetzt haben sie es eindeutig übertrieben, findet Ihr nicht auch, und -“
Karbald hob eine Hand und schnitt ihm damit das allzu aufgeregte Wort ab.
„Schluss damit!“, befahl er streng. „Ich bin deine ständigen unbewiesenen Theorien leid! Ich kann mich nicht mehr länger damit beschäftigen. Ich habe wichtigere Dinge, die auf mich warten.“
„A-aber ich kann es doch beweisen“, stammelte Sel und berührte erneut unbewusst seinen Stumpf, der zu jucken begonnen hatte.
„Ach ja? Wie denn?“
„Nun, ich ..., äh, habe es mit eigenen Augen gesehen, wie sie sich bei uns auf dem Hof geküsst und umarmt haben.“
„Mit eigenen Augen gesehen, so so. Das ist wirklich ein vortrefflicher Beweis! So, wie alle anderen es auch gewesen sind, was? Gehört, gesehen, vermutet - und was war es? Nichts als heiße Luft! Nein, Sel, es ist genug. Du hast mich schon hinreichend in Schwierigkeiten gebracht. Ich kann einen solchen Adlatus nicht gebrauchen, der meinen Ruf schädigt. Du bist entlassen!“
Sel starrte Karbald entsetzt an. Entlassen? Er?
„Aber, Maestro, das könnt Ihr doch nicht machen!“
„Oh, doch!“
„Aber was ist mit Raen und der Prinzessin? Bitte hört mich an. Ich werde Euch einen handfesten Beweis liefern. Einen Beweis, den Ihr auch wirklich verwenden könnt.“ Er flehte den Maestro mit vor der Brust erhobenen Händen an.
Karbalds Blick fiel kurz auf den Stumpf. Er war abfällig.
„Wie willst du eigentlich einhändig das Studium schaffen? Ich meine, die Kurse bei Uberth.“
„Das wird schon irgendwie gehen. Bitte, Maestro!“
„Hinaus!“ Karbald zeigte auf die Tür.
Einen Moment hielt Sel dem Blick des Maestros stand, doch dann senkte er ergeben den Kopf.
„Ist gut“, flüsterte er tonlos und wandte sich um. Mit würgender Enttäuschung kämpfend durchquerte er langsam den Raum und öffnete die Tür. Der Schreiber, der die ganze Zeit still an seinem Pult gesessen hatte und Zeuge dieses Gesprächs geworden war, verfolgte seinen Weg mit den Augen.
In der Türfüllung hielt Sel plötzlich noch einmal inne. Ein letztes Aufbäumen! Ein letzter Versuch! Doch dann überlegte er es sich anders und schloss die Tür hinter sich.
Mit schnellen Schritten floh er aus dem Gebäude zu den Stallungen hinüber. Seine Gedanken kreisten unentwegt nur um das Eine. Er würde den Beweis liefern. Allein schon, um Karbald zu zeigen, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Und vielleicht würde er ihn dann auch wieder in seine Gunst nehmen. Im Kopf bereits wilde Pläne schmiedend ritt Sel schließlich durch die Stadt zurück zum Hytena.
Raen erreichte den Nachbarhof, der beinahe so angelegt war wie das Hytena: Haupttor, Innenhof, links die Küche, rechts die anderen Wirtschafts- und Wohnräume und geradeaus ein zweites Tor, das hinten hinaus auf die Felder und zu den Stallungen führte. Raen betrat das Gemäuer durch das Haupttor und traf auf einen Burschen, der gerade dabei war, die Deichsel eines Heuwagens zu reparieren. Es war einer der Knechte, die hier arbeiteten, und er kannte es bereits, dass die Hy des Öfteren hierher kamen, um ein paar Dinge von ihnen zu kaufen, zumeist Nahrungsmittel.
Der Knecht grüßte und trollte sich sogleich von dannen, um den Bauern zu holen, dessen Familie zu unerwartetem Wohlstand gelangt war, als die Hy vor vielen Jahren den Nachbarhof erstanden und das meiste des dazugehörigen Landes an sie vermacht hatten, damit es nicht brach lag. Seitdem hatten die Hy das Recht auf mehrere Fuhren Heu, Stroh und Hafer im Jahr. Eine gute Vereinbarung für beide Seiten: Die Hy mussten sich nicht um das Land kümmern und bekamen trotzdem Futter für die Pferde, und der Bauer konnte das Land nutzen, wofür er wollte und die Erträge einstreichen.
Raen wartete.
Schließlich kam der Bauer durch das hintere Tor und trat auf ihn zu.
„Gott zum Gruße“, sagte er mit erhobener Hand. „Was kann ich für Euch tun?“
Raen grüßte zurück und fragte: „Ist es wohl möglich, von Euch zwei Maß Roggen zu bekommen, einen halben Laib Käse, den einen Kumpf hier voll Butter und den anderen voll Schweineschmalz?“ Er hielt dem Bauern den Beutel mit den Tongefäßen und den Getreidesack hin. „Vielleicht auch noch ein paar Zwiebeln?“ Er hatte wieder einmal Küchendienst und musste dafür sorgen, dass die Vorratskammer gefüllt war.
„Sicher doch, wartet, ich sage meiner Frau Bescheid.“ Der Bauer nahm Raen den Beutel ab, rief seine Frau aus der Küche, wiederholte die Bestellung, und als sie verschwunden war, wandte er sich wieder an den Hy.
„Viel Regen“, brummte er und nickte gen Himmel.
„Ja, da habt Ihr Recht. War feucht die letzten Tage. Wie war die Rübenernte?“, erkundigte sich Raen.
„Gut, trotz des Wetters. Konnten sogar was davon auf dem Markt verkaufen.“
Raen nickte und warf einen Seitenblick auf den Knecht, der sich wieder an der Deichsel zu schaffen machte.
„Habt Ihr die beiden Kerle gesehen, die zu Euch wollten?“
Raen sah den Bauern mit gerunzelter die Stirn an und verneinte dann.
Da drehte der Bauer seinen Kopf in Richtung des Knechtes und rief: „He, Berto, du elender Nichtsnutz, komm’ her und erzähl’, was sie dich gefragt haben.“
Der Knecht tat, wie ihm geheißen, legte den Hammer beiseite und kam zu ihnen herüber geschlurft.
„Na, da waren zwei Kerle“, begann er zu berichten und kratzte sich dabei unter seiner Kopfbedeckung am struppigen Scheitel. „Die haben nach Eurem Hof gefragt.“
„Was für Kerle?“, hakte Raen nach, etwas Ungewöhnliches witternd.
„Keine Ahnung, die hatten einen schweren, östlichen Akzent. Dunkelhaarig, Bärte.“ Er fuhr sich mit der Hand über das Kinn. „Askharer vielleicht, oder Adjanen. Hatten vornehme Kleidung an und waren auf Pferden unterwegs. Ein Dunkelbrauner und ein Rotschimmel. Schöne Tiere, nicht so ’ne Mähren. Hab’ solch ein Zaumzeug aber noch nie gesehen. War auf der Stirn überkreuz.“ Er zeichnete sich ein imaginäres Kreuz auf seine eigene Stirn.
Also Askharer!, folgerte Raen in Gedanken, denn er hatte jenes Stirnkreuz schon einmal gesehen.
„Und sie haben nach unserem Hof gefragt? Wann war das?“
„Nicht lange, bevor Ihr kamt. Sie wollten wissen, wo sie die Hy finden können, die hier wohnen. Sie hätten eine Nachricht für jemanden.“
Raens Blick verfinsterte sich. Was wollten zwei Askharer ihnen?
„Mir sind keine zwei Männer begegnet. Da war niemand auf der Straße. Keine Seele weit und breit.“
„Sie sind aber in Richtung Eures Hofes weiter.“ Der Knecht hob seinen Arm und deutete nach Norden.
„Hm“, machte Raen nachdenklich. Weder Mensch noch Tier hatte er auf seinem Weg hierher gesehen.
Der Knecht zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Mehr kann ich nicht sagen. Muss jetzt wieder an die Arbeit.“ Er warf einen kurzen, furchtsamen Blick zum Bauern, der verriet, dass er heute wohl schon einen übergezogen bekommen hatte, und schlurfte dann zu dem beschädigten Wagen zurück, wo er den Hammer wieder aufnahm.
„Wenn ich dabei gewesen wäre, hätt’ ich ihm verboten, mit diesem Gesindel zu sprechen!“, wetterte der Bauer, die flache Hand drohend gegen den Knecht erhoben. „Erzählt hätt’ ich denen was, hier herumzustreunern und neugierige Fragen zu stellen!“
„Schon gut. Er wollte ja nur helfen“, bemühte sich Raen, den Mann mit dem gutmütigen, roten Gesicht zu beschwichtigen. Glücklicherweise kam die Frau des Bauern aus der Küche, bevor dieser seinen Knecht noch mehr beschimpfen konnte, und brachte das Gewünschte. Mit einem freundlichen Lächeln händigte sie Raen alles aus.
„Die Zwiebeln schenk’ ich Euch, wir hatten diesen Herbst viele.“
„Vielen Dank.“ Er nahm den Beutel und den gut gefüllten Sack entgegen und bezahlte mit borgossinischen Kupfermünzen die genannte Summe. Der Bauer schloss die Hand darum und bedankte sich ebenfalls höflich.
„Falls das Pack hier wieder auftaucht, werde ich Euch benachrichtigen lassen“, entgegnete er. „Dann kann Berto mal zeigen, welch pfeilschneller Läufer in ihm steckt, nicht wahr?“
Raen sah skeptisch auf den schlaksigen Burschen, der mit seinen ellenlangen Gräten hervorragend zum Apfelpflücken und Heuballenstapeln geeignet war, wohl aber kaum als ausdauernder Läufer taugen dürfte.
„Lasst es gut sein“, erwiderte er, „ich bin sicher, die Angelegenheit wird sich schon noch klären.“ Er verabschiedete sich und verließ den Hof.
Beutel und Sack geschultert schlenderte er zurück zum Hytena. Es war kaum eine Meile bis dorthin, und er ging den Weg gerne zu Fuß, denn die Straße, welche die Höfe miteinander verband, war eine der weniger stark befahrenen. Sie gehörte nicht zu den Hauptadern, die direkt zu den Stadttoren führten und auf denen pausenlos irgendwelche Fuhrwerke hin und her schaukelten. Trotzdem war sie gut ausgebaut, was das Wandern auf ihr beschaulich machte.
Raen blickte in die Ferne, wo er die roten Dächer des Hytena hinter dem undurchdringlichen Wachholder- und Piniendickicht herausragen sehen konnte, das die Sicht auf den Hof von Süden her abschirmte. Links daneben schlossen sich die winterkahlen Wipfel der Obstbäume an und die ebenfalls entlaubten wilden Rosen- und Schwarzdornhecken, welche die Felder voneinander trennten. Der Rest war flaches Kulturland, hier und da frisch gepflügt und ab und an hübsch gespickt mit wegsäumenden Reihen von schlanken, hochgewachsenen Zypressenbäumen und anderen Hofstellen. Weit im Hintergrund begrenzte das grau gezackte Band des Gebirges den bedeckten Himmel, die Gipfel schon mit Schnee bedeckt.
Eine Schar Saatkrähen ließ sich mit dem Wind über Raens Kopf hinweg wehen, und irgendwo blökten Schafe. Sonst war kein sterbliches Wesen zu hören oder zu sehen. Keine Spur von den zwei Askharern.
Raen betrachtete den immer näherkommenden Hof, der seit beinahe drei Jahren seine Heimat war, und ein bedrückendes Gefühl schnürte sich plötzlich um seine Brust. Er mochte das Hytena, lebte gerne hier. Aber er würde all das verlieren, wenn er zurück nach Hy ging. Raen rieb sich das Kinn an der Schulter. Falls er zurück ging ...
Nach den jüngsten Ereignissen war er sich nicht mehr so sicher, was er am Ende des Circulums tatsächlich tun würde. Sicher war nur, dass Suneka auf ihn wartete. Und darauf, dass er sie endlich heiratete. Nur noch wenige Monate trennten sie von diesem lang ersehnten Glück. Wie konnte er überhaupt auch nur in Erwägung ziehen, Suneka das zu verwehren? Wie konnte er auch nur darüber nachdenken, ihr das anzutun, nach alldem, was sie für ihn aufgegeben und erlitten hatte? Würde er überhaupt in der Lage sein, sich von ihr zu trennen? Konnte er den Mut aufbringen, ihr die Dinge, wie sie waren, direkt ins Gesicht zu sagen? Denn wenigstens das war er ihr schuldig: Ehrlichkeit. Aber würde sie ihn verstehen? Nein! Sie hatte zu lange auf ihn gewartet. Sie würde es natürlich nicht verstehen!
Raen seufzte. Irgendwo tief in seinem Herzen spürte er, dass er seine neu gewonnene Unabhängigkeit genoss und dass er sie nicht gerne hergeben wollte. Und was bekam er denn schon dafür im Tausch? Die erstickende Verantwortung für Eheweib und Kinder, einen priesterlichen Freund, der ihn schwer enttäuscht hatte, eine Sippe, die ihn schon immer als eine Belastung empfunden hatte, als ein unliebsames Ärgernis, das ihr beschauliches und ereignisloses Zusammenleben störte, und ein Volk, in das er sein Vertrauen verloren hatte! Wenn er ehrlich mit sich selbst war, so lockte ihn die Freiheit seines jetzigen Lebens mehr als die Aussicht auf das, was ihn zu Hause erwartete. Manoen hatte Recht, sie waren nicht mehr länger ein Teil davon.
Er war so sehr in seine Gedanken vertieft, dass er den Reiter gar nicht kommen hörte, der sich ihm von hinten näherte. Erst als das Geräusch trabender Hufe direkt neben ihm war, alarmierte ihn sein Bewusstsein und ließ ihn mit leicht gebeugten Knien und angespannten Muskeln herumwirbeln - bereit anzugreifen! Seine Augen erfassten den Reiter und fixierten ihn. Aber als er dessen Gesicht erkannte, lockerten sich seine Schultern wieder. Kein bärtiger Askharer kam ihm da hinterher, sondern Sel. Allerdings sah dieser auch nicht wesentlich freundlich gesonnener aus und machte auch keine Anstalten, sein Pferd zu zügeln.
„He, Sel, hast du zufällig zwei Reiter gesehen, die dir entgegengekommen sind?“, fragte Raen ihn und erwähnte vorerst nicht, dass es sich dabei um Askharer handelte. „Auf einem Dunkelbraunen und einem Rotschimmel?“
Sel ritt an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten.
„Sel?“, rief Raen ihm hinterher.
Keine Reaktion.
Verständnislos starrte er dem Einhändigen nach. Bis jetzt hatte er sich viel Mühe mit ihm gegeben und war immer rücksichtsvoll gewesen, aber mit einem Mal wurde er wütend.
„Verdammt, SEL!“, brüllte er und ließ beide Säcke von den Schultern gleiten. „Was soll das?“
Erst jetzt drehte Sel den Kopf.
„Ich habe niemanden gesehen. Wenn es das war, was du wissen wolltest“, gab der ältere Krieger ausdruckslos im Traben über die Schulter und sah dann wieder nach vorn. Zwei Atemzüge später war er bereits auf Höhe des Weges, der zum Hytena abzweigte und bog nach links ab.
Missgestimmt schaute Raen ihm hinterher. „Undankbarer Kerl!“, stieß er leise dabei aus. „Hättest wenigstens den Getreidesack mitnehmen können.“
Er schulterte die Säcke wieder und folgte auf demselben Weg.
In der Küche traf er Manoen, der bei den Vorbereitungen zum Nachtmahl war. Er erzählte ihm von den zwei Askharern, doch der Hüne schüttelte nur den Kopf. Niemand war hier gewesen.
Auch am nächsten Tag gingen Raen die zwei mysteriösen Reiter nicht aus dem Kopf. Auf dem Campo sah er sich ständig um und suchte die Gesichter der Studenten ab. Natürlich passte keines zu der Beschreibung des Knechtes. Vielleicht hatte der sich ja auch bloß geirrt, oder hatte einfach nur Blödsinn erzählt, und dafür eine Tracht Prügel vom Bauern kassiert. Aber was war mit dem Zaumzeug? Es war ein eindeutiger Hinweis. Raen hatte es an den Pferden seiner Feinde gesehen, als er damals von seinem erhöhten Versteck in den Klippen aus den Aufmarsch des askharischen Heeres beobachtet hatte. Und hatte nicht auch das Pferd, mit dem er hinterher zur Mauer geflüchtet war, einen solchen Kreuzriemen am Zaumzeug gehabt? Raen stieß hörbar Luft aus.
„Was ist?“, fragte Manoen neben ihm. „Du bist so still heute.“
„Ach, nichts, ich bin nur noch schrecklich müde.“ Er war wirklich müde. In der Nacht hatte ihn wieder einmal das Blutpferd gequält.
„Dann wirst du bei Uberth gleich wach werden!“
„Hm hm, das fürchte ich auch.“
Sie gaben die Pferde am Stall ab. Dort trafen sie die Prinzessin.
„Guten Morgen, die Herren!“, rief sie fröhlich, ihren Bruder und die beiden Leibwächter wie einen hohen, abweisenden Zaun hinter sich.
„Morgen“, brummte Raen. Wenn ihm früher die ständige Anwesenheit der zwei bis drei dunklen Riesen schlimmstenfalls lästig gewesen war, so empfand er sie heute als überaus störend.
„Er ist müde!“, verriet Manoen und stieß seinen Daumen in seine Richtung.
„Ah, wohl zu viel Wein, Weib und Gesang, was? Hat der Sonntag nicht gereicht, um alle Sünden zu kurieren?“, fragte sie scherzhaft.
„Also, mir schon!“ Manoen zwinkerte der Prinzessin zu.
„Wie kann man nur so früh und dazu noch vor Uberths Lektion so gut gelaunt sein?“, murrte Raen.
„Und wie war Euer Tag des Herrn?“, erkundige sich Manoen bei Keï, ohne auf Raens schlechte Laune zu achten.
Die Prinzessin rollte mit den Augen. „Todlangweilig!“, stöhnte sie.
Raen wusste, dass sie seit letzter Woche eine ohaoudische Delegation bei sich beherbergte, die ihr Vater geschickt hatte, damit sie begutachteten, ob es seinem Töchterchen auch gut ging und um geschäftliche Kontakte mit einigen der borgossinischen Handelsfahrer zu erneuern.
Seitdem hatten sie sich außer an der Akademie kaum gesehen. Noch drei Wochen würden die Abgesandten bleiben, und das trug nicht unbedingt zur Verbesserung seiner Laune bei.
„Der Bürgermeister hatte geladen“, erzählte Keï mit einem weiteren Augenrollen. „Ein kleines Bankett mit den Stadträten und ein paar anderen Würdenträgern. Leider bin ich derzeit die einzige Vertreterin auswärtiger Monarchie in Borgossa, und so hatte ich die Ehre, neben dem Sennore Borgomaestro zu sitzen und mit ihm Konversation zu treiben.“ Sie ahmte ein Gähnen nach und hielt sich dabei eine Hand vor den Mund. „Der Gute ist zwar jemand, der die Geschäfte seiner Stadt ohne Zweifel wohl und geschickt zu lenken weiß, aber ein Mann von Geist und Witz ist er nicht gerade. Und er liebt gutes Essen. War den gebratenen Kapaunen in Soße mehr zugetan als einer Debatte über Einfuhrsteuern auf ohaoudische Waren.“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Auf jeden Fall möchte er meine Delegation am nächsten Sonntag nach dem Gang in die Messe erneut empfangen und weitere Gespräche führen. Ich muss anwesend sein, hat mein Vater befohlen. Stellt Euch vor, er hat eine ganze Kiste voll Briefe mitgeschickt, in denen er nichts anderes tut, als mich herumzukommandieren!“
„Staatsgeschäfte sind nun einmal wichtig!“, mischte sich Bendan ein.
„Ja, ja, schon gut. Du kannst ja für mich hingehen!“
„Nun, äh, ich will ja nicht drängeln, aber wir sollten uns vielleicht langsam in Richtung Übungsplatz bewegen“, erinnerte Manoen sie an die bevorstehende Lektion und unterbrach damit rechtzeitig den heraufziehenden Streit der königlichen Geschwister.
Geschwind begaben sie sich zum Sandplatz, wo Uberth sich mittenauf gepflanzt hatte, bedrohlich mahnend wie ein Kriegsbanner. Missbilligend hob er eine Braue, als die Zuspätkommenden sich einreihten, verbiss sich aber ausnahmsweise jeglichen Kommentar.
Auf sein Zeichen hin verteilten seine Gehilfen an jeden das heutige Trainingsgerät: Eine Mistgabel. Bauernwaffen!
Raen seufzte. Der Tag wurde immer besser.
„Was ist denn das, sollen wir damit etwa die Ställe der Akademie ausmisten?“, feixte einer der Scolarios leichthin, und einige andere lachten.
Uberths Miene verfinsterte sich zu einem Wintergewitter.
„Ich sehe schon, manchen von euch ist dieser Gebrauchsgegenstand nicht standesgemäß genug. Aber eure Überheblichkeit wird spätestens dann ein Ende haben, wenn sich euch die Forke eines Landarbeiters auf dem Schlachtfeld in euern Wanst bohrt! Wie viele hohe Herren wurden in ihrer Arroganz schon von dem sogenannten einfachen Bauerntölpel, der nicht einmal einen Sold für seine Tatkraft erhält, auf besonders unwürdige Weise gefällt? Genug! Und deshalb gehört dieses Gerät hier in unsere Lektion, auch wenn es für einige zarte Händchen eine völlig neue Erfahrung sein sollte. Aufstellung!“
„Was?“, wagte es einer von den Neuen zu fragen.
„AUFSTELLUNG! Aber schnell!“, brüllte Uberth aus vollem Halse, und sein Gesicht nahm die Farbe eines Hahnenkamms an. „In Dreierreihen und marsch!“
Verwirrt taten die Studenten, was ihnen so nachdrücklich befohlen wurde und sie setzten sich mit straffer Körperhaltung, die Forke zu ihrer linken Seite präsentierend wie eine Kriegslanze in Bewegung.
„Und eins - zwei, eins - zwei, eins - zwei!“, schallte es scharf neben ihnen. Uberth hatte die Führung der Strafübung übernommen, ließ die Gruppe mehrmals um den Platz marschieren, wofür sie amüsiertes Kichern und höhnischen Applaus von den zuschauenden Studenten ernteten, und rief dann: „Ganze Abteilung, Haaalt!“
Die Gruppe hielt. Keiner getraute sich, auch nur falsch zu atmen. Starr blickten sie geradeaus.
„Ganze Abteilung, liiiinks um, und erste Reihe abknien! Zweite Reihe Hüftstoß! Dritte Reihe schultern!“
Die nun erste Reihe, in der sich auch Raen befand, kniete sich hin und pflanzte mit einem einheitlichen Schlachtruf ihre Forken vor sich in den Sand, so dass ihre Spitzen drohend auf den imaginären Angreifer zeigten. Die zweite Reihe, zu der die Prinzessin zählte, machte einen Ausfallschritt, richtete die Forken geradewegs nach vorn, den Schaft an die Hüfte gepresst, und die dritte Reihe legte die Forken auf die Schultern ihrer Vordermänner. ‚Stachelwall’ hieß diese Formation, welche normalerweise mit Speeren und Lanzen gegen eine vordringende, feindliche Reiterei eingesetzt wurde.
Die Zuschauer johlten.
Als Uberth schließlich fand, dass seine Studenten genug gelitten hatten, wies er mit dem Zeigefinger in das respektlose Publikum und zog anschließend denselben Finger einmal von links nach rechts über seine Kehle. Eine eindeutige Geste. Sofort verstummten die Zuschauer und sahen zu, dass sie fortkamen.
„Auflösen!“, krächzte Uberth.
Die Gruppe erhob sich und trat mit gesenkten Köpfen und in lockerer Formation vor ihren Maestro.
„Ich hoffe, ein jeder von euch hat nun verstanden, dass auch ein Stachelwall aus Mistgabeln ein ernstzunehmendes Hindernis ist!“
Betretenes Nicken.
„Also, dann können wir die Lektion jetzt ja endlich beginnen. Zu zweit zusammen und gegenüber aufstellen.“
Der Zufall wollte es, dass Raen Keï als Übungspartnerin bekam. Sein Herz jubiliere. Wenigstens etwas, dachte er sich und schickte ein kleines Lächeln zu ihr hinüber. Sie antwortete mit einer herausgestreckten Zungenspitze.
Uberth erklärte ihnen, was sie zu tun hatten, und von da an herrschte konzentriertes Arbeiten auf dem Platz. Zuerst wurde mit Forke gegen Forke geübt, später mit Holzschwert gegen Forke und zum Schluss mit nichts als den bloßen Händen gegen das Bauerngerät. Raen stellte sich bei allen Varianten überraschend geschickt an. Vielleicht, weil er die Mistgabel in seinen Händen gewohnt war, vielleicht aber auch nur, weil er ein gutes Gefühl für sämtliche Stabwaffen hatte.
Zwischendurch genoss er es immer wieder heimlich, kurze, aber sehr intime Worte mit der Prinzessin wechseln. Hier waren sie wenigsten annähernd so etwas wie unter sich. Einmal gelang es ihm sogar, unbemerkt ihr Ohrläppchen mit seinen Lippen zu streifen. Lachend befreite sich die Prinzessin aus der Überwältigung und schlug ihm mit dem Holzschwert vor das Schienbein. Raen jaulte auf. Herzlichen Gruß aus dem Lager der Vorsicht! Einen hübschen blauen Fleck würde das geben.
Er überspielte den Schmerz mit einem schiefen Grinsen und warf einen Blick über die Schulter. Ausnahmslos alle waren beschäftigt, und lange konnte es auch nicht mehr bis zur Siesta sein. Wenn er das loswerden wollte, was in seinem Herzen brannte, dann musste er es jetzt tun. Danach würde er vorerst keine Gelegenheit mehr dazu haben. Nicht in den nächsten drei Wochen. Er drehte seinen Kopf zurück. Vage registrierte sein Bewusstsein eine Bewegung und veranlasste ihn gerade noch rechtzeitig dazu, automatisch seinen Kopf einzuziehen, um dem heimtückischen Schlag auf seinen Hals ausweichen. Instinktiv sprang er zwei Schritte auf seine Angreiferin zu und nahm ihr damit jede weitere Möglichkeit, ihre Waffe zu benutzen. Mit der Mistgabel quer vor ihre Brust gepresst, blockierte er Keï und sah ihr dabei direkt in die Augen. Ihre Nasenspitzen waren sich gefährlich nahe.
‚Was wäre, wenn ich sie jetzt einfach küssen würde? Nur so aus Spaß’, schoss es ihm durch den Kopf. In Wirklichkeit wohl aber eher durch seine südlicheren Regionen. Doch sogleich übernahm sein Norden wieder die Führung. Lass es!, warnte er, und Raen rückte sofort mehrere Handbreit von dem Gesicht ab, das er so leidenschaftlich gerne berührt hätte. Der kühle Norden hatte Recht.
„Keï!“, flüsterte er, ohne seine Lippen merklich zu bewegen. „Ich muss mit dir reden. Allein.“
„Das geht nicht. Ich bin ständig unter Bewachung und habe zudem die Delegation am Hacken. Es muss warten.“
„Ich kann aber nicht warten.“
Er sah, wie sie sich auf die Unterlippe biss.
„Wann und wo?“, drängte er.
„Wir fallen auf.“
„Bitte!“
Ihr Blick wurde weich. „Lass mir etwas Zeit, ich denke mir etwas aus, ja?“
„Gut.“ Er zögerte. „Keï ...“
„Was?“
„Ach, nichts.“ Er rückte von ihr ab und bedrohte sie im Zurückgehen mit den Zinken seiner Forke. Sie hob ihr Schwert und funkelte ihn abwehrbereit an.
„Los!“, sagte sie, und Raen holte aus.
Später begegneten sie sich nur noch einmal, als sie ihre Pferde wieder aus dem Stall holten.
Jeder auf seine eigene Art reserviert, verabschiedeten sie sich voneinander. Raen war enttäuscht. Keïs gegenwärtige Distanziertheit kränkte ihn, obwohl er wusste, welchen Grund es dafür gab. Sie musste sich so verhalten, schließlich wollten sie beide nicht, dass es zu einer Katastrophe kam.
Sein verletzter Stolz protestierte dennoch: ‚Die Prinzessin könnte doch wenigstens ... Ja, was eigentlich? Nichts konnte sie! Sie ist noch mehr zum Stillhalten gezwungen als ich!’ Verdrossen schwang er sich auf Jakoris Rücken. Er war allein. Manoen wollte Reko an seiner Fakultät noch einen Besuch abstatten.
‚Sie musste dir eine Abfuhr erteilen, sieh es doch endlich ein. Es ist viel zu gefährlich für sie, sich mit dir allein zu treffen. Es wäre ein viel zu großes Risiko. Wenn du es nicht abwarten kannst, ihr deine Herzensangelegenheit zu beichten, dann schreib ihr doch einen Brief! Den kann sie lesen, wann immer sie will, und ihn dann hinterher vernichten.’
Das war es! Warum war er nicht schon früher darauf gekommen? Gleich heute Abend noch würde er sich daransetzen. Zufrieden mit dieser vorläufigen Lösung ließ er Jakori locker auf den verwundenen Wegen zwischen den Universitätsgebäuden bis zur Via della Universida traben.
Auf der Hauptstraße lenkte er die Stute nach Westen in die Stadtmitte hinein, anstatt nach Nordwesten zum Stadttor wollte er noch auf den Markt. Eigentlich hatte er seinen Küchendienst seit gestern hinter sich, aber er hatte Baeli versprochen, ihm getrocknete Pflaumen und Aprikosen mitzubringen. Der gewissenhafte Hausvorstand hatte seit einigen Tagen Probleme mit seinem Verdauungstrakt, sprich: Er litt gehörig an Verstopfung. Das Dörrobst sollte Abhilfe schaffen, gleichzeitig aber auch einen Eintopf versüßen, damit alle etwas davon hatten. Wohlgemerkt von den Pflaumen, nicht von der Verstopfung.
Raen erreichte den Marktplatz. Er band Jakori an der öffentlichen Pferdestation an, versprach ihr eine dicke Rübe bei seiner Rückkehr, nahm die Satteltaschen herunter und stürzte sich in das bereits nachlassende Treiben des frühen Abends. Er brauchte nicht lange, um den Stand mit dem Dörrost, Nüssen, Oliven und Säcken voll mit verschiedenen Hülsenfrüchten zu finden. Als er an der Reihe war, ließ er sich einen kleinen Beutel mit Pflaumen und Aprikosen füllen. Er überlegte gerade, ob er auch noch ein Maß Linsen mitnehmen sollte, als sein Blick zwei Pferde streifte, die an den Arkaden hinter dem Stand angebunden waren. Darüber prangte das Schild einer Spelunke, die „Zum geflügelten Schwein“ hieß und sich unter den Arkaden befand. Etwas an diesen Pferden erregte seine Aufmerksamkeit.
„Was soll’s ’n sonst noch sein, mein Herr?“, fragte die alte Marktfrau. Sie trug ein schmuddeliges Kopftuch, dessen Farbe einmal Rot gewesen sein musste.
„Äh, ein Maß Linsen, bitte. Von den roten“, entgegnete Raen, und sein Blick sprang von dem Kopftuch wieder zu den Pferden hinüber, einem Dunkelbrauen und einem Rotschimmel.
Fast hätte er sich mit der flachen Hand vor den Kopf geschlagen, konnte diese allzu dämlich wirkende Geste aber gerade noch unterlassen.
„Die askharischen Pferde!“, flüsterte er stattdessen. Leider hatten ihm die Tiere ihre breiten Hintern zugewandt, so dass er ihr Zaumzeug nicht erkennen konnte.
„Wie meinen?“, fragte die Marktfrau.
„Äh, was?“ Raen sah sie an.
„Hattet Ihr nicht gerade noch was gesagt?“
„Nein.“
„Nun gut, bitte schön, der Herr.“ Die Marktfrau reichte ihm den Sack mit den Linsen.
„Danke, was bin ich Euch schuldig?“ Jetzt aber schnell.
Die Alte überlegte. Lange. Sie war wohl nicht die Beste im Rechnen.
‚Weib, denk dir irgendeine Zahl aus! Ist mir egal, was für eine, aber komm in die Füße!’, drängte Raen sie in Gedanken und schielte wieder zu den Pferden hinüber. Noch waren ihre Besitzer nicht zu sehen. Sie waren wahrscheinlich auch auf dem Markt oder in der Spelunke.
„Sieben graçenische Kupfermark.“
Raen zog seinen Geldbeutel auf. Leider hatte er es nicht passend.
„Hier.“ Er reichte der Marktfrau ein borgossinisches Kupferstück, das zwölf graçenische Kupfermark wert war. Wieder warf er einen hastigen Blick auf die Pferde, während die Frau sich die Münze vor ihre kurzsichtigen Augen hielt. Sie drehte und wendete sie mit der Gemächlichkeit einer Schildkröte, die ein Büschel Gras auf seine Fresstauglichkeit untersuchte.
„Ich bekomme fünf Kupfermark zurück“, sagte Raen ungeduldig.
„Fünf sagt Ihr? Das mag wohl stimmen. Hmm.“ Die Marktfrau begann in einem ebenfalls äußerst schmuddeligen Beutel zu kramen. Sie holte eine Kupfermark hervor, und Raen steckte ihr seine Hand entgegen. Doch anstatt das Geldstück in seine Hand zu legen, hielt sie es sich wieder prüfend vor die zusammengekniffenen Augen.
Raen stieß ungeduldig Luft aus. Da erschienen plötzlich zwei Gestalten neben den Pferden. Er reckte den Hals, und merkte nicht, wie die erste Münze in seine Hand wechselte. Wie vom Donner gerührt starrte er auf die beiden Reiter, die derweil die Zügel ihrer Pferde von den Eisenringen gelöst hatten und aufgestiegen waren. Eine zweite Münze wanderte in seine Hand. Es waren blondbärtige Nordgraçener! Einer der beiden lachte, als sie sich in Bewegung setzten. Die Pferde trugen die kreuzförmigen Stirnriemen. Raen war absolut verwirrt.
Hatte der Knecht sich geirrt mit der Beschreibung? So vertrottelt konnte man doch gar nicht sein, schwarz mit blond zu verwechseln! Noch eine Münze.
Wie kamen die Graçener dann zu den Pferden? Hatten sie sie von den Askharern gekauft oder gar gewonnen? Dergleichen geschah in La Gioia beinahe täglich. Fragen konnte Raen sie nun nicht mehr, denn sie waren fort. Und ihnen in einer Stadt wie Borgossa zufällig wieder zu begegnen, war ungefähr so wahrscheinlich wie zweimal von derselben Wespe gestochen zu werden. Er registrierte die vierte Münze, die in seine Hand gelegt wurde, und sein Blick wanderte zu der Marktfrau.
„Na endlich! Bei Hyaun!“, zischte er ungehalten, als auch die fünfte in seinen Besitz übergegangen war. Er packte das Erstandene in die Satteltasche, kaufte an einem Nachbarstand noch eine Rübe für Jakori und machte sich schnell aus dem Staub.
Im Hytena brachte er seine Stute in den Stall, rieb sie mit trockenem Stroh ab und gab ihr die Rübe. Dann ging er in die Küche, wo er dem reichlich blassen Baeli die beiden Säcke mit Dörrobst und Linsen überreichte.
„Danke dir.“ Baeli nahm sogleich eine Handvoll Pflaumen und aß sie.
„Hoffentlich helfen sie“, sagte Raen.
„Das hoffe ich auch, ich fühle mich wie ein verstopftes Abflussrohr kurz vorm Bersten.“ Er schüttete noch einen Becher Wasser hinterher. Raen sah den Hausvorstand besorgt an.
„Wenn es nicht besser wird, dann gehst du zu einem Medicus, ja?“
„Ich soll zu einem dieser Quacksalber gehen?“
„Die sind genauso gut, wie die Medizi bei uns zu Hause.“
„Ach, und deshalb hast du auch Sel hierher geschafft, anstatt ihn in das Hospitale zu bringen?“, versetzte Baeli gereizt.
„Nein, das hatte einen anderen Grund. Ich hatte gedacht, es sei besser, ihm das Gefühl zu geben, dass wir alle zusammenhalten. Wir: Das Hytena!“
„Und? Was denkst du jetzt? War es das, was Sel brauchte?“
Raen sah Baeli an. Er schien sich sehr zu quälen. Schweiß stand auf seiner Stirn, und Strähnen seiner langen, dunkeln Haare klebten daran. Womöglich hatte er schon Fieber.
„Niemand weiß, was Sel braucht“, entgegnete er schließlich monoton.
„Ich kann dir aber sagen, was erbraucht! Nichts als Streit und die Gelegenheit, sich aufzuspielen und dabei möglichst noch andere in den Dreck zu ziehen. Das gibt ihm erst die rechte Befriedigung!“ Baeli hatte diese Worte förmlich ausgespuckt, und Raen war überrascht von dem Abscheu in dessen Stimme. Was hatte Sel ihm getan?
„Und wenn es nach mir ginge, so hätte ich ihn schon längst zum Teufel gejagt! Er gehört nicht hierher. Ein solcher Mensch, der aus dem Leiden anderer seinen Lebensgeist schöpft, ist ein giftiger Dorn in unserem Fleische, den es zu entfernen gilt!“
Raen überlegte, ob die heimische Priesterschaft auch derartige Bezeichnungen für sie benutzt hatte, als es darum ging, sie fortzuschicken.
„Er ist ein Hy, genau wie du und ich!“, warf er mit strenger Miene zurück.
„Pah“, Baeli verzog kurz das graue Gesicht und presste sich eine Hand auf den Unterleib. „Er ist ein gottloser und durchtriebener Mistkerl, aber bestimmt keiner mehr von uns! Ich werde einen Palan einberufen und darüber abstimmen lassen, ihn fortzuschicken!“
‚Welch aberwitzige Laune des Schicksals!’, dachte Raen bitter. Erst wurde Sel von zu Hause entfernt und jetzt wollte man ihn auch noch aus Gemeinschaft der Ausgestoßenen verbannen!
„Ich bin mir nicht sicher, ob wir das tun sollten“, hielt er noch immer dagegen, weil sein Gewissen es von ihm verlangte. ‚Warum setzt du dich nur für diesen verkorksten Hund ein?’, fragte jene andere Stimme in ihm, die zu seiner von Furiosa beeinflussten Seite gehörte. ‚Weil ich mich nicht mit demselben Delikt an ihm schuldig machen will, für das ich die anderen zu Hause verurteile!’
Das klang vernünftig. Zumindest für ihn selbst.
„Sel hatte bereits genug Chancen“, brachte Baeli mit hartem, endgültigem Tonfall hervor. „Der Palan wird am Sonntag stattfinden, dann werden wir sehen, wie der Rest von uns darüber denkt. Vielleicht finden sich ja noch weitere, derart edelmütige Fürsprecher wie dich.“
Raen schüttelte verständnislos den Kopf. Baelis Sarkasmus störte ihn. Auch wenn er Sel an machen Tagen dutzendfach das Fieber an den Hals gewünscht hatte, so war er sich doch sicher, dass es falsch war, ihn fortzuschicken. Denn dann würden sie nicht besser sein als jene, denen sie es zu verdanken hatten, dass sie alle hier waren. Es musste eine andere Lösung geben.
„Nun gut, Baeli, tu, was du für richtig hältst. Aber du kannst davon ausgehen, dass ich dagegen sein werde.“
Baeli senkte den Blick und schloss kurz die Augen. Dann nickte er betrübt. „Dass gerade du mir in den Rücken fällst, enttäuscht mich.“
Noch bevor Raen etwas darauf erwidern konnte, drehte der kranke Hausvorstand sich um und widmete sich wieder der Vorbereitungen für das Essen. Raen stierte verärgert in seinen Rücken, doch Baeli ignorierte ihn schlichtweg, ganz versunken in seine Arbeit.
‚Wie du willst, mein Freund! Wir sprechen uns beim Palan!’, warf er ihm in Gedanken an den Kopf, machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Küche, dabei sah er nicht mehr, wie der Hausälteste sich unter dem Schmerz, der sich in seinem Unterleib zu manifestieren begonnen hatte, zusammenkrümmte.
Raen ging hinauf in sein Zimmer. Er wollte sich erfreulicheren Dingen zuwenden. Er schloss die Tür, entzündete ein Öllicht und setzte sich an den kleinen Tisch, den er vor ein paar Wochen angeschafft hatte, um daran sein Wörterbuch zu bearbeiten. Das harrte noch seiner letzten Vervollständigung , nämlich einer Liste mit den Wörtern, die es in Hy nicht gab und dem Versuch, ihnen einen hyaunischen Namen zu geben.
La Furiosa stand da unter anderem, übersetzt in „In der Brust siedendes Blut“, und Le Rage, „Zehrender Wunsch nach Zerstörung“.
Doch sein liebstes Wort war nach wie vor Vendetta - Rache. Und diese Liste, in der er das Unaussprechliche für jeden in seiner Heimat aussprechbar machte, würde seine Vendetta an Loenkas Untreue sein. Er würde diese Liste verbreiten - heimlich oder offen, das war ihm egal. Er war ja bereits ein Verurteilter. Es gab nichts mehr zu verlieren.
Er räumte die Schreibarbeiten beiseite und holte aus einem Holzkasten ein neues Papier hervor. Er wählte eine noch frische Schreibfeder, tauchte sie in das Tintenglas und setzte sie an. Er zögerte, setzte sie wieder ab und starrte auf den Fleck, den die Feder hinterlassen hatte. Was genau wollte er eigentlich schreiben?
Vendetta!
Nein, das war eine ganz persönliche Abrechnung, die nur ihn und sein Volk etwas anging. Davon würde sie niemals etwas erfahren, denn er wollte nicht, dass sie wusste, welch Abgründe des Abscheus in ihm brodelten.
Er strich sich mit der Feder nachdenklich am Kinn. Eine Erinnerung an schüchterne Berührungen überkam ihn; der Geruch nach teurem Lavendelöl und dunkler Haut an heißen Tagen. Unwillkürlich schloss er die Augen. Er sah sie direkt vor sich, ‚sein’ Lächeln auf ihren Lippen, und aus den Augen so schwarz wie zwei tiefe Seen, auf denen sich das Sonnenlicht spiegelte, funkelte ihm ihr ungezähmtes Temperament entgegen. Oh, sie liebte es, ihn zu provozieren, verstand es, ihn zu reizen. Still lächelte er vor sich hin. Mit einem Mal wusste er mit felsenfester Gewissheit, dass er diese Frau überall hin begleiten würde, wenn sie ihn nur darum bäte. Für immer wollte er an ihrer Seite sein, auch wenn er alles andere dafür aufgeben musste. Er öffnete die Augen und blickte wieder auf den Tintenfleck. Er hatte die Form einer Pfeilspitze. Etwas Goldenes blitzte in seiner Erinnerung auf. Doch es war zu tief drinnen, zu weit entfernt von dem, was er ihr zu sagen hatte.
Er tauchte die Feder erneut ein und begann zu schreiben.
Als er wenig später fertig war, zögerte er. Vage Zweifel riefen nach ihm wie aus weiter Ferne. War das, was er tat, richtig? Er las die letzte Zeile. Und nicht nur in seinen Gedanken wiederholten sich diese vier graçenischen Worte immer wieder, auch sein Herz hatte sie bereits zu seinem Credo auserkoren. Raen seufzte und fasste sich an seine Brust als hätte er dort Schmerzen, und in gewisser Weise war es ja auch so.
‚Dieser Brief wird ersetzen, was meine Zunge nicht auszusprechen wagt’, dachte er und faltete das Papier bedächtig zu einem Rechteck, so klein, dass er es unauffällig in seiner Hand verschwinden lassen konnte.
Intim’ amora par sémpre.
Er hielt das grüne Siegelwachs - für die Farbe Rot war er immer noch zu abergläubisch - über die Flamme der Öllampe, ließ dann einen großen Tropfen auf dem Brief aus und drückte sein Siegel hinein, das er sich vor einiger Zeit zugelegt, aber noch nicht oft gebraucht hatte. Es zeigte in einfach gehaltener Gravur den Buchstaben R des graçenischen Alphabets.
Schließlich saß er da und sah auf den Brief hinab, der vor ihm auf der Tischplatte lag. Er hatte ihn aus Vorsicht nicht unterschrieben, aber das Siegel würde der Prinzessin sagen, wer der Verfasser war. Für alle anderen aber war es lediglich der Abdruck eines Siegelsteines, wie man ihn in Borgossa an jeder Straßenecke kaufen konnte.
Doch wann und wo würde er ihr den Brief geben können, ohne dass ihr Bruder oder einer ihrer verdammten Leibwächter es mitbekam? Die Akademie schied schon einmal aus, dort war die Gefahr zu groß, dass jemand den Brief in die Finger bekam, gewollt oder ungewollt, das war in diesem Falle einerlei. Bei ihr in Nuovo Çirco vorbei bringen? Nein, dort war im Moment zu viel los. Die ganze Delegation war in der Kaufmannsvilla einquartiert und kein Zimmer mehr frei. Dort ging es mit Sicherheit zu wie in einem Taubenschlag, und es würde schwer für sie sein, eine ruhige Gelegenheit zu finden, um seine Botschaft lesen und auch vernichten zu können.
Raen nahm den Brief in die Hand. Er wog fast nichts, und doch waren die Worte in ihm folgenschwer.
„Geh kein Risiko ein und warte, bis dir etwas einfällt“, sagte er leise zu sich und sah sich im Zimmer um. „Nur, wo lasse ich ihn bis dahin?“
Seine vier Wände waren zwar weitgehend sicher, zumindest vor dem Zutritt Außenstehender, aber man wusste ja nie. Erst recht, wenn sich hier jüngst merkwürdige, askharische Gestalten herumgetrieben hatten.
Sein Blick streifte seine Truhe. Viel zu offensichtlich! Er wanderte weiter, über seine gesammelten Studienutensilien, sein Bett und den Rest seiner wenigen Habseligkeiten. Da kam ihm eine Idee, dieselbe, die sein Vater vor sehr langer Zeit einmal gehabt hatte.
‚Ich verstecke ihn in der Scheide meines Leichtschwertes. Da kommt keiner drauf.’
Raen holte das Seis von den zwei Holznägeln, die es über seinem Bogen und seinem Breitschwert an der Wand hielten, und streifte die Schutzhülle aus dunklem Stoff ab. Die goldenen Beschläge auf der Holzscheide und am Griff schimmerten hell. Lange hatte er diese Waffe nicht in der Hand gehalten, da er immer nur mit dem Breitschwert übte. Zu umständlich war es, die Kontroll- und Versiegelungsprozedur an den Stadttoren für zwei Schwerter ständig durchzuführen zu lassen. Deshalb hatte er sich für eines entschieden. Und das zweischneidige Breitschwert hatte ihm schon immer besser gelegen, als das gebogene, einschneidige Seis. Das tat es auch jetzt noch, obwohl er mittlerweile in den vielfältigsten Waffengattungen ausgebildet war.
Er wollte das Leichtschwert aus seiner Scheide ziehen, bemerkte aber die noch intakten Siegel. Er überlegte, dachte an die ewige Warterei am Stadttor. Dann entschied er sich anders, es würde auch genügen, den Brief mit in die Stoffhülle zu packen. Dort würde auch keiner suchen, und außerdem bedeutete suchen auch, dass jemand etwas von der Existenz dieses Briefes ahnte. Aber Raen hatte nicht einmal vor, Manoen davon erzählen. Der würde ihn sowieso wieder nur dafür schelten.
Er ließ den Brief in die Hülle gleiten, steckte das Schwert dazu, band die Hülle zu und legte das Ganze wieder auf die Holznägel.
Par sémpre.
Den Rest des Abends verbrachte er mit Manoen. Sie sprachen über Baelis Ankündigung, den Palan zusammenzurufen, und darüber, auf welche Seite sie sich schlagen wollten.
Noch vor dem Sonntag überschlugen sich die Ereignisse. Doch zunächst einmal verlief die Woche überraschend gut. Keï stellte Raen bei den Delegierten als herausragenden Schwertkämpfer und besonderen Leibwächter für die Stadtgänge vor, und die ohaoudischen Gesandten waren angenehm erfreut über den höflich reservierten Hy, der ihnen eher wie ein waffentauglicher Mönch erschien, der sein Leben dem Weg des Schwertes gewidmet hatte, als ein liebestoller Draufgänger. Sie dankten ihm sogar für seinen Dienst, den er zur Erhaltung der prinzlichen Unversehrtheit geleistet hatte, als er Keï vor einem möglicherweise verheerenden Sturz in dem dichten, nachmittäglichen Straßenverkehr Borgossas bewahrt hatte.
Erfreut und erleichtert war auch Keï über die Reaktion ihrer Landsleute, denn sie hatte befürchtet, sie würden Raen nicht akzeptieren, weil er ein Ausländer war, und Ausländern konnte man generell nicht trauen. Glücklicherweise galten die Hy für die Ohaoudis als neutrale, zwar etwas naive, aber durch und durch asketische und wortfeste Wesen, und Raen hatte sich als integer und zuverlässig erwiesen.
Leider war dieses Treffen höchst offiziell gewesen, und Raen und Keï war es nicht gelungen auch nur ein heimliches Wort zu wechseln. Selbst für vielsagende Blicke war kaum Gelegenheit gewesen.
Als Raen ihr Haus am Abend verließ, hatte er eine Ahnung davon bekommen, wie ein Leben an ihrer Seite aussehen würde. Sie hatte ihre Pflichten zu erfüllen, würde sogar irgendwann einen anderen Mann heiraten, einen ohaoudischen Fürsten, und wenn es an der Zeit war, würde sie die Krone ihres großen Landes auf ihr Haupt gesetzt bekommen. Da war kein Platz für ihre Liebe. Selbst die Heimlichkeit wäre ein viel zu enger und bedrohter Raum, um darin Gefühle austauschen zu können.
Raen ahnte, dass er einen Fehler machte, wenn er seine Liebe und sein Leben an diese Frau hängte, die für immer unerreichbar für ihn bleiben würde, aber er konnte nicht anders. Es war zu spät. Ein unsichtbares Band, so stark wie Schiffstaue, verband ihn bereits mit ihr. Und er wusste, dieses Band zu kappen, war so gut wie unmöglich ... weil er es nicht wollte. Er wollte es nicht! Oh, wie das klang, und wie gut sich das anfühlte, einen eigenen Willen zu besitzen!
Darüber hinaus hatte er ja schon immer das Talent besessen, sich vorzugsweise in besonders schwierige Situationen hineinzubegeben, dachte er leichthin und machte sich auf den Heimweg, sei es aus eigenem Willen oder aus reinem Instinkt. Das war sein Schicksal. Und seinem Schicksal konnte man bekanntlich nicht entrinnen.
„Bravo, Raen, endlich hast du es verstanden!“, raunte die ihm wohl bekannte Stimme des Blutpferdes in sein träumendes Ohr.
„Was heißt, verstanden“, antwortete er selbstbewusst, „sagen wir, ich habe es akzeptiert. Das Schicksal ist unabänderlich.“
„Willst du nun, dass ich dir die Zukunft zeige?“
Raen überlegte. Eigentlich wollte er es nicht. Aber auch das Blutpferd gehörte nun einmal zu seinem Schicksal.
„Gut, zeig mir, was als nächstes passiert, aber nicht mehr, ja?“
„Ich könnte dir sowieso nicht alles zeigen“, lachte das Blutpferd mit seinem Menschenkopf freundlich. Es hatte sich wieder etwas weiter verändert. Seine beiden Vorderhufe waren jetzt zu Händen und die Hinterhand zu menschlichen Füßen geworden. Es sah immer grotesker aus!
„Steig auf“, forderte es ihn auf, und Raen schwang sich ohne zu zögern auf seinen Rücken, wie er es schon als Kind immer getan hatte.
„Und halt dich gut fest!“ Noch im gleichen Moment sprang das Pferd los und stieß durch die Baumkronen des Waldes in den hellen Morgenhimmel. Weit über der langsam erwachenden Landschaft dahin rasend, nahm es noch an Fahrt auf, und nach einem zähen Ruck löste es sich vom Strom der Zeit und überholte ihn schließlich. Wie eine Möwe vor einem Schiff flog das Blutpferd der Zeit voraus, die sich tief unter ihren Füßen als flimmerndes Band aus bunten Bildern dahin schlängelte.
Raen sah fasziniert hinab. Das war also das Reich Al Nors, dem Hüter der Zukunft, dachte er. An einigen Stellen verzweigte sich das Band plötzlich und strömte in verschiede Richtungen davon, vereinte sich wieder mit neuen Flüssen und änderte erneut seine Richtung. Ein ganzes Netz aus Zeitströmen entstand. Ein Netz? Raen blickte nach vorn und erschrak so heftig, dass er beinahe den Halt verloren hätte.
Eine Spinne so groß wie ein Berg stakste mit ihren acht Baumstammbeinen und ihrem fetten, gemusterten Leib inmitten durch die zarten Ströme aus Zeit. Und jetzt erst erkannte er es. Es waren keine Ströme, es waren Fäden! Lebendige, dicke, sich windende Fäden, die sie spann. Sie! Zaizura!
Raen starrte das riesige Wesen mit offenem Mund an. Zaizura in Gestalt einer Spinne. Er träumte, er träumte wirklich.
Ein Faden kam direkt aus dem Leibesende der Spinne und verehelichte sich mit einem anderen aus dem Netz. So ging es in einem fort. Zaizura spann und spann. Zwei ihrer Hinterbeine legten den Faden mal hier- und mal dorthin. Und Raen gewahrte seinen Irrtum. Es war Ihr Reich, nicht das Al Nors.
Das Blutpferd flog zwischen den gigantischen Stelzenbeinen der Spinne hindurch, und kurz erfasste sie der Schatten ihres Leibes. Raen sträubte sich jedes einzelne Nackenhaar.
„Wann sind wir denn endlich da?“, flüsterte er furchtsam, doch das Pferd unter ihm antwortete nicht. Es raste weiter dahin, unter dem Leib der Spinne hervor und an ihrem mit zwei giftigen Fängen bewehrten Kopf vorbei.
Raen wandte seinen Blick ab, als die sechs, schwarzen Augen Zaizuras ihn erfassten. Die tödliche Kälte traf sein Herz wie ein Schwerthieb. Sie sah alles.
Ein schriller Laut wie einen wütender Aufschrei ertönte, und Raen sah, dass eines der massigen Beine auf ihn zu sauste, als wollte es ihn und sein Reittier zermalmen.
Doch das Blutpferd ändere abrupt seine Richtung.
„Sie mag es nicht, wenn man in ihr Reich eindringt!“, rief es und warf sich erneut herum.
Das Bein verfehlte sie und schmetterte mit einem ohrenbetäubenden Krachen weit unter ihnen auf die Erde. Das Netz der Zeit vibrierte.
„Jetzt weiß ich, wer du bist! Du ... du bist Al Nor!“, schrie Raen, verblüfft über seine eigene Erkenntnis in dem Getöse dem Pferd zu.
„Bravo, Raen! Nun bist du wirklich soweit. Festhalten!“
Mit aller Kraft musste er sich in die Mähne krallen, um bei dem rasanten Abwärtsflug auf dem Rücken zu bleiben.
„Da ist es!“ Wie ein Eisvogel streckte das Pferd sich und tauchte schließlich mitsamt seinem Reiter in einen der Zeitfäden ein.
Was Raen dann sah, ließ ihn noch mehr erschauern als der Anblick Zaizuras, und für einen Moment wünschte er sich, dies möge nicht der Blick in die Zukunft sein, sondern tatsächlich nur ein dummer Traum.
Es sah das Hytena. Es brannte.
Dann wachte er auf.
Die Gänsehaut und der kalte Schweiß aus dem Traum bedeckten auch jetzt noch seinen ganzen Körper. Fröstelnd zog sich sein Herz zusammen.
In die Zukunft zu blicken, war ein Fluch!, dachte er. Was nützte es ihm, zu wissen was passieren würde, wenn er nicht wusste, wann und weshalb? Damit er es gegebenenfalls verhindern konnte. Oder sollte er es gar nicht verhindern? Warum aber zeigte dann Al Nor ihm die Zukunft?
Raen fand keinen Rat, und da es sich auch genauso mit dem Schlaf verhielt, stand er schließlich auf und ging vor die Tür. Es war noch tiefste Nacht. Gegen die kühle Luft zog er sich eine Jacke über, stieg dann, ohne ein Licht zu entzünden, die Treppe hinunter und durchquerte den Hof. Er bemerkte nicht, wie ein flinker Schatten hinter ihm die Stufen herunter glitt und sich in anderer Richtung aus dem Haupttor davonmachte.
Raen verließ den Hof durch das hintere Tor und verschwand auf dem Abort neben dem Misthaufen. Nachdem er sich erleichtert hatte, wusch er sich am Brunnen Hände und Gesicht und wanderte wieder zurück in den Innenhof. Dort betrat er durch die niedrige Tür linkerhand unter der Treppe den kleinen Gebetsraum. Erst jetzt entzündete er ein Licht und stellte es auf den Altar vor die Statue Hyauns. Die Blattgoldschicht auf dem geschnitzten Holzgesicht des Gottes schimmerte sanft. In einer Räucherschale brannte er etwas Melam ab und schlug anschließend eine kleine Messingglocke an. Der helle Ton schwebte gemeinsam mit dem Rauch zur Decke hinauf. Ehrfürchtig verneigte Raen sich und setzte sich dann mit überkreuzten Beinen auf die flache, gepolsterte Bank. Er legte die Hände aneinander, schloss die Augen und sog mehrmals den Geruch des Melams ein. Dann begann er mit gesenkter Stimme ein Gebet zu sprechen.
Es war wie früher, wenn er schlecht geträumt hatte und dann nachts in den Tempel gegangen war, um mit Ihm zu sprechen. Er gab ihm tiefe, innere Ruhe und das Gefühl von Geborgenheit. Und auch jetzt konnte er deutlich Seine Gegenwart spüren, so wie er die Gegenwart von Zaizura und Al Nor in seinem Traum gespürt hatte. Auch sie waren wirklich und wahrhaftig!
Nach dem Gebet verfiel Raen in das Mani ensei, das erleuchtende Wort, einem monotonen Singsang aus uralten, heiligen hyaunischen Formeln, welche bei jeder Zeremonie stets die Meditation einleiteten.
Bald war sein Geist eingebettet in den friedlichen Zustand der Versunkenheit.
An diesem Tag geschah, was geschehen musste.
Nachdem Raen nachmittags nach der Lektion nach Hause kam, wirkte das Hytena seltsam verlassen.
„Hallo, jemand da?“, rief er, aber niemand antwortete. Dass absolut keiner da war, war wirklich ungewöhnlich. Normalerweise verließen sie den Hof nie alle auf einmal. Einer war immer da und das war in letzter Zeit Sel gewesen. Doch Sel hatte nicht auf seiner Rast hinterm Haus gesessen.
Raen bekam ein ungutes Gefühl. Schnell eilte er hinauf in sein Zimmer. Was, wenn die Askharer bei Gelegenheit hier herumgeschnüffelt hatten?
Er stieß die Tür auf. Alles schien an seinem Platz zu sein wie immer. Sein Blick fiel auf das Seis an der Wand. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Etwas daran war anders. Er nahm das Schwert von den Nägeln. Die Schleife! Aber er hatte keine Schleife gemacht, um die Stoffhülle zu verschließen. Hastig tastete er nach dem Brief.
Er war nicht mehr da!
Panisch riss er die Stoffhülle vom Schwert und wendete sie von innen nach außen. Er war tatsächlich weg!
„Verdammt!“, stieß er aus. „Das kann doch nicht sein.“
„Suchst du das hier?“
Raen fuhr herum.
Sel stand in der Tür und wedelte mit dem Brief.
Das Siegel war erbrochen. Raen spürte, wie die Wut glühend in seinem Bauch explodierte und danach setzte sein Denken aus. Wie ein Stier, das rote Tuch vor Augen, rannte er auf Sel zu, und im nächsten Moment lagen sie auch schon auf den Bohlen der Galerie und kämpften erbittert um den Fetzen Papier.
Sel, obwohl nur einhändig, wehrte sich mit all der verzweifelten Kraft eines Mannes, der mit dem Rücken zum Abgrund stand. Der Brief war seine einzige Möglichkeit, eine Passage zurück in sein altes Leben als Karbalds Adlatus zu bekommen, und er wollte ihn offensichtlich mit allen Mitteln verteidigen.
Wie eine schlüpfrige Schlange wand er sich unter Raen und rammte ihm schließlich den Stumpf seines rechten Armes ins Gesicht. Es gab ein unschönes Geräusch, und Raen heulte überrascht auf. Seine Hände fuhren an seine Nase. Sel nutzte das Innehalten seines Angreifers indes und warf ihn wie ein bockendes Pferd von sich ab. Schnell kam er auf die Beine und wollte davonlaufen, doch Raen umschlang seine Beine mit beiden Armen und brachte ihn mit Gewalt erneut zu Fall.
Hart schlug Sel mit dem Kinn auf das Holz auf, und Raen hörte, wie einer seiner Zähne splitterte. Jetzt schmeckte auch Sel das Blut, dachte er grimmig.
Mit einem schrillen Schrei wollte dieser sich herum rollen, da konzentrierte Raen sein volles Körpergewicht auf seine Ellenbogen und ließ sie in Sels Rücken krachen, trieb ihm damit die letzte Luft aus den Lungen.
Er schloss eine Hand um Sels Faust, in welcher der Brief stecke, und zerrte daran. Doch er bekam die Finger nicht auseinander, so eisenhart waren sie geballt.
Sel hatte derweil wieder neue Luft zum Schreien. Verzweifelt strampelte er mit den Beinen und versuchte, sich mit dem Stumpf hochzustemmen.
Doch plötzlich ließ Raen von seiner Faust ab und ging dazu über, wie wild auf seinen Kopf einzudreschen.
Wiederholt schlug Sel mit dem Schädel auf die Bohlen, und Raen fühlte den Unterlegenen vor Schmerz zusammenzucken. Nur noch ein Wimmern drang aus dessen Kehle, während er immer und immer wieder die Faust auf dessen verhasste Visage niedersausen ließ.
Für einen Moment schien es, als würde Sels Griff um den Brief schwächer werden, doch der verzweifelte Rivale mobilisierten all seine letzten Kräfte und spannte seine Faust wieder fester um das Papier. Weiß traten seine Fingerknöchel hervor.
„Wenn du lieber sterben willst, anstatt ihn freizugeben, dann bitte!“, knurrte Raen und holte erneut zum Schlag aus.
In diesem Moment kam ein verschlafener Manoen aus seinem Zimmer, um nachzusehen, was es mit dem Radau vor seiner Tür auf sich hatte. Er reagierte erstaunlich schnell.
Schon war er bei den beiden Kämpfenden, packte Raen von hinten und zerrte ihn hoch.
Der wehrte sich seinerseits, doch gegen Manoens Bärenkräfte kam er nicht an. Außer sich vor Wut trat er nach seinem Freund, damit er ihn wieder losließ, doch der stählerne Griff des Rotschopfes lockerte sich keinen Fingerbreit.
„Bist du von Sinnen! Du schlägst ihn ja tot!“, brüllte Manoen ihn an.
„Lass mich! Lass mich los, verdammt noch mal! Er hat den Brief!“, schrie Raen und versuchte, auf diesem Wege wieder freizukommen. Doch er wurde weiter von Sel fortgezogen. Sofort schlug er wieder um sich. Erst eine harsche Kopfnuss brachte ihn schließlich zum Einhalten.
Mit schwirrendem Schädel sank Raen auf die Knie.
„M-Manoen, der Brief“, leierte er, hob die Hand und zeigte auf Sels Faust.
„Du hältst jetzt die Schnauze!“, fuhr der Hüne ihn wütend an und rief dann: „Taghat! Taghat, komm sofort hierher und hilf mir!“
Doch Taghat kam nicht.
„Wo zum Teufel steckt der wieder? Ich weiß, dass er hier ist“, knurrte Manoen grimmig, und nachdem er sich vergewissert hatte, dass Raen immer noch an seinem Platz war, kniete er sich neben Sel nieder, der noch immer mit dem Gesicht nach unten dalag. Vorsichtig legte er ihm eine Hand auf dessen Schulter und drehte in herum.
„Oh, bei Hyaun!“, entfuhr es ihm, als er in das zu blutigem Brei geschlagene Gesicht schaute.
Doch noch mehr beunruhigte ihn das unheimlich Grinsen mit dem abgebrochenen Schneidezahn, das ihm dieses zerstörte Gesicht entgegen bleckte.
„Sel?“ Manoen winkte vor dessen Augen. „Hörst du mich?“
„Manoen, der Brief! Nimm ihn. Bitte!“ Raen kam langsam wieder zu sich. Mit einer Hand am Kopf tastete er sich auf die Beine.
„Du bleibst, wo du bist!“ Manoen warf ihm einen wirklich drohenden Blick zu, doch Raen ignorierte es einfach und kam weiter mit ausgestreckter Hand auf Sel zu gewankt.
„D-Der Brief. Ich brauche den Brief.“ Seine Stimme klang abwesend, und seine Pupillen waren klein wie Nadeleinstiche und starr auf Sels Faust gerichtet.
„Raen! Ich warne dich, bleib stehen!“
Aber Raen blieb nicht stehen. Er erreichte schließlich Manoen und wollte sich zu Sel hinunter beugen. Da zischte etwas Silbriges durch die Luft.
Doch bevor es das gewünschte Ziel treffen konnte, schloss sich Manoens Hand wie eine Schmiedezange um Sels Handgelenk und stoppte das Messer auf halbem Wege zu Raens Brustkorb. Mühelos entwand er ihm die Klinge, während sein eiskalter Blick ihn durchbohrte. Das Messer fiel mit einem dumpfen Laut auf die blutgesprenkelten Holzbohlen.
Raen stand da wie in Trance und gaffte die beiden an. Eine Weile war alles still, keiner von ihnen rührte sich. Nur in den Augen von Sel flackerte es.
Dann war es Manoen, der sich als erster rührte. Er ließ von Sel ab, nur schwer seinen Abscheu verbergend, und erhob sich. Das Messer stieß er mit dem Fuß weit fort. Wortlos ergriff er daraufhin Sels Faust, holte das zerknüllte Papier daraus hervor und hielt es Raen hin.
Raens Finger schlossen sich darum.
„Danke“, flüsterte er, wich aber dem stummen Vorwurf im Blick seines Freundes aus.
Der richtete sich auf und forderte ihn matt auf, ihm zu helfen und Sel in sein Zimmer zu bringen.
Nur widerwillig packte Raen mit an, und sie schleiften Sel, der zwar bei Bewusstsein war, sein Geist aber weit fort zu sein schien, auf sein Lager.
„Morgen ist der Palan, und danach schicken wir ihn weg! Zurück nach Hy oder sonstwohin, das ist mir egal, Hauptsache, er nimmt sein Päckchen und geht!“, sagte Raen giftig, als sie kurz darauf die Tür zu Sels Zimmer von außen verriegelten.
„Ich dachte, du willst nicht so sein wie die anderen?“, erwiderte Manoen bissig.
„Ich habe meine Meinung soeben geändert!“
„Du hast ihn provoziert!“
„Ach was. Er wollte mich abstechen!“
„Ich will gar nicht erst wissen, was in diesem Brief steht.“ Manoen zeigte auf Raens Brust, wo sich unter der Jacke das hart umkämpfte Stück Papier befand. „Aber es muss jener Inhalt gewesen sein, der Sel zu diesem Verhalten veranlasst hat. Was auch immer du geschrieben hast, Raen, es hätte euch beinahe dazu gebracht, euch gegenseitig umzubringen!“
Vorgetäuscht schuldbewusst stierte Raen in den Hof hinab.
„Ich gebe dir einen guten Rat: Lass diesen Brief verschwinden, bevor er noch mehr Unheil bringt!“
Er nickte kaum merklich.
„Und jetzt lass mich mal deine Nase sehen.“
Der Jüngere hob den Kopf, und Manoen untersuchte den unansehnlich angeschwollenen Zinken.
„Hm, hübscher Knick! Wird dich bei den Frauen nicht unbedingt attraktiver machen. Soll ich es richten?“
„Aber nur, wenn ich vorher etwas von dem Wermutwein kriege.“
„Feigling! Na los, komm mit.“
Sie gingen hinunter in die Küche.
Taghat, der während des Tumultes die ganze Zeit über verschreckt in einer Ecke gekauert hatte, fuhr regelrecht zusammen, als die beiden zur Tür herein kamen.
„Hier also hast du dich versteckt! Hast du mich denn nicht rufen hören?“, fragte Manoen ungehalten.
„Doch, aber ...“
„Aber du hattest die Hosen voll!“
Taghat sah von Raens blutiger Nase zu Manoens rotem Gesicht und nickte.
Der Rotschopf rollte mit den Augen. „Bei allen Göttern, die von dort oben seelenruhig zusehen“, stöhnte er ungehalten, „womit habe ich das verdient? Los geh’, hol’ einen Eimer Wasser und säubere die Galerie vor meinem Zimmer von dem Blut.“
Taghat schluckte und verschwand.
Aus der Vorratskammer holte Manoen den Wein und gab ihn Raen. Der leerte zwei Becher direkt hintereinander und legte sich dann vor seinem Freund auf den Boden.
Manoen setzte sich rittlings auf seine Brust und legte ihm eine Hand flach auf die Stirn. Wenn er eines konnte, dann war es ramponierte Riechzinken wieder einrenken! Mit der anderen Hand umfasste er den schiefen Teil der Nase, ließ Raen einmal einatmen und zog mit einem Ruck. Es knirschte erneut, und Raen schrie, wie damals als der Medicus der Akademie ihm den Bruch an seinem Finger gerichtet hatte.
Genau in dem Augenblick betraten Baeli und Uke die Küche. Abrupt blieben sie stehen und beäugten die Szene.
„Was ist geschehen?“, erkundigte sich Uke und trat besorgt zu ihnen, um nach dem ohnmächtigen Raen zu sehen.
Baeli blieb an Ort und Stelle. Er sah reichlich angegriffen aus. Die Pflaumen hatten wohl offensichtlich nicht geholfen.
„Es hat eine Schlägerei gegeben“, erklärte Manoen, „Raen und Sel sind sich gegenseitig an die Kehle gegangen. Sel hat ihm die Nase gebrochen, und ich habe sie ihm soeben wieder gerichtet.“ Von Sels Messerattacke gegen seinen Freund erzählte er nichts.
Uke verzog mitfühlend das Gesicht und beugte sich über Raen, um die Nase zu begutachten.
„Und wo ist Sel?“, hauchte Baeli kraftlos, das alles schien zu viel für ihn zu sein.
Währenddessen sprang Uke auf, holte ein Tuch, feuchtete es mit Wasser an und begann damit behutsam Raen das Blut aus dem Gesicht zu tupfen. Der Verletzte gab die ersten Lebenszeichen von sich und stöhnte leise.
„Ich habe Sel in sein Zimmer gesperrt. Wir müssen uns um ihn kümmern. Er hat gleichfalls ganz schön was einstecken müssen.“
Uke legte Raens Kopf in seinen Schoß und tätschelte ihm liebevoll die Wange.
„Gut, Uke wird dir mit Sel helfen, wenn unser Raufbold hier wieder zu sich kommt. Toruma kommt auch gleich und wird das Essen machen. Er ist noch im Stall und versorgt die Pferde. Und ich ...“ Baelis Stimme war immer schwächer geworden. Seine Mundwinkel zuckten, die Lippen waren aschgrau.
„Baeli, ist alles in Ordnung mit dir? Wie mir scheint, sollte sich auch jemand um dich kümmern. Leg dich besser hin, ich schicke dir Toruma mit Essen und Tee.“
„Mir geht es gut! Versorgt die beiden Kampfhähne, und dann sehen wir weiter!“ Damit kehrte der Hausvorstand ihnen den Rücken und verließ die Küche.
Manoen biss sich auf die Unterlippe. Etwas stimmte mit Baeli nicht. Warum ließ er sich nicht von einem Medicus behandeln?
Doch weiter kam er mit seinen Gedanken nicht, denn die Tür flog auf, und Taghat kam hereingestürmt.
„Feuer!“, war das einzige, was er atemlos hervorbrachte.
Manoen und Uke sprangen gleichzeitig auf. Unsanft landete Raens Kopf auf den Holzdielen, und ein erneutes Stöhnen entwich ihm.
„Feuer? Wo?“
„Schnell, im oberen Stockwerk über dem Tor!“
Sel!, schoss es Manoen durch den Kopf, und er setzte sich in Bewegung. Draußen auf dem Hof wandten sie hektisch ihre Köpfe - und tatsächlich, durch die Dachziegeln über Sels Zimmer drang bereits dunkler Rauch und stieg in den frühen, milchgelben Abendhimmel empor.
‚Hyaun steh uns bei, der Teufel hat sich angezündet!’, dachte Manoen fassungslos.
Und während der hochgewachsene Krieger nach oben rannte und dabei so viele Treppenstufen auf einmal nahm, wie es ging, stolperten alle anderen Bewohner in Windeseile davon und holten die Eimer aus dem Geräteschuppen.
Vor Sels Tür, unter der ebenfalls Rauch hervorquoll, hielt sich Manoen einen Ärmel vor Mund und Nase und trat sie dann beherzt ein. Der hölzerne Riegel splitterte und die Tür flog auf. Sengende Hitze und beißender Qualm schlugen ihm entgegen
„Sel! SEL!“, brüllte er und hielt sich schnell wieder den Ärmel vor den Mund.
Mit zu engen Schlitzen verengten Augen suchte er das Zimmer ab. Das Fenster stand sperrangelweit auf, demnach hatte das Feuer bereits gut Luft bekommen, bevor er die Tür geöffnet hatte. Die Flammen züngelten also nicht erst seit eben so hoch. Sie hatten sich schon überall ausgebreitet, fraßen mit zerstörerischem Hunger an allem, was in diesem Zimmer als Einrichtung gedient hatte, und leckten bereits an den Deckenbalken. Da konnte niemand mehr am Leben sein. Erst recht nicht, wenn derjenige gewollt hat, dass er verbrennt!
Aber noch war es für das Haus nicht zu spät!
Manoen drehte sich um und rief in den Hof: „Beeilt euch mit dem Wasser! Noch brennen die Balken nicht.“ Er sah, wie Toruma angelaufen kam und dabei mehr Wasser verschüttete, als er im Eimer ließ, und in diesem Moment ging ihm auf, dass sie viel zu wenige waren - nämlich gerade mal fünf, denn Koro war noch in Borgossa, Raen lag in der Küche und Sel, ... Sel war tot. Es würde kaum reichen für eine Eimerkette. Manoens Kopfhaut zog sich zusammen, und ihm wurde übel. Der Hof würde bis auf die Grundmauern abbrennen, wenn sie nicht zusätzliche Hilfe bekamen!
‚Oh, Sel, war es das, was du wolltest? Uns zusammen mit dir vernichten!’ Er wandte sich der offenen Tür und der Feuersbrunst dahinter zu. Doch bevor ihn die Wut darüber packen konnte, dass Sel sie absichtlich in Gefahr gebracht hatte, wuchs vor ihm eine Feuersäule empor. Seine Augen weiteten sich entsetzt. Die Säule kam durch die Tür auf ihn zu - mit ausgestreckten Armen!
Sel!
Gerade noch rechtzeitig konnte Manoen aus dem Weg springen, als die lebendige Fackel an ihm vorbeischoss und über das Geländer der Galerie in den Hof hinunterstürzte, einen lodernden Schweif aus Flammen hinter sich herziehend wie ein Komet am Nachthimmel.
Fasziniert und angewidert zugleich lugte Manoen nach unten, wo der schwärzlich verkohlte Körper von Sel auf dem Pflaster lag und weiterbrannte. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals, und er musste sich am Stützpfeiler des Daches festhalten, so groß war der Schrecken. Und immer noch wartete er darauf, dass Sels Körper sich jeden Moment erheben und weiterrennen würde, um auch noch den Rest des Hofes anzuzünden.
Plötzlich schallten Hufschläge und laute Rufe unter ihm aus dem Tor, und kurz darauf erschien der Bauer vom Nachbarhof zusammen mit seinen Knechten.
„Hyaun, ich danke dir!“, stieß Manoen aus und meinte es zum ersten Mal wirklich ernst.
Verwundert umrundeten die Ankömmlinge mit ihren Pferden das brennende Etwas auf der Erde.
„Das ist der Brandstifter! Dem ist nicht mehr zu helfen!“, schrie Manoen. „Aber hier oben, da könnten wir etwas Hilfe gebrauchen!“ Er hatte seinen unschlagbaren Humor wiedergefunden.
Der Bauer hob die Hand und zeigte an, dass er verstanden hatte. Unter seinem Kommando wurde nun endlich eine vernünftige Eimerkette gebildet, ein Wagen unter die Galerie geschoben und die Eimer von dort über Geländer nach oben gereicht. Dafür zeigte sich Berto, der Knecht mit den langen Armen, als besonders gut geeignet. Manoen und Toruma nahmen sie von ihm entgegen und mit feuchten Tüchern um die Köpfe gewickelt stießen sie immer wieder in das Zimmer vor, wo sie das Wasser verteilten.
Immer mehr Flammen erstickten zischend unter dem Nass, oder fanden im feuchten Gebälk keinen Halt mehr, so dass sie nach und nach kläglich zu Tode schrumpften und schließlich nichts mehr von sich gaben, als ein letztes heißes Ausatmen.
Dass sie das Feuer am Ende unter Kontrolle bekamen und erstaunlicherweise kaum mehr als das Zimmer Schaden genommen hatte, war allein der gemeinsamen Anstrengung zu verdanken und dem rechtzeitigen Eintreffen der Nachbarschaft.
Als Manoen von oben, im Gesicht schwarz wie ein Ohaoudi, das Zeichen ‚Feuer aus’ gab, jubelten alle erleichtert auf und fielen sich in die Arme und klopften sich auf die Schultern. Mittlerweile war es dunkel geworden und kalt. Und nach der Hitze des Gefechts begannen die ersten schnell zu frösteln.
Zum Dank luden die Hy ihre hilfsbereiten Nachbarn zu Bier und Wein in die Küche ein, wo erst einmal ein ordnungsgemäßes Feuer im Kamin entfacht wurde. Müde, aber befreit plaudernd ließen sie sich nieder, füllten sich gegenseitig die Becher und leerten sie durstig. Keiner bemerkte, dass einer von ihnen fehlte.
Nach dem das Feuer gelöscht war, hatte Baeli sich schnell zurückgezogen und sich bleich wie ein Gespenst und mit auf den Unterleib gepressten Armen auf sein Lager geschleppt, wo er noch mit seinen vom Löschwasser getränkten Kleidern am Leib kraftlos zusammenbrach. Das Hochhieven der schweren Wassereimer aus dem Brunnen hatte nicht gerade zur Besserung seines Zustandes beigetragen. Im Gegenteil, er hatte das Gefühl, dass nun endgültig etwas in ihm zerrissen war. Zerrissen oder geplatzt, auf jeden Fall waren die Schmerzen höllisch! Wimmernd krümmte er sich immer wieder unter seiner Decke zusammen, ganz allein mit seiner Angst.
„Ich bitte dich, Hyaun“, begann er schließlich tonlos zwischen seinen vor Schüttelfrost klappernden Zähnen hindurch zu beten, „vergib mir und nimm mir wenigstens diese Angst, wenn ich schon solch schreckliche Schmerzen durchleiden muss. Denn ich möchte nicht mit Angst in die nächste Welt gehen und dort meiner Familie gegenübertreten.“ Tränen strömten unaufhaltsam über sein Gesicht, während die Feuersbrunst nun unauslöschbar in seinem Bauch tobte. Eine Weile litt er still seine Qualen und wartete darauf, dass Hyaun zu ihm käme.
Dann war Er endlich da und zeigte sich gnädig. Er brachte dem einsam in der Dunkelheit Liegenden das erlösende Fieber, und der letzte klare Gedanke, den Baeli fassen konnte, war, dass er jetzt nach Hause zurückkehren würde. Ein Lächeln trat auf seine zitternden Lippen.
Wie aus dem Tiefschlaf erwachte Raen und wunderte sich über die Gesellschaft, in der er sich befand. Auch fragte er sich, woher der pochende Schmerz in seinem Gesicht kam und warum er kaum Luft bekam. Vorsichtig betastete er seine Nase, welche der Ursprung für die Beschwerden zu sein schien, und zog eine schmerzerfüllte Grimasse. Warum war seine Nase so dick angeschwollen wie eine Mairübe?
„Du hast dich mit Sel geprügelt“, sagte Uke, der sich neben ihm niederließ und ihm einen Becher Wein reichte.
Raen setzte sich auf, nahm ihn zögerlich und sah dabei fragend von dem jungen Eisan zu der Horde erschöpfter und rußverschmierter Menschen, die in der anderen Ecke der Küche saßen und tranken.
„Es hat gebrannt, und der Bauer vom Nachbarhof ist mit seinen Leuten gekommen, um uns zu helfen.“
Raen erinnerte sich zwar nicht daran, sich mit Sel geschlagen zu haben, dafür aber sehr wohl an den Traum in der vergangenen Nacht und an das Feuer, das er gesehen hatte.
Uke senkte den Blick.
„Da ist noch etwas.“ Der Eisan zögerte. Ihm war sichtlich unwohl.
„Raus damit“, näselte Raen.
„Nun, es war Sel, der das Feuer gelegt hat. Er hat sich selbst angezündet, in seinem Zimmer. Er ist tot!“
„Was?“ Raen riss seinen Kopf hoch und verzog wieder das Gesicht, weil der Schmerz bis hinauf in sein Gehirn zog.
„Sel ist verbrannt. Hyaun möge ihm gnädig sein und seine Seele begleiten“, wiederholte Uke. In seinem schmalen Gesicht zuckte es traurig.
Ein Funkenregen aus bruchstückhaften Erinnerungen prasselte in jenen Teil von Raens Gedächtnis, in dem bis eben noch völlige Dunkelheit geherrscht hatte, und plötzlich wurde er unruhig. Hektisch er sah sich in der Küche um.
„Wo ist Manoen?“
„Er bringt mit Toruma Sels Leiche in den Schuppen. Oh, wie schrecklich das alles ist!“ Uke warf sich eine Hand an die Stirn und trank anschließend schnell einen Schluck Wein, um seine Trauer herunterzuspülen.
„Ja, schrecklich“, wiederholte Raen monoton, doch seine Gedanken arbeiteten fieberhaft an einer ganz anderen Sache. Immer mehr Erinnerungen begannen aufzublinken wie Leuchtfeuer in der Nacht. Er sah Sel, der seinen Brief in der Hand hielt, und er fühlte den Wiederhall des Hasses, der in ihm explodiert war. Als nächstes sah er den Brief aus Manoens Hand wieder in die seine wandern, und wie sie den blutenden Sel hinauf in sein Zimmer schleiften.
Sel hatte sich angezündet, und er war daran schuld, dachte Raen bedrückt. Al Nor hatte es ihm gezeigt, doch er hatte es nicht verhindern können.
Sel wäre noch am Leben und der Hof hätte nicht gebrannt, wenn er es rechtzeitig erkannt hätte!
Es kam ihm ein Gedanke. Ein ganz und gar ungehöriger Gedanke. War es nicht vielleicht besser so, wie es gekommen war?
Doch plötzlich schämte sich Raen. Er hatte kein Recht dazu, so zu denken. Sel würde zu den Ahnen der Winde gehen und von ihnen aufgenommen werden, wie sie jeden von ihnen ohne Vorbehalte aufnahmen. Er sah auf den verstört wirkenden Uke. Und um seine eigene Erleichterung zu verbergen, wuschelte er dem Eisan aufmunternd durch das lange Haar, trank seinen Wein aus und lehnte sich schließlich zurück.
Am nächsten Morgen, es war der Sonntag, fand Manoen Baeli tot in seinem Bett auf. Gekrümmt wie ein Engerling und mit wächsernem Gesicht lag er da, noch im Tode die Hände auf seinen aufgeblähten Bauch gepresst.
Stumm stand der große Rotschopf in der Tür und sah auf den dahingeschiedenen Hausvorstand hinab. Egal, woran er gelitten hatte, jetzt war er jedenfalls erlöst, dachte er traurig. Baeli war guter Kerl gewesen.
Da er in den letzten Tagen etwas empfänglicher für die womöglich doch vorhandene Barmherzigkeit Hyauns geworden war, hob Manoen eine Hand vor die Brust und sprach, wie er es auch in der vergangenen Nacht für Sel getan hatte, als er allein mit dessen Leichnam im dunklen Schuppen gewesen war: „Tonan lo Nani, Baeli - Frei sei deine gesegnete Seele.“
Dann ging er hinunter, um die anderen Bewohner davon zu unterrichten, dass sich noch ein weiteres Mitglied aus ihrer Mitte verabschiedet hatte.
Wie beinahe vor einem Jahr brannten im heraufziehenden Dunst der Abenddämmerung hinter dem Hof der Hy die Totenfeuer, und wie damals hatten sich alle Bewohner des Hytena in der winterlich kalten Luft versammelt, um der Verstorbenen zu gedenken, denen das Schicksal beschieden hatte, erst in Form von Asche wieder nach Hause zurückzukehren.
Schwarz zeichneten sich die Silhouetten der Trauernden vor den hellorange lodernden Flammen ab, deren heiße Spitzen in den Himmel stießen, so als wollten sie ihm drohen, er solle ihnen mit seiner sternenkalten Dunkelheit bloß nicht zu nahe kommen. Denn dieses Mal würden sie es nicht zulassen, dass man ihnen ihre Nahrung wieder entriss.
„Es sieht schon viel besser aus“, sagte Keï einige Tage später zur Begrüßung und meinte damit Raens Nase, die annähernd ihre ursprüngliche Form angenommen hatte.
Raen nickte stumm. Die Prinzessin war sehr erschüttert gewesen über das, was im Hytena geschehen war, ganz im Gegensatz zu ihm, doch das konnte er ihr natürlich nicht sagen. Also heuchelte er, so gut es ging, Betroffenheit.
„Sagt, was habt Ihr da eben gesungen?“ In der Öffentlichkeit wahrten sie auch weiterhin die gehobene Anrede.
Raen überlegte. Hatte er gesungen? Er zuckte mit den Schultern und wischte weiter Jakori trocken. Ein Regenguss hatte sie auf dem Weg zur Akademie erwischt und sie völlig durchnässt. Gedankenverloren hatte er wohl ein paar Verse in Hyaunisch gesungen.
„Wenn ich mich nicht täusche, war es dieselbe Melodie, die Sel immer vor sich hin gepfiffen hat.“
Raen stöhnte innerlich auf. Er wollte einfach nicht mehr an Sel erinnert werden. Dieses Kapitel war für ihn endgültig abgeschlossen. Er hatte sogar Manoens Rat befolgt und den Brief vernichtet. Trotzdem antwortete er.
„Hm, war wohl eine Strophe aus dem Tanz des Schalks.“ Keine Ahnung, warum ihm ausgerechnet das in den Sinn gekommen war, denn es war ein Lied, mit dem man in Hy auf freundliche Art seine Mitmenschen neckte.
‚Vielleicht ist es eine späte Rache von Sel’, dachte er und rieb über Jakoris Rücken, ‚dafür, dass ich so schamlos erleichtert über sein Dahinscheiden bin.’
Raen bemerkte nicht, wie Keï sich verstohlen umsah und mit leuchtenden Augen feststellte, dass sie allein im Stall waren. Bendan und die Leibwächter waren schon durch den Wolkenbruch zum Lektionsgebäude geeilt, und noch war ihnen offenbar nicht aufgefallen, dass Keï sich ihnen nicht angeschlossen hatte. Wiederholt erwies sich der Regen als ihr Verbündeter.
Sie trat einen Schritt näher an Raen heran, blickte noch einmal prüfend um sich und legte ihm dann von hinten die Arme um den Oberkörper. Ihre Wange schmiegte sie an seinen noch regenfeuchten Nacken. Überrascht hielt Raen inne, und nachdem er sich gleichfalls vergewissert hatte, dass ihnen keine Gefahr drohte, lockerten sich seine Nackenmuskeln, und er drehte sich zu Keï herum.
Sofort fanden ihre Lippen zueinander, und sie ergaben sich dem süßen Kribbeln von Millionen kleiner Sandflöhe, die sich unter ihrer Haut immer dann alle gleichzeitig in Bewegung setzten, wenn sie eine gewissen Distanz überwanden, und ihre Sinne die Gelegenheit bekamen, sich gegenseitig zu erfassen.
Raen kam kaum gegen den überwältigenden Drang an, seine Hände über Keïs Körper wandern zu lassen. Nur mit Mühe zwang er seine sich fortwährend verselbstständigenden Griffel kurz unter ihren Schulterblättern anzuhalten und sie fest an sich zu drücken.
Doch plötzlich beschlich ihn ein unbestimmtes Gefühl - als würden sie doch beobachtet werden! Schnell nahm er seine Lippen von den ihren und verharrte lauschend. Immer wieder huschte dabei sein Blick unruhig durch den Stall, während Keï indes dazu übergegangen war, seinen Hals mit Küssen zu bedecken, und jede dieser sanften und warmen Berührungen jagte einen wohligen Schauer nach dem nächsten über ihn hinweg. Aber keine Menschenseele war zu sehen, lediglich die Pferde ihren Boxen äugten neugierig zurück.
Das war natürlich auch eine Art der Beobachtung, befand Raen. Kurz schloss er die Augen und gab sich still verzweifelt Keïs Liebkosungen auf seiner Haut hin. Könnte er doch nur mehr davon bekommen!
Doch dann ergriff die Vernunft endlich von ihm Besitz, und er öffnete seine Augen wieder. Das Risiko, erwischt zu werden, war einfach zu groß. Sanft löste er sich aus der Umarmung und sah Keï ins Gesicht, seine Hände auf ihren Schultern. Ein verträumtes Lächeln umspielte seine Lippen, so vernarrt war er in diese fremdartigen Züge ... dann besann er sich und nahm die Hände herunter.
Eines aber musste er noch wissen, bevor sie sich wieder trennten.
Keï hielt ihren Blick erwartungsvoll auf ihn gerichtet, als er schließlich all seinen Mut zusammennahm und sie fragte.
Aber anstatt zu antworten, spitzte die Prinzessin gedankenreich die Lippen, und in ihren Augen unter ihren halb gesenkten Lidern wanderte ein geheimnisvolles Leuchten hin und her.
Raen wurde erneut unruhig. Was, wenn er sich zu weit vorgewagt hatte? Was, wenn sie es gar nicht wollte?
‚Dann wirst du von deinem hohen Traumross eben wieder absteigen müssen und das Leben führen, welches dir zugedacht ist!’, sagte er sich in Gedanken kühl und bereitete sich auf das Schlimmste vor.
Und als die Prinzessin endlich Antwort gab, waren seine Knie weich wie Butter.
„Das ist wirklich sehr schmeichelhaft von dir, Raen. Nichts kann sich eine Frau von einem Mann sehnlicher wünschen, als dass er sich mit einem Treuespruch in ihre Dienste gibt. Doch sag, was ist mit deiner Verlobten? Du hast auch ihr ein Versprechen gegeben“, fragte sie schließlich.
Raen sah verlegen zu Boden, weil sie ihn so direkt auf dieses unangenehme Thema ansprach. Doch dann sah er sie fest an.
„Ich werde es lösen.“
„Der Gedanke gefällt mir nicht, weißt du, ich möchte nur ungern ein Versprechen bekommen auf Kosten einer anderen Person.“
„Es gibt Gründe dafür, mein Versprechen an Suneka zu lösen.“
„Und wer sagt mir, dass du nicht auch irgendwann dein Versprechen an mich brichst, nur weil du deine Gründe hast?“
Raen sah ihr ins Gesicht. Er war irritiert von ihrer Härte. ‚Ich dachte, sie liebt mich’, fuhr es ihm kalt ans Herz. ‚Du vergisst, dass sie nicht irgendeine Frau ist, sondern die künftige Thronfolgerin eines sehr mächtigen Landes. Sie führt hochkarätige Staatsgeschäfte und muss immer einen klaren Blick behalten.’ Raen würgte das unbehagliche Gefühl herunter, soeben womöglich einen Fehler begangen zu haben. Besser wäre es gewesen, alles unausgesprochen zu lassen. Worte verderben nur das, was Herzen sich sagen.
Plötzlich lächelte Keï und nahm sein unglückliches Gesicht in eine Hand.
„Bis bist so rätselhaft, Raen, so viele Geheimnisse umgeben dich.“ Sie schenkte ihm ihr warmherziges Lächeln und sprach noch leiser weiter. „Und ich muss gestehen, dass es genau jene Rätselhaftigkeit ist, der ich, so fürchte ich, unrettbar verfallen bin.“ Jetzt war es raus und sie konnte es deutlich am Grün seiner Augen sehen, dass er genauso fühlte, dass er ihr gleichfalls mit Haut und Schopf verfallen war. Eine Träne stahl sich in ihre Augenwinkel.
„Was ist?“, fragte Raen.
Keï wischte sich die Tränen lächelnd fort. „Ich kann es kaum fassen, dass ich diese Worte soeben ausgesprochen habe“, hauchte sie. „Raen“, ihr Blick tauchte tief in den seinen, „begleite mich, wenn es dein Wunsch ist, und bleibe in meinen Diensten, solange es dir gefällt!“
Wieder wurden Raens Knie weich, diesmal aber war die Ursache eine andere. „Meine liebste Freundin, sag mir, dass ich das alles nicht bloß träume!“
„Es ist wahr, mein Freund. Ashalla sei mein Zeuge.“
Jetzt war es an Raens großem Herz, tollkühne Freudensprünge zu vollführen.
„Das aus deinem Munde zu hören, bedeutet mir unendlich viel, hab Dank.“ Den letzten Satz, den er ihr hatte sagen wollen, schluckte er jedoch hinunter, denn soweit reichte sein Mut noch immer nicht.
„Und mir bedeutet es ebensoviel, Raen.“ Sie nahm eine seiner Hände und küsste sie. „Und jetzt sollten wir schleunigst so tun, als ob nichts geschehen sei. Dein Eid aber gilt!“
„Ja, er gilt, par sémpre.“
„So sei es, par sémpre! Alsdann.“ Sie reckte das Kinn vor und machte ein ernstes Gesicht. Doch plötzlich musste sie lachen. Ihre weißen Zähne leuchteten im Dämmerlicht des Stalls. „Ich muss verrückt sein, dass ich das zulasse!“ Dann trat sie aus der Box und ging als erstes aus dem Stall. Ihr Schritt war der einer würdevollen Dame, ihr heftig klopfendes Herz dagegen das eines verliebten Mädchens.
Raen folgte ihr wenig später.
Niemand bemerkte, dass sich die Tür zum Stallgebäude nach den beiden Verliebten noch ein weiteres Mal öffnete, und sich eine gedrungene Gestalt in unauffälliger, borgossinischer Tracht daraus hervor stahl und mit vorgetäuschter Gelassenheit zwischen den Mauern der Akademie verschwand. Der Schritt des Mannes beschleunigte sich erst, als er die Therme passiert hatte und die Via della Universida nicht mehr fern war. Er hatte den Hy wiedererkannt. Kein Zweifel, das war der Krieger, der ihn auf dem Turnier auf Askhari angesprochen hatte!
Setim von Gortar bog auf die Hauptstraße ein und tauchte im dichten Verkehr unter. Geschickt schlängelte er sich zwischen Fuhrwerken, Reitern, gestapelter Ware und kleinen Straßenständen hindurch, bis er die kleine, schlammige Gasse erreicht hatte, in der sich ihre Absteige befand. Es war eine heruntergekommene Kaschemme mit winzigen, schmutzigen Zimmern, aber sie war billig und perfekt gelegen, und der Wirt hielt für ein paar Kupferstücke mehr seinen ebenso schmutzigen Mund. Wahrscheinlich redete er auch für ein paar Kupferstücke, vermutete Setim, aber bis dahin musste erst einmal jemand darauf kommen, wer sie waren und warum sie hier abstiegen. Wenn das neue Circulum begann, würden sie in eine Studentenburse umsiedeln und zu Scolarios der Akademie werden, ohne unnötig Aufmerksamkeit zu erregen. Dann würde es für sie etwas einfacher sein, unauffällig ihrer Aufgabe nachzugehen.
Setim betrat den nach Wein und Erbrochenem stinkenden Schankraum, der zu dieser frühen Stunde nur den schläfrig schwitzenden Wirt und seine die ranzigen Tische schrubbende Frau beherbergte.
Mit einem „Was für ein Dreckswetter!“ als Gruß durchmaß der Askharer das schummerige Loch und stieg die Hintertreppe zu den Zimmern hinauf.
Je zwei von ihnen teilten sich einen Raum mit einem Fenster nach vorn auf die Gasse und gefüllten Strohsäcken als Schlafstatt, in denen es vor Wanzen nur so wimmelte. Aber Setim jammerte nicht. Das hatte er noch nie getan. Er war mit Leib und Seele Soldat und konnte sich überall zum Schlafen hinstrecken, sogar im Schlamm auf dem Schlachtfeld, wenn es erforderlich war. Dagegen war das hier das reinste Paradies. Er schloss den Riegel der Tür hinter sich und sah auf seinen Landsmann, der mit offenem Mund auf seinem Lager schnarchte.
„Du fauler Hurenbock!“, brummte er und trat dem seelenruhig Schlafenden hart in die Rippen. Der verschluckte seinen nächsten Schnarcher und war schlagartig wach. Schnell setzte er sich auf und hielt sich Rippen und Kopf.
„Wenn du noch einmal soviel trinkst, dass du verschläfst, dann schlage ich dir die Hand ab, die als letztes den Wein berührt hat!“
Der andere Soldat nickte unterwürfig und quälte sich stöhnend auf die Beine.
Setim hatte das Kommando über die kleine, vierköpfige Schar und konnte tun, was er androhte.
„Entschuldigt. Es wird nicht wieder vorkommen.“ Der Soldat wankte zum Fenster, um Luft zu schnappen - falls sein Kopf mit dem monströsen Kater überhaupt durch die Läden passte.
„Das will ich meinen. Das nächste Mal erinnere ich dich nicht mehr an deine Pflichten, dann werde ich meine einfach wahrnehmen. Ich höre?“
„Ja, Capitano! Wir sind Soldaten der Königlichen Leibwache, und unsere Pflichten sind unser Leben! Und unser Leben gehört dem König!“, sagte der Soldat leise, aber bestimmt und straffte dabei seine Haltung.
Setim wurde etwas freundlicher. „Na also, wohl gesprochen. Besinne dich also auf deine Zucht und Tugend, setze dich auf deinen königlichen Söldnerarsch und höre jetzt gut zu, was ich sehr Delikates herausgefunden habe!“
Aufmerksam las Kanaima den ersten Bericht aus Borgossa. Immer wieder zogen sich dabei seine Augenbrauen in die Höhe. Was seine Spione in dieser kurzen Zeit herausgefunden hatten, war schlichtweg sensationell! Beeindruckt stieß er Luft aus, als er das Pergament sinken ließ.
„Das nenne ich einen Erfolg! Gute Arbeit, Soldat, richtet das Capitano Setim aus!“
Der heimgekehrte Spion verneigte sich geehrt.
„Du kannst jetzt gehen, aber halte dich bereit für die neue Order. In drei Tagen gehst du wieder zurück nach Borgossa.“
„Ja, Maestro Kanaima.“
„Und, Soldat!“
„Ja, Maestro?“
„Wenn einer den König davon unterrichtet, dann bin ich das, klar!“
„Verstanden, Maestro.“ Er verneigte sich noch einmal und verließ das Arbeitszimmer.
Kanaima fläzte sich in den hohen Stuhl zurück und strich sich über den Schnurrbart. Ein Lächeln huschte über seine Züge.
„Welch empörend schamlose Dirne Ihr seid, meine ehrenwerte Prinzessin von Ohaoud! Lasst Euch von einem Hy den Hof machen! Nicht zu glauben, wie tief man sinken kann.“ Kanaima schüttelte mit dem Kopf. „Aber das wird sich hervorragend verwenden lassen.“ Einen Moment lang bearbeiteten seine Finger weiter den Bart, dann stand er auf und warf den Pergamentbogen ins Kaminfeuer.
„Und, ist der Grenzgänger dort?“ Katthike hatte sich neugierig in seinem Lieblingsstuhl in der Bibliothek vorgelehnt und durchbohrte Kanaima mit seinem eisblauen Blick.
Der entgegnete lässig und mit ebenso kalten Augen: „Das wissen wir noch nicht, aber meine Leute sind dicht dran.“
„Eure Leute?“
„Verzeiht, natürlich sind es unsere, mein König.“
Katthike nickte nachdrücklich. „Und was gibt es noch?“
„Nun, gegenwärtig halten sich nur noch sieben Hy in Borgossa auf. Zwei sind kürzlich verstorben bei einem Brand, der sich auf dem Hof ereignet hat, den die Hy vor den Stadtmauern bewohnen. Von den Verbliebenen gehören drei der Kriegerkaste an. Sie studieren an der Akademie für Kriegskünste. Ein anderer ist Priester und hat bereits einen hohen Rang an der Universität inne. Er soll bald Maestro werden, allerdings für die Fakultät der Philosophie. Die restlichen drei sind ebenso harmlos wie der Priester. Einfache Leute, Studenten der Artes Liberales, nichts worüber wir uns den Kopf zerbrechen müssten.“ Von dem geheimen Liebesverhältnis der Prinzessin erzählte er vorerst nichts. Das war eine Angelegenheit, die mehr Fingerspitzengefühl erforderte, und er konnte nicht riskieren, dass sie zum Vergnügen aller im ganzen Palast herum posaunt wurde und dabei zu ordinärem Tratsch verkam. Sensible Informationen mussten auch sensibel gehandhabt werden.
„Also sind für uns nur diese drei Krieger von Bedeutung. Gibt es Anzeichen dafür, dass eine Rückreise ansteht?“
„Soweit sind wir noch nicht vorgedrungen.“
„Hm.“ Der König stützte sein Kinn auf eine Hand und nach einer Weile sagte er: „Aber es sollte ja nicht so schwer sein, herauszufinden, ob einer dieser drei Krieger unser Grenzgänger ist, oder?“
„Nein.“
„Nun, dann will ich, dass das schnellstens geschieht, und mir dieser Kerl hierher gebracht wird!“
„Majestät, ich werde Eure Order ausgeben.“
„Gut, gut, dann harren wir der nächsten Botschaft aus Borgossa. Und nun zu der Hochzeit des Kronprinzen.“ In seinen abrupten Wechseln der Materie eines Gesprächs fand Katthike immer wieder aufs Neue zu wahrer Meisterschaft.
Aber Kanaima zeigte keine Regung, weiterhin gelassen blickte er dem König offen ins gegerbte Gesicht.
„Setna möchte, dass Ihr nun doch daran teilnehmt.“
Jetzt erlaubte Kanaima seinem Gesicht, einen leicht fragenden Ausdruck anzunehmen. Setna hatte ihn mit aufwendigster Förmlichkeit - und unverborgener Häme - offiziell ausgeladen. Kanaima hatte das nicht gestört, bis zu dem Tag, an dem er mit Prinzessin Natalia Isabylla im Stall das erste Mal hatte sprechen können.
„Darf ich fragen, wie es zu diesem Sinneswandel kommt?“
„Oh, ja, das dürft Ihr ihn sogar persönlich fragen.“ Katthike hob die Linke. „Setna?“
Kanaimas Blick zuckte nur kurz über Katthikes Schulter, wo der Prinz mit einem breiten Grinsen hinter einem der Bücherregale hervortrat.
„Mein Sohn und ich, wir haben keine Geheimnisse voreinander“, sagte der König mit liebevoll säuselnder Stimme, den Arm weiterhin in Richtung Setnas ausgestreckt.
‚Dein Sohn und du, aha!’, dachte Kanaima zynisch. ‚Das glaubt dir vielleicht dein dümmliches Stiefgezücht. Ich aber nicht, denn ich kenne dich, du hintertriebenes, altes Mistvieh!’
„Nun, stellt Eure Frage noch einmal, Maestro“, forderte Katthike ihn mit einem süffisanten Zug um seine Mundwinkel auf.
Kanaima musste sich zusammenreißen, um seinen Hass sorgsam im Verborgenen zu halten. Gerne hätte er ein paar Zähne aus Setnas grinsender Fratze entfernt.
Er hob den scheinbar unbekümmerten Blick, hieb ihn Setna direkt in die Augen und stellte mit tiefer Befriedigung fest, dass dieser ihm nur kurz standhielt und sich dann unwohl in die Ferne flüchtete.
„Prinz Setna, was verschafft mir die außerordentliche Ehre, nun doch an Eurer Vermählungstafel Platz nehmen zu dürfen?“
Die schwarzen Augen des Prinzen flitzten wie zwei raublustige Frettchen aus der Ferne zurück, wieselten über sein Gesicht, über seinen Oberkörper, hinunter bis zu seinen Füßen und wieder zurück. Zuckend, unstet, doch mit einem Mal gefroren wie in kalter Glut.
„Ich wollte Euch die Freude nicht vorenthalten, sehen zu dürfen, wie ich dieses zartbrüstige Täubchen eheliche, an dem Ihr solch einen Narren gefressen habt.“
Obwohl Setna mit seiner Vermutung mitten ins Schwarze traf, ließ sich Kanaima nicht das Geringste anmerken. Das hatte er, seit Karlis ihm einst den Rat gegeben hatte, sein Gesicht unter Kontrolle zu halten, in jahrelangen Übung und den ewigen Proben des Patrons zu verdanken.
„So?“, fragte er mit spöttischem Unterton. „Ist das so?“
Setna lächelte andeutungsvoll. „Nun, sie hat mir ziemlich viele Fragen über Euch gestellt.“
„Und Ihr habt sie ihr natürlich auch alle gewissenhaft beantwortet.“
„Natürlich.“ Wieder dieses widerlich ranzige Lächeln.
Doch Kanaima gab sich längst nicht geschlagen. Er kräuselte die Lippen und setzte zum Gegenschlag an: „Sagt, Prinz Setna, seit wann gebt Ihr so viel auf Weibergeschwätz?“
Diese Spitze saß. Eine zarte Röte eroberte das pfirsichglatte Antlitz des Prinzen, und er biss sich unwillkürlich auf die Lippen. Jeder bei Hofe wusste, dass Setna sich bisher allezeit damit gebrüstet hatte, unempfänglich für die einfältige und seichte Rede von Frauen zu sein. Es war bekannt, dass Frauen in seiner Gegenwart den Mund nur öffnen durften, wenn sie damit zur Linderung seiner körperlichen Bedürfnisse beitrugen.
„So gebt es doch getrost zu, mein Prinz. Ihr seid es, der von diesem rotgelockten Weibe hingerissen ist.“
„Bin ich nicht!“, platzte es aus Setna heraus und er trat empört einen Schritt vor.
Kanaima musste sich ein Lachen verkneifen. Setnas linkische Unbeholfenheit mit anzusehen, war einfach zu köstlich. Er nutzte dessen Mangel an geistreicher Gegenrede und fuhr fort: „Nun, dann seid Ihr der Einzige bei Hofe, der bei dieser beinahe überirdischen Schönheit kalt wie ein Karpfen bleibt. Jeder junge Edelmann - na ja, und für die älteren spreche ich wohl gleichfalls - verdreht sich den Kopf nach ihr und huldigt im Verborgenen oder auch ganz offen ihrer Reize. Die Dame ist das Palastgespräch schlechthin, überall hört man die Leute von ihr reden. Nicht wahr, Majestät, so ist es doch? Und natürlich schließe ich meine Wenigkeit da nicht aus.“
Katthike nickte mit Kennermine und ließ das Gespräch ganz zu Setnas offenkundigem Ärgernis laufen.
„Ihr seid wahrlich zu beglückwünschen, mein Prinz. Und wem, wenn nicht Euch, gebührt unser aller heimliche Bewunderung dafür, ein solch anbetungswürdiges Weib zu besitzen?“ Kanaima lächelte jovial, wollte Setna noch weiter verunsichern, doch der kohlenäugige Prinz fand seine Haltung wieder und hob selbstbewusst das Kinn. Er hatte es wohl verdaut, dass Kanaima seine dumme Äußerung dazu genutzt hatte, ihn vorzuführen, als gäbe der große Bruder dem kleinen einen wohlgemeinten Rat.
Die Kohlenaugen verengten sich boshaft zu Schlitzen.
Auch Setna hatte seine Waffen, das wusste Kanaima, und er würde sie einsetzen. Er musste also vorsichtig sein, ganz besonders in Bezug auf die Prinzessin. Sie war zu einer Schwachstelle geworden. Er, Kanaima, war nicht mehr unverwundbar.
Setna schnalzte, als hätte er jetzt doch noch etwas zu erwidern. „Im Übrigen war meine zauberhafte Braut ganz überrascht, von Eurer wahren Herkunft zu erfahren, und was es war, womit Ihr Euer Erbe verspielt habt. Sie war nicht sehr erbaut darüber“, sagte er schließlich, und seine bösartige Freude darüber war nicht zu übersehen.
„Darauf wette ich.“ Vor Kanaimas innerem Auge zersplitterte das Schwert des Hasses auf Setnas struppigem Schädel. Immer und immer wieder. Aber er hätte es ohnehin nicht verhindern können, früher oder später hätte Natalia Isabylla es erfahren. Was sie jetzt wohl von ihm dachte? Er musste unbedingt mit ihr sprechen.
Derweil beobachtete der König sichtlich genüsslich das Schauspiel, wie sich die beiden ungleichen Söhne gegenseitig mit ihren Blicken zerfleischten.
„Ach, und noch etwas, Maestro!“, verkündete Setna hoffärtig.
„Ja, mein Prinz?“
„Das nächste Mal weiht mich doch ruhig auch in Eure Machenschaften ein.“
Kanaima blieb stumm und wartete ab, worauf Setna hinauswollte.
„Denn ich hätte Euch gleich sagen können, dass der Mann, den Ihr in Borgossa sucht, der besagte Grenzgänger, das hier kennen muss!“
Setnas fliegende Überleitungen standen denen des Königs in nichts nach, dachte Kanaima und sah, wie der Jüngere etwas aus seinem linken Ärmel zog und es ihm vor die Nase hielt.
„Was ist das?“, fragte er unbeeindruckt und blickte von dem Gegenstand zu Katthike und wieder zu Setna.
„Es ist die Pfeilspitze, mit der dieser Hurensohn den General Kasai getötet hat!“
„Ah!“
„Und es ist keine gewöhnliche Spitze, wie man sieht. Sie ist aus Gold, und nicht einmal die Hy benutzen so etwas für gewöhnlich.“
„Und was soll ich jetzt damit anfangen?“
„Ganz einfach, gebt sie Euren Spionen mit, und die konfrontieren die Hy-Krieger in Borgossa damit! Schön nach einander. Die Pfeilspitze sollte einen nicht unerheblichen Wiedererkennungswert haben für denjenigen, aus dessen Hand sie stammt.“
„Hm, nicht schlecht gedacht.“ Das meinte Kanaima ausnahmsweise einmal ehrlich. Es war eine wirklich gute Idee. „Wenn Ihr erlaubt.“ Er streckte die Hand aus.
Setna zögerte, gab ihm dann aber die Spitze. Sichtlich ungern überließ er ihm das Erinnerungsstück an seinen innig geliebten Mentor, doch um damit den Übeltäter zu ködern, der es gewagt hatte, einen solch großen und ehrbaren Mann hinterrücks zu meucheln, schein es ihm nur recht zu sein.
Kanaima betrachtete die Spitze. Sie war tatsächlich aus Gold.
„So etwas habe ich noch nie gesehen. Sie ist sehr kunstvoll. Woher mag sie stammen?“
„Nun, das könnt Ihr die Spione herausfinden lassen.“
„Hatte der Hy Euch nicht damals vom Pferd geworfen, um dann seinerseits damit seine Flucht fortzusetzen?“, fragte Kanaima.
„Ja!“ Setna knirschte mit den Zähnen.
„Dann würdet Ihr ihn also auch wiedererkennen können?“
„Bei den Göttern, ich würde ihn unter Tausenden wiedererkennen! Der König würde mich aber nie nach Borgossa lassen, um ihn für Euch zu identifizieren.“
„Ganz recht, das ist ausgeschlossen“, klinkte sich Katthike wie beiläufig ein.
„Aber der Hy hätte Euch damals töten können. Warum hat er das nicht getan?“ Kanaima war aufrichtig fasziniert von der Geschichte um Kasai und seinen Attentäter und bedauerte es, dass er damals nicht dabei gewesen war. Der Grenzgänger beschäftigte ihn, seit er das erste Mal von ihm gehört hatte.
„Weil der feige Bastard die Hosen so gehörig voll gehabt hatte. Er wollte nichts anderes, als zurück in sein verschissenes Nest zu kommen!“, knurrte Setna hasserfüllt.
‚Und er hat nicht gewusst, wen er wirklich vor sich gehabt hatte’, vermutete Kanaima und nickte. „Ich werde die Spitze verwenden, wie Ihr gesagt habt, Prinz Setna. Wenn der Gesuchte in Borgossa ist, dann werden wir ihn kriegen und Euch bringen!“
Setnas Gesichtsausdruck nahm so etwas wie Zufriedenheit an, und der Prinz senkte die angespannten Schultern.
„Gibt es noch etwas, dass ich für Euch tun kann?“, erkundigte sich Kanaima.
„In der Tat, das nächste Mal wollen wir den Bericht aus Borgossa persönlich lesen, bevor Ihr ihn voreilig vernichtet“, beschied Katthike scharf.
Kanaima verneigte sich unterwürfig und wurde vom königlichen Zweigestirn entlassen.
Als er sie kurz darauf wieder in seinem Arbeitszimmer befand, schrieb er ohne viel Zeit zu verlieren die neue Order an Setim von Gortar nieder. Ganz am Ende enthielt sie die Anweisung, dass alle Neuigkeiten, welche die Prinzessin von Ohaoud betrafen, in Zukunft mündlich und nur an ihn persönlich übermittelt werden sollten. Außerdem fügte er als kleinen Anreiz noch eine dezente Erinnerung an die Höhe des Kopfgeldes für Hy-Krieger hinzu.
Der Tag der Wintersonnenwende rückte immer näher, und allmählich fanden sich die Gesellschaften der Hochzeitsgäste ein, welche den Palast innerhalb von wenigen Tagen in einen riesenhaften, fröhlichen Taubenschlag verwandelten und sein sonst freudenleeres Gemäuer mit wolkenleichter Heiterkeit füllten. Überall hörte man vergnügte Töne, Lachen und Musik aus den Gängen und Gemächern dringen, und man sah bunt gewandete Damen zusammen mit den edelsten askharischen Herren von Rang und Namen auf den Terrassen und Balkonen in der angenehm abgekühlten Winterluft im Sonnenschein flanieren.
Ein seltener Anblick, der gute Laune machte.
Aber auch in der Stadt zu Füßen der Festung rüstete man sich für das bevorstehende Großereignis. Gaukler und allerhand Fahrendes Volk flog Scharen von exotischen Wandervögeln gleich in die Straßen ein und verwandelte ganz Askhari-Kaise in einen großen, die Nächte hindurch wogenden Jahrmarkt; eine solche Stimmung herrschte nicht einmal zum jährlichen Turnier der Besten!
Und schließlich machte sie auch vor Kanaima nicht halt, der sich hin- und hergerissen mal an dem Frohsinn berauschte und mal daran erkrankte wie an Gift, so sehr verwirrte ihn das Verlangen nach der schönen Isabylla. Ja, verwirrt waren seine Sinne. Das hatte auch Karlis ihm durch den Boten seiner Schwester ausrichten lassen. Sein Onkel mahnte in eindringlichen Worten, er solle sich zusammennehmen und das Ziel klar vor Augen behalten. Für Frauen wie Isabylla wäre noch früh genug Zeit, wenn die Königsblutliga erst einmal ihren Sieg gefeiert hätte. Kanaimas besorgte Einwände hatte der Onkel nicht verstanden. Es gehe um etwas viel Wichtigeres als eine Frau, die auf dem Altar der gerechten Sache geopfert werden müsse, wenn es nötig sein sollte. Das dürfe Kanaima nicht vergessen. Härte und Ausdauer waren jetzt gefragt und keine sentimentalen Liebäugeleien mit irgendwelchen dahergelaufenen, ausländischen Weibsbildern. Die Antwort hatte Kanaima ernüchtert. Karlis war zwar sein ältester und treuester Verbündeter und auch noch immer sein Vorbild für echte männliche Tugenden, doch dessen Herz schlug einzig und allein nur für die eine Sache. Von ihm konnte er in dieser Angelegenheit keinerlei Hilfe erwarten. Stattdessen hatte Kanaima noch in Ebida bei seiner Schwester beschlossen, selbst zur Tat zu schreiten, und wenn er damit gegen die Interessen von Königsblut handelte, aber er würde Isabylla nicht opfern. Nicht sie, nicht die Flammenbändigerin!
Im Haus seiner Schwester, einer kleinen, kompakten Festung, neu erbaut auf den abgetragenen Grundmauern eines ehemaligen Chorten, hatte Kanaima seine zukünftigen Pläne bearbeitet, mal mit Herzog Hana, mal mit den geheimen Verbindungsleuten von Königsblut. Doch diesen einen Plan um Isabylla hatte er nur für sich entworfen. Und da er ja noch gut in der Übung war, wie man sich lästige Beobachter vom Leibe schaffte, war er des Öfteren heimlich allein in den Straßen der aufstrebenden Stadt Ebida unterwegs gewesen. Eine heilkundige Kräuterfrau hatte er aufgesucht, einen hoch angesehenen Medicus, einen niederen Bader und Quacksalber und einen Giftmischer. Sie alle hatten die Möglichkeit eines solchen Plans wie den seinen bestätigt, der, so wusste Kanaima, in anderen Ländern durchaus gebräuchlich war. Selbst die Hy, so fand er heraus, besaßen dieses Wissen.
Schon am Tag nach seiner Rückkunft in Askhari-Kaise hatte er Rebian verständigt und mit ihm beraten. Und der Schwertmeister hatte sich schließlich bereiterklärt, die Sache für Kanaima in die Hand zu nehmen, denn er unterhielt zufällig gerade das, was der Maestro brauchte, nämlich eine sehr gute Beziehung zum königlichen Leibarzt. Was freilich unter anderem daran lag, dass er eine von dessen Töchtern geehelicht hatte.
Doch jetzt stand erst einmal die prinzliche Hochzeit an, und Kanaima gönnte sich die Zerstreuung, Gespräche mit lang entbehrten Bekanntschaften zu führen, und natürlich mit seiner Schwester, die als eine der letzten Gäste im Palast eintraf.
Und schließlich sah er nach langen und ereignisreichen Jahren auch seinen Onkel Karlis wieder.
Ohne zu klopfen stand der alte, aufrechte Recke plötzlich in seinem Arbeitszimmer. Die meergrauen Augen in dem hageren Gesicht strahlten Kraft und Würde aus, und für den Bruchteil eines Herzschlags las Kanaima darin die Erinnerung an ihr Bündnis. Schnell erhob er sich, ging auf seinen Onkel zu, und der Ältere öffnete die Arme. Sie umarmten sich ungeniert. Karlis’ Griff war so fest wie damals. Dann ließen sie sich los und betrachteten einander eingehend.
„Ich wollte doch mal sehen, was aus meinem einstigen ungestümen Schützling geworden ist“, sagte Karlis schließlich gutmütig lächelnd.
„Und was seht Ihr, Onkel?“
„Du hast dich verändert, mein Neffe. Ein richtiger Mann ist aus dir geworden. Nicht mehr so kriegerisch und hitzköpfig wie früher, dafür ruhig und besonnen, auch in deinem Äußeren. Die bescheidene Tracht steht dir gut an.“ Karlis zeigte auf Kanaimas Kleidung und schmunzelte wissend, doch unterließ er es wohlweißlich, auch auf die frappierende Ähnlichkeit zwischen Kanaima und seinem Vater anzuspielen. Wozu erwähnen, was offensichtlich war, und Kanaima mit Sicherheit nicht übermäßig erfreuen würde. Doch wenn es erst einmal soweit war, würde es für sie alle von sehr großem Nutzen sein.
„Die borgossinische Garderobe ist sehr kleidsam, nicht war?“ Kanaima strich sich mit beiden Händen über das dunkle, eng geschnittene Wams, das seine kerzengerade Haltung betonte.
„Durchaus, doch könnte man auch meinen, du wolltest dich damit von etwas Bestimmtem distanzieren“, hakte Karlis scharfsinnig nach.
Kanaima verzog amüsiert die Mundwinkel. „Gut erkannt, denn ich möchte ausdrücklich von allem abrücken, was mit dem niederen Handwerk der Soldatenzucht zu tun hat - verzeiht, Onkel, denn es ist ja genau das, was Ihr bisher mit größter Gewissenhaftigkeit tatet. Zusätzlich nehme ich aus allseits bekannten Gründen Abstand von den allgemeinen und sehr unbekömmlichen Wirren der Palastpolitik, mit der ich nichts, rein gar nichts mehr zu tun haben will. Ich bin der Maestro und leite die Waffenakademie, sonst nichts.“
„Hm, und diese schamlose Untertreibung soll ich dir glauben!“, raunte Karlis mit gesenkter Stimme. „Nicht erst unlängst ist mir zu Ohren gekommen, dass bei dem neuen Feldzug, welchen der König plant, du der Federführer sein sollst“,
„Das stimmt zwar, ist aber nicht allzu hoch zu bewerten. Für seine Pläne nutzt der König lediglich mein in Borgossa erworbenes Wissen, und segnet es ab - oder eben auch nicht, das liegt nicht in meiner Hand. Mein Einfluss auf die aktive Heeresführung ist also nach wie vor verschwindend gering.“ Eine weitere Untertreibung, das wussten sie beide, ließen es aber unausgesprochen.
Karlis blickte kurz auf die verschlossene Tür und wandte sich dann wieder an Kanaima: „Nun, mein Neffe, was ich sehe, ist gut. Du warst sehr fleißig. Einen Sohn wie dich wünscht sich jeder Vater.“ Bei diesem versteckten Kompliment zwinkerte Karlis mit einem seiner Meeraugen, was die obligatorischen Lauscher vor der Tür natürlich nicht sehen konnten, und Kanaima neigte dankend den Kopf. Er spürte die Sympathie warm in seinem Innern rieseln, die dieser Mann immer noch unverändert bei ihm auslöste.
„Und was ist, lädst du deinen alten Onkel jetzt endlich auf einen Willkommenstrunk ein?“, forderte Karlis gespielt ungeduldig und strich sich mit einer Hand über das immer noch unüblich kurzgeschnittene, inzwischen deutlich grauer gewordene Haar. Kanaima wusste ganz genau, dass die Haartracht seines Onkels dessen Weise war, zu zeigen, dass er sich vom Rest seiner Verwandtschaft distanzierte.
Sie setzten sich auf die bequemen Stühle in der sonnenbeschienenen Ecke des Arbeitszimmers, und Kanaima goss ihnen am flachen Tischchen ein.
„Auf die Hochzeit des Prinzen! Welch prächtiger Anlass einmal wieder nach Askhari-Kaise zu kommen“, sprach Karlis feierlich und Kanaima erhob ebenfalls seinen Becher.
„Auf die Hochzeit“, murmelte er und nahm schnell einen Schluck, damit sein Onkel den kurzen Anflug von finsteren Gedanken auf seinen Zügen nicht bemerken konnte.
Zwei Tage später waren sie alle versammelt und warteten darauf, dass das Brautpaar den Tempel betreten würde. Die königliche Familie und alle Anverwandten hatten Platz innerhalb der Tempelmauern gefunden, der restliche Hofstaat, die Dienerschaft und der Pöbel lauerten draußen im Schatten des gewaltigen Mausoleums derer vom Blute Renandi. Überall waren zwischen den Bäumen und Palmen Baldachine gespannt worden, unter denen vornehmlich die Damen Schutz gesucht hatten, denn die Sonne besaß in Askhar auch im Dezember noch Kraft.
Hier und da wurde den Herrschaften von Dienern Luft mit großen Fächern aus Reiher- und Schwanenfedern zugewedelt und mit Eis vom Hochgebirge Adjans - ein Geschenk König Altibors - gekühlte Getränke gereicht. Alles war heiter und fröhlich gestimmt, und man war sehr angetan vom Aufwand, den König Katthike betrieb, um seinen Stiefsohn endlich in die Ahnenreihe des höchsten Adels einzuschleusen.
König Altibor, dessen Gemahlin und ihr sich noch im Knabenalter befindlicher Sohn standen mit ihrer Gefolgschaft in vorderster Reihe im linken Flügel des Tempels, geweiht zu Ehren Hamuk’shenaz’, dem allseits potenten Vater der askharischen Götterriege.
Den rechten Flügel nahmen der König von Askhar, seine nächsten Blutsverwandten, darunter Karlis und Laika, und hernach seine engsten Vertrauten ein.
Kanaima befand sich weiter hinten unter den niederen Ratgebern und Amtsträgern, aber noch nahe genug, um die Prozedur der Vermählung verfolgen zu können. Es ging schon auf Mittag zu, und die ersten Kerzen im Arrangement der festlichen Illumination des reich verzierten Tempelinneren mussten ausgewechselt werden, als endlich nach ausdauernder Litanei der vor Eifer glühenden Priesterschaft endlich das Brautpaar hereingeführt wurde.
Flankiert von der in feines Grau mit goldenen Säumen gewandeten Ehrengarde mit gezückten Schwertern schritten Setna, angetan in einer herrlich bestickten, blutroten Robe, die ihm einen ungewohnt erhabenen Anblick verlieh, und Prinzessin Natalia Isabylla, verhüllt von einem halbdurchsichtigen, pfirsichfarbenen Schleier, der bis zur Erde reichte.
Unter der samtenen Himmelswölbung des Altars machten sie Halt und verneigten sich vor dem obersten der Priester. Auf dessen Zeichen hin wurde schließlich ein gleichfalls prächtiger Paravent herbeigetragen und zwischen dem Brautpaar und der versammelten Menge abgestellt. Anschließend wurden auch die Zeugen gebeten dazuzutreten. Die Ehrengarde bildete einen zusätzlichen Schutzring um das Prüfamt, in dessen geheiligtem Raum nun gleich die Probe der unversehrten Jungfrauenschaft vollzogen werden würde.
Kanaima rollte die Augen gegen die üppig bemalte Tempeldecke. Vor einigen Jahren hätte er nichts Anstößiges bei dieser Tradition empfunden, doch heute sah er darin einen demütigenden Akt, der lediglich zeigte, wie sehr die Frauen in Askhar der Willkür der Männer unterworfen waren.
Eine in einem sehr langsamen Rhythmus ertönende Komposition von Schellen ließ gebannte Stille wie bei einem gewagten Akrobatenstück auf dem Jahrmarkt eintreten, während hinter dem grauen Wall der Ehrengarde und dem Paravent die Kleider raschelten. Unterrock nach Unterrock wurde gelüpft, bis schließlich das kupferfarbene Dreieck der Braut sichtbar wurde. Der Hohepriester, der für diesen Anlass aus Haran-Renandi angereist war, unternahm höchstselbst die fragwürdige Untersuchung, wobei ihn selbst die größte Lust durchfuhr. Aber das gehörte ja auch zu den göttergefälligen Aufgaben eines Priesters bei der Trauung, auch dessen Glied sollte sich im Namen des Göttervaters rühren, der in Askhar allgegenwärtig auch in Gestalt eines übergroßen, erigierten Phallus verehrt wurde. Rührte sich der Prüfschwengel des Priesters jedoch einmal nicht, so war die Braut unrein und eine Betrügerin, die sofort hingerichtet werden musste. Schon so manches junges Mädchen hatte so zu Unrecht ihr Leben verloren, ohne dass es zuvor auch nur eines Mannes Zeremonienstab zu Gesicht bekommen hätte, weil sie an einen überalterten und saftlosen Hohepriester geraten war, der trotz seines schlaffen Versagens seinen Thron nicht an einen eindeutig virileren Nachfolger abtreten wollte.
Als nun der sich in den besten Jahren befindliche Hohepriester des königlichen Tempels sich aufrichtete und auch sein Geschlecht für alle Zeugen dergestalt hervorragte, wurden die Unterröcke wieder sittlich vor die Scham der Prinzessin geschoben und dreimal in die Hände geklatscht.
Das askharische Publikum, das an dieses Prozedere gewöhnt war, atmete erleichtert auf und klatschte und jubelte ebenfalls, als wäre den Jahrmarktakrobaten soeben das große Kunststück gelungen. Die indignierten Blicke der adjanischen Gäste blieben wissentlich unbemerkt.
Der Paravent wurde entfernt, und die Ehrengarde gab den Blick auf das Brautpaar frei, das nun mit den Gesichtern - das der Prinzessin immer noch verhüllt - zur Menge stand. Setnas Züge waren wie gewohnt aus wie Holz geschnitzt. Doch Kanaima meinte, trotzdem ein entrücktes Glänzen in dessen schwarzen Augen erkennen zu können. War es die Verheißung der köstlichen und samtigen Frucht gewesen, welche Setna da soeben erblickt hatte, oder die Tatsache, in wenigen Augenblicken Herr über dieses himmlische Geschöpf zu sein? Kanaima zwang seine Gedanken in eine andere Richtung, doch es wollte ihm nicht so recht gelingen. Immer wieder sah er Setna vor sich, wie er mit dem größten Vergnügen auf seiner lustverzerrten Fratze die Prinzessin beschlief.
‚Sein gutes Recht!’, dachte er voller Ingrimm. ‚Es hätte dein Recht sein können!’ Seine Kiefermuskeln mahlten. ‚Und zu allem Überfluss tust du im Augenblick auch noch genau das, was Setna zu beabsichtigen versucht hatte: Dich quälen mit dieser Vorstellung! Deshalb darfst du heute hier sein, das war der einzige Grund!’ Er schielte nach beiden Seiten und sah, wie alle um ihn herum verzückt der Zeremonie folgten, die mit der Handübergabe der Braut an den Bräutigam durch den Hohepriester endlich ihr Ende fand. Setna und die Prinzessin waren nun Gemahl und Gemahlin, einander verbunden bis in die Ewigkeit, und daran würden nur die Götter oder der Tod etwas ändern können.
Heißer Hagel traf Kanaimas Herz, während der Priester das Paar segnete und ihrer beider Fruchtbarkeit beschwor.
Niemand sah dabei das verstohlene Zähnefletschen auf dem Gesicht des Maestros in den hinteren Reihen. Der Segen Hamuk’shenaz’ würde nicht viel ausrichten gegen die Macht, welche die Wissenschaft besaß, dachte er siegessicher. Denn mit dem heutigen Tage hatte begonnen, was Rebian ihm versichert hatte, und es hatte ganz gewiss nichts mit einfältiger Segenshudelei zu tun. Kanaimas erhitztes Blut kühlte wieder ein wenig ab. Sein Arm würde länger und ausdauernder sein als Setnas jämmerliche Rute!
Unter lauten Hochrufen wurde das Brautpaar aus dem Tempel geleitet. Setna, das königliche Wappen goldprangend auf seinen Schultern und mit stolz erhobenem Haupt, zwinkerte Kanaima überlegen zu, als er an dessen Reihe vorbeischritt, doch der Maestro war längst wieder ganz der zugeknöpfte und distanzierte Akademicus, der sich höflich verneigte.
Auch draußen war der Jubel groß, und die gerufenen Glückwünsche nahmen kein Ende. Die prinzlichen Brautleute bestiegen einen blumengeschmückten Pferdewagen und fuhren hinauf in den Palast, und auch Katthike und das Königspaar von Adjan ließen sich natürlich getrennt voneinander hinauf kutschieren, während alle anderen laufen mussten.
Ihre zweite, jüngere, aber ebenso hübsche Tochter hatten die Adjaner vorsorglich zu Hause gelassen, weil sie diesem derben Barbarenpack schlicht misstrauten - zu Recht, wie sich mit der äußerst geschmacklosen Prozedur bewiesen hatte, der sich ihre arme älteste Tochter vor den lüsternen Blicken aller hatte unterwerfen müssen.
In den erdrückend protzigen Hallen des Palastes, in denen alles an schillernder Kriegsbeute angehäuft worden war, was sich zu diesem Anlass aus den Schatzgewölben hatte tragen lassen, schritt man mit unwohler Witterung zum großen Bankett und wurde erneut Zeuge der mangelnden Schicklichkeit des neuen Bündnispartners. Mit gespieltem Gleichmut ertrugen die an feinsinnigere Darbietungen gewöhnten adjanischen Gemüter die unflätigen Scherze, welche über das Brautpaar zusammen mit dem Essen aufgetischt wurden. Das gehörte - natürlich - auch zur alten Sitte, gleichwohl wie das zügellose Gezeche mit den ungenießbar verwürzten Speisen bis spät in die Nacht, als die frisch Vermählten unter lautem Gegröle und obszönen Gesten endlich entlassen wurden.
Die symbolträchtige längste Nacht des Jahres sollte der Vereinigung des Prinzenpaares das Gleichnis von der Wende vom Schatten zum Licht beigeben.
Für die Prinzessin allerdings fühlte es sich ganz genau anders herum an, als der Schatten Setnas sich über sie senkte.
Zur längsten Nacht seines ganzen Lebens wurde es auch für Kanaima, der kein Auge zu tat. Seine Gedanken hatten es sich zum schlechten Spaß gemacht, ihn immer wieder Trugbilder von Setna und der Prinzessin in wollüstiger Ekstase vorzugaukeln. Und beinahe hätte er sich eine von den gefälligen hyaunischen Sklavinnen kommen lassen, die Lata ihm neuerdings so großzügig anbot, um sich Ablenkung zu verschaffen und den Druck loszuwerden, der sich ungewollt in seinen Lenden aufgebaut hatte. Doch er besann sich, grub stattdessen seine Fäuste in sein Lager und dachte an Janita und das, was sie ihn gelehrt hatte.
Am nächsten Morgen erschien das Sonnenwendpaar winkend auf der Tribüne am Turnierplatz und setzte sich zwischen die Brauteltern.
Auf den Wangen der Prinzessin lag ein Hauch von schamerfüllter Röte, und in den Augen Setnas die Selbstbestätigung seiner Männlichkeit, die er in der letzten Nacht so bravourös hatte unter Beweis stellen können. Laut gejauchzt vor Brunft habe man in den prinzlichen Gemächern, wurde überall auf den Rängen getuschelt, und die askharischen Damen lächelten hinter ihren Schleiern wollüstig.
‚Wohl mehr aus Angst als vor Lust haben sie geschrien’, dachte Kanaima grimmig. Setna, um seine Angst vor dem Versagen zu übertünchen, und die Prinzessin aus Furcht, ihr geheimstes Zimmer diesem Scheusal öffnen zu müssen. Und ob das alles nun bloßer Tratsch war oder nicht, es reizte Kanaima in seinem ohnehin schon angeschlagenen Vertrauen in die Gerechtigkeit des Universums.
‚Ob du es willst oder nicht, du musst damit zurechtkommen!’, rief er sich heftig zur Vernunft. ‚Du wirst es nicht ändern können, bis es soweit ist, und du das Zepter ergreifst. Bis dahin, übe dich in kühler Gleichgültigkeit. Sonst bringst du noch alles in Gefahr, genau wie Karlis es gesagt hat, und wirst am Ende gar nichts haben!’ Kanaima warf einen Blick hinauf zu seinem Onkel, der in der untersten Reihe zu Füßen der königlichen Gesellschaft saß, und trat anschließend in die Schranken auf dem frisch aufgeschütteten Turnierplatz. Er verneigte sich vor der königlichen Empore, von der er vor vielen, vielen Jahren Setna hatte fallen sehen, und eröffnete mit lauter, klarer Stimme im Namen des Gastgebers, des Königs von Askhar, den Wettkampf, welcher zum Anlass der Hochzeit und zu Gunsten der versammelten edlen Herrschaften ausgerufen worden war. Anschließend atmete er tief durch und schob seine Brust raus. Jetzt war er wieder in seinen Gewässern! Erfüllt von innerer Zufriedenheit sah er zu, wie die lange Reihe der namhaften Teilnehmer den Platz betrat.
Er traf die Prinzessin nach zwei Wochen, in denen er sie kaum zu Gesicht bekommen hatte, erneut im Stall des Palastes. Natalia Isabylla hatte sich zu einer wahren Pferdenärrin entpuppt und verbrachte viel Zeit damit, in den königlichen Gärten auszureiten, welche zu Füßen der äußeren Palastmauer einen grünen Wall gegen die Stadt bildeten und in ihren Augen einen einzigen schwachen Beweis von Kultur in diesem verrohten Land darstellten - vorausgesetzt, ihre Pflichten riefen sie nicht gerade in das Bett des Prinzen.
Kanaima bemerkte sofort, dass sich ihr Verhalten ihm gegenüber verändert hatte. Züchtig hielt sie ihren Blick gesenkt, nachdem sie ihn gegrüßt hatte. Ihre Haare waren nun unter einem golddurchwirkten, luftigen Schleier verborgen.
„Prinzessin von Askhar, meine Hochachtung vor Euren Reitkünsten!“ Er lächelte sie an, und ihre Lider zuckten kurz, doch sie blieben, wo sie waren.
„Ihr habt mich auf dem Platz reiten sehen?“, fragte sie beinahe schüchtern.
„Den Hengst habt Ihr vortrefflich im Griff. Hat der Prinz ihn Euch geschenkt?“
„Ja, es war eine Hochzeitsgabe.“
„Ein prachtvolles Tier“, entgegnete Kanaima, und die kleinen, goldenen Plättchen am Schleier der Prinzessin musizierten leise, als sie nickte.
„Oh, gewiss, und so kraftvoll wie die weiße Gischt der Brandung.“ Am Beben ihrer Nasenflügel, sah er, dass sie ihn gerne angesehen hätte, sich aber dazu zwang, weiterhin das Muster der Strohhalme auf dem Stallboden zu studieren.
Das Hochzeitsgeschenk der Prinzessin ließ Kanaima unweigerlich an Oskhan, den Sohn von General Bhuras, denken, der dieses Pferd abgöttisch liebte, es aber nie besitzen sollte. Obwohl es ein Abkömmling des herrlichen Schimmels des Generals war, hatte der König, dem alle neugeborenen Fohlen der Palastzucht gehörten, es Setna geschenkt. Natürlich hatte dieser mit seinem unfehlbaren Gespür für die kleinen Schwächen der Menschen sofort gemerkt, wie sehr der junge Oskhan an dem Tier hing, und hatte keine Möglichkeit ausgelassen, ihn damit zu quälen.
„Aber er ist auch ein wenig im Rücken versteift, er mag meinen Reitstock wohl nicht“, sprach Isabylla weiter.
„Das liegt an der nicht gerade sehr glücklichen Hand, mit der er bisher geführt worden ist. Aber unter Eurer erfahrenen Behandlung wird er gewiss wieder Vertrauen fassen und in den Flanken weich wie Butter werden. Ihr werdet es sehen.“
„Dann werde ich fortan ganz bewusst mit ihm arbeiten. Habt Dank für Euren Hinweis, Maestro.“
„Gern geschehen!“ Noch gönnte Setna ihr dieses harmlose Vergnügen mit den Pferden offenbar, doch dies konnte sich auch schnell ändern, das wusste Kanaima. „Und wie ergeht es Euch jetzt, da ich Euch rechtmäßig Prinzessin von Askhar nennen darf?“, wollte er wissen.
„Oh, nun ja. Zu sagen, es wäre ein Zuckerschlecken, wäre eine glatte Lüge.“ Sie zupfte an ihrem Schleier. „Der Prinz ist ein schwieriger Mensch, und ich weiß nicht, wie ich es ihm recht machen kann. Aber ich tue, was er mir sagt. Ich trinke sogar jeden Morgen diesen fürchterlichen Schönheitstrank.“ Sie streckte undamenhaft die Zunge heraus.
‚Dieser Trank ist nur zu deinem Besten!’, dachte Kanaima heimlich, denn er wusste, was ihm noch als geheime Zutat beigemischt war. Es war gut, zu hören, wie sehr Setna offenbar darauf bestand, dass sie ihn zu sich nahm. Und er hoffte, er möge auch wirken, denn das Prinzenpaar musste unbedingt kinderlos bleiben!
„Wie ich, ist auch der Prinz um Euer Wohlergehen besorgt“, sprach er halbherzig aus, da er Setnas dunkle Anwandlungen kannte.
„Nein. Er ist ganz und gar nicht wie Ihr. Aber das lasst meine Sorge sein“, entgegnete Isabylla mit gleichfalls gespielter Heiterkeit.
Fieberhaft überlegte Kanaima, wie er das Gespräch auf die unangenehme Angelegenheit seiner tatsächlichen Herkunft lenken sollte, bevor es der Prinzessin einfallen konnte, sich von ihm zu verabschieden
Wieder gelang es ihr, ihn zu verblüffen, denn plötzlich hob sie nun doch ihren Blick und traf damit genau in das kalte Blau seiner Pupillen.
„Schon beim ersten Mal hatte ich mich gefragt, warum Ihr die Augen des Königs habt, und die des Prinzen schwarz sind wie Brunnenschächte.“
Nun war es an Kanaima, verlegen die Strohhalme anzustarren. Die Ähnlichkeit mit seinem Vater lastete wie ein unabstreifbarer Fluch auf ihm. Aber nur, weil er äußerlich aussah wie ein Monstrum in Menschengestalt, war sein Inneres nicht auch zu einer fauligen Grube verkommen. Er sah ihr wieder in ihr hübsches Gesicht. Ihre roten Lippen glänzten verheißungsvoll, nachdem ihre Zunge kurz darüber geglitten war. „Wisst Ihr, das ist sehr lange her, und ...“
„Ihr müsst nicht weitersprechen. Ich habe längst erkannt, was meinen Gemahl dazu veranlasst hat, mir das alles über Euch zu erzählen. Und vielleicht beruhigt es Euch, zu hören, dass es nicht gänzlich neu für mich war, denn auch in Adjan ist bekannt, dass die Verhältnisse im askharischen Königshaus … wie soll ich sagen … etwas kompliziert sind.“ Isabylla sah sich kurz um. „Es ist nur so, dass ich bei allem, was mir je über den in Ungnade gefallenen Prinzen von Askhar zu Ohren gekommen ist, nie gedacht hätte, dass gerade Ihr derjenige welche seid. Denn wie ein ‚skrupelloser und kaltblütiger Brudermörder’ seht Ihr mir nicht gerade aus.“
‚Und dennoch wäre ich es beinahe geworden’, dachte Kanaima und schürzte die Lippen.
Die Prinzessin beugte sich etwas vor. Das helle Spiel der Goldplättchen an ihrem Schleier erklang erneut, und ein Hauch von Nelke und Jasmin wehte ihm entgegen. Etwas in Isabyllas geheimnisvollem Blick veränderte sich, als sie wisperte: „Äußerst bedauerlich.“
Kaum, dass sie diese Worte ausgesprochen hatte, wandte sie sich schon von ihm ab und segelte mit wehendem Schleier davon. Zurück blieben nur die vage Ahnung von Frühlingsduft und ein nachdenklicher Maestro, der sich fragte, was diese Frau damit gemeint haben konnte.
*
Suneka ließ sie die kleine Sosama auf ihrem Schoß wippen, während ihre Mutter in einen wollenen Überwurf gehüllt im Erker saß und sich von dem letzten schweren Rheumaanfall erholte, den ihr das kühle und feuchte Wetter des Winters beschert hatte. Versunken in ihre Gedanken blickte Shani aus dem Fenster, vor dem die Schneeflocken lautlos hinab auf die dünne, gefrorene Decke rieselten, die alles überzog, so weit man blicken konnte; den Chorten, die Höfe und Scheunen, die Felder rundherum und die Wälder auf den Hügeln. Alles lag starr und wartend auf den neuerlichen Beginn des Lebens im Frühling.
Die Stille in dem Zimmer war angenehm, obwohl Suneka sich sehr um ihre Mutter sorgte. So schlimm war es noch nie mit ihr gewesen, und auch die Arznei, die Andra ihr verabreichte, verlor zusehends an Wirkung. Shani litt nun fast jeden Tag Qualen, aber sie hatte sich tapfer gehalten und nicht geklagt - bis der Anfall gekommen war und sie ans Bett gefesselt hatte. Nicht einmal ein Fingerglied hatte sie rühren können, ohne dabei von rasendem Schmerz erfasst zu werden. Und schließlich war der Tag gekommen, an dem sie ihre Aufgabe als oberste Kinderfrau an ihre Nachfolgerin Lasha hatte abgeben müssen. Endgültig. Und Suneka befürchtete, dass auch das schwer auf dem Gemüt ihrer Mutter lastete. Nach einem Leben erfüllt von Arbeit fühlte sie sich nun nutzlos.
Auf ihrem Schoß antwortete Sosama mit einem vergnügten Glucksen, da sie mit ihren Knien einen holperigen Trab angestimmt hatte, und ihr Blick wanderte hin zu dem glücklich geröteten Gesichtchen des kleinen Mädchens. Eine Weile blieb er an den vertraut gefärbten Augen hängen, um dann schließlich doch wieder in die Ferne zu schweifen. Sie merkte, wie ihr Herz schneller schlug. In drei Monaten würde er kommen und hoffentlich für immer bleiben! Dann würde alles gut werden und die Zeit der Entbehrung vergessen sein. Im Geiste sah sie ihn in der Tür stehen, müde und erschöpft von der Reise, aber mit dem Lächeln auf seinem leicht gebräunten Gesicht, das ihr noch immer jedes Mal die Knie weich werden ließ. Versonnen strich sie sich über ihre Lippen, wo sein letzter Kuss sie vor zwei Jahren berührt hatte.
„Er wird kommen, Suneka. Ich kenne ihn wie einen eigenen Sohn, er wird uns nicht enttäuschen.“
Aus ihrer Erinnerung gerissen, sah Suneka zu ihrer Mutter auf, die ihr ein warmes Lächeln schenkte. Natürlich hatte Shani es ihr ansehen können, woran sie so eben gedacht hatte. Schlechten Gewissens, dass ihre Sehnsucht nach ihrem Liebsten sie ständig von den Sorgen um ihre Mutter ablenkte, senkte Suneka den Blick.
„Ach, Kind, du brauchst dich nicht dafür zu schämen. Auch ich war verliebt und weiß wie das ist, wenn das Warten an den Nerven zehrt. Aber er wird kommen. Raen ist in vielen Dingen gewiss nicht leicht zu nehmen, aber seine Versprechen hat er immer eingehalten, da kommt er seinem Vater gleich. Und glaub mir, ich kenne beide.“
Suneka überlegte, wie viel Raen mit seinem Vater tatsächlich gemein haben mochte, denn die beiden waren ihr nie sehr ähnlich erschienen. Aber das lag vielleicht auch nur daran, dass sie Roman nicht als Knaben und als jungen Mann gekannt hatte, wie es ihre Mutter hingegen tat, von der sie wusste, dass sie einst in Roman verliebt gewesen war, bevor sie Radast in Rinzai kennengelernt hatte. Wie die Mutter so die Tochter, dachte Suneka belustigt, doch dann schlich sich die Sorge wieder in ihr Herz.
„Und warum ist Raen dann nicht schon vor einem Jahr zu Besuch gekommen, wie er es versprochen hat?“, fragte sie beinahe trotzig, gerade so, als wolle sie einen Fehler an ihrem zukünftigen Ehemann finden.
Shani lächelte wieder. „Weißt du, junge Männer haben oft ganz anderes im Sinn als wir Frauen, das musst du ihnen nachsehen. Es kann viele Gründe haben, warum er nicht gekommen ist. Die Stadt Borgossa ist sehr weit weg und es kann dort vieles passieren, von dem wir nichts wissen. Gib ihm nicht die Schuld dafür. Allein Zaizura bestimmt unsere Wege.“
„Ja, Mutter, du hast Recht, ich will nicht an ihm zweifeln, das wäre nicht anständig von mir. Nur ist es schon so lange her, dass ...“
Suneka sah, wie Shani plötzlich das Gesicht verzog. Ihre Lippen bebten und ein Stöhnen entstieg ihrer Kehle.
„Mutter, was ist?“ Sie setzte Sosama ab und eilte zum Erker.
„Nichts, es geht schon, Kind. Lass mich nur erholen.“
„Soll ich nach Andra schicken?“
„Nein, nein, es geht schon besser. Komm, setz’ dich eine Weile zu mir, ja?“
Suneka nahm neben ihrer Mutter Platz, legte eine Hand auf ihren Arm, und zusammen blickten sie durch die Eisblumen am Fenster auf die weiße Landschaft.
Auch Andra wünschte sich sehnlichst die Rückkehr ihres Bruders herbei, nur aus ganz anderen Gründen als Suneka. Mehr denn je war Raens Hilfe von Nöten, befand sie, denn nur er als Krieger konnte ein Auge auf das werfen, was der kleine Bruder überall da tat, wo Andra nicht hin durfte. Resa hatte seit seinem Kall viel zu viele Räume, in denen sie ihn nicht mehr erreichen konnte, und obwohl er jetzt gezähmt schien und unter der Zucht Kensas recht manierlich gedieh, lastete auf ihr immer noch die schreckliche Vermutung, die sie an jenem Abend von Loenkas Sturz überkommen hatte. Es bescherte ihr Nächte voller Angst und schlimmer Träume und sie fühlte sich damit ganz allein. Raen würde, so hoffte sie, den Part von Loenka übernehmen, bis dieser wieder vollständig genesen war, und Resa unter Beobachtung halten.
Der Zustand des Oberpriesters machte zwar Fortschritte, aber er war immer noch sehr mitgenommen. Auch gehen würde er noch einige Zeit nicht können, dafür war aber mittlerweile sein Lager vom Krankenzimmer wieder in den Tempel verlegt worden, und mehrere Priester sorgten dafür, dass er überall hingetragen wurde, was natürlich auch den Abort beinhaltete. Sein Amt hatte zunächst ein Jüngerer übernommen, der Loenka in allem vertrat, was des Oberpriesters Aufgaben waren. Nur die angekündigte Reise nach Tena-lo-Ghan blieb aus. Das wollte er, so hatte Loenka Andra versprochen, noch immer persönlich erledigen, wenn er soweit war, ein Pferd besteigen zu können. Aufgeschoben war nicht aufgehoben.
Es klopfte, und Andra tauchte aus den trüben Tiefen ihrer Gedanken auf.
„Herein.“
Die Tür schwang auf, und Hanenka trat ein mit ihrer kleinen Tochter im Arm. Sie und ihr Vater hatten nun doch ein Kind bekommen, obwohl sie noch immer nicht verheiratet waren. Andra stand von ihrem Platz auf und ging ihr lächelnd entgegen. Resa hingegen hatte die Geburt seiner Halbschwester schlichtweg ignoriert. Für ihn existierte die neue Frau im Leben seines Vaters einfach nicht.
„Ah, wie geht es denn meiner kleinen Schwester?“, fragte Andra und strich mit der Fingerspitze sachte über die blasse Wange des Kindes.
„Ich weiß nicht, sie ist so merkwürdig ruhig geworden und trinkt noch immer nicht genug, obwohl reichlich da ist. Es schmerzt schon, weil ich die viele Milch nicht loswerde.“ Hanenkas Miene verriet Kummer, und Andra berührte ihren Oberarm. Sie wollte ihr als Medizi die Zuversicht schenken, die sie benötigte. Aber auch Andra beobachtete mit wachsender Besorgnis die Entwicklung des Kindes.
Ihre vor drei Monaten zur Welt gekommene Halbschwester hatte einen Ausdruck auf das Gesicht ihres Vaters gezaubert, den sie seit einer Ewigkeit nicht mehr bei ihm gesehen hatte und von dem Andra geglaubt hatte, er sei mit dem Tod ihrer Mutter für immer verschwunden. Mit einem Lächeln auf ihren Lippen hatte sie Roman am Bett der glücklichen Wöchnerin betrachtet und sich gewünscht, auch sie könnte über die Kraft zu solch ungetrübter Freude verfügen, wie sie nur jemand verspüren konnte, der nach so langer Zeit noch einmal Vater geworden war. Doch stattdessen war sie hinter ihrem Lächeln immer tiefer in einem Sumpf aus Schuldgefühlen versunken, der von Mal zu Mal weniger rettende Äste für sie bereithielt. Der Anblick ihres Vater hatte sie unangenehm daran erinnert, welch Freude sie ihrem Osa vorenthielt, der sich von Jahr zu Jahr nichts sehnlicher wünschte, als endlich eine Schar von Kindern auf seinen kräftigen Knien schaukeln zu können. Aber ihre Angst machte sie hilfloser denn je, und im Stillen hatte sie sogar begonnen zu Hyaun zu beten, Er möge ihr ein Zeichen senden. Sie wollte endlich keine Angst mehr vor dem natürlichsten aller Vorgänge haben, der ihrer Mutter das Leben gekostet hatte!
Doch auch das Glück ihres Vaters trübte sich nach wenigen Wochen, als sich herausgestellte, dass mit dem Kind etwas nicht stimmte. Es war kleiner als gewöhnlich, was an sich noch nichts Besorgniserregendes war, aber es wollte einfach nicht mehr richtig trinken und schien zudem ständig von Bauchkrämpfen geplagt zu sein. Andra hatte es untersucht, aber nichts gefunden, das auf eine Krankheit oder gar Fehlbildung der Organe hingedeutet hätte. Deshalb hatte sie es zunächst mit einem Kräutersud für Hanenka versucht und einem Verbot, Lauch und Zwiebeln zu essen, und das Neugeborene mit wärmenden Kamillenumschlägen für den Bauch behandelt.
„Schreit sie nachts?“, wollte Andra wissen.
„Kaum. Auch tagsüber nicht. Immerzu liegt sie regungslos da und starrt oder schläft.“
„Hm.“ Das war eine Verschlechterung, denn bis vor kurzem hatte das Kind wenigstens noch geschrien. Andra ging in die Arzneikammer und kam kurz darauf mit einem kleinen Tonschälchen wieder. Ein bräunlich grünes Pulver war darin.
„Nun, gut versuchen wir es jetzt einmal hiermit. Es sind Anis- und Fenchelsamen, sie dürften zumindest die Bauchschmerzen lindern. Gib ihr zu jeder Tageszeit etwas auf deinem Finger. Und dann sehen wir, ob sie wieder Appetit bekommt.“ Sie reichte Hanenka das Schälchen in ihre freie Hand und führte sie zur Tür.
„Komm in zwei Tagen wieder.“
Hanenka neigte dankbar lächelnd den Kopf, um die ehrenwerte Medizi gebührend zu verabschieden. Sofort schoss Andra Röte ins Gesicht. Es genierte sie, dass die Ältere ihr so ergeben ihren Respekt entgegenbrachte. Schnell verneigte sie sich ebenfalls und schloss die Tür.
Die Kleine schrie nicht mehr. Das war gut und kam jemand anderem dafür umso vorzüglicher zu Pass. Denn das Geschrei war riskant, es konnte die Mutter wachrufen. Jetzt aber war es leicht. Obwohl die Müdigkeit an ihm zerrte und ihm mehrmals die Augen zufielen, blieb er auch diese wie jede der vorangegangenen Nächte wach, bis der Chorten schlief. Sein Tagewerk war sehr anstrengend geworden, und seine neue Aufgabe verlangte ihm alle Kraft ab, aber er war glücklich. Endlich gelangte er in die Gefilde, die ihm zuvor verschlossen gewesen waren! Endlich wurde er ein Krieger und endlich würde er beachtet werden wie sein Bruder!
Als sein Bettnachbar zu schnarchen begann, strich er die Decke beiseite, tastete in seiner Truhe nach einem kleinen, runden Gegenstand und schlich dann auf leisen Sohlen hinaus. Wie ein vorsichtiger Fuchs auf seiner Nachtrunde huschte er an den Mauern entlang durch den Hof und hinüber zu dem anderen Wohnturm. Es war verdammt kalt und glatt, und der Schnee knirschte unter seinen Füßen, aber es zog ihn stetig voran. Über ihm brachte der Vollmond die Eiszapfen an den Dachtraufen zum Glitzern; eine eisige, stille Nacht.
Als er die Eingangshalle des Wohnturmes erreichte, klapperten ihm die Zähne. Mit Gewalt presste er seine Kiefer aufeinander und schlich weiter die Treppen hinauf. Im Flur vor dem Zimmer seines Vaters hielt er inne und lauschte, dann öffnete er vorsichtig die Tür. Seine Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, und so fand er ohne Mühe den Weg zu dem Bettkästchen, in dem seine kleine Halbschwester lag, flach atmend mit zur Seite gedrehtem Köpfchen. Mit Abscheu verzerrter Miene betrachtete er den hässlichen Wurm und ließ sich dann auf die Knie nieder. In den verschlossenen Alkoven schliefen sein Vater und dessen verfluchte Geliebte tief und fest. Seine Rechte zog den Gegenstand aus seiner Jacke, und seine Linke entkorkte die Öffnung. Mit Speichel feuchtete er seinen kleinen Finger an und steckte ihn in das Tongefäß. Das Pulver, das nun daran haftete, sah im Dunklen schwarz aus, hatte bei Tageslicht aber eine kräftig blaugrüne Färbung. Es stammte aus der Schmiede von Osa.
Vorsichtig steckte er den Finger in den winzigen Mund des Kindes, und sofort fing es an, daran zu nuckeln. Ekel erfüllte ihn bei dem weichen, feuchten Saugen, und wie jedes Mal musste er sich zwingen, den Finger nicht gleich wieder herauszuziehen. Es war von Nöten, dass die Kleine eine gewisse Weile daran saugte, denn dann würde sie das Pulver auch schlucken. Anders würde es mit dem Speichel wieder hinaus fließen und keine Wirkung haben.
Also verharrte der große, gebeugte Schatten neben dem bleichen Gesichtchen des dem Tode geweihten Mädchens, und eisig und still wie die Nacht war es in seinem Herzen.
Borgossa hatte längst Neujahr gefeiert, das nach seinem Kalender auf den ersten Tag des Monats fiel, der hier Januar genannt wurde, und das Hytena bestimmte endlich nach langem Hin und Her seinen neuen Hausvorstand. Es hatte wilde Diskussionen darum gegeben, denn der Älteste, Toruma hatte verkündet, er wolle am Ende des Circulums nach Hause zurückkehren, auch wenn er sein Studium damit um ein Jahr verkürzte und deshalb auch ohne Titel blieb. Sie hatten ihn mit Vorwürfen überschüttet und ihn beschuldigt, sich vor der Verantwortung zu drücken, ganz wie er es bei der letzten Wahl schon getan hatte. Doch Toruma beteuerte, gerade in diesem Punkt Verantwortung zu zeigen, denn er sah keinen Sinn darin, lediglich für drei Monate das Amt zu übernehmen, um es dann wieder an einen anderen abzugeben. Sollte doch gleich einer anderer für ihn einspringen; einer, von dem sicher war, dass er noch länger im Hytena verblieb. Was Toruma bei all seiner Ehrlichkeit seinen Landsleuten nicht verriet, war, dass es die Ereignisse der vergangenen Wochen gewesen waren, die das Fass zum Überlaufen gebracht und ihn dazu bewogen hatten, Borgossa den Rücken zu kehren. Denn schon lange fühlte er sich nicht mehr wohl im Hause der Hy, in dem eigentlich Harmonie und Eintracht herrschen sollten. Stattdessen war das Hytena zu einem Ort der Bedrohung mutiert, und auch nachdem der notorischste, aber lange noch nicht schlimmste Störenfried, Sel, sich auf seine unnachahmliche Weise verabschiedet hatte, hatte kein Frieden in Torumas Herz einkehren können. Zu sehr fürchtete er sich noch immer vor der Unberechenbarkeit des noch verbliebenen Streithahns: Raen.
Die aus heiterem Himmel herab zuckenden Tobsuchtsanfälle des jungen Heißsporns hatten ihn schon seit Anbeginn geängstigt, seit dieser damals im Hytena angekommen war. Auch wenn er selbst nie das Ziel der Attacken gewesen war, so war für ihn das Leben unter einem Dach mit diesem Wüterich doch unerträglich geworden. In seinen Augen hatte Raen nichts als Unruhe in ihre Mitte gebracht, und er spürte, dass in dem unbeherrschten Krieger tief versteckt eine geheime und überaus gefährliche Kraft lauerte, die, wenn sie erst einmal entfesselt, wie ein Orkan auf hoher See eine vernichtende Wirkung auf alle in seiner Nähe entwickeln würde, die nicht rechtzeitig die Segel strichen. Das dies womöglich auch Freunde und Landsleute treffen konnte, beabsichtigte Toruma gar nicht erst zu erproben, und deshalb wollte er fort. Fort von Zorn, Anfeindungen und schwarzer Galle, und sich schnellstmöglich in Sicherheit bringen, bevor es zu spät war ... und der Sturm ganze Küstenstriche verwüstete!
Von alldem ahnte Raen natürlich nichts. Er hielt sich weitgehend aus den Debatten um Toruma heraus, denn für ihn verhielt sich die ganze Angelegenheit eindeutig: Wenn Toruma nicht wollte, war das sein gutes Recht, schließlich stand auch ihm wie jedem anderen hier der freie Wille zu. Wer waren sie, ihm ausgerechnet das absprechen zu wollen. Aber auch die Konsequenz hernach war für Raen vollkommen klar: Manoen würde als Nächstältester der Hausvorstand werden, und dieser Gedanke gefiel ihm. Also hüllte er sich in ein für ihn untypisches Schweigen und schritt erst wieder zur Tat, als es zur Abstimmung kam.
Alle bis auf Manoen selbst waren für den Rotschopf!
Damit war es beschlossen, und Uke, der stellvertretend für Manoen die Führung dieses Palan übernommen hatte, ernannte den großgewachsenen Krieger feierlich zum Tena suer und überreichte ihm die Schlüssel. Sichtlich unwohl nahm Manoen sie in Empfang und gelobte Gewissenhaftigkeit.
Erst später, als die Küche sich leerte und die Lichter gelöscht wurden, ergriff Raen die Gelegenheit, mit seinem Freund allein sprechen zu können. Wie es beinahe schon zu einer guten alten Tradition zwischen ihnen beiden geworden war, stießen sie im rötlichen Schimmer der Restglut im Kamin zuerst auf ihre Freundschaft an, um sie danach brüderlich trinkend zu genießen.
Nachdem Manoen einen tiefen Zug des kühlen Bieres genommen und sich den Schaum von der Oberlippe gewischt hatte, stöhnte er volltönend auf und ließ sich mit dem Rücken an die Wand fallen.
„Den Bock zum Gärtner gemacht!“, klagte er halb im Scherz, halb im Ernst. „Das Vertrauen, das ihr in mich setzt, ehrt euch. So wird es also Zeit, endlich erwachsen zu werden. Wohlan!“ Er nahm einen weiteren großen Schluck. „Auch das darf ich mir dann wohl erst einmal abgewöhnen. Ade, Vergnügen! Ade, ihr Freuden La Gioias! Ade, süßes Lotterleben, jetzt muss ich ein Vorbild sein!“ Er seufzte erneut.
Raen schwieg belustigt, sollte sein Freund sich nur in aller Ruhe ausheulen. Die Ernennung zum Hausvorstand schien ein regelrechter Schock für den armen Kerl zu sein.
Manoen leerte den Becher und stellte ihn ab, schenkte sich aber nicht nach. „Woher wusstest du, dass ich jemanden zum Reden brauche?“, fragte er und drehte seinen Kopf in Raens Richtung.
Der ließ ein feines Lächeln anklingen und antwortete: „Dein Gesichtsausdruck bei der Wahl war unmissverständlich.“
„Wirklich? Oh, hoffentlich haben die anderen es nicht übelgenommen.“
„Sie kennen dich.“
„Eben drum!“
„Trotzdem haben sie dich ernannt.“
Manoen schien zu überlegen. Dann sagte er etwas heftiger als gewollt. „Meinst du etwa, ich mime gern für alle den gutmütigen Trottel!“
„Also, ich hätte nie gedacht, dass du ihn mimst“, entgegnete Raen nur mäßig erstaunt.
„Das ist ja noch schöner!“, echauffierte sich Manoen. „Du denkst also, ich bin ein Trottel! Ein feiner Freund bist du!“ Die Augen des Rotschopfes glühten mit dem Aschehaufen im Kamin um die Wette.
„Nein, Manoen, so war das selbstverständlich nicht gemeint. Es ist bloß, ich habe immer angenommen, deine Fröhlichkeit entspricht auch deiner wahren Natur. Dass du sie uns bloß vorspielst, hätte ich niemals angenommen.“
„Nun ja, so ist es ja eigentlich auch, ich bin gerne fröhlich. Aber ein lustiges Kerlchen zu sein, bedeutet für viele Menschen gleichzeitig auch klein im Geiste zu sein.“
„Wobei wir wieder beim gutmütigen Trottel wären.“
„Aber das bin ich nicht!“, beharrte der Ältere.
„Warum tust du es dann?“
„Was?“
„Wo du nur kannst, gehst du der Verantwortung aus dem Wege!“
Heftig sog Manoen Luft ein, um sich aufzuplustern. Seine Schultern hoben sich, und das Weiße in seinen Augen wurde heller. Doch statt seine Empörung zu äußern, ergab er sich plötzlich - schneller als Raen gedacht hätte. Die Luft fuhr aus den großen Lungen und mit ihr senkten sich die breiten Schultern wieder.
„Ach, Raen, wozu es noch länger leugnen, du kannst ja eh bis hinten auf meine Hirnschale gucken.“
„Ganz recht, damit habe ich schon meine Schwester zur Verzweiflung gebracht. Und nun heraus damit.“ Raen kreuzte die Beine und lehnte sich interessiert vor.
„Entsinnst du dich, dass ich dir immer noch nicht verraten habe, was ich an den Leuten von höherer Herkunft eigentlich so faszinierend finde?“
Raen nickte, natürlich entsann er sich.
„Es ist ganz einfach: Den hohen Herrschaften hört man zu. Leuten wie mir und dazu noch einem ausschweifenden Schluderjan, der alles auf die leichte Schulter nimmt, hingegen nicht.“
„Aber ist das nicht genau deine Absicht, damit die Leute dich in Ruhe lassen?“
Manoen lächelte traurig. „Schon als Kind wollte ich immer, dass die Leute mir zuhören und mich ernst nehmen, doch sie haben mich stets ausgelacht, oder ‚Rotes Eselchen’ genannt. Verantwortung, haben sie gesagt, die bekommen nur die ganz gewissenhaften Menschen, keine störrischen, kleinen Esel. Das hat mich geärgert und ich habe damit begonnen sie ärgern.“ Er stieß ein boshaftes Lachen aus. „Tja, und jetzt bin ich hier und lange heraus aus meinen Kinderschuhen, und ich weiß immer noch nicht, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen. Ich habe gelernt, sie zu vermeiden, nicht aber mich ihr zu stellen, weil mir nie jemand etwas zugetraut hat. Den allzeit vergnügten Scherzbold dagegen nehmen mir alle ab, darin bin ich ganz große Klasse!“ Manoen lachte bitter. „Mein ganzes Leben lang bin ich schon der gutmütige Trottel mit den Haaren so lohend rot wie die Schamesröte in den Gesichtern derer, die laut über meine Späße lachen. Fein, damit konnte ich mich arrangieren! Keine Verantwortung zu tragen, bedeutet auch, viel Spaß zu haben. Aber jetzt kommt ihr auf einmal daher und verlangt von mir, ich solle doch etwas von dem Verantwortungsgefühl zeigen, das angeblich in jedem Manne steckt. Nur, dass mir jenes schon von Kindesbeinen an ausgeredet worden ist! Raen, ich bitte dich als mein Freund, sag du mir, wie um alles in der Welt das gehen soll?“ Er presste seine Lippen aufeinander und rang sichtlich um seine Beherrschung.
Raen erkannte den Ernst der Lage und legte Manoen einfühlsam eine Hand auf den Unterarm.
„Warst du nicht derjenige“, sagte er leise, „der mir den Floh ins Ohr gesetzt hat, dass wir, die wir hier nach Borgossa verstoßen worden sind, dadurch erst die wahre Freiheit erlangt haben? Und dass wir tun und lassen können, was wir wollen?“
Manoen hob das Kinn und sah Raen unsicher an, und der Jüngere, der trotz seines schwierigen Temperamentes die Gabe besaß, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, sprach ruhig, aber beschwörend weiter: „Tonansene, la Libertà, weißt du noch? Es waren deine Worte, Manoen. Es ist das, woran du glaubst! Dein Gott, wenn du so willst. Aber Freiheit bedeutet nicht nur, etwas tun zu können, ohne dafür Rechenschaft ablegen zu müssen, sondern auch, sich von der Vergangenheit lösen zu können! Denn allein sie ist schuld daran, dass du unglücklich bist. Weil du glaubst, die Leute nehmen dich nicht ernst oder halten dich für nicht mutig genug! Das war zu Hause! Befreie dich endlich davon, Manoen, du bist, was du bist, und das ist gut so! Vergiss, was dir andere eingeredet haben. Du bist dein eigener Herr und nicht von dem Urteil anderer abhängig.“
„Aber ...“
„Schhh, das ist noch nicht alles, was ich dir sagen möchte. Denn das, was noch fehlt, ist, dass du der verdammt beste Freund bist, den man sich wünschen kann! Auf dich kann man sich immer verlassen! Ich würde dir mein Leben anvertrauen, und ... das kann vielleicht früher geschehen, als wir beide denken! Wer weiß das schon.“
Gerührt starrte Manoen Raen an.
„Was du da sagst, das ...“
„... ist verdammt wahr!“
„Ja ...“ Manoen schniefte hörbar. „So hat schon lange, sehr lange keiner mehr mit mir geredet. Immer war ich derjenige, der die Leute wieder auf die Füße gestellt und gesagt hat: ‚Ist nicht so schlimm, Kopf hoch und weiter geht’s!‘ Niemals hat mir jemand auf den Rücken geklopft und gesagt, dass ich etwas gut gemacht habe. Denn der Rotschopf, der ist ja fröhlich genug, der braucht keine Aufmunterung. Weit gefehlt! Ich danke dir sehr für deine Worte, Raen. Und du sollst wissen, dass deine Freundschaft auch mir unbezahlbar geworden ist.“
Raen biss sich auf die Lippen. Auch er war tief berührt, doch jetzt war es allein an Manoen, sein Herz auszuschütten, und er drückte lediglich stumm noch einmal dessen Unterarm, um ihn spüren zu lassen, dass er da war und ihm zuhörte. Er füllte beide Becher und reichte einen davon seinem Freund.
„Auf den freien Willen!“, flüsterte Raen und hob den Becher.
„Ja, auf die Freiheit!“
Sie stießen an und tranken.
„Das war gut von dir.“
„Woher weißt du das?“
„Ich wusste es, bevor du überhaupt daran gedacht hast, es zu tun.“ Al Nors Lachen klang samtweich und nachsichtig.
„Natürlich, ich vergaß.“
„Nun?“
„Nun, was?“ Raen blickte das Traumwesen fragend an. Mit einem wirklich guten Gefühl war er zu Bett gegangen und das erste Mal seit einigen Wochen schnell und ohne die ewig quälenden Grübeleien eingeschlafen. Die Gewissheit, dass er diese Nacht wieder Besuch bekommen würde, hatte ihn nicht beunruhigt.
„Hast du dich entschieden?“
„Das habe ich längst, ich werde mich dir nicht mehr länger verweigern. Zeige mir, weswegen du zu mir geschickt wurdest. Aber ich bitte dich, zeige mir immer nur eine einzige Sache zur Zeit. Ja?“
„So soll es sein, mein junger Mitstreiter.“
„Äh, aber eine Frage habe ich noch.“
„Nur zu.“ Der Menschenkopf auf dem Pferdehals nickte.
„Warum hast du all diese schrecklichen Wunden?“ Raen wies auf die immerzu neuen und unaufhörlich blutenden Schnitte und tiefen Schmarren am Pferdeleib Al Nors.
„Weißt du, das Schicksal und die Zukunft sind nicht immer einer Meinung, wenn es um die Bestimmung der Menschheit geht. Dein Gott Hyaun und ich, wir kämpfen Seite an Seite gegen Zaizura und um die Zukunft der Menschenwesen, die uns alle sehr am Herzen liegen.“
„Du und Hyaun, ihr kämpft gegen Zaizura für uns Menschen?“
„So ist es, und nicht selten trage ich dabei Wunden davon. Du hast ja gesehen, wie wütend Zaizura werden kann und wie gewaltig ihre Kraft ist. Jeden Eindringling, der es wagt, ihr Reich zu betreten, kann sie mit nur einem Streich ihrer gewaltigen Beine zu Staub zerschmettern.“
„Hat sie das schon einmal getan? Ich meine, was passiert, wenn sie einen erwischt?“
„Dann bleibst du für immer in ihrer Welt des Zeitnetzes gefangen.“
Raen sann darüber nach, was es wohl bedeuten mochte, ein Gefangener Zaizuras zu sein.
Aber Al Nor tat sich nicht schwer und beantwortete seine Gedanken.
„Es gab einen unter euch, Setna Bijae hieß er. Er ist Zaizura zu nahe gekommen, und sie hat ihn getötet, obwohl die Gabe Hyauns ihn hätte beschützen müssen. Nun ist er einer ihrer Sklaven, die ihren Rücken kratzen müssen, denn es juckt sie in einem fort ... Den armen Bijae kann man wie noch so manch andere unglückliche Seele zwischen ihren Augen sitzen sehen, vorausgesetzt man hält Zaizuras alles gefrierenden Blick stand!“
„Bijae?“, rief Raen überrascht aus. „Aber das ... das ist, ... jetzt verstehe ich! Er wurde damals von uns getötet, weil er bewusstlos war und nicht mehr aufwachte. Die Gabe war bei ihm gefangen.“
„Weil er ein Gefangener Zaizuras war, und mit ihm die Gabe.“
„Ich wusste gar nicht, dass es so gefährlich ist, ein Setna zu sein.“ Benommen lehnte Raen sich an einen Baum. „Aber warum hat die Gabe ihn nicht beschützt?“
„Vielleicht, weil er nicht stark genug an sie geglaubt hat, wer weiß, wer weiß ...“
„Und was ist mit Hyaun? Wird Er auch verwundet wie du, wenn Er mit Zaizura kämpft?“
„Oh nein, Hyaun ist ein Krieger und viel stärker als ich. Er ist gefeit gegen Zaizuras Gift, seine Haut ist so undurchdringbar wie Metall, dass ihre Kiefer nur wirkungslos daran abgleiten.“
„Und warum ...“
„Genug nun der Fragen, junger Banskeid, lass noch welche für den Rest unserer gemeinsamen Zeit über, auf dass es uns nicht langweilig werde!“
Raen blickte das Blutpferd bang an.
„Ich sehe, du hast noch immer Angst.“
Raen hob ratlos die Schultern. „Zu wissen, was in der Zukunft geschieht, bereitet mir Sorgen.“
„Warum?“
„Weil ich etwas sehen könnte, das schlimme Folgen hat, ich aber nicht abändern kann.“
„Und genau da irrst du dich!“
„Aber bei Sel, ich meine, bei dem Brand ist es mir nicht gelungen. Es ist passiert, obwohl ich davon wusste.“
„Du musst noch viel lernen, Raen, aber dafür bin ich ja an deine Seite geschickt worden.“
„Wenn du mein Lehrer bist, dann lehre mich!“
„Nein, nein, so einfach ist das nicht. Ich bin nicht dein Lehrer, sondern lediglich dein Begleiter.“
Raen ließ die Schultern wieder hängen. „Dann kannst du mir also auch nicht helfen.“
„Nicht bei dem, was du wünschst. Aber verzage nicht, es wird dir schon noch gelingen.“
„Was ist es, das du mir heute zeigen willst?“, fragte Raen bedrückt.
„Heute gibt es nichts zu zeigen. Ich muss erst wieder zu Kräften kommen. Aber einen Rat kann ich dir geben.“
Raen nickte.
„Nimm dich in Acht vor der Vergangenheit! Sie ist eine schattenhafte, rachsüchtige Gottheit, die besänftigt und im Zaum gehalten sein will.“
Bevor Raen eine weitere Frage stellen konnte, verschwand das Blutpferd ohne ein weiteres Wort. Es löste sich einfach auf, wie auch der Wald sich zu verflüssigen schien.
Er wachte auf. Aber warum?
Jemand rüttelte an seinem Arm! Raen öffnete die Augen und blickte in ein Gesicht. Es dauerte ein wenig, bis er es erkannte.
„Reko?“ Was machte der Priester hier?
„Komm schnell, los, los!“
Na, wunderbar, dachte Raen, wieder ein Unglück! Er raffte sich hoch.
Draußen war es schon hell, aber so neblig, dass man kaum den Innenhof sehen konnte. Abergläubisch wie er war, blieb Raen wie angewurzelt stehen. Er hatte keinen Wermutzweig.
Leise lachend reichte ihm Reko einen und schob ihn dann weiter zur Tür hinaus.
„Wir müssen uns beeilen!“
„Was machst du eigentlich hier?“ Raen wollte sich umdrehen und erneut stehen bleiben, doch Reko bugsierte ihn mit sanfter Gewalt die Treppe hinunter.
„Pssst. Los, los, schnell.“
Was zum Teufel ging hier vor?
Sie überquerten den Hof und kamen in den dunkeln Durchgang. Als Raen auf der anderen Seite herauskam, war Reko verschwunden. Unwohl blickte er sich um. Wo war er hin? Träumte er etwa noch?
Nichts war zu sehen, nur die schlanken Silhouetten der Zypressen ragten neben ihm auf. Überall waberte die unheimliche Stille des Nebels. Er hörte auf, sich um die eigene Achse zu drehen und blieb stehen. Plötzlich ertönte lautes Geschrei, und aus dem weißen Nichts sprangen ihm wilde Gestalten entgegen. Erschrocken duckte er sich und wollte nach seinem Schwert greifen, das natürlich noch in seinem Zimmer war.
„Ha! Was sagt man denn dazu? Ein furchtloser Nebelwanderer!“ Es war Manoens Stimme, und nachdem ihm die erste Handvoll Stroh mitten ins Gesicht flog, wusste er, dass heute sein Geburtstag war. Lachend stürzte er sich in die Schlacht.
Es war der Bettler, der ihm auffiel. Der Kerl stierte ihn an!
Raen versuchte, sich nicht darum zu kümmern, doch seltsam fand er es schon. Borgossinische Bettler hatten nicht zu starren, sie hatten in Demut zu kriechen, und dafür wurden sie von den Wohlhabenden regelmäßig mit Almosen ausgehalten. Zudem hatte jeder Adelige in Borgossa oder sonstiger Herr von hohem Stande das Recht, einen gar allzu frechen Bettler auf der Stelle zu strafen. Mit einem Stab oder einer Peitsche hagelte es dann Hiebe, bis der unverschämte Beleidiger im Schlamm lag und um Gnade flehte. Dieser Vertreter seiner Zunft hier aber glotzte dreist, ja, beinahe feindselig.
‚Vielleicht hat er noch nie einen Hy gesehen, oder ist nicht gut auf unsereins zu sprechen’, dachte Raen bei sich, denn so etwas passierte ihm bei Zeiten noch immer. Er ging weiter die nur mäßig gefüllte Straße entlang, die zum nördlichen Teil des Universitätsviertels gehörte, das vom studentischen Leben geprägt war. Mitten unter den dicht an dicht gedrängten Gebäuden der Bursen fand man hier eine Vielzahl an kleinen Läden und Stuben, die sich ganz darauf ausgerichtet hatten, die Bedürfnisse der Scolarios zu versorgen. Man bekam Pergament, Schreibutensilien, Schreibdienste, Öllampen, Kerzen, Schuhe und andere Lederwaren, Kleidung, eine gute Rasur, frisch gegarte Zwischenmahlzeiten, Brot, Naschwerk und selbstverständlich Wein und Bier. Nur die Mädchen, die musste man sich in La Gioia suchen, denn die waren hier nicht erlaubt.
Raen sah, wie der abgerissene Herumtreiber sich sein schmutziges, bartstoppeliges Gesicht schabte, kurz in eine andere Richtung blinzelte, um dann wieder finster unter seinen schwarzen Brauen hervor zu ihm herüber zu starren. Noch lehnte der Kerl lässig an einem der Arkadenpfeiler, aber Raen spürte, dass das nicht mehr lange so bleiben würde. Er beschleunigte seinen Schritt, um nicht angepöbelt zu werden. Solch feiges Ausweichen war bekanntlich nicht seine Art, aber heute gelüstete es ihn einfach nicht nach einer Konfrontation. Reichlich gereizt zog er die unaufhörlich triefende Nase hoch. Ein widerlicher Schnupfen hatte sich bei ihm eingenistet und plagte ihn schon seit Tagen mit Kopfschmerzen und tränenden Augen. Und er wollte nur noch eines: Seinen Gang erledigen und dann ab in die Therme, wo geheizte Becken und wohltuende Dämpfe auf ihn warteten.
Das Wetter war derzeit äußerst mürrisch, ständig zerzauste ein kalter Ostwind die grauen Wolken am Himmel und brachte einen Regenschauer nach dem anderen vom aufgewühlten Meer mit sich, auf dem sämtlicher Schiffsverkehr eingestellt worden war.
Aus den Augenwinkeln sah Raen, wie der Bettler sich wie vermutet von dem Arkadenpfeiler löste und langsam in seine Richtung steuerte. Instinktiv tastete er nach dem Griff seines Holzschwertes, das er im Gürtel mit sich trug. Man wusste ja nie. Er blickte nach vorn. Nur noch ein paar Schritte trennten ihn von der Schreibstube, bei der er die Abschrift seiner Wörterbücher in Auftrag gegeben hatte, und beinahe laufend erreichte er schließlich den rettenden Eingang. Erleichtert schloss er die Türe hinter sich und trat weiter in den mit Regalen voller Pergament und Papier zugestellten Raum. Im hinteren Bereich saß ein halbes Dutzend Kopisten bei schummerigem Kerzenschein an länglichen Pulten tief über ihre Arbeiten gebeugt. Die Kerzen flackerten bei dem Luftzug, den das Öffnen und Schließen der Tür verursacht hatte.
Der Meister der Stube erkannte ihn und kam auf ihn zu. Es war ein kleines ältliches Männchen mit Ziegenbart und einem fleckig grauen Schreibkittel.
„Werter Herr, Ihr Auftrag ist leider noch nicht fertig. Gebt uns noch zwei Wochen.“
Raen verzog das Gesicht, aber nicht etwa, weil er mit dem, was der Meister sagte, unzufrieden war, sondern weil sich durch ein jähes Kribbeln in der Nase einer von seinen berüchtigten Niesern anbahnte.
Der Meister deutete seine Miene fehl und begann sogleich, sich vor dem gut zahlenden Krieger in Schwarz wortreich zu entschuldigen: „Bitte, werter Herr, habt Verständnis, Euer Werk ist sehr umfangreich und -“ Sein tintenbekleckster Zeigefinger blieb in der Luft hängen, als ein ohrenbetäubender Laut die Schreibstube erschütterte. Erschrocken sahen alle auf. Ein zweiter Donnerschlag folgte, und ein Schmunzeln huschte über einige der Gesichter, als die Kopisten sich anschließend beruhigt wieder ihren Abschriften zuwandten.
„Du liebe Güte, das weckt ja die Toten auf dem Acker des Herrn!“, entgegnete der Meister und nahm einen Sicherheitsabstand zu dem kränkelnden Kunden ein, im Hintergrund kratzten die Federn wieder geschäftig über die Papiere.
„Ihr gehört in ein Bett, wenn Ihr meinen Rat hören wollt.“
Raen nickte verlegen und zog den Ärmel unter seiner Nase durch. „Das werde ich jetzt auch gleich tun. Auf Wiedersehen in zwei Wochen“, näselte er und machte kehrt. Als er die Tür öffnete, und der nasskalte Wind sich in ihr fing, flackerten hinter ihm wieder die Kerzen.
Den Kopf zwischen die Schultern gezogen, stapfte er in die Richtung, aus der er gekommen war. Nach wenigen Schritten fiel ihm der Bettler wieder ein und unauffällig wandte er den Kopf nach allen Seiten, aber er konnte den Kerl nirgends entdecken. Er rieb sich die Nase und setzte seien Weg fort. Hinter der Burse Pennino rosso - der Roten Feder - bog er linkerhand in eine enge Gasse ein, die ihn zurück zum Campo der Universität führte, und stand jäh dem unrasierten Gesicht mit den buschigen, schwarzen Brauen gegenüber. Alarmiert griff er nach seinem Holzschwert, bereit den Konflikt aufzunehmen, der sich nun nicht mehr vermeiden ließ.
Aber das Finstergesicht stand einfach nur da und grinste ihn irr an. Dessen Zähne waren für einen Bettler erstaunlich gut gepflegt, und verwirrt zog Raen die Stirn in Falten. Das war kein Bettler, dachte er. Plötzlich jagte ein Kribbeln seine Nase hinauf und drohte mit einer erneuten Explosion. Mit einer komisch anmutenden Grimasse hielt Raen sie zurück, ohne den zwielichtigen Kerl dabei aus den Augen zu lassen. Verfluchter Schnupfen!
„Was willst du? Sprich!“, fuhr er ihn an und klang dabei mit seiner Triefnase nicht gerade furchteinflößend.
Der Mann rührte sich jedoch noch immer nicht, nur das Lächeln wurde um einen Deut unheimlicher. Raen verlor die Geduld, das Kribbeln in seiner Nase wurde unerträglich.
„Wenn du nicht sprechen willst, so verschwinde gefälligst und belästige mich nicht länger!“ Unsanft stieß er den Mann zur Seite, trat an ihm vorbei und stapfte davon. Er hatte vor, sich nicht mehr nach ihm umzudrehen, bis er wieder auf einer belebteren Straße wäre, als er mit einem Mal etwas spürte. Gegen seinen ursprünglichen Willen blieb er erneut stehen. Ein vertrautes Prickeln in seinem Nacken warnte ihn ... doch trotzdem drehte er sich um. Als er im trüben Licht der Gasse sah, was der merkwürdige Bettler da vor sich in der Hand hielt, wurden seine vom Schnupfen verstopften Sinne schlagartig klar.
Befreie dich von deiner Vergangenheit!
Wie fürchterlich lächerlich mussten diese Worte gegenüber Manoen geklungen haben? Eiskalt rieselte ihm sein Irrtum über den Rücken.
Du einfältiger Träumer! Al Nor hat es dir doch gesagt, die Vergangenheit ist wie ein Schatten, und ganz gleich, was du auch versuchst, du kannst sie nicht abschütteln, ... denn du bist es, der diesen Schatten wirft. Du kannst allenfalls mit ihr Frieden schließen und hoffen, sie damit zu besänftigen. Ihrer ledig sein, wirst du aber nie in deinem törichten, kurzen Leben.
Langsam trat Raen auf den Mann zu, in dessen Augen sich das unheilverkündende, goldene Schimmern vervielfältigte.
„Gib sie mir!“, raunte er, seine vorherige Scheu vergessend, und streckte fordernd seine Hand aus.
Das irre Lächeln in dem schmutzigen Gesicht verbreiterte sich noch, obwohl dies unmöglich schien, und das Schimmern im Spiegel der Augen wuchs zu einem spukhaften Glühen. Es bohrte sich durch seine Gedanken wie jener Pfeilschuss aus der Vergangenheit.
„Gib sie mir!“ Seine Hand zuckte. „Gib mir die Pfeilspitze!“
Kurz bevor er das wohlbekannte, goldene Schmiedestück berühren konnte, zog der Bettler es fort und verhüllte es in seiner Faust.
Das Glühen erlosch, und ein Ausdruck der Enttäuschung verdunkelte Raens Gesicht. Der Wind pfiff durch die Gasse und zerrte mit kalten Fingern an seiner Kleidung, aber vergessen waren die Unbill des Wetters und der Schnupfens, wie gebannt starrte er weiter auf die Faust. Und ohne zu wissen, was er eigentlich tat, begann er sich sprungbereit zu machen.
„Gib sie mir! Sie gehört mir. Sie wurde mir zugedacht“, flüsterte er drohend und bog seine Hände zu Krallen, während seine Katzenaugen weiter die Faust fixierten.
Der Bettler nahm die Faust hoch, und Raens unheimlicher Blick folgte ihr – wie eine sehr hungrige Raubkatze, die den Geruch von Blut in der Nase hatte. Jetzt flackerte doch ein nervöses Lächeln über das schmutzige Gesicht des Bettlers, und für einen Moment war es, als würde der Fluss der Zeit gefrieren. Katzenauge traf auf schwarzen Blick. Dann sprang Raen.
Das teuflische Pulver traf ihn noch in der Luft!
Die andere Hand des Bettlers war hervorgeschnellt, und kurz darauf brannte alles wie Feuer: Seine Lunge, sein Mund, seine Augen, sein Gesicht! Überrascht krümmte Raen sich in einem schrecklichen Hustenanfall und prallte mit der Schulter gegen eine Hauswand. Auf Händen und Knien im Schmutz rang er um Atem, Tränen drangen schmerzhaft hervor und liefen über seine hochroten Wangen. Immer wieder wurde er von würgenden Hustenanfällen geschüttelt, und in seiner Not entging ihm, wie der geheimnisvolle Bettler mitsamt dem Gegenstand seines Begehrens in den Schatten der Gasse verschwand.
Abwechselnd fluchend und hustend erholte er sich nur langsam von dem hinterhältigen Angriff, und nach und nach wandelten sich auch die Tränenschlieren vor seinen Augen wieder zu einem klaren Bild. Er erhob sich und blinzelte in die dunkle Gasse, in der sonst niemand zu sehen war. Was für ein verdammter Tölpel er doch war!
Raen räusperte sich und fuhr sich mit dem Ärmel über das gereizte Gesicht. Mit der fatalen Wirksamkeit des Pfefferpulvers war er zuvor noch nicht in Berührung gekommen, aber er hatte zumindest schon von diesem Teufelszeug gehört.
Erst links, dann rechts blies er den Inhalt seiner Nase in den Gassendreck. Einen Vorteil hatte das Ganze allerdings gehabt; jetzt juckte sie wenigstens nicht mehr.
Mit der nächsten unangenehmen Windböe setzte Raen seinen Weg fort. Schleunigst wollte er in die Therme und seinen Kopf ins Wasser stecken.
Tief in seine Grübeleien versunken und bis zur Brust in herrlich warmem Wasser, saß Raen später mit einigen anderen späten Gästen in dem Becken, das besonders gut angeheizt wurde. Den Kopf bedeckt mit einem feuchten Tuch und an den Beckenrand zurückgelehnt, genoss er die ruhig murmelnde Atmosphäre des Bades. Immer wieder versuchte er nachzuvollziehen, welchen Weg Soghuls Pfeilspitze von seiner Hand bis zu diesem seltsamen Kerl genommen hatte, und ob es etwas zu bedeuten hatte, dass das Schicksal sie wieder auftauchen ließ. Das ungute Gefühl, dass sich da etwas zusammenbraute und die Maschen immer enger um ihn zuzog, ließ ihn nicht mehr los. Es war wohl besser, von jetzt an noch schärferen Sinnes zu sein. Er dachte an die Prinzessin. Sie hatte ihn für heute Abend zum Essen in ihr Haus eingeladen, und er sollte auch zum ersten Male über Nacht bleiben. Aber ihr konnte er nichts davon erzählen, da er ihr sonst jenen dunklen Fleck in seiner Vergangenheit offenbaren müsste und das wollte er schließlich nicht. Mit dem Tuch wischte er sich den Schweiß vom Gesicht uns lenkte seine Gedanken auf ein erfreulicheres Thema. Was die Prinzessin wohl für heute Abend vorbereitet hatte? Den aufsteigenden Dampf tief in seine geplagte Lunge einsaugend, schloss Raen wieder die Augen und gab sich ganz der Vorfreude auf den Besuch bei Keï hin.
Die Blicke, die dabei unentwegt auf ihm ruhten, bemerkte er nicht.
Versteckt hinter einem der durchbrochenen Holzparavents, die kleine Nischen vom allgemeinen Bereich des Bades abtrennten und Gäste, die sich zurückgezogen hatten, vor allzu neugierigen Blicken schützten, kauerten zwei verhüllte Gestalten - eine große und eine zierliche kleine. Unter ihrem Schleier hervor lugten sie durch das Gitter des Wandschirmes. Sie waren nicht zum ersten Mal hier und beobachteten die badenden Gäste. Es war auch nicht ungewöhnlich, das zu tun, denn auch wenn es keinen speziellen Bereich für Frauen gab, so konnten sie sich doch hier aufhalten, sofern es sie danach gelüstete. Und nicht selten saßen Damen von höherem Stande hinter den Schirmen, um die wohl geformten Körper der sich im vollen Saft des Lebens befindlichen jungen Studenten einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen. So manche verbotene Romanze hatte hier schon ihren Anfang genommen, und so manche Dame unterhielt eine heimliche Wohltäterschaft zu einem ihrer Favoriten.
Keï kannte die Gepflogenheiten dieses Bades. Wenn einem einer der Scolarios besonders gefiel, dann konnte man ihn hinter den Schirm rufen lassen und ... nun ja, der Rest blieb besser Phantasie. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, im Grunde war sie nicht minder schamlos als die anderen. Sie saß hier und spionierte ihrem Favoriten nach, der davon allerdings nicht das Geringste ahnte. Vollkommen unverhohlen betrachtete sie seine Nacktheit und kostete das unbemerkte Verstecktsein mit seiner ganzen aufregenden Vielfalt an intimen Gefühlen aus. Begonnen hatte sie damit, als ihr zu Ohren gekommen war, wie es in diesem Bad zuging. Da hatte sie mit einem Mal die angstvolle Vermutung geplagt, Raen könnte vielleicht bereits eine Beziehung zu einer der vornehmen Gönnerinnen pflegen. Bestätigt hatten sich ihre Befürchtungen jedoch nicht, aber auf den Geschmack war sie gekommen und so war sie schließlich regelmäßig hier aufgetaucht, selbstverständlich nur, wenn ihr Favorit auch anwesend war.
Ein lustvoller Schauer durchfuhr sie, als sie beobachtete, wie Raen aus dem Becken stieg, gemächlich zum nächsten ging, auf halben Wege aber auf ein bekanntes Gesicht traf und sich mit ihm unterhielt. Wie schon zuvor nutzte Keï auch diese Gelegenheit, ausführlich seinen Körper zu studieren, und immer wieder tastete ihr Blick all die Stellen unter der schimmernd weißen Haut ab, die sie besonders erregten. Der Schauer ballte sich in ihrem Unterleib zu einer warmen Kugel zusammen, sie hob einen Finger zwischen die Lippen und biss darauf. Ihr heißes Sehnen stach in die wogende See! Trug sie zuerst sanft wiegend über die Wellen der noch unbedarften Wonne, steuerte dann aber zielstrebig und immer heftiger auf die verbotenen Gestade der süßesten Sehnsüchte zu. Keï fühlte sich emporgehoben bis zu den Wolken und in die Tiefe gerissen zu den Geschöpfen der dunklen See. Die Welten wirbelten wie Gischt um sie herum. Im Hintergrund fern von dem Sturm der Sinne aber wartete ihre allzeit kühle Ratio und warnte sie mit dünnem Stimmchen davor, was nach dem Rausch kommen würde. Jedes Mal, wenn sie hier saß und ihren Gefühlen freien Lauf ließ, folgte darauf die kalte Ernüchterung wie ein Schwall salzigen Meerwassers mitten ins Gesicht, und die Gestade ihrer Träume rückten wieder in quälend unerreichbare Ferne.
Oh, warum konnte die Welt nicht wenigstens für einen Tag vergessen, wer sie war, damit sie mit diesem Mann das tun konnte, was andere Verliebte auch miteinander taten? Ein herzzerreißender Seufzer entfuhr ihr. Wieder einmal war sie an den Punkt gelangt, an dem ihre leidenschaftlichen Empfindungen sich zur unausweichlichen Qual wandelten.
Eine Hand berührte sie sanft an der Schulter. Es war Faïshe, die ihre Herrin stets mit ins Bad begleitete, um auf sie aufzupassen. Keï versteifte sich unwillkürlich. Nicht, dass sie sich ihrer Gefühle vor ihrer Dienerin schämte, aber sie war wieder in der Realität angekommen und das gefiel ihr nicht.
„Wir sollten jetzt gehen“, flüsterte Faïshe. „Ich denke, es wird nicht mehr lange dauern, bis er das Bad verlässt.“
Keï nickte unter ihrem Schleier, sie kannte die Gewohnheiten Raens mittlerweile gut, und eine Abkühlung in dem großen Becken, in dem er für gewöhnlich ein paar Züge schwamm, bedeutete meist das Ende seines Badbesuches. Außerdem erwartete sie ihn heute Abend zu Besuch und musste zusehen, möglichst vor ihm in der Villa zu sein.
Nur wiederwillig wandte Keï ihren Blick ab und folgte ihrer Dienerin.
Wenig später schlüpften die beiden Frauen durch einen der vielen Ausgänge der Bäderhalle, eilten mit wehenden Gewändern durch die unzähligen Räumlichkeiten und Gänge des Gebäudes und traten schließlich in die nasskalte Luft vor den Türen der Therme. Über ihren Köpfen drohten Wolken wie Blei mit Regen, und noch immer fegten ungemütliche Windböen durch die fast menschenleeren Straßen. Keï und Faïshe rafften ihre Schleier und ließen sich von einer Mietsänfte geschwind nach Nuovo Çirco bringen.
Die Prinzessin blickte ihn an, als verberge sie ein Geheimnis.
„Was ist?“, fragte Raen.
„Nichts“, entgegnete Keï und lächelte verschämt. Sie saßen in ihrem geräumigen Zimmer, wo sie auch das Abendessen zu sich genommen hatten, und nur Faïshe war noch bei ihnen. Nachdem die Tafel geräumt worden war, waren auch die Leibwächter vor die Tür verbannt worden.
Raen lehnte sich zurück und streckte die Beine unter dem Tisch aus. Das Bad hatte Wunder gewirkt. Das Kribbeln in der Nase war verschwunden und auch die Auswirkungen der Pfefferattacke waren abgekühlt und gemildert worden. Er freute sich über dieses zwanglose Zusammensein mit der Prinzessin, denn ihr letztes vertrautes Gespräch war lange her, und auch die Berührungen, die sie ausgetauscht hatten, waren nur noch eine vage Erinnerung.
„An was denkst du?“, fragte Keï, denn jetzt war es Raen, der versonnen lächelte.
„Nun, es ist ein sehr schöner Abend“, erklärte er und räkelte sich in seinem Stuhl. „Sehr gemütlich hier im Warmen.“
Und als wolle das Wetter seine Bemerkung unterstreichen, erhellte erneut ein Blitz das Fenster. Draußen kündigte sich ein Gewitter an.
„Vielleicht sollte ich die Läden schließen, damit nichts ins Fenster fliegt.“ Keï stand von ihrem Platz auf. „Faïshe, hilfst du mir?“
„Warte.“ Raen erhob sich ebenfalls. „Ich habe eine bessere Idee. Lösch das Licht.“
Keï blickte ihn verständnislos an, aber er näherte sich bereits dem Kerzenhalter und blies nacheinander die kleinen Flammen aus. Es war nicht lange stockdunkel in dem Zimmer, denn immer wieder erhellten Blitze es mit ihrem blauweißen Flackern, denen noch fernes Grollen folgte. Raen nahm Keïs Hand und führte sie zum Fenster. Wieder erhellte ein Blitz den Raum. Gewitter waren für ihn ein beängstigendes Schauspiel, und oft genug brachten die Ahnen der Winde mit ihren Kämpfen gegen die höheren Mächte auch Gefahren in Form von Überschwemmungen, Stürmen und Bränden durch Blitzschläge über die Menschen, aber gerade wegen dieser unzähmbaren Kräfte, gegen die alles Menschliche so unbedeutend und klein war, faszinierten sie ihn auch. In einem sicheren Abstand zu der in kopfgroße Vierecke aufgeteilten Glasfront des Fensters blieben sie stehen und schauten nach draußen. Gespenstig bleich tauchten die Dächer der Stadt aus dem undurchdringlichen Schwarz der Nacht auf, als die gezackte Linie eines Blitzes durch die Wolken zuckte. Raen spürte, wie Keï fröstelte, und legte behutsam einen Arm um sie, obwohl ihm bewusst war, dass Faïshe hinter ihnen jede seiner Regungen beobachtete. Keï hatte ihm versichert, dass ihre Dienerin alles, was sie sah und hörte, für sich behalten würde.
Raen drehte den Kopf und wartete, bis der nächste Blitz die Züge der Prinzessin erhellte und sich in ihren Augen spiegelte. Sein Herz schlug schneller, als sie ihn anblickte. Dennoch wagte er es nicht, sie zu küssen, das war ihm vor Faïshe nun doch zu gewagt.
Aber auch Keï schien am heutigen Abend aus irgendeinem Grund gehemmt zu sein und legte lediglich ihren Kopf in seine Halsbeuge. So verharrten sie eine ganze Weile, sahen hinaus und schwelgten jeder in der Nähe des anderen.
Seit dem Raen die Gewissheit hatte, Keï zu begleiten, hatte sich sein inneres Feuer etwas beruhigt. Zwar sehnte er sich nach wie vor nach ihr, doch er wusste auch, dass er noch unendlich viel Zeit hatte. Er wollte es auskosten, an ihrer Seite zu sein, wollte jeden Moment so genießen, wie er sich ihnen darbot, und deshalb erschien ihm sein körperliches Begehren jetzt weniger dringlich als noch vor wenigen Wochen. Viel wichtiger war für ihn, sich ihrer Zuneigung sicher zu sein. Alles andere brächte dies nur unnötig in Gefahr. Zwar würde es ihn eine unmenschliche Anstrengung kosten, das Unvermeidliche in Schach zu halten, aber es war die einzige Möglichkeit, zu garantieren, dass ihrer Freundschaft nichts zustieß. Denn nur diese selbstgewählte Enthaltsamkeit konnte die Dauer ihrer Zweisamkeit bis in alle Ewigkeit verlängern. Das hatte er bei aller Leidenschaft, die ihn erfüllte, glücklicherweise noch rechtzeitig erkannt und er war fest entschlossen, sie auch einzuhalten.
Ein lautes Krachen ließ sie beide zusammenzucken. Keï löste ihren Kopf von seiner Schulter und spähte mit angstvoll geweiteten Augen hinaus, doch kein rötliches Flackern erhob sich über den Dächern in der Ferne, und keine Alarmglocke verkündete den Ausbruch eines Brandes. Beruhigt ließ sie ihren Kopf wieder sinken und umfing mit beiden Armen seine Taille. Raen fühlte ihr weiches Haar an seinem Hals und ihren Atem über seine Haut streichen. Ihr Duft aber blieb ihm an diesem Abend als Folge seines Schnupfens leider verwehrt, und so beschränkte er sich darauf, mit seinen Fingern sanft ihren Nacken zu liebkosen. Eine harmlose freundschaftliche Geste, wie er hoffte.
Weit weniger versöhnt mit ihrem Schicksal befand sich die Prinzessin innerlich im Krieg. In einem stillen aber erbitterten Kampf focht ihr Herz mit der Vernunft um die Kontrolle ihrer Gefühle.
Da hatte sie es nun endlich geschafft, diesen einmaligen Moment erneut herbeizuführen, und dann konnte sie ihn nicht nutzen. Sie konnte einfach nicht!
Weil du es nicht darfst, das weißt du!
Ja, das tat sie. Nur zu gut! Still verfluchte sie die Stimme in ihrem Kopf, die beständig in ihre Gedanken hinein zeterte wie eine Mutter, die mit ihrer uneinsichtigen Tochter schimpfte. Sie verfluchte auch Faïshe, die als ihre Dienerin freier war und die, wenn sie es nur wollte, sich ohne Weiteres zu Raen legen könnte, ohne dass es irgendein Aufsehen erregen würde. Sie verfluchte ihren Vater, der sie gezeugt hatte, und ihre Mutter, die sie als das auf die Welt gebracht hatte, was sie war. Und sie verfluchte ihren Gott, der ihr Schicksal ungerührt mit ansah und sie offensichtlich zu seinem Vergnügen leiden ließ. Zum Glück bemerkte Raen neben ihr von alldem nichts, er wirkte völlig ruhig und ausgeglichen. Beinahe brüderlich streiften seine Finger über ihren Nacken.
‚Verdammter Kerl!’, dachte sie. Wenn doch wenigstens er einen Schritt unternehmen würde, wie leicht würde sie dann ihre Vernunft vergessen können! Aber ausgerechnet heute Abend musste er sich vornehmen, ganz der enthaltsame Mönch zu sein!
Müde und gereizt schloss sie die Augen. Am liebsten hätte sie laut geschrien, so sehr floss ihr Herz über vor Liebe zu diesem Mann. Noch vor wenigen Monaten hatte sie ihr Herz hoch hinauf auf die Spitze eines einsamen Berges inmitten ihrer inneren Landschaften getragen und dorthin verbannt, um es vor den Enttäuschungen zu schützen, die ein Leben ohne wahre Liebe bringen mochte. Und dann war dieser Krieger eines fremden Volkes gekommen und hatte im Sturm den vereisten Gipfel erklommen und erobert. Eine einsame Träne rollte aus ihrem Augenwinkel, lief über ihre Wange und tropfte in den Ausschnitt von Raens Jacke. Der rührte sich mit einem Mal, als habe er das kleine Glitzern gespürt. Seine Hand umfasste ihren Nacken fester.
„Sei nicht traurig, meine Freundin“, flüsterte er leise, und die Sanftheit seiner Stimme war wie ein weiterer Stich in ihr gemartertes Herz. „Hab Vertrauen. Der Tag wird kommen, an dem du glücklich sein wirst.“
Keï biss sich auf die Lippen und kämpfte weitere Tränen zurück. Und schließlich wagte sie es doch, sich zu offenbaren, in der Hoffnung, er möge vielleicht eine Regung zeigen, die sie als Anlass nehmen konnte, ihre Vernunft über Bord zu werfen. Ohne ihren Kopf von seiner Schulter zu nehmen, sagte sie: „Alles, was ich mir wünsche, ist, mit dir glücklich zu sein.“
„Ich weiß.“ Er machte eine kurze Pause, aber seine Hand blieb, wo sie war. Dann sprach er weiter und zerstörte damit all ihre Hoffnungen: „Wir beide müssen vernünftig sein und an deine Zukunft denken. Du trägst eine große Verantwortung, und ich schwöre dir, ich werde dafür sorgen, dass dir nichts zustößt, bis ich dich glücklich an der Seite deines zukünftigen Gemahls sehe. Meine Liebe soll dir keinen Schaden bringen, aber sei gewiss, ich stelle sie dennoch ganz in deine Dienste.“
‚Oh, du Mistkerl’, dachte sie erneut, presste ihre Lider zusammen und schluckte den herauf quellenden Kloß herunter. ‚Warum musstest du das jetzt sagen? Zur Hölle Satans mit dir und deinem vermaledeiten Schwur! Wie kannst du nur glauben, dass ich dergleichen je gewollt hätte? Ich wollte nie vernünftig sein!’
Aber die Tür war endgültig zugeschlagen, und die letzte Gelegenheit vertan.
Nur widerstrebend konnte sie sich diese Tatsache eingestehen und löste sich langsam von Raen, dabei sah sie ihm noch einmal ins Gesicht, auf dem nicht einmal ein Hauch von Bedauern zu liegen schien, und sagte kühl: „Ich denke, ich möchte jetzt schlafen gehen.“ Nur mit Mühe gelang es ihr, die übermächtige Enttäuschung aus ihrer Stimme fernzuhalten, und die Dunkelheit tat ihr den Gefallen, ihr Gesicht zu verbergen.
Sie ließ es zu, dass Raen noch einmal ihre Hand nahm.
„Habe ich dich etwa verärgert?“, fragte er besorgt.
„Nein, nein, ganz und gar nicht“, sie lächelte - ein helles Aufblitzen in der Düsternis. „Ich bin nur schrecklich müde, wenn du entschuldigst.“
„Aber natürlich. Dann werde ich mich jetzt ebenfalls in mein Quartier begeben.“
„Faïshe wird dich hinführen. Ich wünsche dir eine geruhsame Nacht in meinem Hause, sofern das bei diesem Wetter überhaupt möglich ist.“
„Eine gute Nacht auch für dich, Sal al In’Sahdi. Ich kann mich wahrlich glücklich schätzen, unter all den Geschöpfen des Universums gerade dich meine Freundin nennen zu dürfen.“ Er trat zurück und ließ ihre Hand erst los, als ihre Armlängen es nicht mehr zuließen. Dann wandte er sich an Faïshe, die an der Tür wartete.
Als sie das Zimmer verlassen hatten, rannte Keï in den Nebenraum, warf sich auf ihr Bett und hieb ihre Fäuste unter Tränen immer wieder in die Kissen. Noch ahnte sie nicht, dass sie als Frau jene Macht besaß, die jeden Mann dazu bewegen konnte, seinen Schwur zu brechen.
„Habe ich sie auch wirklich nicht verärgert?“, wollte Raen von Faïshe wissen, als er hinter ihr die Treppe hinunter in das Stockwerk mit den Gästezimmern stieg, derer es in diesem Hause über ein Dutzend gab. Vor der Tür zu Raens Quartier blieb sie stehen und sah zu ihm auf.
„Nein, ich denke nicht“, sagte sie leise. „Aber da Ihr mich schon fragt, so will ich Euch noch einen Rat in Bezug auf meine Herrin geben, wenn Ihr erlaubt.“
Raen deutete mit einem Nicken an, dass er ganz Ohr war.
„Sal al In’Sahdi Keï ist in ihrem Inneren verletzlicher als ihr Äußeres es vermuten lässt. Und auch wenn sie in der Welt der Männer aufgewachsen ist und sie ihren Platz darin einnehmen wird, verbirgt sich hinter all der nötigen Härte doch eine Frau, die empfindet und sich sehnt wie jede andere Frau. Und wenn es sich je herausstellen sollte, dass Ihr, mein Herr, nur ein Spielchen mit ihr treibt, so werdet Ihr es mit mir zu tun bekommen! Bei mir verhält es sich nämlich genau andersherum, dann werdet Ihr Bekanntschaft mit meiner verborgenen Mannhaftigkeit machen!“
Erstaunt über die Eindringlichkeit der Aussage dieses zierlichen Persönchens zog Raen die Brauen hoch. Und gerade als seine Lippen die vielleicht etwas spöttischen Worte ‚Das tue ich ganz bestimmt nicht!’ formen wollten, drehte sich Faïshe auf dem Absatz um und ließ ihn mit einem „Ruhet wohl“ und der Kerze in der Hand stehen.
In dieser Nacht träumte er schlecht. Al Nor tauchte nicht auf, dafür aber die Pfeilspitze und der von ihm gemordete Askhari-General in seiner prächtigen Rüstung. Mit geisterhaft weißem Gesicht und zu einem stummen Schrei geöffnetem Mund richtete der Tote anklagend den Finger auf ihn. Dann erschien die Prinzessin. Sie winkte ihm aus der Ferne zu, wurde aber plötzlich von rasch dahinziehenden Nebelschwaden verdeckt, aus denen schließlich stattdessen Suneka wieder hervortrat, die etwas in einem Bündel auf dem Arm trug und ihm ebenfalls zu winkte. Über allem aber strahlte die übergroße Pfeilspitze, sie hing wie eine unheilverkündende Sonne am Himmel. Raen rollte sich auf dem großen Bett hin und her, streckte immer wieder die Arme nach den Traumgestalten aus oder strampelte unkontrolliert mit den Beinen, als wollte er vor ihnen davonlaufen.
Ein leichtes Fieber schüttelte ihn, und sein Schweiß tränkte die frischen Laken, während indes draußen das Unwetter abklang, die Wolkendecke aufriss und den Blick auf die Sterne freigab.
Am Morgen streichelten Sonnenstrahlen sein Gesicht, und Raen erwachte. Ungläubig auf den fröhlichen Tag blickend, der sich da vor den Fenstern ankündigte, setzte er sich auf. Sein Kopf fühlte sich dumpf an und sein Hals schmerzte, aber es ging ihm wesentlich besser als gestern. Das Sonnenlicht, auch wenn es noch winterlich matt war, hob seine Laune und machte die Plagen der vergangenen Nacht vergessen.
Jene Nacht, in der fern in seiner Heimat seine kleine Halbschwester ihren letzten schwachen Atemzug getan und die Welt bereits verlassen hatte, bevor sich der finstere Schatten erneut über sie beugen konnte.
Die Woche der Abschlussprüfungen rückte näher, schneller als Raen lieb war, denn sie brachte auch die Stunde der Entscheidung mit sich. Sollte er zunächst in Borgossa bleiben, oder für einige Monate nach Hy reisen, um dort zu regeln, was er sich vorgenommen hatte? Er wusste es noch nicht.
Zusammen mit Manoen hatte er sich eines der leerstehenden Zimmer des Hytena als Studiarium eingerichtet, und dort lernten sie jeden Tag nach den Lektionen, bis ihnen nachts bei Kerzenschein die Augen zufielen. Denn auch der Rotschopf hatte sich dazu entschlossen, endlich seinen Abschluss zu wagen.
Die Aufgabe des Hausvorstandes hatte ihn auf wundersame Weise verändert. Er wirkte jetzt ernsthafter, ging geradezu pflichteifrig seinen Erledigungen nach, traf mühelos und mit sicherer Hand Entscheidungen und hatte ein Auge für Verbesserungen. Er war es auch gewesen, der dafür gesorgt hatte, dass sie gegenwärtig einen Knecht im Hytena beschäftigten, der sich um die Reinhaltung der Wirtschafträume kümmerte und die Tiere versorgte, hauptsächlich aber über den Hof wachte, wenn die hyaunischen Herren in der Stadt waren. Der Bauer vom Nachbarhof hatte ihnen diesen gewissenhaften Burschen empfohlen, der in Borgossa nach Arbeit gesucht hatte. Er war ein Cousin vom Langen Berto, der seit dem Abend mit dem Brand neuerdings des Öfteren zu Besuch kam.
Die Stimmung unter ihnen war gut und stieg mit jedem Tag, den der Frühling mit all seiner unbändigen Lebenskraft grüner und frischer machte. Überall auf den Weiden blökten die Lämmer, und von den Spitzen der Zypressen tönte der Gesang der Amseln in die milde Abendluft. Und mit dem unaufhaltsamen Wechsel der Jahreszeiten nahm auch der Kreislauf des Lebens im Hytena seinen unaufhaltsamen Gang.
Nacheinander trafen zwei Neuankömmlinge aus Hy ein, die von den kulturellen Unterschieden außerhalb der eigenen Mauern absolut verstört schienen. Manoen nahm sie in Empfang und erteilte ihnen die erste Lektion, welche sie auf ihr neues Leben in dieser fremden und beängstigend großen Stadt vorbereiten sollte. Hierbei kam auch das erste Mal ein Exemplar von Raens Wörterbüchern zum Einsatz, das er vor kurzem mit nicht geringem Stolz feierlich dem Hytena überreicht hatte. Auch der Universitätsbibliothek von Borgossa hatte er eines gestiftet, und es stand dort jetzt im Regal bei den anderen Wörterbüchern, darauf hatte er geachtet. Der oberste Bibliotecario und der Kustos der Colleçione linguistica hatten den beträchtlichen Wert von Raens Arbeit sehr wohl erkannt und ihm dafür großes Lob ausgesprochen. Doch der würde erst vollständig zufrieden mit sich sein, wenn er die restlichen Exemplare, drei an der Zahl, nach Hy geschafft und dort verteilt hatte.
Natürlich ging ihm auch die Pfeilspitze lange nicht aus dem Sinn, aber weder der Bettler, der keiner gewesen war, noch die Spitze selbst waren ihm nochmals über den Weg gelaufen, und so rückte sie neben der Betriebsamkeit für die Abschlussprüfung vorläufig aus seinem Bewusstsein.
Als die Semana Exami anbrach, stattete Raen dem Grab von Im’Shumalayan gleich früh morgens einen Besuch ab. Dort gedachte er dem großen und angesehenen Maestro in einem stillen Gebet und dankte ihm für seine unermüdlichen Mühen, ihm für das wahre Wesen des Studiums die Augen zu öffnen.
Bereits wenige Stunden später stand er dem überaus feindseligen Karbald gegenüber und beantwortete scheinbar gelassen dessen aus purer Absicht besonders tückisch gewählte Fragen. Aber dank seiner gründlichen Vorbereitung bekam Karbald, der mittlerweile einen neuen, graçenischen Adlatus in den Dienst gestellt hatte, keine Gelegenheit, Raen auch nur in geringster Weise zu demütigen oder ihn gar durchfallen zu lassen. Zwar fand er das ein oder andere Haar in der Suppe, das ihn dazu veranlasste, Raen wenigstens das eccellente zu verweigern, aber das juckte den Hy wenig. Er war froh und erleichtert, diese Hürde endlich und ein für allemal hinter sich gebracht zu haben. Und als er drei Tage später aus der letzten Prüfung kam, die er bei Uberth abgelegt hatte, fielen er und Manoen sich überglücklich in die Arme. Zusammen mit den anderen Prüflingen vollführten sie vor dem Lektionsgebäude der Akademie einen wahren Freudentanz, denn von diesem Tage an waren sie keine Studenten mehr, sondern durften sich nun Magistrate del Art Militaris strategica nennen.
Prinzessin Keï, die noch ein weiteres Jahr studieren musste, um diesen ehrenvollen Titel tragen zu dürfen, gratulierte den beiden Hy zu ihrem erfolgreichen Abschluss und selbstverständlich war auch sie zu der großen Feierlichkeit eingeladen, die wie gewohnt und mit der berüchtigten Ausgelassenheit im Lachenden Akademicus stattfand.
Zwei ganze Tage feierten sie bis zur Erschöpfung, dann rüstete man sich, erfüllt von Heimkommensfreude für den Abschied. Doch auch mit einem gehörigen Quantum an Wehmut im Herzen, denn die meisten verließen Borgossa für immer und kehrten zu ihren Elternhäusern zurück oder in die von ihren Vätern ausgehandelten Dienste im Dunstkreis höherer Instanzen. Wie zum Beispiel Jovani, der an den Hof des Großkönigs von Graçe gehen durfte, wo ihn in den Reihen der Anwärter auf gehobene militärische Posten weitere Zucht und Belehrung erwartete, bis er es eines Tages bis in den Rang eines Untergenerals geschafft hätte.
Alle zusammen waren sie siebzehn frischgebackene Magistrates, deren Wege sich nun trennten. Viele aber, die sich während des Studiums Freundschaft geschworen hatten, erneuerten ihre Schwüre und versicherten einander, weiterhin in Verbindung zu bleiben.
Raen, der ja Jovani vor einem halben Jahr versprochen hatte, mit ihm die Heimreise anzutreten, rang sich schließlich dazu durch, gleichfalls nach Hause zu reisen. Nur für einige Wochen und nur, um sich endlich der unangenehmen Aussprache mit Suneka zu stellen und um danach gleich wieder nach Borgossa zurückzukehren.
Dem vorläufigen Abschied von der Prinzessin, von Manoen und von all den anderen sah er trotzdem mit gemischten Gefühlen entgegen. Er würde sie beide vermissen, auch für so kurze Zeit.
Mit der nötigen Ruhe traf er seine Reisevorbereitungen und genoss die folgenden Tage ohne Pflicht und Lektionen. Auch er hatte einige Einladungen von befreundeten Scolarios erhalten, die er eines Tages einzulösen gedachte, aber allen voran stand natürlich jene von Jovani aus, mit dem zusammen er bald das Schiff nach Lado di Forsa besteigen wollte, und er freute sich schon darauf, mit dem redefreudigen Graçener unterwegs zu sein. Nur auf seine Heimat in Hy, auf die freute er sich nicht so recht. Und am liebsten hätte er sich gedrückt. Doch er war Suneka gegenüber wenigstens zu Ehrlichkeit verpflichtet.
Den letzten Tag vor seiner Abreise verbrachte er mit der Prinzessin, so wie er es ihr versprochen hatte. Sie unternahmen einen Ausflug in die Marca Borgossi, wo sie sich in dem in liebliche Oliven- und Zitronenhaine eingebetteten Weiler Fiderença, die Zitronenblüte anzuschauen wollten.
Nachdem sie vor einer kleinen Schänke im Schatten zweier prächtiger Kirschbäume erfrischenden Wein und etwas zu essen zu sich genommen hatten, gingen sie zwischen den tiefhängenden Zweigen der weitläufigen Zitronenpflanzung spazieren und schwelgten in dem unvergleichlich zarten Duft, wie ihn nur diese kleinen, aus feinstem weißen Elfenbein geschnitzten Blüten verströmen konnten. Einer der beiden Leibwächter und Faïshe waren unweigerlich mit von der Partie. Bendan hatte hingegen gleich abgelehnt. Den langen Weg zu machen, nur um unscheinbare Blüten an noch unscheinbareren Bäumen zu bewundern, war ihm zu langweilig gewesen.
Keï hatte sich darüber nicht besonders unglücklich gezeigt, denn ihr Bruder ging ihr seit einiger Zeit gehörig auf die Nerven. Das freizügige borgossinische Studentenleben und die wilden Unternehmungen mit seinen Freunden hatten ihn unausstehlich gedankenlos gegenüber ihrer Person werden lassen. Rücksichtslos tanzte er von einem Vergnügen ins nächste und kümmere sich kaum noch um seine wenigen Pflichten als prinzlicher Vertreter seines Landes.
Während sie durch den Zitronenhain schlenderten, erzählte Keï Raen, wie sehr es sie einerseits freute, dass Bendans Selbstbewusstsein ihr gegenüber gewachsen war, denn endlich wurde der tapsige Junge erwachsen und ging seine eigenen Wege. Andererseits aber ärgerte sie sich über jene sorglosen Freiheiten, die ihr Bruder genießen konnte und sie nicht. Vor Wut riss sie einen der blühenden Zweige ab und schlug damit in die Luft vor ihr.
Raen blickte sie an. Er ging mit den Händen auf dem Rücken gemütlich neben ihr her und bemerkte, dass es nicht der Zorn auf ihren Bruder war, der sie so gereizt erscheinen ließ, sondern der Kummer darüber, dass sie sich für eine Weile nicht sehen würden.
Gleich nach den Prüfungen hatte er ihr erklärt, was er in Hy vorhatte, und Keï hatte deutlich ihr schlechtes Gewissen darüber kundgetan. Sie hatte ihm gestanden, dass sie lange darüber nachgedacht hatte, denn sie wollte auf keinen Fall als eines von diesen skrupellosen und gelangweilten Miststücken angesehen werden, die sich ihre Zeit mit Eroberungen und Machtspielchen vertrieben, nur um hier einen Ehemann oder dort einen unerfahrenen Jüngling zu verführen. Und sie hatte auch ihn aufgefordert, seinen Schwur an sie noch einmal gründlich zu überdenken. Sie wusste, was sie Suneka antat, und das hatte Raen ihr hoch angerechnet, doch Keïs Appell an seine Vernunft war in seinem verliebten Geist ungehört verklungen. Er wollte nicht mehr ohne sie sein. Weder jetzt noch in Zukunft. Auch wenn das reichlich Gefahren in sich barg und ihnen unendlich viele, beinahe unüberwindliche Hürden in den Weg stellte.
Er sah verträumt vor sich auf den Weg. Er hatte ihr geschworen, seine Liebe in ihren Dienst zu stellen, und vielleicht kam ja irgendwann doch noch der Tag, an dem ...
„Raen, eines muss ich Euch noch fragen, bevor Ihr geht“, drang die Prinzessin in seine unziemlichen Gedanken.
„Ja?“
„Seid Ihr Euch wirklich sicher, mit dem, was Ihr tun wollt?“
Offenbar hatte sie sich in den letzten Augenblicken mit denselben Thema gequält.
„Ja. Ganz sicher“, bekräftigte Raen noch einmal.
„Nun ja, was ich sagen wollte, war ...“, sie druckste herum und senkte ihren Blick, dennoch schlenderten sie weiter. „Ich wollte sagen, dass Ihr Euch hier und jetzt von mir lossprechen könnt. Ich hätte Verständnis dafür, wenn Ihr dies zu tun wünscht.“
Diese Worte fielen ihr nicht leicht, das spürte er.
Er blickte in ihr dunkles Gesicht, aber aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie sich ihre Hände unwillentlich um den Zitronenzweig krampften.
Raen lächelte und schüttelte langsam den Kopf. „Seid unbesorgt. Ich will Euch hier und jetzt nicht auf ewig Ade sagen. Freilich wäre das der einfachere Weg für uns beide, aber ...“ Er blieb stehen und hob beschwörend die Hände. Schnell sah er sich um, aber der Leibwächter war außer Hörweite. „Ich liebe dich doch!“, flüsterte er. „Und deshalb bin ich der deine, ganz gleich, was da auch kommen möge.“
Zuerst zuckte ein unsicheres Lächeln um ihre Mundwinkel, doch dann öffneten sich Keïs Lippen zu einem erleichterten und glücklichen Lächeln, und sein Herz floss über vor zärtlichen Gefühlen für diese Frau, die ihm so vertraut und unentbehrlich schien, als würden sie sich schon ihr ganzes Leben lang kennen. Gerade noch rechtzeitig erinnerte er sich an den Aufpasser in seinem Rücken und unterdrückte den Impuls, Keï einfach an sich zu ziehen.
Stattdessen griff die Prinzessin zu einer List. Sie gab ihrer Dienerin, die auf gleicher Höhe mit dem Leibwächter ging, ein verabredetes Zeichen, und beinahe augenblicklich begann das Schauspiel: Auf einem imaginären Stein knickte Faïshe plötzlich um und fiel formvollendet neben dem Weg ins Gras.
Raen sah amüsiert, wie der Leibwächter sich nichtsahnend zu der herzzerreißend jammernden Verletzten herunterbeugte. Da packte ihn Keï fest am Ärmel und zog ihn geschwind mit sich.
Sie schlug einen Haken um die nächste Baumreihe, und Raen stolperte ihr hinterher, bis sie einen besonders dichten Myrtestrauch erreichten und sich dahinter verbargen.
Erstaunlich entschlossen umfasste Keï seine Oberarme und sah ihm tief in die Augen.
„Einen letzten Kuss willst du mir doch hoffentlich nicht verwehren“, raunte sie „Natürlich nur einen ganz brüderlichen, versteht sich. Aber er soll das Siegel auf deinem Versprechen sein und dich immer daran erinnern!“ Ihre Hände wanderten auf seine Brust und ihre Lippen ungeniert auf die seinen. Bereitwillig fügte er sich und erwiderte den Kuss, durchaus unbrüderlich und leidenschaftlich, wie auch Keï spürbar zufrieden feststellte, denn sie wollte sich nur ungern von seinem fordernden Zungenspiel lösen. Aber sie beide vernahmen schließlich einen spitzen Aufschrei, der ein weiteres Zeichen von Faïshe war, dass der Leibwächter sich wieder in Bewegung gesetzt hatte.
„Nun, das war ein wahrlich denkwürdiges Siegel!“, flüsterte Raen Stirn an Stirn mit seiner Liebsten. Noch ein letztes Mal streiften ihre Lippen seine Wange, und dann brachten sie schicklichen Abstand zwischen sich.
„Sal al In’Sahdi?“, hörten sie den Leibwächter rufen. „Wo seid Ihr?“
„Ja, was ist? Wir sind hier“, rief Keï unschuldig zurück und ging dem Herbeieilenden entgegen.
„Sal al In’Sahdi, Faïshe kann nicht mehr laufen, sie hat sich den Knöchel verstaucht.“
„Oh je! Wie ist denn das passiert?“ Keï warf sich eine Hand an die Wange und lief zu ihrer Dienerin, die mit unglücklichem Gesicht noch immer im Gras saß und sich den Fuß hielt.
Raen verkniff sich ein Grinsen ob des Mummenschanzes. Die ausgereifte Gerissenheit der Prinzessin beeindruckte ihn immer wieder. Für eine Frau, die in Zukunft einmal ihr Land regieren würde und demnach notwendigerweise auch solch kleine Listen beherrschen musste, war das allerdings nicht besonders verwunderlich.
„Ach, meine arme Faïshe, tut es sehr weh?“ Besorgt hockte sich Keï neben das Mädchen und untersuchte den Knöchel. Gekonnt schmerzhaft verzog Faïshe die Lippen, als ihre Herrin den Fuß berührte.
„Oh, das sieht nicht gut aus.“ Sie wandte sich an Raen. „Habt Ihr etwas dagegen, wenn wir zu den Pferden zurückkehren?“
„Nein, ganz und gar nicht, soll ich helfen, sie zu tragen?“
„Das wird Jamil schon erledigen“, befahl Keï dem Leibwächter herrisch und wandte sich zum Gehen. Ergeben hob Jamil die Dienerin auf. Sie schien federleicht auf seinen massigen Armen zu ruhen.
„Aber sei vorsichtig!“
„Ja, Sal al In’Sahdi“, entgegnete der Riese und tapste hinter ihr her.
Der Leibwächter war nicht einmal ins Schwitzen gekommen, als sie wenig später an der Schänke ankamen, und Faïshe behutsam auf ihr Pferd setzte.
Raen prüfte den Sonnenstand. Es waren noch einige Stunden bis zur Schließung der Stadttore, und er bot der Prinzessin an, sie bis in die Stadt zurückzubegleiten, doch Keï lehnte ab, sie wollte direkt am Hytena von ihm Abschied nehmen und diesen Moment nicht noch länger hinauszögern.
Als die Dächer des Gehöftes später schließlich in Sicht kamen, wurde Raen ganz schwer ums Gemüt, und als sie auf der Abzweigung hielten, die zum Haupttor des Hytena führte, war ihm gar zum Heulen zumute. Aber er hielt sich aufrecht, wie auch Keï es tat. Sie reichte ihm vom Pferd aus die Hand. Er nahm sie wortlos und küsste sie.
„Ich entlasse Euch für die Zeit, die Ihr fort von hier seid, aus meinen Diensten und erwarte, Euch bald wieder begrüßen zu können. Habt eine gute und sichere Heimreise, Magistrate Raen. Ashalla halte seine schützende Hand über Euch.“ Ihre Hand entzog sich nach einem letzten flüchtigen Lächeln der seinen.
Raen verneigte sich nach hyaunischer Sitte und wollte Jakori zum Hof lenken, da hielt ihn die Prinzessin noch einmal zurück.
„Raen del Shari!“
„Ja?“
„Einen Pfand meiner Freundschaft will ich Euch noch überreichen.“ Sie hielt ihm ihren goldenen Ring entgegen, den sie immer am Zeigefinger ihrer linken Hand getragen hatte und der das Siegel ihrer Familie eingraviert in einem blauen Stein trug. „Möge dieses Siegel unsere Wege wieder zusammenführen und Euch daran erinnern, wem Ihr Eure Treue schuldet.“
„Oh, das ist ein viel zu kostbares Geschenk für einen einfachen Mann wie mich! Das kann ich nicht von Euch annehmen“, wehrte er zutiefst gerührt ab.
„Dann versteht es eben als Leihgabe. Gebt ihn mir wieder, wenn Ihr zurück seid“, beschied Keï und sah ihn bestimmt an.
Raen hatte die Andeutung sehr wohl verstanden und nahm den Ring schließlich entgegen. Er verneigte sich erneut. „Habt Dank, Sal al In’Sahdi, ich werde ihn selbstverständlich in Ehren halten.“ Er küsste den Ring.
„Versprecht mir, dass Ihr ihn immer bei Euch tragt“, sagte Keï schon etwas sanfter.
„Ich verspreche es Euch.“ Raen lächelte. „Alsdann, gehabt Euch wohl!“
„Gehabt Euch wohl!“ Sie hob noch einmal die Hand und galoppierte dann aus dem Stand an. Faïshe und der Leibwächter folgten ihr.
Raen ertrug es nicht, ihr länger nachzusehen und wendete Jakori. Wenig später erreichte er mit schwärzester Laune das Haupttor des Hytena.
Manoen gab sich redlich Mühe, ihn an diesem letzten Abend bei Stimmung zu halten, doch es war vergebens. Das ganze Haus trank in lustiger Runde, aus der sich zunächst Toruma verabschiedete und dann auch Raen. Das Schiff ging früh, und beide würden den Schlaf brauchen.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als Raen aufstand. Sorgfältig kleidete er sich an und ging hinunter in den stillen Gebetsraum, wo er sich bei Hyaun trotz seiner schlechten Absichten im Gepäck eine gute Reise und bei dem Gott der Meere eine ruhige Überfahrt erbat. Dann ging er in die Küche, aß etwas, nahm den Beutel mit dem Proviant, den Uke ihm am Abend zuvor gepackt hatte und trug ihn auf den Hof.
Als er am Stall ankam, brannte dort eine einsame Laterne, und er traf drinnen auf Toruma, der sein Pferd schon gesattelt hatte. Verschlafen murmelten sie sich einen Gruß zu und gingen jeder schweigend ihren Vorbereitungen nach. Toruma schien die Aussicht auf mehrere Tage Seekrankheit ebenfalls nicht zu behagen, seine Miene war konzentriert und verschlossen, und Raen wusste, wenn Toruma schwieg, dann wollte er auch schweigen. Aber das passte ihm ausgezeichnet, denn auch er verspürte zu dieser frühen Stunde keinerlei Verlangen nach einem gezwungenen Gespräch.
Nachdem er Jakori geputzt, gezäumt und gesattelt hatte, löschte er die Lampe und führte die Stute hinaus. Das erste Morgengrau hatte den Horizont hinter den Türmen der Stadt erobert, und keine Wolke war am Himmel zu sehen, was einen schönen Tag mit ruhiger See versprach.
Raen ließ Jakori im Hof stehen und stieg zu seinem Zimmer hinauf, wo er sich noch einmal umsah, dann sein Gepäck nahm und die Tür leise hinter sich schloss. Er wollte niemanden aufwecken, lieber schnell und ohne einen gefühlsduseligen Abschied verschwinden. Er würde ja bald wieder hier sein.
Doch kaum hatte er Jakori Satteltaschen, Waffen, die zweimal in gewachstes Tuch gewickelten Bücher, den Proviant und eine Reisedecke aufgeladen, erschienen auf einmal Manoen und Uke. Raen seufzte, als der Rotschopf väterlich die Arme ausbreitete und ihn fest an seine Brust drückte.
„Raen, mein Freund, so einfach wirst du dich nicht vom Hof stehlen!“ Die Pranken auf seine Schultern gelegt, sah Manoen ihn mit sentimentalem Blick an. „Willst du es wirklich tun?“
Raen nickte.
„Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als dir eine gute Reise zu wünschen. Und komm heil wieder. Du weißt, wer alles darauf wartet, dass du deinen Arsch unversehrt wieder nach Borgossa bringst!“
„Auf jeden Fall schon mal nicht Karbald und Uberth!“, scherzte Raen und klopfte seinem Freund ebenfalls auf die Schulter. „Leb wohl, Manoen, wir sehen uns im Sommer. Und dass mir keine Klagen kommen!“
„Nein, nein, keine Sorge, Uke wird immer ein Auge auf mich haben.“ Manoen ließ Raen los, damit er sich auch von Uke verabschieden konnte. Der schmale Eisan umarmte den von ihm so verehrten Krieger und vergoss ein paar Tränen. Lachte aber schließlich, als Manoen das mädchenhafte Geschniefe nachahmte.
„Nun dann, meine Freunde, wohlan! Das Schiff wartet nicht, auf bald!“ Raen schwang sich auf Jakoris Rücken und nahm die Zügel auf.
„Auf bald, Reisende soll man nicht aufhalten. Und dass ihr beide mir ja unsere Landsleute gut nach Hause bringt!“, sagte Manoen und drehte sich zu Toruma um, der in seinem Gepäck statt Waffen die Urnen der verstorbenen Bewohner hatte.
Toruma nickte niedergeschlagen.
Dann ritten beide an, winkten noch einmal und verließen das Hytena durch das Haupttor.
Manoens Brust hob und senkte sich unter einem tiefen Seufzer. „Hoffentlich macht er keine Dummheiten!“
„Wieso sollte er das?“, fragte Uke den um einen ganzen Kopf größeren Rotschopf.
„Ach, nur so. Bei Raen weiß man nie!“
Mit wachsender Ungeduld suchte Jovani immer wieder die Mole ab. Aber Raen war nicht zu sehen. Wo blieb der Kerl bloß? Die Vinçenta würde mit dem Höchststand der Flut auslaufen und das war bald. Nervös trommelte er mit den Fingern auf die Reling. Für einen Hy, der es normalerweise gewohnt war, ohne Stundenglas zu leben, war Raen immer sehr zuverlässig gewesen und er hatte immer sein Wort gehalten. Was war also heute mit ihm los?
Die morgendliche Betriebsamkeit auf der Mole nahm zu, die Schiffe wurden beladen und drei weitere Segler machten sich auslaufbereit - zwei plumpe borgossinische Handelsfahrer und ein adjanischer Schnellsegler mit schlankem Rumpf und großen dreieckigen Segeln, der wahrscheinlich Gewürze und Salz geladen hatte. Ihre Fahnen hingen schlapp im Wind als ihre Leinen gelöst wurden. Die adjanische Allatrina legte als erste ab und schob sich träge an Jovani vorbei. Danach folgten die anderen beiden.
Und auch auf der Vinçenta wurde nun das Kommando „Alle Mann in die Takelage“ über das Deck gerufen, und die Matrosen besetzten mit affenartiger Geschicklichkeit ihre luftigen Posten. Jovani sah von den Männern im Mast über ihm wieder zur Mole, doch kein Raen weit und breit. Es musste etwas dazwischengekommen sein. Jovani überlegte kurz, ob er das Schiff wieder verlassen und nach Raen suchen sollte, doch da kam schon der nächste Ruf.
„Leinen los!“
Zu spät. Er würde nur Ärger mit dem Kapitän bekommen, wenn er jetzt sein Pferd und Gepäcke wieder entladen wollte. Dann würden sie eben getrennt voneinander reisen müssen. Aber Jovani hoffte, dass Raen den Weg nach Campeggio trotzdem finden und lediglich etwas später dort eintreffen würde. Ein wenig enttäuscht stützte er sich auf die Reling und blickte auf den blauen Horizont. Raen musste zweifelsohne einen Grund dafür haben, dass er nicht auf dieses Schiff gekommen war. Er hatte ihn bestimmt nicht aus Absicht versetzt. Nur wäre es schön gewesen, wenn Raen im Bescheid gesagt hätte, denn dann hätte auch er sich um eine andere Passage kümmern können.
Als sie das Hafenbecken verlassen hatten und kurz drauf das offene Meer erreichten, erfasste eine frische Brise ihre Segel und brachte sie rasch in Fahrt. Mit am Bug aufspritzender Gischt folgte die Vinçenta dem südlichen Kurs der drei vorangegangenen Schiffe, deren Segel sich im Licht des Morgens immer weiter von ihnen entfernten, und bald entschwand auch Borgossa hinter ihnen in der Ferne.
Raen erwachte und roch Lavendel.
Keï?
Nein. Eine sehr stark modrig riechende Komponente gesellte sich hinzu. Er öffnete seine Augen und sah nichts weiter als Dunkelheit. Der Geruch von feuchtem Moder wurde übermächtig.
Wo war er?
Raen drehte den Kopf. Ein reißender Schmerz durchfuhr seinen Nacken und ließ ihn sofort in der Bewegung innehalten. Ein Stöhnen entfuhr ihm. Und als er die Hände an den Kopf heben wollte, stellte er verwundert fest, dass seine Hände und Füße gebunden waren. Mit einem Mal war er munter.
Was war hier los?
Mit aller Kraft wand er seine Gliedmaßen in den Fesseln, doch so sehr er auch kämpfte und dabei den Schmerz im Nacken ignorierte, die Lederschnüre waren gut verknotet und gaben nicht einen Deut nach. Schließlich verlegte er seine Anstrengungen darauf, seine Umgebung zu erkunden, und tastete zunächst mit seinen Beinen umher. Dabei stieß er mit den Stiefeln gegen etwas Weiches, Nachgiebiges, aber er konnte sich keinen Reim darauf machen. Dann langte er mit den Händen nach links und rechts.
Das Gleiche.
Er wand den Kopf trotz des Schmerzes hin und her, bis sein Gesicht über raues Gewebe rieb, dem ein Schwall Lavendelduft entstieg. Es waren Säcke.
Raen stieß den Hanf noch einmal an.
Säcke, gefüllt mit getrockneten Lavendelblüten. Wie überaus umsichtig, ihn hier zu deponieren, dachte er und rollte sich auf den Bauch. Als er sich auf alle viere stemmte, wurde ihm plötzlich gewahr, dass die gammeligen Holzbohlen unter ihm schwankten. Bei Hyaun, er war auf einem Schiff!
Wie ein unerwarteter Fausthieb traf ihn die Übelkeit in den Magen. Sofort ließ er sich zurück auf die Bohlen sacken. Der fischige Geruch des Holzes drang ihm in die Nase, und er begann zu würgen. Erst jetzt wurde er sich des lauten Knarrens der Spanten und Planken bewusst.
Was war passiert?
Raen konnte sich nicht erinnern. Er wusste nur noch, dass er sich von Manoen verabschiedet und zusammen mit Toruma auf den Weg in die Stadt gemacht hatte. Toruma! Raen stützte sich auf die Unterarme und rief leise den Namen seines Reisegefährten, doch niemand antwortete. Da huschte etwas an seinen Fingern vorbei. Ratten! Entsetzt vergaß Raen für einen Moment seine Übelkeit, denn er wusste nicht, was schlimmer war: Hier in der Dunkelheit in seinem eigenen Erbrochenen zu liegen, oder von räudigen und sehr hungrigen Schiffsratten angenagt zu werden?
Kalte Panik überzog seinen ganzen Körper mit Gänsehaut. Er musste raus aus diesem stickigen Loch! Mit äußerster Entschlossenheit kam er wieder auf alle viere und nur umständlich gelang es ihm, über die ersten Säcke zu kriechen. Noch einmal rief er nach Toruma, doch seine Stimme verhallte dumpf, ohne gehört zu werden. Vielleicht sollte er noch lauter um Hilfe schreien? Nein, besser nicht. Wenn er als Gefangener auf einem Schiff war, so wusste der Schiffseigner bestimmt davon. Damit war ihm also nicht geholfen. Seine Hände stießen an eine massiv klingende Trennwand. Hier ging es nicht weiter. Er arbeitete sich zwischen den Säcken an der Wand entlang und wenig später berührten seine Finger erneut eine Begrenzung dieser Räumlichkeit. Er robbte weiter. Wohin dieses Schiff wohl fuhr?
Ganz bestimmt nicht nach Lado di Forsa, das stand schon mal fest. Er schluckte heftig. Sein Mageninhalt wollte nicht mehr länger bei ihm bleiben.
‚Jetzt reiß dich zusammen! Wenn der Raum so klein ist, wie befürchtet, so ist es nicht ratsam, ihn vollzuspeien. Frische Luft wirst du hier vorerst nicht so leicht bekommen.’ Und wieder erreichte er eine Wand. Es waren die Außenplanken des Schiffsrumpfes. Deutlich konnte Raen die kalfaterte Wölbung fühlen und dahinter die Kraft des Wassers; die gewaltigen Wellen, die dagegen spülten. Schweiß strömte ihm über das Gesicht, und er begann stoßweise zu atmen, gleich würde er es nicht mehr halten können!
Nach der nächsten Ecke wusste er, dass er in einem ungefähr sechs Schritt langen und vier Schritt breitem Raum festsaß, und musste sich lautstark auf einen der Säcke übergeben. Wie erwartet wurde die wenige Luft, die ihn umgab, dadurch nicht besser, und der beißende Geruch seines rekapitulierten Mageninhaltes ließ ihn weiter würgen, bis nichts mehr aus seinem von Krämpfen geschüttelten Leib kam. Sich wahrhaft elend fühlend kroch Raen schließlich so weit wie möglich von der besudelten Stelle fort, lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Sack, schloss die Augen und versuchte, sich nur noch auf seinen Herzschlag zu konzentrieren.
Irgendwann fiel er in einen unruhigen Schlaf. Erinnerungsfetzen und Traumtrug vermischten sich darin zu einem apokalyptischen Chaos. Immer wieder sah er Toruma von seinem Pferd auf die Straße stürzen, und immer wieder blieb ihm sein Warnschrei in der Kehle stecken!
„Uhhh, das ist ja widerwärtig! Also es hat ja schon vorher hier unten gestunken wie’n Fischweib aus’m Rock, aber das hier schlägt alles! Leuchte mal.“
Ein funzeliges Öllicht schob sich durch die niedrige Tür und erhellte den Raum.
„Sieh dir das nur an. Alles vollgereihert hat er. Bah!“
Raen blinzelte der Figur entgegen, die sich über ihn beugte.
„Lebt er noch?“
„Ja.“
„Gib ihm das hier.“
Ein Trinkschlauch wurde ihm entgegengehalten, und da er nicht schnell genug reagierte, landete er mit einem Klatschen auf seiner Brust.
Er wollte etwas sagen, doch seine Zunge wollte ihm nicht gehorchen, und so brachte er nur ein Lallen hervor.
„Ich glaub, dem brauchen wir gar nichts von dem Zeug zu geben, der is’ auch so total weggetreten. Dem kommt bestimmt sogar selbst das Wasser hoch. Bloß raus hier!“
„Und was, wenn er hier unten auch noch alles vollscheißt?“
„Was soll schon damit sein? Los, komm.“
Das Licht verschwand und die Tür wurde geschlossen. Raen war wieder allein mit der Dunkelheit ... und den Ratten, die mit der Beharrlichkeit des Ungeziefers, ihre mitleidslosen schwarzen Äuglein auf ihn gerichtet hielten und drauf warteten, dass das Festmahl endlich eröffnet wurde.
Nach einer Weile, von der Raen nicht wusste, wie lang sie war, dämmerte er weg. Der Schlaf war ein Segen, denn er ließ ihn nicht merken, wie das Schiff immer schwerer durch die aufgewühlte See stampfte, und die Ratten die ersten Löcher in seine Kleidung fraßen.
Toruma zügelte sein Pferd und zeigte auf einen Körper, der vor ihnen in der Gasse lag. Raen blickte sich um, außer ihnen war niemand zu sehen.
„Vielleicht ein Betrunkener von letzter Nacht. Aber wir sollten trotzdem nachschauen, was mit ihm ist.“ Raen stieg ab, ging zu der Person und drehte sie um. Es war eine Frau. Ihre Augen und ihr Mund standen weit offen, und an ihrer Kehle prangten dunkle Würgemale.
„Sie ist tot!“, sagte Raen, ließ die Leiche los und sah zu Toruma auf, der unbehaglich mit den Schultern zuckte.
„Wir haben keine Zeit mehr, das Schiff legt bald ab. Wir müssen sie liegen lassen. Jemand anderes wird sich schon darum kümmern.“ Kaum hatte Toruma das ausgesprochen, da sah Raen etwas von hinten auf ihn zufliegen. Er wollte ihn warnen, doch bevor er den Mund aufbekam, traf der Gegenstand seinen Begleiter im Rücken.
Torumas Gesicht zeigte Erstaunen, dann Schmerz, und stumm fiel er vom Pferd. Raen wollte aufspringen, um nach seinem Reisegefährten zu sehen, doch da landete ein harter Schlag in seinem Genick und tiefe, bewusstlose Schwärze folgte.
„Was wollte der Kerl bloß mit diesen Büchern?“, fragte sich Setim von Gortar laut und blätterte durch die Seiten eines der Exemplare. Die anderen beiden Soldaten saßen gleichfalls in der geräumigen Kabine des Kapitäns inmitten des Gepäcks der zwei Hy und durchsuchten die Beute.
„Nun, auf jeden Fall sind sie der Grund, warum er unsere Sprache konnte.“ Setim klappte das Buch zusammen und packte es wieder sorgfältig ein.
„Konnte er das? Aber er hat doch gar nichts gesagt.“
„He he, wir haben ihm ja auch schnell eins über die Rübe gegeben!“
„Ihr Dummköpfe! Ich habe euch doch gesagt, dass das der Bastard ist, der mich auf dem Turnier beschimpft hat. Haltet euch also auch in seiner Gegenwart mit irgendwelchen Bemerkungen bezüglich unseres Auftrages zurück.“
„Ja, Capitano.“ Schuldbewusst senkten die beiden Soldaten ihre Köpfe.
„Und auch über das hier werdet ihr absolutes Stillschweigen bewahren!“ Setim hob den Ring der Prinzessin und betrachtete das Siegel. „Der Kerl steht unter dem Schutz Ohaouds. Und es könnte unangenehm für unseren König werden, wenn die Wüstenschlangen herausbekommen, dass wir einen, der ihr königliches Siegel trägt, in unserer Gewalt haben.“
„Ja, Capitano, kein Wort darüber wird über unsere Lippen kommen.“
„Gut.“ Setim ließ den Ring in seinem Geldbeutel verschwinden.
Sie stöberten weiter in dem Gepäck.
„He, was’n das hier?“, fragte einer der beiden Soldaten und holte vier schlichte, versiegelte Tonkrüge aus einer der Satteltaschen hervor.
Setim nahm einen davon und öffnete ihn. Vorsichtig roch er an dem Inhalt und verzog kurz darauf angewidert das Gesicht. „Asche! Das sind womöglich Urnen.“ Er stellte das Gefäß unachtsam fort. „Schmeißt sie über Bord, wenn es dunkel ist. Zusammen mit den Kleidern und der Leiche - die fängt schon an, zu stinken.“
„Machen wir, Capitano.“
Setim nickte und widmete seine Aufmerksamkeit dem nächsten Objekt seiner Neugierde.
„Ein schönes Schwert, nicht war?“, sagte der andere Soldat, dessen Augen beim Anblick der präzise geschärften Klinge aufleuchteten.
„In der Tat, und so leicht.“ Setim wog Raens Breitschwert andächtig in der Hand. Er war ein sehr erfahrener Kämpfer, doch so etwas hatte er noch nicht in den Händen gehalten. „Exzellent ausgewogen. Ein wahrhaft meisterliches Stück!“ Er reichte es behutsam an den Soldaten weiter, der es ebenfalls bestaunte.
„So ein Hy-Schwert sehe ich zum ersten Mal.“ Mehrmals wendete der Soldat die Klinge im Schein der Öllampe.
„Sei froh, dass du es unter diesen Umständen zu Gesicht bekommst. Die meisten von uns haben nämlich nicht so viel Freude daran, wenn es sich ihnen bei der ersten Begegnung in die Eingeweide bohrt!“, brummte Setim.
„Werdet Ihr es behalten, Capitano?“
„Nein, der König bekommt die Waffen.“
„Welch wunderschönes Muster der Stahl hat“, sagte der zweite Soldat.
Setim sah ihn an, und wie ein Knurren drang es aus seiner Kehle: „Wunderschön und tödlich in der Hand dieses Mörders!“
„Oh, der General!“ Erinnerte sich der Soldat und gab schnell das Schwert zurück, als klebe das Blut Kasais daran.
„Und nicht nur den hat er auf dem Gewissen, noch zwei Dutzend andere unserer tapferen Soldaten hat er heimtückisch niedergemetzelt.“
Der Soldat schluckte.
„Ich will, dass ihr euch darüber im Klaren seid, wie gefährlich dieser Hy ist! Ihr dürft ihn nicht einen Augenblick unterschätzen, auch wenn er noch so hilflos erscheint. Diese verfluchten Bestien kennen nur eins: Töten! Sich selbst oder uns! Ganz egal, welche von den beiden Möglichkeiten sich ihnen als erstes bietet. Deshalb muss er das kali Besh bekommen. Nur so können wir ihn unter Kontrolle behalten. Und ganz abgesehen davon brauche ich euch ja wohl nicht zu erklären, was mit uns passiert, wenn wir ohne ihn nach Askhari-Kaise kommen sollten.“
Der Soldat wurde schlagartig blass.
„Was ist?“, fragte Setim alarmiert.
„Wir ... ähm, er hat noch nichts vom Besh bekommen. Er kotzt sich die Seele aus’m Leib, wisst Ihr, und da haben wir gedacht, er kann das Zeug eh nicht bei sich behalten.“
„Wollt ihr damit sagen, er ist da unten ohne Bewachung und bei vollem Bewusstsein?“ Setim stand auf, das Schwert des Hy drohend auf die beiden Soldaten gerichtet.
„Ja. Aber er ist ganz und gar wehrlos, Capitano!“
„Das ist mir verdammt noch mal egal! Warum tut hier keiner, was ich befehle! Ihr geht auf der Stelle runter und gebt ihm das Zeug. Und wenn ihr es in ihn hineinzwingt!“
Die beiden Soldaten sprangen hastig auf, um den Befehl auszuführen, und als sie verschwunden waren, atmete Setim tief durch. Verdammte Idioten! Ständig musste er alles nachprüfen! Diese zwei Hohlköpfe würde er nicht wieder mit nach Borgossa nehmen. Sein Blick fiel auf das Schwert des Hy in seiner Hand. Die Spitze der Klinge zitterte. Vielleicht sollte er auch etwas von dem Besh nehmen. Der „Süße Schlummer“ würde ihn mit Sicherheit etwas beruhigen. Die wertvolle Fracht, für die er verantwortlich war, machte ihn nämlich außerordentlich nervös.
Wenn es ihnen gelingen sollte, den Hy nach Askhari-Kaise zu liefern, dann würde man sie als Helden feiern und mit Gold überschütten! Versagten sie aber, so würden sie in die Grube fahren, noch bevor der König ein zweites Mal mit den Augen gezwinkert hätte! Keine besonders reizvolle Alternative.
„Und das soll bis Askhari-Kaise so weitergehen?“, schimpfte der eine Soldat, als sie sich in dem kleinen Raum über den gefangenen Hy beugten.
„Schhhht, du sollst doch in seiner Gegenwart nichts davon sagen!“
„Ach, der ist doch jenseits von Gut und Böse! Guck ihn dir doch an. Is’n Wunder, wenn er auch nur die Seereise überlebt. Wenn der so weiter kotzt, dann wird er in ein paar Tagen nur noch Haut und Knochen sein.“
„Ach, das legt sich noch. Wirst schon sehen.“
Der Soldat, der als letztes gesprochen hatte, stellte sich breitbeinig über den Gefesselten und kramte in seinem Wams.
Raen hielt die Augen geschlossen, damit die beiden nicht sahen, dass er bei Bewusstsein war und sie verstand.
„Das will ich schwer hoffen, nicht dass uns die Belohnung durch die Lappen geht. Stell dir doch nur vor: Sein Gewicht in Gold! Da ist es besser, wenn er nicht so abmagert!“
„Aha, also daran denkst du! Bist’n gerissener Bursche. Ah, der Süße Schlummer!“ Er zog einen kleinen Beutel hervor und ließ ihn kurz vor sich in der Luft baumeln. Dann öffnete er ihn. „Was wirst du mit deinem Anteil machen? Gib mir mal das Wasser.“
„Hm, weiß noch nicht.“ Der Soldat reichte dem anderen den Trinkschlauch, der neben dem Gefangenen lag. „Zuerst werde ich mir wohl ’ne kleine Abwechslung im Varkhan-Viertel gönnen, aber keine von diesen billigen Huren, wie sie sie in Borgossa hatten, wenn du verstehst, was ich meine. Die Weiber dort waren ganz und gar nicht nach meinem Geschmack. Zu aufdringlich und zu geschwätzig.“
Der andere lachte dreckig. „Oh, ja, ich weiß, was du meinst. Die konnten einfach nicht die Klappe halten, haben andauernd geschrien.“
„Oh, du tust mir weh!“, rief der erste mit scherzhaft verstellter Stimme.
Gutes Stichwort, dachte Raen, und bewegte sich ruckartig. Er Zog einmal die Beine an und rammte sie dem über ihm stehenden Kameraden in die Weichteile. Schrill schreiend sackte der neben ihm auf die Säcke. Der andere starrte erschrocken auf ihn hinab. Raen nutzte den Schwung, bog seinen Rücken durch, schnellte im nächsten Moment mit dem Oberkörper nach vorn und traf den Gaffenden mit dem Kopf in den Bauch. Dabei stieß er leider auf dessen Gürtelschalle und riss sich daran die Kopfhaut auf. Schmerz durchbohrte seinen Schädel. Hätte er noch seinen Helm aufgehabt, dann wäre das nicht passiert, und der Kerl wäre jetzt aus dem Weg geräumt! So aber taumelte der zweite Askharer zurück an die Wand und fing sich dort schnell wieder. Ohne zu zögern warf Raen sich hinterher. Leider war seine Reichweite aus dem Kniestand nicht groß genug und er verfehlte ihn. Rasch rollte er sich auf den Säcken zur Seite und stieß seine Beine in die Richtung, doch da landete etwas Schweres auf ihm und presste ihm die Luft aus den Lungen. Der erste Askharer hatte sich von der Attacke erholt und hielt ihn nun zu Boden gedrückt. Er hörte, wie beide schwer atmend auf Ausländisch fluchten. Der zweite Kerl kam herbei gestolpert, packte mit beiden Händen Raens Kopf und schlug ihn mehrmals auf die Planken, bis ihm die Sinne schwanden. Sein Körper erschlaffte und blieb regungslos liegen.
Und erst als die beiden Askharer sich davon überzeugt hatten, dass der Gefangene tatsächlich bewusstlos war, ließen sie von ihm ab.
„Mann, Pest und Seuche, das war knapp!“
„Kannst du wohl sagen! Oh, Hurenmist, das Schwein hat mich voll erwischt. Der Capitano hatte Recht, die sind unberechenbar! Gib ihm bloß schnell das Zeug!“
„Mach ich ja schon!“ Der Soldat nahm eine Prise kali Besh, öffnete den Mund des Bewusstlosen, stopfte es hinein und hielt den Mund solange geschlossen, bis er geschluckt hatte. Danach goss er noch etwas Wasser hinterher und stand voller Abscheu auf.
„So, der schläft jetzt! Verfluchter Hund!“ Er wischte sich die Hände an der Hose ab und zog den anderen mit sich aus dem Raum. Die Tür klappte, der Riegel schabte und dann war nur noch dunkle Stille um den langsam in den Rausch gleitenden Gefangenen.
Das nächste Mal, als er zu sich kam, spürte Raen, dass das Schiff nicht mehr so stark schaukelte … und dass er sich besudelt hatte. In wütender Hilflosigkeit presste er die Lippen aufeinander. Sich selbst zu bepissen, war eine noch viel schlimmere Demütigung, als in seiner eigenen Kotze zu liegen!
Wie lange würden sie ihn noch hier unten festhalten?
Kraftlos rollte sich Raen auf den Planken zusammen und versuchte, einfach wieder einzuschlafen. Er wollte der ewig unveränderten Dunkelheit entkommen, die ihn schier zu ersticken drohte. Aber es gelang ihm nicht, und schließlich begann er sich nach neuerlich panischem Würgen das Zeug zu wünschen, das die Askharer ihm ständig zu schlucken gaben und das jedes Mal eine herrlich entrückende Wirkung entfaltete. Vielleicht würde er dann im Delirium einfach an seinem Erbrochenem ersticken? Das wäre immer noch besser, als noch länger hier in seinem eigenen Unflat zu liegen und den Ratten als willkommene Abwechslung auf ihrem Speiseplan zu dienen. Überall fühlte er schon wunde Stellen am Körper jucken, die von langen, gelben Zähnen stammten, die sich gierig in seine Haut gruben, während er schlief. Ein Schauer überkam ihn, und er begann erneut zu würgen. Eines stand fest, lange würde er es hier nicht mehr aushalten.
Die askharischen Wärter kamen, als er gerade dabei war, wie ein Besessener an seinen Handfesseln zu nagen und dabei selbst aussah wie eine große, schwarzgekleidete Ratte. Das Weiße in seinen verdrehten Augen zeugte von seinem fortgeschrittenen Wahnsinn und schimmerte so bedrohlich im Licht der Funzel, dass die beiden Soldaten noch in der Tür gefroren und ihn für einen Moment beinahe furchtsam ansahen.
„Er ist wach!“, sagte der eine und blickte den anderen unschlüssig an.
„Dann verpass ihm den nächsten Hieb!“
Langsam gingen sie auf ihn zu, bereit jeden Augenblick zur Seite zu springen, falls der Gefangene sich wieder auf sie stürzen wollte.
Doch der blieb ruhig und öffnete sogar freiwillig den Mund. Verwundert sahen die Askharer sich an.
„Der steht auf das Zeug!“, lachte der eine, gab dem Hy vorsichtig das Besh und sah zufrieden mit an, wie er es schluckte, sich erleichtert zurücklegte und die Augen schloss.
„Schlaf gut, Bruder!“
Sie warteten, bis sein Kopf zur Seite sackte, und machten sich dann an die Arbeit.
Ächzend und fluchend schleppten sie den verdreckten Hy aus dem Raum und die steile Treppe hinauf an Deck, wo ihr Capitano wartete und ihnen befahl, mehrere Eimer Wasser über den Gefangenen zu kippen, um ihn wenigstens grob zu säubern.
Die rote Sonne hing tief über dem Horizont - eine aus dem Dunst des Abends ragende Bergkette der zaranischen Halbinsel, die sie in den letzten Tagen umrundet hatten, und an deren von den Stürmen abgewandten Ostküste sie nun in ruhigeren Gewässern gen Meerenge von Dardanaskh segelten. Wenn der Wind weiterhin so beständig blieb, würden sie in vier Tagen im Hafen von Kantaka-Stadt einlaufen und wieder guten, festen, askharischen Boden unter die Füße bekommen. Und dann wäre es nur noch ein Tagesritt bis Askhari-Kaise und zur Erfüllung ihres Auftrags!
Setim zwang sich, nicht an die Belohnung zu denken, denn noch waren sie nicht am Ziel. Er gab den beiden Soldaten Order, den Gefangenen nicht aus den Augen zu lassen, während er an der warmen Luft trocknete, und ihm später einen Eimer für die Notdurft und Essen mit in seinen Verschlag zu geben. Dann verließ er das Deck. Er wollte sich mit den erbeuteten Büchern befassen, denn aus einem unbestimmten Grund faszinierte es ihn, mit ihrer Hilfe die Sprache des Feindes verstehen zu können. Die beiden anderen Transchafe hatten dafür keinen Sinn. Sie waren gute Kämpfer und gewiefte Beschatter, aber keine Denker. Sie waren nicht in der Lage, die Bedeutung derartiger Dinge zu erkennen. Setim setzte sich an den grob gezimmerten Tisch in der Kajüte, entzündete eine Lampe und schlug das Buch auf.
Der Gefangene verhielt sie äußerst kooperativ, aß und trank ausreichend, schluckte bereitwillig das Besh und machte auch sonst keine Anstalten, sich übermäßig zu wehren. Den kleinen Vorfall gleich zu Beginn ihrer Reise hatten die zwei Soldaten ihrem Capitano gebeichtet, und Setim hatte ihnen verziehen. Insgeheim aber traute er dem Hy nicht und er war überglücklich, als endlich das Festland in Sicht kam. Er konnte es kaum erwarten, seiner Verantwortung endlich ledig und dafür in Besitz einer wesentlich erquicklicheren Last zu sein. Nicht, dass Reichtum ihm je viel bedeutet hätte, aber eine solch riesenhafte Menge an Gold ließ sogar einen Mann wie ihn träumen.
Angetan im eindrucksvollen Ornat eines Kommandeurs der Königlichen Leibgarde betrat er im Hafen von Kantaka-Stadt über die Rampe die Mole. Dankbar, statt der tückisch schwankenden Planken endlich wieder Stein, Erde und Staub unter den Sohlen zu haben, ließ er sich sein Pferd aushändigen und stieg auf. Sehr aufmerksam überwachte er, wie die zwei anderen Soldaten die Pferde - darunter auch die der Hy - und den Gefangenen entluden. Natürlich erregte es einiges Aufsehen, als sie den erschlafften Körper des Betäubten auf seinen störrischen Rappen hievten und ihn sehr sorgfältig im Sattel verschnürten. Sofort wurde das Pferd ruhiger und ließ sich zahm am Zügel führen. Setim wollte so schnell wie möglich in die Hauptstadt gelangen, deshalb ging er das Risiko ein, den Hy auf seinem Pferd sitzen zu lassen. Ein Wagen wäre viel zu langsam gewesen.
Das Gedränge am Kai verdichtete sich, jeder wollte einen Blick auf diesen sensationellen Gefangenen werfen. Obwohl Setim veranlasst hatte, den Stirnreif des Hy unter einer Kopfbinde zu verstecken, war es für den Pöbel am Hafen dennoch nicht zu übersehen, dass es sich bei dem Mann um einen hyaunischen Krieger handelte. Argwöhnisch überwachte Setim ihren Weg durch die Menschenmenge vom Pferderücken aus, hieb hier und da einen allzu Neugierigen mit der Peitsche fort und hoffte inständig, die Eskorte des Königs würde bald eintreffen und sie sicher bis nach Askhari-Kaise geleiten.
Der Gefangenentransport kam gut voran, und als er die Schutzmauern der Hauptstadt erreichte, eilte ihm ein Bote voraus, um die erfolgreiche Expedition im Palast anzukündigen. Kühl senkte sich die Nacht über die aufgeheizten Dächer Askhari-Kaises und milderte auch die Erschöpfung in den Gesichtern der verstaubten Reiter, die in geordneter Formation in den Hof des Palastes einritten, den Gefangenen, dessen Kinn müde auf seiner Brust ruhte, in ihrer Mitte.
Raen war längst aus dem Rausch erwacht und hatte während des Ritts unaufhörlich nach beiden Seiten geäugt, um die fremde Landschaft zu betrachten, war aber in der Hitze des Tages immer wieder weggedöst. Doch nun, da sie das zweite Tor der Festung passiert hatten, war er wacher denn je, tat weiterhin aber so, als sei ihm noch immer elend von der Seefahrt. Heimlich begutachtete er die massiven, klobigen Mauern des gewaltigen Palastes, den er schon aus der Ferne über der Stadt hatte thronen sehen wie ein Fels auf einem Fels, Trutz und Macht ausstrahlend. Und hinter all diesen abweisenden Wällen aus Stein versteckt, pulsierte nun also das Herz des askharischen Volkes. Hier an diesem Ort herrschte die grausame Seele eines Mannes, der mit einem Fingerzeig über das Schicksal von Völkern bestimmen konnte. Hier atmeten die Menschen Furcht aus, ja, zitterten selbst die Steine förmlich vor dem Grauen, das hier seit Generationen wohnte. Und er, Raen, wurde mitten hineingebracht in diesen Ort der Verdammnis!
Banges Erwarten, aber auch Neugier erfüllten ihn, und gerne hätte er Jakoris Mähne berührt, um sich Mut zu machen, doch seine Hände waren ihm auf den Rücken gebunden worden.
Die Eskorte hielt vor den Stufen zu einem eindrucksvollen Palastportal, wo im Fackelschein mehrere prachtvoll gekleidete Gestalten zwischen den Säulen standen und ihnen entgegensahen. Man holte den Gefangenen vom Pferd, schleppte ihn die Stufen hinauf, und der Anführer, welchen Raen sofort als den Bettler wiedererkannt hatte, riss ihm schließlich die Kopfbinde von der Stirn und verneigte sich tief vor den wartenden Männern.
Der offenkundig Jüngste aus dieser Empfangsgruppe trat einen Schritt auf sie zu. Er war von sehniger, schmalbrüstiger Erscheinung, und tiefschwarzes, verzotteltes Haar umrahmte sein beinahe mädchenhaftes Gesicht.
„Setim von Gortar, seid willkommen!“, sprach er an den Anführer gewandt. „Wie ich sehe, kann man Euch für Eure außerordentlich erfolgreiche Heimkehr gratulieren!“ Er hob Raens Kinn mit seiner behandschuhten Rechten und begutachtete dessen Gesicht. Raens Lider hoben sich nur langsam, schienen ihm unendlich schwer zu sein, doch dann trafen sich im zuckenden Licht der Fackeln ihre Blicke!
Den Hy durchfuhr ein unsägliches Schaudern, als er die gleißende Kälte und den Hass in den unbewegten, schwarzen Augen des bartlosen Jünglings wahrnahm. Schnell ließ er die Lider in vorgetäuschter Kraftlosigkeit wieder sinken und betete still zu Hyaun, Er möge diese Augen schnell wieder von ihm nehmen, denn sie machten ihm Angst!
Der junge Bursche nickte beifällig und ließ sein Kinn endlich wieder los. Es sackte zurück auf die Brust.
„Dann wollen wir den König nicht länger warten lassen!“ Den wirren Haarschopf stolz erhoben, schritt er dem Zug voraus durch das Portal.
Raen wurde unter den Armen gepackt und hinterher geschleift.
Schon nach wenigen Ecken und Windungen betraten sie eine große, mit unzähligen Lichtern und Fackeln erhellte Halle. Der Thronsaal, vermutete Raen, denn er war prachtvoll eingerichtet. An den Seitenwänden hingen kostbare, fein gewebte Teppiche und daran entlang stand aufgereiht eine endlose Schnur von Menschen, die feindselig und verachtend seinen Weg durch die Halle verfolgten.
Raen richtete seinen Blick wieder nach vorn. Das Gefühl, dass sich tausend Jahre Hass an ihm entluden, drohte ihn zu ersticken.
Sie gingen auf eine Estrade zu, die mit einem blutroten, mit Perlen wie Tränen bestickten Baldachin überspannt war. Dahinter befanden sich aufgesteckt die Wimpel mit dem Wappentier, das Raen noch gut im Gedächtnis war: Die goldene, sich windende Schlange mit ausgebreiteten Schwingen.
Sein Blick rutschte auf den Thron darunter. Dort hockte ein überraschend kleiner Mann mit angegrautem Bart, schlichter, reifförmiger Bekrönung und verschlagenem Blick.
Sie hielten zu seinen Füßen.
Die Ehre gebührte seinem Bezwinger, und so wurde Raen von dem Anführer mit den zeremoniellen Worten „Sklave, knie nieder vor deinem König!“ auf die Knie gezwungen, als Nachdruck den Griff eines Schwertes im Nacken.
Sein Atem beschleunigte sich, so sehr drang die Gegenwart des verhassten Feindkönigs auf ihn ein!
Der erhob sich mit feierlicher Miene und stieg aufrecht, aber lahmend die Stufen hinab. Mehr bekam Raen allerdings vorerst nicht zu sehen, denn sein Kopf wurde noch weiter in Richtung Erde gebogen, während jemand seine Arme schmerzhaft nach hinten zog. Zu absoluter Bewegungsunfähigkeit verdammt und mit heftig klopfendem Herzen spürte er, wie der Herrscher der Askharer ihm einen Fuß in den Nacken stellte.
Es war jener Mann, den er hatte töten wollen! Damals an der Grenze.
Jener Mann, über den er hatte triumphieren wollen!
Und nun lag er hier unter dessen Sohlen, gedemütigt bis ins Mark und bar jeglicher Möglichkeit, sich zu wehren. Heißer Zorn kochte in ihm auf, aber er bemühte sich, ihn versteckt zu halten, denn er wollte nicht, dass sie ahnten, wie sehr sie ihn in ihrer Gewalt hatten. Kühle Gleichgültigkeit war die einzige Waffe, die ihm jetzt noch blieb, und er ließ sie in seine Glieder sickern.
Dann entfernte sich der Fuß, und er wurde unsanft wieder hochgerissen. Sein Blick streifte das Gesicht des Königs, der ihn mit einem falschen Lächeln auf seinen schmalen Lippen begutachtete, als erkenne auch er in ihm den einstigen, persönlichen Feind!
„Und das ist er nun? Der Attentäter?“, fragte der kleine Mann, mit schnarrender Stimme. Raen verstand ihn kaum, so verzerrt war dessen Akzent von höfischer Blasiertheit.
„Ja, Majestät, er hat das hier zweifelsfrei erkannt!“ Der Anführer holte etwas hervor und überreichte es dem König.
Es war die Pfeilspitze!
Ein Köder!
Raen sank der Mut.
„Er ist der hyaunische Grenzgänger, der Meuchler General Kasais! Und auch ebenjener, der unsere Sprache versteht! Lasst ihm mich verhören, und ich verspreche Euch, er wird singen wie ein Schwan!“, erhitzte sich der schmächtige Jüngling, der offenbar das Gezücht des Königs war.
Aber Raen war von etwas anderem gefangen! Die Worte ‚Grenzgänger‘ und ‚Meuchler‘ hallten unheilvoll in seinem Kopf wider, und ganz langsam legte sich der Schrecken wie ein eiserner Ring um seine Kehle und drückte sie mit hässlicher Genugtuung zu.
Sie hatten Jagd auf ihn gemacht!
Auf einen vollkommen Ahnungslosen! Welch ein fatales Spiel!
Und jetzt würden sie ihre Rache an ihm nehmen!
Sein ohnehin schon durstiger Mund wurde noch trockener, als seine Hoffnungen auf einen schnellen Tod schwanden. Sie würden ihn foltern! Wie aus der Ferne hörte er plötzlich fröhlich lachendes Kindergespött. Was hatte er gedacht, was sie mit ihm tun wollten? Wenn sie ihn hätten töten wollen, dann hätten sie es längst getan, so wie sie Toruma einfach aus dem Weg geräumt hatten! Tief sog Raen Luft ein und betrauerte seinen armen Reisegefährten. Auch er würde seine Heimat niemals wiedersehen.
Eine der Kinderstimmen in seinem Kopf hetzte erbarmungslos weiter auf ihn ein: ‚In ihren Augen bist du ein Mörder! Askharisches Blut klebt an deinen Händen! Und sie werden es genießen, dich leiden zu sehen. Sie werden dir bei lebendigem Leib die Eingeweide herausreißen und sie den Krähen zum Fraß vorwerfen! Besser, du verabschiedest dich schnell von deinem kümmerlichen Leben, du Narr, dann wird der Tod sich vielleicht als gnädig erweisen und dich rasch zu ihm nehmen! Wie konntest du nur glauben, dem Schicksal ein Schnippchen schlagen zu können? Wie konntest du annehmen, du könntest deinen Weg selbst bestimmen und einfach so mit der Prinzessin gehen? Du hast Zaizura erzürnt und dies ist deine Strafe!’
„Hyaun, vergib mir meine Dummheit“, stöhnte er und schloss die Augen. Mit einem Mal fühlte er sich unendlich erschöpft. Kraftlos und müde vom Leben, das nicht so sein wollte, wie er es sich wünschte. Sein Kinn sank wieder auf seine Brust. Er würde hier zu Grunde gehen und niemals mehr wieder hyaunischen Boden unter seinen Füßen spüren, niemals mehr würde er die Luft Borgossas atmen, das erheiternde Lachen Manoens hören, oder die weiche Haut der Prinzessin an der seinen fühlen.
‚Vergebt mir meine Freunde, und lebt wohl. Ich werde an euch denken, wenn der letzte Atemzug gekommen ist.’
Er fühlte, wie er grob gerüttelt wurde, und seine flatternden Lider hoben sich wieder.
„Ich will es jetzt von ihm hören, in unserer Zunge! Er soll seine Taten gestehen“, befahl der König, sein blasses Jüngelchen neben ihm sah ihn erwartungsvoll an.
„Sprich gefälligst, Sklave, wenn dein König dich dazu auffordert!“, wiederholte der Anführer in Raens Rücken und gab ihm als kleine Aufmunterung seine Faust zwischen die Schulterblätter.
Er war doch längst verurteilt! Warum sollte er da noch gestehen?
Seine Lider senkten sich. Schlafen! Er wollte viel lieber schlafen ... und nie wieder aufwachen aus diesem Alptraum!
Erneut krachte die Faust in seinen Rücken.
„Sprich gefälligst und gestehe deine feige und verabscheuenswürdige Tat!“, forderte jetzt auch der schmächtige Prinz ihn auf, seine Stimme ein scharfer Peitschenhieb. „Oder ich schneide dir gleich hier an Ort und Stelle ein Ohr ab!“ Er drohte Raen mit der Spitze seines eigenen Schwertes, das der Anführer dem jungen Kerl draußen auf der Treppe überreicht hatte. Raen mochte es nicht, seine geweihte Waffe, die allein nur für ihn geschmiedet worden war, in der Hand dieses widerwärtigen, askharischen Hänflings zu sehen. Ein Funken Leben regte sich in ihm, und er hob den Blick. Er starrte den Welpen an, der kaum älter sein mochte als er.
„Dieses Schwert dich vernichten, ob aus meine Hand oder aus deine! Euer aller Verderben es sein!“, knurrte er in den askharischen Worten, die er für richtig hielt. Anscheinend waren sie verständlich, denn sofort wurden seine Arme noch weiter hochgebogen, dass es schmerzhaft in seinen Schultern riss.
Raen presste die Kiefer aufeinander. Er würde nicht schreien, nicht vor diesem lächerlichen, jungen Gecken! Er zwang sich, zu lächeln.
„So sprichst du nicht vor deinem König!“, entgegnete der Prinz und presste die Lippen verärgert zu einem Strich.
„Ich ein Hy und keinen König habe! Niemand jemals König über uns sein! Wir freies Volk, frei von Tyrannen wie euch!“, wagte Raen es, todesmutig dagegenzuhalten, sehnsüchtig den Stoß einer Klinge zwischen seine Rippen erwartend. Doch diesen Gefallen taten sie ihm natürlich nicht, denn schließlich hatten sie all diesen Aufwand nicht betrieben, um ihn jetzt einfach so abzustechen.
Dafür trat der Jüngling vor, packte ihn beim Ohr und riss seinen Kopf zurück. Die Schneide seines Schwertes erschien gefährlich nahe neben Raens Auge.
„Ich werde dich noch lehren, deinem König Respekt entgegen zu bringen. Und du kannst prüfen, wie viel dir dein Dünkel wert ist, wenn du erst einmal die Folter zu schmecken bekommst. Dann wirst du winseln, mit den Zähnen klappern und dir wünschen, dein Körper hätte nicht dergleichen viele Gliedmaßen, die man von ihm trennen könnte! So wie dein Ohr hier, das werde ich dir als erstes abschneiden.“
„Askharische Bastarde nicht wissen, was Respekt bedeuten!“, unterbrach Raen ihn kühl, und er war selbst überrascht, wie ruhig er klang, denn in Wahrheit hatte er entsetzliche Angst vor Folter und Verstümmelung. Sels hilflose Einhändigkeit schoss ihm in den Sinn, und er verdrehte seine Augen in gepeinigter Verzweiflung.
Doch sein Ohr blieb ihm erhalten, denn unvermittelt mischte sich der Anführer ein und bat darum, den Gefangenen vor der Wägung ganz zu lassen, da ihnen schließlich sein vollständiges Gewicht zustehen würde. Stattdessen landete eine Faust in seinem Gesicht, und für einen Moment sah er kleine Lichtblitze vor seinen Augen tanzen.
„Hyaunischer Assassino, dein dreckiges Maul kann ich dir auch anders stopfen! Und dein Ohr, das hole ich mir später!“ Die Stimme des Prinzen schwang beinahe schrill, und das Wort „hyaunisch“ klang aus seinem Munde, als sei es die schlimmste Beleidigung, die er zu benutzen wusste. Wieder holte er mit dem Schwert in der Hand zum Schlag aus, doch Raen grinste ihm frech entgegen. Blut lief ihm aus dem Mundwinkel.
‚Nur zu, schlag einen Wehrlosen und erniedrige dich unter den Erniedrigten!’, dachte er und erwartete den Schmerz.
Doch bevor etwas geschah, ging der König dazwischen. Gebieterisch legte er eine Hand auf den Arm des Jüngeren. Seine Miene zeigte deutliches Missfallen, er hatte die Situation offenbar erfasst und bewahrte den jungen Heißsporn davor, sich vor den hier versammelten Menschen zu blamieren.
„Schh, halt ein, mein Sohn“, schnarrte er, „du wirst dich noch früh genug mit ihm beschäftigen können. Verdirb dir nicht schon vorher die Freude.“ Der eiskalte Blick des Königs traf Raen. „Ein guter Krieger weiß, wann er tapfer zu sein hat, und wann es seine Leiden nur unnötig verlängert. Bringt ihn weg!“
„Gestattet eine Frage, mein König, aber ...“
„Gemach, gemach, mein lieber Setim von Gortar, seid gewiss, er wird gewogen, bevor er zu den Foltermeistern kommt. Gleich Morgen. Ich will, dass der ganze Hof sich versammelt. Euren Erfolg wollen wir doch gebührend ehren, nicht wahr?“
Der Anführer verbeugte sich erleichtert.
„Und nun geht zu Maestro Kanaima und bedankt Euch bei ihm für diesen außerordentlich lukrativen Auftrag!“, sagte der König und winkte ihn fort.
Der Anführer trollte sich zusammen mit seinen zwei Schergen, ein gelöstes Grinsen auf dem Gesicht.
Jetzt nahmen sich die Kerkermeister des Palastes Raens an. Sie schleiften ihn aus dem Thronsaal hinaus auf den dunklen Hof, hinein in einen noch dunkleren Turm und über steile, schlüpfrige Treppen hinab in ein stinkendes Verlies. Dort öffneten sie eine dicke Eichentür, stießen ihn in das gähnend schwarze Loch, wo er schmerzhaft auf die Seite schlug, warfen die Tür krachend wieder zu und überließen den Gefangenen der klammen Dunkelheit.
Raen wischte sich die geschundene Wange an der Schulter ab. Er roch verfaultes Stroh und Exkremente, rollte sich aber trotzdem auf dem Boden zusammen und hoffte darauf, schnell einschlafen zu können.
Maestro Kanaima hatte alles mit angesehen. Allerdings mehr aus dem Hintergrund, denn er hatte es vermieden, sich im unmittelbaren Schweif des Königs zu zeigen. Er wusste auch nicht so recht, was ihn dazu veranlasst hatte, sich zurückzuhalten, war es doch schließlich seine von ihm ins Leben gerufene Jagdgesellschaft, die so triumphal wieder heimgekehrt war, und somit auch ein Stück sein Ruhm. Doch als er den Gefangenen zu Gesicht bekommen hatte, war ein unbestimmtes Gefühl in ihm wachgerufen worden. Eine Art Erkennen, obwohl er diese schmutzige, heruntergekommen Gestalt in löchriger Kleidung nie zuvor gesehen hatte.
Und jetzt, da er hier allein in seinem Arbeitszimmer saß, nachdem Setim ihm berichtet und den Ring und die Bücher ausgehändigt hatte, wurde ihm endlich klar, wen er da von Borgossa bis hier hatte holen lassen! Der Aberwitz der Situation entlockte ihm ein ungläubig hysterisches Lachen. Kanaima biss sich in die Knöchel seiner Faust. Das war wirklich zu schicksalhaft prophetisch! Schier lächerlich! Unmöglich!
Er stützte seine Stirn in beide Hände. Wie sollte er ausgerechnet dem Gefangenen zur Flucht verhelfen, den er selbst hatte hierherbringen lassen? Es war wirklich die blanke Ironie des Schicksals!
Plötzlich merkte Kanaima auf und hob ruckartig seinen Kopf. Wenn die Prophezeiung Recht hatte, und dies war der besagte Gefangene, so blieb ihm nur wenig Zeit, zu erfüllen, was sie von ihm verlangte! Der Hy konnte schneller tot sein, als ein Tropfen Wein zu Boden fällt! Er war ein Käfer unter dem Absatz der königlichen Willkür, und Kanaima wusste nicht einmal, was Katthike eigentlich mit ihm vorhatte. Wollte er nur das Geständnis und anschließende Rache? Oder wollte er mehr mit diesem kostbaren Sklaven anfangen, der ihn am morgigen Tage sehr, sehr viel Gold kosten würde?
Unwillkürlich musste er an Setna und seine Folterkünste denken. Er würde sich schnell etwas einfallen lassen müssen, wenn die kleine Kröte den Hy erst einmal in seine Finger bekam! Fahrig wischte er den Tisch vor sich frei. Dabei hätte er beinahe den Ring mit zu Boden gefegt. Er kam kreiselnd an der Kante zum Liegen, das Siegel in seine Richtung gedreht. Kanaima nahm ihn auf und betrachtete ihn nachdenklich. Ein Falke im Profil, der ein Krummschwert in seiner Klaue hielt, und ein verschnörkelter Schriftzug in Ohaoudisch waren in den makellos blauen Lapislazuli eingeschnitten. Der flache, ovale Stein ließ sich in der Ringschiene um seinen eigene Achse drehen und auch auf seiner Rückseite stand etwas, das frischer eingearbeitet schien, aber leider konnte er auch das nicht lesen. Kanaima drehte den Stein wieder zurück. Der Ring war klein, passte gerade mal auf seinen kleinen Finger.
‚Weil er natürlich einer Frau gehört’, dachte er. Die Prinzessin von Ohaoud musste ihn dem Hy gegeben haben. Das würde jedenfalls auch das delikate Verhältnis der beiden zueinander bestätigen, das Setim hatte beobachten können. Ein königliches Siegel wurde niemals leichtfertig weitergegeben. Er verstaute den Ring, noch nicht wissend, was er damit anfangen sollte, in dem Beutel, den er immer unter seinem Wams bei sich trug und saß dann mit auf der Tischplatte gefalteten Händen da.
Doch was Kanaima auch tat, er konnte sich nicht konzentrieren. Sein urplötzlicher Machtverlust gegenüber dem höheren Willen irgendeines wunderlichen Greises, der einsam, hoch oben in einen Berg hockte und sich Orakel schimpfte, ließ ihn innerlich in Rage geraten. So etwas passierte ausgerechnet ihm, dem abgeklärten Maestro aller Taktiken und Schlauheiten, dem kein anderer Gelehrter in Askhar auch nur annähernd das Wasser reichen konnte und der seit Anbeginn seiner Tage an nichts anderes geglaubt hat als an seine eigene Tatkraft! Vor keiner Gottheit hatte er sich je gebeugt! Und jetzt forderte ein Orakel, dass er ein paar schwülstigen Worten auf einem Stück Papier gehorchte? Das konnte alles nicht wahr sein.
Kanaima schlug mit den Handflächen auf das Holz. Zur Hölle mit allen Orakeln dieser Welt! Er musste raus, raus an die frische Luft.
Wie von etwas gestochen sprang er auf und eilte aus dem Raum.
Raen wurde jäh aus seinem wirren Träumen gerissen, als die Tür zu seinem Kerker aufflog. Licht drang ins Dunkel, und er wurde bei den Armen gepackt und heraus geschleift. Zwei massige Kerle in abgewetzter Lederkleidung stießen ihn rücklings an eine Wand, befestigten einen Haken an dem Knoten um seine Handgelenke und zogen mit einer Winde seine Arme in die Höhe, bis sie kurz davor waren, aus ihren Gelenken zu springen. Raen verbiss sich einen Aufschrei und keuchte lediglich. Der reißende Schmerz war kaum zu ertragen und bereitete im Übelkeit. Die zwei Kerle ignorierten seine Qual und machten sich daran, ihm die löchrigen Kleider vom Leib zu schneiden. Sie arbeiteten schnell und routiniert, und schon nach wenigen Augenblicken stand Raen nackt da.
„Wenigstens ist er schon geschoren“, brummte der eine Kerl, kniete sich nieder, löste die Fußfesseln und zog Raen auch die Stiefel aus. Danach legte er ein neues Seil in geschickten Windungen um seine Knöchel, so dass er gerade noch damit laufen konnte, und verknotete es. Kaum hatte der fleischige Bulle sich ächzend erhoben, rauschte Raen auch schon ein Schwall kalten Wassers ins Gesicht. Es folgten noch weitere Eimer, bis sie ihn für sauber befanden und ihn von der Winde ließen. Erleichtert, dass der Schmerz nachließ, sackte Raen auf die Knie und leckte sich durstig das rinnende Nass von den Lippen. Einer der Kerle zeigte sich gnädig und gab ihm aus einem Wassersack zu trinken.
„Bis du wahnsinnig. Er wird doch noch gewogen!“, stieß der andere den edlen Spender an.
„Ist ja gut“, brummte dieser und stellte den Wassersack beiseite. Wortlos hievten sie Raen anschließend auf die Beine und legten ihm auch noch eine Schlinge mit Gängel um den Hals. Als sie Schritte auf der Treppe hörten, verharrten sie in ihren Vorbereitungen und blickten beinahe ängstlich in die Richtung.
Der junge Prinz mit vier gerüsteten Begleitern erschien unter der niedrigen, steinernen Wölbung des Aufganges.
Die Kerkerbullen verneigten sich derart hündisch, dass Raen sich fragte, wer wohl die gefürchtetste aller Geißeln in diesem Verlies war. Wie aus einem Munde sprachen sie hastig ihren Gruß: „Prinz Setna, er ist soweit! Ihr könnt ihn mit Euch nehmen.“
Setna?
Raen horchte auf.
Wie konnte ein Askharer Setna heißen?
Aber statt sich der zahmen Haltung der Kerkerbullen anzuschließen, blickte er dem Prinzen trotzig entgegen, der mit einem abfälligen Zucken um seine Mundwinkel auf ihn zukam und ihn abschätzend von Kopf bis Fuß musterte. Was er erblickte, gefiel ihm augenscheinlich nicht, denn sein Lächeln erlosch abrupt, und für den Bruchteil eines Herzschlages trat an dessen Stelle ein anderer Ausdruck. Neid? Bitterkeit?
Raen war sich nicht sicher, denn schon überzog beherrschte Überlegenheit das Gesicht des Prinzen wieder mit einem undurchdringlichen Schmelz. Und sogleich bekam er zu fühlen, was es bedeutete, den gefährlichen Stimmungen des Welpen ausgeliefert zu sein, als dieser ihm ins Gemächt griff und ungerührt zudrückte.
Raen fühlte seine eigenen Züge zucken, hoffte aber, dass sie weiter nichts verrieten, während der Schmerz durch seinen Unterleib schoss.
„Das ist viel besser als dein Ohr, nicht? Ich glaube, ich habe gerade meine Meinung geändert. Du wirst mich nie wieder so ansehen, hast du mich verstanden, hyaunischer Assassino!“
Das schien seine bevorzugte Bezeichnung für ihn zu sein, dachte Raen, und der Schweiß brach ihm aus. Aber er würde einen Teufel tun!
Die Hand quetschte noch erbarmungsloser, bis er schließlich nicht mehr länger aufrecht stehen konnte und nach vorn gegen die Schulter des Prinzen sank. Ein ungewolltes Stöhnen drang aus seiner Kehle, und er schloss die Augen. Die stahlharte Faust um seine empfindlichsten Teile raubte ihm den Verstand, doch das Letzte, was er tun würde, war, sich dieser nichtswürdigen Kreatur zu unterwerfen!
Sein Atem ging stoßweise. Der mit Goldfäden durchwirkte Stoff des Wamses kratzte an seiner Wange, und unnatürlich laut hörte er auch den erregten Atem des Prinzen in sein Ohr dringen. Der nicht enden wollende Schmerz ließ plötzlich helle Blüten aus merkwürdigen Bildern in seinem Kopf zerplatzen: Der sterbende Setna Raeson streckte ihm eine Hand entgegen und sagte etwas, daneben saß der Weißling Sorgha und reichte ihm ein Messer.
Der Atem des Prinzen neben ihm begann zu dröhnen; ein mächtiger, sausender Blasebalg, der sich im gleichen, schnellen Rhythmus hob und senkte, wie die Brust der Truggestalt Raesons. Raens eigene Lippen formten, einem fremden Willen gehorchend, hyaunische Worte. Leise stieß er sie im Schlagtakt des Blasebalgs hervor.
„Bruder.“
Atem hinein.
„Bruder im Körper.“
Atem heraus. Atem hinein.
„Bruder im Geiste.“
Atem heraus.
„Dunkler Bruder, lichter Bruder, seid willkommen!“
Atem heraus.
„Du, Bruder, der du gezeugt aus den düsteren Elementen; und du, Bruder, der du in deinem Blute den hellen Schimmer der Erkenntnis trägst. Sehet einander ... Licht und Schatten; Glück und Unglück; der ewige Kampf der Welten ...“
Plötzlich lockerte sich der Griff zwischen seinen Beinen, und Raen spürte, wie er an dem Seil um seinen Hals nach hinten gezogen wurde. Er riss die Augen auf und taumelte benommen, blieb aber, den Rücken nach hinten gebogen, auf den Füßen.
„Mein Prinz! Ihr solltet Acht geben, ihm nicht zu nahe zu kommen. Er könnte gefährlich werden“, riet einer der beiden Kerkerbullen kleinlaut.
„Pah, dieser Schwächling hier?“, rief der Prinz verächtlich aus. „Was soll das? Wollt ihr mich auf den Arm nehmen? Ich warne euch, wenn ihr mich noch einmal von etwas abhaltet, dann werde ich an euch vollstrecken, was ihm zugedacht war.“ Und als hielte er erneut Besagtes in seiner Faust, schloss er sie demonstrativ vor der Nase des lederbeschürzten Riesen, der es gewagt hatte, ihn zurechtzuweisen. Untertänig duckte dieser sich vor dem schmalbrüstigen Jüngling. Ein beeindruckendes Schauspiel, das zeigte, wie widernatürlich es unter den Menschen zuging. Draußen im Wald hätte der Bär das Wiesel einfach zerquetscht und sich einen Dreck darum geschert. In dieser Welt aber funkelte das Wiesel den Bären noch eine Weile wütend an und machte sich dann daran, die Fesseln des Gefangenen zu überprüfen.
„Gut, wenigstens das könnt ihr!“, bemerkte er, als er einmal um den Hy herum gegangen war. Da erblickte er den Wassersack auf dem Boden. „Sagt, habt ihr ihm etwa zu trinken gegeben? Ihr Idioten! Er soll gleich gewogen werden.“ Es hallte von den Wänden wieder, so laut war der Prinz geworden.
Die beiden Kerkerbullen wagten kaum aufzublicken. „W-wir haben nur selbst etwas getrunken, das Wasser war nur für uns. Hier unten wird man durstig.“
‚Wer Unrecht gebiert, wird Lüge und Heuchelei an seiner Brust nähren!’, dachte Raen abfällig.
„Ach was, mir kommen gleich die Tränen! Los, bringt ihn hoch!“ Der Prinz hob die Hand, und erst jetzt rührten sich die vier Gerüsteten, die mit ihm ins Verlies gekommen waren. Sie traten aus den Schatten und umringten Raen. Der bekam einen Stoß in den Rücken und setzte sich schleppend in Bewegung, nahm eine Stufe nach der anderen -jeder Schritt eine Erinnerung an die vorangegangene Demütigung.
„Schneller, hyaunischer Assassino. Schneller!“, peitschte die Stimme des Prinzen hinter ihm die enge Wendelung der Treppe hinauf. Doch Raen verschloss seine Ohren, so wie er alles in sich dicht gegen das verriegelte, was jetzt kommen würde.
Der Thronsaal brodelte. Heute hatten sich weitaus mehr Menschen hier versammelt, um den gefangenen Hy-Krieger zu bestaunen. Nur eine schmale Gasse war frei, und an deren Ende saß der König auf seinem Thron und schaute gelassen auf alles hinab. Zu seinen Füßen war eine große Fasswaage aufgebaut worden, neben der die drei gefeierten Jäger standen. Sichtlich genossen sie die neiderfüllten Blicke, welche immer wieder zwischen ihnen und der schwer bewachten, eisenbewehrten Truhe hin und her huschten, in welcher das königliche Gold darauf wartete, herausgeschöpft und gegen den Körper des Gefangenen aufgewogen zu werden.
Setim von Gortar leckte sich erwartungsvoll über die Lippen. In wenigen Augenblicken wäre er ein sehr reicher Mann und frei, zu gehen, wohin er wollte. Aber er hatte längst beschlossen, seine Loyalität und auch sein neu gewonnenes Vermögen ganz in die Dienste Prinz Kanaimas zu stellen, der ihm sein Vertrauen geschenkt hatte. Er straffte seine Haltung und sah mit stolz geschwellter Brust zu, wie der Gefangene nackt bis auf seinen goldenen Stirnreif - welcher es schließlich war, der ihn so unermesslich wertvoll machte - mit kleinen, schleppenden Schritten auf ihn zugewankt kam. Vorweg stapfte arrogant und weit ausgreifend Prinz Setna.
Vor der Waage hielten sie; der Gefangene, seinen geschorenen Kopf gesenkt und die Lider halb geschlossenen; Setna mit zartrotem Anhauch auf seinen Wangen und schmalgepressten Lippen.
„Der Mörder Kasais, ehrwürdiger König!“, rief er aus, verneigte sich und eilte zu seinem Vater empor, um dort neben ihm und seiner bezaubernd herausgeputzten Gemahlin Platz zu nehmen. Prinzessin Isabyllas Züge verrieten Befremden und Abscheu über die Behandlung dieses armen Menschen, der jeglicher Würde beraubt dem gaffenden Publikum vorgeführt wurde wie ein geprügelter Hund. Doch mit ihrer noblen Gesinnung war sie natürlich die Einzige in dieser Halle.
Der König hob eine Hand, und die Leibgardisten drängten den Gefangenen, sich auf die eine Tafel der Fasswaage zu setzen. Sie nahmen ihm den Strick vom Hals und traten zurück. Wieder ein Handzeichen, und rasch wurden die unzähligen Schlösser der großen Truhe entfernt. Dann öffnete sich der Deckel, und der goldene Schimmer verschlug nicht nur den drei erwartungsfrohen Aspiranten den Atem.
Der oberste Schatzmeister griff nach einem großen, kupfernen Schöpfmaß, stieß es in die glänzende Flut von Münzen wie ein Müller ins Korn und machte sich daran, nach und nach, Maß für Maß die andere Waagtafel zu füllen.
Langsam begann der Gefangene sich zu heben, näherte sich der Balken allmählich dem Gleichgewicht. Aufgeregtes Raunen erfüllte die Halle, hier und da wurde gewettet und geschätzt, indes legte der Schatzmeister mit spitzen Fingern die letzten Münzen auf den Haufen, und sein Gehilfe beobachtete mit angehaltenem Atem wie schließlich der Balken senkrecht im Equilibrium verharrte. Seine Rechte schoss in die Höhe, und Schweigen trat ein.
Der König nickte mit großzügiger Miene, und der Schatzmeister verneigte sich. Der Gefangene wurde von der Waage geholt und vor den Thron geführt, während unter den prüfenden Blicken der drei honorierten Soldaten die Münzen vom Schatzmeister und seinen Gehilfen gezählt, aufgeteilt und in feste, lederne Säcke gefüllt wurden.
Der König wartete, bis die Teilung beendet war, und der Schatzmeister die Zahl ausrief: „Zweitausend-vierhundert-und-sechsundvierzig geschlagene Goldmünzen aus der königlichen Münzwerkstatt, gewogen gegen diesen Sklaven. Ein wahrhaft königlicher Preis! Wird Seine Majestät ihn bezahlen?“
Die Frage war rein rhetorisch, und natürlich hob Katthike die Hand, in die einer der Leibgardisten schließlich den Strick legte, der zum Hals des Sklaven führte.
Hernach war kein Halten mehr! Laut wurde geklatscht und die drei Jäger wohlwollend als Helden gepriesen. Der Schatzmeister händigte ihnen die schweren Säcke aus, und lachend zogen die reich Beschenkten damit ab.
Danach wurde es wieder still in der Halle, und alle Augen richteten sich auf den König und sein neu erworbenes, teures Gut. Der Kauf war geschehen. Was würde Katthike jetzt mit dem Sklaven machen?
Mit angewiderter Miene ließ der König den Stick fallen, als klebte auch an ihm hyaunischer Schmutz. Sofort klaubte ihn einer der Gardisten auf.
„Sklave“, schmetterte der Soldat, „will Er heute seine Taten gestehen und seinem König huldigen?“
Doch der Hy reagierte nicht. Er wirkte entrückt, schwankte leicht auf seinen Füßen.
„Habt ihr ihm etwa von dem Zeug gegeben?“, zischte König Katthike. „Ich hatte es doch ausdrücklich untersagt!“
„Nein, Majestät, er hat kein Besh bekommen.“
„Dann weck ihn gefälligst! Er soll es hören.“
Raen bemerkte erst, dass ihn jemand schlug, als er sein Blut schmeckte. Es erinnerte ihn daran, noch am Leben zu sein, und unweigerlich stürzten die Mauern, die er im Geiste um sich errichtet hatte, ein. Blinzelnd sah er auf, und der Leibgardist hielt mit den Schlägen inne.
„Kann Er jetzt hören, was sein König spricht?“, fragte der kleine König und beugte sich vor, eine Hand auf die Lehne gestützt.
Anstatt zu antworten, sah Raen sich um. Neben dem König saß der Welpe, und neben diesem eine sehr hübsche, junge Frau. Raen blieb an ihrem Gesicht hängen. Etwas an ihr war nicht so wie bei all den anderen. Ihre Augen waren von einem viel erhabeneren Glanz und ihre Züge von weit edlerer Güte. Ihr bebender Blick traf den seinen.
Jemand riss an dem Seil um seinen Hals.
„Ob Er mich hören kann!“, rief der König ungehalten.
Raen reckte das Kinn vor und antwortete: „Ja, ich Ihn gut höre!“ Er sah, wie der König zornig mit den Kiefern mahlte.
„So, und da Er offenkundig auch hervorragend zu sprechen weiß, kann Er jetzt und hier vor allen Anwesenden Seine Schuld gestehen!“
„Was für Schuld Ihr meinen? Die, als Euer Feind geboren zu sein?“ Raen schielte zu der jungen Frau, ihr Gesicht glühte.
„Unverschämter, mäßige Er seine Zunge! Gemeint ist Seine abscheuliche Tat des Frevels am askharischen Volke, als Er einen der hervorragendsten Männer, die je auf dieser gesegneten Erde wandelten, hinterrücks gemeuchelt hat!“
In Raen begann erneut Zorn zu brodeln. Und er ließ seine Zähne aufblitzen, als er entgegnete: „Und wie Ihr das nennen, was Ihr meinem Volk antun! Es Krieg gewesen, ich getan, was ein Soldat tun: Den Feind töten!“
Das war offensichtlich zu viel der Beleidigungen. Der König schnippte mit dem Finger, und ein Tritt in die Kniekehle brachte Raen auf die Knie. Der Prinz war aufgesprungen und zückte sein neues, hyaunisches Schwert, das er jetzt nach askharischer Manier gegürtet an seiner Seite trug.
„Vater?“, flüsterte er, nur für die Umstehenden hörbar, und wartete - mit ihm die sensationslüsterne Menge im Hintergrund. Würde der König seinem teuren Schmuckstück etwa schon jetzt den Garaus machen und damit zweitausend-vierhundert-und-sechsundvierzig Goldmünzen zum Teufel jagen? Oder würde er die Ruhe bewahren und den Sklaven lediglich etwas zurecht stauchen, damit er in hernach meistbietend versteigern konnte? Einige steinreiche Edelleute leckten sich schon ihre speckigen Finger danach.
„Tut es nicht, Majestät, ich kaufe ihn!“, rief prompt jemand aus der Menge durch die Halle, und aufgeregtes Getuschel brach los.
Es war nur ein winziges Rucken des königlichen Kinns, ein kaum wahrzunehmendes Runzeln zwischen den Brauen, und der Prinz steckte das Schwert wieder weg, sichtlich enttäuscht.
Raen grinste über diese augenscheinliche Schwäche, das Geld nicht außer Acht lassen zu können. Übermut kitzelte ihn, genau wie damals an der Grenze. Er öffnete den Mund. „Gut zuhören. Es eine Regel im Krieg geben: Niemals sich allzu sicher fühlen! Das Euren Generälen erzählen, König! Denn es ihre Schuld sein, wenn so leichtfertig in Feld des Feindes treten!“, sagte er spöttisch und wagte ein kleines Zwinkern in Richtung der Frau, in der er meinte, eine heimliche Verbündete entdeckt zu haben.
Der Schmerz in seinem Kopf explodierte jäh, und benommen sank er vornüber. Erst mit dem nächsten Schlag verlor er vollständig das Bewusstsein, und so merkte er nichts davon, wie er an Armen und Beinen aus dem Thronsaal geschleift wurde wie ein Stück Schlachtvieh.
Ein hyaunischer Sklave, der Askhari sprach, war eine sehr gefährliche Angelegenheit, dennoch zog es ihn unwiderstehlich in das Verlies. Und schließlich hatte er nach einigen Mühen die Erlaubnis vom König bekommen, den Hy sehen zu dürfen. Ganz im Gegensatz zu Setna, der von Katthike zurückgepfiffen und auf später vertröstet worden war. Lata erinnerte sich an den Tag nach der Wägung des Hy, da hatte es einen wüsten Streit zwischen Setna und dem König gegeben. Der Prinz hatte in der Hitze seines Eifers den Gefangenen für sich gefordert und seinen Vater darauf aufmerksam gemacht, dass er wenigstens seine Drohung an ihm wahr machen müsste, damit sein Wort glaubwürdig blieb. Doch Katthike hatte erklärt, dass eine Entmannung oder anders geartete Verstümmelungen vorerst nicht in Frage kamen. Ausdauernd hatte Setna weitergezetert und war wie ein Regenbeschwörer vor seinem Vater herumgesprungen, bis es Katthike schließlich zu bunt geworden war und er den Prinzen hochkant aus dem Raum geworfen hatte. Seinen angestauten Zorn hatte Setna dann an seiner Gemahlin ausgelassen, wie Lata hinterher zu Ohren gekommen war, denn die Prinzessin soll mehrere Tage nicht aus dem Bett gekommen sein. Von einer ihrer Zofen, die Lata sich zu Willen gemacht hatte, hatte er erfahren, welch schrecklich triebhafte Gewalt das arme Geschöpf zu erdulden hatte, und er begann sich zu wundern, warum sie nicht längst guter Hoffnung war. Aber ihr Leib wollte nicht schwellen, und langsam befürchtete sogar selbst der König, dass Isabylla anstelle ihres fruchtbaren Deltas ein trockenes Flussbett besaß, was die Bedeutung des gefangen genommenen Hy nur umso mehr steigerte. Denn der König hatte seine alten Pläne wieder hervor geholt. Für ihn war der Gefangene ein weiteres göttliches Zeichen, ein Geschenk - wie damals.
Sein feines Gewand gelüpft, stieg Lata in Begleitung von zwei Leibgardisten die Treppe hinunter. Er zeigte den zwei Wächtern vor der Zelle die gesiegelte Verfügung, und kurz darauf öffnete sich die schwere Tür.
Bei dem Schwall verfaulter Luft, der ihm entgegenkam, rümpfte Lata angeekelt die Nase und er ließ den fackelbewehrten Gardisten den Vortritt. Mit einem duftölbeträufelten Tüchlein vor der Nase folgte er ihnen. Die Fackeln erhellten den recht großen, gewölbten Raum, in dem vor sehr langer Zeit der andere Hy-Krieger gefangen gehalten worden und auch gestorben war. Lata trat zu dem Gefangenen, der reglos auf der Seite lag und am ganzen Körper besudelt mit eigenem Unrat war. Der Gestank war bestialisch. Aber Lata rang sein Würgen in seinen Hals zurück und befahl den Gardisten, den Hy aufzuheben und ihn an den Haken zu hängen, der eigens dafür in der rückwärtigen Wand eingelassen war. Wie ein schlaffer Sack hing er mit den Händen über dem Kopf an dem Seil. Schmutz und getrocknetes Blut bedeckten sein Gesicht. Sein Brustkorb hob und senkte sich schwach.
Wenn der König sich nicht bald um ihn kümmerte, würde es nicht mehr lange dauern, und der Kerl ging hier unten drauf. Aber darum wollte er sich jetzt nicht scheren. Lata ließ sich einen Dolch aushändigen und schickte die Leibwächter hinaus. Die Tür schloss sich mit einem dumpfen Laut, und er war allein mit dem Gefangenen.
Raen kam nur langsam zu sich. Etwas peitschte über seine Brust. Er hob seinen schwirrenden Kopf, und seltsame Lichter tanzten vor seinen Augen. Er sah einen wie auf Hochsee schwankenden Raum und darin eine Gestalt.
„Warum tötet ihr mich nicht endlich!“, flüsterte er schwach. Seine Zunge war zäh wie eine in der Sonne vertrocknete Schnecke. Er hatte fürchterlichen Durst.
Die Gestalt trat näher heran und nahm etwas aus ihrem Gesicht. Raens Augen weiteten sich überrascht. Hyaunische Züge unter all den bärtigen Askharern?
Mühsam betrachte er das Antlitz. Eine fein geschnittene Nase ohne askharische Krümmung, hohe Wangenknochen, ein glattes Kinn und lange dunkle, mit silbernen Strähnen durchsetzte Haare unter der schwarzen Kopfbedeckung. Der Mann war alt, trug viele Falten um Mund und Nase, und auch die Stirn war zerfurcht von zwei waagerecht verlaufenden Linien, aber seine Augen schienen jung und energisch geblieben.
„Du bist einer von uns!“, keuchte Raen auf Hyaunisch, immer noch ungläubig.
Zuerst zeigte sich keinerlei Regung in dem edlen, hageren Gesicht. Doch dann trat ein Lächeln darauf.
„Eine Krähe erkennt die andere; der große Rabe jedoch fliegt stets allein!“, sagte der Ältere vielbedeutend mit einer Mischung aus unverhohlener Freude und Geringschätzung in seiner einstigen Muttersprache. Sein Akzent war seltsam, aber es waren dennoch unverkennbar hyaunische Worte.
Plötzlich war es, als entzünde man trockenes Gras, das sofort Feuer fängt und in der immer höher emporsteigenden Lohe vergeht. Und ohne, dass Raen wusste, wie ihm geschah, spuckte und schrie er den Verräter an, beschimpfte und verfluchte ihn, und riss wie ein Tollwütiger gewaltsam an seinen Fesseln.
Der andere trat von dem vergeblich Tobenden zurück, wischte sich mit dem Tuch über das Gesicht und sah ihn ungerührt an.
Als Raen nicht aufhörte, zog er ihm das Ende eines Stricks durch das Gesicht. Der plötzliche Schmerz brachte den Gefangenen wieder zu sich, und schließlich hing er ruhig an seinem Seil und starrte den Kerl an.
„Was willst du?“, knurrte er.
„Ich will dir eine Geschichte erzählen!“
„Ich kann es kaum erwarten.“ Raen leckte sich das Blut von der erneut aufgeplatzten Lippe.
Der ältere Hy lächelte kalt und hob an.
Schon nach wenigen Sätzen begann sich etwas in Raens zäher Erinnerung zu regen, er kannte diese Geschichte. Loenka hatte sie ihm vor langer Zeit anvertraut. Sie handelte von einem Mann, der eine Frau zur Unzucht genötigt und dann als Strafe die Verbannung aus Hy gewählt hatte. Bei seinem Abschied hatte er geschworen, sein Volk zu vernichten. Und als der Mann, der sich Lata nannte, dann auch noch offenbarte, dass es Askhar nur aufgrund seiner Mithilfe gelungen war, im Großen Krieg die südlichen Provinzen zu erobern, wäre Raen ihm am liebsten mit bloßen Zähnen an die Gurgel gegangen und hätte ihm die Halsschlagader zerfetzt.
„Es waren Banskeid wie du, die mich an die Grenze gebracht haben, darunter auch mein eigener Bruder. Sie haben mich vor das Tor geschleift und es wortlos hinter mir zugeschlagen, ohne mir etwas mit auf den Weg zu geben. Ich hatte nur meine Kleider am Leib. Kein Proviant, kein Pferd. Aber sie haben mich unterschätzt, diese einfältigen Idioten!“
„Du wurmzerfressener Auswurf der Hölle hast die Hand gegen dein eigenes Volk erhoben! Die einzig gerechte Strafe für dich wäre der Tod gewesen! Die Pest über dich, du Henkersknecht Askhars! Bastardo!“
„Hmm, schöne Worte hast du da gelernt in Borgossa, wirklich! Aber an deiner Stelle würde ich sie nicht so laut daher schreien, denn du bist gar nicht so weit von mir entfernt, wie du vielleicht denkst! Habe ich nicht Recht? Du wurdest doch auch von deinen Leuten weggeschickt. Dich wollten sie auch nicht mehr haben! Zwar aus einem anderen Grunde, aber das Resultat ist doch dasselbe!“ Der Ältere ließ seinen Blick prüfend über den Gefangenen gleiten.
Raen biss die Zähne zusammen. Der Kerl hatte in der Tat einen wunden Punkt getroffen.
„Das hörst du nicht gerne, was? Tja, darauf kann ich leider keine Rücksicht nehmen!“
„Sag endlich, was du willst und dann lass mich in Ruhe, dreckiger Überläufer!“
„Nicht so eilig, Ruhe bekommst du noch mehr, als dir lieb sein wird! Ich bin hier, weil du wissen sollst, welch verkommene Kreatur der Schoß deiner ach so sanftmütigen ‚Gemeinschaft der Gerechten’ hervorgebracht hat! Damit deine verdammte hyaunische Seele daran leidet bis zu deinem Tod. Und dann wirst du es mit dir zu den Ahnen nehmen. So wird mein Geist wieder einen Namen bekommen, und es wird mir eine Freude sein, nach meinem Ableben im friedlichsten aller himmlischen Refugien Unfrieden zu stiften, bis ich meinen Rachedurst gestillt habe!“
„Unserem Glauben hast du also noch nicht abgeschworen!“
„Was ich glaube und was nicht, ist meine Angelegenheit! Ich habe den Keim in dich gepflanzt, und du wirst ihn mehren und erneut aussähen, ob du es willst oder nicht. Du wirst das Gift zu ihnen bringen! Und daran kann nicht einmal Hyaun etwas ändern!“ Der widerwärtige Kerl lächelte böse.
Raens Gesicht verzerrte sich vor Hass. „Bevor ich sterbe, werde ich dich töten! Wir beide werden zusammen in den Tod gehen, das schwöre ich dir!“
Sein Gegenüber schien nicht im Geringsten beeindruckt, das Grinsen blieb unverändert.
„Dafür musst du erst einmal hier heraus kommen! Und da sehe ich leider keinerlei Hoffnung.“
„Das geschieht vielleicht schneller, als du glauben magst, warte es nur ab!“
Schallendes Gelächter war die Antwort auf diese kaum ernst zu nehmende Drohung. „Womit willst du mich denn umbringen, so nackt wie du bist?“
„Wenn es sein muss mit meinen bloßen Händen!“, fauchte Raen. „Ich werde dich kriegen, verlass dich drauf!“
Wieder legte der Mann namens Lata den Kopf zurück und lachte: „Vor dir habe ich keine Angst, lächerlicher Banskeid! Früher einmal, ja früher, da habe ich einst in Ehrfurcht zu euch schwarzen Beschützern des Friedens aufgeschaut, doch jetzt weiß ich, welch bedauerliche Söldner ihr seid! Jagdhunde des Klerus. Hörig bis ins Verderben hetzt ihr im Namen der Priesterschaft allem nach, was Feind genannt wird. Und das für die lumpige Lüge, Seine Auserwählten zu sein. Es ist wirklich zu traurig, wie einfältig ein ganzes Volk sein kann! Aber ich bin fertig mit euch, fertig mit dem ganzen verlogenen Geschmeiß Hyauns und dem scheinheiligen Priesterpack!“
Raen schrie. Er wollte das nicht hören. Es bestätigte nur das, was Manoen ihm über die Priester gesagt hatte, und er wollte nicht, dass dieser schmähliche Verräter hier vor ihm Recht hatte. Er brüllte so laut er konnte: „NEIN! Du bist das Geschmeiß! Abschaum! Überläufer! Feiger Mörder!“ Raen ruckte wieder wie irr an den Fesseln.
Der ungebetene Besucher schüttelte mitleidig mit dem Kopf. „Ja, gib mir nur all diese Namen, wenn es dir gefällt, armer, desillusionierter Banskeid, aber meinen richtigen Namen wirst du nicht mehr vergessen! Hahaha! Lata, Vernichter des Friedens. Klingt schön, nicht? Lataaa, wird über euch kommen!“ Der Kerl lachte beinahe Tränen, während Raen an seinem Seil zappelte wie eine wütend fauchende Katze.
„Du bist tot! Tot!TOT!“
Lata winkte ab. „Irgendwann treten wir alle ins Jenseits. Du aber mit Sicherheit vor mir! Spar dir also deine Kräfte für dein Finale. Es wird äußerst unangenehm werden. Prinz Setna - hübscher Name übrigens - ist kein besonders erfreulicher Zeitgenosse. Ade, mein lieber Genosse, wir sehen uns bei den Ahnen!“ Mit diesen Worten begab sich der Ältere an die Tür und pochte laut dagegen. Sofort öffnete sie sich.
„Hängt ihn ab. Aber seid vorsichtig, die Wildkatze schlägt mit ihren Krallen um sich. Und gebt gut darauf Acht, dass er sich nichts tut, denn der König hat noch einiges mit ihm vor“, hörte Raen, wie der Verräter den zwei Wächtern befahl, und sah dann, wie er sich mit albern vornehmer Art rar machte.
Raens anschließende Raserei hörte erst auf, als seine Kehle heiser und sein ausgedörrter Körper vollkommen ermattet waren. Zitternd vor Schüttelfrost lag er auf dem verschimmelten Stroh und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Das Einzige, was sein glühendes Hirn immer und immer wiederholte, war, dass er diesen dreckigen Landesverräter töten wollte, der das Leben von Hunderten, nein, Tausenden unschuldigen Männern, Frauen und Kindern seines eigenen Blutes auf dem Gewissen hatte! Egal, was es ihn kosten mochte. Und wenn er dafür den Boden ablecken müsste, welchen die verhassten Sohlen des Prinzen und des Königs berührt hatten! Das Heil seiner Würde tauschte er nur allzu gerne gegen die Möglichkeit ein, diesen Schandfleck von Verräter aus der Welt zu tilgen.
Raen rollte sich zusammen und versenkte seinen Geist tief in seinem Innern. Sparsam köchelte die Flamme seiner Wut zwischen den verrußten Herdsteinen seines geschundenen Körpers und wartete geduldig auf Nahrung, um zu neuer Stärke zu wachsen. Eine stille Kraft, die ihn die nächsten Tage hindurch trug, obwohl seine Kerkermeister sehr gewissenhaft darauf bedacht waren, seinen renitenten Lebensmut zu brechen. Er sollte gefügig gemacht werden für des Königs nächsten Zug. Sie ließen ihn nackt und verschmutzt, gaben ihm nur wenig Wasser und so gut wie nichts zu essen. Aber Raen hatte aufgehört, sich zu bedauern. Er hatte seine Bestimmung gefunden. Und er würde darauf harren, sie zu erfüllen.
Es war ein Besucher, den er noch nicht kannte. Er kam allein und hatte sich eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Still wurde er von ihm betrachtet.
Abwartend blickte Raen, die Augen schmerzend vom Licht, zu ihm auf. Er hatte begonnen Willfährigkeit zu heucheln, blieb stets ruhig und bettelte allenfalls höflich um Essen. Selbst wenn sie ihn aus dem Loch herausholten, um ihn ein wenig zu quälen, ließ er alles teilnahmslos mit sich geschehen, ertrug die Schmerzen und verdrängte die Angst. Er hoffte, es würde funktionieren.
Der fremde Besucher streckte eine Hand aus dem Umhang und warf ihm etwas hin. Raen roch es sofort. Es war Hühnerfleisch. Obwohl ihm sofort das Wasser im Mund zusammenlief, beherrschte er sich. Der Besucher sollte nicht denken, er wäre verzweifelt. Erst nach einer Weile tastete er mit den gebundenen Händen vorsichtig nach dem Leckerbissen und aß ihn schließlich manierlich Bissen für Bissen, den köstlichen Geschmack auf der Zunge zergehen lassend.
„Gut so“, sagte der Besucher. Und nachdem Raen aufgegessen hatte: „Tu mir einen Gefallen, und bleib am Leben!“ Damit drehte er sich um und verschwand.
Verwundert sah Raen zu, wie die Tür sich hinter dem Kerl schloss.
Was war das nun wieder gewesen?
In seinem Magen rumorte die ungewohnte Kost. Er musste aufstoßen, und der Geschmack des Hühnchens trat ihm noch einmal in den Mund. Selig schloss er die Augen und dankte dem unbekannten Wohltäter.
Kaum eine Stunde später bekam er die Antwort auf seine Frage. Er hatte gerade von einem verlockend duftenden Berg gebratener Hühnchen geträumt, als er benommen noch zwischen Traum und Wirklichkeit aus der Zelle geschleift und wie üblich angebunden wurde. Die zwei vertrauten Kerkerbullen wuschen ihn und zogen ihm sogar eine Hose an. Durch das kalte Wasser hellwach geworden, beobachtete Raen unauffällig jeden ihrer Handgriffe. Wo würde es diesmal hingehen?
Als sie fertig waren, trottete er mit dem Strick um seinen Hals ergeben hinter ihnen her, die steile Treppe hoch und auf den Hof hinaus, wo grelles Sonnenlicht ihn in die Augen traf wie ein Blendeisen. Nahezu blind tappte er weiter in die Richtung, in die er gezogen wurde. Nach einer Weile hatte er sich an das Licht gewöhnt und stellte fest, dass er durch das Innere Tor des Palastes hinaus in den Zwinger geführt wurde. Die Torwächter glotzten feindselig. Einer rotzte ihm sogar auf den Rücken.
„He, lass das!“, schimpfte einer der Soldaten, die ihn führten.
„Ach was, ein wenig Spucke wird seiner kostbaren Haut schon nicht schaden!“, belferte die Wache unverschämt zurück und verzog mürrisch das Gesicht. „Dreckshy! Werden besser behandelt als unsereins!“
Welch ein Irrtum, dachte Raen.
Sie ließen das Tor hinter sich und hielten linkerhand auf einen großen Exerzierplatz zu, wo mehrere Reihen rotgerüsteter Soldaten in ordentlicher Formation aufgestellt waren. Raen suchte die Gesichter ab. Kein Verräter Lata.
Mitten auf dem Platz hielten sie schließlich, und er wurde auf die Knie gedrückt. Erwartungsvoll blickte er auf die Soldaten, dessen Reihen sich plötzlich teilten und einen Reiter durchließen: König Katthike.
Hinter ihm schritten der Prinz, die graue Leibgarde und ein älterer, gedrungener Mann mit katzenartigem Gang und kaum zu übersehender, schiefer Nase. Aber immer noch kein Lata.
Der König zügelte sein unruhiges Pferd vor dem Hy und sah ihn abschätzend an. Raen senkte seinen Blick, nur seine Schultermuskeln zuckten. Sie hatten ihn geschwächt und ausgehungert, doch er besaß immer noch ausreichend Kraft, und wenn er die Möglichkeit bekäme, dann würde er auch den König töten!
„Er ist noch ganz gut beisammen, finde ich. Beinahe zu gut. Was sagt Ihr, Meister Rebian?“, hörte Raen ihn sagen und hob seinen Blick ein wenig.
Der Mann mit der schiefen Nase trat vor und musterte den Gefangenen mit seinen undurchdringlichen, grauen Augen, zwei Schilden gleich.
„Hm, wir werden sehen, Majestät. Seine körperliche Konstitution scheint in der Tat noch recht gut“, sagte die Schiefnase.
„Also, werdet Ihr es wagen?“, wollte der König von seinem Ross aus wissen.
„Ja, auf eine solche Herausforderung warte ich schließlich schon mein ganzes Leben!“
Der König nickte und gab ein Zeichen. Sofort glitten die Reihen der Soldaten vor und bildeten mit klingender Panzerung rings um die Gruppe in der Mitte ein weites Viereck. Dann lenkte Katthike sein Pferd in sichere Entfernung, und auch der junge Prinz trat in den Schutz der Soldaten.
Raen wurden die Fesseln gelöst, und gespannt beobachtete er den Mann mit der schiefen Nase dabei, wie er vor ihm ein Holzschwert in den Sand warf.
‚Ein Schaukampf’, dachte er. ‚Aber nicht mit mir!’
Mit hängenden Armen kniete er im Sand, nicht gewillt nach der Waffe zu greifen, um das Duell anzunehmen.
„Was ist?“, fragte der Schwertmeister. „Willst du nicht kämpfen? Hörst du nicht?“
Und ob, dachte Raen und hob langsam seinen Blick, in den er bewusst Müdigkeit und vorzeitige Kapitulation legte.
„Nimm das Schwert und verteidige dich!“, schrie Schiefnase ihm ins Gesicht. Seine Enttäuschung war spürbar.
Aber Raen schüttelte nur lahm den Kopf.
„Und du willst ein gefürchteter Krieger sein? Pah, ein Nichts bist du! Jämmerlicher Feigling!“
Auf keine dieser Provokationen ging Raen ein. Es war eine Probe seines Kampfeswillens.
„Ihr müsst ihn angreifen, sonst tut er nichts!“, rief jemand von außerhalb des Schutzringes.
Das Gesicht des Schwertmeisters blieb ohne Mimik, und ungerührt verfolgte Raen, wie dieser sein Holzschwert hob. Er zuckte nicht einmal mit den Brauen, als der Schlag ihn am ungeschützten Schädel traf und ihn ohnmächtig werden ließ.
Wie der seltsame Besucher von ihm gefordert hatte, war er am Leben geblieben, und er hatte seine Unterwürfigkeit bewiesen. Raen öffnete mit mörderisch schmerzendem Kopf die Augen. Das auf ihn zusausende Holzschwert war seine letzte Erinnerung. Doch erfreut stellte er nun fest, dass sich etwas an seiner Umgebung geändert hatte. Ihn umgab nicht mehr die modrige Dunkelheit des Verlieses, sondern frische Luft und heller Sonnenschein, der durch mehrere kleine Fenster zu seiner Rechten fiel und Muster auf den Boden warf. Auch fühlte er ein weiches Lager unter sich und saubere Kleidung auf seiner Haut. Und jemand hatte ihm seine Wunden gesalbt.
Sollte seine Taktik gewirkt haben?
Der Wohlgeruch von abgebranntem Räucherwerk zog an seiner Nase vorbei. Raen hob seine Hände. Sie waren natürlich noch immer gefesselt und auch seine Füße. Er rollte sich herum, stützte sich auf die Ellenbogen und blickte sich in dem Raum um, der recht weitläufig und durch mehrere Säulen gestützt war. Bunte Vorhänge hingen in den Bögen von der Decke und aufwendig gemalte Fresken zierten die Wände. Raen runzelte die Stirn und sah etwas genauer hin. Es waren getreuliche Darstellungen von Menschen, welche mit beinahe unnatürlich verschränkten und verknoteten Gliedmaßen in den verschiedenartigsten Stellungen kopulierten. Riesenhafte erigierte Penisse drangen in erwartungsvoll geschwollene Vulven ein; Gesichter verzückt in ewiger Ekstase.
Raen staunte gerötet, so etwas hatte er selbst in Borgossa noch nicht gesehen. Plötzlich streifte sein Blick etwas, das nicht in den wollüstigen Reigen zu passen schien. Eine lebende Person saß ruhig und aufrecht zwischen den gemalten Menschen. Als sie merkte, dass sie entdeckt worden war, streckte sie ihre gekreuzten Beine, erhob sich graziös und näherte sich ihm. Das überraschend junge Mädchen trug ein wehendes Gewand aus leichter, malvenfarbener Seide, aus dem nur ihre gebräunten Waden ragten. Sie ging barfuß, und an feinen Silberketten um ihre Knöchel klingelten kleine Glöckchen. Glänzende Perlen schmückten ihr zu einem kunstvollen Zopf geflochtenes, dunkles Haar. Ihr Gesicht war schmal, mit schräg stehenden Augen und ihre Lippen rot gefärbt, wie bei den Damen Borgossas. Ein zaghaftes Lächeln zeigte sich darauf, als sie sich in seiner Nähe niederließ, so dass ihm ihr Duft in die Nase stieg.
„Aufgewacht?“, fragte sie in einwandfreiem Hyaunisch, und Raen hob überrascht die Brauen. Ihr Lächeln wurde sanfter. „Meine Eltern sind Hy-Sklaven, auch Wildfänge wie du, sie stammen noch aus dem Großen Krieg. Ich dagegen bin hier in Askhar geboren. Ich bin nur eine Nachzucht, ein Domestik.“
„Wildfänge? Nachzucht? Domestik?“, fragte Raen. Seine Stimme klang fürchterlich, und er räusperte sich. Nicht, dass er noch nie von diesen Dingen gehört hätte, aber die Gegenwart des Mädchens machte ihn befangen.
„Sie sind damals verschleppt worden, wie Hunderte andere Hy und dienen seitdem hier bei Hofe oder anderswo“, antwortete sie leichthin.
„Und als was dienen sie?“, gestattete Raen sich etwas Neugier.
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Als dies und das. Was gerade so anfällt. Meistens kümmern sie sich um die Pferde oder den Palastgarten, weil sie so geschickte und geduldige Hände haben.“
„Und du?“
Das Mädchen senkte den Kopf. Es schien unschlüssig. Dann sah es ihn wieder an. „Du darfst nicht schlecht von uns denken, der Weg Hyauns ist nicht mehr unser Weg, wir sind nun einmal hier in Askhar und es ist unsere Heimat. Auch wir müssen uns unserem Schicksal fügen.“ Bei dem Wort Heimat zogen sich Raens Eingeweide zusammen. Wie konnte man diesen abscheulichen Ort nur Chorta nennen? Das Mädchen sprach weiter. „Ich werde bald verkauft.“
„An wen?“
„Das weiß ich nicht. Letztes Jahr hat es meine Schwester getroffen. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört, nur dass sie nach Neu-Askhar gebracht worden ist.“
„Neu-Askhar“, raunte Raen gallig. „Wie alt bist du?“
„Dreizehn.“
„Und wie heißt du?“
„Mate.“
„Tochter? Weiter nichts?“
„Wir dürfen keine Namen haben. Erst unser Herr gibt uns einen.“
„Und warum bist du hier bei mir?“
„Ich soll auf dich aufpassen.“
Raen lachte ungläubig. „Du?“
„Nun ja, weglaufen kannst du schließlich nicht.“ Sie deutete auf die grob geschmiedete Kette, die von Raens Fußschellen zu der Säule neben ihm führte und dort an einem Ring befestigt war. Sie bot ihm vielleicht gerade mal vier Schritt Auslauf.
„Ich soll darauf achten, dass es dir an nichts mangelt. Und sie haben mich gewählt, weil sie glauben, dass du mir nichts tun wirst.“
Raen lächelte. Da hatten diese verdammten Ratten wohl Recht.
„Und was soll ich hier? Ich meine, gestern, oder wann auch immer das war, wollte mich dieser schiefnasige Schwertmeister noch umbringen, und heute liege ich hier auf samtene Kissen gebettet.“
Wieder huschte der Blick des Mädchens unsicher durch den Raum. Ihre Finger spielten mit dem Saum ihres Schleiers, den sie um die Schultern trug. Raen ließ sie nicht aus den Augen, er wollte eine Antwort. Entweder, der König war im Geiste umnachtet, oder es gab einen ganz bestimmten Grund, warum er sich plötzlich hier inmitten dieser lockenden Annehmlichkeiten befand. Er glaubte fest an Letzteres.
„Hast du nur Angst, es mir zu sagen, oder weißt du es nicht?“, grub er sanft nach, in der Hoffnung, doch noch auf Wasser zu stoßen.
„Ich weiß es wirklich nicht“, gab Mate schüchtern zurück.
Enttäuscht verzog Raen die Mundwinkel. Nun, ein Versuch war es wert gewesen. Er blickte zu den gemusterten Sonnenflecken auf dem Fußboden.
Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen, da jeder seinen eigenen Gedanken nachhing.
„Darf ich etwas von dir wissen?“, fragte die Sklavin Raen mit einem Mal vorsichtig.
„Hm, was denn?“
„Du bist doch ein Ba ... Ban ...?“
„Banskeid.“
„Richtig, Banskeid, oft habe ich das Wort nicht gehört, meine Mutter hat es manchmal benutzt. Sie hat uns, als wir noch klein waren, viel von ihrer Heimat erzählt. Ein fruchtbares, grünes Land, in dem die Menschen unseres Volkes frei und in Einklang mit den Elementen leben, und in dem niemand Not leidet und jeder glücklich ist. Wo tapfere Krieger in rabenfederschwarzer Tracht und mit goldenen Reifen auf der Stirn über Ordnung und Frieden herrschen, und die sich, wenn der Al Setna nach ihnen ruft, für das Wohl der anderen in die Gefahr stürzen.“ Sie sah ihn mit leuchtenden Augen an. „Verzeih, aber für mich waren das immer Märchen und Hy das Land der Sagen und Legenden. Ich konnte mir nie vorstellen, dass es das alles wirklich gibt. Du kommst doch aus Hy. Bitte, sag mir, ob das alles stimmt, was meine Mutter erzählt hat, das mit den glücklichen Menschen.“ Ehrfürchtig haftete ihr Blick an Raens Aun, und ein zärtliches Lächeln legte sich auf seine Lippen. Dieses Mädchen dachte tatsächlich, er komme geradewegs aus einem Märchen.
„Mein Name ist Hyaun Banskeid Raen Ra Roman adh Chor Shari, und ich bin dort geboren, wo die Felder grün und die Menschen glücklich sind.“ Die meisten zumindest, fügte er in Gedanken hinzu.
„Oh, es ist wirklich wahr!“, hauchte das Mädchen hingerissen, und Raen sah, wie eine Träne glitzernd über ihre Wange rollte. Er setzte sich umständlich auf und wollte sie trösten, doch sie wehrte ab.
„Ist schon gut, ich kenne es schließlich nicht anders. Jeder hat sein Schicksal, und ich bin bereit, das meine zu tragen. Für dich muss es viel schlimmer sein. Du warst frei und bist jetzt ein Gefangener.“
„Du bist sehr tapfer, Mate.“
Mate lächelte scheu. „Hast du Hunger?“, fragte sie.
Raen nickte „Und Durst!“
Mate erhob sich und lief leichtfüßig zu einem niedrigen Tisch, der in einer Ecke stand, und kam mit einem Tablett voll Schüsseln und einem Wasserschlauch wieder.
„Bitte, iss und trink, so viel du willst. Es ist genug da. Aber langsam, man sagte mir, du hast lange nichts gegessen.“
„Du kannst mir nicht zufällig die Hände losbinden?“, haschte er mit bester Unschuldsmiene, aber Mate schüttelte entschieden den Kopf. „Das wurde mir verboten. Tut mir leid.“
„Nun, gut, macht ja nichts“, gab Raen unbekümmert zurück und langte dann ausgiebig zu. Ohne Vorbehalt aß er von den verschieden Speisen, die seinem Gaumen zwar fremd aber dennoch genießbar erschienen. Danach überkam ihn jähe Müdigkeit, und ihm fielen die Augen zu, noch bevor er seinen Kopf auf ein Kissen betten konnte.
Natürlich hatte Mate gewusst, dass das Essen kali Besh enthielt.
„Schläft er?“ Der König trat zu der jungen, hyaunischen Sklavin.
Mate nickte wortlos und drückte sich mit dem Rücken gegen die Säule.
„Vertraut er dir?“
Wieder ein ängstliches Nicken vor dem hohen, askharischen Herren.
„Gut gemacht. Geh so lange hinüber zu den anderen.“
Schnell stand Mate auf und floh in die angrenzenden, ebenso prächtig ausstaffierten Räume, wo die imposante Riege der palasteigenen Leibdienerinnen für die gewissen Lustbarkeiten begierig darauf wartete, dass ihre kleine Novizin kam und berichtete. Kaum konnte Mate ihre Tränen zurückhalten, da wurde sie auch schon heftig bestürmt. Doch sie verkroch sich in einen der üppigen Kissenberge, die es überall in diesen Räumlichkeiten gab, und wollte vorerst mit niemandem sprechen. Sie hasste sich dafür, diesen freundlichen Krieger, der so ehrlich zu ihr war, belogen zu haben.
Aber sie hatten sie dazu gezwungen. Und wenn sie nicht tat, wie ihr befohlen wurde, so konnte sie das ihre Zunge, oder noch schlimmer, ihre Nase kosten. Sie hatte schon einige Sklaven ohne Nase gesehen, für immer entstellt, ein grauenvoller Anblick. Außerdem würde sie obendrein auch ihren Platz hier im Frauenhaus verlieren, und der war immer noch besser, als einem stinkreichen, alten Greis in der Stadt die verhornten Füße waschen zu müssen, oder einem unbedeutenden Adligen und dessen verbitterter Frau irgendwo in den staubbedeckten Weiten Askhars als Prügelweib zu dienen. Also gehorchte sie.
Derweil beugte sich König Katthike im Raum nebenan umringt von der Leibwache wachsam über den friedlich schlummernden Gefangenen. Nur Lata war noch bei ihm und beobachtete den Hy kritisch.
„Der ist weg! Eigentlich erstaunlich, dass das Besh noch derartige Regungen zulässt, wie wir sie brauchen“, grinste Lata schlüpfrig. „Schade nur für ihn, dass er davon nicht viel mitbekommen wird.“
„Haltet Euch zurück, Konsultas, Ihr könnt Euch ja gleich nebenan bedienen, wenn es Euch so sehr am Schwengel juckt! Dies ist eine ernste Angelegenheit!“, rief Katthike ihn zurecht und richtete sich wieder auf.
Lata hob ergeben beide Hände und zog sich zurück. „Na, dann lasse ich jetzt unsere Prachtstute kommen.“ Mit grimmiger Miene verließ er den Raum. Dass der König einen weiteren Bastard wie Setna züchten und dieses Kuckucksei wahrscheinlich dem Prinzen unterschieben wollte, ging ihm gegen den Strich. Aber der verblendete Trottel mit seinem Gerede von göttlicher Fügung ließ sich einfach nicht davon abbringen. Mit der vollen Wucht seines Ärgers trat Lata die nächste Tür zu seiner Rechten auf, dass alle dahinter erschraken.
„Los, komm!“, schnauzte er barsch in den Raum, und als das angesprochene Mädchen sich nicht gleich in Bewegung setzte, packte er sie grob im Nacken und schob sie vor sich her durch die Gänge.
Gewaltsam bugsierte er sie in den Raum mit den Wandbemalungen, entriss ihr das Laken, mit dem sie sich bisher dürftig bedeckt gehalten hatte, und stieß sie vor den König.
Katthike zeigte ohne Worte auf den regungslos auf dem Rücken liegenden Gefangenen.
„Was? Mit einem Hy! Niemals!“, entfuhr es ihr sofort, als sie den Stirnreif entdeckte.
Lata packte sie erneut im Nacken und schüttelte sie. Der König hob eine Hand, und Lata ließ sie wieder los. Trotzig schob sie die Unterlippe vor. Der König deutete erneut auf den Gefangenen. Gefahr braute sich in seinem Schweigen zusammen.
„Aber ich kann das nicht, wenn jemand zuschaut!“, sagte sie bockig, die Bedrohung nicht erkennend, und verschränkte die Arme vor ihren nackten Brüsten.
„Bei den Göttern! Hure, tu, was von dir verlangt wird, oder du kommst zu den Soldaten! Dann wirst du noch sehen, wie schlimm es sein kann, wenn mehrere Dutzend dir erst zusehen und dich dann rannehmen!“, brüllte Lata und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige.
Der Kopf der jungen Frau flog herum und ihr Kinn zitterte, doch sie blieb aufrecht und ging schließlich würdevoll an den Männern vorbei, die sie unentwegt anstarrten.
Lata sah, dass Katthike ungehalten seufzte. Er wusste, dass dieses Mädchen für ihn nur zweitklassige Ware war, denn der König hatte dieses Mal weniger Zeit gehabt, sich einen geeigneteren Brutschoß für sein Experiment zu suchen. Dieses Weib musste genügen. Sie war ein hübsches, junges Ding aus der Stadt, bedauerlicherweise dumm und ungezogen, was ihr unverschämtes Mundwerk deutlich machte. Aber sie war auch hinreißend widerborstig und stolz, wie Lata mit wachsender Erregung fand. Leider zögerte sie immer noch, und das gefiel dem König nicht.
„Was ist? Wie lange soll Seine Majestät noch warten? Lass deine Hüften kreisen!“, drängte Lata, der die wachsende Ungeduld Katthikes besänftigen wollte.
„Ich mach ja schon!“ Mit giftfunkelndem Blick kniete sie sich neben den im Rausch vor sich hinmurmelnden Gefangenen.
„Wie soll das denn gehen? Er ist angezogen und auch noch gefesselt“, schimpfte sie rau und ließ die Hände durch die Luft fahren.
„Du wirst dir schon was einfallen lassen. Denk immer schön an die Soldaten!“, setzte Lata nach.
Das Mädchen fluchte leise und in einem schweren Dialekt und machte sich dann unter den brennenden Blickes des Königs und dessen Beraters an die Arbeit.
Träge erwachte Raen aus seinen klebrig süßen Lustträumen, die, wie er vermutete, durch die schwülstigen Wandmalereien stimuliert worden waren. Mit einem üblen Geschmack im Mund sah er sich nach dem Wasserschlauch um und entdeckte Mate an der gleichen Stelle sitzend wie am Tag zuvor.
„Guten Morgen. Wo ist das Wasser?“, fragte er sie, und ebenfalls wie am Tag zuvor erhob sie sich und brachte ihm das Gewünschte.
„Geht es dir besser?“, wollte sie wissen und setzte sich neben ihm auf ein Kissen.
„Besser?“
Sie zeigte auf die mächtige Beule an seinem Kopf, die von Schwertmeister Rebians Schlag stammte.
„Ach so, das. Ja, etwas.“ Er betastete mit den Händen die längliche Schwellung über dem Ohr ab. Dabei fiel ihm anhand seiner Haarlänge auf‚ dass er bereits seit über einem Monat hier sein musste, denn vor seiner Abreise in Borgossa hatte er sich den Kopf frisch geschoren.
„Was für einen Monat haben wir?“
„Den Mond des Adlers.“
Das sagte Raen herzlich wenig. Seufzend ließ er sich wieder auf sein Lager sinken. „Warst du die ganze Nacht hier?“
Mate nickte. „Ich schlafe da drüben.“ Sie deutete auf die Stelle an der Wand, wo sie auch gesessen hatte. Es war außerhalb seiner Reichweite.
„Was ist das für ein Raum?“, fragte er, obwohl er es schon ahnte.
„Ein Ort des Vergnügens.“
Um welches Vergnügen es sich dabei handelte, war unschwer zu erraten.
„Und was mache ich an diesem Ort? Mich vergnügen ja wohl bestimmt nicht!“ Sein Ton troff vor Sarkasmus.
„Wie gesagt, ich weiß es nicht. Ich soll hier nur auf dich aufpassen.“ Mate schaute schnell zur Seite.
Raen hob seine Hände und ließ sie wieder fallen. So kam er nicht weiter. „Erzähl mir etwas von dir“, forderte er sie auf und setzte ich auf. Die Glieder der schweren Kette um seine Füße klirrten.
„Oh, da gibt es nicht so viel zu erzählen. Ich bin hier im Palast geboren, im Haus der Sklaven. Das ist an der äußeren Nordmauer. Dort wohnen nur die Sklaven und die Aufseher. Als Kind durfte ich noch bei meiner Mutter bleiben. Mit sieben bin ich dann zu den Zöglingen gekommen. Dort habe ich gelernt und gearbeitet. Das war’s. Erst mein neuer Herr wird bestimmen, was er mit mir machen wird.“
„Was hast du gelernt?“
„Kochen, Nähen, all solche Dinge eben.“
„Und du wirst deinem neuen Herren im Haushalt zur Hand gehen?“
„Wahrscheinlich.“
„Dürfen Sklaven heiraten?“
„Nein, natürlich nicht!“ Mate lachte, als hätte er einen Witz gemacht.
„Aber gestern hast du noch von deinen Eltern gesprochen, und dass sie beide Hy sind.“
„Ja, aber sie sind doch nicht verheiratet! Sie kannten sich noch nicht einmal besonders gut.“ Sie schien Raens Verwunderung sehr lustig zu finden, denn sie hielt sich kichernd eine Hand vor den roten Mund.
„Und warum, ich meine, wieso durften sie ...“
„Na, für die Zucht, du Dummerchen.“
„Die Zucht?“ Dummerchen?
„Ja, was denn sonst? Aber natürlich sind Nachzuchten nicht so viel wert wie Wildfänge. Deshalb werde ich wohl nicht für weitere Paarungen in Frage kommen. Für mich bezahlt man ja eh schon viel weniger. Meine Kinder wären dann erst recht kaum mehr wert als ein normaler Sklave aus Tan, Lavantina oder den Jungiten-Reichen. Außerdem ist der Markt sowieso schon überschwemmt von minderwertiger Ware, und wie gesagt, nachzüchten kann jeder. Wildfänge sind nach wie vor am gefragtesten. Die kommen wohl nie aus der Mode.“ Mate seufzte affektiert. „Aber du, du bist berühmt! Der teuerste Sklave aller Zeiten!“ Ihre Augen leuchteten, und Raen war entsetzt über den Stolz in ihrer Stimme. Es hatte so geklungen, als spreche sie vom Veredeln und Züchten von Pferden, nicht aber über das bewusste Heranziehen von Menschen.
„Welch kranker Wahnsinn!“, entfuhr es ihm. „Sklaverei ist ein abscheulicher Gräuel!“
„Was ist daran ein Gräuel?“
„Menschen einzupferchen wie Vieh und sie gegen ihren Willen Dinge tun zu lassen, das ist widerwärtig!“
„Wieso, niemand behandelt uns wie Vieh. Wir haben jeder unsere Aufgabe, die wir gerne tun, und dafür bekommen wir ein Heim und zu essen. Es gibt wahrlich Schlechteres. Sich als Bauer den Rücken krumm zu placken und am Ende des Tages doch nichts zu Fressen zu haben, zum Beispiel!“
„Ihr habt doch bestimmt auch Arbeitssklaven hier, oder nicht? Und denen kommt mit Sicherheit keine solch großzügige Behandlung zu, wie du sie mir schilderst. Ganz zum Gegenteil verhält es sich doch, habe ich Recht? Sie werden ohne Rücksicht geschunden, bis sie tot umfallen! Welch bedeutende Aufgabe, und sie tun sie gewiss auch überaus gerne!“
„Das sind die Verbrecher, die haben nichts anderes verdient! Wir kostbaren Haussklaven werden gut behandelt!“
„Ach, ja?“ Angewidert wandte Raen den Kopf. „So einen Blödsinn habe ich schon lange nicht mehr gehört! Ihr seid Kriegsbeute des Feindes und merkt es nicht einmal, wie ihr tagtäglich gedemütigt werdet! “
„Das ist kein Blödsinn, viele Askharer schätzen uns, darunter auch der König. Selbst der Kronprinz hat unser Blut in den Adern! Und darauf sind wir stolz!“ Mate erhob sich abrupt und sah trotzig, ihre kleinen Hände zu Fäusten geballt, auf Raen hinab. Der richtete seinen funkensprühenden Blick auf das Mädchen, das unwillkürlich vor ihm zurückwich.
„Das ist widerlich, hörst du!“, spie er aufgebracht aus. „Ganz und gar verabscheuenswürdig! Ich will nichts mehr davon wissen, hast du verstanden!“
Den Rest des Tages redeten sie kaum miteinander. Mate saß missmutig zu den Fenstern hin stierend auf ihrem Kissenstapel, das Kinn in eine Hand gestützt. Raen hingegen döste viel in der unverhofften Bequemlichkeit und nach dem Abendessen, das so reichhaltig war wie das am Vorabend, versank er neuerlich in einen tiefen, bewusstlosen Schlaf.
Es war Morgen, und er setzte sich auf. Er hatte denselben Traum gehabt. Das konnte ja mal passieren, aber war er denn so ausgehungert nach körperlichen Zuwendungen und das auch noch hier in Gefangenschaft? Entschlossen schüttelte er den Schlaf ab und zuckte mit den Schultern. Mit dem Blick suchte er Mate. Sie saß auf ihrem Kissenthron und sah ihn an. Friedlich. Nichts war noch von ihrer vortäglichen Hoffärtigkeit zu spüren. Raen lächelte.
„Wasser?“, fragte sie, und er nickte. Ihre nackten Füße tapsten über den Boden, und die Glöckchen klingelten.
Raen ertappte sich dabei, wie er ihre schlanken Waden begutachtete.
‚Sie ist dreizehn, Himmel noch mal! Denk an etwas anderes!’
Ja, wie denn, bei diesen aufdringlichen Malereien?, rief sehnsuchtsvoll empört sein Süden, der sich seit kurzem so ungewohnt rege zeigte.
Dankbar nahm er den Schlauch entgegen und trank. Anschließend wischte er sich mit etwas Wasser durch das Gesicht.
„Sag, habt ihr hier Rosmarin und Salz?“
„Wofür?“
„Ich will meine Zähne putzen.“ Dem Anschein nach ging es ihm schon wieder ganz gut, wenn er an so etwas wie Hygiene denken konnte. Dem fragenden Blick Mates entnahm er aber, dass sie diese Art von Körperpflege nicht kannte. Doch sie nickte schließlich. „Ich werde danach fragen.“
„Wann kommt hier eigentlich jemand? Ich bekomme davon gar nichts mit, außer, dass sie den Fäkalieneimer leeren, wenn du sie rufst.“
„Sie kommen, wenn du schläfst.“
Das hatte er sich natürlich gedacht. Mates Antworten waren manchmal nicht wirklich aufschlussreich.
„Ist die Tür dort abgeschlossen?“
„Ja.“
„Stehen Wachen davor?“
„Ja.“ Danach zu fragen, wie viele, wäre sinnlos gewesen. Sie hätte es ihm eh nicht verraten. Er mochte das Mädchen, doch vertrauen tat er ihr nicht. Die ganze Situation war einfach zu merkwürdig.
„Willst du denn eigentlich gar nicht fliehen?“, fragte Mate, als hätte sie seine Gedanken erraten. Sie beugte sich vor, um sein Aun genauer zu betrachten.
„Was soll ich denn tun? Ich komme hier doch niemals raus.“ Er schüttelte die Kette an seinen Füßen. „Und wenn, dann bin ich immer noch mitten in Askhar. Nein, es hat keinen Sinn. Ich muss mich wohl damit abfinden, ein Gefangener zu sein. Ich frage mich nur, was sie mit mir vorhaben? Hinrichten wollen sie mich ja offenkundig nicht. Zumindest vorerst nicht.“
Mate zuckte mit den Schultern. Aber irgendetwas an ihrer Unwissenheit störte ihn. Waren es die allzu roten Lippen?
„Es tut mir übrigens leid, was ich gestern gesagt habe“, entschuldigte er sich.
Mate sah ihn aufmerksam an, und er studierte ihr Gesicht. Ihr rotgeschminkter Mund passte so gar nicht zu ihren noch sehr kindlich weichen Zügen.
„Von meinem hohen Ross aus hatte ich gut reden“, setzte er fort, „aber auch ich bin jetzt ein Sklave Askhars wie ihr alle.“ Als Zeichen der Ergebenheit hob er die gebundenen Hände. Die hässlichen Rötungen um die Handgelenke breiteten sich immer weiter aus. „In Unwissenheit zu urteilen, ist falsch. Aber es hat mich sehr berührt, von eurem Schicksal zu erfahren.“
„Wir tragen es mit erhobenem Haupte, wir brauchen kein Mitleid!“, entgegnete Mate.
Raen lächelte milde. „Das ist ganz und gar der hyaunische Weg.“
Sie sahen sich in die Augen. Dann lächelte auch das Mädchen. Raen gefiel das Lächeln. Ein wohltuend unschuldiger Schein in diesen finsteren Tagen, da seine Zukunft so beängstigend ungewiss war. Obwohl er ihr nicht vertraute, brauchte er sie. Er brauchte es, dass sie mit ihm redete, damit sein Herz sich nicht mehr ganz so schwer anfühlte.
Sie hob einen Finger. „Darf ich es berühren?“ Sie meinte das Aun.
„Nur zu.“
Als ihre Fingerspitze auf das warme Metall auf seiner Stirn traf, durchzuckte ein gleißender Blitz seinen Kopf, und Raen schloss unwillkürlich die Augen. Für den Bruchteil eines Wimperschlages sah er Mate sich nackt auf den Kissen räkelnd, ihre roten Lippen wollüstig geöffnet. Schnell öffnete er seine Augen wieder.
„Was ist?“, fragte Mate besorgt. Sie hatte den Finger wieder zurückgezogen.
„Ach, nichts, Schon gut. Es ist nur ... es fühlt sich immer komisch an.“
„Es ist Magie, nicht wahr? Das hat meine Mutter immer gesagt.“
Raen hatte nie darüber nachgedacht, ob es tatsächlich Magie war, denn seit er das Aun trug, war es etwas ganz Selbstverständliches für ihn. „Ich denke, es ist eher etwas rein Spirituelles“, antwortete er schließlich, sich selbst nicht vollkommen sicher, aber er war auch nicht gewillt, das mit diesem Kind zu besprechen, das die Geheimnisse seines Volkes als Märchen ansah. „Mehr kann ich dir leider nicht darüber sagen.“
„Schade. Dann erzähl mir eben etwas anderes von dir. Von mir weißt du ja schon alles, ich finde, jetzt bist du mal dran.“
Raen überlegte, ob das eine gute Idee war, doch dann begann er vorsichtig die ein oder andere unverfängliche Anekdote aus seiner Kindheit zu erzählen, die er im Land der Legenden verbracht hatte. Gespannt hörte Mate zu, und in ihren Augen lag wieder dieser mädchenhaft hingerissene Glanz, den kein Mensch heucheln konnte.
Die Tage kamen und gingen ereignislos in immer gleicher Eintönigkeit. Jeden Morgen kam Raen zu sich, seltsam erschöpft und abgekämpft, so als hätte er unter dumpfer, schwerer Erde geschlafen, doch alles, woran er sich stets erinnern konnte, war ein und derselbe Traum: Eine fremde, barbusige Schönheit, die ihn ritt, als sei sie der sprichwörtliche Teufel und wolle jeden Tropfen seines Lebenssaftes aus ihm herauspressen! Aber er fühlte sich nicht nur körperlich ausgelaugt. Auch sein Geist schien immer mehr von der Fadheit der Gefangenschaft angegriffen zu sein.
‚Sie haben dich zermürbt, das ist es. Und wenn du weiter hier so schlaff herumliegst, wirst du auch noch den Rest deiner Kraft verlieren. Also tu etwas!’ Müde trieb Raen sich immer wieder an, und schließlich begann er zwischen den Unterhaltungen mit Mate und den öden langen Spannen am Nachmittag, in denen es drückend warm in dem Raum wurde, und er dann nichts weiter tat, als gedankenverlorenen die langsame Wanderschaft der Sonnenflecken über den Boden zu beobachten, aufzustehen und an der Kette hin und her zu gehen, soweit wie sie es ihm erlaubte. Mate sagte er, er müsse sich die Beine vertreten, sonst würde er bald gar nicht mehr aufrecht gehen können. Auch machte er heimlich Armstützen, wenn das Mädchen einmal schlief oder nicht im Raum war.
„Was war das eigentlich mit dem Prinzen und eurem Blut?“, erinnerte sich Raen eines Tages. Er lag auf dem Rücken und hatte gerade zum etlichsten Male die Verzierungen der Deckenbalken gezählt und miteinander verglichen. Manche waren schlampiger geschnitzt als die anderen.
„Er ist ein Hy bridha.“
„Ein halber Hy? Wie geht das denn? Ich dachte, er sei der Sohn des Königs.“
„Ist er ja auch, aber eben nur ein Stiefsohn. Seine Mutter ist eine Askhari, sein Vater aber war ein Hy. Sogar ein Banskeid.“
„Ein Ba-“
In dem Moment flog die Tür auf, und der soeben Erwähnte kam mit langen Schritten herein marschiert. Raen hatte einen fürchterlichen Verdacht, wer dieser hyaunische Banskeid gewesen sein mochte, doch er kam nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu denken, denn schon war Prinz Setna bei ihm und trat ihm ohne Vorwarnung den Stiefel in die Seite. Raen krümmte sich und hob schützend die Hände.
Doch bevor Setna ein zweites Mal zutreten konnte, sprang Mate auf und schrie: „Lasst ihn gefälligst in Ruhe! Ich habe die Verantwortung für ihn. Wie soll ich es König Katthike erklären, wenn er Verletzungen hat?“
„Das ist mir doch egal, kleine Hure, verschwinde!“ Er schlug nach Mate, die aber geschickt auswich und ihn aus sicherer Entfernung gefährlich anblitzte. Raen wunderte sich über ihren Mut.
„Ihr dürft gar nicht hier sein. Der König hat es Euch verboten, das weiß ich. Ich rufe die Wachen!“
„Halt dein Maul, verfluchte Hy-Hexe, sonst schneide ich dir deine Zunge ab!“ Setna zückte seinen Dolch. „Ich bin der Prinz von Askhar und ich mache, was ich will!“
Mate warf einen Blick auf den Gefangenen und dann einen zur Tür. Dort waren keine Wachen, erkannte Raen. Prinz Setna musste sie weggeschickt haben. Kurzentschlossen rannte sie los. Das Klingeln ihrer Glöckchen entfernte sich im dunklen Gang, als Raen seinen Blick wieder auf den Prinzen lenkte.
Setna grinste maliziös. „Eine kleine Wildkatze. Und? Hast du sie schon besprungen, Schweinehirt?“ Wieder landete ein Tritt in Raens Nieren. „Ich werde sie mir später vornehmen. Sie war ungezogen! Jetzt aber zu dir. Wie geht es denn unserem ehrenwerten Gast? Viel zu gut, fürchte ich, wenn ich das hier sehe! Liegt hier faul herum und hat sein Vergnügen mit den Mädchen.“ Er schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. „Eigentlich bin ich ja hier, um mein Versprechen endlich einzulösen. Nicht, dass du denkst, ich würde mein Wort nicht halten.“
Raen schwieg. Er zwang sich, weiterhin Unterwürfigkeit zu heucheln. Er musste um jeden Preis zahm erscheinen. Doch Furcht ließ ihn seine Muskeln anspannen.
Breitbeinig stellte Setna sich über ihn und fühlte demonstrativ die Spitze seines Dolches.
„Du denkst jetzt bestimmt: Worauf wartet der Kerl? Hm, das liegt daran, dass ich mich nicht entscheiden kann, ob ich mir nun dein Ohr oder doch deine Eier als Andenken nehme. Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir spreche!“
Raen nahm die Hände vor dem Gesicht weg und tat, wie ihm geheißen. Ein undurchdringliches Holzgesicht starrte auf das andere; ein stilles Duell, und eine Weile regte sich keiner von den beiden.
Setna war schließlich derjenige, der sich aus der Starre löste. „Das letzte Mal bist du uns entkommen, hyaunischer Assassino, dieses Mal wird es dir nicht gelingen! Ach, weißt du was? Ich nehme mir einfach beides. Zuerst dein Ohr und dann deine Eier.“ Er beugte sich zu Raen hinab und hielt ihm die Messerschneide an die Wange. „Dann können wir deinem hübschen Gesichtchen auch gleich einen neuen Anstrich verpassen.“
Raen verharrte regungslos, wagte es nicht einmal, zu blinzeln. Das Gefühl ganz allein zu sein, kannte in der Tat noch eine Steigerung, stellte er fest.
Die Spitze des Messers wanderte zu seinem rechten Ohr.
„Aber vorher kannst mir noch sagen, woher du das hier hattest?“ Wie aus dem Nichts zauberte Setna die goldene Pfeilspitze hervor und hielt sie Raen vor die Augen.
‚Das ist das Aun deines Vaters, du Bestie!’, dachte dieser entsetzt ob der plötzlichen Erklenntnis, blieb aber stumm. Die plötzliche Wahrheit über die Herkunft dieser Pfeilspitze lähmte die letzten Reste seines noch vorhandenen Willens, und Raen begann sich zu wünschen, der Prinz möge ihn einfach töten, damit ihm ein ähnliches Schicksal wie das von Setna Raeson erspart bliebe, der vor vielen Jahren ebenfalls in die Gefangenschaft Askhars geraten war. Und als sei dies noch nicht genug, packte ihn eine weitere schreckliche Gewissheit, als sein Gehirn die Tatsachen nacheinander zu einem Bild fügte. Zu spät, dachte er, als vor seinem inneren Auge das Gesicht der nackten Schönheit auftauchte. Diese Hurensöhne, hatten sich bereits seiner bemächtigt! Sie hatten ihn willenlos gemacht und für ihre abscheulichen Zwecke benutzt! Die Bitternis dieser weiteren Niederlage ließ seinen Körper schlagartig erschlaffen. Vollkommen wehrlos schaute Raen zu dem Prinzen auf. Ihm war alles egal. Sollte er ihm doch ein Ohr abschneiden, das war nichts im Vergleich zu dieser schlimmsten aller Demütigungen!
„Du willst mal wieder nicht mit mir sprechen, was? Zu schade. Vielleicht hätte ich das Ohr dran gelassen.“ Setna packte das Ohr, verzog die Lippen zu einem grässlichen Grinsen und schnitt. Raen jedoch schrie nicht, er ließ es einfach geschehen.
„Halt!“, schmetterte es plötzlich durch den Raum, und Setna schreckte hoch. Blut tropfte von seinem Messer auf Raens Gesicht.
Zwei Wachen bauten sich vor ihm auf, und der Prinz erhob sich langsam mit einem entwaffnenden Lächeln.
„Es ist nichts passiert. Seht doch, es ist noch alles dran.“
Die beiden herbeigeeilten Leibgardisten blickten ernst auf den Gefangenen, der seine Hände auf das rechte Ohr gepresst hielt, weil es stark blutete.
Böse blickten sie zurück zu Setna. Da tauchte der Verräter Lata neben ihnen auf, und Raen bemerkte, dass in dem Gesicht des Prinzen eine deutliche Veränderung vorging. Das selbstgefällige Grinsen verschwand.
„Mein Prinz“, sagte der Oberste Berater mit deutlich herablassender Stimme, „ich muss Euch ersuchen, den Raum unverzüglich zu verlassen! Es ist eine Order des Königs!“
Mit hasserfüllter Miene steckte Setna den Dolch weg und stapfte an Lata vorbei zur Tür.
„Euer Vater will Euch sprechen. Sofort! Und er sagte auch, dass er es nicht akzeptieren wird, wenn Ihr Euch ein weiteres Mal widersetzt!“, rief Lata mit sichtlicher Genugtuung noch hinter dem Welpen her und trat dann zu den Gefangenen.
„Seht nach, was er hat!“, befahl er den Gardisten.
Eine der Wachen nahm Raen die Hände vom Ohr.
Der überlegte indessen fieberhaft, ob er diese Gelegenheit nutzen sollte, um dem Verräter den Garaus zu machen. Vielleicht würde es ihm gelingen, das Schwert der Wache zu angeln und damit auf Lata loszugehen, der sich noch in seiner Reichweite befand.
„Nur ein Schnitt vor dem Ohr. Ist nicht so tief“, sagte die Wache, sah zu dem Berater hoch und war für einen Moment abgelenkt.
Doch gerade, als Raen sich herumwerfen und nach dem Schwert greifen wollte, legten sich zwei kühle Hände auf seine Schläfen. Mate!
„Oh, tut es sehr weh?“, fragte sie auf Hyaunisch und rückte von oben in Raens Gesichtsfeld.
Er schüttelte den Kopf und lächelte sie an.
‚Du verdammter Idiot!’, schimpfte er sich gleich darauf innerlich, ‚Lässt dich von einem Mädchen ablenken! Was, wenn das deine letzte Chance gewesen war?’ Er schloss die Augen, und seine Anspannung löste sich. Er wollte allein sein. Allein und tot!
Raen spürte, wie jemand ihm sanft über die Stirn streichelte. Und kurz stellte er sich vor, es sein Keï, und wenn er die Augen öffnete, würde sie ihn anlächeln mit seinem Lächeln. Sehnsuchtsvoll sog er den Atem ein. Leider roch das Wesen neben ihm nicht nach Lavendel, sondern nach Lilie. Enttäuscht stieß er den Atem wieder aus. Sein Herz verkrampfte sich. Er wollte nicht zurück in diese Welt, die nur noch Schmerzen und Demütigung für ihn bereithielt. Er wollte nicht länger als Beschäler für die kranke und abscheuliche Sklavenzucht des askharischen Königs dienen.
„Du gehörst zu denen, nicht wahr?“, sagte er schließlich ruhig, und öffnete die Augen. „Du bist ein Freudenmädchen, und du wirst auch nicht verkauft. Du gehörst dem König und bist ihm zu Diensten.“
Er sah, wie Mates Lippen für einen Moment zitterten, und sie ihren Blick niederschlug. Also hatte er Recht.
„Du musst etwas essen“, kam schließlich als ausweichende Antwort. Ihre Stimme klang beherrscht.
„Ich habe keinen Hunger“, log er. Es musste im Essen sein, das Rauschmittel, das ihn willig machte. Deshalb hatte er hinterher auch immer so gut geschlafen.
„Aber du hast Blut verloren. Iss wenigstens etwas von der Fleischsuppe.“
„Ich will nichts.“ Mit diesen Worten drehte er sich auf die Seite, bettete seinen Kopf mit dem Verband achtsam auf ein Kissen und tat so, als wolle er schlafen. Zwar würde es ihm vermutlich nicht viel nutzen, wenn er das Zeug verschmähte, denn sie würden es ihm stattdessen mit Sicherheit reinzwingen, aber er wollte vorher noch sehen, was Mate tat.
Nach einiger Zeit, in der er tiefe Atemzüge vorgetäuscht hatte, hörte er, wie sie sich erhob und durch den Raum ging. Wahrscheinlich zur Tür. Ihre Glöckchen klingelten leise, genau achtzehn Mal, das war die Entfernung zur Tür. Und tatsächlich hörte Raen kurz darauf, wie der Riegel zurückgeschoben wurde und hernach verhaltenes Murmeln. Er bemühte sich, etwas zu verstehen.
„... nicht gegessen.“
„Gut, dann heute nicht.“ Es war eine Männerstimme.
„Es war nicht meine Schuld, bitte ...“
„Ja, ja, schon gut, Honignäschen, und nun geh wieder an deine Arbeit. Oder willst du uns vielleicht noch einen kleinen Gefallen tun?“ Schmutziges Lachen folgte und eine leise Schmähung Mates.
Die Tür schloss sich, und die Glöckchen kamen wieder näher geklingelt.
Sie berichtete also alles den Wächtern. Obwohl er es bereits geahnt hatte, spürte Raen einen Stich der Enttäuschung.
Die nächsten Tage waren die schlimmsten, die er je erlebt hatte. Raen schwankte zwischen Wut und Hilflosigkeit. Und niemals hätte er gedacht, dass etwas, das so unsichtbar und immateriell war wie die Würde, derart schmerzen konnte, wenn man es einem Menschen nahm. Er fühlte sich wie von Treibsand gelähmt und unweigerlich in eine bodenlose Tiefe gezogen, aus der es kein Entrinnen mehr gab. Jeden Abend zwangen sie ihn, das Zeug zu essen, und jeden Morgen wusste er, was er im Rausch getan hatte. Er verabscheute sich selbst, weil sein Körper so funktionierte, wie sie es wollten. Seine eigene Schwäche widerte ihn an, und bald fraß der Hass auch an seiner Seele.
Zusammengerollt und mit stumpfsinnigem Blick lag er da und versank Fuß für Fuß immer weiter in der tödlichen Lethargie. Und schließlich tat sein Lebensmut das, was er bei jedem Hy-Sklaven nach einiger Zeit tat, er wandelte sich in Gleichgültigkeit.
Mate unternahm kaum noch einen Versuch, sich ihm zu nähern. Sie spürte, dass sie sein Vertrauen verloren hatte. Aber sie akzeptierte die Ablehnung des Gefangenen, weil sie sich selbst nicht wohl dabei gefühlt hatte, seine Freundlichkeit zu missbrauchen. Es war ihre erste Lektion darin gewesen, Menschen zu täuschen, und sie hatte sie gut gemeistert. Besonders Männer waren leicht zu gängeln, ohne dass sie etwas davon merkten, das wusste sie. Ein hübsches Gesichtchen und ein unschuldiger Augenaufschlag waren alles, was eine Kurtisane an Waffen haben musste, um in der Welt der Männer bestehen zu können. Und diese beherrschte Mate nun. Mit ihnen würde sie ihre Zukunft sichern, denn im Gegensatz zu dem Gefangenen hatte sie noch eine, und daran musste sie denken.
Mit einem Mal war es dann vorbei, und kurzerhand wurde Raen aus seinem teilnahmslosen Dämmerzustand von den bequemen Kissen gerissen. Man schmiedete seine Ketten los und schleifte ihn hinaus auf den Hof. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel, und Hitze hing drückend zwischen den glühenden Mauern. Jeder Atemzug war, als versuche man in einem Ofen zu atmen.
Raens Geist schwebte erst vollständig aus dem Nebel des Trans, als er vornüber im heißen Sand der ihm bereits bekannten Arena landete. War das nun der Tag seiner Hinrichtung? Hatten sie endlich genug seines Lebenssaftes abgezapft, um damit eine ganze Generation neuer Sklaven zu zeugen? Domestiken oder Hy bridha, oder wie auch immer sie sie nannten! Sand knirschte zwischen seinen Zähnen, als er sich hochstemmte und in die Gesichter blinzelte, die sich wie schon einmal vor ihm aufgebaut hatten. Jemand hatte ihm das Hemd ausgezogen, und er spürte wie die Sonne ihm gnadenlos auf seinen Rücken brannte. Er sah erneut den schiefnasigen Kerl auf sich zukommen, doch dieses Mal trug er ein blankgezogenes Schwert in seiner Rechten. Erleichtert lächelte Raen ihm entgegen und dankte Hyaun dafür, dass er jetzt endlich erlöst werden würde. Er senkte seinen Kopf für den finalen Schlag.
Doch das Schwert flog nicht durch die Muskeln und Knochen seines Halses, sondern vor ihm in den Sand. Entgeistert blickte er darauf hinab.
„Wenn du es schaffst, mich damit zu töten, dann bist du frei!“, sagte Schiefnase über ihm.
‚Frei?’ Es dauerte ein wenig, bis die Bedeutung dieses Wortes in seinem gleichgültigen Hirn angekommen war. Aber er konnte es nicht glauben. Die Askharer waren ein verlogenes Pack, warum sollten sie ihn gehen lassen? Er sah zu dem Kerl auf und nun fiel ihm auch dessen Rang wieder ein. Er war ein Schwertmeister, kein Henker.
„Ich nicht wollen!“, antwortete er. Er würde nicht tun, was sie von ihm verlangten. Nicht, solange er es mit seinem eigenen Willen bestimmen konnte.
Der unbewegliche Gesichtsausdruck des Schwertmeisters veränderte sich nicht, als er sprach. „Du nicht wollen? So, so“, äffte er Raens schweren Akzent nach und verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein. „Du willst also nicht frei sein? Sehr bedauerlich, hat es mich doch sehr nach einem erlesenen Waffengang mit einem Gegner gelüstet, der meiner endlich einmal würdig ist. Wirklich, sehr bedauerlich.“ Schiefnases Schwert steckte noch immer in seiner Scheide, als er Raen den Rücken zukehrte, doch bevor er ganz von dannen ging, drehte er sich noch einmal um. „Hm, möglicherweise haben wir dir bisher nur den falschen Anreiz geboten. Dein eigenes Leben scheint dir nicht mehr viel wert zu sein. Aber wie sieht es hiermit aus?“ Auf ein Handzeichen hin öffnete sich die Schildreihe der Soldaten, und ein schwarzes Pferd ohne Zaum und Reiter kam hindurch geprescht. Mit geblähten Nüstern und angelegten Ohren drehte es aufgeregt eine Runde und suchte nach einem Ausweg, wendete hier und da gehetzt auf der Hinterhand, doch kein Durchlass tat sich auf.
„Jakori!“, entfuhr es Raen, doch er bereute es sogleich, derartige Emotionen gezeigt zu haben.
Die Stute hatte die Stimme ihres Herrn sofort erkannt und kam ruhig auf ihn zugetrottet. Freundlich stupste sie ihn an der Schulter und blies ihm ihren Atem in sein unverletztes Ohr. Raen konnte ein Lächeln nicht unterdrücken und strich ihr über die Stirn. Doch plötzlich warf Jakori den Kopf hoch und floh. Stattdessen trat Schiefnase vor den Gefangenen.
„Genug der Wiedersehensfreude. Wie ich sehe, hängst du an deinem Gaul. Tja, für uns ist er leider wertlos. Die widerborstige Mähre lässt einfach keinen an sich heran!“
Raen blickte vom Schwertmeister zu Jakori, die aus einigem Abstand aufmerksam zu ihnen herüberschaute, und seine Kehle wurde ihm eng. Er ahnte, was sie vorhatten. Und Tränen schossen ihm in die Augen.
„Verzeih mir, meine treue Jakori. Aber ich kann weder dich noch mich retten. Es tut mir leid. Sei tapfer!“, flüsterte er auf Hyaunisch, und sein trauriger Tonfall ließ Jakori aufmunternd mit dem Kopf nicken. „Leb wohl, mein großer Schatten, sei mir nicht gram.“ Die Tränen rannen ihm hemmungslos über die Wangen, als der den Kopf in Tatenlosigkeit senkte und am liebsten laut geschrien hätte. Aber er konnte nicht. Er konnte einfach nicht! Zu viel seiner Würde hatten sie ihm geraubt und beschmutzt. Er konnte und wollte so nicht weiterleben. Das Gefühl der Scham war übermächtig, nie hatte er sich so klein gefühlt, so hilflos und so feige.
Ein schriller Schrei und ein schwerer Aufprall waren zu hören, doch Raen sah nicht hin. Unaufhörlich rann ihm das Wasser über das blasse Gesicht. Und während seine Weggefährtin mit verdrehten Augen und blutschäumenden Nüstern im Sand lag und das Leben aus ihrem aufgeschlitzten Bauch wich, wurde es dunkel um ihn und eine tonlose, dumpfe Schwärze nahm ihn in sich auf, als er fiel.
Das Askharimädchen war guter Hoffnung, aber der Hy-Krieger wollte noch immer nicht kämpfen! Selbst als sie ihm damit gedroht hatten, sein Pferd zu töten. Katthike ärgerte sich. Dabei hatte Rebian diesen ausgezeichneten Einfall gehabt, um damit dem Hy seinen Schwertstil abzuringen, denn sie wollten ihn später selbst lehren können. Ein Geheimnis nach dem anderen wollten sie ihm entlocken, doch der Kerl spielte nicht mit! Er hatte seinen Kampfeswillen aufgegeben und lag nun schon seit Tagen bewusstlos im Fieber.
„Verdammt!“ Katthike klopfte mit den Fingern auf die Mauerkrone. Er sah hinab in den Innenhof, ein schneller Reiter kam gerade durch das Tor galoppiert. Der Bote von der Grenze.
Ungeduldig wartete er, bis der junge Bursche atemlos auf der Terrasse erschien. Er verneigte sich vor seinem König und vor der Prinzessin, die unter einem Sonnensegel auf einem Diwan lag und sich Luft zufächeln ließ - er hatte ihre Anwesenheit gefordert, und das brave Ding hatte anstandslos gehorcht. Der Bote erhob sich aus seiner Reverenz und bekam von einem Diener ein Becher Wasser gereicht, wie es der Brauch gebot. Und nachdem er den Staub der Straßen aus seiner Kehle gespült hatte, begann er zu berichten:
„Majestät, der erste Pass über das Junghal wird in diesen Tagen unter dem Kommando Prinz Setnas erkundet. Dabei handelt es sich um den sogenannten Einmann-Pass, östlich der Doban-Mauer. Derweil hat General Bhuras drei Tagesritte nordöstlich von Braud provisorisch Lager beziehen lassen und baut es mit Holz aus dem Wald zum Stützpunkt aus. Und Maestro Kanaima überwacht zusammen mit den Steinbruchmeistern die Ergebnisse der Erkundungen, die der Vorstoßtrupp bingt, der von Hauptmann Talrek weiter nach Osten an der Grenze entlang geführt wird. Aber auch von dort meldeten die Boten noch nichts Neues. Weiteren Grenzgängern, Wächtern oder ähnlichen hyaunischen Spähern sind sie bisher noch nicht begegnet. Alles verhält sich ruhig auf dieser Seite des Gebirges, mein König!“
Katthike nickte und entließ den Boten. Langsam aber stetig ging es voran, dachte er zufrieden, beinahe wie von allein. Jetzt mussten sie nur noch zusehen, dass ihnen der Hy-Krieger nicht wegstarb. Er hatte ihn in einen kleinen, sauberen, aber schwer bewachten Raum im Sklavenhaus bringen lassen, wo sein Leibarzt sich um ihn kümmerte. Wieder trommelte Katthike mit den Fingern auf den Stein. Es war gut, dass er Setna fort geschickt hatte, so konnte er kein weiteres Unheil anrichten. Aber warum mussten diese verdammten Hy-Sklaven auch so empfindlich sein! Kaum fasste man sie etwas härter an, da welkten sie schon im nächsten Atemzug dahin wie Mohnblüten nach dem Pflücken. Ein kleines Lächeln stahl sich auf des Königs Lippen. Welch poetische Ader er doch heute hatte.
Al Nor sah wirklich zu komisch aus, fand Raen und verkniff sich ein Kichern. Die Arme und Beine des Hüters der Zukunft waren jetzt ganz die eines Menschen und auch sein Kopf und Hals. Der Rumpf aber war immer noch der eines Pferdes, und am Ende ruckte lustig der Schweif.
„Was erheitert dich?“, fragte Al Nor.
„Deine Gestalt, wenn ich ehrlich bin.“
„Meine Gestalt?“ Al Nor sah an sich herunter „Was ist damit?“
Raen lächelte. „Es ist schön, dich zu sehen. Lange warst du fort.“
„Es ist gut, dass du das sagst, ich hatte schon befürchtet, nicht mehr zu dir dringen zu können. Etwas hat mich davon abgehalten; ein zäher, unsichtbarer Vorhang, der mich nicht durchließ.“
Raen fiel das Rauschmittel ein. Wie ein Schleier legte sich Traurigkeit über sein Gesicht.
„Kannst du mir nicht helfen?“, flehte er.
„Wie soll ich das denn tun?“
„Bring mich zu Zaizura, und ich lasse mich von ihr töten. Nur so kann ich dem hier entkommen.“
Al Nor schüttelte seinen Kopf. „Nein, mein junger Krieger, du musst an deine Aufgabe denken!“
„Was denn noch für eine Aufgabe? Ich bin hier gefesselt und gekettet, inmitten des Feindes Schoß. Was soll ich denn noch tun können? Es gibt keine Hoffnung für mich und auch keine Errettung! Alles, was mir noch bleibt, ist, auf den Tod zu warten“
Al Nor runzelte missbilligend die Stirn. „Siehst du es denn nicht?“
Raen funkelte ihn an. „Nein, was zur Hölle, soll ich denn sehen? Sag es mir, denn ich habe keine Geduld mehr! Ich habe es gründlich satt, herumgestoßen zu werden für irgendwelche hehren Ziele! Nein, ich suche den Tod, und es ist nicht recht, mir diesen Wunsch zu verwehren!“
Da verschwand Al Nor plötzlich, war wie vom moosigen Erdboden verschluckt. Raen sah sich um. Überall nur Bäume, hohe Tannen und knorrige Föhren, und das leise Flüstern ihrer Zweige im Wind.
„Al Nor?“, rief er und in diesem Moment erkannte er, dass er seinen letzten Freund verloren hatte. Drückende Einsamkeit erfasste sein Herz. Niedergeschlagen setzte er sich in das weiche Moos und lehnte den Kopf gegen einen Stamm. Jetzt war er wirklich allein, und es war seine eigene Schuld. Verzweiflung begann ihn zu schütteln und weinend umfasste er seine Beine, machte sich mauseklein wie ein frierendes Bettelkind in den verlassenen Straßen von Borgossa.
Es war, als vergingen um ihn herum ganze Jahreszeiten. Wind zerzauste die Bäume, und Regen tränkte den Waldboden; Pilze sprossen und vergingen; das Gras welkte, wurde fahl. Schnee rieselte erst in einzelnen, leisen Flocken, dann in dicht schwärmenden Wolken und bedeckte alles mit dem ruhespendenden Linnen des Winters. Dann kam die Sonne, taute alles weg und ließ einen weiß und gelb getupften Teppich aus Blüten wachsen. Rehe ästen friedlich zwischen lichtbesprenkelten Stämmen. Der Sonnenball stieg höher, das Grün des Grases wurde kräftiger, und trockene Nadeln fielen auf die sommerduftenden Moospolster; schwarze Käfer krabbelten, und rote Ameisen drängelten sich auf ihren Straßen durch das niedrige Unterholz. Und schließlich fegte der kühle Wind wieder alles in seine schützenden Löcher zurück. Es war der Kreislauf des Lebens, der durch die Adern eines jeden Lebewesens quoll und drängte, der alles lenkte und bestimmte. Langsam sah Raen auf, verwittert von der unerschöpflichen Kraft der Jahreszeiten, bewachsen von Kopf bis Fuß mit den grauen Flechten der Zeit, die Tränen versteinert auf seinen Wangen.
In seinen Augen war der Spiegel dessen, was er erblickte. Er hatte das Universum geschaut, die Unabänderlichkeit der Welten.
Plötzlich erwachten all seine Sinne und formten sich zu einem, und mit einem Mal hörte er die Stimme im Stöhnen des Windes:
„Raen, steh auf und sieh deine Fehler, es ist nicht zu spät.“
„Al Nor, bitte zeige mir das Licht der Erkenntnis, und ich will mich dir nicht widersetzen.“
„Du bist nicht ehrlich zu dir selbst. Das ist es, was dich den Verlust deiner Würde so hart spüren lässt. Du betrügst dich selbst, wenn du sagst, dass du sterben willst. In Wahrheit sehnst dich mehr denn je nach dem Leben! Du sagst, du könnest nicht kämpfen, besitzt aber die vortrefflichen Fähigkeiten eines Kriegers. Du vermagst dich in gefesselter Hilflosigkeit wähnen, kannst aber mehr bewegen, als du bereit bist, dir zuzutrauen. Du verleugnest, was du bist!“
„Aber, was bin ich denn noch?“ Flehend hob Raen beide Hände. Die Flechten knarrten auf seiner Haut.
„Höre, Selbstmitleid steht einem Erwählten nicht an und auch Zweifel an den erhabenen Zielen nicht. Steh also auf, entzünde die Flamme deines Lebensmutes neu und erfülle, was dir aufgetragen ist! Geh deinen Weg bis zu seinem Ende. Erhebe deinen von den höheren Mächten geweihten Arm und kämpfe, Krieger Hyauns! Strafe nicht das Opfer derer, die ihr Leben dafür gegeben haben, Zaizuras sechs Augen von dir abzubringen! Steh auf! Steh auf! STEH AUF!“
Ein Ruck durchfuhr Raen. Er spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte, und Leben in seine erkalteten Finger floss.
„Ja, ich tue es!“, rief er fest entschlossen und öffnete die Augen. „Ich werde es tun!“
„Oh, er ist wach“, hörte er jemanden sagen und er drehte den Kopf in die Richtung, aus der es gekommen war. Ein alter, weißbärtiger Mann mit Runzeln überall in seinem Gesicht saß neben ihm und schaute ihn verwundert an. Raen wollte sich erheben, doch der Alte hielt ihn zurück.
„Bleib liegen, du hattest schweres Fieber, du kannst nicht einfach so aufstehen.“
„Wie lange?“, fragte Raen bemüht in Askhari.
„Beinahe zwei Wochen!“
Nachdem er sich vom Gröbsten erholt hatte, wurde er jeden Tag einmal auf den Übungsplatz gebracht und von zwei Soldaten mehrmals herumgeführt. Zuerst zitterten seine Beine und wollten immer wieder nachgeben, und ständig musste er verschnaufen, als sei er ein klappriger Greis, doch mit jedem Mal wurde es ein Stück besser, und seine Muskeln gewöhnten sich bald wieder an sein Gewicht. Die Askharer behandelten ihn erstaunlich gut, gaben ihm dreimal am Tag fettes Essen und betteten ihn behutsam auf frische Laken. Es kam ihm so vor, als päppelten sie ihn auf wie ein krankes Fohlen, und er wunderte sich über die Mühe, die sie sich mit ihm machten. Aber schließlich hatte der König ja auch eine Menge Gold führ ihn bezahlt! Mit einem Schulterzucken nahm er es hin, so würde er wenigstens schneller wieder zu Kräften kommen.
Eines Morgens, er war gerade dabei, sich in einem Eimer sein Gesicht zu waschen, betrat ein unerwarteter Gast sein Zimmer. So früh war es noch kühl in den Räumen des Sklavenhauses, aber der Anblick des Mannes mit der schwarzen Kappe ließ Raen augenblicklich Hitze sprühen wie ein Eisen, das zu lange im Schmiedefeuer gewesen war. Überrascht stieß er Luft aus. Seine Augen fixierten den Gegner kalt und im nächsten Moment sprang er los. Er hechtete quer über eine Bank, die polternd umfiel, landete geschmeidig unmittelbar vor der verhassten Person auf beiden Füßen und richtete sich langsam auf.
Der Verräter Lata lächelte ruhig. Hinter ihm tauchten mehrere Leibgardisten auf.
„Ah, die Krähe lebt noch und sie hat wieder fliegen gelernt“, war die schlichte Bemerkung des älteren Hy.
Ohne Vorwarnung warf Raen sich auf ihn. Doch die Leibwächter waren schneller. Sie packten seine Arme, drehten sie ihm auf den Rücken und zerrten ihn von Lata fort.
„Lasst mich!“, schrie Raen auf Hyaunisch und wehrte sich vergeblich gegen den würgenden Griff, der sich um seinen Hals legte. „Lata, du elender Verräter, ich werde dich töten!“
„Danke, das war es, was ich wissen wollte.“ Der Ältere strich sich die Stelle des Gewandes glatt, in die Raen seine Fingernägel gekrallt hatte. „Legt ihm wieder die Fesseln an, sonst hackt die Krähe noch jemandem ein Auge aus, und dann raus mit ihm! Er hat es sich hier lange genug gutgehen lassen.“
Die Leibwächter warfen Raen mit dem Bauch auf sein Lager und fesselten ihn. Anschließend zwangen sie ihn mit sich in sein neues Quartier: Ein kahler Raum mit Steinfußboden und einem winzigen, vergitterten Fenster; in einer Ecke etwas Stroh und in der anderen ein Eimer. Das war alles. Die Schonfrist war vorbei.
Raen schlug sich beide Knie blau, als er auf den Boden gestoßen wurde. Hinter ihm fiel die schwere, beschlagene Tür mit einem lauten Krachen zu, und der Riegel schabte ins Schloss. Mühsam setzte er sich auf und blickte zum Fenster über sich hinauf. Das Licht fiel geradewegs auf die Wand ihm gegenüber.
Wieder war ihm der Versuch misslungen, und wieder war er in ein anderes Gefängnis gebracht worden! Wie lange sollte das noch so gehen?
Still betete er um Kraft, bat Al Nor und Hyaun um ihren Beistand und beteuerte immer wieder sein Bemühen. Die goldene Pfeilspitze hatte ihn hierher gebracht und er würde tun, was sie verlangte.
Die Nacht auf dem Stroh war ungewohnt hart, und er machte kaum ein Auge zu. Das Mondlicht fiel hell durch das Gitter des Fensters, und Raen fragte sich, welcher Monat gerade war. Er fuhr sich über die verheilte Narbe am Ohr und dann durch sein Haar, das inzwischen ein wirrer Schopf war. Das letzte Mal, dass seine Haare länger als Fingerbreit gewesen waren, war mit vierzehn gewesen, dachte er. Hoffentlich würden sie ihm bald eine Schur verpassen, denn das Jucken auf seiner Kopfhaut und der Gedanke an die vielen Läuse darauf machten ihn irr.
Als die Dämmerung sich dadurch bemerkbar machte, dass das Lichtmuster auf der Wand zuerst einen rötlichen, dann einen gelblichen Schimmer annahm, wurde er von zwei Soldaten aus der Zelle geholt.
Sie schickten ihn ohne Waffen in die Arena, in der die gerüsteten Soldaten trainierten. Raen wurde von ihnen hin und her gestoßen. Prallte hart gegen Brustpanzer und Schulterplatten und bekam Schläge mit Eisenhandschuhen und bewehrten Ellenbogen. Er ließ es geschehen und rappelte sich immer wieder auf, wenn es ihn von den Füßen geholt hatte. Bis er plötzlich König Katthike sah, der auf seinem Pferd saß und ihn mit seinen eisblauen Augen beobachtete, neben ihm Schiefnase, ebenfalls hoch zu Ross. Raens Blick streifte etwas Unförmiges, das am Ende einer langen Lanze über den Köpfen der beiden Reiter schwebte. Es hatte lange, schwarze Haare und ..., als er es erkannte, erwachte in ihm Furiosa mit einer solchen Urgewalt aus ihrem Schlafe, dass selbst der Verräter Lata, der oben von der Mauer aus zusah, überrascht durch die Zähne pfiff.
Blitzgewandt wich Raen den Attacken der Soldaten aus und arbeitete sich mit eindrucksvoller Geschwindigkeit zu den beiden Reitern vor. Alle Versuche, ihn zu Fall zu bringen, scheiterten. Es war peinlich anzusehen, wie die Soldaten sich dabei gegenseitig über den Haufen rannten. Mit einem behänden Satz überwand Raen die Schranke, welche den Platz umsäumte, und ehe es einem der Bewaffneten auf diesem Areal gelingen konnte, ihn zu ergreifen, war er vor den König gelangt. Er wähnte sich schon mit seinen Händen um den Hals des verhassten Mannes, als mit einem Mal Schwertmeister Schiefnase vor ihm aufragte und ihn mit einem gekonnt eingesetzten Hebel seiner Schwerscheide von den Füßen holte. Hart schlug Raen mit dem Kinn auf, und seine Zähne schlugen aufeinander. Schon im nächsten Augenblick spürte er das Gewicht des Kerls auf seinem Rücken, der flinker und geschickter reagiert hatte, als er je von einem derart plumpen Mann erwartet hätte.
„Ihr Teufel! Askharische Hundesöhne!“, schrie er und zappelte, doch Schiefnase hielt ihn unerbittlich. „Ich bringe euch alle um! Alle!“ Eine Hand griff in seinen Schopf und riss seinen Kopf hoch, so dass er gezwungen war, dem König ins Gesicht zu sehen, der von seinem Pferd abgestiegen war und auf ihn zugehinkt kam.
„Du willst uns alle töten, he?“, knurrte Katthike zornig.
Raen fletschte als Antwort die Zähne.
„Nun, dann versuche es. Kämpfe in der Arena und beweise, dass es nicht bloß ein hohles Versprechen ist, das du da so leichtfertig von dir schleuderst! Tötest du einen meiner Soldaten, stelle ich dir den nächsten hin, einen aus meiner Leibgarde. Tötest du diesen, so bekommst du einen Capitano, und so weiter und so fort.“ Sein Finger zog einen Bogen durch die Luft und wieder zurück. „Zuletzt aber will ich dir Rebian hier anvertrauen. Er ist der Beste. Solltest du ihn schlagen, so werde ich überlegen, dir das Leben meines Beraters zu schenken, nachdem du so sehr trachtest, wie mir zugetragen wurde. Denn er ist es doch, den du eigentlich morden willst, oder nicht?“
„Bastard!“, brüllte Raen und erntete dafür eine Kopfnuss. Er war außer sich vor Wut.
„Gut“, sage Katthike, „ich nehme das als ein Ja. Gleich morgen kannst du damit beginnen.“
Dann drehte er sich um, hinkte zu seinem Pferd zurück, stieg auf und ritt davon.
Augenblicklich verschwand das Gewicht von Raens Rücken, und er konnte aufstehen. Langsam wandte er sich zu dem Schwertmeister um.
„Wir sehen uns!“, flüsterte Raen und hob einen Finger, mit dem er auf dessen Gesicht zeigte.
„Es wird mir eine Freude sein!“, entgegnete Schiefnase, jedoch verrieten die beiden unüberwindlichen Schilde seiner Augen keinerlei Regung.
Noch einmal sah Raen hinauf zu dem verwesten, von schwarzen Fliegen umschwirrten Pferdekopf. Jakoris Augen waren leere Höhlen, und ihre vertrockneten Lippen waren weit über die gebleckten Zähne zu einem boshaft dämonischen Grinsen zurückgeschrumpft. Dann ließ er sich ohne weitere Gegenwehr von den Soldaten abführen.
Auf dem Rückweg begegnete ihnen im Tor die junge Prinzessin. Auf einem wundervollen, schneeweißen Sturmwind von Hengst kam sie an ihnen vorbeigeritten, und kurz trafen sich ihre Blicke, doch Raen senkte den seinen schnell beschämt. Er wollte nicht, dass sie sein Blut und seine Tränen sah.
Den ersten Soldaten tötete er schon nach wenigen Augenblicken. Der junge Bursche, der wahrscheinlich für den Kampf ausgelost worden war, war kein guter Schwertkämpfer, er lief ihm wie von selbst geradewegs in die Spitze. Raen stieß ihm das Schwert durch den Kehlkopf in den Hals. Ungerührt sah er zu, wie er Junge starb.
Danach wurde er wieder in seine Zelle geführt. Nur einen Kampf am Tag, sagten sie und schlossen die Tür hinter ihm.
Bei seinem nächsten Gegner roch er die Angst in dessen Schweiß. Unsicher trippelte der Kerl vor ihm hin und her, ohne anzugreifen. Kurzentschlossen fällte Raen ihn mit einem einzigen Streich über Schulter und Brust.
Auch der Dritte war kein Virtuose mit dem Schwert. Nach einem gezielten Hieb des Hy landete er im Sand.
Anschließend drehte sich Raen zum König um, der wie immer als Zuschauer hinter den Soldatenreihen auf seinem Pferd saß, und rief wütend: „Wie viele von diesen Kindern muss ich noch töten, um endlich einen richtigen Gegner zu bekommen?“
„So viele, wie ich will!“, rief der König unwirsch zurück und ruckte mit dem Kinn. Die Soldaten stürmten vor und prügelten Raen für ihre getöteten Kameraden grün und blau.
Am nächsten Tag erledigte er mit einem zugeschwollenen Auge und gestauchten Rippen den vierten Mann.
Zwei Wochen lang tötete er einen unerfahrenen Soldaten nach dem anderen, konnte aber bis auf das stetig besser ausgestattete Rüstzeug kaum einen Unterschied zwischen ihnen feststellen. Er wunderte sich, wie zahlreich die unteren Ränge in der Armee der Askharer waren, doch inzwischen war es ihm auch egal, wie viele sie ihm noch vor das Schwert schicken würden. Mit jedem einzelnen würde er stärker werden für den letzten, entscheidenden Kampf.
Am nächsten Morgen hatte er dann endlich einen voll gerüsteten Leibgardisten als Gegner, und es gestaltete sich schon deutlich anspruchsvoller, diesen todbringend zu treffen. Doch Raen hatte ohne Rüstung - er musste jeden Kampf barfuß und nur mit seiner Hose am Leib bestreiten - den Vorteil der Wendigkeit. Er erwischte den Gardisten von hinten in den ungeschützten Kniekehlen und durchtrennte ihm die Sehnen. Hernach war der Todesstoß unter der Helmkante hindurch in den Hals ein Leichtes.
Der Capitano am Tag darauf war zwar kräftig und konnte sich in seiner Rüstung vorzüglich bewegen, doch auch das rettete ihn nicht vor der hyaunischen Präzision. Raens Schwert traf ihn an der Schwachstelle zwischen Brustpanzer und Lendenschutz durch das Kettengeflecht in den Leib. Er verblutete jämmerlich, und sein Blut vermischte sich mit dem seiner Vorgänger, das den Sand an dieser Stelle der Arena schon dunkelbraun verfärbt hatte.
‚Mit Feindesblut getränkte Erde!’, dachte Raen noch berauscht vom Kampf, seine kräftigen, gebräunten Schultern hoben und senkten sich von der vorangegangen Anstrengung. ‚Vergeltung für das viele vergossene Blut meines Volkes!’ Er drehte sich um die eigene Achse und sah in die Runde, das blutige Schwert in seiner Faust. Er würde weitertöten! Jede einzelne dieser verdammten, askharischen Küchenschaben zertreten, bis ihm jemand Einhalt gebot! Mit einem Schrei reckte er das Schwert in die Luft gegen Lata, dessen Miene eisig blieb.
Oben auf der Mauer raunte es. Geld wechselte von einer Hand in die andere. Die Wetten waren entschieden. Sogar Herzöge aus der näheren Umgebung waren binnen weniger Tage angereist, als sie hörten, dass im Palast ein Hy-Krieger turnierte. Und die Sensation wurde noch größer, als einige der hohen Herren begannen, ihre besten Kämpfer anzubieten, um sie gegen den Hy antreten zu lassen - selbstverständlich gegen Geld. Der König hatte nicht lange überlegt und sein Säckchen geöffnet. Es füllte sich schnell, so wie sich die Gruben auf dem Gräberfeld neben dem Tempel füllten.
„Wann bekomme ich endlich Schiefnase?“, protestierte Raen in der Arena erneut laut, nachdem er wieder zwei Wochen hinter sich gebracht hatte, äußerlich weitgehend unversehrt, denn nur einer der Kämpfer hatte ihm einen Schnitt auf der Brust verpassen können. Innerlich aber war er vom Hass erschöpft und abgestumpft. Auf sein grobes Schlachtwerkzeug gestützt stand er da und stierte den König an.
„Wenn du deinen Preis wieder eingebracht hast, Sklave!“, antwortete Katthike sachlich.
„Du sagst das doch nur, weil dein teurer Schwertmeister da Angst hat!“ Raen deutete auf Rebian. „Er scheißt sich doch in die Hose, das kann jeder sehen!“ Er spuckte auf den Boden, um seine Verachtung noch zu verdeutlichen.
Ehe Katthike seinen Schwertmeister davon abhalten konnte, sprang dieser aus dem Sattel und marschierte entschlossen auf Raen zu.
„Wenn du es willst, können wir es jetzt gleich erledigen, hyaunischer Bastard!“, presste er zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor, als sie sich gegenüberstanden.
„Nun, ich warte!“, sagte Raen lächelnd und verlagerte sich in eine Angriffsposition, das Schwert vor sich erhoben. „Komm nur“, lockte er mit der freien Hand herausfordernd.
Ohne zu zögern zog Rebian seine Waffe und richtete sie auf den Hy. Es war eine schöne, leichte Klinge, und sehr scharf, das konnte Raen sehen.
„Halt!“, brüllte der König, und die Soldaten rückten vor, um die beiden zu trennen.
„Nein, Majestät!“, rief Rebian, und die zwei eisengrauen Schilde seiner Augen gerieten für einen Moment in Bewegung. „Ich will ihn jetzt! Ich lasse mich nicht von einem Schweinebauern beleidigen! Gebt mir die Erlaubnis, gegen ihn zu kämpfen!“
Katthike trabte ein paar Schritte heran, hielt aber in sicherer Entfernung. „Nein, Rebian! Ich befehle Euch, zieht Euch zurück!“
„Aber, Majestät! Es ist an der Zeit! Dieser gottlose Hund braucht eine Lektion! Ich fordere das Recht auf Tilgung der Beleidigung durch ein Duell! Mein König, das könnt Ihr mir nicht absprechen.“
„Ihr seid nicht klar im Geist, Rebian. Ihr habt Euch provozieren lassen! Tretet zurück!“, beharrte der König.
„Majestät, ich beschwöre Euch!“
Raen sah, dass Katthike scharf ein und wieder aus atmete. Seine Kiefer mahlten ungehalten. „Nun gut“, lenkte er schließlich ein. „Morgen. Morgen soll der Tag sein! Und jetzt kommt wieder zu Verstand.“
Rebian nickte und warf Raen einen letzten, alles gefrierenden Blick zu, dann steckte er sein Schwert weg.
„Morgen, dreckiges Großmaul, wirst du bluten!“, sagte er und stapfte zu seinem Pferd zurück.
Raen verneigte sich spöttisch und schickte ihm ein böses Lächeln hinterher.
‚Morgen’, dachte er, ‚morgen werde ich dein Leben nehmen und dann das des Königs, und wenn dann noch Zeit bleibt, das des Verräters!’
In der Nacht blieb Raen wach und meditierte. Der letzte Tag war gekommen, er würde keinen Schlaf mehr brauchen! Still betete er zu Hyaun und Al Nor, sie sollten ihn nach der Erfüllung seiner Aufgabe in Frieden aus dieser Welt gehen lassen. Kurz dachte er auch an all die Menschen, die ihn auf seinem Weg begleitet hatten. Tief griff er in seine Erinnerung und ließ sie wieder aufleben, eine nach der anderen. Sein letzter Gedanke aber galt Prinzessin Keï. Sie würde er ganz besonders vermissen, denn sie hatte ihre eigenen Ahnen, ihre eigene Ewigkeit. Bei all den anderen Freunden war es nur ein Abschied auf Zeit, sie würden alle wieder zusammenkommen und sich gegenseitig ihre Namen zurufen, doch Keï würde er niemals mehr wiedersehen.
Am Morgen holten sie ihn noch vor Sonnenaufgang aus seiner Zelle, und wie immer waren sie alle in und um die Arena versammelt: König Huckebein, Schiefnase und diesmal sogar auch Lata zu Pferde, oben auf der Mauer drängte sich die dichte Schar Schaulustiger, darunter erkannte er auch die rothaarige Prinzessin. Sie hatte dort jeden Tag an der gleichen Stelle gestanden, und Raen fragte sich, ob sie freiwillig zuschaute oder ob man sie dazu gezwungen hatte.
Er sah von der Mauer auf die andere Seite des Hofes in den letzten Sonnenaufgang, den er erleben würde; ein roter Streif über der östlichen Außenmauer - daheim in seinem Land ein Symbol für die Hoffnung. Mehrere Atemzüge lang ließ er seinen Blick darauf ruhen, sammelte Kraft und Konzentration, dann sah er zu Schiefnase hinüber, der zwischen seinem König und dem Verräter Lata stand. Er hatte keine Rüstung an.
Ein kleines, beifälliges Lächeln umspielte Raens Mundwinkel. Der Meister hatte in den letzten Wochen gut aufgepasst! Er würde ohne den unnötigen Ballast am Körper kämpfen.
Lässig wog Raen seine Waffe in der Rechten. Ließ sie immer wieder kreisen, um die Gelenke zu lockern. Verglichen mit den hyaunischen Schwertern war diese schartige Klinge ein grobes, schlecht ausgewogenes Stück Metall, aber sie hatte ihm bereits gute Dienste geleistet. Gegen das meisterlich geschmiedete Stück des Schwertmeisters allerdings würde es langsamer sein. Um diesen Mangel auszugleichen, musste Raen also schneller auf den Beinen arbeiten. Er begann auch seine Füße zu lockern. In der milden Luft wurden seine Muskeln schnell warm.
Schließlich trat Schwermeister Rebian unter aufbrandendem Jubel in die Arena. Gemessen schritt er auf Raen zu. Natürlich grüßte er seinen Beleidiger nicht. Während ein Herold den Grund dieses Duells ausrief, betrachtete Raen seinen Gegner mit finsterem Blick.
Der war um einiges älter als er, hatte graue Strähnen zwischen seinen schwarzen langen Haaren, die heute zu einem Zopf gebunden waren. Sein helmloser, quadratischer Schädel saß auf einem breiten Hals, und unter der leichten Kampfkleidung des Askharers zeichnete sich unübersehbar ein muskulöser Körper ab. Die grauen Schilde seiner Augen zu beiden Seiten der verunstalteten Nase musterten ihn ausdruckslos zurück.
Rebian prüfte sein Gegenüber kühlen Blutes und bemerkte, dass der Sklave große Sicherheit ausstrahlte. Der Blick des Hy ließ keinen Zweifel an seiner gewaltigen Willenskraft zu, obwohl seine Gestalt eher jämmerlich anmutete; geradezu lächerlich verletzlich in seiner schmutzigen Hose und seinen nackten Füßen. Doch als Rebian den bloßen Oberkörper des Gefangenen betrachtete, erkannte er die verborgene Kraft in Lunge und Schultern, und er schwor sich, wachsam zu sein. Dies würde der Kampf seines Lebens werden, und er würde diese Gelegenheit nutzen, um noch weiter über sich hinauszuwachsen. Kurz konzentrierte er sich auf seine eigene innere Stärke, schärfte erneut seine Aufmerksamkeit und besann sich auf seinen entscheidenden Vorteil: Er hatte den Hy kämpfen sehen, er kannte dessen Bewegungen und hatte sie aufmerksam studiert. Der Hy jedoch kannte ihn nicht.
Rebian zog sein Schwert und warf die Scheide fort. Von den anfeuernden Rufen der Zuschauer ließ er sich nicht beeindrucken, mit Bedacht setzte er sich in Bewegung und umkreiste den Hy mit größter Gelassenheit, beobachtete jede seiner Regungen genau.
Wie aus dem Nichts ließ er schließlich einen ersten Probeschlag auf die Schulter des Hy niedersausen. Gekonnt wehrte dieser mit seiner plumpen Klinge ab, aber anstatt gleichfalls zum Angriff zu schreiten, ließ er sich wieder in seine untätige Verteidigungshaltung zurücksinken. Noch drei weitere Schläge mit anderen Trefferzonen als Ziel wurden desgleichen vom Schwert des Hy abgelenkt, ohne dass etwas darauf folgte. Seine außergewöhnlichen Fähigkeiten hielt er bis jetzt noch zurück.
„Was ist? Hast du jetzt Manneskraft in der Hose oder Schafsköttel?“, versuchte er, den Gefangenen zu provozieren und ließ im nächsten Augenblick eine schwindelerregende Abfolge von Schlägen und Stichen gegen den Hy niedergehen, der sichtlich bemüht schien, den Attacken beizukommen. Aber letztendlich standen sie sich wieder in gleicher Haltung wie zuvor gegenüber, ohne dass geschliffenes Metall auf irgendein Körperteil getroffen wäre. Nur der aufgewirbelte Sand zeugte von der vorangegangenen Bewegung.
Im Gesicht des Hy waren nicht die geringsten Anzeichen von Anstrengung zu erkennen. Rebian hingegen spürte, dass er selbst bereits etwas tiefer atmete. Der kalte, durchdringende Blick des Gefangenen stieß unentwegt in den seinen, aber er wartete ruhig ab.
Dann stieg erneut eine Staubwolke auf, und das Schwert des Hy traf auf das Metall Rebians, der seinerseits den Stahl des Gegners abgleiten ließ und die Energie zum Kontern nutzte. Bewusst verfehlte er die Schulter des Hy, blockierte dessen Schwert, trat einen schnellen Schritt vor und rammte ihm den Ellenbogen auf das Brustbein.
Dem Hy blieb die Luft weg. Taumelnd und mit schmerzverzerrtem Gesicht entfernte er sich von Rebian und rang nach Atem, eine Hand auf die Brust gepresst.
War das alles, was der Kerl drauf hatte? Rebian fühlte Enttäuschung in sich aufsteigen. Der ach so unüberwindbare Schwertstil der Hy schien entzaubert.
‚Die kochen auch nur mit Wasser‘, dachte er und wollte die Schwächung seines Gegners ausnutzen. Er stürmte auf ihn zu, den Arm erhoben zum tödlichen Streich. Jetzt würde er es allen zeigen. Die Hy waren nicht unbesiegbar!
Er schlug zu.
Doch der Hy war nicht mehr da!
Was zum Teufel ...?
Schnell drehte er sich um die eigene Achse und sah ihn …
Er stand direkt hinter ihm im grellroten Licht der Sonne, die sich gerade über die Mauer erhob. Noch bevor Rebian sich fragen konnte, wie der Hy dorthin gekommen war, hörte er etwas durch die Luft zischen. Er hob sein Schwert, um es abzuwehren. Aber kein Klirren der aufeinander treffenden Klingen ertönte.
Im nächsten Moment erkannte Rebian, dass der Hy ihn anlächelte. Der Kerl hatte seinen Schwertgriff fest mit beiden Händen gepackt und die Waffe rotglänzend wie die Sonne in die klare Morgenluft gehoben. Langsam schien der Hy in den Himmel zu wachsen, immer größer wurde er.
Was zum Teufel?
Rebians verwirrter Blick fiel auf die Reihe der Soldaten hinter dem Hy, ihre Augen und Münder waren weit geöffnet. Erstaunen? Entsetzen?
Er spürte, wie der Boden näher kam, wie er an ihm saugte und zog. Schwer wie ein Stein fühlte er sich mit einem Mal und seltsam müde. So müde.
Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Die grauen Schilde zersplitterten, und der Blasebalg seiner Lungen stand still.
Fassungslos starrten alle Anwesenden auf die beiden Kämpfer. Im Sand der Arena lag der große Meister der askharischen Schwertkunst mit aufgeschlitztem Unterleib. Blut und Eingeweide quollen aus der klaffenden Wunde, und seine Augen blickten in ungläubiger Erkenntnis ins Leere. Der Sieger stand regungslos und mit gesenktem Kopf über ihm.
Keiner rührte sich. Alles war wie erstarrt. Selbst der Staub verharrte scheinbar bewegungslos in der Luft. Und noch bevor die Welt einen weiteren Atemzug nehmen konnte, schoss ein menschlicher Blitz durch die Luft, überwand mit einem tollkühnen Sprung die Reihe der Soldaten und fegte weiter auf die beiden Reiter zu.
Raen hatte die Bewegungsunfähigkeit seiner Beobachter ausgenutzt und wollte nun beenden, was mit der Prophezeiung begonnen hatte.
Er sah die entsetzten Gesichter der beiden Männer hoch zu Ross. Sah die helle Panik in ihren Augen. Hastig versuchte der König sein Pferd zu wenden. Lata aber saß nach wie vor vom Schreck gelähmt da.
Nur noch zehn Schritte trennten Raen von seinem Ziel. Doch Verfolger waren ihm dicht auf den Fersen, das hörte er. Mit dem Schwert Rebians, das er dem Toten entwunden hatte, holte er aus und zielte damit auf das Herz seines ärgsten Feindes. Die Schatten der Leibwächter flogen zu seiner Rechten heran. Raen sprang und hob ab, doch der erste Kerl erwischte ihn und er wurde jäh zurückgeschleudert. Hart prallte er auf die Erde. Das Schwert aber sauste kraftvoll weiter in die ihm vorbestimmte Richtung!
Raen riss seinen Kopf hoch. Er musste sehen, was geschah!
Doch zwei weitere dunkle Schatten in metallenen Panzern kamen auf ihn zugestürzt und verdeckten ihm die Sicht.
Plötzlich ließ ein einziger spitzer Schrei die Luft erzittern, und dann war Stille.
Nur das Fluchen und Keuchen der Männer auf seinem Rücken war noch zu hören. Brutal hielten sie ihn in den Staub gedrückt. Metall quetschte seine Haut, und Gelenke wurde über die Maßen gedehnt, doch der Schmerz war ihm gleichgültig.
Er lächelte.
‚Ich habe ihn erwischt! Ich habe es geschafft!’, dachte er, und es war das Einzige, was für ihn jetzt noch zählte. Der Rest war Zaizuras Gutdünken.
Er war bereit.
„Schlagt ihn tot! Schlagt den Bastard tot! Nein, geht zur Seite, ich werde ihn selbst totschlagen!“ Es war die wutschrille Stimme des Königs und sie fuhr Raen ins Ohr wie spitze Dolche. Aber er hatte das Schwert doch gegen den König geworfen!
Heiß schoss ihm das Entsetzen durch die Glieder. Hatte er in seinem blinden Hass den Falschen erwischt?
Oh, Al Nor, oh, Hyaun! Wie hatten sie nur zulassen können, dass er sich von persönlichen Rachegefühlen die Hand hatte führen lassen?
Unvermittelt spürte er Schmerz, er drang bis in seine letzte Faser, und sein Körper verkrampfte sich. Verschwommen nahm Raen wahr, wie der König zwischen die beiden Soldaten trat. Katthike rang sichtbar um Atem.
„Gebt mir ein Messer!“, zischte er mit wutbebender Stimme.
Raen hörte auf, sich zu wehren und ergab sich. Endlich!
‚Bitte, lasst mich gehen!’, flehte er stumm zu Al Nor und Hyaun, schloss die Augen und legte seinen Kopf in den Sand. ‚Lasst mich gehen, auch wenn ich versagt habe. Ich bin Euch nicht länger würdig.’
Er hörte den König ein letztes Mal fluchen, und dann spürte Raen das Messer!
Seine Lider zuckten, als er den Schmerz fühlte. Aber warum, verletzte ihn der König am Fuß? Wollte er ihn nicht endlich töten?
Als das Erhoffte noch immer ausblieb, hob er den Kopf.
Der König hatte sich wieder erhoben und stand nun breitbeinig vor ihm. Blut tropfte von der schmalen Klinge des Messers in den Sand.
‚Bitte, tötet mich doch endlich!‘, wollte er ihn anflehen, doch Katthike machte eine befehlende Geste mit der Hand und rief:
„Nehmt ihn mit und foltert ihn! Ich will ihn nicht mehr sehen! Wenn er geredet hat, verkauft ihn. Sollte er vorher sterben, verfüttert ihn an die Schweine!“
Die Soldaten gehorchten und hoben Raen auf, der nur langsam begriff, dass sie ihn am Leben lassen wollten.
‚Warum?’, protestierte sein Geist träge, während er fortgeschleift wurde. ‚Warum? Oh, hätte ich das Schwert doch besser gegen mich selbst gerichtet!’
Die Tochter Altibors blickte noch immer entsetzt hinab in die Arena. Entsetzt, aber nicht etwa wegen des blutigen Schauspiels oder der beiden Toten, die es gegeben hatte, sondern wegen ihrer eigenen Gefühle. Ihr Herz hüpfte aufgeregt vor Entzücken, weil den Askharern dort unten eine solch unbeschreibliche Demütigung verpasst worden war, dass selbst die Götter oben in ihrem himmlischen Sitz darüber ein Lachen anstimmen mussten. Endlich einmal war der menschenverachtende Hochmut des Königs gestraft worden! Endlich einmal hatte ihm jemand sein selbstgefälliges Lächeln aus dem Gesicht gewischt und ihm eine Zinne aus seiner verfilzten Regierungsriege geschlagen. Ein schmutziger Sklave hatte ihnen allen gezeigt, dass sie keine gottähnlichen Wesen, sondern auch nur gewöhnliche Sterbliche waren!
Aber neben ihrer Freude bedauerte die Prinzessin auch den Gefangenen, der jetzt mit sicherer Gewissheit in irgendeinem dunklen Loch verschwinden und gefoltert werden würde. Wenn sie doch nur etwas Vermögen besäße, so würde sie ihn kaufen, doch bis auf ihren Titel besaß sie nichts. Sie war ärmer als ein Bauer, der wenigstens noch seine Scholle bestellen konnte. Sie aber hatte nicht einmal mehr ihren angestammten Boden unter den Füßen, auf dem sie geboren worden war, sie war ein Pfand zwischen zwei Mächten und zur dümmlichen Untätigkeit aller adligen Frauen verdammt.
In innerer Rebellion auf ihrer Unterlippe herum kauend sah sie zu, wie die Soldaten den Sklaven fortschleppten. Wahrscheinlich würde sie ihn nie wieder zu Gesicht bekommen.
„Kommt lieber, Prinzessin, das ist kein Anblick für Euch“, hörte sie ihre Kammerfrau neben sich sagen, schüttelte deren stützende Hand aber ab. Sie würde tun, was sie wollte und nicht, was ihr ein altjungferliches, askharisches Kindermädchen sagte.
Die Kammerfrau versuchte es noch einmal, doch Isabylla ignorierte sie. ‚Zum Teufel mit dir, du zahnlose Wachhündin!’, fluchte sie im Stillen und schwor sich, wenn die Alte sie noch einmal berühren sollte, sie die Mauer hinunterzutreten.
Die Frau tat es nicht.
Gut für sie!
Unten in der Arena wurden derweil die Leichen des Schwertmeisters und des Obersten Beraters Lata auf Bahren gelegt und in einer traurigen kleinen Prozession zum Tor hinauf getragen. Das Schwert des Hy hatte den Konsultas mitten in die Brust getroffen. Noch immer hielten seine starren Finger den Stahl umklammert.
Isabylla fragte sich, warum der Sklave ausgerechnet ihn und nicht den König getötet hatte. Ihre Augen verfolgten die Bahre mit dem toten Berater, und tief in ihrem Innern bedauerte sie es, dass nicht der König an dessen Stelle lag. Tränen stahlen sich in ihren Blick. Tränen des Zorns. Und beinahe schämte sie sich für dieses kalte Gefühl, das sich ihn ihrer Brust ausgebreitete. Bevor sie nach Askhar gekommen war, hätte sie nicht einmal im Traum daran geglaubt, dass sie zu derlei Regungen fähig sein konnte. Aber das war ein anderes Leben gewesen. Jetzt war sie eine Geisel dieses verabscheuungswürdigen Volkes, gehörte zum Besitz jener kaltblütigen und herzlosen Kreatur, die sich des Nachts immer wieder gewaltsam in ihr Bett drängte. Im Grunde, so empfand sie bei all ihrem Elend, erging es ihr auch nicht viel besser als dem Sklaven. Und wenn sie ein Schwert erheben könnte, so würde sie tun, was der Sklave getan hatte, doch dafür fehlte ihr der Mut eines Mannes.
Isabylla wusste nicht warum, aber es war ein Glück des Himmels, dass sie noch kein Kind von diesem Scheusal Setna in sich trug, und sie ertappte sich wie so oft schon bei dem heimlichen Wunsch, der Prinz möge im Felde fallen oder es solle ihm sonst irgendein Unglück zustoßen. Dann würde der andere, der richtige Prinz, Maestro Kanaima, sie zu seiner Gemahlin machen. Doch das alles waren nur Luftschlösser, denen sie noch verzweifelt nachjagen würde, bis sie entweder alt und grau wäre, oder sie mit zerschmettertem Rückgrat unten auf dem Hofpflaster läge.
Die Nachricht von Meister Rebians und Konsultas Latas scheußlichem Tod erreichte ihn, als er im Hafen von Neue Erde auf die Fähre nach Askhar wartete. Kanaima hörte, wie eine Handvoll Wachsoldaten, die gerade bei ihrem Mittagsmahl saßen, davon redeten. Eiskalt lief es ihm über den Rücken, und er schlenderte mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze unauffällig weiter, bis er eine Gasse fand, in der er unbeobachtet war. Dort stützte er sich an einer Hauswand ab und bemühte sich, sein Zittern wieder in den Griff zu bekommen.
Rebian tot? Auf diesen Verlust war er nicht vorbereitet gewesen. Er traf Kanaima tief, denn er kannte Rebian schon seit seiner Kindheit. Er war sein Vorbild, von ihm hatte er seine ersten Schwertparaden gelernt, und nach seiner Rückkehr in den Palast war der Schwertmeister zu einem seiner engsten Verbündeten geworden ... und zu einem echten Freund! Kanaima ballte eine Faust. ‚Verdammt, Rebian’, dachte er, ‚verdammt sei dein Ehrgeiz, der dich schon seit Anbeginn dazu getrieben hat, immer besser sein zu wollen als alle anderen! Es war der Kampf deines Lebens. Nun hast du deinen Meister gefunden! Und jetzt muss ich diesen Kerl auch noch dafür belohnen!’ Kanaima fluchte. Das Orakel wollte ihn wirklich narren! Aber so sollte es nun einmal sein. Unweigerlich musste er an Lata denken, der gleichfalls seinem Schicksal begegnet war. Doch war es um ihn weit weniger schade, als um Rebian. Kanaima spürte sogar Erleichterung, bei dem Gedanken daran, dass Lata nicht mehr war - ein hinterlistiges Wiesel weniger im Palast! Zumindest eines, das trotz seiner täuschend echten Freundlichkeit eine Gefahr für ihn gewesen war. Doch ein Wiesel würde das andere schnell ersetzen, das war bloß eine Frage der Zeit. Und schwer war es nicht, zu erraten, wer Latas Nachfolger werden würde, denn der König pflegte die strenge Hierarchie in seinem Beraterstab einzuhalten. Es war der jüngere Cousin Herzog Kasais, der nun an die Spitze rücken würde, ein unverbesserlicher Pedant und äußerst verbohrter Verfechter der Patriotischen Liga. Und wenn Lata neutral gewesen war und allenfalls zu seinem eigenen Vorteil in jeder Partei mitgemischt hatte, so würde der neue Berater ganz bestimmt einen sehr eindeutigen Kurs fahren!
Kanaima seufzte. Warum nur hatte er diesen verfluchten Hy von Borgossa nach Askhar bringen lassen! Befand er sich nicht auch ohne ihn schon bis über beide Ohren in Schwierigkeiten? Er schlug mit der behandschuhten Faust gegen die Mauer, und Putz rieselte herunter. Das Geräusch ließ ihn an die ewig bröckelnden Hänge des Lek denken und zwangsläufig fiel ihm der letzte Trinkspruch ein, den er und seine Tante einige Wochen vor ihrem Tod ausgebracht hatten: Auf die Freiheit!
Doch so süß und verheißungsvoll, wie dieser Wein damals über seine Zunge geflossen war, so bitter und vergoren schmeckte er heute. Denn inzwischen hatte er erkannt, dass Freiheit nichts als bloße Illusion war! Ein trachtenswerter Zustand, über den Dichter und Schöngeister philosophierten und von dem alle Unfreien in ihrer naiven Art träumten, der aber in Wirklichkeit war er nur ein Trugbild! In Borgossa, ja, da hatte er sich frei gefühlt, frei von seiner Erblast, frei, zu handeln. Hier aber war es, als schienen ihn seine eigenen Erwartungen und die der anderen zu erdrücken, und mit jedem verpesteten Blutstropfen, der in seinen Adern floss, rührte auch die Angst in ihm, eines Tages so zu werden wie sein Vater!
Was würde er darum geben, nur noch ein einziges Mal mit dem Patron sprechen zu können! Ihn nur noch ein Mal um seinen Rat fragen zu können! Er vermisste den väterlichen Freund und es bedrückte ihn, nicht einmal zu wissen, ob er überhaupt noch am Leben war.
Kanaima straffte sich. Noch war nichts verloren.
‚Aber auch noch nichts gewonnen!’, unkte eine kleine böse Stimme in ihm. Nichtsdestotrotz! Er strich sich wieder die Kapuze ins Gesicht, die Fähre wartete. Gewiss hatte sie schon angelegt.
Am nächsten Tag erreichte er den Rand von Askhari-Kaise als gerade die Mittagsstunde ausgerufen wurde. Unerkannt begab er sich an den Ort, den er sich als Ausgangspunkt für seine wahnwitzige Unternehmung auserkoren hatte: Eine windschiefe Kate inmitten des alten Schlachtviertels im Westen der Stadt, das nur noch von äußerst zwielichtigem Gesindel bewohnt und von allen anderen gemieden wurde. In den Gassen stank es ekelerregend, obwohl hier schon lange nicht mehr geschlachtet wurde, und auch die Rinne in der Mitte der Straße war noch immer dunkel verfärbt von all den widerlich dampfenden Körpersäften, die hier einmal in rauen Mengen gen Fluss herunter geronnen waren. Kanaima bemühte sich, flach zu atmen und ging eiligen Schrittes durch den unbeschreiblichen Schmutz der Straßen, sein dunkler Umhang wallte geheimnisvoll hinter ihm her. Niemand kümmerte sich um ihn. Er war ein Schatten unter Schatten. Bevor er die Hütte betrat, die sich zu beiden Seiten wie ein altersschwaches Weib an andere heruntergekommene Behausungen stützte, sah er sich noch einmal gründlich um.
Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, wartete er im Innern mehre Atemzüge still verharrend und stieg dann die morsche Treppe hinauf, in der Hoffnung, alles so vorbereitet vorzufinden, wie er es angeordnet hatte.
Raen spürte, dass er angestoßen wurde. Immer wieder. Sein Kopf pendelte kraftlos hin und her, aber er wollte seine Augen nicht öffnen. Er wollte überhaut nichts mehr. Wieder ein Schütteln an der Schulter. War es überhaupt seine Schulter? Er hatte kaum noch ein Gefühl in seinem Körper.
‚Lasst mich doch schlafen - Schlaf ist so ähnlich wie Tod.’ Bestimmt wollten sie ihn nur wieder quälen mit ihren raffinierten kleinen Werkzeugen und ihren lästigen Fragen. Nur, was würden sie tun, wenn er nicht mehr aufwachte? Er würde einfach weiterschlafen und irgendwann nichts mehr spüren von dem, was sie ihm antaten.
Das Rütteln wurde noch drängender, und sein Kopf schlug gegen die Wand hinter ihm.
„Verflucht noch mal, wach endlich auf!“
Es war keine von den ihm bekannten Stimmen. Vielleicht sollte er doch nachsehen. Er versuchte es, doch seine Lider waren schwer wie ganze Erzminen.
Er bekam eine Ohrfeige, und darauf gleich noch eine! Seine Augen flogen auf, aber es dauerte ein halbes Jahrhundert, bis sie sich an das Fackellicht gewöhnt hatten. Vor ihm kniete der geheimnisvolle Besucher mit der Kapuze.
‚Den kenne ich doch‘, erinnerte Raen sich dunkel. Aber das war lange, lange her ...
Sein Kopf wollte wieder zur Seite sacken, doch der Fremde hielt ihn auf.
„Na endlich!“, sagte dessen Stimme wie von weiter Ferne und zerrte Raen gegen seinen Willen hoch. „Los auf die Beine, wir haben keine Zeit.“
„Nein, ich kann n-nicht. Lass m-mich hier“, protestierte Raen, seine Zunge hatte lange keine Worte mehr geformt, nur Schreie verbissen.
„Tut mir leid, den Wunsch kann ich dir leider nicht erfüllen. Los jetzt!“
Raen spürte wie er unsanft gepackt, über die Schulter des merkwürdigen Besuchers geworfen und einfach davongetragen wurde als sei er eine Puppe aus Stroh. Aus seiner auf den Kopf gestellten Perspektive sah er mehrere leblose Körper vor seiner Zellentür liegen. Es waren seine Wächter!
Leise fluchend stieg der Kerl unter ihm die schmale Wendeltreppe hinauf. Oben lagen noch weitere Tote. Im Dunkel der Nacht schlüpfte de Mann mit der Kapuze aus der Tür und über den Hof. Zu seiner Rechten konnte Raen die Umrisse des Inneren Tores erkennen. Dann verschwanden sie in einem der dicken Wehrtürme der Mauer. Dasselbe Fluchen ertönte, und eine ähnlich enge Treppe mit schlüpfrigen Stufen folgte, nur dass es diesmal abwärts ging. Dann verlor er das Bewusstsein.
Er erwachte erst wieder, als er ein kühles Tuch auf seinem Gesicht fühlte. Ohne Erinnerung schlug er die Augen auf. Er war in einem Raum, der nicht seine Zelle war, und er lag auf einem Bett. Jemand hatte die Fensterläden geöffnet, und Sonnenlicht fiel herein. Raen hob seine Hände. Keine Fesseln und seine Wunden waren sauber verbunden.
„Kannst du gehen?“
Sein Kopf fuhr herum. In einer Ecke des Raumes saß eine dunkle Gestalt. Eine Kapuze verhüllte ihr Gesicht. Ein vages Erkennen streifte ihn.
„Ich weiß nicht“, antwortete er.
„Dann versuch es, wir müssen noch heute hier weg, und ich kann dich nicht ewig tragen!“
Raen stemmte sich hoch, um die rätselhafte Gestalt besser betrachten zu können. „Wer bist du?“
„Bleib vom Fenster weg!“, war alles, was der Kerl antwortete, bevor er das Zimmer verließ.
Verwundert starrte Raen auf die Tür, dann setzte er sich auf die Bettkante und bewegte bedächtig ein Körperteil nach dem anderen, auch wenn er sich eigentlich nicht danach fühlte. Aber es schien noch alles zu funktionieren wie es sollte, bis er zu seinem linken Fuß kam. Er steckte in einem festen Verband. Wahrscheinlich verstaucht, dachte er und stand lahm wie ein betagter Greis auf. Zuerst setzte er den gesunden Fuß auf und dann den linken, aber schon nach dem ersten Schritt kam der Schmerz, und beinahe wäre er gestürzt. Er hielt sich an der Tür des Alkovens fest, die Zähne fest aufeinander gebissen. Was zur Hölle ...? Es war kaum Kraft darin. Schnell setzte er sich auf das Bett zurück und wickelte ungeduldig den Verband vom Knöchel.
Als das Leinen den Blick freigab, kam die Erinnerung zusammen mit einer Welle Übelkeit, und im nächsten Moment lag Raen heftig atmend auf dem Laken, den bläulich verfärbten Fuß mit der frischen Narbe quer über der Fersensehne weit von sich fortgestreckt. Sie hatten ihn verstümmelt!
Er würde nie wieder richtig laufen können! Unauslöschlich hatten sie ihr Siegel auf ihm hinterlassen. Ein gequälter Schrei der Wut drang aus seiner Kehle, und die Hände auf die Stirn gepresst, bemühte er sich, seine aufsteigende Verzweiflung unter Kontrolle zu bringen.
„Warum hast du den Verband abgemacht?“, ertönte es schroff von der Tür her.
Raen hob schnell die Hände vom Gesicht. Der Fremde sollte nicht sehen, wie sehr es ihn erschütterte. Mit wenigen großen Schritten war der Kerl neben dem Bett und sah im Schatten seiner Kapuze auf ihn hinab.
„Verdammt, schleich dich ja nicht wieder so an!“, keifte Raen und schlug mit der Faust auf das Bett. „Kennt ihr Askharer eigentlich keine Rücksicht?“ Sein Schreck schlug in Zorn um, und er beschimpfte den Fremden kräftig.
„Dein Askhari ist sehr viel besser geworden!“, bemerkte dieser anschließend trocken.
„Wärmsten Dank. Das habe ich von euren Kerkermeistern. Sie waren stets sehr plauderhaft.“ Böse funkelte Raen in das Dunkel unter der Kapuze. „Hast du auch ein Gesicht? Oder soll ich dich einfach ‚Kapuze’ nennen?“, fragte er gehässig.
Der Fremde schlug den Mantel zurück, und Raens Blick weitete sich überrascht. Er trug eine Maske! Sie war aus geformten Leder mit Silberbeschlägen und wurde mit zwei Riemen am Hinterkopf festgehalten, wo die Haare des Fremden ordentlich zusammengebunden waren.
„Nenn mich Meister, das reicht. So, und jetzt gib mir deinen Fuß, ich verbinde ihn neu.“
Nur zögerlich legte Raen den Fuß auf das Bett und sah misstrauisch dabei zu, wie der Maskierte ihn wieder fest verschnürte.
„Das wird den Fuß ein wenig stützen. Mehr kann ich nicht für dich tun. Der Sklavenschnitt ist nicht rückgängig zu machen!“
„Danke“, murrte Raen, und verbarg seine Niedergeschlagenheit hinter wohlerwogener Abneigung. Ein wenig Vorsicht konnte nicht schaden, denn er wusste ja nicht einmal, was dieser Kerl eigentlich mit ihm vorhatte. Vielleicht wollte er ihm gar nicht helfen, sondern nur wieder für einen Haufen Gold verkaufen.
„Und jetzt versuche, damit zu laufen“, forderte der Maskiert ihn auf.
Entschlossen, sich keine Blöße zu geben, erhob sich Raen erneut und begann schwankend einen Fuß vor den anderen zu setzen. Es ging, aber bei der ungewohnten Anstrengung brach ihm schnell der Schweiß aus. Er biss sich auf die Unterlippe und zwang sich, weiterzugehen. Mehrere Runden hinkte er durch das Zimmer, das Fenster wohlweißlich meidend.
„Gut“, beschied der Maskierte brummig. „Der Schmerz wird bald nachlassen. Das Hinken aber nicht. Stell dich darauf ein. Wir werden Pferde haben, falls es dich beruhigt.“
Falls es ihn beruhigte? Das hier war alles andere als beruhigend!
„Was hast du mit mir vor?“, fragte Raen von der anderen Seite des Raumes.
„Ich bringe dich fort.“
„Fort? Wohin?“
„In deine Heimat!“
Raen lachte trocken. „Warum?“
Er bekam keine Antwort, überlegte kurz und nickte dann. Damit konnte er leben. „Und wo sind wir jetzt?“
„Neue Erde in Neu-Askhar.“ Der Fremde sah offenbar Raens Stirnrunzeln, denn er fügte hinzu: „Ehemals hyaunische Küste am Alten Grenzmeer. Eine Fähre hat uns heute Morgen übergesetzt. Und jetzt iss etwas, wenn es dunkel wird, brechen wir auf. Wir werden als Herr und Diener reisen.“
In seinen neuen Kleidern am Leib fühlte Raen sich schon um einiges besser. Es war ein schlichter brauner Kittel, den ein Gürtel um seine Hüften zusammenhielt, und ein Paar Beinlinge. Sklaventracht. Aber seit langem hatte er mal wieder Schuhe und Reisegamaschen an und musste nicht barfuß laufen. Seinen Kopf zierte ein mehrmals gewundenes Tuch, wie es in Askhar als Sonnen- und Staubschutz benutzt wurde. Das lose Ende konnte man sich vor Mund und Nase binden und außerdem - was der eigentliche Grund war - verdeckte es das verräterische Aun.
Nachdem die Sonne über den abgeernteten und frisch umgepflügten Feldern der sanft gewellten Landschaft versunken war, hatten sie die Hafenstadt in Richtung Westen verlassen. Raen hatte etwas Probleme gehabt, auf das Pferd zu kommen, denn mit der durchschnittenen Fersensehne konnte er sich weder abstoßen noch im Steigbügel hochstemmen. So musste er sich unwürdig nur mit Armkraft in den Sattel ziehen.
Ohne auch nur einmal über die Schulter zu schauen, folgte er seinem Helfer in die Nacht. Die Straßen waren in gutem Zustand, und so kamen sie schnell voran. Doch statt neu gewonnener Hoffnung, dem Verließ entkommen zu sein, beschwerte tiefe Traurigkeit sein Herz, und betrübt versank er in seine Gedanken, als er durch das Land ritt, das einmal die fruchtbare Erde seiner Vorväter gewesen war.
Am Morgen desselben Tages waren fern im Palast zu Askhari-Kaise die toten Wächter und die offene Zellentür entdeckt worden. Allzu ironisch fühlte sich König Katthike, der unsanft aus seinem Schlaf gerissen worden war, an jenen Tag vor über zwei Dekaden erinnert, als er an genau derselben Stelle des Verlieses über einem Hy-Krieger gestanden hatte, dem ein Jünger Soghuls zum Tode verholfen hatte.
Doch seit Monaten war kein Weißling im Palast gewesen. Wer also hatte diesmal diese infame Tat begangen?
Katthike schäumte rotglühend, witterte einen weit größeren Komplott als beim vorangegangenen Mal und raste, bereits angeschlagen durch den Tod Latas und Rebians, von einem Wutausbruch in den nächsten. Zum zweiten Mal war unter seinen Augen ein wertvoller Gefangener getötet oder entführt worden! Zum zweiten Mal waren irgendwelche verruchten Kerle hier in den Palast eingedrungen und hatten seine Wächter beseitigt! Wieder hatte man ihn zum Narren gehalten. Ihn!
In seiner blinden Wut verpasste es Katthike jedoch, seinen neuen Berater gleich damit zu beauftragen, im gesamten Reich Großsuche ausrufen zu lassen. Und da die Mehrzahl seiner erfahrensten strategischen Köpfe, die an seiner statt Entschlusskraft hätten zeigen können, sich an der Grenze aufhielt, war es bereits Abend, als die ersten Boten Askhari-Kaise verließen.
Der Maskierte kannte sich gut in den neuen Provinzen seines Landes aus, denn er führte Raen kundig der Orte, die sie zu meiden hatten, durch die Nächte. Tagsüber versteckten sie sich in verlassenen Scheunen oder Wäldchen und ruhten.
Doch der Fremde sprach kaum ein Wort und schien auch sonst nicht gut aufgelegt zu sein. Recht einsilbig gab er Anweisung und Antwort, wenn Raen sich nach etwas erkundigte, was selten genug vorkam. Aber die Fragen brannten in ihm, allen voran das Rätsel, wer wohl dieser seltsame Mann sein mochte, und warum er ihm half?
In heimlichen Momenten, die sich oft ergaben, wenn sie im hellen Tageslicht schliefen, betrachtete er den Maskierten und versuchte sich zusammenzureimen, was für ein Mensch das war. Die Kleidung seines Helfers war gleichsam schlicht wie elegant, die eines Handelsmannes vielleicht, und er schien älter als er selbst zu sein. Der Kerl war nicht besonders groß, seine Gestalt aber wirkte athletisch, und Raen meinte die falkenhafte Wachsamkeit eines erprobten Kämpfers in dessen aufrechtem Gang erkennen zu können. Dennoch waren keinerlei Waffen bei ihm zu entdecken. Nicht einmal ein Messer trug er am Gürtel. Kurz überlegte der Hy, ob er in der Lage sein würde, ihn zu überwältigen, doch dann ließ er von dem Gedanken ab. Er war von dem Kerl abhängig, ob er es wollte oder nicht. Mitten im Feindesland würde er dessen Hilfe dringend brauchen, um heil bis zur Grenze zu finden. Aber er könnte wenigstens versuchen, ihm im Schlaf die Maske herunterzunehmen ...
Leise rollte sich Raen von seinem Lager und kroch auf allen vieren zu dem tief schlummernden Maskierten hinüber. Er war bereits über ihn gebeugt und hatte die Hand an der Maske, als die Pferde unruhig schnaubten. Regungslos verharrte Raen und horchte in den Wald hinein, doch nichts war weiter zu hören.
Als er wieder nach unten sah, blickten ihn die kristallklaren, blauen Augen des Maskierten durch die Augenschlitze seiner Maske an. Erschrocken fuhr Raen zurück und ehe er sich versah, hatte er auch schon eine kalte Klinge an seiner Kehle. Woher war die gekommen?
„Wenn du das noch einmal versuchst“, zischte der Maskierte kalt, „dann werde ich dir auch noch die andere Fersensehne durchschneiden und dich wieder fesseln! Es ist zu deinem und meinem Schutz, dass du mein Gesicht nicht kennst. Schließlich riskiere ich mein Leben für dich verdammten Schweinehirten! Hast du das verstanden?“
Raen nickte langsam und fluchte innerlich über seine Ungeschicktheit.
„Spar dir deine Kräfte lieber auf, du wirst sie noch bitter brauchen!“, knurrte der Maskierte und stieß Raen weg.
Der kroch unverrichteter Dinge wieder zurück auf seinen Schlafplatz und rollte sich zusammen. Er hatte den Kerl unterschätzt. Ein wahrer Krieger lässt sich nicht einfach so überrumpeln. Das hätte er wissen müssen.
In der Abenddämmerung wachte Raen zerrüttet auf und sah, dass der Maskierte die Pferde bereits beladen hatte. So schnell es ging, quälte er sich hoch und humpelte zu ihm hinüber.
„Wir müssen weiter! Von jetzt an werden wir uns nicht mehr allzu viele Pausen erlauben können und, soweit es möglich ist, Tag und Nacht reiten!“ Damit schwang sich der Maskierte aufs Pferd und wartete ungeduldig, bis Raen ungeschickt auf das seine geklettert war. Im letzten Licht des Tages ritten sie los, immer weiter nach Nordwesten.
Am nächsten Morgen nach einem langen, anstrengenden Ritt beschien die Sonne warm die beiden Rücken der müden Reiter, und der Maskierte sprach das erste Mal, seit sie ihr Lager verlassen hatten.
„Wir kommen gleich zu einem abgelegenen Weghaus, wo wir Rast machen und den Pferden etwas Ruhe gönnen werden. Zum Sonnenuntergang müssen wir bereits in Tedan an der Gabelung der beiden großen Flüsse aus dem Westen sein, wo wir unsere Pferde gegen frische tauschen werden.“
Raen entgegnete darauf nichts. Er wurde erst aus seiner Erschöpfung gerissen, als das Weghaus in Sicht kam. Es war ein ehemaliger hyaunischer Bauernhof mit seinem charakteristischen, quadratischen Grundriss.
Sie ritten durch das Tor in den Innenhof und noch bevor sie abgestiegen waren, kam der Wirt heraus, erstaunt über diese frühen Gäste. Er grüßte beinahe etwas zu höflich. Raen schwieg, wie der Maskierte es ihm geraten hatte. Aber er hätte sich auch für jedes Wort quälen müssen, so müde war er.
Die Pferde bekamen Wasser und Futter, und die beiden Flüchtenden ruhten sich in der Schankstube aus, in der es nach Bier und kaltem Kamin roch. Der Maskierte schien eine schier unerschöpfliche Ausdauer zu besitzen. Mit geraden Rücken saß er da und trank und aß, was der Wirt ihnen vorsetzte. Raen aber nickte auf dem Tisch ein, ohne etwas von dem Essen angerührt zu haben.
Laute Stimmen weckten ihn wieder, und träge blinzelte er in das trübe Licht der Stube. Die Stimme des Maskierten unterhielt sich mit vier Gestalten.
„Mein Sklave und ich sind auf einer Reise nach Braud.“
„Und was habt Ihr dort vor?“, fragte eine der Gestalten, von denen Raen vermutete, dass es Soldaten auf Patrouille waren. Wahrscheinlich hatte der Wirt sie gerufen, weil ihm die Gäste zu dieser unüblichen Stunde merkwürdig vorgekommen waren. Raen verhielt sich unauffällig und begann in seinen kaltgewordenen Linsen herumzustochern. Innerlich aber war er bis auf die letzte Sehne angespannt. Unterwürfig senkte er seinen Blick und hoffte, ganz wie ein Sklave zu wirken.
„In Braud treffe ich einen Händler, der mir frische Hy-Sklaven verschaffen wollte. Dort ist schließlich der beste Markt dafür“, schwätzte der Maskierte derweil im geselligen Plauderton. „Ich suche eine hübsche Stute zum Decken und noch ein paar andere ganz geeignete Exemplare, vielleicht auch welche von Übersee. Ihr müsst nämlich wissen, ich betreibe eine Veredelungszucht bei Kantaka-Stadt und ...“
„Ja, ja, schon gut, mein Herr, dass man mit diesem modernen Firlefanz so viel Geld verdienen kann, ist wirklich erstaunlich. Sklavenhändler müsste man sein! Aber verratet uns doch noch, wer das ist.“ Der Soldat, welcher der Anführer zu sein schien, zeigte auf Raen.
„Er ist mein Sklave und begleitet mich.“
„Ist er ein Hy?“
„Deshalb habe ich ihn mitgenommen. Er soll mit den Hy-Sklaven in ihrer Sprache sprechen, das ist unerlässlich, es macht sie gefügiger“, antwortete der Maskierte redselig.
„Wie ist dein Name, Sklave?“, hörte Raen den Soldaten fragen, doch weil er nicht wusste, ob er antworten sollte, schwieg er besser.
Wie aus dem Nichts traf ihn die gepanzerte Faust des Kerls an der Schläfe.
„Du antwortest gefälligst, wenn du gefragt wirst, dreckiger Sklave!“, brüllte der nach Ziegenstall stinkende Capitano auffahrend. Benommen von dem Schlag verharrte Raen in demütiger Haltung auf seinem Stuhl und wisperte: „Mein Name ist Raen.“
„Was? Sprich lauter, Sklave!“
„Ich heiße Raen!“, wiederholte er und sah trotzig auf.
Doch mit diesem Blick fing er sich den nächsten Schlag ein, und sein Schädel begann zu brummen, ganz zu schweigen von dem Blut, das aus einer kleinen Wunde an seiner Schläfe troff.
„Dreckiger Hy, dich werde ich es lehren, wie du dich einem askharischen Herren gegenüber zu verhalten hast!“ Er erhob erneut seine Hand, doch der Maskierte ging dazwischen.
„Capitano, ich bitte Euch, meinen Sklaven nicht weiter zu beschädigen. Er war schließlich sehr teuer und soll noch seine Dienste leisten. Ich werde ihn später angemessen bestrafen, wenn Ihr erlaubt.“
„Hm.“ Der Capitano schien darüber nachzudenken und nickte dann mit einem geringschätzigen Seitenblick auf Raen. Befriedigt wollte er abziehen, da schien ihm doch noch etwas einzufallen. „Ach, mein Herr, sagt uns, warum tragt Ihr diese Maske? Habt Ihr etwas zu verbergen?“
„Ja, in der Tat, das habe ich!“
Raen zuckte neben dem Maskierten kaum merklich zusammen, aber seinem Helfer war nicht das Geringste anzumerken. Er war die Ruhe selbst.
„Ich bin ein Gezeichneter!“, fügte er leichthin hinzu.
„Ein was?“ Der eine Soldat machte ein dummes Gesicht.
„Mann, er hat Lepra!“, erklärte der Capitano, und der andere formte seinen Mund zu einem erschrockenen O.
„Na, dann lasst Euch Euren wertvollen Sklaven nicht stehlen, mein Herr!“, entgegnete der Capitano zum Abschied höhnisch, und schnell verließ die gesamte Gruppe die Schankstube.
Still und mit klopfenden Herzen warteten die beiden Flüchtenden bis sie Hufgetrappel vernahmen, dann stand der Maskierte abrupt auf.
Raen war elend. In seiner Schläfe pochte der Schmerz, und er fühlte den Schlaf mit aller Macht an seinen Gliedern ziehen.
„Diese Ratte!“, stieß der Maskierte leise mit Blick auf den Wirt aus und zerrte Raen am Kragen hoch. „Komm, wir müssen weiter!“
Kaum waren sie draußen, schlug der Maskierte ihm unvermittelt links und rechts ins Gesicht. Es waren nur leichte Schläge, doch Raen schrie verblüfft auf. Laut fluchend schlug der Maskierte ihn ein weiteres Mal und schleifte ihn dann zu seinem Pferd.
„Hätten die Soldaten deinen Stirnreif gesehen, wäre es aus gewesen! Ich musste dich schlagen, dieser neugierige Mistkäfer von einem Wirt beobachtet uns durch das Fenster“, knurrte er ihm lautlos ins Ohr und bedeutete ihm, er solle aufsteigen.
Raen krabbelte unbeholfen in den Sattel und beeilte sich, hinter dem Maskierten herzukommen, der seinem Pferd bereits die Sporen gab und zum Tor hinaus preschte.
Als sie am Fluss Danuba ankamen, hielten sie an einer einsamen Stelle.
„Dort kannst du dich waschen, denn so verdreckt erregst du nur Aufmerksamkeit. Aber tränke zuerst die Pferde.“ Der Maskierte stieg ab, gab die Zügel seines Pferdes dem Sklaven und setzte sich ins Gras.
Missgelaunt führte Raen die Tiere zum Fluss. Nachdem die Tiere gesoffen hatten, wickelte er sich das Tuch vom Kopf und wusch sich. Das kühle Wasser war eine Wohltat auf seinem geschundenen Gesicht und langsam hörte die Wunde an der Augenbraue auf zu bluten. Er legte sich seine Kopfbedeckung wieder an und wandte sich dann an den Maskierten, der gerade umständlich aus dem Wasserschlauch getrunken hatte, ohne dabei etwas von seinem Gesicht zu entblößen.
„Sag mir, warum tust du das? Warum riskierst du dein Leben für mich?“
Mit gereizter Geste verschloss der Maskierte den Schlauch und sah zu ihm auf. Das Blau seiner Augen sprühte förmlich. „Hör zu, Hy, ich will kein Gespräch mit dir und ich will auch nicht wissen, wer oder was du bist. Ich helfe dir nicht freiwillig, ich erfülle lediglich einen Auftrag. Ich verabscheue dein Volk wie jeder andere Askharer, und wenn das hier vorbei ist, dann will ich nicht mehr daran denken müssen, dass ich so etwas Schändliches und Verräterisches jemals getan habe!“
Das war ein sehr deutliches Wort, aber Raen sah den Älteren unverwandt an, ließ sich von dessen schneidendem Blick nicht einschüchtern.
„Ich will einen Stock haben!“, forderte er selbstbewusst. „Damit könnte ich besser gehen.“
Der Maskierte schüttelte den Kopf. „Nein, das würde auffallen, Sklaven haben keinen Stock. Sie hinken, weil es ihnen bestimmt ist.“
„Aber ich bin nicht dein Sklave und es ist mir auch nicht bestimmt, einer zu sein! Ich bin ein Krieger und ich habe einen Namen. Ich heiße Raen, hast du gehört? Raen, und nicht ‚Hy’ oder ‚Sklave’ oder sonst irgendwas!“, zischte er, und erneut kam ihm der Gedanke, sich einfach auf den Kerl zu werfen und ihm mit dem Messer aus seinem Stiefel zu töten. Er hatte schließlich nicht danach gefragt, von diesem aufgeblasenen, askharischen Großmaul gerettet zu werden.
„Ein Krieger? So, dann zeig mir doch mal, wie du hinkend kämpfen willst!“, lachte der Maskierte bissig zurück.
Raen fackelte nicht lange. Mit einem wütenden Schrei stürzte er sich auf den Askharer. Helfer hin oder her, es wäre ein Feind weniger!
Doch der Maskierte rollte sich blitzschnell zur Seite, und Raen stolperte bäuchlings ins Leere. Er packte den rechten Arm seines Sklaven, wand ihn herum und setzte sein Knie auf dessen Schulter.
Der hitzige Angreifer merkte, dass er festgenagelt war, versuchte aber trotzdem, sich zu wehren. Doch das bescherte ihm nur reißende Schmerzen in der fixierten Schulter, und schließlich musste er einsehen, dass der Maskierte gewonnen hatte. Mit der freien Hand klopfte er ins Gras. Der Askharer aber ließ nicht locker.
„Wenn ich es könnte, dann würde ich dich auf der Stelle zur Hölle schicken! Du hast jemanden getötet, der mir sehr nahe stand, verfluchter Bastard!“, spie sein Bezwinger hasserfüllt.
Raen überlegte, welchen von den über zwei Dutzend Männern, die er in den vergangenen Wochen aus dem Leben befördert hatte, der Maskierte meinen könnte.
„Du bist gut, das weiß ich, aber ich habe keinerlei Angst vor dir. Ich bin mit weit größeren Ungeheuern groß geworden! Also wirst du dich in Zukunft zusammenreißen und tun, was ich dir sage, oder ich verstümmele dich hier und jetzt noch weiter! Mein Auftrag sagt nämlich nur, dass ich dich über die Grenze schaffen soll, nicht aber in welchem Zustand!“
Raen ließ seine Stirn ins Gras sinken. Ja, er würde gehorchen, wenn doch nur dieser Schmerz aufhören würde.
„Gut, dann können wir jetzt ja endlich weiterreiten. Unsere Verfolger dürften uns allmählich auf den Fersen sein!“ Er ließ Raen los und erhob sich mühelos. Wortlos deutete er auf die Pferde, und nur wenige Augenblicke später waren sie wieder unterwegs.
Nach einem guten Stück gehetzter Reiterei waren die beiden Pferde bald lahm. Weit würden sie die beiden Flüchtenden nicht mehr tragen, aber hinter der nächsten Biegung flussaufwärts kam schließlich die Stadt Tedan in Sicht. Sie lag an einem Hang, die Häuser in Stufen um einen ehemaligen Chorten über der Flussgabelung, an der sich die beiden großen Ströme Terr und Ubai zum Danuba vereinten. Es dämmerte bereits und der Himmel war wolkenverhangen, aber der Chorten, obwohl seit Ewigkeiten nicht neu gekalkt, leuchtete über die Stadt hinweg. Fasziniert und angewidert zugleich gewahrte Raen, zu was die einstmalige, stolze Festung seiner Vorväter verunstaltet worden war. Der Putz war grau und schimmlig, die kunstvoll geschnitzten Erker verrottet und die Dächer baufällig, und wie beulenartige Geschwüre hafteten andere, plumpe Bauten an ihren aufstrebenden Mauern. Ohne Verstand und Ästhetik war die Stadt angelegt worden, und zu viele Menschen hausten in ihr, ohne sich um den Schmutz, den sie gebaren, zu kümmern, denn ein wahrhaft übler Geruch wehte vom Stadtrand zu ihnen herüber. Dieser Ort, der vor der Besetzung durch die Askharer einmal Schutz und Geborgenheit verkörpert hatte, war jetzt zu einem stinkenden, überfüllten Rattenloch verkommen. In Raen rührten sich Abscheu und Trauer, doch er konnte seinen Blick nicht abwenden, er musste all das beobachten. Es war eine einzigartige Gelegenheit, den Feind und seine Lebensgewohnheiten zu studieren und dieses Wissen mit nach Hy nehmen zu können. Vielleicht war es ja doch zu etwas gut, dass er hierher gelangt war.
Bald erreichten die beiden Flüchtenden eine Spelunke am Stadtrand mit einer schiefen Scheune daneben. Es begann zu nieseln. Raen zog sich die Kapuze seines Umhangs, den er bis jetzt immer als Decke benutzt hatte, über den Kopf. Zwei Laternen beleuchteten den Eingang zum Hauptgebäude. Der Maskierte wies ihn an, die Pferde unter dem Dach an der Tränke anzubinden und in einer dunklen Ecke zwischen der Spelunke und der grob gezimmerten Scheune zu warten, die offensichtlich als Stall genutzt wurde. Raen roch Pferde- und Ziegenmist durch die Ritzen der Bretter dringen.
„Ich werde jetzt die Pferde tauschen.“ Damit verschwand der Askharer.
Raen beobachtete, wie er in das Gasthaus hineinging.
Der Regen wurde stärker, und schnell verwandelten sich Straße und Platz vor der Spelunke in Schlamm. Nässe und Kälte krochen Raen in die Glieder, aber er tat, was der Maskierte ihm aufgetragen hatte, und wartete geduldig. Nichts passierte. Er hustete leise.
Dann kamen zwei Reiter, und er drückte sich weiter in die Ecke. Sie hielten vor dem Gasthaus und stiegen ab. Es waren Soldaten, das konnte er erkennen. Fieberhaft überlegte er, wie er den Maskierten warnen konnte, doch die Soldaten betraten schon das Gasthaus.
Nun, wenn sie den Maskierten erwischten, war zumindest er noch frei und würde mit einem der Pferde weiterfliehen können, dachte Raen. Er musste sich nur immer nach Norden halten, dann würde er irgendwann an das Junghal gelangen, das schaffte er auch ohne die Hilfe des Maskierten.
Gerade, als er sich aus seinem Versteck fortstehlen wollte, legte sich ihm eine Hand auf die Schulter. Erschrocken fuhr herum, doch er sah nur den schattenhaften Umriss einer Person, nicht aber ihr Gesicht.
„Meister?“, fragte Raen mit klopfendem Herzen.
„Meister?“, fragte eine krächzende Stimme zurück. „Bist du etwa ein Sklave?“
„Äh, ja. Und wer will das wissen?“
Die Hand auf seiner Schulter krallte sich in den nassen Stoff.
„Du bist ein Hy, nicht wahr?“
Sein Akzent war wohl noch immer sehr eindeutig, dachte Raen, aber er antwortete nicht.
„Was machst du hier?“
„Ich warte auf meinen Meister, er ist da drin.“ Er deutete auf die Spelunke.
„Und warum bist du bei diesem Wetter dann nicht ebenfalls dort, anstatt dich hier im Schatten herumzudrücken?“
Wer war der Kerl? Etwa ein dritter Soldat?
„Ich sollte hier draußen warten, hat mein Meister gesagt, warum weiß ich auch nicht.“
„So, so, und das soll ich dir glauben? Los, mitkommen!“
Noch wehrte sich Raen nicht. So lange er nicht wusste, wer der Unbekannte war, wollte er sich ruhig verhalten. Er ließ es mit sich geschehen, dass der Kerl ihn mit sich bugsierte, aber nicht etwa in Richtung des Gasthauses, sondern zum Eingang der Scheune. Unsanft wurde er durch das Tor gestoßen, ohne dass die Hand sich von seiner Schulter löste. Drinnen war es dunkel bis auf ein kleines Öllicht, das weit hinten auf einem Querbalken stand.
„He, Yolal, sieh mal, was ich hier habe!“, rief der Unbekannte, und kurz darauf erschien im Schein der Lampe eine so schmutzige Visage, dass man kaum erkennen konnte, welcher Hautfarbe sie war.
Sie traten zu dem gemütlich im Schneidersitz verbleibenden Kerl, der offensichtlich Yolal hieß. Raen erkannte, dass die Kleidung dieses Gesellen gleichfalls vor Dreck starrte, und eines war damit klar: Die beiden waren keine Soldaten.
Versuchsweise wollte er sich losmachen, doch die Hand blieb an ihm kleben.
„He, nicht so schnell! Ich muss dich doch meinem Freund hier vorstellen! Yolal, guck mal, was da draußen im Regen stand.“
Yolal blinzelte kurzsichtig und mit reichlich dümmlichem Gesichtsausdruck zu ihnen auf.
„Ein herrenloser Hy-Sklave! Hab’s an seiner Sprache erkannt!“, präsentierte der andere stolz seinen Fang.
„Aber wer lässt denn so einen allein herumlaufen?“ Yolals Ausdruck wurde nicht unbedingt intelligenter dadurch, dass er den Mund offen stehen ließ.
Raen beschloss, einzugreifen. „Ich bin nicht allein. Mein Meister ist da draußen und fragt sich bestimmt schon, wo ich bleibe.“
„Still!“ Der Kerl hinter ihm trat ihm ohne Vorwarnung in die gesunde Fersensehne, und Raen verlor das Gleichgewicht. Er landete unsanft auf dem Rücken. Im Licht der Öllampe konnte er das Gesicht des anderen erkennen. Es war mindesten genauso verdreckt und hässlich und über und über mit eitrigen Pusteln übersät. Raen wollte aufspringen, doch der Kerl mit dem Namen Yolal hielt ihn an seinem Kopftuch fest und zückte ein Messer.
„Schön hiergeblieben, Freundchen. Ah, was ist denn das?“ Mit der Messerspitze lüpfte Yolal das Tuch von Raens Kopf und zeigte mit einem Mal ein breites, lückenhaftes Lächeln.
Raen wusste, dass sein Aun im Lichtschein verräterisch glomm. Die Messerspitze wanderte zu dem Stirnreif und drückte in die Haut.
„Das ist nichts, nur Schmuck“, erklärte er schnell und hoffte, dass die beiden Schwachköpfe so dumm waren, wie sie aussahen.
„Schmuck?“
Raen nickte nachdrücklich.
„Aus Gold?“
Raen nickte nicht.
Das Lächeln wurde breiter.
„Na los, Yolal, befreie ihn von der wertvollen Last, worauf wartest du noch?“, sagte der andere, in dessen Augen es gierig glühte. „Davon können wir uns Weiber kaufen! Hähähä.“ Das Lachen war noch gieriger als der Blick.
Yolal leckte sich über die Lippen, packte Raen am Schopf und setzte das Messer an. Doch der hatte die Situation bereits erfasst. Mit seinem unverletzten Fuß trat er dem Stehenden die Beine weg und fast gleichzeitig umfasste er mit beiden Händen das Handgelenk Yolals und entwand ihm das Messer. Die Klinge nun in seiner Linken, zog Raen Yolal mit der Rechten weiter über sich und stieß ihm dabei gleichzeitig das Messer in die Lunge. Kein Schrei war zu hören, nur ein überraschtes Stöhnen.
Bevor das Gewicht des Toten auf ihn herabdrückte, rollte der Hy-Krieger sich darunter hinweg und konnte den anderen Kerl gerade noch daran hindern, zu flüchten, indem er ihm das Messer in die Wade stach.
Der schrie gepackt von Panik auf, stolperte und stürzte lang hin. Und obwohl Raen durch seinen verletzten Fuß in seinen Bewegungen eingeschränkt war, war er so schnell über ihm, dass der Kerl am Boden blieb. An den verfilzten Haaren riss er den Kopf hoch und schnitt ihm in einem geübten Zug des Ellenbogens die Kehle durch. Das Schreien erstarb auf der Stelle, und Blut ergoss sich ins Stroh. Raen ließ die Haare los und wischte sich angewidert die Hand an seiner Hose ab. Dann erhob er sich schnell, damit das Blut nicht auch noch seine Kleidung besudelte. Ungerührt blickte er mehrere Atemzüge lang auf die beiden Toten hinab, säuberte schließlich das Messer an der Kleidung des einen und steckte es in seine rechte Gamasche. Jetzt hatte er wenigstens eine eigene Klinge bei sich.
Er ging hinüber zum Lager der beiden Toten und durchsuchte das spärliche Gepäck. Aber außer einem leeren Weinschlauch und ein paar Äpfeln fand er nichts Brauchbares. Es waren wohl nur zwei herumstreifende Halunken gewesen, die gedacht hatten, das Glück hätte ihnen in die Hände gespielt. Jetzt lagen sie tot im Stroh!
Raen empfand kein Mitleid für sie. Es waren Askharer gewesen, und diese zu beseitigen hatte er schließlich gelernt! Er wischte einen der Äpfel ab und biss hungrig hinein. Humpelnd verließ er hernach die Scheue. Draußen regnete es immer noch. Hastig blickte er sich um. Kein Mensch war zu sehen. Gut. Und schlecht! Wo, verdammt, blieb der Maskierte?
Die Arme gegen die klamme Kälte um den Leib geschlungen, huschte er wieder auf seinen Platz in dem dunklen Winkel.
Nach einer scheinbaren Ewigkeit - Raen hatte bereits alle drei Äpfel vertilgt - kam endlich der Maskierte aus dem Gasthaus. Er kam stracks zu ihm in den Schatten.
„Komm, wir werden etwas essen und dann ein paar Stunden schlafen, bevor wir wieder aufbrechen. Es wird vielleicht die letzte angenehmere Rast sein, die wir uns erlauben können“, sagte der Maskierte zu dem bibbernden Hy und wollte zu der Scheune hinübergehen, doch Raen beschwor ihn mit gesenkter Stimme: „Nein, wir können hier nicht bleiben, die Soldaten!“
„Um die brauchst du dir keine Sorgen machen. Das habe ich geklärt!“ Er wollte weitergehen, doch Raen hielt ihn am Arm zurück. Der Maskierte starrte zuerst auf die Hand des Hy und dann ganz langsam in dessen Gesicht. Seine Körperhaltung verriet Gefahr. Raen zog die Hand zurück.
„In der Scheune liegen zwei Tote“, erklärte er.
„Zwei Tote?“
Raen nickte.
„Und was haben wir damit zu tun?“
„Ich habe sie erledigt.“
„Du? Verflucht, warum?“
„Sie haben mein Aun gesehen.“
„Dein, was? Ach, ich weiß schon. Aber wie konnte das geschehen? Wolltest du dich etwa allein aus dem Staub machen?“ Wütend blitzten seine Augen auf.
„Nein, sie haben mich ... ausrauben wollen.“ Das stimmte zwar nur zur Hälfte, aber es war jetzt die schnellste Schilderung des Geschehens.
Einen Moment lang schien der Askharer unschlüssig, doch dann winkte er mit der Rechten und sagte: „Wir holen das Gepäck und verschwinden hier sofort, bevor man deine Bluttat entdeckt.“
Mit den Satteltaschen auf der Schulter liefen sie in die Scheune, wo die frischen Pferde warteten. Der Maskierte warf nur einen Blick auf die beiden Toten und schüttelte den Kopf. Wortlos machte er die Pferde los, die bereits gesattelt bereitstanden, und führte sie hinaus.
Ein gutes Stück des Weges legten sie zu Fuß zurück. Erst, als sie die Lichter des Gasthauses hinter sich gelassen hatten, stiegen sie auf und schlugen einen Haken nach Norden. Im strömenden Regen wagten sie die gefährliche Furt durch den Terr und ritten dann weiter nach Westen, wo das Andalai Massiv mit seinen steilen Hängen und Wäldern in der undurchdringlichen Dunkelheit auf sie wartete.
Irgendwann, Raen wusste nicht, wie lange sie schon bergan geritten waren, fiel er einfach vom Pferd. Er konnte nicht mehr, war hundemüde und schlief im nassen Gras ein. Der Maskierte lud ihn unter Anstrengung wieder auf und brachte ihn zu einem Felsüberhang, unter dem sie ein halbwegs trockenes Lager aufschlagen konnten. Nur ein Feuer war in dieser regnerischen Nacht völlig unmöglich.
Am nächsten Morgen wurde der erschöpfte Hy von einer Stiefelspitze geweckt, die ihn beharrlich immer wieder in den Rücken stieß. Unwillig öffnete er seine Augen und blinzelte in den trüben Tag.
„Wo sind wir?“, fragte er noch träge von dumpf bleierner Müdigkeit.
„In den Wäldern Neu-Askhars! Iss etwas, und dann weiter!“
Raen erinnerte sich daran, dass er einen Mordshunger hatte und kämpfte sich aus seinem durchweichten Umhang. Beinahe ohne zu kauen, schlang er seine Ration Speck und Hartbrot hinunter. Danach spülte er den ranzig salzigen Geschmack der Schwarte mit Wasser aus seinem Mund und fühlte sich schließlich dazu in der Lage, sich zu erheben.
„Du kannst auf dem Pferd weiterschlafen!“, drängte der Maskierte. Auch er klang das erste Mal ansatzweise erschöpft.
Raen konnte fast alles auf dem Pferd, nur nicht schlafen. Er würde wieder herunterfallen und sich wahrscheinlich dabei früher oder später den Hals brechen, aber er hütete sich, das dem Maskierten zu sagen.
„Wir werden höher in die Wälder gehen“, erklärte dieser mit einem Blick in den Fleck grauen Himmels über ihnen. „Dort sind wir geschützt, außerdem werden sie vorerst nicht denken, dass wir diesen schwierigen Weg und nicht die Trift am Fluss entlang genommen haben.“ Damit war das Redepensum des Askharers erschöpft, und er schwang sich in den Sattel.
Nach unzähligen kleinen Anstiegen und einigen Beinahestürzen des Hy brach endlich die Sonne durch die Wolken, und warme Lichtstrahlen fielen zwischen den Bäumen auf den dampfenden Untergrund, der immer felsiger wurde und die Pferde vor immer größere Herausforderungen stellte. Doch sie erwiesen sich als trittsicher. Zu Mittag, so schätzte der Maskierte, machten sie Rast und saßen schweigend in der Sonne, jeder an einen Felsen gelehnt. Aber der Maskierte blieb stumm, er hatte keine Lust mit dem Hy zu sprechen, der bald wegdöste. Und diesmal war er es der, der seinen Begleiter durch die Schlitze seiner Maske still und mit kühlem Blick musterte.
‚Was ist an diesem Burschen bloß so Besonderes, dass ich ihn hier, die Meute Katthikes im Nacken, durch die unwegsamen Wälder schleppe und mich von Hartbrot ernähre?’, fragte er sich zum unzähligsten Male. Er rief sich die Worte der Prophezeiung ins Gedächtnis, wegen denen er dieses irrsinnige Abenteuer überhaupt wagte. Was meinte das Orakel bloß damit, sie seinen beide Söhne des Lichts, er und der Hy? Und warum sollte er mit dem da gemeinsam Schulter an Schulter gehen?
Daraus wurde er einfach nicht schlau und er hoffte nur, seine Schuldigkeit mit dieser Fluchthilfe getan zu haben.
Inzwischen waren sie schon fünf Tage unterwegs und langsam machte sich auch bei ihm die Anstrengung bemerkbar. Nach den vielen Jahren auf dem Stuhl der Lehre war er eben doch verweichlicht und es nicht mehr gewohnt, auf hartem Boden und unter freiem Himmel zu nächtigen. Ein wenig ärgerte er sich über sein eigenes, von der Bequemlichkeit schwächlich gewordenes Fleisch, doch viel mehr verfluchte er diesen unseligen Mistfresser von einem Hy, den er nach dem Mord an Rebian viel lieber weiter in den experimentierfreudigen Händen Setnas gesehen hätte, als hier mit ihm auf der Flucht vor seinen eigenen Leuten zu sein.
Doch bei all dem Abscheu, den er gegen die verhasste Hy-Brut hegte, machten ihn einige Dinge auch neugierig. Und schließlich sah er in seinem gegenwärtigen Schicksal auch die Möglichkeit, vielleicht etwas von dem Hy zu erfahren, was er dann später in dem geplanten Feldzug einsetzen konnte. Er beschloss, fortan seine Taktik zu ändern.
Und nachdem auch er sich ein kleines Nickerchen gegönnt hatte, weckte er den Hy, und sie setzten ihren Weg fort.
Sie kletterten noch höher in die Ausläufer des Andalai, bis das Tal des Terr im Licht der Nachmittagssonne weit unten zu ihrer Rechten lag. Immer wieder konnten sie das blaue Band des Flusses durch die Bäume im fruchtbaren Grün der Niederungen verlaufen sehen.
„Hier oben leben kaum Menschen, nur einige Fallensteller und Jäger, deshalb werden wir hoffentlich das Glück haben und niemandem begegnen“, erläuterte der Maskierte an Raen gewandt, der kraftlos nach vorn gebeugt auf seinem Pferd hing. „Die Holzspalter und Köhler haben ihre Hütten und Meiler viel weiter unten am Rand der Wälder, sie sind keine Gefahr für uns. Acht geben müssen wir nur auf Wilderer. Die ziehen immer wieder in größeren Gruppen durch die Wälder. Aber für gewöhnlich sind sie sehr laut und haben in der Nacht immer ein Feuer brennen. Es sollte uns also gelingen, ihnen aus dem Weg zu gehen.“
Raen äugte zu dem Maskierten hinüber. Aus irgendeinem Grund schien er plötzlich sein Schweigegelübde gebrochen zu haben, derart wortreich plauderte er darauf los.
‚Wahrscheinlich ist es ihm nun doch zu langweilig geworden, immerzu den grimmigen Fremden zu mimen, besonders mit der Aussicht, das noch über eine ungewiss lange Zeit durchzuhalten zu müssen’, dachte er und freute sich über die neue Beredsamkeit seines Retters, obwohl er ihn dadurch nicht besser leiden konnte. Aber das Gespräch würde ihn wenigstens wach halten und ihn somit vor einem möglichen Sturz mit fatalen Folgen bewahren.
Nur einsilbig gab er selbst zunächst Antwort, auf die Fragen des Askharers, lauschte dafür aber umso sorgfältiger, soweit seine Aufmerksamkeit es zuließ, die natürlich immer wieder abzudriften drohte. Die Erzählungen des Maskierten waren in allen Belangen unverfänglich, verrieten weder etwas über seine wahre Herkunft, noch etwas wesentlich Wissenswertes über sein Volk.
Langsam sank die Sonne dem westlichen Horizont entgegen, und unten im Tal leuchteten die raumgreifenden Mäander des Flusses gleißend auf. Ein wunderschöner Anblick, für den Raen jedoch kein Auge übrig hatte, denn mittlerweile konnte er sich kaum noch auf dem Pferd halten. Und schließlich fiel er erneut, merkte den Aufprall nicht einmal und war bereits in tiefem Schlummer, als der Maskierte von seinem Pferd stieg.
In der Nacht erwachte er kurz und blickte in den kleinen Ausschnitt des Sternenhimmels über ihm. Dann rollte er sich, in seinen Umhang gewickelt, auf die Seite und schlief bis zum Morgen.
Er hörte Vogelgezwitscher und ein schlagendes Geräusch, als er erwachte. Er drehte sich zu dem Geräusch um und sah den Maskierten, der überstehende Äste an einem Stab mit seiner Axt entfernte. Stirnrunzelnd richtete Raen sich auf. Der Askharer bemerkte die Bewegung und sah von seiner Arbeit zu ihm herüber.
„Ein Stab für dich. Wir kommen bald in sehr felsiges Gelände, wo wir die Pferde führen müssen.“ Er warf Raen das Holz zu, und der fing es gewandt mit einer Hand auf.
„Danke“, entgegnete er schlicht und erprobte das Gehen mit der neuen Stützhilfe. Es ging gut.
„Wie kommt es, dass du deine Meinung geändert hast? Mit diesem Stock könnte ich dich leicht überwältigen“, fragte er schließlich aus reiner Neugier über den Sinneswandel des Maskierten.
„Du wirst mich nicht damit angreifen.“
„Wie kannst du dir da so sicher sein?“
„Du hast ja auch ein Messer, mit dem du mich noch nicht heimtückisch im Schlaf aufgeschlitzt hast, obwohl du bereits mehr als eine Gelegenheit dazu gehabt hattest.“
Raen sah den Maskierten an und versuchte, seine Überraschung zu verbergen. Das Gefühl, als könnten sie beide sich nichts vormachen, beschlich ihn erneut, und er schärfte sich ein, wieder mehr auf der Hut zu sein.
Bereits am Mittag lichtete sich der Wald und wich kleineren Kiefern und genügsamen Wacholderbüschen. Und bald erstreckte sich vor ihnen ein kahler, lebensfeindlicher Karstrücken, auf dem sich nur flache Dornenpolster und Hartgras zu halten vermochten. Zu ihrer Rechten lag in dunstiger Ferne das Flusstal und zu ihrer Linken ragten die weit höheren Gipfel des Andalai auf. Auch sie waren grau und waldlos.
Sie stiegen von den Pferden, der Maskierte band Raens Stute an seinen Wallach und führte die Tiere hinter sich her. Raen, auf seinen Stock gestützt, folgte ihm humpelnd durch die scharfkantigen Felsen, angestrengt bemüht, Schritt zu halten.
Aber schon nach recht kurzer Zeit waren seine Kräfte erschöpft, und er musste sich ausruhen. Der Sklavenschnitt an seinem linken Fuß schmerzte pulsierend, und er befürchtete, dass er sich entzündet hatte. Mit gequälter Miene wickelte er den Verband ab, um nachzuschauen. Tatsächlich waren die Ränder des Schnittes rot geschwollen, aber noch nicht brandig, wie der noch mäßige Geruch verriet.
„Es ist die Belastung. Hier, tu etwas davon drauf und nimm diesen frischen Verband.“
Raen wunderte sich, was der Maskierte so alles in seinen Satteltaschen hatte und nahm das Dargebotene dankbar an. Geduldig kaute er auf den Kräutern herum, spuckte den dabei entstehenden Brei in seine Hand und verteilte ihn auf der Wunde. Dann bedeckte er alles mit den sauberen Leinenstreifen und zog sie fest um den Fuß zusammen. Entschlossen bedeutete er daraufhin, dass sie weiter konnten.
Doch nach der Rast war der Schmerz schlimmer als zuvor. Mit zusammengebissenen Zähnen rang Raen sich Schritt um Schritt ab, aber ihr Vorankommen verlangsamte sich drastisch, und bald machte er sich Sorgen, ob er es überhaupt schaffen würde, das Karstfeld zu durchqueren. Immer wieder schaute der Maskierte sich nach ihm um, und als er schließlich allzu weit zurückblieb, beschloss der Askharer, das Lager für die Nacht aufzuschlagen.
Völlig entkräftet ließ sich Raen mit dem Rücken an einem Stein nieder und bekam schon nach wenigen Augenblicken Schüttelfrost.
„Ich kann kein Feuer anzünden, das würde man hier oben meilenweit sehen können. Aber nimm meine Satteldecke.“
Die Nacht war bitterkalt. Unberührt leuchteten die Sterne vom Himmel auf die zwei Flüchtenden hinab, die sich zum Schutz vor dem ewig gehenden Wind flach auf die Erde gedrückt hatten. Auch die Pferde standen mit eingekniffenem Schweif auf dem unebenen Untergrund und dösten nur mäßig.
Am nächsten Tag war keiner von ihnen so richtig erholt. Der Schüttelfrost war fort, aber Raen fror noch immer wie ein Schneider. Die Sonne ließ sich viel Zeit, ihren Strahlen die nötige Wärme mitzugeben, und als die Pferde ungeduldig zu schnauben begannen, weil sie nach einer Tränke dürsteten, machten sie sich wieder auf den Weg.
Das Geröll wurde immer tückischer, und mehrmals strauchelte sogar der Maskierte. Raen versuchte gar nicht mehr, sein schmerzverzerrtes Gesicht zu verbergen und erinnerte sich zur Ablenkung an die Gewaltmärsche bei Maestro Uberth. Dabei kamen seine Gedanken unweigerlich auch auf die Prinzessin. Was sie wohl gerade in Borgossa tat? Und was mochte sie wohl über ihn denken, weil er bis jetzt noch nicht wieder zu ihr zurückgekommen war?
‚Dass du ein treuloser Tunichtgut bist, ein Lügner und liederlicher Wortbrecher! Und dass du dich zum Teufel scheren sollst!‘, dachte er bissig. ‚Und genau das tue ich auch gerade.‘ Wenn dieses Meer aus spitzen Steinen nicht bald ein Ende hatte, so würde er hier oben kläglich krepieren und von den Geiern gefressen werden! Plötzlich wunderte Raen sich über sich selbst. Warum empfand er mit einem Mal Empörung über einen solch würdelosen Tod? Vor einigen Tagen noch hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als zu sterben, und jetzt wollte er lebend hier herauskommen.
‚Das ist doch schon ein gewaltiger Fortschritt’, dachte er voller Ingrimm, und während er in seine Gedanken vertieft einher humpelte, blickte der Maskierte immer wieder zurück und ließ sich schließlich zurückfallen, bis er neben dem Hy ging.
„Wie geht es?“, fragte er.
„Geht“, sagte Raen verbissen und setzte beständig zuerst den Stock zusammen mit dem linken Fuß vor, stemmte sich dann mit dem Stock ab, glich damit die fehlende Kraft im linken Bein aus, und setzte den rechten Fuß. So ging es immer weiter und weiter.
„Was wirst du tun, wenn du zu Hause bist?“, fragte der Maskierte, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander hergegangen waren.
„Wenn ich jemals dort ankommen sollte!“
„Nehmen wir an, wir schaffen es“, ermunterte der Askharer ihn.
„Warum willst du das überhaupt wissen? Ich dachte, du hast nicht das geringste Interesse daran, zu erfahren, wer oder was ich bin.“
„Sagen wir, das hat sich geändert.“
„Ach ja!“ Raen konnte nicht anders, als gehässig zu klingen. „Weshalb? Hast du plötzlich erkannt, dass wir Hy auch so etwas wie Menschen sind?“
„Wenn du es mir nicht sagen willst, so muss ich das akzeptieren. Ich wollte dich bloß etwas zerstreuen.“ Der Maskierte legte wieder einen Schritt zu.
Grantig und mit finsterem Blick hinkte Raen dreibeinig hinter ihm her.
Bald fanden sie eine flache Pfütze auf einem Stein und ließen sie von den Pferden leer saufen. Bis zum Abend sprachen sie kein Wort mehr miteinander.
In einer Senke, die von einem schützenden Ring aus Steinen umstanden war, ließen sie sich nieder, um dort die Nacht zu verbringen.
„Unsere Vorräte sind schmal. Wegen unseres überhasteten Aufbruchs vom Weghaus habe ich sie nicht auffrischen können.“ Der unverhohlene Vorwurf in der Stimme des Maskierten entging Raen nicht, doch er kümmerte sich nicht darum. Er hatte getan, was er für richtig gehalten hatte.
„Darum werde ich mich jetzt umschauen, ob es hier Wild zu jagen gibt. Du bleibst hier.“ Nach dieser barschen Anweisung verschwand der Maskierte zwischen den im Sonnenuntergang glühenden Felsen. Raen fragte sich, womit dieser seine Beute wohl zu erlegen gedachte, hatte er doch weder Bogen noch Speer. Aber als wahrer Tausendsassa fing er die Bergziegen bestimmt mit der bloßen Hand bei den Hörnern! Raen wusste nicht, warum er noch immer so schlecht auf den Askharer zu sprechen war. Riskierte dieser doch alles und quälte sich genauso wie er durch dieses nicht enden wollende Felsenmeer. Aber Feind blieb Feind, dachte er trotzig, auch wenn er ihm half. Und es schadete nicht, ein gesundes Maß an Misstrauen beizubehalten.
Noch während er so vor sich hinsann und die heraufziehende Kälte und den Schmerz in seinem Fuß zu ignorieren versuchte, kam der Maskierte zurück. Erstaunt hob Raen die Brauen, als er ein Fellbündel in seiner rechten Faust baumeln sah.
„Was ist das?“
„Ein Murmeltier, schön fett vom Sommer.“ Der Maskierte warf Raen das Tier vor die Füße. „Nimm es aus. Ich sehe derweil nach, was sich noch finden lässt.“ Schon war er wieder fort, und Raen tat wie ihn geheißen. Er weidete das Tier aus, legte Herz und Leber beiseite und zog dann den Balg ab. Dabei entdeckte er, wie das Murmeltier zu Tode gekommen war. Ein Messereinstich hatte seine Wirbelsäule durchtrennt. Der Maskierte musste ein meisterhafter Messerwerfer sein! Noch ein Grund, ihm nicht zu trauen. Solche Künste beherrschten bekanntlich nur Gesellen aus dem zwielichtigen Gewerbe. Raen beseitigte die unverwertbaren Reste weit vom Lager entfernt unter einem Stein. Die Geier und anderes Aasgetier würden sich morgen darum zanken.
Der Maskierte kehrte das zweite Mal leider mit leeren Händen zurück. Nun, vielleicht war er doch nicht so gut, wie Raen annahm. Der Askharer setzte sich und zerteilte das vorbereitete Murmeltier.
„Kein Feuer“, sagte er und steckte sich unter der Maske einen Steifen Fleisch zwischen die Zähne. „Geht auch so.“ Wie selbstverständlich kaute er und aß kurz darauf ein weiteres Stück.
Raen beobachte ihn unwohl. Die bloße Vorstellung das Fleisch roh essen zu müssen und das genussvolle Schmatzen des Maskierten ließen seinen Magen heikel rumoren.
„Was ist?“ Trotz der hereinbrechenden Dunkelheit hatte der Askharer offenbar die Blässe in Raens Gesicht erkannt. „Magst du nicht?“
Raen antwortete nicht gleich.
Der Maskierte hielt ihm die kleine Leber hin, aber er schüttelte den Kopf.
„Nicht? Das ist doch das Beste!“ Lautstark verschlang der Askharer das Organ. „Du musst aber etwas essen“, schmatzte er schließlich und forderte Raen mit einer Handbewegung auf, seinem Beispiel zu folgen.
Aber der weigerte sich noch immer, nach den rohen Happen zu greifen.
„Na los!“, drängte der Askharer ungehalten.
„Aber ... ich ... kann das nicht essen. Es ...“
„Wieso nicht? Es schmeckt gut.“
„Es ... ich darf es nicht.“ Raen hatte noch nie blutiges Fleisch gegessen. In Hy galt das als unrein, ja, sogar als unheilvoll, das zu tun.
„Pah, du darfst es nicht! Sei nicht kindisch und iss gefälligst, bevor ich es dir reinzwinge!“
Bei dem Wort kindisch erwachte Raens Groll, und mutig nahm er ein Stück. Er legte es sich auf die Zunge. Der Geschmack nach Blut war das erste, was er wahrnahm, aber er zwang sich zu kauen. Das Fleisch war erstaunlich zart und schmeckte hernach gar nicht so übel. Er schluckte und wartete ab, aber anstatt zu rebellieren, rief sein Magen deutlich vernehmbar nach mehr. Er nahm ein zweites Stück.
„Na, also. Geht doch!“, bekräftigte der Maskierte zufrieden und schälte mit seinem Messer den Knochen eines Hinterbeins ab.
„Woher kannst du eigentlich unsere Sprache?“, fragte er nach einiger Zeit.
„Ich habe in Borgossa ein Wörterbuch geschrieben.“
Der Maskierte nickte.
„Es sollte anfänglich nur vom Graçenischen ins Hyaunische übersetzen, doch dann ist mir ein askharisches Wörterbuch in die Hände gefallen und ich habe mir gedacht, warum nicht die Sprache des Feindes verstehen lernen!“
„Gibt es sonst noch Hy, die das können?“
„Nein, ich denke, ich bin der einzige, und die Bücher sind mir bei meiner Verschleppung abhanden gekommen.“
„Du warst in Borgossa an der Akademie, habe ich gehört.“
„Ja, ich habe sogar einen Abschluss“, erzählte Raen bereitwillig und nicht ganz ohne Stolz. Warum nicht, dachte er und sah, wie der Maskierte erneut nickte.
Sie redeten noch eine Weile und legten sich dann mit vollem Bauch zur Ruhe. Der nagende Hunger war getilgt, mit was für Mitteln auch immer, dachte Raen und schlief ein.
Das Fleisch hatte ihn wieder zu Kräften kommen lassen, und frischen Mutes brachen sie im ersten Licht des nächsten Tages auf. Mühselig suchten sie sich ihren Weg durch die vielfältig gezackte Landschaft, tränkten die Pferde an kleinen Wasserlöchern und ließen sie geduldig das wenige Gras fressen, das sie fanden. Noch immer waren das Flusstal auf der einen und die ewig gleichen Berge auf der anderen Seite, und Raen schien es auch am Ende dieses Tagesmarsches, als seien sie kaum vorangekommen. Dank der Behandlung mit den Kräutern hatte der Schmerz in seinem Fuß etwas nachgelassen, dafür aber hatte sich ein hohles Husten bei ihm eingenistet, der immer mehr an Substanz gewann und bald in seiner wunden Lunge schabte und rasselte, wie eine alte Eisenkette. Nachts konnte er kaum schlafen und tagsüber hustete er unentwegt. Auch der Maskierte wirkte in seiner nicht mehr ganz so aufrechten Haltung zermürbt, ließ aber nicht locker und stapfte unverdrossen immer weiter voran.
Am Mittag des neunzehnten Tages ihrer Flucht sahen sie von einer hohen Klippe endlich das Flusstal des Sendi unter sich liegen. Es erstreckte sich flach weit gen Norden, wo bläulich grau gezackt die langgezogene Kette des Junghal den ganzen Horizont einnahm. Ausgedehnte Wälder bedeckten den südlichen Teil des Tales und man konnte den aufsteigenden Rauch einiger Siedlungen in den freien Ebenen dazwischen erkennen. Raen schätzte, dass es nur noch etwa vierzig Meilen bis zur Grenze waren. Der Anblick der Berge, hinter denen sich seine Heimat befand, lockte ein Lächeln auf seine blassen, ausgehungerten Züge, und dem Maskierten entging diese Regung nicht.
„Ich schmälere nur ungern deine Zuversicht“, sagte er, „aber so nah, wie die Berge auch sind, wird es nicht leicht werden, dort unten unentdeckt hindurchzukommen. Das Tal ist dicht besiedelt, viele Soldaten sind dort. Und die dürften einstweilen über dein Verschwinden alarmiert und äußerst wachsam sein. Der Weg über das Andalai war zwar sicher, aber er hat uns auch viel Zeit gekostet. Ich werde versuchen, uns abseits der Hauptwege an den Siedlungen vorbeizuschleusen. Und ich will dein Versprechen, dass wir zusammen kämpfen, wenn es brenzlig werden sollte! Du hast ja eine Klinge und kannst damit gut umgehen, wie ich gesehen habe.“
Raen nickte bereitwillig.
„Nun, das Wort eines Hy sollte taugen!“
„Was soll das denn heißen?“
„Ich denke, du weißt es.“
Raen verzog das Gesicht. Natürlich spielte der Maskierte auf die berühmte Ehrlichkeit seines Volkes an. „Wenn es dir nicht genügt, dann nimm eben mein Wort als Krieger!“, bot er brummig an.
„Ja, das ist mir schon lieber“, entgegnete der Maskierte, „denn ich möchte mich nur ungern auf zweifelhafte Fama verlassen.“
„Zweifelhafte Fama, pah!“, schnaubte Raen. „Ich schätze, die hyaunische Aufrichtigkeit kann der askharischen noch einiges lehren!“
Der Maskierte hob beschwichtigend eine Hand und setzte sich dann in Bewegung.
Froh, endlich dem schneidenden Wind des Gebirges zu entkommen, stiegen sie hinab in den Wald, der die Bergflanke als schwarzgrüner Flor hinaufkroch.
Was sie nicht ahnten, war, dass sich die Soldaten dort unten nicht nur in äußerster Alarmbereitschaft befanden, sondern bereits systematisch alles nach den beiden Flüchtenden absuchten. Von den Verfolgern durchgeführte Befragungen in Wirtshäusern und Wegstationen entlang der möglichen Fluchtstrecken hatten ans Tageslicht gebracht, dass es sich bei dem rätselhaften Maskierten, welcher sich als Helfer des verschwundenen Hy herausgestellt hatte, um einen Askharer in einer Verkleidung handelte, und beide als Herr und Diener unterwegs waren.
Als diese Nachricht auch König Katthike erreichte, wurde er fuchsteufelswild. Und nachdem er seinem Zorn damit Ausdruck verliehen hatte, den Boten mit einem einzigen wuchtigen Faustschlag zu Boden zu schicken, rief er nicht nur eine Belohnung für die Ergreifung des Hy bei lebendigem Leibe aus, sondern auch ein stattliches Kopfgeld für diesen abgefeimten und vollkommen ehrlosen Hochverräter, der es wagte, seinen König vor aller Welt zum Narren zu halten!
Mit gründlicher Vorsicht streiften die beiden halbverwilderten Gestalten durch das ausgedehnte Waldgebiet und beeilten sie sich, bei jedem Geräusch, das nach Menschen klang, augenblicklich in Deckung zu gehen. Regungslos verharrten sie im dichten Unterholz, bis die Geräusche sich wieder entfernt hatten. Und tatsächlich kam am nächsten Tag auch ein ganzer Trupp berittener Soldaten an ihrem Versteck in den Büschen vorbei.
„Das ist sehr merkwürdig. Hier auf diesem kaum benutzten Nebenweg sind sonst nie Soldaten unterwegs, nicht einmal auf Patrouille und dann auch noch so viele“, flüsterte der Maskierte leise. „Das bedeutet nichts Gutes. Von jetzt an sollten wir uns direkt durch den Wald schlagen!“
Das würde zwar etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen, weil sie dabei sehr leise und bedacht vorgehen mussten, aber das offene Gelände war nicht mehr allzu weit entfernt. Raen folgte dem Maskierten bereitwillig durch das Unterholz.
Als sie den Waldrand schließlich nach zwei Tagen erreichten, bedeutete der Maskierte dem Hy, mit seinem Pferd dort zu warten, während er in die nächste Siedlung reiten würde, um die Situation auszukundschaften. Sie suchten einen geeigneten Unterschlupf, und nachdem der Maskierte Raen den Proviant in die Hände gedrückt hatte, legte er sich seinen an mehreren Stellen von scharfem Karst zerschnitten Umhang um und zog sich die Kapuze über den Kopf. Derweil stopfte sich Raen hungrig von dem Brot in den Mund, das sie im Lager eines fahrenden Bruders ergaunert hatten.
An seinem Pferd wandte sich der Maskierte noch einmal um, und Raen sah überrascht, dass er seine Maske in der Hand hielt, sein Gesicht jedoch war im Schatten der Kapuze verborgen.
„Die brauche ich wohl nicht mehr!“, sagte der Askharer leichthin und schleuderte die Maske weit in den Wald hinein. Dann kehrte er Raen den Rücken, führte sein Pferd aus dem Wald, stieg auf und galoppierte im hellen Sonnenschein davon, dabei rutsche ihm die Kapuze vom Scheitel, und Raen sah die langen schwarzen, zu einem Zopf gebundenen Haare seines Helfers im Wind flattern.
Vom Knurren seines Magens wurde er endlich aus seinen Gedanken gerissen, und er stellte fest, dass er noch immer auf das Stück Straße starrte, wo sein Begleiter hinter einem Hügel verschwunden war. Gierig aß er den Rest des Brotes, vergewisserte sich anschließend, ob sein Pferd ruhig zwischen den Ästen des Unterholzes nach Futter suchen konnte und legte sich auf ein weiches Polster Waldmoos zum Schlafen. Nach den unwirtlich schroffen Felsen des Gebirges genoss er die angenehme Ruhe und die herbstliche Stimmung des Waldes und bemühte sich, sein ständiges Husten zu unterdrücken. Das monotone Summen einer dicken Holzbiene half ihm schließlich, behaglich in den Schlaf hinüberzugleiten.
Näherkommendes Hundegebell ließ ihn wieder hochschrecken. Es war bereits dunkel. Wie lange hatte er geschlafen? Zu lange! Raen schlich zu seinem Pferd. Die Rappstute, die ihn tröstlich an Jakori erinnerte, stand ruhig da.
Er lauschte auf das Gebell. Suchten sie etwa schon mit Hunden nach ihnen, oder war es nur eine Jagd? Es war eigentlich egal, was es war, denn wenn sie ihn fänden, dann wäre alles aus. Das Gebell wurde lauter, und sein Pferd trat nervös von einem Huf auf den anderen. Leise sprach er mit ihm, und es beruhigte sich wieder.
Mit geschlossenen Augen und mit größter Mühe das herauf drängende Husten im Hals bekämpfend, hockte er neben dem Pferd und horchte angespannt auf die Laute, zu denen sich jetzt auch menschliche Rufe gesellt hatten.
Beruhigend strich er über die Nase der Stute, die ihren Kopf zu ihm heruntergebeugt hatte.
‚Ein gutes Pferd’, dachte er. ‚Es verhält sich ganz still. Wahrscheinlich ein Armeepferd und gut ausgebildet.’
Plötzlich tauchte Fackelschein in einiger Entfernung aus dem Unterholz auf. Raen erstarrte, sein Herzschlag ging schneller und seine Hand suchte den Griff des kleinen Messers. Das Licht der Fackeln, Raen zählte vier, bewegte sich flackernd auf ihn zu, und die Stimmen wurden lauter. Und schließlich konnte er mindestens ein Dutzend dunkle Gestalten mit Hunden an langen Leinen durch den Wald kommen sehen. Das Kratzen im Hals wurde schlimmer, und beinahe wäre ihm das Husten herausgeplatzt, doch schnell presste er sich die andere Hand vor den Mund und biss sich auf die Zunge. Absolut bewegungslos verschmolzen der fremde Krieger und das Pferd mit den nächtlichen Schatten Askhars, als der Fackelzug unweit an ihnen vorüberging.
Und dann war es wieder still im Wald. Das Gebell und die Rufe waren verklungen, der Fackelschein erloschen.
Noch eine Weile verharrte Raen weiter lauschend, bis er es wagte, sich zu rühren. Erleichtert nahm er die Hand vom Mund, und ein leises Husten bahnte sich seinen lange unterdrückten Weg. Raen spürte die Nase des Pferdes an seine Schulter stupsen, als wolle es ihm sagen, er solle besser noch leise sein, und er musste lächeln. Das Pferd schnaubte verhalten, als hätte es auch das gesehen.
Raen erhob sich und lobte es flüsternd: „Gut, dass dein Fell so schwarz wie die Nacht ist, meine Freundin. Wenn es weiß gewesen wäre, hätte es unseren Verfolgern schon von weitem den Weg zu uns geleuchtet!“ ‚Auch dass ihre Hunde uns nicht gewittert haben, war ein Wunder‘, dachte er. Der Wind hatte offenbar günstig für sie gestanden.
Er schlich die paar Schritte zum Waldrand und spähte durch die Baumstämme auf das offene Land. In der Ferne konnte er in den Feldern die Beleuchtung einer Siedlung ausmachen. Sie war nicht besonders groß, aber ihre Lichter lockten einladend. Raen strich mit der Hand über die Borke des Stammes, hinter dem er hervor lugte, und mit einem Mal überkam ihn das Gefühl des Heimwehs so überwältigend, dass er schlucken musste. In diesem Moment wünschte er sich nichts mehr, als den Shari-Chorten vor sich zu sehen und mit offenen Armen empfangen zu werden. Die lächelnden Gesichter seiner Familie zogen im Geiste an ihm vorbei, und der Kloß in seinen Hals wurde größer. Würde es tatsächlich so sein? Würden sie ihn so vorbehaltlos willkommen heißen?
Nachdenklich und mit schwerem Herzen wartete er weiter. Hin und wieder nickte er ein.
Den sich nähernden Reiter hörte er erst, als dieser schon in der Nähe des Waldrandes war. Schnell war Raen wieder bei seinem Pferd, das den Kopf erneut zu ihm herabbeugte.
Ein großer Schatten tauchte zwischen den Bäumen auf und bewegte sich direkt auf ihn zu. Es war ein Soldat, das konnte Raen am charakteristischen Klirren seiner Rüstung hören. Er umfasste sein Messer und machte sich bereit.
„Raen?“, hörte er den Soldaten plötzlich leise rufen und sofort entspannte er sich. Es war der Maskierte! Flugs kam er auf die Beine und fragte sich noch während er dem Askharer entgegenging, ob dieser ihn tatsächlich gerade bei seinem richtigen Namen gerufen hatte?
Im Dunkeln konnte er erkennen, dass der Maskierte die rote Rüstung eines Capitano trug. Natürlich war das Visier an seinem Helm heruntergeklappt!
„Ich konnte nicht früher kommen“, sagte der Maskierte und schob den Gesichtsschutz unvermittelt hoch. Ein Tuch war über dessen Nase und Mund gebunden. Er nahm ein großes Bündel vom Pferd und warf es Raen zu. Es war ebenfalls eine Rüstung mit Helm darin. Beim Anlegen half er dem Hy mit den Metallplatten, die schwer auf dessen Schultern zum Liegen kamen. Raen seufzte, sein Körper schien nicht bereit zu sein, diese ungewohnte Last tragen zu wollen, denn seine Muskeln verkrampften sich schmerzhaft. Er fühlte sich eingezwängt, und es schien, als wolle der beklemmende Metallkäfig ihm die Luft aus der Lunge quetschen. Er hustete heftig.
„Das hört sich nicht gut an“, kommentierte der Maskierte und verschloss die letzte Schnalle an Raens linker Seite.
Der erwiderte nichts darauf, sondern berichtete von den Männern mit den Hunden.
„Ja, sie suchen überall nach uns. Sie wissen jetzt, dass wir zu zweit unterwegs sind. Sie wissen auch von der Maske. Deshalb habe ich jetzt unsere Verkleidung geändert.“ Woher er die Rüstungen hatte, erzählte der Maskierte nicht, allerdings aber von der Belohnung, die auf sie ausgesetzt war und die nun auch die einfachen Bürger aufstacheln würde, sich zu Volkswehren zusammenzuschließen und das ganze Land nach den Gesuchten zu durchkämmen in der Hoffnung, von dem fetten Batzen etwas abzubekommen. „Wir werden die große Stadt umgehen, in der ich mich ursprünglich zu verstecken gedacht hatte, und nach Westen ausweichen, dort ist noch genug Wald, in dem wir uns verstecken können. Falls uns doch jemand begegnen sollte, bin ich Capitano Silkaster und du heißt Rardor. Wir sind auf Patrouille. Nur ich werde sprechen. Aber zuerst müssen wir heil über die freie Fläche gelangen.“
„Welche große Stadt?“, wollte Raen wissen.
„Braud.“
Obwohl es dunkel war, spürte Raen den forschenden Blick des Maskierten auf sich. Der dachte wohl, er wolle ihn aushorchen, wie umgekehrt auch, das hatte er längst bemerkt und ein kleines Spiel daraus gemacht.
„Bevor du den Helm aufsetzt, binde dir wieder dein Tuch um den Kopf, besser auch noch vor Mund und Nase, so wie ich. Deine glatten Wangen könnten Verdacht erregen.“
„Und wie soll ich mit dem ganzen Kram am Leib auf mein Pferd kommen?“, fragte Raen und der Schalk in seiner Stimme war dabei nicht zu überhören.
Der Maskierte lachte trocken: „Wenn du denkst, ich mache für dich Räuberleiter, dann hast du dich getäuscht!“ Er ging zu Raens Pferd, gab ihm einen unsichtbaren Befehl, und es legte sich hin.
Raen staunte nicht schlecht, verspürte gleichzeitig aber auch Ärger darüber, weil der verdammte Mistkerl ihm das nicht schon früher gezeigt hatte.
„Du solltest bei Kräften bleiben und deine Geschicklichkeit trainieren“, sagte der Askharer, als hätte er seine Gedanken gehört. „Und jetzt hinauf mit dir!“
Raen setzte sich in den Sattel, und auf einen ebenso verstecken Wink hin stand das Pferd behutsam wieder auf. Der Maskierte schwang sich ebenfalls auf den Rücken seines Pferdes.
‚Und du bewegst dich so geübt in deiner Rüstung, dass ich glaube, du steckst nicht zum ersten Mal darin!’, dachte Raen bissig und trieb seine Stute an.
Als die Sonne aufging, waren die beiden Flüchtenden schon seit geraumer Zeit unterwegs. Es war ihnen gelungen, das freie Gelände mit seinen Weilern und Feldern ohne Zwischenfälle zu durchqueren, und immer höher und höher wuchsen die majestätischen Gipfel des Junghal Gebirges im Norden und leuchteten verheißungsvoll im goldenen Sonnenlicht des anbrechenden Tages.
Sie furteten den flachen Sendi und schlugen sich westwärts in den stark zurückgeholzten Wald. Die Nacht verbrachten sie in der Deckung eines großen, abgerundeten Findlings, derer immer mehr auf dem Waldboden herumlagen, als ob sie einem Riesen aus der Tasche gefallen wären.
Unbehelligt kamen sie auch am nächsten Tag voran, und das Wetter blieb warm, doch Raen ging es immer schlechter. Er hatte Fieber und hing wie betäubt im Sattel. Die Rüstung machte ihm schwer zu schaffen und er fühlte sich, als würde er bei lebendigem Leib gekocht. Der Maskierte sorgte sich und beobachtete den Hy genau.
Das Gelände begann wieder anzusteigen. Das Junghal war nicht mehr fern und auch die Grenze nicht.
Als sie rechterhand entlang eines Hanges zogen, und ein kahles Stück Schuttschulter sich auftat, wo eine Steinlawine in die Tiefe gegangen war und alle Bäume mit sich gerissen hatte, konnte Raen einen Blick in das Tal werfen, das sich im Dunst des schwülen Tages zu verbergen versuchte. Und er traute seinen Augen kaum! Wähnte sich schon im Fieberwahn, als er einen großen Teil der Ebene, durch die sich der dünner werdende Saum des Sendi schlängelte, mit Häusern und Zelten bedeckt sah; ein dunkler Brei aus Stein, Lehm und Holz, der nach allen Seiten hin ausquoll. Und im Kern dieses riesigen, auswuchernden Geschwürs wachte gebieterisch auf einem Felsen ein Chorten, die Türme blendend weiß von frischem Putz. Doch plötzlich hatte Raen ein anderes Bild vor Augen: Einen weißen Geier, der über einem schwarzen Feld voller Krähen hockte! Ein Schaudern durchfuhr ihn.
„Ist das Braud?“, fragte er und rieb sich dabei seine müden, brennenden Augen unter dem Helmrand.
Der Maskierte nickte nur und verschwendete keinen weiteren Blick auf die Stadt. Sie erreichten wieder den schützenden Schirm des Waldes.
„Morgen um diese Zeit dürften wir an der Grenze sein!“, sagte er schließlich und wandte sich zu dem Hy. Der fummelte am Riemen seines Helmes herum.
„Was ist?“
Beinahe panisch riss Raen sich den Kübel vom Kopf.
„Ich ... ich bekomme ... keine Luft mehr!“, antwortete er atemlos. Doch er beruhigte sich nicht, sondern begann fahrig an den Schnallen des Brustschutzes zu zerren. Verwirrt von der Unruhe auf seinem Rücken, blieb sein Pferd stehen.
„Ich muss ... hier raus ... raus! Schnell!“ Das Rasseln in seiner Lunge klang mörderisch.
Sofort wendete der Maskierte und lenkte sein Pferd neben die Rappstute.
„Bleib ruhig und steig ab!“
Entkräftet rutschte Raen auf den steinigen Waldboden und lag wie ein Käfer auf dem Rücken. Hilflos strampelte er mit Armen und Beinen und keuchte und hustete in einem fort. Mit wenigen geübten Griffen befreite der Maskierte ihn von den Metallplatten, und Raen drehte sich auf die Seite. Der Hustenanfall schüttelte ihn, dass sein ganzer Körper bebte.
„Lungenfieber, oder gar Ärgeres“, konstatierte der Maskierte ernst und sah auf den sich krümmenden Hy hinab. „Du brauchst dringend ein warmes Bett, Medizin und besseres Essen. Tu mir einen Gefallen, ja? Krepier nicht so kurz vor dem Ziel! In zwei Tagen wirst du bei deinen verdammten Hy-Brüdern sitzen und über alles lachen! Hörst du?“, schnauzte er den Kranken an, dessen Husten sich langsam etwas zu legen schien.
Den Kopf in den Nacken gelegt und mit geschlossenen Augen, bemühte sich Raen, wieder zu Atem zu kommen. Aus allen seinen Poren strömte der Schweiß und sein rotes Unterkleid war bereits regelrecht durchtränkt.
Der Maskierte nahm den zusammengerollten Umhang aus dem Gepäck und legte ihn dem Jüngeren um die Schultern, damit er nicht noch mehr auskühlte.
Aber der frische Luftzug auf seinem Gesicht beruhigte Raen schließlich wieder, und mit fiebrig glänzendem Blick sah er zu dem Askharer auf.
„In zwei Tagen, sagst du?“
„Ja, nicht länger. Außer, du willst hier noch länger herumsitzen!“
Raen nickte. „Dann will ich durchhalten!“ Er wollte aufstehen, doch der Maskiere musste ihm dabei helfen, und da das Gelände zu steinig für das Pferd war, um sich hinzulegen, hievte er ihn nun doch noch in den Sattel.
„Jetzt hast ja doch Räuberleiter für mich gemacht!“, stellte Raen mit einem matten Lächeln fest.
„Und wenn du noch scherzen kannst, dann kann es ja nicht so sehr schlimm mit dir sein!“ Mit einem säuerlichen Blitzen in seinen blauen Augen drehte der Maskierte sich auf dem Absatz, und wenig später waren sie wieder unterwegs. Raens Rüstung ließen sie versteckt in der Höhlung eines Baumstumpfes zurück.
Der Abend war mild und selbst hier oben zirpten ein paar bergfeste Grillen. Nach dem kargen Mahl, das einmal mehr wieder aus Hartbrot und einem Stück Gepökeltem bestanden hatte, wickelte Raen sich fest in seine zwei Decken und sah zu dem Maskierten hinüber, der mit seinem Messer gedankenverloren im Boden stocherte. Beide konnten keine Ruhe finden; immer näher rückte die Stunde, in der sich ihre Wege trennen würden. Seltsamerweise bedauerte Raen dies, denn er hatte sich an die ruppige Art des Askharers gewöhnt und hätte gern noch mehr über ihn in Erfahrung gebracht.
„Wann wirst du mich verlassen?“, fragte er, und der Maskierte blickte auf. Er hatte das Tuch so um den Kopf gewunden, dass es noch einen Streifen für die Augen frei ließ.
„Wenn die Grenzmauer in Sicht ist, dann lasse ich dich ziehen. Ich werde von einer der Felsklippen aus beobachten, ob du es schaffst.“
„Und wenn ich es schaffe, kannst du wieder ruhig schlafen?“
„Ja.“
„Und wohin wirst du dann zurückkehren?“ Raen ahnte, dass er kaum eine Antwort darauf erhalten würde, aber einen letzten Versuch war es wert.
„Ich gehe dahin, wo ich meine Arbeit fortsetzen kann, die ich vor vielen Jahren begonnen habe.“
„Wurdest du dort denn von niemandem vermisst?“
„Mein Problem!“, brummte der Maskierte. „Aber verrate du mir jetzt auch noch eines: Warum bist du damals über die Grenze gekommen und hast den General getötet?“
Raen lächelte vieldeutig. „Sagen wir, ich hatte eben auch einen Auftrag zu erfüllen!“ Er konnte an den Augen des Maskierten sehen, dass dieser ebenfalls lächelte.
„Du bist wirklich eine harte Nuss, Hy! Und ich bin ein Narr, dass ich angenommen habe, dich kracken zu können, obwohl dies zuvor schon die Kerkermeister des Königs mit ihrer Folter nicht erreicht haben!“, gab der Askharer zu.
„Soll das etwa ein Kompliment sein?“, stichelte Raen spöttisch.
„Nimm es, wie du willst, hyaunischer Klugschwätzer!“, erwiderte der Ältere brüsk und steckte das Messer weg. „Ich werde jetzt schlafen und das solltest du auch tun.“
Ein Hustenanfall bewahrte Raen vor einer Antwort, und völlig erschöpft legte er sich in die Kuhle, die er so weit es ging von Steinen befreit hatte.
In der Nacht träumte er, dass das alte Blutpferd, als es noch nicht Al Nor war, ihn auf seinem Rücken durch das Tor des Shari-Chorten trug. Er nahm das als ein gutes Zeichen und erwachte am nächsten Morgen zwar nicht gesünder aber mit frischem Mut.
Sie kletterten mit ihren Pferden am Zügel zwischen den Baumstämmen den Hang hinab und stießen unten in dem breiten Einschnitt auf eine erstaunlich gut ausgebaute Straße.
„Sie führt zur Grenze“, sagte der Maskierte. „Wie es dort aussieht, brauche ich dir ja nicht zu beschreiben, daran erinnerst du dich ja sicherlich selbst noch, oder?“
Raen nickte. „Sag mir nur, wie viele Posten ich dort vorfinden werde.“
„Ich schätze, etwa zwanzig. Es ist eine kleine Ansammlung von Hütten, von denen aus sie die Grenze beobachten. Wenn du im Schutze der Nacht langsam an sie heran reitest und dann plötzlich durchbrichst, dürftest du sie überraschen. Sie denken eh nicht, dass jemand von hinten kommt. Lass dein Pferd laufen und hoffe, dass es sich in der Dunkelheit nicht die Fesseln bricht! Die Fackeln auf dem Kamm der Mauer deiner Landsleute werden dir die Richtung weisen. Mehr kann ich dir nicht raten.“
Sie blieben tief in der Deckung des Waldes und folgen der sich windenden Straße nach Norden, bis das Gelände sich unvermittelt öffnete und der Blick auf die Grenze frei war!
Raen hielt den Atem an. Es waren die zwei ‚Wächter’, die er sofort erkannte! Gigantisch thronten die beiden Zwillingsberge über der erhöht liegenden Doban-Provinz und wiesen den Eingang zum Pass. Davor lag die Mauer; ein weitgedehntes Bollwerk aus Granit und entschlossenen Menschen! Alles war so vertraut, als sei er erst gestern hier gewesen! Die beiden hohen Felsklippen, die Straße, welche zwischen ihnen hindurchführte und die Schotterschulter, auf der die Mauer stand. Nur die Handvoll Hütten, gebaut im Schatten der Felswände, waren neu.
Raen prägte sich die Entfernungen genau ein, denn im Dunkeln würden sie schlecht zu schätzen sein.
„Nachts werden vermutlich nur wenige Wachtposten draußen sein. Bis sie Alarm geschlagen haben, bist du an ihnen vorbei.“
„Und wo wirst du sein?“
„Hier.“
Sie bereiteten das Lager. Der Maskierte versorgte die Pferde und sah nach, ob die schwarze Stute den halsbrecherischen Ritt schaffen würde. Aber bis auf zwei verheilende Schnittwunden an ihren Fesseln schien sie gut in Form zu sein, ganz im Gegensatz zu ihrem Reiter, der alles andere als in guter Verfassung war!
Immer wieder verhalten hustend saß der Hy in seine Decken gewickelt und trank in kleinen Schlucken Wasser. Er hatte sich sein Kopftuch getränkt und auf die Stirn gelegt. Der Maskierte sah, wie dessen Hand zitterte, wenn er den Wasserschlauch zum Mund führte. Er zückte sein Messer, zerschnitt seinen eh schon zerrupften Umhang und wickelte die Fetzen um die Hufe der Stute, die ihre neuen Schuhe neugierig beschnupperte. Dann überprüfte er Zaumzeug und Sattelgurt und setzte sich schließlich zu dem Mann, den die Prophezeiung ihm aufgetragen hatte zu retten.
Der Hy hob flatternd die Lider und blickte den Maskierten an, das Grün seiner Augen zu einem matten Grau verblichen.
„Wird es gehen?“
„Es muss!“, krächzte der Hy heiser und legte seinen Kopf an den Stamm der Tanne, an die er sich gelehnt hatte.
‚Er ist verdammt zäh’, dachte der Askharer nicht ohne gewisse Anerkennung. Und er sann darüber nach, was einen solchen Mann antreiben mochte, der gedemütigt bis aufs Mark durch alle Feuer der Hölle der Gefangenschaft gegangen war? Er würde heimgehen, dachte er, seine Füße würden bald den Boden seiner Heimat betreten.
Über ihren Köpfen rauschten ihre Äste sanft im Wind, und bald dösten beide weg.
Der Maskierte weckte den Hy kurz nach Mitternacht.
„Es ist Zeit“, flüsterte er leise. Und nachdem er die Stute bereit gemacht hatte, legte er Raen sein Schwert in die Hände. „Du wirst es brauchen. Ein Krieger sollte nie ohne ein Schwert losziehen!“
Der Hy nahm es und hängte es an seinen Sattel. Dann zögerte er. Schließlich hielt er dem Askharer seine Hand entgegen. „Auch wenn wir keine Freundschaft gefunden haben, ich danke dir trotzdem! Ich stehe tief in deiner Schuld.“
Der Maskierte war unschlüssig, nahm aber dann die fieberwarme Hand des jungen Mannes mit dem er mehr oder weniger unfreiwillig den letzten Monat zusammen verbracht hatte und drückte sie kurz. Mit wachsender Unruhe spürte er die schwindende Kraft des Hy und ließ schnell los. „Du schuldest mir gar nichts, wie gesagt, ich habe ...“
„... du hast es nicht für mich getan, ja, ich weiß.“ Der Hy musterte ihn ein letztes Mal, aber die Dunkelheit verriet nichts über dessen Regungen. „So sei es denn.“ Mühevoll zog er sich auf das Pferd. „Wenn auf der Mauer die Fackeln in Bewegung geraten, sollte ich es geschafft haben, dann kannst du getrost nach Hause reiten, Askharer“, sprach der Jüngere, und gab der Stute anschließend seine Hacken in die Weichen.
Wenig später war er im stillen, nächtlichen Wald verschwunden, und nur noch der leise Tritt der Stute war zu hören.
Nachdenklich sah der Maskierte dem Hy nach und lauschte. Dann ging er zurück zum Lager, rollte seine Decke zusammen, verstaute sie auf seinem Pferd und harrte der Dinge.
Auf der Straße ließ Raen die Stute bald in den Schritt fallen, und als er die Lichter der Grenzposten sah, hielt er sie an. Eine unerträgliche Beklemmung breitete sich in seinem geplagten Brustkorb aus, und nicht zum ersten Mal wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Jedes einzelne Körperglied schmerzte und in seinem Kopf hämmerte ein dumpfer Trommelschlag. Mit jedem Pochen verschwammen die Lichter vor seinen Augen, und er schloss sie für einen Moment. Er fühlte sich viel zu schwach, um das durchzustehen, was vor ihm lag! Und er wusste, wenn er vom Pferd fiel, war es aus! Aber es war die einzige Möglichkeit.
Raen schüttelte den Kopf, schlug sich links und rechts auf die Wange, wickelte die Zügel fest um seine Rechte und krallte seine Linke in die Mähne der Stute.
Leise pirschten sie sich an die im Feuerschein tanzenden Schatten der Hütten an, und etwa fünfzig Schritt vor der ersten Hütte stoppte Raen erneut. Er sah nur zwei askharische Wachtposten bei den Feuern sitzen, sonst rührte sich nichts.
Sachte klopfte er der Stute auf den Hals und flüsterte ihr in Hyaunisch zu: „Jetzt gilt es, meine Freundin. Gib, was du kannst!“ Dann trieb er sie an, erst langsam und dann immer schneller, die Wachtposten genau im Auge behaltend. Diese blieben zunächst arglos, bis einer von ihnen plötzlich den Kopf umwandte.
Raen presste der Stute die Unterschenkel an den Leib, und sie sprang los.
Im Schwarz der Nacht kamen die Feuer auf ihn zu, wabernd und funkensprühend, blendeten sie seine überempfindlichen Augen.
Die beiden Wachen fuhren hoch, als er in den Lichtschein eintauchte. Sie zückten ihre Schwerter, doch da hetzte er auch schon an ihnen vorbei, tief über den Hals des Pferdes gebeugt; ein dunkler Windstoß aus dem Nichts, der schon vorüber war, bevor er überhaupt richtig losgelegt hatte!
Die Wachen riefen sofort Alarm, doch Raen war bereits in das Grenzland vorgestoßen und hatte nur noch stockschwarze Dunkelheit vor sich, an deren Ende weit über ihm eine Reihe Fackeln in regelmäßigen Abständen flackerten.
Die Stute flog dahin, und er fühlte, wie Wirklichkeit und Traum sich vermischten, als er scheinbar schwerelos durch den Nachtwind schwebte.
Doch da strauchelte das Pferd unter ihm, fing sich aber wieder und lief, seine letzten Kräfte gebend, weiter. Raen, jäh aus seinem Rausch gerissen, besann sich wieder und begann so laut zu rufen, wie der schneidende Schmerz in seinen Lungen es zuließ.
„Chortam Hy, jem aesene! Wächter Hys, hört mich!“, schrie er immer wieder im Wechsel mit dem keuchenden Husten. Und plötzlich nahm er Bewegung auf der Mauer war. Einige der Fackeln verließen ihre Position und vereinten sich mit anderen an einer Stelle.
Dann erreichte die Stute die Schotterschulter, bremste abrupt und lief unruhig davor hin und her, fand aber keinen Weg hinauf. Schließlich hielt Raen sie an und stieg ab.
„Heda! Wer ist dort unten?“, hörte er eine Stimme von oben herab. Wohlklingende hyaunische Laute!
„Banskeid Raen aus Shari!“, brüllte er zurück. „Ich bin einer von Euch, ein Hy!“
Einige Fackeln kamen geflogen und erhellten die Nacht um ihn herum. Schützend hielt er eine Hand vor die Augen.
„Einer von uns? Das kann nicht sein! Verschwinde, oder wir schießen!“
„Nicht doch! So glaubt mir, würde ich sonst in eurer Sprache sprechen können? Bitte, werft mir ein Seil herunter, ich werde verfolgt!“
Anstelle eines Seils schlug direkt neben ihm ein Pfeil ein. Ungeschickt sprang er zurück und fiel hin.
„Nicht schießen! Verflucht! Wie kann ich es euch beweisen?“ Er hatte kaum noch eine Stimme und seine Lungen würden ihm bald den Dienst versagen. Mit aufgerissenem Mund sog er die Luft ein. „Helft mir!“
„Wenn du ein Banskeid bist, dann nenne uns die erste Nachricht unseres neuen Setna!“
Neuer Setna? Das hatte er überhaupt nicht mitbekommen. Die Stimme in seinem Kopf schien immer noch die alte zu sein. Wollten sie ihn auf die Probe stellen? Raen überlegte fieberhaft.
„Äh.“ Leider musste er raten. „Die Schlange Askhars schläft friedlich, doch seid wachsam?“
„Falsch!“ Ein weiterer Pfeil schlug neben ihm ein, und Raen beeilte sich, auf die Füße zu kommen.
„Wartet!“, schrie er. „Ich war in Gefangenschaft und bewusstlos! Nicht schießen, bitte! Ich kann mich nicht erinnern!“
„Du hast noch einen Versuch!“
Verzweifelt kramte Raen in seinem maroden Gedächtnis. Er würde wieder raten müssen. Er lachte hysterisch auf. War der Hohn des Schicksals? Dass er jetzt hier von seinen eigenen Landsleuten niedergeschossen werden sollte?
‚Denk nach!’, spornte er sich an. Aber es ging nicht, da war einfach nichts, woran er sich hätte erinnern können. Sein Brustkorb hob und senkte sich angestrengt, und sein Atem klang viel zu laut in seinen eigenen Ohren. Schweiß lief ihm in die Augen.
Denk nach, junger Krieger! Es war die Stimme Al Nors. Raen fühlte Erleichterung. Wenigstens ließ er ihn jetzt nicht im Stich!
‚Ich denke ja, aber es will mir nichts einfallen!’
Du hast es mit deinen eigenen Augen gesehen!
‚Was? Bitte, sage es mir, du siehst doch, in welcher Lage ich mich befinde!’
Das leise Lachen Al Nors entfernte sich.
‚Bleib bei mir!’, rief Raen entrüstet hinter ihm her, doch leider vergeblich. ‚Was, zum Teufel, habe ich gesehen, und wann?’ Er presste sich die Hände an die Schläfen.
„Sprich, oder der nächste Pfeil wird dich treffen!“, tönte es von oben herab. „Unsere Geduld ist am Ende.“
Raen hob seinen Kopf dem Licht entgegen, und plötzlich stand es klar und deutlich vor seinen Augen.
„Den Blick nach Süden, ihr, die ihr dem Schwerte dient, die große Stadt am Terr schwillt! Sie wird erwachen, wenn ... wenn der weiße Geier fliegt, und die Krähen folgen!“, pumpte er mit letzter Kraft, und die Lichter der Fackeln begannen einen Tanz.
Dann fiel plötzlich ein Seil von oben herab.
„Ich danke dir, Al Nor!“, flüsterte er und kroch auf allen vieren die Schotterschulter hinauf. Oben griff er nach dem Hanf und wickelte es sich um das Handgelenk.
„Zieht! Ich kann nicht klettern! Zieht!“ Das Seil ruckte an. Plötzlich schlugen aus der anderen Richtung Pfeile an den Stein der Mauer.
„Schneller! Meine Verfolger kommen!“, drängte Raen, den Geschmack von Blut auf der Zunge, seine Lunge war ein einziges Feuermeer! Er hörte, wie Pfeile über ihm von der Mauer aus in die Nacht flogen. Quälend langsam scheuerte er über den rauen Stein nach oben.
Als er endlich an der Mauerkrone ankam, fassten mehrere kräftige Hände nach ihm und zerrten ihn über die Brustwehr. Wie ein nasser Sack fiel er seinen erstaunt dreinblickenden Landsleuten vor die Füße.
„Ich bin zu Hause“, grinste er dümmlich und lehnte sich zurück.
Zu Hause! Wie sich das anhörte!
Tief hinten im Feindesland zog sich eine schattenhafte Gestalt das Tuch vom Gesicht, nickte anerkennend, vielleicht auch dankbar, und verschwand, ohne sich noch einmal umzuwenden, eiligen Schrittes gen Süden, wo die Sterne hell am Himmel leuchteten.
Ungläubig ließ Loenka den Brief sinken, den sein aufgebrachter Bruder Lako ihm soeben gebracht hatte. Das konnte nicht sein! Mühsam erhob er sich und machte sich, auf seinen Stock gestützt, auf den Weg zu Roman.
Es war selten, dass der Oberpriester persönlich einen Krieger aufsuchte, und deshalb wunderte sich Roman dementsprechend, als Loenka seinen Kopf durch die Luke zum Wachtturm steckte. Mit dem Stock hatte er so seine Schwierigkeiten, die steile Treppe hinaufzukommen, doch schließlich stand er aufgeregt blinzelnd vor Roman und hielt ihm den Brief entgegen.
„Was ist geschehen?“
„Lies!“
Roman las. Als er fertig war, sah er bestürzt auf.
‚So ungefähr muss ich auch ausgesehen haben’, dachte Loenka und sagte: „Ich konnte es auch nicht glauben!“
„Ich muss sofort dorthin!“ Roman wurde ganz unruhig. „Lässt du mich gehen?“
Loenka nickte, und schon war der Krieger an ihm vorbei die Treppe hinunter.
Der andere wachhabende Banskeid sah den Oberpriester fragend an, doch Loenka lächelte lediglich.
„Was ist los, kommt seine Frau nieder?“
„Nein, ein ganz anderes Wunder ist geschehen! Sein Sohn ist zurückgekehrt!“
Der erste Schnee fiel, und die Doban-Provinz wirkte still und friedlich, bis auf die Tatsache, dass die Mauer ständig mit Kriegern besetzt war, die das Grenzland zu ihren Füßen wachsam beobachteten.
Raen saß in der Wärme des Chorten am Fenster und sah auf die weißen Gipfel des Gebirges, welche die eigentliche Wehr gegen die Feinde bildeten. Die beiden Wächter lagen mächtig und abweisend da, gewillt, nur jene durch ihr Tor zu lassen, die hinter ihnen Schutz suchten.
Die Tür ging auf, und Shani kam herein. Die junge Medizi balancierte ein Tablett auf beiden Händen. Mit dem Fuß schob sie die Tür wieder zu und stellte lächelnd das Tablett neben Raen auf der Erkerbank ab. Er hatte sich gefreut, sie nach so langer Zeit wiederzusehen. Inzwischen war sie glücklich mit einem Sattler verheiratet und hatte einen kleinen Sohn. Und sie hatte nicht gezögert, Raen herzlich willkommen zu heißen und ihm angeboten, sich um ihn zu kümmern.
„Hier, das ist gegen deinen Husten und etwas heiße Brühe für deinen Bauch!“ Sie reichte dem Krieger zuerst den Sud aus Kräutern.
Er war speibitter, aber Raen trank ihn tapfer. Zur Belohnung bekam er die Suppe. Er wickelte sich aus seinen zwei Decken und aß.
Währenddessen fühlte Shani ihm Stirn und Puls.
„Noch immer etwas Fieber, aber dein Herz ist schon wieder stärker. Du machst Fortschritte.“
„Leide aber nur auf diesem Gebiet“, meinte er betrübt. Denn wenn er sich von einem Ort zum anderen bewegte, was meist vom Bett in den Erker und zurück war, fühlte er sich so sehr geschwächt, dass er meinte, sich kaum auf die Krücken stützen zu können. Sein lädierter Fuß deprimierte ihn. Shani hatte die Verletzung zwar untersucht, ihm aber leider erklären müssen, dass es wahrscheinlich so bleiben würde, weil der Schnitt, der seine Wadenmuskulatur so mühelos seiner einstigen Funktion entbunden hatte, zu sehr belastet worden war, und dadurch die beiden Enden der Fersensehne zu weit auseinandergerutscht waren. Hätte man den Fuß sofort ruhiggestellt, so hätten sie wieder zusammenwachsen können, doch so ... sie hatte mit den Schultern gezuckt.
Raen hustete in die hohle Hand und stellte die Suppenschale beiseite.
„Hm, klingt noch immer, als hättest du einen ganz mächtigen Brüllfrosch verschluckt!“, grinste Shani, und Raen lächelte zurück. Einmal hatte sie ihn gefragt, was ihn nach Askhar verschlagen hatte und was ihm dort widerfahren war, doch er hatte ihr lediglich von den Umständen seiner Verschleppung berichtet, nicht aber von den sechs Monaten in den verschiedenen Verliesen, in die man ihn eingesperrt hatte, jedes mit seinem ganz eigenen Schrecken! Stattdessen hatte er begonnen, von Borgossa zu plaudern und er war froh, dass sie nicht weiter nach dem Anderen fragte. Denn am liebsten wollte er es vergessen und so tun, als seien all die entsetzlichen Dinge gar nicht passiert. Tagsüber gelang ihm das auch recht gut, nachts aber suchten ihn fürchterliche Alpträume heim, und immer wieder wachte er in dem Glauben auf, er sei noch angekettet in dem dunklen, rattenverseuchten Loch, und schlug panisch um sich. Shani, die in seiner Nähe schlief, weil sie sich um seinen Zustand sorgte, musste ihn dann jedes Mal beruhigen und ihm versichern, dass er in Hy und in Sicherheit war.
„Ich werde wohl den Winter über hier bleiben müssen, was?“, fragte er, die unangenehmen Gedanken beiseite schiebend.
Shani schaute aus dem Fenster. „Der Pass wird trotz des Schnees gut begehbar sein.“
„Du sagst es, begehbar!“ Er hob seinen linken Fuß. „Ich muss wohl warten, bis man wieder mit dem Pferd hinüberkommt.“
„Ich denke, auch ein Pferd wird es schaffen. Sag mal, warum scheust du dich so, in deine Heimat zurückzukehren?“
„Ich scheue mich nicht!“, wehrte Raen ab, aber offenbar nicht glaubwürdig genug, denn Shani blickte ihn durchdringend an.
„Ich mag die Kälte nicht. Sie wäre auch nicht gut für meine Lunge. Und außerdem sollte ich den Husten wohl besser hier auskurieren, oder?“, schob er nach.
Shani zog die Lippen kraus. „Vermisst du denn deine Verlobte gar nicht? Deine Familie?“
Er schüttelte den Kopf. „Ich habe sie beinahe ...“, er musste überlegen, „... drei Jahre nicht gesehen, da werden ein paar Monate mehr auch nichts ausmachen.“
„Schäm dich, du kalter, herzloser Kerl!“
„Wieso?“ Raen hob die Schultern. „Es war schließlich nicht meine Idee gewesen, nach Borgossa zu gehen, und nach Askhar hat es mich wohl auch nicht freiwillig verschlagen.“ Er musste stark husten. Die Aufregung reizte seinen Hals.
Shani ließ sich wie immer erweichen und strich ihm beruhigend über den Rücken; eine sehr tröstliche Berührung, und Raen konnte nicht anders, als sich an sie zu lehnen.
„Dein Ehemann möge es mir nachsehen, aber bitte, halt mich für einen Moment, ja?“ Ohne die Antwort abzuwarten, schloss er die Augen und horchte still auf ihren unerschütterlichen Herzschlag.
Shani hielt ihn und fragte sich nicht zum ersten Mal, was dieser seltsame Mann nur an sich hatte, dass sie sich in seiner Nähe ständig dazu hingerissen fühlte, ihre Vernunft einfach zu vergessen. Sie legte ihre Wange an seinen frisch geschorenen Scheitel und wiegte ihn ein wenig, wie sie es mit ihrem Sohn immer tat. Seit sie Raen damals nach dem Krieg und seiner schweren Verwundung gepflegt hatte, hatte er sich stark verändert. Waren es doch seine unbändige Lebensfreude und sein sprühender Witz gewesen, von denen sie sich angezogen gefühlt hatte. Jetzt aber wirkte er nicht nur durch die Krankheit und die Auszehrung erheblich gealtert, auch die Art, wie er sprach, ließ ihn ernüchtert und ernst erscheinen. Und was war mit den vielen neuen Narben an seinem Körper? Stammten sie alle aus der Gefangenschaft?
Sie unterdrückte einen Schauer. Was hatte er nur erdulden müssen?
Fragen über Fragen türmten sich in ihrem Kopf, doch sie konnte sie allesamt nicht stellen, darüber hatten sie ein stilles Abkommen geschlossen.
Nach einer Weile stellte sie fest, dass Raen eingeschlafen war. Ruhig blieb sie sitzen und genoss ihrerseits das Gefühl, gebraucht zu werden.
Zwei Tage später bekam Raen Besuch vom Oberpriester des Dreigestirns Dobans. Zuvor war nur ein Zhangha-Priester bei ihm gewesen und hatte ihn die Erleichterung durch besagtes gleichnamiges Mittel und Begleitung in die Meditation angeboten, doch Raen hatte höflich abgelehnt und den Priester fortgeschickt. Er hatte keine Lust, seine entwürdigenden Erlebnisse in Askhar gegenüber den Priestern preiszugeben. Außerdem standen ihm noch deutlich die Worte Manoens im Gedächtnis: ‚Hüte dich vor dem Handwerkszeug der Priester, damit kriegen sie dich klein!’
Raens freundliche, aber bestimmte Zurückweisung hatte jedoch für einiges Stirnrunzeln im Tempel gesorgt, und nun hatte der Hyaunset suer sich auf den Weg gemacht, den rätselhaften Heimgekehrten selbst zu befragen. Shani kündigte den Besucher an.
Der Oberpriester trat ein und grüßte. Er erkundigte sich nach dem Ergehen Raens und setzte sich nach dessen Aufforderung ihm gegenüber in den Erker. Draußen schneite es seit der Nacht.
„Nun, was kann ich wohl für den Hyaunset suer tun, dass er persönlich zu mir kommt?“, fragte Raen nicht ganz ohne einen leichten Hauch von Spott, nachdem sie sich gegenseitig gemustert hatten. Er kannte den Mann mit seinem bemüht strengen Blick und seinem verbissenen Gesichtsausdruck noch sehr gut, hatte der ihn doch damals nach seinem Grenzübertritt verurteilt. Albern wichtig blickte er jetzt von oben herab, und Raen fühlte sich wieder daran erinnert, dass er all jene Menschen verabscheute, die ihrer Würde nur mit Nachdruck und Gewalt zur Achtung verhelfen konnten, was sie weit über die Natürlichkeit ihrer Person hinaus stellte und sie deshalb so lachhaft wirken ließ.
Ein strenger Blick des Oberpriesters genügte, und Shani verließ den Raum. Dann begann der Mann mit affektierter Betonung zu sprechen: „Hyaun Banskeid Raen, mich interessiert, warum du die Zhangha-Weihe abgelehnt hast? Es ist die Pflicht eines jeden B-“ Weiter kam er nicht, denn Raen hob eine Hand und schnitt ihm damit bewusst unhöflich das Wort ab.
„Hyaunset suer, ich kenne meine Pflichten durchaus. Aber sollte es einem leidgeprüften Manne wie mir nicht gestattet sein, sich von seinen Strapazen zu erholen und erst dann in den Tempel zu kommen, wenn er überhaupt in der Lage ist, zu laufen? Bis dahin möchte ich mich dagegen entscheiden“, sagte er beherrscht, doch innerlich wütete bereits ein Sturm der Zweifel. Hatte Manoen nun Recht oder nicht? Würden sie ihn zwingen, an der Zhangha-Zeremonie teilzunehmen, wenn er sich verweigerte?
‚Hüte dich!’ Manoens Warnung, obwohl Raen sie reichlich übertrieben gefunden hatte, wollte ihm nicht aus dem Kopf. ‚Nimm dich in Acht vor der Macht der Priester!’
‚Das ist doch lächerlich!’, hatte er damals hitzig darauf geantwortet, doch in diesem Moment im Angesicht dieses verbiesterten Priesters erschien Raen das Ganze gar nicht mehr so lächerlich.
„Das ist Blasphemie!“, rötete sich der viel ältere Kleriker und hob drohend den Zeigefinger.
Raen machte ein betroffenes Gesicht. „Welch gar zu gestrenges Wort! Aber ich würde es eher Selbstbestimmung nennen.“ Er flüsterte beinahe.
„Wir könnten veranlassen, dir dein Aun abzunehmen und dich aus der Kaste auszustoßen, wenn du nicht gehorchst. Du bist kein unbeschriebenes Blatt, das ist dir doch bewusst?“, wetterte der Hyaunset suer.
„Sehr gut sogar! Aber bitte, nur zu“, er deutete auf sein Aun, „ich wäre frohgemut, wenn es endlich wieder etwas stiller in meinem Kopf wäre!“
Der Oberpriester platzte beinahe vor Empörung, sein Gesicht hatte die Farbe von rohem Murmeltierfleisch, erkannte Raen amüsiert, verbot sich aber ein Lächeln. Seine Züge blieben hart.
„Ich werde darüber mit Tena-lo-Ghan und dem Clanrat zu Shari beraten! Eine erneute derartige Unbotmäßigkeit kann und werde ich nicht dulden!“
Raen beschloss, sich noch einen weiteren Schritt vorzuwagen, den er eigentlich so schnell nicht hatte gehen wollen, aber die Gelegenheit war einfach zu verlockend für eine weitere Provokation.
„Und was soll die Strafe sein, erneute Verbannung nach Borgossa? Hm?“ Er lachte grimmig. „Das schreckt mich nur wenig, Hyaunset suer Veringhal! Wahrlich, damit würdet ihr mir sogar einen Gefallen tun.“
„Unverschämter Rotzlümmel! Was erlaubst du dir, so mit mir zu reden!“
Es war offensichtlich, dass das an absolute Gefügigkeit gewöhnte Gemüt des Oberpriesters derlei freche Respektlosigkeit nicht geläufig war, denn er bebte förmlich. Seine dunkelroten Lippen zitterten und brachten es kaum fertig, die nächsten Worte zu formen.
„Banskeid Raen, ich ersuchte dich, zur Buße in den Tempel zu kommen, unverzüglich! Deine Sinne scheinen noch ganz durcheinander von der abscheulichen Verrohung, die dir dort in D-D-“ , er tat sich sichtlich schwer es auszusprechen, „in Dorpal widerfahren ist. Solltest du diesem Aufruf nachkommen und dich an deinen Gehorsam erinnern, so werde ich vielleicht davon absehen, Tena-lo-Ghan zu verständigen. Ich erwarte dich!“ Damit erhob er sich und verließ schwungvoll und mit wehender gelber Robe den Raum. Als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, stieß Raen scharf Luft aus. Ihm war sehr wohl bewusst, was er da soeben getan hatte, doch mit einem Mal wurde ihm unbehaglich zu Mute. Er wischte sich über die heiße Stirn. Er hatte gegen einen Oberpriester aufbegehrt, kaum, dass er wieder einen Fuß auf hyaunischen Boden gesetzt hatte. Schon war der erste Disput heraufbeschworen! Mit Mühe zwang er sich zur Ruhe. ‚Wenn du je herausfinden willst, ob es wahr ist, was Manoen behauptet hat, so wird das nicht der einzige Priester bleiben, mit dem du dich anlegen wirst.’
Es klopfte, und die Tür öffnete sich wieder. Raen sah rasch auf. Offensichtlich zu rasch, denn Shani stand im Spalt und fragte besorgt: „Ist alles in Ordnung?“
„Ja, komm nur herein.“
„Ähm, ich bleibe lieber draußen, aber hier ist noch ein ... Besucher, der zu dir will. Er kommt einen weiten Weg, um dich zu sehen!“
War denn heute etwa Audienztag?, dachte Raen verärgert und zog sich seine Decken wieder um die Schultern. „Wer ist es?“, fragte er.
Doch Shani lächelte nur geheimnisvoll, und dann öffnete sich die Tür ganz.
Als Raen die angekündigte Person erkannte, zog ein spontanes Lächeln über sein Gesicht.
Auch Roman strahlte bis über beide Ohren und trat zu seinem Sohn. Der erhob sich, und sie fielen einander in die Arme.
Als sie sich wieder voneinander lösten, sah Raen, dass sein Vater Tränen in den Augen hatte. Dessen Hände langen noch auf seinen Schultern.
„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, flüsterte Roman.
„Vater, dass du hier bist, genügt mir schon. Ich brauche keine Worte.“
„Schön, dich gesund und heil zu sehen!“ Sein Vater tätschelte ihm die Wange, als sei er wieder sechs Jahre alt.
Raen senkte verlegen den Kopf. „Lebendig wäre zutreffender, leider bin ich weder ganz gesund noch heil“, erklärte er ohne seine Niedergeschlagenheit zu verbergen, vor seinem Vater brauchte er sich nicht zu verstellen, das wusste er. Er sah ihn wieder an, sah die vielen lustigen Falten um dessen Augen und den nachdenklichen Zug um dessen Mund. Unzählige kleine Momente aus seiner Kindheit fielen ihm ein, in denen dieses Gesicht sich lächelnd zu ihm herabgebeugt und ihn wieder auf die Beine gestellt hatte, wenn er gefallen war oder sich unglücklich gefühlt hatte. Sein Vater war ein Stück Heimat, ein Stück Vergangenheit. Und er war und blieb sein Vater, egal was auch passieren mochte. Der Kloß in seinem Hals wuchs. Wie eine himmelhohe Woge drohte die Vergangenheit erneut auf ihn hereinzubrechen, und er musste seinen Blick wieder senken.
„Aber du bist wieder hier, Raen, nach alldem ... du weißt gar nicht, wie sehr wir dich vermisst haben.“
Raen lächelte. Er war froh, dass sein Vater gekommen war. Er war die Vorhut, ein Schutzschild. Mit ihm zusammen würde es ihm leichter fallen, den Weg nach Hause zu wagen.
Sie setzten sich, und zögernd begann Raen von sich aus zu erzählen. Doch auch seinem Vater konnte er nicht alles sagen. Einige Dinge beschämten ihn so sehr, dass er sie niemals mit jemandem würde teilen können. Das war sein eigenes unaussprechliches Geheimnis.
Als Raen geendet hatte, schwieg Roman betroffen, auch ohne die delikaten Details zu kennen. Er hatte ihn kaum unterbrochen und einfach nur zugehört, und Raen wusste, dass seine Erlebnisse, obwohl er sie in deutlich verharmloster Form erzählt hatte, fuderweise dessen Vorstellungskraft überstiegen.
Ein erneuter Hustenanfall schüttelte ihn, und sein Vater sah ihn besorgt an.
„Ich gehe jetzt besser und beziehe mein Quartier. Ich schaue heute Abend noch einmal nach dir. Brauchst du noch etwas, das ich für dich holen kann?“, fragte sein Vater.
Raen schüttelte mit dem Kopf. „Ich habe eine treu sorgende Seele, die sich um mich kümmert, danke.“
„Etwa dieses Mädchen, Shani?“ Roman musste grinsen, denn natürlich erinnerte er sich daran, dass sie Raen schon einmal gepflegt hatte und dabei recht resolut vorgegangen war. Einmal hatte sie den gesamten Clanrat ohne Widerrede aus dem Raum geworfen.
„Nun denn, wir sehen uns.“ Sein Vater erhob sich und verließ das Zimmer.
Eine Weile starrte Raen auf die geschlossene Tür. Dann konnte er seine Tränen plötzlich nicht mehr halten und heulte Rotz und Wasser wie ein kleines Kind; allein mit sich und dem Wissen, dass er sie alle wieder enttäuschen würde.
Das Fieber wollte einfach nicht nachlassen und am Abend stieg es noch. Raen lag bereits im Bett und dämmerte vor sich hin, als Roman an seiner Tür klopfte. Shani, die dort Wache hielt, teilte ihm mit, dass er nicht mehr zu ihm könne. Roman nickte einsichtig.
„Sag, er hat doch keine Schwindsucht, oder?“, erkundigte er sich sorgenvoll.
„Nein, bisher hat er kein Blut gehustet, das ist ein gutes Zeichen, und auch sein Fieber ist viel zu schwankend dafür. Dennoch geht es ihm alles andere als gut.“ Ausführlich klärte Shani den sehr stillen Roman über den Gesundheitszustand seines Sohnes auf.
„Ich komme Morgen wieder“, verabschiedete er sich schließlich und ging mit hängenden Schultern davon.
Doch am nächsten Tag erhielt Roman noch während der morgendlichen Waschung im Tempel durch einen Priester die Nachricht, dass er sich umgehend beim Oberpriester einzufinden habe. Er könne mit ihm speisen. Schlecht gelaunt kam er diesem Aufruf nach, denn der Sinn stand ihm nicht nach fader Tempelkost, erst recht nicht nach der anstrengenden Reise, aber was sollte er dagegen tun?
Der Hyaunset suer empfing ihn in einem der kleinen Nebenräume des Oberen Heiligtums. Ein Novize drückte ihnen eine Schale mit Haferbrei in die Hand und stellte Tee bereit. Lustlos aß Roman ein paar Löffel, dann ließ er es. Er würde später in der Küche nach etwas anderem fragen. Dafür trank er dankbar den heißen Tee.
Der Oberpriester eröffnete erst das Gespräch, nachdem er mit dem Essen fertig war.
„Ich hoffe, du hattest eine gute Reise, Hyaun Banskeid Roman aus Shari?“
„Soweit man knietiefen Schnee als angenehm bezeichnen kann!“, versuchte er einen Scherz, doch der Oberpriester ging nicht darauf ein.
„Ich denke, du weißt nicht, warum ich dich herbestellt habe?“
„Nein.“ Roman blickte den Priester offen an.
„Es geht um deinen Sohn, Raen.“
‚Natürlich!’, seufzte er still.
„Ich will dich nicht gerne beunruhigen, aber er ist schon wieder unangenehm aufgefallen.“
Roman legte beide Hände in den Schoß und lauschte folgsam.
„Er hat sich der Zhangha-Zeremonie widersetzt und den Priester einfach fortgeschickt, mit den Worten, er sei bisher auch ganz gut ohne ausgekommen!“
„Er ist sehr krank, Hyaunset suer Veringhal, und er kann kaum gehen! Habt ihr euch denn nicht bei Medizi Shani erkundigt? Er hat festsitzendes Lungenfieber, das seinem geschwächten Körper sehr zu schaffen macht. Auch Shani sagt, er brauche viel Ruhe“, verteidigte Roman seinen Sohn. Sehr wohl erinnerte er sich an die Situation vor vier Jahren, als derselbe Oberpriester nebst versammelter Clanratriege auf Raen eingeredet hatte, obwohl es diesem sichtlich schlecht gegangen war. Damals hatte er, Roman, es nicht gewagt, Einspruch zu erheben. Doch diesmal würde er es besser machen!
„Nun, so sehr krank kann er nicht sein, wenn er noch die Kraft besitzt, mich derart respektlos zu beleidigen! Ich forderte ihn zur Buße auf, aber er ist nicht gekommen.“
„Dafür möchte ich mich als sein Vater entschuldigen. Er hat es bestimmt nicht so gemeint. Raen hat viel durchgemacht und muss damit erst einmal fertig werden. Ich denke, für die Buße sollte noch soviel Zeit sein, bis er wieder genesen ist!“
„Was Zeit hat und was nicht, entscheide ich!“ Herrisch schob Veringhal das Kinn vor.
Roman unterdrückte seinen herauf quellenden Unmut. Schon damals hatte der Oberpriester sich nicht gerade als wohlwollend und milde erwiesen. Er war kein warmherziger Mensch, der die Not anderer nachempfinden konnte. Er war nichts weiter als die Personifizierung seiner Funktion, über die Maßen rechtversessen und empfindlich penibel.
Veringhal stieß mit seinem Zeigefinger auf Roman. „Ich habe gehört, dass du gestern sehr lange mit deinem Sohn gesprochen hast. Wenn er zu krank ist, dann berichte du mir doch an seiner statt, denn auch das hat er uns bisher hartnäckig verweigert.“
„Ich kann es dir nicht sagen“, erklärte Roman ruhig.
„Oh, aber du musst!“
„Wenn mein Sohn einen Grund hat, es dir nicht zu erzählen, so will ich diesen nicht ohne sein Wissen übergehen. Das wäre nicht recht.“ Roman sah, wie ein dünnes Lächeln die Lippen des Oberpriesters auseinander zog.
„Ich sehe schon“, sagte dieser mit merkwürdigem Tonfall, „der Eigensinn liegt in der Familie!“
Deutlich vernahm Roman die Gefahr hinter den Worten, aber er schwieg weiterhin beharrlich, wohl wissend, sich damit möglicherweise auch in Schwierigkeiten zu bringen.
Eine Weile starrten die beiden Männer einander an.
„Raen hat in Shari den Oberpriester Loenka zum Freund. Ihm wird er alles anvertrauen, da bin ich mir sicher“, entgegnete Roman schließlich.
„Ah, geht es dem werten Loenka besser? Sein schrecklicher Unfall ist uns natürlich bekannt.“
„Ja, mit Hilfe eines Stockes kann er wieder laufen, doch seine rechte Hand wird steif bleiben. Auch er freut sich darauf, Raen wiederzusehen. Die beiden verbindet ein sehr enges Band.“
„Hm, hm.“ Es schien, als denke der Oberpriester nach, und Roman nutzte die Gelegenheit, ihn zu begütigen.
„Höre, Hyaunset suer Veringhal, ich werde dafür sorgen, dass Raen sich bei dir persönlich entschuldigt und seine Pflichten wahrnimmt. Bis dahin möchte ich euch alle darum bitten, ihm die Ruhe angedeihen zu lassen, die er braucht, um wieder gesund zu werden. Er ist ein sehr frommer und tugendhafter Sohn Hys. Ich weiß, manchmal ist er vielleicht etwas zu ungestüm in seinen Äußerungen, aber er hat ein gutes Herz. Er wird in den Tempel kommen, das versichere ich dir.“ Es war eine rührige Fürsprache, und Roman hoffte, den Oberpriester damit etwas zu besänftigen.
Der seufzte, als treffe er eine schwere Entscheidung, und rieb sich die Hände über die Oberschenkel. „In Anbetracht dessen, dass Hyaun Banskeid Raen nicht im vollen Besitz seiner Kräfte ist, sowohl geistig als auch körperlich, gewähre ich ihm den Aufschub, den du für ihn erbittest. Aber keinen Tag länger! Sobald er in der Lage ist, sein Zimmer zu verlassen, möchte ich ihn hier sehen! Richte ihm das aus.“
„Das tue ich, hab Dank, Hyaunset suer.“ Roman grüßte artig, seinen Abscheu gegen den unerbittlichen Charakter dieses Mannes sorgfältig verbergend, und konnte endlich den viel zu kleinen Raum verlassen.
In der Küche holte er sein Morgenmahl nach und begab sich dann hinauf zu Raen. Er hatte ihm ja noch einiges an Neuigkeiten von zu Hause zu berichten, was er ihm gestern verschwiegen hatte.
Raen empfing seinen Vater blass, aber mit klarem Blick. Das Fieber war heute gesunken, was nicht bedeutete, dass es dauerhaft fort war, denn es schwankte ständig.
Zuerst überbrachte sein Vater ihm die Bedingung Veringhals, der Raen müde abwinkend zustimmte, dann setzte er sich und sah ihn an, sich ein Schmunzeln nur schwer verkneifend.
„Was ist?“, fragte Raen.
„Möchtest du denn gar nicht wissen, was zu Hause alles passiert ist, während du fort warst?“
„Ja, schon. Aber ist denn überhaupt so viel geschehen?“
„Oho, bei uns ist immer was los! Bestimmt mehr als in deinem langweiligen Borgossa!“
Raen musste lachen über den Versuch seines Vaters, ihn aufzumuntern, doch das brachte ihm nur wieder einen Wettstreit mit dem Husten um Luft ein. Sein Vater wartete, bis der Anfall abgeklungen war.
„Worauf wartest du noch, schieß los!“, forderte Raen ihn krächzend auf.
Sein Vater holte tief Luft: „Was möchtest du zuerst hören? Noch kannst du dich entscheiden. Betrübliches oder Vergnügliches?“
„Vergnügliches.“
Wieder huschte ein Schmunzeln über das Gesicht seines Vaters, und Raen fragte sich, was dieser so schelmisch zurückhielt.
„Vergnügliches beginnt mit Suneka“, verriet Roman.
Bei dem Namen seiner Verlobten erfasste Raen Unbehagen. Lange hatte er es verdrängt, sich um sie Gedanken zu machen. Er war sich nicht mehr sicher, ob er wirklich das durchziehen konnte, was er in Borgossa geplant hatte. Aber jetzt wollte er erst einmal zuhören, was sein Vater an Neuigkeiten hatte.
„Suneka, die Brave, Süße, sie hatte so sehr darum gehofft, mitkommen zu dürfen zu dir, genau wie Andra und Sosama, doch nur mir ist es erlaubt worden.“
„Äh, wer ist denn Sosama?“, unterbrach Raen.
„Tja, dazu wollte ich gleich kommen. Sie ist ein entzückendes, kleines Mädchen von nun fast zwei Jahren, mit lustigen Locken und grützegrünen Augen. Und sie kann bereits laufen und sprechen, nur ein paar Worte natürlich, aber ...“
„Vater, du schweifst ab, sag doch einfach, dass ich ein Schwesterchen bekommen habe!“
In Romas Augen blitzte es auf. „Sie ist nicht dein Schwesterchen! Sosama ist deine Tochter!“
Ein weiterer Hustenanfall raubte Raen den Atem. Und es war, als erbebe nicht nur seine Lunge, sondern sämtliche Festen des Universums. Seine Tochter?!
Mit hochrotem Kopf kämpfte er um Luft.
Besorgt lehnte sein Vater sich vor. „Soll ich Shani holen?“
„Nein, nein, es geht schon“, keuchte Raen tonlos und rieb sich die schmerzende Brust. „Es ist nur, ich bin überrascht.“
„Ja, das glaube ich“, sagte Roman nachfühlend. „Aber der Clanrat hat, als sich herausstellte, dass Suneka in Hoffnung war, es erlaubt, da eure Hochzeit ja sowieso beschlossene Sache ist.“
Raen schluckte. „Wann kam sie zur Welt?“
„Nach deinem letzten Besuch im Februar.“
„Natürlich. Und was ist mit Suneka?“
„Was soll mit ihr sein? Seit Sosama da ist, blüht sie in den schönsten Farben. Raen, sie ist eine bildschöne Frau geworden. Und sie vermisst dich schrecklich, hat jeden Tag auf deine Rückkehr gewartet.“
„Es ist lange her, aber ich hatte einen Brief geschrieben.“
„Der ist nicht bei uns angekommen.“
„Dieser verdammte Dreckskerl!“, platzte es aus Raen heraus, und sein Vater blinzelte erschrocken, wegen des derben Fluchs.
„Entschuldige, aber ich habe dem Boten des Briefes ganze fünf Silberstücke gegeben, und er hat mich betrogen!“
„Silberstücke?“
„Ach, vergiss es. Unbilden des Lebens außerhalb unserer Mauern. Erzähl mir lieber mehr von zu Hause.“
Er bemerkte, wie sein Vater ihn eingehend musterte. Schlagartig bekam er ein schlechtes Gewissen, weil er sich nicht so sehr über die Nachricht freute, eine Tochter zu haben, wie sein Vater es vermutlich erwartet hatte. Aber er wusste ja auch nicht, was alles in Borgossa geschehen war ...
Nachdenklich befeuchtete sein Vater seine Lippen und fuhr dann fort: „Andra geht es gut und Osa auch. Er wird dir ein neues Schwert schmieden, wenn du nach Hause kommst. Deine Schwester hat einen Freudenschrei ausgestoßen, als sie erfahren hat, dass du wieder in Hy bist. Suneka hat geweint, sie wollte dir etwas schreiben, konnte aber keine Worte finden, sie bittet dich um Verzeihung, sendet dir aber Gruß und Kuss.“ Er schien ganz gerührt bei seinem Bericht, Raen aber verzog keine Miene, nickte lediglich das ein oder andere Mal. „Ach ja, und deinem Freund Kaera ist gerade das zweite Kind geboren worden, noch ein Sohn. Er und Soema sind überglücklich. Leider tut sich bei Andra und Osa immer noch nichts. Na ja, aber immerhin du hast mich wenigstens schon zum Großvater gemacht. Lass mich mal überlegen, was ist noch alles geschehen? Shani ging es im vergangenen Jahr besser, doch dieser Winter hat ihr wieder einen schweren Anfall des Rheumas beschert. Sie hat ihren Posten als Kinderfrau endgültig an Lasha abgegeben. Das ist ihr nicht leichtgefallen, aber es ging nicht mehr anders. Jetzt kümmert sie sich um Sosama. Reni ist seit zwei Jahren unser Clanchef, und sein Sohn hat eine Töpferin aus Rinpal geheiratet. Sie ist sogar mit deiner Mutter verwandt. Die Tochter einer Cousine von Alea. Nun, … und Hereke ist auch zum zweiten Mal Vater geworden. Er wird bald Henendra ablösen, der nach einen Unfall - er ist unglücklich von einem Dreijährigen abgeworfen worden und hat sich dabei den Ellenbogen gebrochen - nicht mehr so gut einreiten kann. Auch Loenka hatte einen schweren Unfall, aber er ist gleichfalls wieder auf den Beinen.“
„Ist er gefallen?“
„Ja, die Treppe von der Westmauer hinab. Hat böse ausgesehen. Aber woher weißt du das?“ Noch während er es aussprach, ahnte sein Vater wohl, dass die Frage dumm gewesen war. Er hob kopfschüttelnd die Hand. „Halt, sag nichts, ich will es nicht wissen.“ Einen kurzen Moment wirkte er, als wäre etwas lang Vergessenes wieder an die Oberfläche gedrungen, etwas Dunkles. Doch dann erzählte sein Vater munter weiter von Geburten, Hochzeiten und Todesfällen des Shari Clans. Dabei fiel Raen bald auf, dass er zwei Personen geflissentlich ausließ: Resa und Hanenka.
„Wie geht es deiner Frau, äh, Geliebten?“, unterbrach er ihn.
Sein Vater sah blinzelnd auf. „Hanenka? Nun, wir sind noch immer nicht verheiratet aber wir ... hatten eine kleine Tochter. Leider sie ist wenige Monate nach der Geburt gestorben. Wir wissen nicht woran, aber sie wollte einfach nicht essen.“
Raen schwieg betroffen.
„Aber Hanenka ist bereits wieder in guter Hoffnung. In zwei Monaten ist es soweit!“
„Dann sollten wir zusehen, dass wir bis dahin nach Hause kommen“, sagte Raen lächelnd, und sein Vater schaute ihn lange an, doch dann senkte er seinen Blick und sah auf seine Hände, die am Saum seiner Winterjacke zupften.
„Und was macht Resa?“, fragte Raen weiter, die Signale des Unbehagens ignorierend, die sein Vater immer stärker aussandte.
Roman winkte ab. „Ach, der macht sich ganz manierlich bei Kensa, und seitdem ist wieder gut Auskommen mit ihm“, entgegnete er unbekümmert, aber ohne aufzusehen.
„Er hatte seinen Kall?“, fragte Raen überrascht.
„Oh, richtig“, Roman hob sich seinen Zeigefinger an die Stirn, „davon wusstest du ja noch nichts! Im Sommer letzten Jahres hat Hyaun ihn zu sich gerufen. Er war ganz selig, das hatte er sich doch so sehr gewünscht. So wie du damals, weißt du noch?“
Raen ging nicht darauf ein, stattdessen frage er: „Und wieso ist wieder gut Auskommen mit ihm?“
„Ich denke, drüber sollten wir nicht unbedingt jetzt reden, das ...“
„Ich möchte es aber jetzt gerne hören!“
Sein Vater stutzte, diesen harten und befehlerischen Ton kannte er bei seinem Sohn offenbar nicht. Aber er schien einzusehen, dass er, wenn er schon Andeutungen gemacht hatte, es ihm auch erzählen musste. Ruhig und betont nüchtern gab er schließlich wieder, was der kleine Bruder in der vergangenen Zeit alles ausgefressen hatte. Raen hörte auch hier wieder zu, ohne eine Regung zu zeigen, er hustete ein paar Mal, aber das war alles. Er blickte durch die zwei geöffneten Läden des Fensters nach draußen. Weiß in weiß lag das Junghal da, eine starre Masse aus Eis und Fels. Doch in Raens Innern herrschte alles andere als Eiseskälte. Die Geschichten über Resa schürten seine Besorgnis, erinnerten sie ihn stark an die vom Wahnsinn erfüllten Träume, die er von seinem Bruder gehabt hatte. Nur wollte er seinem Vater nicht zeigen, wie sehr er sich vor seinen eigenen bösen Ahnungen fürchtete. „Ich werde mich um Resa kümmern“, versprach er. „Das hätte ich längst tun sollen.“
Roman sah ihn mit melancholischem Blick an, und Raen konnte in dessen Gesicht lesen, wie in einem offenen Buch. Er spürte deutlich, dass da noch mehr Betrübliches tief in seiner Seele lauerte, darunter auch die Tatsache, dass der alte Krieger seinen Sohn schmerzlich vermisst hatte. Das Gefühl, seine Familie im Stich gelassen zu haben, wuchs in Raen erneut bis ins Unerträgliche. Er befreite eine Hand von den Decken und legte sie auf den rechten Unterarm seines Vaters. Die kleinen Fältchen um dessen Augen verzogen sich zu einem Lächeln, sein Mund jedoch nicht.
Plötzlich ging die Tür auf, und Shani kam herein mit Schwitzpfanne, Filzdecken und Tüchern. Roman beeilte sich, ihr den schweren, gusseisernen Kessel mit den glühenden Kohlen abzunehmen.
„Verzeiht, dass ich euch gestört habe, aber es ist Zeit für deine Schwitzkur, Raen.“
Der Angesprochene nickte und erhob sich umständlich. Sein Vater bot ihm seinen Arm, und Raen nahm ihn bereitwillig an. Er wurde zu einem seltsam anmutenden Sitzgestell geleitet, auf dem er sich niederließ. Shani schob die heiße Pfanne unter den flachen Stuhl und bedeckte sie mit feuchten Tüchern. Danach streute sie aus einem Beutel getrockneten Thymian und Wasserdost darauf, während Raen sich die Jacke auszog. In dem Eimer mit warmem Wasser, den Roman von der Tür geholt hatte, feuchtete sie weitere Tücher an, und wickelte sie um Raens Brustkorb, nachdem sie ihm die Haut mit Pfefferminzöl eingerieben hatte.
Aus den Augenwinkeln sah der Jüngere die zusammengezogenen Augenbrauen seines Vaters, als dieser die vielen Narben und die hervorstehenden Rippen auf seiner Brust entdeckte, ließ sich aber nichts anmerken. Als Shani fertig war, senkte er die Arme, wurde dann zuerst in eine Schicht trockenes Leinen gehüllt und anschließend in mehrere Lagen aus dickem Filz, bis nur noch sein Kopf aus dem Deckenberg herausguckte.
Beinahe augenblicklich begann er zu schwitzen.
„Darf ich?“, fragte sein Vater Shani und zeigte auf eines der trockenen Leinentücher. ‚Nur zu’ bedeutete die Medizi mit einer Hand, und dann tupfte er seinem Sohn die Stirn, der mit geschlossenen Augen dasaß und die Wärme genoss, die all das Schlechte aus seinem mageren Körper herausziehen sollte.
Nach wenigen Augenblicken war er eingeschlafen.
Zwei Wochen später schien das Fieber besiegt, und langsam kam Raen zu Kräften. Mittlerweile konnte er an seinen Krücken sogar mehrmals den Gang vor seinem Zimmer auf- und abgehen. Doch sein Husten hielt sich. Bellend hallte er durch die Krankenräume des Waschhauses wie die Laute eines fremdartigen Tieres.
Jedem Tag bekam er Besuch von seinen Vater, der ihm Geschichten aus Shari erzählte oder ihm auf seinen Wunsch hin aus dem Ban Arnor vorlas, das Roman aus dem Tempel hatte entleihen dürfen. Auch redeten sie viel, und Raen beantwortete bereitwillig Romans vorsichtige Fragen nach Askhar und Borgossa. Und so kam es schließlich, dass Vater und Sohn nach all der langen Zeit wieder enger zueinanderfanden.
In diesen Tagen fasste Raen frischen Mut. Er fühlte, dass das neu geknüpfte Band zwischen ihren Seelen fester war denn je, und er hegte die stille Hoffnung, ihm möge das auch mit dem Rest seiner Heimat gelingen. Die Freude auf seine Rückkehr nach Shari wuchs und mit ihr der Drang, endlich gesund zu werden.
Ende des Wintermondes, oder des Dezembers, wie er in Borgossa hieß, war er dann soweit, seine geforderte Buße abzuleisten. Begleitet von seinem Vater begab Raen sich durch den Schnee im Hof des Chorten zum Tempel. Dort empfing sie der Oberpriester, in dessen Augen sich kurz ein zufriedenes Lächeln stahl, bevor er eine feierliche Miene aufsetzte. Raen schluckte seinen Ärger hinunter und folgte ihm bis unter die große Statue Hyauns, wo sie sich in einem kleinen Kreis setzten. Der Oberpriester entließ Roman, der für Raen sichtbar gegen seinen gleichfalls wachsenden Zorn ankämpfen musste, doch er befolgte die Anweisung. Dann richtete der Hyaunset suer alle Aufmerksamkeit auf die Person von besonderer Bedenklichkeit.
Raen blickte mit versteinertem Gesicht zurück. Er würde ihnen nichts von dem erzählen, was in Askhar passiert war!
Veringhal sah ihn auffordernd an, und Raen verneigte sich höflich. Mit klarer Stimme sprach er anschließend seine Entschuldigung aus, und der Hyaunset suer nickte knapp als Zeichen, dass er sie annahm.
„Und nun zu deiner Seele, Hyaun Banskeid Raen. Damit sie künftig solchen Verfehlungen nicht mehr ausgesetzt sei, erleichtere sie, befreie sie von der Last der Verwirrung. Wir werden uns ihrer annehmen und ihre Narben heilen. Das ist unser aller hochherziges Anliegen, unser Opfer, für das wir von Hyaun auserkoren wurden. Wir teilen brüderlich die Qual, welche die Seele des Kriegers beschwert und seinen Sinn für Freude und Glück ertränkt. Wir geben es, dass du aufgenommen wirst in den Schoße Hyauns, des Erhabenen, dass Er dich wieder gebäre, frei und unbeschwert vom Unaussprechlichen, so wie am ersten Tage, da du von Ihm erwählt wurdest als Sein Diener! Gib uns nun also anheim, was du gesehen und hast erleiden müssen, und wir versiegeln und verschließen es für dich, dass du davon befreit seiest! Denn dein Wohlergehen zu umsorgen, liegt uns am Herzen. Empfange hiermit nun den Segen des Zhanghas, berührt vom Geiste des Erhabenen.“
Raen blinzelte hoffnungsvoll zu dem Gesicht der Statue hinauf und versicherte Ihm im Stillen, dass er das alles gerne glauben wollte. Und dass Er ihm verzeihen möge für seinen verzagten Geist. Doch trotz allem nahm er das Zhangha hernach nicht ganz freiwillig. Nur zögernd legte er es sich auf die Zunge, zerkaute und schluckte es aber dann. Und schließlich empfand er sogar etwas Trost unter den unbeweglichen Augen Hyauns, als er in Gedanken von dem vorgegebenen Weg des Priesters abwich und in sein eigenes Gebet eintauchte. Dann wirkte das Zhangha, und ein betäubendes, dunkles Nichts durchströmte ihn.
Als sich das Wetter im Eismond schließlich stabil zeigte und kein Schnee mehr fiel, beschlossen Raen und Roman ihren Aufbruch. Die Wachttürme entlang des Passes standen in Tagesentfernung zueinander, und so hatten die beiden Reisenden nichts zu befürchten, außer dass ein plötzlicher Schneesturm sie überraschte. Aber selbst dagegen würden sie gewappnet sein mit ausreichend gewachster Zeltbahn, einem großen Kohlebecken und dicker Kleidung und Decken aus Schafswolle. Zwei Maultiere würden sie für ihr Gepäck mit sich nehmen.
Als Raen Medizi Shani unter den skeptischen Blicken ihres Ehemannes und Sohnes und gegen die deutliche Missbilligung des Oberpriesters zum Abschied in den Arm nahm, flüsterte er ihr seinen tief empfundenen Dank zu. Sie sagte ihm daraufhin ohne Worte Lebewohl, indem sie ihn einfach auf die kühle Stirn küsste. Dann kehrten sie einander den Rücken, und wie einst sah Shani den Davonziehenden nach, bis sie nur noch kleine Punkte in der weißen Landschaft waren.
Die Ahnen der Winde waren ihnen wohl gesinnt. Sie ließen die beiden Reisenden ohne Schwierigkeiten über die schneeverwehten Höhenwege und jeden Abend unter das schützende Obdach eines Turmes gelangen. Nach acht Tagen kam ihre erste Station Rinpal in Sicht und zwei Sonnenaufgänge später Shari!
Sie näherten sich dem Chorten mit seinen zwei Türmen von Süden her über die flachen Hüge, und Raens Herz begann sich vor Freude zu überschlagen, als die Festung inmitten der schneestillen Felder vor ihnen aufwuchs. Trommelschläge von den Choron hatten sie bereits schon aus der Ferne angekündigt, und Raen konnte sehen, wie sich auf der Mauer immer mehr Menschen versammelten, um sie zu begrüßen. Ein Lächeln eroberte schließlich sein bisher sehr schweigsames Gesicht, das von der Kälte gerötet und von der Sonne, die schon seit Tagen aus einem vollkommenen, lavendelblauen Himmel schien, leicht gebräunt war.
„Wir sind da! Chorta Shari“, sagte sein Vater neben ihm glücklich, kleine Wölkchen stiegen ihm von Mund und Nase auf.
Raen drehte sich zu ihm.
„Danke, dass du mich heimgeholt hast, Vater“, sagte er schlicht und galoppierte dann an, die Führschnur seines Maultiers einfach fahren lassend.
Roman schnappte das verwirrte Tier beim Zaumzeug und sah seinem Sohn hinterher, der immer schneller durch den aufgewirbelten Schnee gen Chorten flog.
Das Heimkommlied setzte ein, als Raen das Tor erreichte, und mit voller Wucht traf es ihn mitten ins Herz. Die Entbehrung der vergangen vier Jahre bahnte sich ihren Weg hinauf in seine Kehle, machte sie ihm eng, und ihm wurde bewusst, wie sehr er es geleugnet hatte, seine Heimat nicht zu vermissen.
Plötzlich sah er Suneka mit wehendem Haar auf sich zugelaufen kommen, und er rutschte aus dem Sattel direkt in ihre Arme. Aufgewühlt vom inneren Sturm der Gefühle hielt er sie fest, und bebend vergoss sie an seiner Brust heiße Freudentränen.
Jetzt war er wirklich zu Hause!
Sie hatten viel aufzuholen, dachte Suneka, und sie konnte es noch immer kaum fassen, Raen endlich wieder für sich zu haben. Über einen Monat war es her, dass er durch das Tor geritten war, und jetzt saß sie beim Nachtmahl neben ihm und konnte ihren Blick nicht von ihm abwenden. Ihr Herz quoll über vor Zuneigung und Glück. Er war wieder da! Beinahe hätte sie nicht mehr daran geglaubt. Und es war, als schwärme sie für ihn, wie seit ihrem ersten gemeinsamen Atemzug. Sie warf einen Blick auf ihrer beider Tochter. Sosama saß auf dem Schoß ihrer Großmutter und wurde von ihr gefüttert. Mit gewissenhafter Sorgfalt verteilte die Kleine ihr Essen auf sich und Shani. Suneka lächelte verträumt und wandte ihr Gesicht wieder Raen zu. Der blickte sie kurz an, sein altbekanntes Lächeln umspielte seine Lippen, kam aber leider nicht vollends zum Einsatz, denn Radast fragte ihn etwas, und seine Aufmerksamkeit schwenkte wieder zu seinem zukünftigen Schwiegervater. Suneka sah Raen weiterhin unverwandt an, gern hätte sie eine Hand auf die seine gelegt oder sich gar bei ihm angelehnt, um ihm zu zeigen, dass er sich nicht scheuen musste, aber sie traute sich nicht. Auf unbestimmte Weise verbot seine Zurückhaltung solch ungebetene Zuwendungen, so kam es ihr zumindest vor. Aber sie wollte seine reservierte Haltung respektieren, sie wollte ihm die Zeit geben, die er brauchte, um sich wieder einzugewöhnen. Zwar hätte sie lieber heute als morgen gewollt, dass sie endlich heirateten, doch sie sah auch ein, dass sie Raen damit nicht einfach so überfallen konnte. Er hatte viel zu verarbeiten und war zu lange fort gewesen, als dass sein erster Gedanke ihrer Hochzeit gelten könnte.
Sie bemerkte, wie schwer es ihm fiel, wieder Vertrauen zu ihr zu fassen, und spürte ihre eigene Kümmernis. Über einen Monat war nun schon da und hatte sie noch nicht einmal in sein Bett geholt. Aus irgendwelchen Gründen, die sie natürlich nicht kannte, schien er befangen und wagte es kaum, sie zu berühren. Sie wusste zwar, dass er Gefangener Askhars gewesen war, aber nicht, was dort alles geschehen war. Und allein schon die Tatsache, dass er mehrere Monde im Feindesland verbracht hatte, löste bei ihr schreckliche Phantasien aus.
‚Ein Krieger braucht mehr Trost und Geborgenheit als andere. Das musst du akzeptieren, wenn du dich mit einem Banskeid verbinden willst!‘ Das hatte ihre Mutter ihr einmal erklärt. ‚Gib ihm, wonach es ihn verlangt, und du wirst bekommen, was du begehrst, aber du musst auch berücksichtigen, dass er manchmal nicht deine Nähe sucht, sondern dich flieht und für sich sein muss. Das ist nun einmal so. Ein Diener Hyauns wird nie ganz dir gehören.‘ Natürlich hatte ihre Mutter Recht, Suneka seufzte. Ihr blieb also nichts anders übrig, als sich selbst zurückzunehmen und geduldig abzuwarten, bis sie ein Zeichen von ihm bekäme.
Raen, der nichts von ihren Gedankengängen mitbekam, unterhielt sich derweil immer noch tiefgründig mit ihrem Vater. Irgendetwas über Hölzer, die sie gerade im Wald schlugen. Suneka musterte sein Profil. Er wirkte viel erwachsener, gar nicht mehr so überschwänglich und stürmisch wie früher, eher gesetzt und geradezu übermäßig ernst. Aber, wenn sie ehrlich war, dann war sie selbst auch ruhiger geworden, das brachten die Jahre nun einmal mit sich und auch der Nachwuchs, dachte sie.
Sie hörte Raen lachen, weil ihr Vater einen Witz gemacht hatte, und der vertraute Klang seines Frohsinns legte sich warm um ihr Herz. Unbewusst biss sie sich auf die Lippe. Wie sehr sie sich danach sehnte, seine unbekleidete Nähe spüren und wieder gemeinsam mit ihm atmen zu können!
„Suneka?“
„Was?“ Sie erwachte aus ihrer Träumerei.
„Ich hatte dich gefragt, ob du eben mal deine Tochter halten könntest, ich muss wohl doch Wasser holen, um sie zu säubern.“
Suneka nahm die von Kopf bis Fuß mit Erbsenbrei beschmierte Sosama und wartete auf ihre Mutter.
Als die gröbsten Flecken herausgewaschen waren, erhoben sich alle. Suneka gab ihre Tochter wieder an Shani, da sie sich als Küchenmeisterin um die Küche zu kümmern hatte.
„Warte einmal, Suneka.“ Sie fühlte, wie Raen von hinten ihre Hüften umfasste, und ein warmer Schauer durchfuhr sie.
„Ja?“ Hoffnungsvoll drehte sie sich um und sah ihm in die Augen.
„Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich den Rest des Abends noch mit Kaera zusammensitze? Ich hatte es ihm versprochen.“
„Nein, natürlich nicht, mach nur.“ Hinter einem Lächeln verbarg sie ihre Enttäuschung. Mied er sie etwa? ‚Nein, das bildest du dir ein, sei nicht kindisch. Es fällt ihm einfach nur nicht leicht, dort anzuknüpfen, wo es geendet hatte. Deine Erwartungen sind zu hoch. Zügele sie!’ In der Annahme, von ihm wenigstens einen Kuss zu bekommen, verharrte sie, doch Raen ließ sie wieder los, herzte dafür Sosama, die sich mit einer kleinen Faust an Shanis Ärmel festhielt, und ging dann zusammen mit Kaera davon. Betrübt sah Suneka ihm hinterher, und fühlte sich plötzlich doch verschmäht.
Auch mit Andra verbrachte Raen an manchen Abenden viel Zeit. Dann lachten und scherzten sie ausgiebig miteinander, waren aber auch ernst, und Raen fühlte, dass seine Schwester die einzige Person war, bei der die vier Jahre der Trennung keine Lücke hinterlassen hatten. Im Gegensatz zu seinem Vater oder Suneka war das Band zu ihr nie fadenscheinig oder morsch geworden, oder gar zerrissen, wie es bei seinem Bruder den Anschein machte. Aber bei Resa, so hatte Raen erleichtert festgestellt, fand sich nichts Dämonisches mehr, auch keine Ablehnung. Der einst schlaksige und unleidliche Heranwachsende war gereift, seine Statur war kräftig und stämmig geworden. Er war zwar immer noch still und in sich gekehrt, aber gefällig und anständig dabei. Seinen großen Bruder hatte er freundlich, aber zurückhaltend begrüßt, hatte ihn nicht in die Arme geschlossen, aber gelächelt und sich sogar artig verbeugt. Resa schien den richtigen Weg gefunden zu haben, und sogar die Mädchen machten ihm bereits schöne Augen. Von der Bewunderung zu seinem großen Bruder allerdings hatte er sich vollends gelöst, was Raen schade fand, denn das entfernte Resa noch weiter von ihm, aber so war nun einmal der Gang der Dinge. Resa wurde erwachsen und eigenständig und entwickelte sich zu einem ausgezeichneten Kämpfer, davon hatte Raen sich bei einigen Übungsstunden in der Fechthalle selbst überzeugen können. Am meisten schien Kensa von seinem gelehrigen Schüler angetan, denn er pries ihn in den höchsten Tönen. „Er ist beinahe noch eifriger als du damals und er hat weit weniger Dummheiten im Kopf“, hatte der alte Übungsmeister mit einem Lächeln gesagt, und Raen war ein Stein von der Größe eines Ochsen vom Herzen gefallen. Er beschloss, seinen Bruder zwar im Auge zu behalten, ihn aber grundsätzlich als „geheilt“ zu betrachten. Und langsam vergaß er die Träume, die, so dachte er beruhigt, zum Glück keine weitere Bedeutung gehabt hatten.
Raen selbst trainierte noch nicht wieder mit den Kriegern. Noch immer war er mehr hager als kräftig und legte trotz des guten Essens nur langsam zu, auch suchten ihn immer noch kurze Fieberattacken heim, die sich aber zumeist schon am nächsten Tag wieder legten.
Gegen seinen Willen hatte Andra seinen Fuß noch einmal einer gründlichen Untersuchung unterzogen. Es hatte ihr keine Ruhe gelassen, ihn so kläglich daher humpeln zu sehen, obwohl er sich mittlerweile immer mehr damit zurechtfand. Leider nur war das Ergebnis dasselbe wie das von Medizi Shani gewesen, und Andra hatte sich zerknirscht bei ihm entschuldigt für die falschen Hoffnungen, die sie ihm unweigerlich gemacht hatte. Raen aber hatte lediglich mit den Schultern gezuckt und gesagt: „Habe ich dir doch gesagt!“ Danach war er davon gegangen, den dienstunfähigen Fuß ungetrübt hinter sich herziehend.
Doch auch wenn Raen sich Mühe gab, gelassen zu wirken, hatte er ungeachtet dessen noch längst nicht zu alter Form zurückgefunden. Und zum Trotz gegen all die Widrigkeiten beschloss er, nicht untätig zu bleiben und wieder in Schweiß zu kommen, um sich zu kräftigen. Denn auch wenn das Anmal des Sklaven von Askhar für immer und ewig an ihm haftete, und sein Bein noch nicht so wollte wie er, so konnte er zumindest seine Arme gebrauchen. Seitdem half er Radast in der Holzscheune beim Zusägen und Nuten der Balken für ein neues Dach, welches eines der Vorratshäuser des Chorten benötigte.
Die Arbeit und damit einhergehend das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, aber auch die vertraute Umgebung und die sanftmütigen Menschen um ihn herum brachten den Heimgekehrten schnell wieder in Gleichklang mit seinen hyaunischen Wurzeln und ließen auch sein einst aufgewühltes Blut jeden Tag ruhiger in seinen Adern strömen. Die wohltuende Zeit fern von der Welt außerhalb der großen Mauern Hys, in der Zwietracht und ewiger Wettstreit das Leben bestimmten, und das Bewusstsein, sich im Schoßes seines Clans mitten in einem sicheren Hort zu befinden, bekamen seinem geplagten Gemüt gut, und bald sehnte Raen sich nach weit mehr, als der Tempel und Hyaun in der Lage waren, ihm an erquicklichem Trost darzureichen.
Verheißungsvoll begann sie zu locken, Tag und Nacht, und schließlich war sie das einzige, woran er noch denken konnte.
Suneka! Seine alte Liebe, die Mutter seiner Tochter, das Mädchen, mit dem er Seite an Seite aufgewachsen war und für das er sich schließlich mit seinem besten Freund überworfen hatte. Sie war wie überreifes Springkraut! Eine Berührung und ihr Herz würde aufbrechen und ihre angestaute Liebe verschütten. Er sah es in ihren Augen, wenn sie ihn anblickte, und in jeder ihrer mühevoll beherrschten Bewegungen, wenn sie in seiner Nähe war. Er sah ihre Hingabe und das Glühen ihrer Weiblichkeit, welche nur darauf wartete, von ihm, und nur von ihm, bepflügt und besät zu werden. Sie war bis zur Verzweiflung gewillt.
Und als der Frühling den Schnee taute, und wenig später die Bauern ihre Ochsen und Pferde anspannten, entschied Raen, seiner Enthaltsamkeit ein Ende zu bereiten. Kaum dachte er noch an das Vergangene. Und schließlich sah er keinen Grund mehr dafür, warum er sich nicht endlich der Verantwortung stellen sollte, vor der er jahrelang zurückgescheut war.
Suneka schlief schon fast, als sie die Tür gehen hörte. Und sie wollte sich gerade aufsetzen, als sie eine tastende Hand auf ihrem Arm spürte.
„Raen?“, flüsterte sie.
„Komm!“
„Aber es ist viel zu kalt.“
Er zog sie hoch und klemmte sich ihre Decke unter den Arm. Aufgeregt schlug ihr Herz, als sie mit ihm das Zimmer der unverheirateten Mädchen verließ, in dem sie wieder schlief, und ihm durch die dunklen Gänge die Treppe hinauf folgte. Wollte er etwa auf den Dachboden? Aber dort zog eisig der Wind.
Vor einer Tür auf demselben Flur hielt er schließlich inne.
„Was hältst du davon, wenn wir unser zukünftiges Zimmer, sagen wir, schon einmal begutachten?“
Wortlos fiel sie ihm um den Hals. Hatte er das gerade wirklich gesagt? ‚Oh, Hyaun, ich danke dir, dass du ihn endlich freigibst!’
„Raen, wie ...“, ihre Stimme brach zitternd ab. Sie schluckte. „Wie lange habe ich darauf gewartet!“
„Schhh, sprich jetzt nicht davon. Das ist Vergangenheit. Komm, hinter dieser Tür liegt unsere Zukunft.“
Sie betraten den leerstehenden Raum, der nur darauf wartete, mit einem frisch vermählten Paar belegt zu werden. Raen hatte Öllichter angezündet, welche den Erker und die zwei Alkoven beleuchteten.
„Welchen möchtest du?“, fragte er sanft und legte ihr eine Hand auf den Rücken. Ungehemmt flossen Suneka die Tränen über die Wangen.
„Den da“, wisperte sie und deutete auf den Linken. Raen ging und legte dort ihre Decke ab. Dann setzte er sich auf die Bettkante und sah sie an. Auf seinem Gesicht spielten Licht und Schatten, gaben ihm mal einen nachdenklichen, mal einen erwartungsfrohen Ausdruck. Sein Blick aber lag ganz im Schatten, und Suneka konnte nur schwer erraten, was er wirklich dachte. Sie verharrte. Noch immer konnte sie es kaum glauben, dass es ihn endlich nach ihr verlangte.
„Setz dich zu mir, ja?“ Er hob ihr eine Hand entgegen. Sie zitterte. Oder war es nur das Flackern der Lampen? Suneka wischte sich über die Wangen und ging ihrem Liebsten entgegen, zaghaft Schritt für Schritt. Und als sie direkt vor ihm stand, enthüllten die Schatten um seine Augen, dass auch er voll Unsicherheit war. Kurzerhand ließ sie sich vor ihm auf die Knie sinken, umfasste seine Hände und blickte zärtlich zu ihm auf.
„Mein Liebster, du bist es, den ich will, den ich immer wollte. Nur auf dich habe ich still und hoffend gewartet! Natürlich habe ich auch gegen meine Zweifel angekämpft, habe gewankt und gehadert. Habe die Schwäche und das Alleinsein in mir gespürt. Das ist dir bestimmt zugetragen worden. Aber ich möchte, dass du weißt, dass ich immer an dein Wort geglaubt habe. Jeden Tag habe ich zu Hyaun gebetet und Ihn um nichts anderes angefleht, als dass er dich zurückbringen möchte. Jeden Tag, bis heute. Und Er hat mein Vertrauen in dich nicht Lügen gestraft, denn jetzt bist du hier bei mir und ...“ Ihre Stimme versagte erneut, und Suneka senkte, plötzlich erschöpft vom jahrelangen Kampf gegen das Verzagen, den Blick. Sie begann erneut zu Schluchzen.
Raen beugte sich zu ihr und zog sie zu sich hoch auf die Bettkante. Seine Hände hielten nun die ihren. Suneka hoffte, er möge ihre Schwäche vergeben. Denn im vergangen Jahr, als er wieder gegen sein Versprechen nicht aufgetaucht war, hatte sie mit dem Gedanken gespielt, sich mit Akeno, dem gleichaltrigen und schüchternen Sohn des Wassermeisters zu verloben, der sein Interesse hatte anklingen lassen.
Vorsichtig näherte sie sich seinem Gesicht und küsste ihn. Raen antwortete mit leidenschaftlicher Glut, und schließlich war der unsichtbare Bann gebrochen. Ungestüm zerrte jeder an der Kleidung des anderen. Ihres leichten Nachgewandes hatte sich Suneka schnell entledigt und mit barem Oberkörper machte sie sich fieberhaft daran, Raen ebenfalls aus der Jacke zu helfen, während er an seinen Hosen zog. Sie öffnete seinen Gürtel und strich ihm den schwarzen Dari und das weiße Untergewand von den Schultern, wollte die warme glatte Haut darunter berühren. Doch mit entsetzt geweiteten Augen hielt sie plötzlich inne, als sie die vielen Narben auf seinem immer noch hageren Körper erblickte.
Raen erkannte offenbar den Grund ihres Unbehagens und legte betroffen einen Arm vor seine Brust.
„Wenn es dich so sehr abstößt, ziehe ich mich eben wieder an.“ Er machte Anstalten, sich die Jacken wieder überzuziehen.
„Nein, nein“, Suneka legte ihm eine Hand auf die Brust. „Bitte verzeih mir. Ich hatte das nur nicht erwartet, Raen. Oh, was haben sie nur mit dir gemacht?“
Er sah sie verletzt an, und mit einem Mal wurde sie sich ihres Fehltrittes bewusst. Nicht nur, dass sie ihn wegen seines Aussehens in Verlegenheit gebracht hatte, auch die Frage nach den Narben eines Krieger sollte niemals gestellt werden. Schnell entschuldigte sie sich erneut und sah ihn beschämt an. Doch dann drückte sie ihn behutsam zurück auf das Lager, legte sich neben ihn und schmiegte sich in seine Halsbeuge. Tief sog sie den Geruch seiner Haut ein und lauschte seinen schnellgehenden Herztönen, während ihre Finger zuerst über seine Brust glitten, dann die Seite hinab zu seiner empfindlich zuckenden Leiste. Raen kicherte verhalten, als sie ihn dort kitzelte und reizte. Erleichtert lächelte Suneka, und zögernd fanden nun auch endlich seine Hände ihren Körper und erkundeten all die Regionen neu, die ihm so vertraut und scheinbar doch so fremdgeworden waren. Mit geschlossenen Augen ließ sie sich von der nächsten heißen Woge der Erregung mitreißen und gab sich ganz seinen kundigen Berührungen hin, welche sie verwöhnten und schmeichelten.
Doch als Suneka sich plötzlich auf ihn setzen wollte, schein es, als gefriere ihm das Blut in den Adern! Starr, seine Arme von sich gestreckt hielt er sie zurück, heraufdringende Furcht im Blick.
„Was ... was ist?“, fragte sie verwundert, ihr Handgelenk aus seiner unsanften Umklammerung lösend.
Raen blinzelte heftig. „Nichts“, keuchte er atemlos. „Ich mag es nur nicht so, verstehst du?“
Suneka zog die Brauen zusammen, stieg dann aber von dem zu einem Brett erstarrten Verlobten ab und streckte sich verwirrt neben ihm aus.
Nach einer Weile fühlte sie, wie er sich wieder entspannte und zu ihr herum rollte. Sie spürte, wie er ihren Hals küsste, ihre Schultern und ihre Brüste, ihre erröteten Lippen und Ohrläppchen schmeckte.
Als Suneka endlich sein Gewicht auf sich spürte, öffnete sie ihre Schenkel, nahm ihn ungeduldig in sich auf, und vier Jahre Enthaltsamkeit entluden sich derart heftig, dass selbst Raen davon überrascht schien. Während er sich in ihr bewegte, warf sie sich ihm wild entgegen und grub ihre Fingernägel tief in seinen Rücken. Angestrengt kämpfte sie und umschlag seine Hüfte fest mit ihren Beinen, nicht gewillt, ihn je wieder loszulassen.
Die Hochzeit wurde für das Frühlingsfest angedacht. Suneka war endlich glücklich und strahlte mit jedem Tag schöner. Raen war zufrieden mit sich und seiner Entscheidung, und als das Dach des Vorratshauses fertig war, und sein zukünftiger Schwiegervater ihn aus der Arbeit entließ, wagte er sich frischen Mutes in die Übungshallen der Krieger. Kensa, welcher mit seiner unangefochtenen Erfahrung auch derjenige war, der verletzte und versehrte Krieger wieder auf die Beine brachte, empfing ihn erfreut und stellte Kaera ab, mit Raen zu üben. Gemeinsam, so war sein alter Leitsatz, quäle es sich leichter! Kensa ließ einen Probekampf zwischen den beiden stattfinden und begutachtete kritisch Raens Bewegungseinschränkung, der zwar einige Male geschickt auswich, dessen Bein dafür aber auch mehrmals einfach wegknickte und ihn zu Fall brachte.
„Ist gut, das reicht!“ Er hob die Hand, und Raen und Kaera trennten sich; der Ältere heftig atmend und der Jüngere kaum in Schweiß.
„Raen, du wirst dich damit abfinden müssen, nie wieder so kämpfen zu können, wie es einmal der Fall gewesen ist!“ Kensa sah Raen eindringlich an. „Aber wenn du dir eine andere Technik angewöhnst, dann wirst du das Schwert führen können - auf eine etwas ungewöhnliche Art vielleicht, aber durchaus so effektiv, wie wir es uns wünschen. Wir müssen nur ganz von vorne anfangen, verstehst du?“
Raen nickte. Er war bereit, alles zu tun, was der alte Lehrmeister ihm riet, denn er wollte wieder als tauglicher Krieger gelten. Überdies war er aus dem Alter lange heraus, wie früher immer gegen ihn aufbegehren zu müssen, weil er vor Kraft und strotzendem Selbstbewusstsein nicht gewusst hatte, wohin mit seiner unreifen Tollheit. Er wollte und brauchte Kensas Hilfe!
„Als erstes musst du dein Bein stabilisieren“, riet ihm der erfahrene Krieger. „Kräftige die Muskeln, indem du viel gehst - immer weitere Strecken durch die Felder, durch den Wald und vor allem über die Hügel. Ich will, dass du lernst, dich wie selbstverständlich zu bewegen, und nicht mehr daran denkst, dass dein Fuß nicht mehr funktioniert. Du wirst sehen, bald wird es dir ganz normal erscheinen, dich so fortzubewegen. Anschließend solltest du versuchen, immer schneller zu werden, versuche zu laufen - das wird das Schwerste sein - aber du wirst sehen, es geht. Du musst nur dein Denken ändern. Verlagere dein Gewicht nicht mehr wie gewohnt auf den Fußballen, denn der ist nutzlos geworden. Du würdest jedes Mal fallen. Besinne dich stattdessen künftig auf die Ferse, sie ist das entscheidende Element deines festen Standes. Man könnte es auch so ausdrücken: Jemand hat dir zwar die Wurzeln gekappt, aber der Stamm steht immer noch unerschütterlich auf der Erde. Kaera wird mit dir ringen und deine Kräfte auch auf jegliche andere Weise erproben. Er wird dich in unerwarteten Momenten angreifen, um dein Gleichgewicht und deine Aufmerksamkeit zu schulen. Und wenn du kräftig und robust genug geworden bist, beginnen wir mit dem Schwertkampf. Bis dahin wirst du neben den genannten Aufgaben und mit Hilfe von Hereke ein neues Pferd einreiten und ausbilden. Das wird dir wieder die nötige Härte geben, und du wirst lernen, schnell wieder aufzustehen. Und jetzt möchte ich, dass ihr zusammen mit den Übungen beginnt.“
„Ja, Kensa. Ich danke dir.“ Raen verneigte sich.
„Nichts zu danken, mein junger Freund. Werd einfach schnell gesund und heirate deine süße Frau, das ist viel wichtiger!“
Raen wurde rot. Dann zog Kaera ihn lächelnd mit sich, und sie machten sich auf zu ihrem ersten ‚Spaziergang’. Kaera gab das Tempo vor, und verbissen hielt sich Raen an seiner Seite.
Jeden Tag verausgabte er sich bis an die Grenzen seiner Kraft, was wiederum, so wusste er, Andra skeptisch beobachte, denn wie immer war sie besorgt um ihren Bruder. Aber jeden Tag schafften er und Kaera auch ein Stück mehr, und Raen war froh und dankbar, dass sein Freund bei ihm war und ihn anspornte, aber auch, weil er unbekümmert mit ihm schwatzen konnte. Denn so gelang es ihm zumindest vorerst, die unangenehmen Gedanken an die Arbeit mit Hereke zu verdrängen.
Doch dann kam der Tag der unausweichlichen Begegnung. Die Frühlingssonne gewann zunehmend an Wärme, und alles im Chor keimte grün. Raens Gemüt verfinsterte sich jedoch immer arger, je näher er Henendras Hof kam, wo Hereke ihn erwartete. Angestrengt bemühte er sich um einen halbwegs normalen Gang, denn er wollte keinerlei Mitleid von seinem verflossenen Freund. Seit er wieder in Shari war, hatten sie sich mehrmals aus der Ferne gegrüßt, aber kein einziges Wort miteinander gewechselt, und das war Raen auch ganz lieb gewesen, denn ihn gelüstete es nicht nach einem tiefergehenden Gespräch mit demjenigen, den er um seine Freundschaft getrogen hatte. Die Milch war nun einmal verschüttet, und daran ließ sich nichts mehr ändern. Insgeheim vermutete Raen aber, dass auch das zu Kensas Plan gehörte, jetzt nach all der langen Zeit auf den Reitmeister zu treffen. Und womöglich hatte Kensa ja auch Recht. Wenn er, Raen, in das Leben des Clans zurückfinden wollte, so musste er sich auch den unangenehmen Dingen aus der Vergangenheit stellen und alte Zwiste bereinigen, denn Harmonie war das oberste Gebot.
Raen überquerte den Platz zwischen Wohnhaus und Stallungen und betrat das erinnerungsträchtige Gebäude, in dem seit Generationen die Familie des Reitmeisters lebte.
„Hallo? Ist jemand da?“, rief er in den Gang, an dessen Ende sich die Küche befand.
„Ja, komm herein! Ich bin in der Küche“, rief es zurück, und Raen folgte der Aufforderung.
Herekes Mutter stand an einem der Herde und rührte in einem großen Topf. „Oh, Raen!“, sagte sie, als sie ihn erblickte. Schnell wischte sie sich die Hände an ihrer Schürze ab und kam ihm entgegen. Zu Raens Überraschung drückte sie ihn einmal fest an sich.
„Dass du nicht schon eher hergekommen bist! Lass dich ansehen.“ Herekes Mutter schien die einzige zu sein, die keinen Groll gegen ihn hegte.
„Etwas mager vielleicht“, konstatierte sie. „Also Henendra würde jetzt sagen, etwas gemälztes Bier ins Futter, ein paar Streicheleinheiten und dann springt das Fohlen wieder!“ Sie lachte. „Möchtest du etwas trinken?“
„Nein, danke. Ich suche Hereke, weißt du, wo er ist?“
„Natürlich. Er ist mit seinem Vater schon auf der Weide bei den Zweijährigen. Er wartet dort auf dich.“ Sie sah ihn lächelnd an. „Schön, dass du wieder da bist, Raen.“
Verlegen blickte er zu Boden. Die Herzlichkeit der Mutter seines ehemaligen besten Freundes machte ihn befangen.
Plötzlich öffnete sich die Hintertür, und Manikosei, Herekes Frau, trat ein. In der einen Hand trug sie einen Wassereimer, und auf der anderen Seite saß ein etwa einjähriges Kind auf ihrer Hüfte. Überrascht pustete sie sich eine Strähne aus dem Gesicht, ihre Wangen waren gerötet von der Anstrengung.
„Oh, Mani, komm doch und sieh, wer da ist. Aber ihr kennt euch ja bereits“, sagte Herekes Mutter und nahm ihrer Schwiegertochter den schweren Eimer ab.
„Ja“, antworteten beide gleichzeitig kühl und verneigten sich. Die Eisan zeigte ein kurzes, verschlossenes Lächeln. Gewiss hatte Hereke ihr nicht unbedingt nur das Gute über ihn erzählt.
‚Einerlei!’, dachte Raen und wandte sich wieder an Herekes Mutter: „Nun, dann will ich unseren Reitmeister mal nicht warten lassen. Auf bald!“
Erleichtert verließ er das Haus und begab sich rechterhand auf den holperigen Weg zu den ausgedehnten Weideflächen. In der Ferne sah er Hereke und seinen Vater an den Zaun der Koppel gelehnt stehen. Sie unterhielten sich. Etwa über ihn? Am liebsten wäre er gleich wieder umgekehrt, aber da erblickte ihn Henendra, sagte etwas zu seinem Sohn und wies mit einem Daumen in seine Richtung. Hereke sah auf, und Raen konnte förmlich spüren, wie beide ihn aus der Ferne musterten. Quälend langsam kam er voran, versuchte, sich seine Scheu nicht anmerken zu lassen. Und als er schließlich bei den beiden hünenhaften, breitschultrigen Männern ankam - der eine ein perfektes jüngeres Abbild von dem anderen - grüßte er zurückhaltend.
Henendra und Hereke grüßten höflich zurück, ohne ein Lächeln. Eine Weile herrschte kühles Schweigen. Unter den brennenden Blicken der beiden Reitmeister wünschte sich Raen, er würde einfach in der Wiese versinken und nie wieder auftauchen. Warum nur war es so schwer, seinem alten Freund ins Gesicht zu sehen?
‚Möglicherweise hast du ihn so tief verletzt, dass er dir das nie wird verzeihen können’, gab seine innere Stimme zu bedenken. Ich will ja auch nicht, dass er mir verzeiht, ich will nur, dass er mich nicht so ansieht! Raen riss sich zusammen und übernahm das erste Wort.
„Welche der Zweijährigen stehen zur Verfügung?“, fragte er kurz angebunden.
Hereke schaute ihn weiter forschend an, während Henendra sich dazu bequemte, zu antworten, und Raen wusste nicht, welchen Blick er weniger ertrug.
„Die zwei Füchse in der Mitte, der Apfelschimmel, die drei Braunen, der Schwarzbraune dort und der Rappe dahinten. Sie sind bisher nur an den Zaum gewöhnt und an Gewicht auf ihrem Rücken - ohne Sattel.“
Raen nickte. „Gut, dann will ich mal!“ Er duckte sich zwischen den Zaunbalken hindurch und humpelte ein paar Schritte auf die Weide. Die Pferde hoben ihre Köpfe und beäugten ihn aufmerksam. Auch spürte er die eisenharten Blicke der beiden Reitmeister in seinem Rücken, doch davon wollte er sich nicht beirren lassen. Sie hatten ihre Gründe und wenn sie unbedingt daran festhalten wollten, dann bitte. Er ging noch ein paar Schritte und streckte schließlich die Hand aus. Bewegungslos starrten die Tiere ihn an.
‚Wenn es nach diesen beiden bärbeißigen Knorrköpfen hinter mir ginge, so würde kein Pferd je einen solch unmoralischen und sittenlosen Strolch wie mich zu seinem Herren erwählen’, dachte Raen verdrossen. Freundlich schnalzte er ein paar Mal mit der Zunge, doch die Pferde lugten weiter misstrauisch Rücken hinter Rücken zurück. Dann schloss er die Augen und hob sein Gesicht der Sonne entgegen und ließ es warm bescheinen. Sein Herz wurde ruhig, öffnete sich und suchte nach einer ihm wohlgesinnten Seele.
Die beiden Reitmeister schauten derweil interessiert zu, ab und an einen verstohlenen Blick austauschend.
Doch ganz entgegen ihrer heimlichen Wetten löste sich schließlich ein Tier aus der Herde und trottete scheinbar gelassen auf Raen zu, ganz so als sei es schon immer sein Gefährte gewesen.
Als der junge Krieger die weiche Nase des Pferdes an seiner Hand spürte, öffnete er die Augen, und ein breites Grinsen trat auf sein Gesicht. Es war der Rapphengst! Wie er gehofft hatte.
Vorsichtig hob er die andere Hand, kraulte zuerst die Stirn und strich dann über Mähne und Hals des Pferdes. Der junge Hengst war völlig ruhig und schaute ihn aus klaren, braunen Augen an. Dann fuhren Raens Hände über den Hals zurück an den Kopf und übten sanften Druck auf jene geheime Stelle aus, die ihm sein unfreiwilliger askharischer Helfer verraten hatte.
Die beiden Reitmeister staunten verblüfft, als das Pferd sich plötzlich hinlegte und Raen bereitwillig aufsteigen ließ. Natürlich bemerkte dieser ihre offenen Münder, schnalzte leise lächelnd, und ließ das Pferd wieder aufstehen. Behutsam ritt er an, sich dessen bewusst, dass er mit seiner zuvor angewandten Kunst das Tier noch lange nicht eingeritten hatte. Aber es ging fügsam vom Schritt in den Trab und anschließend auch in den Galopp über.
Sich verdutzt am Kopf kratzend schauten die zwei erfahrenen Pferdebändiger vom Zaun her zu. Henendra war ehrlich beeindruckt, doch sein Sohn fand nur ein Wort: „Angeber!“
„Hm, wo er das nur gelernt hat?“, fragte der Ältere.
„Weiß nicht, aber bestimmt nicht bei uns!“, muffelte Hereke zurück und verfolgte Raen mit finsterem Blick.
Die nächsten Wochen waren für Raen die wahre Hölle. Aber nicht etwa wegen der Schinderei auf dem Waffenplatz oder der vielen Prügel, die er von Kaera einsteckte, es waren die quälenden Stunden, die er neben dem wortkargen Hereke verbringen musste. Der Kerl ließ sich einfach nicht zu einem Lächeln bewegen, so sehr Raen er sich auch bemühte und seine beste Laune an den Tag legte. Hereke blieb kühl und unnahbar, nicht einmal schlichte Schadenfreude konnte er zeigen, wenn sein Schüler einmal unsanft aus dem Sattel befördert worden war und sich das Gesäß reibend zum Rand der Übungsbahn schlich.
Dafür hatte Henendra sich etwas aufgetan und behandelte Raen wieder freundlich und entgegenkommend wie früher. Immer wenn er sah, wie dieser junge Krieger sich abmühte, dabei aber trotzdem lachte und scherzte, erinnerte er sich an die damaligen Streiche der beiden Lausejungen und fühlte sich in die Jahre zurückversetzt, als er noch selbst jedes Pferd zugeritten hatte. Für ihn war der Heimgekehrte ein aufgeklärter und äußerst pflichtbewusst an sich arbeitender Bursche. Seine Beharrlichkeit und sein Wille, mit denen er seine Versehrtheit zu bezwingen versuchte, imponierten Henendra. Wusste er doch selbst, wie es sich anfühlte, wenn man nicht mehr so konnte, wie man gerne wollte. Sein Ellenbogen war zertrümmert, sein Arm steif und seine Hand taub, und obendrein hatte sich auch noch ein sporadisch auftretendes Nervenzittern bei ihm eingeschlichen. Die jungen Pferde zu halten, fiel ihm immer schwerer, erst recht mit nur einer gebrauchsfähigen Hand.
„Tritt doch etwas ruhiger, und lass mich die schwere Arbeit machen, Vater. Du hast dir deine ruhigen Tage redlich verdient“, hatte sein Sohn ihm vor einigen Tagen gesagt. Aber Hereke, der Gutherzige, verstand ihn nicht. Eifer und Ansporn waren etwas, das man auch im Alter nicht verlor. Es war das Salz des Lebens. Und desgleichen schien es bei Raen zu sein, dem sein außerordentlicher Ehrgeiz wahrlich bös mitgespielt hatte, das konnte jeder sehen, doch eben gerade daran war er auch gewachsen und zu einem Mann geworden, der auf seine Weise mehr Selbsterkenntnis und Seelengröße ausstrahlte, als Hyaunset suer Loenka und seine gesamte Priesterschaft zusammen! Natürlich hütete sich Henendra davor, so etwas jemals offen kundzutun, aber er war sich sicher, dass in Raen eine Qualität heranreifte, die alle bisher unterschätzten.
Und auch wenn sein Sohn vollkommen anders darüber dachte, so wusste Henendra doch, dass, wenn man sich die Mühe machte, und tiefer in Raens undurchdringlich spiegelnden Blick schaute, dahinter noch immer der pfiffige, kleine Schäker von damals zu erkennen war.
Tag für Tag nahm Raen es duldsam hin, kein einziges, freundliches Wort von dem jungen Reitmeister zu erhalten. Doch im Stillen suchte er unentwegt nach einer Möglichkeit, wie er mit ihm ein gutes Auskommen haben konnte. Und kurz bevor er sich schließlich ein Herz fassen und einen Versuch zur Beilegung ihres Haders unternehmen konnte, machte ganz unvermutet Hereke den ersten Schritt - und damit leider auch einen großen Fehler!
„He, Raen, auf ein Wort, wenn du gestattest?“ Höflich bedeutete der junge Reitmeister dem lahmenden Krieger, der soeben sein Pferd abgesattelt hatte, einige Schritte mit ihm zu gehen, damit sie ungestört reden konnten.
Raen folgte dieser Bitte, obwohl er es am liebsten nicht getan hätte. Es war kein guter Moment, denn seit er nach Shari zurückgekommen war, hatte er keine solche Wut in seinem Bauch gehabt! Drohend hing die blitzgeladene Gewitterwolke über seinem Kopf und wartete nur darauf, bei dem kleinsten Anstieg der Hitze ihren unheilvollen Inhalt ergießen zu können. Und er wusste, daran war der Reitmeister schuld!
Sie hielten unter einem blühenden Apfelbaum. Entschlossen verschränkte Raen die Arme vor der Brust und wartete, während Hereke sich umblickte, wahrscheinlich, um sich zu vergewissern, ob sie außer Hörweite waren.
Dann begann der Reitmeister ohne Umschweife zu sprechen: „Ich möchte, dass du weißt, dass es mir nicht gleichgültig ist, was mit Suneka wird.“
Raen tat so, als wüsste er von nichts und ließ Hereke weiter mit seinem Anliegen herausrücken.
„Sie hat ein Leben mit mir für dich aufgegeben und sie vertraut dir blindlings. Bitte, Raen, ich muss wissen, ob du dir diesmal auch sicher bist mit deinen Absichten und nicht wieder fortgehst und sie allein lässt!“ Hereke hatte erregt beide Hände erhoben. Raen aber blickte ungerührt von ihnen zurück in sein Gesicht.
„Wieder?“, äffte er. „Du redest, als ob ich ständig fort wäre, dabei war ich nur einmal weg. Und, ja, ich bin mir sogar sehr sicher mit meinen Absichten. Warum sollte ich Shari noch einmal verlassen wollen?“
Hereke hob die Schultern. „Ist mir, ehrlich gesagt, egal, was für Gründe du in deinem verqueren Kopf dafür finden magst, Hauptsache, du tust ihr nicht wieder weh. Das hat sie nicht verdient!“
„Und warum bemüßigst ausgerechnet du dich derart übereifrig, für sie einzutreten? Hast du sie damals nicht auch mit Verachtung gestraft?“, wollte Raen gekränkt wissen.
„Sie war einmal auch mein Mädchen, und ich habe sie sehr geliebt, falls du da drin überhaupt begreifst, was das heißt!“ Hereke tippte hart gegen Raens Brust.
Der verwehrte sich gegen diese Unhöflichkeit, indem er einen Schritt zurücktrat.
„Außerdem“, fuhr Hereke fort, „habe ich mit ihr meinen Frieden gemacht. Es hat gedauert und sehr geschmerzt, aber ich habe es bewerkstelligt.“
„Jetzt hab ich’s!“, rief Raen gespielt heiter aus. „Warum hast du mir das nicht gleich gesagt! Du liebst sie noch immer! Natürlich. Wie hatte ich das nur übersehen können! Über all die Jahre hinweg hast du es nicht verkraftet, dass sie einen anderen gewählt hat.“
„Mein Verhältnis zu Suneka ist wieder ins Lot gerückt und das geworden, was es sein sollte, nämlich das eines guten Freundes, der ihr auch in der Not beisteht. So, wie du als ihr Verlobter es eigentlich hättest tun sollen!“, wehrte der Reitmeister die gewagte Unterstellung Raens mit einem umgekehrten Vorwurf ab. „Mit dir allerdings, bin ich fertig! Mit dir kann es niemals Frieden geben! Dein Betrug wiegt über alle Maßen schwerer, als der ihre. Ihr konnte ich vergeben, dir jedoch nicht. Da hilft auch alle Zeit der Welt nicht, um diese Wunde zu heilen.“
Raen schwieg mit ausdrucksloser Miene. Wenn er sich eines in den Jahren seiner Abwesenheit angeeignet hatte, dann war es, nicht einmal den Hauch einer Emotion preiszugeben, auch wenn die Worte ihn trafen.
Hereke hatte sich erhitzt, und damit wuchs auch dessen Mut. „Im Grunde, Raen, tust du mir leid. Und das meine ich ehrlich. Mit dir möchte beileibe niemand tauschen! Du bist und bleibst ein Sonderling. Wirst immer am Rande unserer Gemeinschaft stehen. Es ist tragisch, aber die Wahrheit! Finde dich damit ab oder auch nicht, das ist mir völlig gleich. Für meinen Teil steht jedenfalls fest, dass ich nicht gewillt bin, mehr als das Nötige mit dir zu tun zu haben, klar? Ich will dich auch so wenig wie möglich in der Nähe meiner Frau oder meiner Kinder sehen. Ich - will - es - nicht, verstehst du!“
Raen blickte den jungen Reitmeister kalt an. Er konnte es kaum glauben, dass das tatsächlich einmal sein Freund gewesen war. Aber was der ein Jahr Ältere an verletzender Sprache beherrschte, konnte er schon lange, dachte er und vermeintlich gelassen holte er zu einer Antwort aus: „Weißt du, Hereke, wer einem noch viel mehr leid tun kann? Der verbitterte Kerl, der da vor mir steht und Angst hat, ja, sich beinahe einnässt bei der Vorstellung, das Anmal des Absonderlichen könnte von mir, dem Querdenker, der immer aus der Reihe tanzt, auch auf ihn und seine Familie überspringen! Weil sein kleinmütig gewordener Geist sich vor nichts mehr fürchtet, als seinen wohlverdienten, beschaulichen Frieden zu verlieren.“
„Ich habe eben erkannt, was für ein Mensch du bist!“, warf Hereke entrüstet ein und presste die Lippen aufeinander.
„Ah, und das war wahrscheinlich auch der Grund, warum du vor ein paar Tagen bei Suneka warst! Du wolltest sie vor mir warnen, vor meiner unmenschlichen, dunklen Seite! Was auch immer du ihr Grässliches über mich erzählt hast, Freund Hereke, sie war auf jeden Fall außer sich und hat gar nicht mehr aufgehört zu weinen, als ich später zu ihr kam. Schäm dich, Pferdemeister, schäm dich deiner selbst!“ Raen merkte, dass er vor Wut zitterte und zwang sich, wieder ruhiger zu werden. Aber die Wolke über seinem Kopf zuckte tief schwarz. „Ich werde deine Wünsche berücksichtigen, Hereke, darauf hast du mein Wort - falls du dich getraust, es anzunehmen. Du wirst mich nicht mehr als notwendig zu Gesicht bekommen und musst auch nicht mit mir reden, wenn du nicht willst. Jetzt, da ich weiß, was du von mir hältst, komme ich damit zurecht.“
Hereke wollte den Mund öffnen und protestieren, doch Raen kam ihm zuvor: „Und du, für deinen Teil, wirst dich fortan von Suneka fernhalten! Höre auf, dich für sie verantwortlich zu fühlen! Oder willst du, dass deine Liebste davon erfährt, wie sehr du noch an ihr hängst?“
„Aber einer musste es Suneka doch sagen!“, schrie Hereke plötzlich aufgebracht, war aber erschrocken über seine eigene heftige Reaktion und sprach schließlich gedämpfter weiter: „Ich kann sie doch nicht sehenden Auges ins Verderben rennen lassen!“
„Warum nennst du mich ihr Verderben?“, zischte Raen zornig zurück. „Was maßt du dir an, derart über mich zu urteilen? Du ... du hast doch gar keine Ahnung!“ Er verkrampfte seine Hände zu Fäusten und musste sich beherrschen, sie Hereke nicht ins Gesicht zu donnern.
„Nein, ich habe in der Tat keine Ahnung, was die Welt da draußen aus dir gemacht hat!“, blaffte dieser zurück. „Das weiß keiner. Eben drum! Zu viele Geheimnisse trägst du mit dir herum, zu viele dunkle Flecken sind auf deinem Herzen.“
‚Damit könnte er durchaus Recht haben’, dachte Raen, aber nichtsdestotrotz konnte er nicht zulassen, dass Hereke diesen Gedanken über ihn verbreitete.
„Glaube ja nicht, mich schert dein Gerede. Ich will nur, dass du einsiehst, dass dies auch meine Heimat ist. Es mussa hier Platz für uns beide geben, verstehst du? Deshalb werden wir für die anderen so tun, als verstünden wir uns ... wir werden keine Probleme mehr miteinander haben. Solltest du allerdings dein gemeines Mundwerk nicht halten können, werde ich mich gezwungen sehen, dir einmal eine kleine Kostprobe von dem zu geben, was da angeblich so finster in meiner Seele lauert!“
Hereke entgegnete darauf nichts, sah ihn nur mit großen Augen an. Raen hob eine Hand, ließ sie aber wieder sinken. Er war bitter enttäuscht und fühlte sich mit einem Mal sehr müde. Den Vorsatz, nicht wieder Streit zu beginnen, hatte er nicht einhalten können. Dabei hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als mit sich und seinem Leben, wie es vorher gewesen war, Frieden zu schließen. Er hatte allen beweisen wollen, dass er sich geändert hatte. Bei Hereke war ihm das jedenfalls schon einmal reichlich misslungen.
„Es ist wirklich traurig“, sagte er, „aber ich habe mir wirklich eingebildet, wir könnten uns wieder verstehen.“ Dann drehte er sich um und ging davon, betrübt darüber, dass alte Grenzmauern nicht einzureißen waren.
Die Tür zu Herekes Freundschaft war zugeschlagen, für immer. Das hatte er mutwillig durch seine eigene Unnachgiebigkeit herauf beschworen. Hereke hingegen, so wusste er, hatte nicht anders gekonnt, er war gefangen in seiner kleinen, engen Welt mit ihrem eigenen kleinen und engen Denken. Das hätte er aufgrund seiner größeren Erfahrung erkennen müssen. Aber sein Ärger und sein gekränkter Stolz hatten ihn davon abgehalten, einzulenken. Dafür schalt Raen sich, es war auch von ihm kleingeistig gewesen. Aber er war auch gewiss, dass er im Gegensatz zu Hereke damit leben konnte. Was geschehen war, war nun einmal geschehen, und er würde besser als alle anderen damit zurechtkommen, dass es Menschen gab, die ihn nicht mochten. Ob Hereke dies jedoch auch konnte, würde sich noch zeigen, denn Raen schätzte ihn gegen das Bestehen misslicher Stimmung weit weniger robust ein.
Zu gleichen Teilen, wie er enttäuscht war, war er aber auch erleichtert. All die Jahre hatte er sich Vorwürfe gemacht und sich mies gefühlt, seinen Freund betrogen zu haben. Doch jetzt brauchte er kein schlechtes Gewissen mehr zu haben, Hereke hätte ihm nicht deutlicher sagen können, dass er an einer Entschuldigung nicht interessiert war. Wozu also noch länger darüber nachgrübeln?
Allmählich fiel die Anspannung von Raen ab, die ihm wochenlang in der Gegenwart Herekes das Leben versauert hatte, und schließlich blickte er aufgeräumt und voller freudiger Erwartung nach vorn. Das Frühlingsfest stand an und ... seine Hochzeit mit Suneka, welche ihn endgültig zu einem geachteten Mitglied der Gemeinschaft machen würde!
Wenige Tage vor dem Ereignis - Raen befand sich in ungezügelter Hochstimmung - rief Loenka ihn zu sich. Der baldige Krieger des Vierten Grades vermutete, es würde um seine zukünftige Rolle in Clan und Familie gehen, und dass der Oberpriester ihm noch einmal auf den Zahn fühlen wollte, wie es kurz vor einer Hochzeit allgemeinhin üblich war. Unbekümmert betrat er den kleinen Nebenraum im Oberen Heiligtum.
Loenka grüßte und wies ihm mit gestrenger Miene den Platz gegenüber. Als Raen sich gesetzt hatte, begann der Priester auch sogleich den Grund dieses Gesprächs zu erklären.
Ungläubig riss Raen die Augen auf, als er hörte, dass Hereke seinem Kummer im Tempel Luft gemacht und ihn derart verunglimpft hatte, dass es so aussah, als hätte er den Streit vom Zaun gebrochen! Entrüstet wollte er sich erklären, doch Loenka hob bestimmend die Hand und gebot ihm Schweigen. Ärger staute sich ätzend in seiner Kehle. ‚Hereke, du kleines Lichtlein! Nicht einmal ein Versprechen kannst du halten!’, dachte er giftsprühend, musste aber überlegen, ob er dessen Wort überhaupt eingefordert hatte? Er hatte es nicht. Wäre Loenka nicht anwesend gewesen, hätte Raen sich selbst geschlagen. ‚Oh, du Tölpel! Muss ich dir erst die Verhaltensweisen deines eigenen Volkes erklären? Das nächste Mal lässt du ihn auf etwas schwören, dann hält er auch die Klappe!’
„Banskeid Raen, du hast es gewagt, Reitmeister Hereke zu bedrohen!“, schmetterte Loenka indes in scharfem Ton. „Das ist ein wahrlich schlimmer Angriff und verlangt Aufklärung!“
„Daran bin ich ebenso sehr interessiert wie du. Offenbar neigt Reitmeister Hereke zu Übertreibungen.“
„Derart schwere Anschuldigungen bedürfen triftiger Argumente, es ist also ratsam, sich mit unbedachten oder gar hitzigen Äußerungen zurückzuhalten.“
„Ich bin ganz und gar nicht hitzig, Hyaunset suer. Ich vertrete nur meinen Standpunkt. Wer sagt denn, dass nur ich derjenige war, der jemanden bedroht hat?“
„Willst du etwa behaupten, Reitmeister Hereke, der für seine Friedfertigkeit allgemeinhin bekannt ist, habe dich bedroht?“ Ungläubig spitzte Loenka die Lippen.
‚Da haben wir es mal wieder’, dachte Raen zornig, ‚Herekes Ruf ist untadelig und meiner noch immer schadhaft, so sehr sie sich auch darum bemühen, mich mit anderen Augen zu sehen.’ Aber im hyaunischen Gedächtnis haftete das Schlechte nun einmal auf ewig, selbst bis über den Tod hinaus! Nur ungern erinnerte Raen sich an das, was der Geächtete Lata zu ihm gesagt hatte. Ruf und Name waren untrennbar miteinander verknüpft. Löschte man den Namen, löste sich auch der schlechte Ruf auf. Der Haken daran war nur, dass man dann auch für immer aus dem Gedächtnis der Leute verschwand. Für diesen Weg hatte sich Lata entschieden, und war darüber verbittert und zum Verräter geworden. Raen aber würde diesen Weg nicht wählen.
„Ich verrate nur ungern die Fehler anderer, es ist gegen meine Überzeugung“, entgegnete er gesammelt. „Aber es stört mich, ständig dazu gezwungen zu sein, mich verteidigen zu müssen, weil mein Wort offenbar weniger wiegt als das anderer!“
„Banskeid Raen, mäßige deine Rede! Jedes Wort wiegt gleich!“, tadelte ihn Loenka.
‚Das Wort vielleicht, aber der Ruf nicht!’, dachte Raen und seufzte.
„Erzähle mir, wodurch du dich bedroht gefühlt hast und halte nichts zurück, du kennst deine Pflicht!“, forderte Loenka.
Ergeben senkte Raen den Blick und berichtete von Herekes Eindringen auf Suneka, allerdings in sehr nüchterner Form.
Danach schob der Oberpriester nachdenklich die Unterlippe vor, hielt aber vorerst an seiner strengen Miene fest. Raen wusste, dass Loenka sein offenes Wort schätzte. Mit kerzengeradem Rücken wartete er ruhig, bis sein Gegenüber schließlich antwortete: „Nun, ich bin geneigt, die Sache nicht bis vor den Clanrat zu bringen. Aber dafür werde ich noch einmal mit Reitmeister Hereke sprechen müssen. Und anschließend werdet ihr euch beieinander entschuldigen und euch vertragen. Unfrieden, welcher Art auch immer, kann ich nicht dulden!“
„Ja, Hyaunset suer, das ist richtig, auch ich will keinen Unfrieden.“
„Da gibt es noch etwas, das ich im Besonderen nur von dir verlange.“
Raen hob die Hände als Zeichen, dass er zuhörte.
„Ich will, dass du künftig Rücksicht auf all diejenigen nimmst, die nicht über dein Wissen verfügen.“
„Welches Wissen meinst du?“, fragte Raen ehrlich ahnungslos.
Loenka sah ihn prüfend an. „Hereke ist dir himmelweit unterlegen. Das musst du gespürt haben. Auch viele andere sind es. Sie haben nicht wie du gelernt, einen Disput zu führen. Darin sind sie wie Kinder, und das ist gut so. So soll es auch bleiben. Es ist der hyaunische Weg. Übe also Nachsicht und sei großmütig mit ihnen. Und verwende nicht als Waffe, was du bei anderen Völkern vermeintlich als Vorteil errungen hast.“
Raen sah Loenka lange in die Augen, bis er schließlich nickte. Für seinen Geschmack wusste der Oberpriester ein wenig zu viel über ihn. Nur, wie, zum Teufel, machte er das? Hatte er ihm doch lange nicht alles erzählt, was in den vergangen vier Jahren geschehen war.
Loenka entspannte sich sichtlich, und erst jetzt brach ein Lächeln hervor, als hätte er es lange zurückhalten müssen. „Und nun zu deiner bevorstehenden Hochzeit. Du weißt gar nicht, wie sehr ich es begrüße, dass du diesen Schritt endlich wagst.“
„Es war nicht meine Schuld, dass ich mir so viel Zeit damit lassen musste!“, schob Raen bewusst bissig nach.
„Warum nur, Banskeid Raen, empfindest du alles, was ich sage, stets als Vorwurf?“
„Weiß nicht. Es ist, schätze ich, eine schlechte Angewohnheit.“ Raen zuckte leichthin mit den Schultern. Das Verhältnis zu Loenka war schwierig. Nach seiner Rückkehr hatte er noch nicht wieder vollkommenes Vertrauen zu dem Priester fassen können. Denn leider - auch wenn er es nicht wollte - spukten doch noch immer Manoens Worte in seinem Hinterkopf herum.
„Willst du mir vielleicht etwas sagen?“, fragte Loenka, und sein Blick spießte unangenehm durchdringend in den seinen.
„Nein.“
„Du bist also gewillt, die Verbindung mit Suneka einzugehen und die dadurch resultierende Stellung in der Gemeinschaft zu erfüllen?“
„Ja.“
„Gut, so sei es denn. Du hast meinen Segen.“
Verwundert sah Raen den Oberpriester an. Mehr wollte er nicht prüfen?
„Wir sollten uns wieder öfter unterhalten. Ich habe es sehr vermisst, einen gleichrangigen Gesprächspartner zu haben.“ Loenka zwinkerte ihm kurz zu, doch Raen blieb reserviert. Das Kompliment schmeichelte ihm zwar, jedoch würde es sie noch immer nicht zu der alten Freundschaft zurückbringen, welche sie einmal verbunden hatte. Erst musste er klären, wie viel Loenka davon wusste, dass sie ihn zur Strafe nach Borgossa geschickt hatten, und ob er etwas damit zu tun hatte.
Die Hochzeitszeremonie fand im Tempel statt. Weil es leicht zu regnen begonnen hatte, hatte man sich kurzerhand unter das Dach Hyauns zurückgezogen. Loenka machte beinahe einen noch glücklicheren Eindruck als die beiden Brautleute, deren Hände er ineinanderlegte, laut die Formeln für die Vermählung sprach und sie mit heiligem Wasser besprengte. Die assistierenden Priester umwanden das Paar mit schwarzen, weißen und orangefarbenen Bändern, welche Treue, Wahrheit und Hoffnung symbolisierten. Dann hob Raen Sunekas Hand, küsste die Innenfläche und legte sie an seine linke Brust. Die Braut tat das gleiche mit seiner Hand und besiegelte damit endgültig ihre Verbindung. Der Kuss auf die Seele und zum Herzen geführt war die innigste Geste zwischen zwei Menschen, die sich einander ein Versprechen gaben.
Sunekas Mutter heulte sich die Augen rot wie schon bei der Hochzeit ihrer jüngeren Tochter. Das ängstigte wiederum Sosama an ihrer Seite, dass sie auch zu weinen begann, während Roman, Radast und alle anderen nächsten Familienangehörigen selig lächelten. Gut gelaunt begannen die Leute zu plaudern, doch zwei der Anwesenden schienen sich der allgemeinen Heiterkeit nicht anschließen zu wollen.
Hereke hielt seine Hände verkrampft im Schoß fest und wagte es kaum aufzublicken. Und Resa saß steif neben seiner Schwester Andra und betrachtete nachdenklich das Paar, das von der gesamten Gemeinschaft bejubelt wurde, nachdem es dreimal um den Hyaunset suer geschritten war.
„Herzlichen Glückwunsch, mein Guter, das müssen wir feiern, ich meine, dass wir jetzt so etwas wie verschwägert sind!“, raunte Kaera Raen zu und klopfte ihm auf die Schulter, als sie sich ins Obere Heiligtum begaben, um dort gesondert die Weihe zum Frühlingsfest zu empfangen.
„Oh, heißt das, ich bekomme heute ausnahmsweise einmal keine Prügel von dir?“ Raen stieß ihm versteckt den Ellenbogen in die Rippen.
Theatralisch stieß Kaera Luft aus. „Wir sprechen uns nachher!“, sagte er scherzhaft drohend und grinste.
Nach den Feierlichkeiten für Geist und Seele folgten jene für das Wohl des Leibes: Das große Festessen und später am Abend der Tanz. Den ganzen Tag war Raen an der Seite seiner Frau zu finden und schließlich auch die ganze Nacht. Lange nachdem der Vollmond sich wieder über den Hügeln gesenkt hatte, zogen sie sich zurück und genossen ihre nun rechtmäßig abgesegnete Zweisamkeit. Ihr neues Zimmer war mit Kamille, Vergissmeinnicht und Ackerwinde geschmückt, und über jedem Alkoven hingen getrocknete Kornähren und Tannenzapfen, die Fruchtbarkeit von Mann und Frau beschwörend.
„Ich glaube, das brauchen wir gar nicht“, sagte Suneka und sah zu dem Gebinde hoch, nachdem sie erschöpft und schweißfeucht voneinander abgelassen hatten. Ihre Züge waren weich und herrlich entspannt, und Raen konnte sich gar nicht davon loslösen, immer wieder den Geruch ihres Körpers aufzunehmen.
„Hast du gehört?“, fragte sie und kicherte, weil Raens Nase auf ihrem Bauch kitzelte.
„Was?“
„Wir bekommen noch ein Kind!“
Er stützte sich auf einen Ellenbogen und blickte sie an. „Aber wie kann das so schnell sein?“
„Es muss gleich in der ersten Nacht passiert sein, in der wir wieder das Bett geteilt haben. Deine ganze Familie scheint darin recht zielsicher.“ Sie spielte auf den gerade mal ein paar Monate alten Nachwuchs seines Vaters an. Der kleine Halbbruder war kurz nach Raens Rückkehr zur Welt gekommen und machte, kräftig und energisch, einen weit hoffnungsvolleren Eindruck als das zuvor verstorbene Schwesterchen.
„Freust du dich gar nicht?“
„Doch, natürlich.“ Er lächelte. Aber in Wirklichkeit war er sich ganz und gar nicht sicher, ob er darüber glücklich war. Denn mit seinem Blute pflanzte sich auch seine verhängnisvolle Erblast uneingeschränkt fort! Eigentlich hätte er es gerne wie seine Schwester gehalten, die noch immer ohne Kinder war. Leider befürchtete er, dass Suneka einen ganzen Stall voll Kindern haben wollte. „Aber mehr werden es erst einmal nicht, ja?“
„Mal sehen“, entgegnete sie zwinkernd und bog sich zu ihm hinüber, um ihn zu küssen.
Am nächsten Tag nahm Raen an dem Wettrennen teil und erreichte auf seinem neuen Pferd als Neunter das Ziel. Zwei jüngere Krieger teilten sich den ersten Rang, und Roman trudelte ganz zum Schluss ein, ganz gemächlich zusammen mit Kensa und noch einigen anderen Älteren. Reni und Loenka ehrten die Sieger, und man zog hinauf zum Chorten, wo Osa eine ganz besondere Überraschung für Raen bereithielt. Feierlich überreichte er ihm die beiden neuen Schwerter. Schnell setzte Raen seine Tochter ab, gab ihr einen freundlichen Klaps auf den Hintern, und nahm dann, nachdem das kleine Mädchen außer Sicht war, die Waffen mit einer Verbeugung entgegen. Mit leuchtenden Augen trat er mit Osa etwas abseits, und zog erst dann das neue Breitschwert blank. Raen bewunderte das Muster der Klinge. Es war vollkommen. Wieder einmal hatte Osa sich selbst übertroffen!
„Es ist wunderschön, hab Dank, Osa!“
Der Schmied lächelte zufrieden. „Lass es dir nicht wieder wegnehmen, es hat mich viel Schweiß gekostet“, flachste er gutmütig.
„Nein, bestimmt nicht!“ Raen gab das Schwert wieder in die Scheide und steckte es sich hinten in den Gürtel. Endlich war er wieder vollständig.
Neiderfüllt beobachtete Resa ihn aus einiger Entfernung. Ähnlich wie sein großer Bruder konnte er es kaum erwarten, endlich den kalten, scharfen Stahl mit seinem Namen darauf zu empfangen und sich in das Buch der Krieger eintragen zu dürfen.
Er sah zu, wie Raen sich wieder zu seiner kleinen Familie gesellte und Sosama auf den Arm hob. Das Kinderlachen klang hell und fröhlich zu ihm herüber. Bald, dachte Resa, bald würde er Suneka die Wahrheit über Raen erzählen.
Dass ihr Ehemann noch immer unter den entsetzlichen Erinnerungen litt, welche aus jeder einzelnen seiner Narben sprachen, bekam Suneka gleich in ihrer zweiten Nacht im gemeinsamen Zimmer zu spüren. Stöhnend und fremdartige Worte murmelnd warf er sich auf seinem Lager hin und her. Verstört entzündete sie eine Lampe und sah nach ihm. Sie fühlte ihm die Stirn. Sie war kühl und trocken, kein Fieber.
Den Trost der Hand spürend, beruhigte sich der Schlaf des Träumenden wieder, und als er gleichmäßig atmete, löschte Suneka das Licht, legte sich hin und hörte diese Nacht nichts mehr von ihm. Dafür aber in der nächsten und in der darauffolgenden Nacht. Beinahe jedes Mal erwachte sie von seinen gequälten Angstschreien. Bekümmert und hilflos wanderte sie zwischen seinem Alkoven und dem ihren hin und her und wusste nicht, wie sie ihm beistehen konnte.
Nach einem Monat, ihr Bauch begann sich mittlerweile leicht zu wölben, nahm sie sich ein Herz, und fragte ihn am Morgen nach seinen Alpträumen.
„Ich kann mich an nichts erinnern. Bin ich wirklich so unruhig?“, log er, wohl wissend, dass er sich nachts herumwälzte, als sei er vor ganz Askhar auf der Flucht.
„Was bedeutet: Chel dim ür, oder so ähnlich? Das sagst du nämlich ständig im Schlaf.“
Raen war entsetzt. Sagte er das wirklich? Es hieß ‚Ich werde dich töten’ auf Askhari. Bei Hyaun! Langsam ängstigte er sich vor sich selbst. Hoffentlich blieb es nur bei den ausländischen Worten!
„Es ist Askhari“, gab er Suneka schließlich Antwort.
„Du kannst Askhari?“, fragte sie überrascht.
„Ja, das habe ich dort gelernt, zwangsläufig. Steht heute etwas an?“ Er wollte von dem brisanten Thema ablenken.
Doch Suneka biss nicht an. „Es ist schrecklich, Raen, ich bekomme kaum ein Auge zu. Solltest du nicht besser zu Loenka gehen? Oder dir von den Medizi die Nachtbeere geben lassen, damit du ruhiger schläfst?“
„Ich entscheide, was ich tun werde. Noch brauche ich keines von beidem!“, sagte er brüsk und zog den Knoten seines Gürtels zu; er trug ihn jetzt vorn so wie alle Verheirateten. Dann nahm er sein Schwert und seinem Helm und drehte sich noch einmal fragend zu ihr um.
„Nein, es steht nichts an“, entgegnete Suneka mit gesenktem Blick.
Er sollte wohl nicht sehen, dass sie mit den Tränen kämpfte, aber er wusste genau, dass seine schroffe Reaktion sie verletzt hatte. Das war auch beabsichtigt gewesen, denn er wollte keine weiteren Fragen von ihr, auch wenn sie lediglich um ihn besorgt war. Er verabschiedete sich mit einem Kuss von ihr und ging an sein Tagwerk.
Der Sommer ging, und der Herbst kam, Raen half auf den Feldern beim Einfahren der Ernte, und Suneka war mit ihrer Küchenschar damit beschäftigt, die Vorräte für den Winter haltbar zu machen. Sie hatte ihn nicht wieder auf seine Träume angesprochen. Alles war unverändert, nur die Frucht in ihrem Leibe wuchs und schwellte. Raen hatte seine Grobheit vergessen und war liebevoll zu ihr, kam oft zu ihr unter die Decke und ersuchte um Zärtlichkeiten. Suneka gab sie ihm bereitwillig, da sie den Mann in ihren Armen mehr liebte als alles andere.
Doch immer öfter endeten Gespräche zwischen ihnen in tiefem Schweigen, und immer häufiger ertappte Raen sich dabei, dass er an Borgossa dachte ... und an die Frau, die er dort kennengelernt hatte. Das feste Tau seiner Entschlossenheit begann allmählich zu spleißen. Es war ja nicht so, dass er mit Suneka nicht glücklich war. Aber es verlangte ihn immer stärker nach weit ausgedehnteren Unterhaltungen, als seine Frau fähig war zu führen. Er machte ihr daraus keinen Vorwurf. Ihr Leben war Shari, und von dem anderen Leben dort draußen konnte sie nicht das Geringste wissen. Unbewusst suchte er sich bald andere Gesprächspartner, um das tägliche Einerlei aus Familie, Clan und den Übungsstunden mit anspruchsvollen Betrachtungen zu würzen. Zum Beispiel mit Zahlen, welche den Clan und seine Umgebung beschrieben. Hierfür war zunächst Kaera eine äußerst lehrreiche und abendfüllende Gesellschaft. Kaera, der einstmals Ängstliche, der seit dem ersten Grenzkampf seine Verzagtheit überwunden hatte und längst mit seinem Leben, so wie es war, überaus zufrieden wirkte.
Was der Krieg doch aus den Menschen machen konnte, dachte Raen das ein ums andere Mal, wenn er seinen Freund betrachtete. Die einen zerstörte er an Leib und Seele, und die anderen machte er stark. Er überlegte, auf welcher Seite er zurückgelassen worden war? Konnte es aber nicht beantworten.
Nachdem Kaera den Inhalt all seiner selbstgebundenen Bücher an seinen Freund vermittelt, und dieser wiederum all sein Wissen über Askhar dort hinein gefügt hatte, suchte Raens rastloser Geist nach neuer Nahrung. Er wusste, dass Loenka im Tempel auf ihn wartete, geduldig und genügsam wie einer von diesen schwarzgelben Salamandern in seinem Erdversteck; und zweifelsohne war der Priester ein unvergleichlich kluger Kopf, wie es ihn in Shari kein zweites Mal gab, aber trotzdem ließ Raen ihn vorerst aus. Lauter denn je warnte ihn die Stimme Manoens; und zu klug war er, der Oberpriester.
Hingegen zog es ihn nach den Wochen mit Kaera mehr und mehr wieder zu Andra, der Starken. Von Tag zu Tag rückte er sie bewusster an die Stelle des in Borgossa zurückgelassenen Freundes. Mit ihr konnte Raen weitgehend offen sprechen, und sie besaß eine ähnlich scharfe Auffassungsgabe wie er. Aber nicht nur er schütte ihr sein Herz aus, auch Andra erzählte ihm viel. Zuerst nur zögerlich, weil sie Raen offenbar nicht mit ihrem eigenen Kummer hatte belästigen wollen, dann aber, nachdem er sie aufgefordert hatte, ihn nicht zu schonen, hatte sie schließlich sehr ausführlich und erregt von all den Dingen berichtet, die sie bewegten. Und Raen zeichnete sich zum ersten Mal seit seiner Rückkehr ein deutliches Bild von den Geschehnissen während seiner Abwesenheit. Er war nicht unerheblich schockiert!
Nur schwer erholte er sich anschließend von dem inneren Aufruhr und der Empörung darüber, wie sehr sein Vater damals in Doban bei seinen Erzählungen untertrieben hatte.
„Das darfst du ihm nicht anlasten, er hat es nicht böse gemeint. Er hatte dich nur nicht unnötig beunruhigen wollen“, nahm Andra ihren Vater in Schutz.
„Unnötig beunruhigen?“, platzte es aus Raen heraus. „Er schämt sich doch nur wieder für eines seiner Kinder!“
„Du tust ihm Unrecht.“
„Oh ja, er hat es nicht leicht, willst du jetzt wieder sagen. ‚Romans wilde Söhne’! Will er das etwa sein Leben lang als Ausrede benutzen? Wann will er endlich der Wahrheit ins Auge sehen und sich den Problemen seiner Familie stellen?“
„Vater ist längst nicht mehr für uns verantwortlich - wir sind erwachsen, und Resa wird von der Kriegerkaste erzogen -, trotzdem fühlt er sich noch immer in der Pflicht, uns zu verteidigen. Raen, er hat sein Leben und wir das unsere. Es genügt, wenn wir uns damit auseinandersetzen. Vater hat seinen Frieden verdient. Und außerdem hat Resa sich ja wieder gefangen.“
Andra hatte Recht. Raen kühlte sich wieder etwas ab.
„Und was macht die ‚beherrschte und vernunftbegabte Tochter Romans’?“, versuchte er sie schließlich zu necken, um ihre Stimmung wieder zu heben.
Andra sah auf, ein Lächeln huschte über ihre ernsten Züge, und es war, als sehe er in einen Spiegel. Das Grün ihrer Augen leuchtete spitzbübisch auf. „Oh, die ist den ganzen Tag damit beschäftigt, ihre unanständigen, zuchtlosen Brüder zu bändigen.“
Der altbekannte Ellenbogen Raens landete in ihrer Seite, und beide sahen sich eine Weile lachend an. Der Moment war so innig und verbindend, dass Raen beinahe die streng gezogene Bannmeile, welche seine Welt von der ihren trennte, überschritten und ohne Ausnahme alles berichtet hätte, was ihn bedrückte. Doch eine unvermittelte Frage Andras brachte ihn wieder zur Vernunft, und erschrocken über seine mangelnde Selbstbeherrschung strich er sich über die Stirn.
„Ja, ich gehe mit zur Jagd, Kensa wollte es so. Eine erste Probe, wie er sagte“, antwortete er zerstreut, nicht in der Lage, sich vollständig aus dem Gespinst seiner Gedanken zu lösen. Vor seinem inneren Auge konnte er die Bedrohung langsam auf sich zu kriechen sehen wie eine vom Schlaf des Vergessens noch steifbeinige Spinne, und er spürte, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er die alten Regeln erneut brechen würde.
„Dann überlasse ich dich jetzt deinem treu sorgenden Ehegatten“, sagte er und erhob sich. „Es ist ja auch schon spät, Suneka wartet bestimmt schon.“
„Wie geht es ihr? Ist sie immer noch so gereizt?“
„Hmmhm.“
„Das macht die Schwangerschaft, aber es ist ja auch nicht mehr lange. Schick sie zu mir, und ich gebe ihr etwas zur Beruhigung.“
„Ja, danke, gute Nacht, Andra.“
„Gute Nacht.“
Beide verließen sie die zu dieser Stunde stillen Räume der Medizi und schlichen sich über den Hof zu den Wohntürmen.
Aber nicht nur Raen verlangte es nach der tröstlichen Nähe seiner Frau, welche die unguten Ahnungen vertreiben sollte, auch Andra fühlte einen Schatten auf ihrem Herzen hocken, als sie zu ihrem Zimmer ging und sich in Osas kräftige Arme sehnte. Sie hatte ihrem Bruder nicht alles erzählt. Ein Paar ihrer dunkelsten Geheimnisse hatte sie für sich behalten, darunter auch ihr heimlicher Verdacht gegen Resa. Aber nach all der Zeit war sie sich selbst nicht mehr so sicher, ob sie damals nicht vielleicht doch nur überreagiert hatte.
Resa biss sich wütend auf die Zunge.
„Nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder!“, hatte Kensa gesagt und auf Raen gedeutet, der soeben mit einem erlegten Hirsch zurück ins Jagdlager gekommen war. Und du wirst nie so ein fabelhafter Krieger werden wie er!, hatte die andere, nur aus den Augen sprechende Stimme des alten Fechtlehrers gesagt.
Finster blickte Resa seinem Bruder hinterher, der zusammen mit Kaera den Hirsch auf eines der Waidgestelle hievte und sich dann Wasser reichen ließ, um sich das Blut von den Händen zu waschen. Er war schon ein tolles Gewächs, sein Bruder! So bescheiden und fleißig, so begabt und gescheit. Resa musste beinahe würgen, bei so viel abgefeimter Kunst der Verstellung, die sein Bruder da beherrschte! In Wirklichkeit war Raen ein simpler Aufschneider und Heuchler, nur sah dies keiner.
Er beobachtete, wie Raen den Wasserschlauch von dem Besserwisser Kaera nahm und trank. Da trat Roman hinzu, legte jedem eine Hand auf die Schulter und sagte etwas, woraufhin alle die Köpfe zurückwarfen und lachten.
Feindselig knirschte Resa mit den Zähnen. Am liebsten hätte er es gesehen, dass der vermaledeite Wunderknabe für immer verschollen geblieben wäre, denn dann hätte er beruhigt dessen Platz einnehmen können. Und eigentlich hatte ihm das die Stimme ja auch versprochen. Aber jetzt schwieg sie, hielt sich vornehm zurück.
‚Du hast mich betrogen!’, warf er ihr im Stillen vor. ‚Ich habe alles gemacht, was du von mir gefordert hast. Habe dir die Opfer dargebracht, nach denen du verlangt hast, und ich habe den Dämon besiegt. Ich war allzeit dein treuer Diener und habe immer gehorcht. Und nun ist er wieder da! Wieso?’ Resa verstand es nicht. Was war schiefgelaufen? Was hatte er falsch gemacht?
‚Das wirst du jetzt jedenfalls nicht herausfinden können. Warte, oder handele. Was auch immer, es ist nun dir überlassen’, dachte er und raffte sich zusammen. Dann ging er zu der kleinen Gruppe hinüber, auf seinem Gesicht ein täuschend echtes Lächeln. Bei all den unerwarteten Misshelligkeiten war ihm eines klarer als je zuvor: Er musste Raen einen Denkzettel verpassen! Er musste ihn dafür bestrafen, dass er sich fortwährend in den Vordergrund schob und ihn schlecht machte. Natürlich nicht mit Worten, nein, dafür war sein Bruder viel zu schlau. Es war vielmehr dieses verdammte Selbstverständnis, mit dem er immer alles besser machte und ihn dadurch langsam, aber stetig ins unbeachtete Abseits drängte. Und genau dieses Selbstverständnis musste er zu erschüttern versuchen, er musste es zerstören, zermalmen, zu Tode quetschen, restlos vernichten! Er würde Raen Demut lehren, ihn in den Staub der Selbstzerknirschung werfen ... und glücklicherweise wusste Resa auch schon wie.
Er trat zwischen seinen Bruder und seinen Vater. „Was für ein Prachtbursche! Gratuliere, du hattest gutes Jagdglück!“ Mit leuchtenden Augen lächelte er Raen an.
Es war zwei Wochen später, als er nach dem Nachtmahl wartete, bis sie allein in der Küche war, und trat dann aus seinem Versteck zu ihr an den Herd. Überrascht drehte sie sich mit ihrem ausladenden Bauch zu ihm herum, eine Hand ihn ihren Rücken gestemmt.
„Resa, was machst du denn noch hier? Brauchst du mal wieder eine Extraration? Hier ist noch etwas Hammelkeule.“ Suneka bot ihm das Fleisch an, doch er lehnte schweigend ab.
Die junge Frau legte den Kopf schief. „Was willst du dann?“
„Dir die Wahrheit sagen, über Raen.“
„Was für eine Wahrheit?“, fragte sie säuerlich, sie glaubte ihm ganz offensichtlich nicht. „Raus damit!“
Die braunen Augen des Kriegerlehrlings verengten sich.
„Er liebt eine andere Frau!“, brachte er ohne Umschweife heraus, und Sunekas Kinnlade klappte herunter.
Resa wusste, dass er damit ihre geheimsten Befürchtungen wachrief.
Plötzlicher Schwindel schien sie zu erfassen, denn sie tastete nach der Herdeinfassung, um sich dagegenzulehnen. „Wo ... woher weißt du das?“, fragte sie zitternd.
„Ich habe es gesehen!“, grinste er selbstsicher. Dass er es nur in einem seiner Träume gesehen hatte, verriet er ihr natürlich nicht. Genüsslich weidete er sich an der Angst, die Sunekas ganzer Körper ausstrahlte, und in seiner Hose begann sich sein Geschlecht zu regen. Wenn sie nicht so aufgebläht wie eine Melone gewesen wäre, hätte er sich durchaus vorstellen können, sie sich gewaltsam zu nehmen. Die Frau seines Bruders, von hinten, wie der Hengst auf der Stute, das würde ihm gefallen! Doch ihre Trächtigkeit ekelte ihn an. Sein Glied erschlaffte wieder. Wütend grub er die Fingernägel in seine Handflächen. Er würde seine Befriedigung schon noch bekommen! Ungeniert starrte er Suneka an und entgegen seiner eigentlichen Absicht hob er schließlich doch seine Hand und berührte die Rundung des Kindes in ihrem Leib. Stumm verfluchten seine grausamen Augen die Frucht seines Bruders, verfluchten alles, was dessen Finger je berührt hatten.
„Er wird dich verlassen!“, raunte er unheilvoll in Sunekas bleiches Gesicht. „Mach dich schon einmal damit vertraut.“ Zufrieden spürte er, wie seine Erregung erneut anschwoll, und lächelte.
Suneka wollte sich ihm entziehen, wand und bog sich, doch hinter ihr war der Herd. „Fass’ mich nicht an, du kleines Ungeheuer!“, rief sie und schlug angewidert nach seiner Hand auf ihrem Bauch, als sei diese ein blutsaugendes Insekt. Doch er ließ sie nicht entfleuchen.
Immer wieder rief und schluchzte sie: „Verschwinde! Lass mich doch endlich in Ruhe. Bitte!“ Und da sie keinen Ausweg fand, sank sie schließlich in die Hocke und schlug die Hände vor das Gesicht. Ihr Gewinsel ergötzte Resa.
Zufrieden mit seinem Werk, schaute er eine Weile auf sie herab. Dann machte kehrt und entschwand lautlos wie eine Fledermaus in die stillen Windungen und Höhlungen des nächtlichen Chorten.
Draußen war es bitterkalt, doch die drängende Hitze in seinem Unterleib verlangte nach sofortiger Befreiung. Flink huschte Resa in eine der verlassenen Werkstätten an der Ostmauer, löste versteckt hinter noch nicht fertiggestellten Fässern die Bänder seiner Hose und fuhr mit der Hand hinein. Sein Glied stand hart und aufrecht. Leise stöhnte Resa und biss sich auf die Unterlippe, als er sich Sunekas schreckensgeweitete Augen vorstellte. Seine Hand arbeitete geübt und schließlich kam er, heftig und wohlig schaudernd. Erschöpft ließ er sich anschließend sinken und lehnte den Kopf an eines der Fässer. In die von Zufriedenheit geglätteten Züge seines Gesichtes zuckte ein dämonisches Grinsen unter halb gesenkten Lidern.
Vollkommen aufgelöst lief Suneka die Treppe hinauf, auf halber Steckte brach sie zusammen. Stoßweise ging ihr Atem und sie drückte sich beide Hände auf den Leib. Die Wehen hatten eingesetzt. Über einen Monat zu früh! Sie fühlte Nässe zwischen ihren Beinen. Hilflos krümmte sie sich, versuchte um Hilfe zu rufen, doch sie bekam ihre zusammengepressten Zähne nicht auseinander. Die Schmerzen waren schrecklich, schlimmer als beim letzten Mal. Stöhnend und in Panik kroch sie vorwärts auf die Stufen zu.
Und als die nächste Wehe sie von innen her zu zerreißen schien, erscholl ein verzweifelter Schrei aus ihrer Kehle. Wimmernd rollte sie sich auf den Rücken, biss sich in die Faust und zog die Beine an. Das Köpfchen bahnte sich bereits seinen Weg, als endlich jemand zu Hilfe kam. Es waren zwei der Eisan, die nach der erledigten Arbeit noch beisammen gesessen hatten, Vater und Sohn. Sie beeilten sich, Suneka aufzuheben und riefen gleichzeitig nach den Medizi. Doch das Kind kam schneller als die Heilkundigen. Unter Aufgebot aller Kräfte presste Suneka noch ein einziges Mal in ihrer halbaufrechten Stellung, und schon glitt es heraus auf das Untergewand eines der Helfer, der es in kluger Umsicht unter sie gelegt hatte.
Wegen des späten Aufruhrs aus ihren Zimmern gerufen, versammelten sich immer mehr Leute oberhalb der Treppe und beobachteten besorgt, wie Suneka kraftlos in sich zusammensackte, nachdem auch die Nachgeburt heraus war. Doch die beiden Helfer hielten sie weiterhin unter den Armen von den Holzdielen des Treppenabsatzes fern, wussten sie doch, dass jede weitere Berührung mit Unreinem das Kindbettfieber heraufbeschwören konnte. Dann erreichten endlich die Medizi, die meisten von ihnen in wehenden Nachtgewändern, den ungewöhnlichen Ort der Geburt und entbanden die beiden tapferen Eisan von ihrer ohnmächtigen Last. Man trug Suneka in ihr Zimmer hinauf, wo sie ausgezogen und vorsichtig auf ein mit brühendem Wasser übergossenes Laken gelegt und darin eingewickelt wurde. Ihre Lider flatterten, aber sie blieb ohne Bewusstsein. Dem schreienden Kind wurde die Nabelschnur durchtrennt, dann wusch man es und gab es ebenfalls in ein sauberes Leinen.
Andra strich der bereits Fiebernden die feuchten Strähnen aus dem Gesicht, als Raen zur Tür hereingestürmt kam.
„Wo ist sie? Was ist passiert?“, rief er aufgeregt und mit schrecklicher Erinnerung an den Tod seiner Mutter.
Ein anderer Medizi trat zu ihm und legte ihm eine Hand auf den Arm. „Beruhige dich, mein Sohn. Sie ist zu früh niedergekommen. Aber das Kind lebt, es ist ein Knabe. Die Mutter liegt jedoch im Fieber, obwohl wir alles getan haben, es zu verhindern.“
„Wird sie sterben?“ Raen löste sich von dem Älteren und kniete sich neben die wie vom Tode geküsst daliegende Suneka. Er sah von ihrem fahlen Gesicht zu seiner Schwester auf.
„Sie ist in Zaizuras Hand“, flüsterte Andra, blinzelte und sah schnell woanders hin, so als hätte sie das nicht sagen wollen. „Raen, wir werden alles versuchen! Ich werde alles versuchen!“, schwor sie ihm mit gesenkter Stimme und gab dann Anweisung, Suneka ins Bett zu schaffen. Unter mehreren Schichten aus Laken, Heilkräutern und Decken schlief die Erschöpfte schließlich mit zitterndem Atem.
Raen wich die ganze Nacht nicht von ihrer Seite, fühlte immer wieder ihren Herzschlag und rieb ihre Stirn und Schläfen mit einem beißend riechenden Öl ein, von dem er nicht wusste, woraus es hergestellt war, aber es sollte ihre Lebensgeister im Diesseits halten. An das Neugeborene, das eine der Kinderfrauen mit sich genommen hatte, verschwendete er kaum einen Gedanken, zu sehr gab er ihm die Schuld dafür, dass Suneka jetzt hier lag und mit der unerbittlichen, spinnenleibigen Zaizura um ihr Leben rang.
„Wenn du sie nicht aus deinen widerlichen Klauen lässt, du unersättliche Weberin, dann, so schwöre ich bei meinem Schwerte, werde ich zu dir kommen und dich vernichten! Dich und deine gesamte Welt aus klebrig verwirrten Fäden und Netzen, mit denen du die Menschen gefangen hältst!“, gelobte er finster und scherte sich einen Dreck um die Gotteslästerung, die er da soeben ausstieß. Er legte eine Hand an Sunekas Wange. Mit Zaizura hatte er ohnehin noch einen Händel auszutragen, und er würde den erforderlichen Beistand dafür haben, das war gewiss, obwohl er auch diesen nicht minder mit Vorwürfen überschüttete, weil er ihm keine Warnung hatte zukommen lassen.
Eine Woche bangte der gesamte Chorten um die arme Suneka. Dann schien das Fieber besiegt; die Spinnenklaue ließ von ihr ab, und die sechs kalten Augen richteten sich auf denjenigen, der es gewagt hatte, sie zu Lästern! Zaizura vergaß und vergab nie.
Wie durch ein Wunder überstand aber auch der viel zu kleine Roakyn die kritischen Wochen und konnte bald aus der Obhut der Amme in die Arme seiner Mutter zurück, die noch einige Zeit lang seltsam still und verletzlich wirkte.
Dankbar für das Genesen seiner Frau strebte Raen fortan danach, sich auf das, was er hatte, zu besinnen. Doch so sehr er sich auch bemühte, die Idylle hatte längst Schaden genommen, und stetig riss das Tau in seinem Geiste weiter ein, faserte auf und zerschliss. Was nie zu retten gewesen war, sollte schon bald endgültig im Pfuhl der missglückten Hoffnungen versinken.
Mit gelöstem Gürtel und barfuß saß er auf der Kante seines Alkovens und rieb sich den Nacken. Nicht zum ersten Mal sehnte Raen sich nach den Vorzügen der borgossinischen Therme, mit ihren Walkknechten und den heißen Dampfbädern. Es war ein harter Tag gewesen, Kaera hatte ihn gnadenlos geschliffen. Mit Gewichten aus Sandsäcken auf beiden Schultern hatte er die übliche Runde durch den Wald absolvieren müssen, Kaeras antreibenden Atem immer im Rücken und das feucht kalte Wetter in seinen Lungen. Heute war es ihm gelungen, den Lauf zu bewältigen, ohne zwischendrin Verschnaufen zu müssen, und selbst Kaera war für einen Moment aus der Puste geraten. Kensa hatte diesen Fortschritt gelobt, und auch Raen freute sich darüber, körperlich beinahe schon wieder ganz der Alte zu sein.
Während er über den Tag nachdachte, erfreute er sich am Anblick seiner kleinen Tochter, die zusehends immer redseliger wurde. Geschäftig spielte sie mit der Kleidung ihrer Mutter und plapperte nach, was sie als neuestes aufgeschnappt hatte.
„Mutter muss Essen machen. Vater muss stark werden. Roakyn muss schlafen, und Sosama muss artig sein!“
Raen musste grinsen. „Sosa, komm doch mal her.“ Er streckte ihr beide Arme entgegen. Das Mädchen sah auf, lachte und kam holperigen Schrittes zu ihm gelaufen. Schwungvoll hob er sie hoch, was ihr ein noch ausgelasseneres Lachen entlockte, und setzte sie auf seinen Schoß.
„Und was muss das Pferdchen?“, fragte er.
Sosama schien zu überlegen. „Laufen?“
„Genau, laufen, hopp, hopp!“ Er ließ sein rechtes Knie auf- und abwippen, das linke Bein machte diese Bewegung leider nicht mit.
Sosama quietschte trotzdem vergnügt. „Pferdchen laufen, hopp, hopp!“, ahmte sie ihren Vater nach.
Als Suneka das Zimmer betrat, war es ruhig. Sie stellte den Korb mit ihrem schlafenden Sohn neben dem Alkoven ab und sah nach Raen. Der lag zusammengerollt und noch immer in seiner Kleidung auf seinem Lager, und Sosama angekuschelt neben ihm. Beide schliefen friedlich. Mit Bergen von Kummer auf ihrem Gemüt betrachtete sie eine Weile die sanften Gesichter der beiden Schlafenden. Könnte sie doch nur an dieses heile Bild glauben, welches Vater und Tochter da gaben. Könnte sie doch nur vergessen, was Resa ihr gesagt hatte! Der Schmerz breitete sich weiter in ihrer Brust aus, und sie versuchte, dagegen anzukämpfen, doch ihre Lippen begannen trotzdem zu zittern. Sie hatte so viel Liebe für Raen, hatte vier Jahre lang für ihn in Unsicherheit gelebt und gelitten. Dafür stand ihr doch wenigstens ein kleines Stückchen Glück zu, fand sie, nur ein paar unbeschwerte Jahre an seiner Seite, als Anerkennung für die Jahre ihrer Entbehrung. War das zu viel verlangt? Bitternis verklebte ihr die Kehle. Warum nur hatte er sich so schnell einer anderen zugewandt? Ihre Hände verkrampften sich. Wer war sie, dass sie ihm offenbar mehr zu geben vermochte, als sie?
Der schlafende Krieger schien zu spüren, dass er beobachtet wurde. Er drehte sich herum und öffnete die Augen.
„Nanu, Suneka, sitzt du schon lange hier?“
Sie schüttelte den Kopf und räusperte sich. Raen nahm ihre Hand und küsste die Innenseite ihres Handgelenks. Die Berührung ließ sie erschauern.
„Nicht vor Sosama“, sagte sie und wollte sich erheben, doch Raen umfasste sie mit beiden Armen und zog sie zu sich auf das Bett.
„Sie schläft doch“, flüsterte er verheißungsvoll, strich ihre Haare beiseite und ließ seine Lippen über ihren Nacken streifen. „Sie wird nichts mitbekommen, wenn wir ganz leise dabei sind.“
Suneka löste sich von ihm. „Bitte!“, sagte sie.
„Nun gut, dann bringe ich sie eben ins Bett.“ Er erhob sich, nahm das schlafende Kind auf den Arm und tapste in seiner neuen, unvergleichlichen Art zu Gehen aus dem Zimmer. ‚Wenigstens ist sein Hinken viel besser geworden’, dachte sie betrübt und wartete im stillen Licht der Öllampen bang auf seine Rückkehr. Sie konnte sich ihm nicht hingeben, auch wenn ihr Inneres förmlich nach seiner Zuwendung schrie. Nicht, seitdem sie wusste, dass er zu einer anderen ging. Bisher hatte sie ihn mit der Ausrede, sie sei noch nicht vollkommen erholt von der schweren Geburt von sich fern gehalten, doch das war jetzt schon fast zwei Monate her, und lange konnte sie ihn nicht mehr damit abspeisen. Sie spürte, dass ihr keine andere Möglichkeit blieb, sie würde ihn darauf ansprechen müssen. Auch wenn ihr Herz ihr in einem fort zurief, es besser sein zu lassen. ‚Teile ihn mit der anderen, das ist immer noch besser, als ihn ganz zu verlieren! Du wirst es dir nie verzeihen, wenn er dir den Rücken kehrt’, dachte sie und gab ihrem Herz Recht, aber so sehr sie ihm auch gerne folgen wollte, fühlte sie nicht genug Kraft in sich, mit diesem Kompromiss leben zu können. Auch konnte sie sich keinem anvertrauen, sie schämte sich viel zu sehr für ihr Scheitern. Wenn sie doch wenigstens wüsste, wer es war, dann könnte sie an diejenige appellieren und ihr begütigend zureden. Im Kopf ging sie die möglichen Namen durch.
Die Tür öffnete sich, und Raen erschien. Er setzte sich neben sie. Zögerlich suchte seine Hand eine von ihren Haarlocken auf ihrem Rücken und spielte damit. Schweigend sah er sie an, doch Suneka hielt den Blick auf ihre Hände gesenkt. Seine Finger begannen ihr Rückgrat hinauf- und hinunterzuspazieren, was sie üblicherweise immer kichern ließ.
„Was ist nur mit dir? Kann ich dich denn mit nichts aufheitern?“, frage er leise.
Suneka wirkte äußerlich ruhig, doch ihr Herz klopfte wild. So konnte es nicht weitergehen!, dachte sie unentwegt. ‚Entweder, du lässt ihn an dich heran, oder du klärst die Sache, Suneka, entscheide dich und trage die Konsequenzen. Jetzt!’ Ihre Kehle war wie ausgetrocknet, doch schließlich wandte sie den Kopf und sah ihm in die Augen. Der sanfte Ausdruck in seinem Blick schmerzte sie so sehr, dass sie beinahe wieder der Mut verlassen hätte. Bebend hob sich ihre Brust.
„Raen, ich muss etwas von dir wissen“, brachte sie mit Mühe hervor und schluckte.
„Was denn, meine Liebste?“ Verständnisvoll blickte er zurück, aber seine Hand auf ihrem Rücken hatte alarmiert innegehalten.
„Ist es Danka?“ Jetzt war es heraus, es gab keinen Rückzug mehr. Suneka wappnete sich gegen die Antwort, doch Raen zog lediglich ahnungslos die Stirn kraus und fragte: „Danka?“
‚Warum musst du es mir jetzt auch noch so schwer machen?’, dachte sie, und mit ihrem Ingrimm wuchs auch ihre Entschlossenheit. „Ist sie die andere Frau, zu der du gehst?“
„Ich soll zu Danka gehen? Suneka, was soll das?“ Sein Gesicht war wirklich zu unschuldig, als dass sie ihm seine Ahnungslosigkeit abkaufte. Auch wenn sie selbst nicht so raffiniert war, wusste sie dennoch, dass er hervorragend flunkern konnte.
„Raen, ich denke, es ist an der Zeit, mir die Wahrheit zu sagen. Ich bin deine Frau und will nicht die Letzte sein, die es erfährt. Ich weiß, dass du eine andere liebst!“
„Was? Ich gehe weder zu Danka noch zu irgendeiner anderen! Wie kommst du bloß auf solch einen Blödsinn?“ Raen wirkte ehrlich empört, doch plötzlich verfinsterte sich sein Blick. „Es war Hereke, nicht wahr? Er hat dir diesen Unfug eingetrichtert. Al Diavolo, das geht jetzt aber zu weit!“ Er schlug sich mit der Faust auf den Oberschenkel.
„Nein, Hereke war es nicht“, wiegelte Suneka mit ernster Miene ab, innerlich aber frohlockte bereits ihre Hoffnung. Es stimmte vielleicht gar nicht! Resa hatte nur mal wieder dummes Zeug geredet, wie schon so oft. Aber sie zögerte, weil sie nicht wusste, ob sie ihn verraten sollte. Was würde geschehen, wenn sie es Raen sagte? Welchen Ärger würde sie zwischen den beiden Brüdern heraufbeschwören? Ihr Herz wurde verzagt. Nein, Raen hatte durch sie schon seinen besten Freund verloren, und das machte ihr schwer genug zu schaffen, er würde sich wegen ihr nicht auch noch mit seinem Bruder entzweien. Außerdem hatte Resa bestimmt nicht gewusst, was er da gesagt hat. Er war ja manchmal so wie Raen früher, gefangen in seiner eigenen konfusen Gedankenwelt. Ein Träumer.
Sie wich Raens Blick aus. „Ich allein habe es mir zusammengereimt. Weil ... naja, weil du vor der Geburt nicht mehr zu mir gekommen bist.“
„Weil ich ... aber das war doch nur, weil ich dir nicht wehtun wollte.“
„Es ist also nicht wahr?“ Sie sah ihn in unsicher an.
„Nein, natürlich nicht!“ Er klang aufrichtig, und gelöstes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
„Oh, Raen, ich bin ja so froh!“, seufzte Suneka und lehnte sich erleichtert an ihn. „So froh.“
Der Tag seiner Rückkehr jährte sich, und seine Tochter hatte ihren dritten Geburtstag. Raen schenkte ihr ein aus Holz geschnitztes Pferd und einen kleinen fahrtüchtigen Wagen dazu. In seiner wachsenden Unrast hatte er nach etwas gesucht, mit dem er sich die stillen Winterabende hatte vertreiben können. Denn gerade diese langen und dunklen Abende waren es, die schlechte Gedanken regelrecht heraufbeschworen. Freudestrahlend hatte Sosama das neue Spielzeug entgegengenommen und es hernach kaum noch aus der Hand gelegt. Nachts musste es dicht bei ihrem Lager stehen, und nicht selten griff sie im Schlaf danach, um sich zu vergewissern, dass es noch da war.
Seiner Schnitzarbeit ledig, aber noch immer ruhelos, suchte Raen schließlich nach einer nächsten Aufgabe. Sein Blick fiel schnell auf das leere Buch, welches Kaera ihm zum Jahrestag überreicht hatte, und schließlich begann er es in seinen müßigen Abendstunden, während Suneka noch in der Küche arbeitete, Seite um Seite zu füllen. Zuerst nur mit vereinzelten Dingen: Schöne Erinnerungen oder bedeutende Gedanken, die ihm nicht wieder verloren gehen sollten. Doch dann wurden seine Aufzeichnungen tiefgründiger. Er ging weiter zurück in der Zeit, zurück nach Borgossa, schwelgte ohne Reue in der Vergangenheit und ließ jenen Sturm der Gefühle noch einmal über sein Herz hinwegfegen. Oft saß er dann bis tief in die Nacht und schrieb sich all seinen heißen Kummer von der Seele.
Suneka hatte natürlich gefragt, was er da täte, und neugierig geäugt.
„Ich schreibe meine Erkenntnisse aus den vier Jahren meiner Abwesenheit auf“, hatte er geantwortet.
„Aber warum denn in dieser fremden Sprache?“, hatte sie wissen wollen.
„Oh, das ist reine Gewohnheit, in graçenischer Schrift kann man viel schneller und einfacher verfassen, weißt du.“
Suneka hatte genickt, und Raen hatte wieder auf das Papier gesehen. Die erste Lüge gegenüber seiner Frau war ihm erschreckend leichtgefallen. Zum Glück hatte sie damals keinen Schimmer davon gehabt, wie gefährlich nahe sie an der Wahrheit gelegen hatte mit ihrer Vermutung, er würde eine andere lieben. Zwar liebte er keine andere Frau aus dem Clan, aber dass es sich bei seiner geheimen Begehrlichkeit um eine Frau handelte, die nicht einmal aus Hy stammte, würde Suneka in ihren kühnsten Vorstellungen nicht in Betracht ziehen. Trotzdem hatte sich Unbehagen kalt wie Eiswasser in seine Brusthöhle ergossen. Er wusste, der ersten Lüge würden unweigerlich weitere folgen.
Der mutwillige Gedankensturz aller seiner lang verborgenen Sehnsüchte und Erinnerungen bewirkte bei Raen neben einem schlechten Gewissen leider auch, dass seine Träume ihn desgleichen Nacht für Nacht nach Borgossa entführten. Lustigen kleinen Springbächen gleich plätscherte das Erlebte durch seinen Schlaf, und statt der düsteren Schrecken Askhars legte sich bald ein entrücktes Lächeln auf seine träumenden Züge. Und wäre es nur die Stadt gewesen, Borgossa, die Große, die Wunderbare, an der all sein Wehmut hing, so wäre seine gedankliche Flucht nur halb so verwerflich gewesen. Doch immer häufiger erschien ihm auch jene begehrenswerte Frau im Traume, jene Dunkle und Verführerische, deren Lächeln und Lavendelduft so täuschend wirklich in sein Bewusstsein traten, dass es ihn schier in den Wahnsinn des Verlangens trieb.
Doch bald wurde Raen auch am Tage immer abwesender. Sich zu konzentrieren, sei es auf Sunekas sanfte Gegenwart, die Bedürfnisse seiner Kinder oder auf Kensas anspruchsvolle Übungen mit dem Schwerte, bereitete ihm große Mühe. Die Rückschläge begannen sich zu häufen, und Kensa tadelte ihn für jeden verpatzten Waffengang, obwohl Raen selbst nur zu gut wusste, dass er in einem wirklichen Kampf nichts Geringeres als sein Leben verloren hätte. Seine Zuversicht, jemals wieder mit alter Sicherheit das Schwert zu führen, sank mit jeder Niederlage, und ständig fühlte er sich auf unheimliche Weise an Sel und dessen Schicksal erinnert. Mit Gewalt versuchte er, zu verdrängen, welche Verzweiflung sein damaliger Rivale nach seiner Verstümmelung verspürt hatte. Welchen Hass auf die Welt!
Doch während er damit beschäftigt war, sich einzureden, dass er anders war als der ewig enttäuschte Sel, bemerkte er nicht, wie mit jedem Misserfolg auch sein eigener Hass wuchs. Auf seinen beeinträchtigten Fuß. Auf seine Unfähigkeit, mit seinem jetzigen Leben zufrieden zu sein.
Auf sich selbst!
Resa beobachtete und frohlockte in Anbetracht dessen, dass seine Anstrengungen, Raens Selbstvertrauen zu Fall zu bringen, nun doch noch überraschend Früchte trugen, nachdem er schon beinahe die Hoffnungen aufgegeben hatte. Zwar schien der Weg über Suneka nicht der richtige gewesen zu sein, denn in ihrer dümmlichen, weichherzigen Art hatte sie den Keim des Misstrauens nicht an Raen weitergetragen. Aber dennoch hatte seinen großen Bruder etwas ins Straucheln gebracht. Raen war wie ein verwundetes Tier, das noch darum kämpfte, dem Jäger zu entkommen, ohne zu wissen, dass es zwecklos war. Still erfreute er sich an seinem Triumph, denn er allein und nicht etwa sein heimlicher, übernatürlicher Helfer hatte ihn errungen! Und wenn er in der Übungshalle das Schwert tanzen ließ, schwebte er weit über allen anderen und dem bewundernden Glanz ihrer Blicke.
Suneka bemerkte natürlich Raens gedankliche Abdrift in die ewig hintergründigen Welten, die ihn in ihren Bann zogen und in die sie ihm niemals würde nachfolgen können. Es war nicht leicht, zu akzeptieren, dass es da mehrere Jahre gab, über die sie nicht reden konnten. Und es kränkte sie der Gedanke, dass er der Vergangenheit näher zu sein schien als der Gegenwart und dem Leben mit ihr. Doch Suneka bemühte sich beherzt, ihre Aufgabe als immerwährender Beistand an seiner Seite zu erfüllen und die Brandung des Lebens für ihren Gefährten wie ein unerschütterlicher Fels mit breiter Brust zu nehmen. In der Rücksicht auf seine Wünsche nahm sie jetzt die Kräuter und wurde auch nicht wieder schwanger. Mit der ureigenen Liebe einer Mutter aber nährte sie den zierlichen, vollkommen gesunden Roakyn, der in allem wie ein normales Kind gedieh, nur etwas kleiner war als die anderen.
Doch nicht nur Suneka verzog witternd ihre Brauen über das plötzliche, zurückgezogene Dasein Raens, da war auch noch Andra, die ihren Bruder skeptisch mal aus der Ferne und mal aus unmittelbarer Nähe beobachtete. Und in den tiefsten Gräben ihres Bewusstseins, dort wo die Strömungen besonders stark und unberechenbar waren, ahnte sie im Gegensatz zu ihrer Schwägerin bereits, dass sich nichts Gutes hinter Raens Stirn zusammenbraute. Sie fühlte förmlich, wie es in atemberaubender Geschwindigkeit immer weiter bergab mit ihm ging, hinab in die verworrenen Abgründe und Schluchten seiner wunden Seele!
*
„Noch wehrt er sich.“
„Ja, noch ist er nicht bereit für das Erwachen!“ Soghul stieß einen knochigen Finger in die Wasseroberfläche. Ringe bildeten sich, und das Bild verschwand.
Sorgha konnte seinen Blick noch immer nicht von der großen Messingschale lösen. Sein Meister hatte ihm das erste Mal erlaubt, an der Zeremonie des Sehens teilnehmen zu dürfen. Eine große Ehre für ihn, bedeutete es doch für ihn, irgendwann einmal den Platz des Orakels einzunehmen, wenn es eines Tages in die Ewigkeit ging.
„Von jetzt an wirst du immer dabei sein, Sorgha.“
„Ja, Meister, wie Ihr es wünscht.“ Es war eine große Verantwortung, aber Sorgha war bereit, sie anzunehmen.
„Die Zeit von Al Nor geht zu Ende und auch meine Zeit geht zu Ende. Ein großer Wechsel steht bevor. Hier unten wie dort oben!“ Soghul zeigte mit dem Finger über seinen Kopf, wo sich ein ganzes Gebirge türmte. Doch das, was er eigentlich meinte, lag weit über den zeitlosen Felsen hoch oben in den Wolken.
„Tulga, mein bester Sorgha, wird eine neue Bedeutung erhalten.“ Soghuls weiße Augen glühten wissend. „Eine neue Zeit wird anbrechen, eine neue Legende wird die Herzen der Menschen erfüllen und sie stark machen. Hell wie das Sonnenfeuer wird sie strahlen und mit neuer Kraft in die Zukunft der Völker leuchten. Sie wird mächtiger sein, als jedes Wesen von höherer Herrschaft es zuvor gewesen war. Sie ist die Hoffnung und die Zuversicht. Sie ist das, woran ein jeder Mensch glaubt.“
Sorgha nickte bedächtig. Große Veränderungen waren ihnen angekündigt, Krieg und Zerstörung. Leid stand neben Glück und Hoffnung neben Unheil. Noch hielt die gnadenlose Zaizura die Zügel fest in ihrem Griff.
„Wärest du so gut, Sorgha mein Bester, mir meinen stärkenden Bittersud zu bringen, ich fühle mich sehr schwach. Ich werde wohl erst einmal ruhen müssen.“ Soghul lehnte seinen hageren Rücken an die Stuhllehne und schloss die Augen. Sein Atem raschelte wie Papier.
Sorgha erhob sich und steckte fürsorglich zwei Kissen an Soghuls Seiten, bevor er den von Melam durchhangenem Raum verließ, um nach der Medizin zu schicken.
*
Der Frühling ließ bei allen Lebewesen die Säfte schießen, doch bei Raen war nichts davon zu spüren. Alles blühte auf und sprang übermütig und ausgelassen durch den Sonnenschein, warb und neckte bis in die geheimen Liebesnester. Die Vögel flöteten in ihrer höchsten Vollkommenheit, und die neugeborenen Fohlen tollten auf den fetten, saftigen Weiden zwischen ihren Müttern umher. Raens Gemüt jedoch blieb weiterhin umwölkt wie an einem regenverschleierten Wintertag. Statt jugendlichem Lebensdurst floss schwarze Galle durch seine Adern, die ihn sogar gleichgültig gegenüber der sinnlich glühenden Weiblichkeit Sunekas machte. Einfach an nichts konnte er mehr eine Freude finden, trieb lustlos durch die zähen Stunden des Tages und ging fröhlichen Zusammenkünften bewusst aus dem Wege, genau wie auch die Fröhlichkeit um ihn einen großen Bogen zu machen schien.
Es war unmöglich! Er konnte das nicht mehr länger!
Sowohl nüchtern als auch schmerzhaft war diese Erkenntnis zu ihm gekommen und hatte jene tiefschwarzen, selbstquälerischen Gedankenwolken in seinem Kopf aufgetürmt, die nun auseinanderquollen wie vergiftete Tinte in Wasser, und immer dichter und gigantischer wurden. Bis er schließlich dachte, sein Schädeldach müsse bersten und den schwefligen Sud freigeben, der das Dasein, das er versucht hatte, zu führen, in seiner stinkenden Flut ertränkte.
Wie schon unzählige Nächte zuvor hockte Raen grübelnd zu Füßen der großen Statue Hyauns im Oberen Heiligtum. Noch immer war dies der einzige Ort, an den er sich zurückziehen konnte, um alleine zu sein. Das Kinn in eine Hand gestützt saß er da und starrte auf die gekreuzten Beine des Gottes; versuchte mit seinem Blick dessen Fußsohlen zu kitzeln, doch auch das brachte den Erhabenen nicht zum Sprechen, vertrieb nicht die unheimliche Stille aus seinem Kopf, die um Al Nor, Hyaun und Zaizura herrschte. Nicht einmal der Setna schien momentan mit ihm reden zu wollen.
Voller Furcht dachte Raen daran, dass er auch heute Nacht in dem Wissen aus dem Schlaf hochgefahren war, laut den Namen der Prinzessin gerufen zu haben. Das geschah immer öfter, und er wollte und konnte danach einfach nicht mehr einschlafen, zumindest nicht in Sunekas Nähe. Das schlechte Gewissen lag blank bis auf seinen empfindlichsten Nerv, und meistens verbrachte er dann die restlichen Stunden bis zum Morgengrauen hier im Tempel, langgestreckt auf einer der flachen Bänke und zu Hyaun hinauf starrend.
Müde rieb er sich über die Augen. Er musste endlich einen klaren Gedanken fassen, auch wenn der Goldene über ihm beharrlich schwieg. Er hatte sich von alten Gewohnheiten und verlockender Bequemlichkeit blenden lassen, hatte gedacht, er könnte einfach so zurückkehren in sein vorheriges Leben, doch in Wahrheit war das von vornherein unmöglich gewesen. Zu sehr hatte Borgossa ihn verändert, zu viel hatte er da draußen im Fremdland über sein eigenes Volk gelernt, als dass er wieder in diesen süßseligen Schlaf zurücksinken könnte, den alle hier um ihn herum schliefen, mit Ausnahme der Priester natürlich! Sie waren wie ein Schwarm argwöhnischer Milane, die flügelschlagend über ihren Köpfen kreisten und mit scharfem Blick den friedlich falschen Schlummer bewachten. Sie hatten alles zerstört! Sie, die gelben Roben, die Diener Hyauns ... die Dottersäcke!
Das einzige Verbrechen, das er dabei begangen hatte, war der Versuch gewesen, sich selbst und andere mit Lügen zu täuschen, der unschuldige Versuch, zu vergessen. Raen sah zu Hyauns Gesicht auf. Neben seiner Melancholie hatten viele Dinge aber auch nach wie vor noch bestehende Gültigkeit: Noch immer liebte er Suneka, das war gewiss, und er hatte sich sogar daran gewöhnt, Vater von zwei Kindern zu sein. Auch wollte er nie wieder ohne Andras Rat oder nur einen Tag fern vom Schutze der weißen Mauern Sharis sein. Doch er konnte auch nicht ohne die andere Welt leben, die, ob er es wollte oder nicht, ein Teil von ihm geworden war! Dieser Widerspruch war es, der die Hälften seines Herzens einstweilen so weit auseinandergetrieben hatte, dass sie jetzt gegeneinander kämpften wie zwei feindliche Heere in einer Prüfung von Maestro Im’Shumalayan. Schwarz gegen Rot. Richtig gegen Falsch. Heimatboden gegen Freiheit. Suneka gegen Keï. Raen senkte das Kinn auf die Brust und presste sich die Hände auf die Schläfen. Das würde nie ein Ende nehmen, dafür gab es keine Lösung, keinen gerechten Sieg für eine der beiden Seiten. Für immer würde er zwischen ihnen stehen!
Loenka konnte die innere Zerrissenheit seines einstmals fleißigsten Schülers förmlich spüren. Auch wenn Raen noch immer nicht zu einem Gespräch mit ihm bereit war, ahnte der Oberpriester doch an dessen offen zu Gesicht stehendem Kummer, was ihn zu plagen schien. Die Beharrlichkeit, mit welcher der junge Krieger bisher geschwiegen hatte, sprach Bände, ebenso wie das zweigeteilte Feuer, das ganz offenkundig in seiner Brust loderte.
Ein Priester der Nachtwache hatte Loenka geweckt und ihm mitgeteilt, dass Raen in den Tempel gekommen war. Daraufhin war er in das Obere Heiligtum gegangen, um zu sehen, welche Verbindung der Krieger noch zu Hyaun hielt. Doch der Gott ließ Seinen jungen Diener offenbar in dessen tiefer Ratlosigkeit ausharren: Mit über dem Kopf zusammengeschlagenen Händen hockte Raen da.
‚Ach, wenn du doch nur zu mir kämest, unwissender Auserwählter, ich könnte helfen, deine Not zu lindern“, dachte Loenka, während er ihn beobachtete. ‚Ich weiß, was dich drückt. Ich weiß längst, was dein Schicksal ist! Hyaun, schicke ihn doch endlich zu mir, auf dass er wieder Vertrauen fasst. Er braucht einen, der bei ihm steht. Und dass ich einer von denen sein werde, die das Unmögliche möglich machen werden, das hast du, oh Erhabener, mir schon deutlich genug gemacht.’ Der Hyaunset suer warf ein Blick auf das entfernte, goldschimmernde Antlitz. ‚Hilf ihm! Seine Aufgabe ist zu groß, als dass er sie alleine bewältigen könnte. Sende ihm deine Hilfe, lasse sie ihm durch die Hände seiner Freunde angedeihen.’ Er sah, dass Raen noch immer in seiner zusammengekauerten Haltung dasaß. ‚Halte durch, Raen, sei stark, wir werden bei dir sein!’ Ohne ein Geräusch zu verursachen, zog Loenka sich von seinem Beobachtungsposten hinter einer der Säulen zurück und begab sich wieder in seine dunkle Kammer, die im Stockwerk über den Gebetsräumen lag. Aber dort legte er sich nicht auf sein bescheidenes Lager, sondern setzte sich mit dem Gesicht zur Wand und begann mit halb gesenkten Lidern eine eindringliche Zwiesprache mit seinem obersten Gebieter zu halten.
Der Morgen, an dem Raen seinen Entschluss fasste, war der eines vielversprechenden, schönen Tages im Blütenmond, oder des Mai, wie er in Borgossa genannt wurde. Doch auf Raen verloren die zarten, an Malvenblüten erinnernden Morgenwölkchen und die frühsommerlich duftende Brise auf seinem Gesicht jegliche Wirkung. Er war zusammen mit Suneka aufgestanden, und nachdem sie sich mit einem Kuss auf seine Wange zu ihrer Arbeit verabschiedet hatte, war er in den Erker getreten und hatte das Fenster weit geöffnet. Die erwachende, tauglitzernde Landschaft unter ihm bot einen erhabenen Anblick. Aber während das heller werdende Licht am Himmel warm die letzten Nachtschatten hinfort scheuchte, blieb das Grün seiner Augen glanzlos und kühl wie Raureif auf einer nadelspitz gefrorenen Wiese. Irgendwo über ihm gurrten selbstvergessen zwei Tauben, und unten im Hof strebten bereits die ersten Bewohner des Chorten zum Waschhaus; doch alles, was sich in seinem Blick spiegelte, war die matte, graue Zackenlinie am Horizont: Das Junghal - Sinnbild für Trennung; eine aus den härtesten Gesteinen geschliffene Scheidewand, scharf genug, um selbst Gedanken daran zu zerteilen. Und plötzlich war es, als reiße mit einem kaum hörbaren, trockenen Schnappen der letzte hauchdünne Faden des Taus in seinem Kopf. Und an dessen Stelle trat eine eigentümliche Klarheit in sein Bewusstsein. Raen stutzte. Mit einem Mal schien alles ganz simpel: Er musste gehen, musste seine Heimat verlassen, um die Liebe zu ihr zu erhalten! Er war ein Reisender zwischen den Welten und würde es immer bleiben. Er war ein Mensch, der mehrere Leben lebte. Und das eine konnte nicht ohne das andere bestehen.
Unbeschreiblich erleichtert richtete er sich auf, die Hände auf das Fensterbrett gestützt. Im selben Augenblick schob sich träge die Sonne über den grün gewellten Horizont und schickte ihre goldenen Strahlen hinab auf die unbedeutende Ansammlung von steinernen Bauwerken, welche die Menschenwesen gebaut hatten, um sich eine sichere Heimstatt im wild wuchernden Reich Hraunas zu schaffen.
Und seit langem legte sich wieder ein Lächeln auf Raens Gesicht. Befreiten Herzens schaute er dem glühenden Ball bei seinem Aufstieg zu, und feuriger Glanz fing sich auch auf dem wogenden Spiel der Gerstenfelder in seinen Augen.
Wahrlich ungewiss würde der Weg in die östliche, fremde Ferne sein! Wo die Sonne über unendlichen Weiten aus heißen Sanden und Steinen geboren wurde, um von dort ihre Reise über die Teile der bekannten Welt anzutreten. Ungewiss, ob er je dort angelangen würde, wo der ewige Staub fortwährend alles zu überdecken drohte, wo Mensch und Tier das Wasser als heiligstes aller Elemente ansahen, und ein gefürchteter Herrscher in seinem kühlen Palaste aus weißem Marmor über jegliches Leben waltete ...
Raen stieß sich vom Sims ab und schloss das Fenster. Entweder, es würde ihm gelingen, das Land, in dem die Sonne tödlich zehrende Kraft besaß, zu durchqueren und die Tochter aus Wind und Glut wiederzutreffen, oder er würde dort zu Grunde gehen und mit seinen bleichen Knochen die Tafel des Fürsten der Nacht schmücken.
‚Keï, meine Freundin, ich sehne mich! Ich komme zu dir, und werde mein Versprechen einlösen!’, dachte er und verließ mit ruhigem Herzschlag das Zimmer, um Andra im Waschhaus aufzusuchen. Sie sollte es als erste erfahren.
„Du willst also unbedingt fort“, bemerkte sie nüchtern, nachdem Raen ihr alle Geheimnisse gebeichtet hatte, alle bis auf die über seine Gefangenschaft in Askhar natürlich. Die würde er immer und ewig für sich behalten. Aber Andra schien bereits etwas geahnt zu haben, denn sie wirkte nicht sonderlich überrascht. „Nach Oha ... Ohaoud willst du, zu dieser Prinzessin Keï?“
„Ja“, sagte Raen und sah beschämt auf die Schmutzränder unter seinen Fingernägeln. Sie stammten vom letzten Arbeitseinsatz im Wald, wo sie nach dem Winter die Wege wieder gangbar gemacht hatten.
Andra blickte ihn an. „Ich bin froh, dass du mir endlich die Wahrheit erzählt hast, Raen. Du brauchst dich dafür nicht zu schämen. Du warst fern von alldem hier und hast nicht einmal gewusst, ob du überhaupt wieder hierher zurückkommen wirst. Es ist nur natürlich, dass dein Herz sich von deiner Heimat gelöst hat und von allem, was damit verbunden ist. Ich verstehe dich, und es gibt wohl niemanden, der dich besser kennt als ich. Und deshalb hast du das alles auch nur mir verraten, habe ich Recht?“
Raen nickte, seine Augen wanderten von seinen Fingernägeln zu dem Tisch hinter Andra, an dem sie vorher dabei gewesen war, aus getrockneten Heilpflanzen und anderen wunderlichen Zutaten Arzneien zusammenzustellen. Nun stand der Waagbalken still und wartete darauf, dass die Medizi zu ihrer Arbeit zurückkehren würde. In Raens Geist blitzte eine Erinnerung an ebensolch einen Waagbalken auf, nur dass dieser um das Zehnfache größer gewesen war und Gold als Gegengewicht gedient hatte.
„Hörst du mich?“
Raen fuhr aus seiner Abwesenheit auf, und sein Blick traf den seiner Schwester. Sie lächelte nachsichtig, denn sie kannte es ja, dass er oft in Gedanken war. Ihre Hand umfasste seinen Unterarm.
„Es wird auch bei mir ein Geheimnis bleiben, das verspreche ich dir!“
„Das weiß ich, Andra.“ Er war erleichtert. „Danke, dass du mich nicht getadelt hast.“
„Oh, ich hätte dich getadelt, wenn ich sicher gewesen wäre, dass du allein an allem die Schuld trägst.“
Raens Blick in ihre Augen verfestigte sich.
„Du brauchst gar nicht so zu stieren! Ich habe von mehr eine Ahnung, als du denkst. Ich kenne die Wahrheit.“
„Die Wahrheit über was?“, fragte Raen misstrauisch.
„Warum sie dich fortgeschickt haben!“ Obwohl niemand im Raum und die Türe verschlossen war, flüsterte Andra. „Du bist ihnen zu unbequem geworden, und Loenka und die anderen Herren Priester haben sich auf diese Art deiner elegant entledigen wollen. Eines Tages wusste ich einfach, dass es so war. Natürlich habe ich es niemandem erzählt. Aber sie sind es gewesen und nicht du, sie haben aus dir gemacht, was du jetzt bist: Ein Ichor, ein Heimatloser!“
Am leichten Zittern ihrer Hände bemerkte Raen, wie bemüht sie ihre Empörung unter Kontrolle hielt. Und er bewunderte sie für ihre Selbstbeherrschung, in der sie schon immer die Beste von ihnen gewesen war.
„Und mir ist auch bewusst, dass, wenn ich nicht die Fähigkeit dazu besäße, das Gefühl, das du la Furiosa nennst, zu kühlen und in andere Kanäle umzuleiten, ich auch dein Schicksal hätte teilen müssen. Sie“, Andra stieß wütend einen Finger in Richtung der Tür, „hätten mich ebenso ohne Bedenken fortgeschickt wie dich, hätten mich aus ihrem Leben verbannt, um die anderen vor mir zu schützen.“
Raen nickte mit schmalen Lippen. „Ich wünschte, dass das, was du da sagst, falsch wäre, nur leider hast du Recht. Nur was können wir tun? Es ist nun einmal geschehen, und wir sind die Letzten, die es rückgängig machen können. Es ist wahr, sie haben mir alles genommen. Ich hatte meinen Platz in Shari und war damit zufrieden, bis sie mich fortschickten. Und jetzt ist er weder hier noch in der anderen Welt da draußen. Er ist nirgends ... und könnte überall sein. Deshalb muss ich herausfinden, wo ich am wenigsten störe und wo ich am meisten von Nutzen bin. Ich will auf mein Herz hören und sehen, wo es mich hinführt. Denn im Gegensatz zu euch, bin ich frei zu gehen ... das ist ein Fluch, aber auch ein Geschenk. Welches davon für mich gilt, wird meine Reise zeigen.“
Andra lächelte. „Raen, du sollst wissen, ich habe dich nie verstoßen. Für mich warst du immer mein besonderer Bruder! Und darauf war ich stolz - und bin es noch. Du allein hattest den Mut, ihnen zu trotzen, und du wirst ihnen zeigen, dass sie Unrecht haben.“
„Dass ich gehe, wird sie nur dazu veranlassen, sich in allem bestätigt zu sehen. Ich fühle mich wie ein Flüchtender.“ Er ließ den Kopf hängen.
„Zweifele nicht an dir, das gibt ihnen nur noch mehr Macht über dich! Ihr Unwissen hält sie in der ewigen Finsternis ihrer Blindheit gefangen. Du aber wirst eines Tagens zurückkehren und sie eines Besseren Belehren. Dann werden sie sich bei dir entschuldigen müssen!“
Dessen war er sich zwar nicht so sicher, doch wollte er seiner Schwester jene Zuversicht nicht nehmen, die sie benötigte, um mit der Tatsache leben zu können, ihren Bruder erneut zu verlieren. Wieder einmal würde sie sich fürchterlich allein fühlen mit ihrem Wissen. Aber das Schicksal wollte es nun einmal, dass die Kinder von Roman mit ihren Geheimnissen für sich bleiben mussten.
„Du hast einen sehr festen Willen und einen klaren Geist, Andra. Dir wird es gelingen, hier ein glückliches Leben zu führen. Du hast das Bewusstsein und die Gewalt über dich. Du wirst es schaffen!“
Seine Schwester lächelte traurig. „Wenn du das sagst.“
„Hm, eine Bitte habe ich allerdings noch an dich. Würdest du dich um Suneka kümmern? Sie wird es am wenigsten verstehen und deine Hilfe brauchen.“
Andra nickte. Es würde ein harter Schlag für die Schwägerin sein. „Wirst du dich von ihr lossprechen?“, wollte sie wissen.
„Nein, das überlasse ich ihr, und ich werde jede Entscheidung von ihr akzeptieren.“
Andra bemerkte, dass es Raen schwerfiel, darüber zu sprechen. Sie trat einen Schritt näher an ihn heran und wie sie es schon früher immer getan hatte, legte sie beide Arme um ihn und drückte ihn. „Ich werde immer auf deiner Seite stehen!“, sagte sie und legte ihre Wange an die seine.
„Danke“, flüsterte er und erwiderte die Umarmung.
Zu Raens großem Erstaunen weinte Suneka nicht, als er ihr nur wenige Stunden nach dem Gespräch mit Andra seine Absichten kundtat, wobei er geflissentlich seine Sehnsucht nach Keï ausließ. Er wollte Suneka nicht mehr wehtun als nötig.
Seltsam gefasst saß sie auf der Kante ihres Alkovens und sah still an ihm vorbei in den Raum, bis er geendet hatte.
‚Sie ist sehr stark’, dachte er, ‚stärker, als ich angenommen hatte.’ Etwas unbeholfen stand er vor ihr und wagte es nicht, sie zu berühren, nicht einmal zum Trost. Das hätte es nur noch schlimmer gemacht. Deutlich spürte er, wie eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen wuchs; ein Schutzwall, den jeder um sich herum aufbaute, um sich gegen das zu schützen, was ihnen bevorstand.
Schließlich aber hob Suneka den Blick und sah zu ihm auf: „Zaizura will es so. Es ist mir offenbar nicht vergönnt, dich stets länger als ein Jahr an meiner Seite zu haben.“ Sie vermied es, zu lächeln.
Raen senkte den Blick, er wollte nicht, dass Suneka es in seinen Augen lesen konnte. Denn nur er wusste, dass es nicht Zaizura war, sondern sein eigener Wille, der ihn forttrieb! Er wollte etwas sagen, konnte aber nicht. Es wäre nur wieder eine Lüge gewesen.
„Wirst du zurückkommen, wenn du herausgefunden hast, was dich so rastlos macht? Wirst du wieder zu mir finden?“
Raens Lippen blieben versteinert.
„Nun, ganz gleich, welche Entscheidung du triffst, ich werde auf dich warten!“
Raen schloss kurz die Augen. Nein, das wollte er nicht! Er sah sie wieder an, aber er konnte keinerlei Vorwurf in ihrem Blick erkennen, nichts, das auf die tatsächlichen Ausmaße ihres Schmerzes hinwies.
„Tu das bitte nicht!“, appellierte er eindringlich, und seine eigene Stimme klang dabei wie aus der Ferne an seinen Ohren. „Suneka, ich beschwöre dich, ich bin es nicht wert, dass du auf mich wartest. Sage dich von mir los, du hast meine Einwilligung. Suche dir einen anderen Mann und werde mit ihm glücklich, aber harre nicht meiner!“
Ein unerwartetes Lächeln zeigte sich auf ihren Lippen, mitleidig sanft, nachsichtig. „Raen, ob du es willst oder nicht, meine Seele ist an die deine gekettet. Das wurde von den höheren Mächten so bestimmt, und wir müssen es akzeptieren, jeder für sich. Du bist mein Schicksal, und dein gespaltenes Herz ist das deine!“ Eine einzige Träne rollte über ihre Wange hinunter zu ihrem Lächeln.
Vielleicht hatte sie Recht, dachte Raen, erstaunt über ihre Worte. Denn tatsächlich war es so, dass ein Teil in ihm Suneka liebte; er hatte sie immer geliebt. Möglicherweise würde er auch dieses Mal wieder zu ihr zurückkommen ...
„Es tut mir leid, dass ausgerechnet ich es bin, an den das Schicksal dein Herz gehängt hat.“
Suneka lachte leise: „Du warst schon immer, wie du bist! Das ist mir nicht neu. Ich wusste immer, dass ein Leben mit dir nicht einfach sein würde.“
Jetzt musste Raen gleichfalls lächeln. Wie hatte er nur vergessen können, dass auch Suneka ihn sehr gut kannte. Sie waren schließlich zusammen aufgewachsen und jeder hatte genau um die Eigenarten des anderen Bescheid gewusst. Und trotzdem hatte Suneka es gewagt, sich mit ihm einzulassen. Vielleicht war es ein Fehler von ihr gewesen, vielleicht aber auch der Wille Zaizuras. Ganz gleich, was sie zusammengeführt hatte, er war glücklich mit ihr gewesen, und es war nicht ihre Schuld, dass er sie jetzt verlassen musste.
Raen durchbrach die unsichtbare Mauer zwischen ihnen und forderte Suneka auf, sich zu erheben. Er nahm ihre Hände.
„Ich danke dir, dass du den Weg mit mir gegangen bist und ich werde niemals vergessen, welche Opfer du dafür hast bringen müssen.“
Wortlos sah Suneka zu ihm auf. Ihre dunkeln Augen schimmerten zwischen Schmerz und Liebe. Dann bog sie ihren Hals zueück, küsste ihn sanft und löste ihre Hände aus seinem Griff. Raen sah, wie sie den kleinen Beutel, in dem sie stets ein paar Dinge des täglichen Gebrauchs bei sich trug, aus dem Ausschnitt ihrer Jacke zog und ihn öffnete. Den Gegenstand, den sie dort schließlich herausfischte, kannte er gut, aber er hatte nicht geahnt, dass sie ihn dort aufbewahrte.
„Nimm ihn mit dir, er soll dir stets Klarheit in deinem Herzen bringen. Mir hat er immer gezeigt, dass mein Platz an deiner Seite ist. Er soll auch dir den Weg weisen.“
Raen nahm den fingerdicken, klaren Kristall entgegen, den er als Junge auf einem der Felder des Chor gefunden und später Suneka geschenkt hatte. Er betrachtete das Spiel des Lichts auf seinen glatten Flächen.
„Verabschiedest du dich auch von deinen Kindern?“, erkundigte sich Suneka.
„Natürlich werde ich das tun.“ Raen löste seinen Blick von dem Stein. Er wusste schon jetzt, dass es für Sosama nur schwer zu akzeptieren sein würde, ihren Vater, den sie so liebgewonnen hatte, zu verlieren.
„Und wann wirst du abreisen?“
‚Am liebsten morgen’, dachte er, antwortete aber: „Ich denke, in ein paar Tagen, wenn ich alle Vorbereitungen abgeschlossen habe.“
Er hatte sich bereits einen Plan zurechtgelegt, der vorsah, die Grenze im Westen nach Graçe zu überschreiten und dann in Richtung Süden nach Salapolis zu reisen. Von dort sollte ihn ein Schiff auf möglichst direktem Kurs nach Lavantina bringen. Wenn er erst einmal dort wäre und die lange Seereise heil überstanden hätte, würde er sich den weiteren Weg nach Reschent, der Hauptstadt Ohaouds, erfragen müssen. Für einen Moment hatte er mit dem Gedanken gespielt, ein Schiff von Lado di Forsa aus zu nehmen und dort seinen alten Freund Jovani Campeggio zu besuchen, doch das würde seine Reise nur um unbestimmte Zeit verlängern, und das wollte er nicht. Dafür würde er Jovani einen Brief zukommen lassen mit der Erklärung, warum er damals nicht in Borgossa am Hafen gewesen war. Auch Manoen wollte er ein Schreiben nach Borgossa senden, der seit seinem spurlosen Verschwinden bestimmt immer noch auf ihn wartete. Aber um all dies tun zu können, brauchte er Geld oder etwas Entsprechendes, das er als Zahlungsmittel benutzen konnte. In Borgossa hatte er Geld liegen, das er gespart hatte, hier aber hatte er nichts, kein einziges müdes Kupferstück. Doch Raen war die Lösung für dieses Problem schnell gekommen. Im Tempel würde er das finden, was er brauchte, und dort würde er sich in der Nacht vor seiner Abreise einschleichen. Bis sie entdeckt hätten, dass etwas fehlte, wäre er längst über alle Berge.
Von all diesen Gedanken erzählte er Suneka natürlich nichts. Er steckte den Kristall in seinen Zhangha-Beutel und nach einem letzten Blick in das beherrschte Gesicht seiner Frau verließ er das gemeinsame Zimmer.
Schon am nächsten Tag wussten alle in Shari, dass Raen den Clan verlassen wollte, doch nicht jeder war damit einverstanden. Die Wellen des Unmuts schlugen heftig und hoch, und Raen hatte sich nicht nur der herben Kritik der Kriegerschaft zu stellen. Er erhielt auch schwere Vorwürfe von Seiten der Priester und des Clanrates. Den schlimmsten Tadel aber bekam er weder vom Oberpriester Loenka noch vom Clanchef, sondern von Sunekas Eltern. Shani und Radast waren entsetzt und empört zugleich. Sunekas Vater verbiss sich ganz offensichtlich die bösen Worte, die über seine Lippen wollten, und warf Raen nur feurige Blicke zu. Die ruhige und stets verständnisvolle Shani jedoch verlor zum ersten Mal in ihrem Leben die Fassung. Trocken landete ihre Hand in seinem Gesicht. Raen fand, dass er das verdient hatte und machte kein besonderes Aufhebens darum, doch Shani, sichtlich erschrocken über ihre Reaktion, entschuldigte sich sogleich tränenreich. Immer wieder schlug sie die schmerzenden, bereits verkrümmten Hände vor der Brust zusammen und rief ihm zu, er möge doch Vernunft annehmen!
Aber Raen blieb hart. Äußerlich. Das würde den Abschied erleichtern, dachte er schlicht und ließ die Verzweiflung seiner Schwiegermutter über sich niedergehen.
Sein Vater zeigte sich zunächst nüchtern. Doch Raen erkannte den Schmerz in seinen Augen, als sie am Vorabend seiner Abreise zu einem gemeinsamen Gespräch beisammen saßen.
„Ich muss zugeben, dass ich nie wirklich verstanden habe, was in dir vorgeht, aber ich habe es versucht. Ich habe versucht, dir immer zur Seite zu stehen und deine Entscheidungen zu begreifen. Jetzt mache ich mir den Vorwurf, jenes womöglich nicht gründlich genug getan zu haben und halbherzig gewesen zu sein. Denn nie waren mir deine Absichten fremder als heute. Raen, sag mir, habe ich in all meinen Bemühungen versagt?“
Raen schaute in ein Gesicht voller Sorgen und Selbstzweifel und es tat ihm weh, denn wieder gab sein Vater sich die Schuld daran, dass sein Sohn solch ein fatales Fehlverhalten an den Tag legte.
„Es tut mir sehr leid, dir schon wieder Verdruss zu bereitet, aber nichts von alldem liegt in deiner Schuld, wahrlich nicht. Du warst mir immer ein guter Vater, immer hatte ich bei dir ein offenes Ohr. Und ich weiß es sehr zu schätzen, wie sehr du dich stets für mich bemüht und damit den Ärger der anderen auf dich gezogen hast. Doch dies wird jetzt ein Ende haben. Ich gehe und störe nicht mehr länger euren Frieden.“
Roman stieß ein trauriges Lachen aus: „Du gehst doch nicht nur aus diesem Grund, oder?“
Raen verzog den Mund. Niemals würde er seinem Vater das sagen können, was er Andra erzählt hatte. Er wollte ihm nicht auch noch seinen Glauben an den Weg Hyauns nehmen, an dem er sich so eisern festzuklammern versuchte. Denn gerade das, was die Priester täglich predigten, brauchte Roman, um zu überleben, er brauchte den Leitfaden der Frömmigkeit, der sein Handeln bestimmte. Raen dachte an Manoen, der ihm lange die Wahrheit über diesen Weg verschwiegen, schließlich aber doch verraten hatte. Und jetzt befand er sich in der gleichen Rolle wie sein Freund und spürte die Last der Verantwortung, die er mit diesem Wissen erlangt hatte. Doch sein Vater war kein Ichor, er hatte noch eine Heimat und sollte diese auch weiterhin lieben können, deshalb schwieg er.
Roman hob beide Hände und ließ sie wieder fallen. Was sollte er auch sagen, wenn sein Sohn nicht mehr von seinen wahren Beweggründen preisgeben wollte?
„Warst du bei Loenka?“, fragte er.
„Nein.“
„Willst du es nicht doch einmal versuchen? Noch ist es Zeit. Er hält sehr viel von dir, auch jetzt noch.“
„Nein!“
Sein Vater sah ein, dass er Raen nicht würde überreden können und versank jetzt seinerseits in tiefes Schweigen. Sein Blick wanderte zum Fenster hinaus. Die Sonne war gerade hinter den Hügeln im Westen versunken und zog einen violetten Schimmer am Himmel hinter sich her.
Raen erkannte, dass seine Sturheit ihn verletzte, dennoch starrte er seinen Vater unverwandt an. Er ging auf die Fünfzig zu und würde wohl nur noch wenige Jahre als Krieger des Vierten Grades für jeden Ruf des Setna bereitstehen, bald würde er sich zurückziehen und seinen wohlverdienten ruhigen Lebensabend genießen können. Raen beneidete ihn um die Einfachheit seiner Probleme. Romans Leben hier würde weitergehen wie bisher, alles hätte seine gewohnte Ordnung, Tag für Tag, Monat für Monat, nur mit dem einen kleinen Unterschied, dass er einen Sohn weniger in seiner Nähe hätte. Aber dafür hatte er jetzt ja eine neue Frau und einen weiteren kleinen Sohn. Ihm war also mehr als ausreichend Familienglück beschert, fand Raen. Auch er hatte sich einmal solch ein Leben gewünscht. Das war gewesen, bevor er die Welt draußen hinter den Grenzmauern kennengelernt hatte, bevor er hatte erfahren müssen, dass sein Volk unter der Gewalt der Priester stand, und bevor er überhaupt hätte ahnen können, dass er solch einer außergewöhnlichen Frau wie Prinzessin Keï begegnen würde.
„Vater, ich kann hier nicht bleiben. Ich gehöre nicht mehr hierher. Shari ist nicht mehr meine Heimat.“ Raen war um Offenheit bemüht, denn wenigstes vor seinem Vater wollte er das Lügen vermeiden.
Roman nickte und sah dabei immer noch aus dem Fenster, es schien ihm unendlich schwerzufallen, ihn ziehen zu lassen. Doch dann blickte er von dem schwindenden Violett des Himmels auf seinen Sohn.
„Geh mit Hyaun in deinem Herzen, ich wünsche dir Glück auf deiner Reise!“ Damit hatte er Raen seinen Segen gegeben. Ein verunglücktes Lächeln huschte über seine Züge.
„Danke, Vater!“ Er erhob sich, zögerte kurz, ließ seinen Vater dann aber allein.
Es war nach Mitternacht, als sein inneres Zeitgefühl ihn weckte. Leise erhob er sich, lauschte eine Weile auf Sunekas ruhige Atemzüge und verließ kurz darauf den Raum. Raens Ziel war der Tempel. Hier wollte er sich das holen, was er für die Reise brauchte. Vorsichtig schlüpfte er in das Obere Heiligtum, zum hinteren Eingang wieder hinaus und die Treppe hinauf in die Räume der Priester. Er wusste, dass hier hinter einer der Türen die sakralen Geräte für die feierlichen Anlässe aufbewahrt wurden: Schalen, kleine Kultstatuen und -bildnisse aus Gold und auch der Rohstoff für die Auns. Er würde nur wenig davon brauchen, aber es musste genug sein, um damit nach Ohaoud gelangen zu können. Raen ließ es völlig kalt, dass er gerade dabei war, einen Diebstahl zu begehen. Die moralischen Gesetzmäßigkeiten der anderen galten für ihn schon lange nicht mehr, und wenn sie ihm nicht geben wollten, was er benötigte, so musste er es sich eben holen.
Alles war ruhig, keiner der Priester schien wach zu sein. Raen schlich durch die Gänge im oberen Stockwerk und drückte mit Bedacht die Tür zu der Kammer auf, in der sich der erhoffte Schatz verbarg. Im Dunkeln tastete er sich vor bis zu dem Schrank mit den gottgeweihten Utensilien. Als er den kleinen Messingriegel öffnete, bemerkte er, dass seine Finger zitterten.
‚Stell dich nicht so an, du tust, was du tun musst!’, wies er sich zurecht und zog die beiden Türen des Schrankes auf. Die Scharniere quietschten leise, und kurz lauschte Raen in die Stille, ob sich etwas regte. Als alles ruhig blieb, streckte er die Hände vor. Seine Fingerspitzen fuhren über große und kleine, sorgfältig in Stoff eingeschlagene Gegenstände. Er wählte ein mittelgroßes Bündel. Das musste eine der Opferschalen sein. Nein. Er ließ von ihr ab, viel besser wäre das Erz für die Stirnreife. Das war unauffälliger zu transportieren, da es bestimmt aus kleinen Körnchen oder Barren bestand. Er tastete weiter unten im Schrank, wo seine Finger schließlich eine Kiste fanden. Sie war sehr schwer, und deshalb zog er sie nur so weit heraus, dass er den Deckel befühlen konnte. Raen fluchte leise, da war ein Schloss. Es gab nur wenige Dinge in Hy, die mit einem Schloss gesichert waren. Entschlossen zückte er sein Messer und hebelte es auf. Mit einem metallischen Klappern fiel es zu Boden. Raen kümmerte sich nicht darum, öffnete die Kiste, steckte die Hand hinein und schlug das Tuch zurück, welches das Erz bedeckte. Darunter fühlte er sauber aufgeschichtet daumendicke Barren, die etwa die Länge einer Hand hatten. Körner wären besser gewesen, dachte er, aber die Barren würden es auch tun. Er griff sich zwei und nach kurzem Überlegen einen dritten. Das war mehr als genug. Rasch schloss er die Kiste wieder, doch als er sie wieder zurück in den Schank schieben wollte, hörte er plötzlich ein Geräusch hinter sich. Erschrocken hielt er inne.
Jemand war in den Raum.
Die Tür hatte geknarrt, und er konnte deutlich jemanden atmen hören. Man hatte ihn ertappt! Schnell ließ Raen die Barren in seinem Jackenausschnitt gleiten und wandte sich um. Seine Augen durchforschten das Dunkel, aber die Gestalt an der Tür blieb schemenhaft.
Nach mehreren verhaltenen Atemzügen überwand er sich, zu sprechen, doch der Schatten kam ihm zuvor.
„Hm, ich weiß nicht, ob ich enttäuscht sein soll, oder ob ich es mir nicht hätte besser denken können.“ Es war die Stimme Loenkas. Der schlaue Oberpriester hatte wohl geahnt, dass er hier auftauchen würde. Raen wog ab, wie er sich verhalten sollte, und er beschloss, das, was er getan hatte, als sein selbstverständliches Recht anzusehen. Den Priester verbal anzugreifen, schien ihm in diesem speziellen Falle die beste Verteidigung.
„Ich habe mir nur genommen, was ich brauche, damit ihr mich los seid!“ Raen richtete sich zu seiner vollen Größe auf, denn er wollte seine körperliche Überlegenheit zum Ausdruck bringen. Das gab ihm mehr Selbstbewusstsein gegenüber dem Älteren.
„Komm mit!“, befahl Loenka in einem Ton, der keine Widerrede zuließ.
Raen fiel es nicht schwer, zu gehorchen, denn er wollte keinen Lidschlag länger zusammen mit der übermächtigen Aura des Oberpriesters in diesem kleinen Raum ohne Ausweg bleiben. Er ließ den Schrank offen stehen und folgte Loenka aus der Kammer.
Der am Stock humpelnde Oberpriester führte den nächtlichen Eindringling die Treppe hinunter. Raen beobachtete dessen mühsames Fortkommen und fragte sich, wie Loenka sich mit seiner lädierten Hüfte so leise hatte anschleichen können?
Sie kamen an einem der kleinen Nebenräume des Oberen Heiligtums an und traten ein. Loenka entzündete zwei Lichter, und Raen wartete, bis der Priester sich umständlich gesetzt und ihm den Platz gegenüber gewiesen hatte. Ganz so wie früher, als sie noch Lehrmeister und Schüler gewesen waren, sahen sie einander an. Um einen kaum merklichen Hauch jedoch wich Raen dem scharfen Blick des Priesters aus.
Der Hyaunset suer von Shari schwieg nicht lange, er kam gleich zur Sache, und dabei registrierten seine ausdruckslosen Augen jede Regung seines Gegenübers, selbstverständlich auch die hinter seiner bemüht kontrollierter Maske, das wusste Raen.
„Ich habe lange darauf gewartet, dass du zu mir kommst!“, sagte Loenka streng.
‚Ich bin doch nicht in den Tempel gekommen, um dich zu sehen!’, dachte Raen verdrossen, hörte aber weiter zu.
„Ich bin froh, noch einmal mit dir reden zu können. Ich möchte nämlich, dass du weißt, dass ich noch immer dein Freund bin.“
Raen stieß abfällig Luft aus.
„Auch, wenn du das offensichtlich nicht glauben magst“, fuhr Loenka unbeirrt fort, „aber ich habe immer hinter dir gestanden.“
„Ach ja? Hast du auch hinter mir gestanden, als du mich fortgeschickt hast?“, brach es plötzlich aus dem Jüngeren heraus. Bebend atmete er ein und wieder aus. Am liebsten hätte er den Priester angebrüllt und ihm all die Schimpfwörter an den Kopf geworfen, die er nur finden konnte für jemanden, von dem er sich schmählich im Stich gelassen fühlte. Aber er musste sich beherrschen, wenn er Loenka in diesem letzten Duell nicht unterliegen wollte. Er zwang sich, seine Hände ruhig auf die Oberschenkel zu legen.
„Glaubst du denn, ich allein hätte entschieden, dich wegzuschicken?“, fragte Loenka.
‚Also ist es wahr!‘, dachte Raen, antwortete aber nicht. Er hatte seine Meinung und würde kein Haarbreit davon abrücken.
„Ich sehe genau, was du denkst: Der Alte will dir nur weismachen, er sei unschuldig an deinem Schicksal, damit er ein reines Gewissen haben kann, wenn du morgen den Clan verlässt.“ Aus irgendeinem Grund wirkte Loenka belustigt. Das schürte Raens Wut nur umso mehr.
„Wenn du mich zum Narren halten willst, so ist unser Gespräch hiermit beendet, Hyaunset suer, lebe wohl!“ Raen wollte aufstehen, doch Loenka hob schnell beschwichtigend seine seit dem Unfall steifgebliebene Rechte, und diese Geste ließ den Priester zum ersten Mal sanft, ja, beinahe schwach erscheinen.
Raen ließ von seiner Absicht ab und beobachtete neugierig die Veränderungen, die in Loenkas Miene und in dessen ganzer Haltung vor sich gingen. Das großsprecherische Amt des obersten Klerikers schien mit einem Mal von ihm abzufallen und gab den Menschen preis, der sich dahinter verbarg. Einen Menschen, der in der Lage war, Gefühle zu empfinden wie jeder andere; einen Menschen, der möglicherweise vieles von dem bereute, was er getan hatte, weil es gegen seinen Willen geschehen ist, seine Würde als priesterlicher Vorstand es aber von ihm verlangt hatte.
„Wie kann ich dich dazu bringen, mir wieder zu vertrauen?“, fragte der Ältere augenscheinlich ehrlich betrübt.
Raen blieb zunächst argwöhnisch, vermutete er hinter der neuen Offenheit des Priesters nur wieder eine weitere Schlauheit. Als Zeichen seines Trotzes biss er derart die Zähne aufeinander, dass seine Kiefermuskeln hervortraten.
„Erinnerst du dich noch an mein Versprechen, das ich dir einmal gegeben habe?“
Raen runzelte die Stirn, überlegte aber nur halbherzig, denn er wollte sich nicht durch Geschichten aus der Vergangenheit eingarnen lassen.
Loenka sprach mit ruhiger Stimme weiter: „Du kannst immer zu mir kommen, und mir deine Sorgen erzählen, ich werde sie niemals verraten! So lauteten meine Worte.“
Wieder verzog Raen verächtlich die Mundwinkel. „Ich kann kaum glauben, dass du dich immer daran gehalten hast!“
„Habe ich aber! Niemand weiß bis heute etwas von dem, was du damals geträumt hast, niemand weiß, dass du sehen konntest, was der Setna gesehen hat. Ist das im Übrigen immer noch so?“
Raen zögerte immer noch, sich dem Priester zu öffnen.
„Niemand außer deinem Vater und ich wissen, dass du etwas Besonderes bist. Allein wir beide glauben an das Gute in der außerordentlichen Kraft, die dich beseelt, und dass sie eines Tages ein Geschenk für uns sein wird! Du machst es uns natürlich nicht leicht, an diesem Glauben festzuhalten, aber wir sind hartnäckig.“ Loenka lächelte.
„Warum habt ihr dann nicht auch die anderen davon überzeugt?“, wollte Raen wissen.
„Weil das unmöglich war und noch immer ist, das weißt du selbst am besten!“
Raen senkte den Blick. Es stimmte. Als Oberpriester hatte Loenka all das für sich behalten müssen, um nicht selbst in den Verdacht zu geraten, schädliches Gedankengut zu unterstützen.
„Ich habe verstanden, warum ihr mich fortgeschickt habt. Es war schmerzhaft, und ich hätte es lieber nicht erfahren, aber jetzt verschafft es mir einen klaren Blick.“
„Und was willst du mit diesem klaren Blick anfangen?“
„Was soll ich denn damit schon anfangen können?“, fragte Raen zurück.
„Oh, weißt du denn nicht, welche Macht dir damit in die Hände gelegt worden ist? Du könntest uns alle zerstören!“
Raen war überrascht, dass Loenka ihm gegenüber zugab, was Manoen immer behauptet hatte: Wissen ist Macht!
„Aber warum sollte ich euch zerstören?“
Statt zu antworten, zuckte Loenka lediglich vielsagend mit den Schultern.
Still sann Raen nach. Dann sah er dem Priester wieder in die Augen, und es war das erste Mal seit Jahren, dass er das richtig tat. „Wenn man etwas zerstört, dann muss man es hinterher auch wieder aufbauen. Sonst hat es keinen Sinn! Ich habe aber nichts zu bieten, mit dem ich das Zerstörte besser als zuvor wieder aufbauen könnte. Ich weiß doch gar nicht, wie man so etwas macht. Und außerdem, wer würde mir, einem Ausgestoßenen, schon zuhören? Dafür braucht es einen Führer, und ich bin kein Führer, wahrlich nicht!“ Er lachte bitter.
„In dir steckt mehr, als du dir in diesem Augenblick zutrauen magst. Du musst es erst noch herausfinden. Aber ein wenig Zeit bleibt dir noch. Geh hinaus und finde deine Bestimmung.“
Die Worte waren Raen zu rätselhaft. Er schwieg, sein Herz noch immer krampfhaft verschlossen haltend.
„Mein Versprechen gilt auch heute noch, Raen. Und ich gebe dir noch ein weiteres: Falls du dich doch dazu entscheiden solltest, zu uns zurückzukehren und die Macht deines ‚klaren Blickes’ zu gebrauchen, werde ich dir dabei helfen, auch wenn es gegen alle Gebote und Gesetze verstoßen sollte!“
Raens Augen weiteten sich. „Aber ...“
„Es gilt, dies ist mein Wort!“ Loenkas Miene war so offen und aufrichtig, dass der junge Krieger fühlte, wie der Widerstand gegen den vermeintlichen Feind langsam zu schmelzen begann. Oh, wie sehr er sich danach sehnte, endlich wieder mit jemandem frei über seine Gefühle sprechen zu können. Wie sehr er sich nach einem freundschaftlichen Ratschlag sehnte, nach einer starken, stützenden Hand!
Raen rang mit sich selbst. Haderte mit seinen Prinzipien. Er warf sie in seinen Gedanken hin und her und argumentierte heftig. Beinahe verzweifelt suchte er nach Gründen, gegenüber Loenka standhaft zu bleiben. Doch dann siegte seine übermächtige Sehnsucht nach einem verständnisvollen Freund, und endlich öffnete er dem Priester seinen Geist. Er hatte lange genug allein gekämpft, und alles, was er wollte, war, nicht mehr allein zu sein.
Tief blickte er Loenka in die Augen, und forschend, nicht gierig, fühlte er die mentalen Fühler des Priesters durch seine Gedanken tasten. Sie blätterten darin frei herum wie in einem Buch, und Raen ließ es zu. Er war es müde, sich zu widersetzen. Still wartete er, bis er das Gefühl hatte, dass Loenka in Erfahrung gebracht hatte, was er wissen wollte.
„Du siehst, was mich bewegt und forttreibt? Es ist unvermeidlich.“
Loenka nickte, sein Blick war erfüllt von Mitgefühl, und Raens angespanntes Gemüt wärmte sich an der teilnehmenden Miene des Älteren. Endlich wusste ein anderer Mensch von ihm, was er niemandem bisher hatte anvertrauen können. Endlich hatte jemand bis auf den dunkelsten Grund seines Herzens gesehen! Es gab keine Geheimnisse mehr.
„Nichts von dem, was ich soeben erfahren habe, soll jemals über meine Lippen kommen, das schwöre ich dir! Und nicht etwa bei Hyaun oder bei meiner Würde, sondern bei meiner Freundschaft zu dir!“, sagte der Priester leise feierlich. Wortlos reichte er Raen daraufhin etwas. Es war ein kleines Bündel und es war schwer.
Raen brauchte es nicht zu öffnen, um herauszufinden, was darin eingewickelt war.
„Du hättest es dir heute Nacht nicht so klammheimlich zu nehmen brauchen, ich hätte es dir morgen ohnehin gegeben“, erklärte Loenka mit einem kleinen Lächeln auf seinen Lippen.
„Vielen Dank, Hyaunset suer, dass du mein Freund bist. Hier, die brauche ich jetzt nicht mehr.“ Raen gab die drei Barren zurück, die er in seiner Jacke versteckt gehalten hatte.
Loenka sah auf die glänzenden Metallstücke vor sich auf dem Boden.
„Nenn mich bitte nie wieder Hyaunset suer! Als dein Freund bin und bleibe ich für dich schlicht Loenka“, sagte er schließlich und schaute Raen wehmütig an.
„Loenka, wünsche mir Glück auf meiner Reise!“
„Das wünsche ich dir von ganzem Herzen, Banskeid Raen, und möge Hyaun Seine schützende Hand über dich halten.“
Schweren Herzens, aber auch glücklich darüber, dass er einen für immer verloren geglaubten Freund so überraschend wiedergewonnenen hatte, verabschiedete Raen sich und verließ den Tempel. Die Gewissheit, doch nicht ganz allein zu sein, gab ihm Mut.
Als er am nächsten Tag in aller Frühe zu Henendras Hof hinunter wanderte, um sein Pferd zu satteln, wurde Raen nun doch flau im Magen. Was, wenn er Hereke begegnete? Und was, wenn dieser ihn all seine Verachtung spüren ließ, die sich in seinem vergorenen Inneren gesammelt hatte? Würde er Herekes durchaus berechtigte Vorwürfe ertragen können? Raen war sich bewusst, dass der Reitmeister aus seiner Sicht Recht hatte, aber ihm gefiel der Gedanke nicht, das ausgerechnet aus seinem Mund hören zu müssen. Er nahm sich vor, es wenigstens nicht wieder zu einem Streit kommen zu lassen.
Die Sonne war noch nicht über die Hügel im Osten gestiegen, ihr Licht aber eilte ihr an einem wolkenlos schimmernden Horizont voraus. Als Raen den Hof erreichte, sah er sich unauffällig um, konnte aber niemanden entdecken, nicht einmal einen von Henendras Helfern. Darüber war er ganz froh und ging direkt zur Stalltür, die noch wie der ganze Hof in den blauen Schatten der Morgendämmerung lag. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, und seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, holte er zuerst Sattel und Zaumzeug aus der Sattelkammer und ging durch den sauber gefegten Gang zu dem großen Stallabteil hinüber, in dem Rekori zusammen mit den anderen Hengsten stand, fern genug von den Stuten im anderen Stallgebäude. Der junge Rappe drängte sich sofort zwischen den anderen Tieren hindurch zu seinem Herren an die Tür. Raen legte ihm ein Halfter um und führte ihn in den Stallgang hinaus. Da ertönte ein schabendes Geräusch, und Raen sah sich um. Eine der Türen zu den kleineren Abteilungen öffnete sich, und jemand kam dahinter hervor. An der hünenhaften Gestalt erkannte Raen sofort, wer es war.
Hereke rieb sich über das Gesicht, scheinbar hatte er hier im Stall geschlafen, um ihn abfangen zu können. Mit zerzaustem, langem Haar trat er zu dem Krieger und dessen Pferd. Aus Gewohnheit strich er über Kruppe und Rücken des Tieres, um zu fühlen, welcher Stimmung es war. Der Hengst aber spannte die Muskeln unter seiner Hand an, und Hereke verzog säuerlich das Gesicht.
Raens Miene blieb ausdruckslos, während er dem großen Tier mit einem Strohknäuel den Staub aus dem Fell rieb. Er spürte, dass Herekes Blick dabei nicht einen Wimpernschlag von ihm wich.
Das beklemmende Schweigen steigerte sich zu einer felsenschweren Last, doch Raen blieb eisern. Wenn Hereke etwas von ihm wollte, so würde er schon beginnen müssen, denn er würde ihm ganz bestimmt nicht dazu auffordern, seine Beleidigungen loszuwerden! Konzentriert säuberte er die Hufe und zog einen Strohhalm aus dem schwarzen Schweif des Hengstes. Rekori, das Schattenherz, spürte die Spannung zwischen den beiden Menschen und nagte nervös am Strick. Immer wieder schüttelte er ungehalten den Kopf, als sei da ein hartnäckiger Schwarm Fliegen.
Raen legte Satteldecke und Sattel auf, zog den Gurt fest und kontrollierte die Lederriemen der schuhförmigen Steigbügel. Dann befestigte er sein Leichtschwert und die Gepäcktaschen am Sattel, alles mit Herekes beißendem Blick im Nacken. Raen nahm die Trense vom Haken, löste Rekori das Halfter und bewegte ihn dazu, das blanke Metall in sein Maul zu nehmen. Als er die Riemen der Trense geschlossen hatte, warf er dem Pferd die Zügel über den Kopf und klopfte ihm aufmunternd auf den Hals.
„So, jetzt geht es los, mein Freund“, sagte er und wollte den Hengst aus dem Stall führen, doch Hereke stellte sich ihm in den Weg. Raen, der so etwas erwartet hatte, sah ihm mit provokant gleichgültigem Blick in die Augen. Dass er dafür seinen Kopf in den Nacken legen musste, störte ihn nicht. Der Hüne starrte zurück, blieb jedoch weiterhin stumm. Raen seufzte, und wollte an Hereke vorbeigehen, da legte sich eine der großen Hände auf seine Schulter. Wie eingefroren blieb er stehen, die Kiefer zusammengepresst, sein Geduldsfaden kurz vor dem Zerreißen. Wenn Hereke nicht gleich etwas sagte, dann ...
Endlich öffnete der Reitmeister seinen Mund. „Ich wusste es“, sagte er schlicht, und in seiner Stimme klang eher Traurigkeit als Genugtuung mit.
Raen sah missbilligend auf Herekes Hand und wieder in dessen Gesicht. „Und um mir das zu sagen, hast du hier auf mich gewartet?“, fragte er bissig.
„Nein.“ Hereke zog seine Hand zurück, und Raen fühlte sich erleichtert.
„Ich wollte dir sagen, dass, wenn du es jemals wagst, wieder hierherzukommen und Suneka wehzutun, ich dir beide Arme brechen werde, damit du niemals wieder mit dem Schwert kämpfen kannst. Dann bist du als Krieger wertlos und sie werden dich des Standes entheben. Du kannst ganz unbesorgt sein, es wird wie ein Unfall aussehen. Vom Pferd gestürzt. Und wer würde dir schon glauben.“ Als Hereke geendet hatte, erschien auf seinem Gesicht plötzlich ein trunkenes Lächeln, ganz so als hätte er den Verstand verloren.
Raen verbarg seine Verblüffung angesichts dieser harschen Worte. Wie sehr musste Hereke unter seiner verzweifelten Hilflosigkeit leiden, dass dieser gutmütige Mensch so etwas Furchtbares äußerte! Raen wurde zwangsläufig an Shanis Ohrfeige erinnert, und das schlechte Gewissen wollte sich in sein Herz schleichen, doch schnell verscheuchte er es wieder. Seine volle Ablehnung zur Schau stellend, hob er den Zeigefinger unter Herekes sommersprossige Nase. „Ganz im Gegenteil, du kannst unbesorgt sein! Ich habe nämlich nicht vor, jemals zurückzukommen! Ich verlasse dieses stinkende Nest für immer! Hörst du? Und letztlich solltest du mir dankbar sein, denn damit bewahre ich dich vor einer großen Dummheit, die du vielleicht vor dir selbst rechtfertigen kannst, aber nicht vor Ihm“, Raen stieß den Finger über seinem Kopf gegen Deckenbalken. „Hyaun!“ Er blitzte den Reitmeister an. „Einen letzten Rat für dich: Kümmere dich lieber um deine Frau und deine Kinder, als um die Frauen anderer! Und nun, lebe wohl!“ Raen schob sich an Hereke vorbei und zog Rekori am Zügel hinter sich her, dass der Reitmeister dem Pferd Platz machen musste.
„Ich verfluche dich, Raen Ra Roman! Mögen die Dämonen der Unterwelt dich holen!“, zischte Hereke ihm hinter her. „Verflucht sei der Stern, unter dem deine Reise steht!“
Raen verschloss sein Herz und seine Ohren vor den bitteren Schmähungen, die er eher von allen anderen erwartet hätte, nicht aber von diesem liebenswürdigen und warmherzigen Kerl.
Als er draußen auf dem Hof war, stellte er seinen versehrten Fuß in den Steigbügel und zog sich in den Sattel, das konnte er mittlerweile ganz gut. Dann nahm er die Zügel des reichlich unruhigen Hengstes auf und ritt ein letztes Mal hinauf in den Chorten, wo alle warteten, die ihn verabschieden wollten. Raen graute es davor, und am liebsten wäre er ohne ein Wort des Abschieds einfach davon galoppiert; hinein in den Wald, über die Hügel hinweg und fort von den schlechten Gefühlen, fort von allem, was ihn daran erinnerte, dass er ein schlechter Mensch war.
In kraftvollem Trab trug Rekori ihn durch das Tor in den Hof der Festung, und das Geräusch seiner klappernden Hufe hallte von den Mauern wieder. Vor der kleinen Gruppe Menschen, die sich dort im orangefarbenen Licht der Morgensonne versammelt hatte, hielt Raen an. Es waren schmerzlich wenig Menschen, immerhin aber all diejenigen, die ihm nahestanden. Lediglich Resa war nicht aufgetaucht. Raen konnte die Abneigung des Bruders verstehen, stand dieser doch seinetwegen auch im schlechten Licht. Schwungvoll sprang er aus dem Sattel und begann, die guten Reisewünsche in Empfang zu nehmen. Nach dem Segen seines Vaters erhielt er den von Loenka, dessen Augen ihm noch einmal verschwörerisch zuzwinkerten.
Anschließend reichte ihm Kaera, der wie immer verschlafen aussah, ein kleines, in Ölhaut eingeschlagenes Päckchen. „Schreibe auf, was du erlebst da draußen“, sagte er dabei, „deine anderen Bücher sind bei mir gut aufgehoben.“
„Danke, mein Freund. Leb wohl.“ Danach drückte Raen sich mit Osa den Unterarm und wandte sich dann an Andra, die ihm schweigend etwas in die Hand legte. Es war das kleine, gestreifte Schneckenhaus, das er ihr einmal als Kind geschenkt hatte, und es symbolisierte die Heimat, die man immer im Herzen mit sich trug wie die Schnecke ihr Haus auf dem Rücken. Raen wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte, denn nun hatten sich all seine Freundschaftspfande wieder bei ihm eingefunden. Er ließ das Schneckenhaus in seinem Zhangha-Beutel verschwinden und nahm seine Schwester in den Arm.
„Pass auf dich auf!“, flüsterte sie ihm zu. Was hätte sie ihm sonst auch sagen sollen?
„Das werde ich, Schwesterherz“, antwortete Raen mit einem kleinen Grinsen, „und sorge dich nicht immer so viel, ja?“ Er strich ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr. „Ich werde mich künftig immer zuerst fragen: Was würde Andra jetzt wohl tun?“
Nun lächelte auch sie, drückte ihm sachte den Oberarm und entließ ihn zu Sosama, die ahnungslos zu ihm aufschaute.
„Wann kommst du wieder, Vater?“, fragte das kleine Mädchen.
Raen hob sie auf den Arm. „Das habe ich dir doch schon erklärt, du kleiner Grashüpfer.“ Neckend stupste er ihre Nase an. „Ich komme wieder, wenn du groß bist, so groß, dass du Rekori über den Rücken spucken kannst.“ Raen warf einen kurzen Blick zu Suneka. Sie hatte darauf bestanden, dass er seiner Tochter die Wahrheit sagte, zumindest die halbe.
„Aber das ist doch noch soooo lange hin.“ Sosama besah sich kritisch das große Pferd.
„Du kannst doch schon jetzt beinahe darüber schauen, oder etwa nicht?“, bedeutete Raen, und das kleine Mädchen prüfte die Höhe, auf der es sich befand.
„Dann ist es ja nicht mehr lange!“, rief sie schließlich fröhlich und klopfte mit der Hand auf seine Schulter.
„Ja, nicht mehr lange. Und bis dahin bis du schön artig und lernst brav in der Schule, versprichst du mir das?“
„Ja, versprochen.“ Ihr Gesicht leuchtete voll kindlicher Liebe zu ihrem Vater.
Raen drücke sie schnell an sich und schloss die Augen, um die verräterische Feuchte darin zum Rückzug zu zwingen. Erst, als er sich sicher sein konnte, dass sein Blick nichts mehr von seinen Gefühlen verriet, setzte er Sosama wieder ab. Da ihre Mutter Roakyn auf dem Arm hatte, fasste das kleine Mädchen nach dem Ärmel ihres Großvaters. Raen sah, wie Roman ihr liebevoll über den dunkel gelockten Scheitel strich.
‚Hoffentlich hat sie es einmal besser als ich’, dachte Raen mit schwerem Herzen und zwang sich, Suneka anzusehen.
Sie stand angestrahlt vom Sonnenlicht da und blickte ihn an. Der eineinhalb Jahre alte Roakyn kuschelte sich an ihre Brust. Raen riss sich erneut zusammen und schenkte der Frau, die das Wagnis eingegangen war, ihn zu heiraten, ein halbwegs glaubwürdiges Lächeln. Die einzige, die ihn dabei durchschaute, war Andra, das sah er mit einem flüchtigen Seitenblick an ihren zusammengezogenen Brauen.
Er umfasste Sunekas Oberarme, mehr aber tat er nicht. „Leb wohl“, sagte er und prägte sich ihre Züge ein.
„Leb wohl, mein Liebster“, war alles, was sie sagte. Eine Weile standen sie sich gegenüber, dann löste Raen sich von ihr und ging zu Rekori. Er nahm die Zügel und stieg auf. Wortlos gab er dem Hengst den Befehl zum Trab und ohne irgendjemanden noch einmal anzuschauen, verschwand er zum Tor hinaus.
‚Wohin du auch gehst, Raen, ich bin mit meinen Gedanken bei dir’, schickte Suneka ihm still hinterher, blickte ihm aber nicht lange nach. Die Hoffnung, dass er zu ihr zurückkehren würde, fest in ihr Herz eingegossen, folgte sie den anderen in den Wohnturm, wo sie sich scheinbar gleichmütig an ihre Arbeit begab, so als wäre ein ganz normaler Tag - als hätte sich soeben nicht ihr Liebster von ihr abgekehrt.
Kanaima seufzte verhalten. Der König benahm sich wieder einmal, als hätte sein Gehirn zu viel Sonne abbekommen. Vielleicht war es aber auch beginnender Altersschwachsinn. Das wäre wirklich zu schön!, dachte Kanaima, doch leider war Katthike noch bei bestem Verstand. Gereizt wandte der Maestro seinen Blick ab. Er ertrug das dümmliche Grinsen des Königs nicht länger.
Dass er aus diesem Geburtsfest ein derartiges Schauspiel machte, war absolut lächerlich und grotesk! Denn insgeheim wusste mittlerweile jeder bei Hofe, dass der glückliche Nachwuchs des Prinzenpaares nicht dessen leibliches Kind war. Es war ein offenes Geheimnis, das nur durch das königliche Henkersbeil geschützt wurde, und deshalb hielt ein jeder, dem sein Leben lieb war, die Zunge still.
Wieder quäkte die helle Stimme des einjährigen Knaben aus den Tischgesprächen heraus, als Katthike ihm scherzend mit dem Finger in den Bauch piekste. Im großen Krönungssaal herrschte eine ungewöhnlich ausgelassene Stimmung. Viele der Gäste unterhielten sich zwanglos und genossen ausgiebig den gereichten Wein und die Speisen. Immer wieder wurde das Kind gelobt und auf dessen Eltern Trinksprüche ausgebracht. Immer wieder bekam der Kleine vom König eine Nascherei in den Mund gesteckt.
Kanaima unterdrückte ein verdrießliches Augenrollen. Genau solch ein Gewese hatte Katthike damals auch um Setna veranstaltet. Kanaima hob schnell den silbernen Kelch und trank ein paar Schlucke des gekühlten Weines. Es war eine eckige und auffällig heftige Bewegung. Ärgerlich darüber, dass er sich nicht besser zu beherrschen wusste, stellte er den Kelch wieder ab und zwang sich als eine Art Übung zur Selbstbeherrschung, den Jungen anzusehen. Der saß, oder vielmehr stand, auf dem Schoß des sichtlich gequälten Kindermädchens, hopste auf und ab und kicherte bei den Neckereien des Königs. Er wurde Santir gerufen - Sonnenträger - ein guter, askharischer Name! Er hatte ein für sein kindlich rundes Gesicht ungewöhnlich spitzes Kinn, dunkle Haare und auffallend grüne Augen ..., die weder bei der bernsteinfarbenen Isabylla noch bei ihrem kohlenäugigen Gatten Setna zu finden waren. Das war gut! Denn für Königsblut war dadurch klar, dass von diesem Kuckuckskinde keine Gefahr für ihre Sache ausging. Und da das Gerücht von Isabyllas Unfruchtbarkeit sich noch immer hartnäckig hielt, befand auch die Prinzessin sich noch immer in Sicherheit.
Obwohl Katthike das Kind ordnungsgemäß als Nachkomme der königlichen Familie hatte registrieren und mustern lassen, wusste Kanaima instinktiv, von wem diese Augen stammten. Und auch, wenn nie jemand darüber zu sprechen gewagt hatte, was während der Zeit im Palast geschehen war, die er und Setna an der Grenze verbracht hatten, gab es für den Maestro kaum einen Zweifel: In den Adern Santirs floss hyaunisches Blut!
Ein Schauer überkam ihn. Er hatte sich geschworen, nicht mehr daran zu denken, doch jetzt, da er dessen Abkömmling betrachtete, konnte er es nicht verhindern, dass der Krieger aus Hy vor seinem inneren Auge wieder auferstand: Krank und bleich, mehr tot als lebendig, jedoch von einer geheimnisvollen Kraft angetrieben. Ob er wohl noch lebte? Warum hatte das Orakel von ihm, Kanaima, verlangt, ausgerechnet diesen Mann - einen Feind - zu retten? Was war an diesem Hy so Besonderes, außer dass dessen Blut es bis in den Stammbaum der zukünftigen Könige Askhars geschafft hatte?
Schnell spülte Kanaima diese unbehaglichen Fragen mit einem weiteren Schluck Wein hinunter. Sie waren gefährlich, und es wäre bekömmlicher, sie für immer aus seinem Kopf zu verbannen. Niemand durfte je erfahren, dass er es gewesen war, der diesem Kerl geholfen hatte. Sein Blick sprang von dem Kind, das auf die gleiche abscheuliche Weise entstanden war wie Setna, auf eben jenen Prinz. Der verhasste Stiefbruder saß zur Rechten des Königs und stocherte gelangweilt mit seinem schmalen Dolch im Essen herum. Ein großer Teil des Hofstaates war zu diesem Bankett anwesend und auch einige der Herzöge aus dem näheren Umland, aber Setna schien das nicht zu interessieren. Auch für seine Frau hatte er keinen Blick übrig.
Isabylla hielt ihre blassen Lider - sie weigerte sich, sie schwarz zu schminken wie alle anderen askharischen Frauen - halb gesenkt, als wolle auch sie niemanden sehen. Inmitten der fröhlich zechenden Runde wirkte sie einsam und unnahbar. Kanaima meinte, sehen zu können, wie sich jedes einzelne Härchen auf ihren Armen gegen den düsteren, schmächtigen Schatten neben ihr sträubte. Ihre tragische Gestalt verlieh ihr eine sinnliche Schönheit. Eine Schönheit, die Setna nicht leiden konnte und in brutaler Weise zu zerbrechen versuchte. Allzu oft zierten blaue Flecken Isabyllas Gesicht und Arme, und Kanaima musste sich jedes Mal zusammenreißen, diesem Mistkerl, der anstelle seines Herzens ein dunkles, kaltes Loch hatte, dafür nicht sofort den Schädel zu zertrümmern. Es machte ihn beinahe wahnsinnig, seine heimliche Angebetete nicht beschützen zu können, und nur unter großen Mühen gelang es ihm, nicht ständig daran zu denken. Wenn er doch endlich erst einmal vollbracht hätte, wonach er nun schon seit unzähligen Jahren strebte!
Auf der anderen Seite des Saals hob Isabylla den Blick.
„Maestro Kanaima, Ihr erlaubt mir doch, Euch für Eure gute Arbeit an der Grenze zu beglückwünschen.“
Unwillig riss Kanaima sich aus seiner Betrachtung, denn das Bernsteinleuchten von Isabyllas Augen blitzte gerade zu ihm herüber. Der neue Oberste Berater des Königs hatte sich neben ihn an den Tisch gesetzt und sah ihn mit einem seltsam ironischen Lächeln an.
„Oh, vielen Dank, Konsultas Rothwal, ich fühle mich geehrt, Euer Lob zu empfangen“, entgegnete Kanaima steif und wollte sich schon wieder abwenden, da hob der junge Cousin Kasais seinen Becher.
„Dann trinken wir doch auf den Erfolg dieser ehrgeizigen Unternehmung!“, rief er schon reichlich angetrunken und stieß gegen Kanaimas Kelch. Das seltsame Lächeln blieb auf seinen Lippen kleben, auch nachdem er getrunken hatte.
Kanaima fragte sich, ob der Berater etwas wusste, von dem er mal wieder nicht informiert war.
Rothwal langte derweil mit bloßen Fingern nach einem Stück Lammkeule, riss einen großen Bissen des saftig rosigen Fleisches mit den Zähnen vom Knochen und kaute laut schmatzend darauf herum. Kanaima verzog innerlich das Gesicht und schielte in einem unbeobachteten Augenblick zu Isabylla hinüber. Sie war nicht mehr da, auch Santir nicht. Es war schon spät, und sie hatte sich wahrscheinlich zurückgezogen. Zu seiner Erleichterung saß Setna aber noch an seinem Platz - bestimmt, weil Katthike es so wollte.
„Er wird die nächste Versorgungseinheit nach Braud anführen“, sagte Rothwals Stimme viel zu nah an seinem Ohr, und Kanaima ärgerte sich auf ein Neues, seinen Blick nicht schnell genug von dem Kronprinzen abgewendet zu haben.
„Tatsächlich?“, fragte er näselnd. Desinteresse vortäuschend, spielte er mit seinem Karneolring und hoffte, der Berater würde endlich mit mehr herauskommen, denn diese Information war ihm tatsächlich noch unbekannt. Aber vermutlich hatte der Konsultas sich auch genau aus dieser Absicht zu ihm gesellt, denn üblich war es nicht, dass sie über die Ratsversammlung hinaus viel miteinander redeten
„Der König will Setna das Kommando über das Lager dort geben, bis der Beginn des Feldzuges ausgerufen wird. Er sagt, es sei höchste Zeit, dass der Prinz mehr Verantwortung bekommt, nachdem er sich so vortrefflich um die Angelegenheit in Doban gekümmert hat!“ Der boshafte Tonfall war unüberhörbar, und Kanaima presste die Zunge an den Gaumen. Diese „Angelegenheit“ war äußerst unangenehm für ihn gewesen ... und sie war es noch.
Als damals bekannt geworden war, dass es dem hyaunischen Gefangenen dank eines askharischen Helfers gelungen war, nach Doban zu flüchten, hatte Katthike Setna damit beauftragt, in ganz Neu-Askhar Befragungen und Folterungen durchzuführen, um an den Namen des Verräters zu kommen. Setna war natürlich ganz und gar in der Rolle des Hetzhundes aufgegangen und hatte all seine in diesem Fach erworbenen Kenntnisse eingesetzt. Einige Dutzend Männer hatten unter seiner kundigen Hand den Tod gefunden, darunter auch jener Hauptmann, der wusste, wohin Kanaima sich unerlaubt abgesetzt hatte, obwohl er eigentlich die Aufsicht über die Suche nach geeigneten Passagen über das Junghal-Gebirge hätte führen müssen. Unter Qualen, die ihm seine zerquetschten Gliedmaßen bereitet hatten, hatte er schließlich verraten, dass der Maestro zu seiner Schwester gereist sei. Ohne Umwege war Setna daraufhin nach Ebida geeilt und hatte auch Laika einer eingehenden Befragung unterzogen, doch sie als auch Herzog Hana hatten bezeugen können, dass Kanaima mehrere Wochen bei ihnen zu Gast gewesen war. Aber Setna hatte ihnen nicht geglaubt, zu sehr hatten Laika und Kanaima seiner Meinung nach in letzter Zeit miteinander heimlich getan. Doch bevor er etwas in die Wege hatte leiten können, nahm seine Hetzmeute in der Hafenstadt Kebokhan vierzig Meilen weiter östlich von Ebida einen Soldaten gefangen, der als Matrose angeheuert aus dem Lande hatte fliehen wollen. Schon nach wenigen Augenblicken der Folter hatte der Deserteur bekannt, er sei der Maskierte gewesen! Jener Helfer, der den Hy aus dem Palast befreit und quer durch Neu-Askhar geschleust hatte! Auf die Frage hin, warum er dies getan hätte, hatte er geantwortet, er hätte den Hy nach Sakkara in Graçe schaffen wollen, um dort für ihn einen guten Preis auf dem Sklavenmarkt zu bekommen, doch kurz vor der Grenze sei der Kerl ihm entwischt und nach Doban geflohen.
Ein etwas vorschneller Gardist hatte den Mann schließlich getötet! Was Setna in Rage gebracht hatte. Ihm war das Geständnis des Fahnenflüchtigen verdächtig vorgekommen. Doch er hatte den Mann nicht wieder lebendig machen können. Und so hatte er sich damit abfinden müssen, dass Askhari-Kaise das erfolgreiche Ende der Hetzjagd verkündet hatte. Für den König war die Angelegenheit erledigt gewesen, und der Verräter war hingerichtet worden. Der Kronprinz war in aller Öffentlichkeit für seine gute Arbeit gelobt worden und hatte sich gefügt. Doch Kanaima wusste, dass dessen Argwohn gegen ihn nicht vollkommen ausgelöscht war. Setna hielt sein Augenmerkt unentwegt auf ihn gerichtet. Er selbst war nach dieser Angelegenheit aufs Schärfste abgetadelt worden, weil er seinen Posten an der Grenze unerlaubt verlassen hatte. Und man hatte ihn zurück auf seinen Lehrstuhl beordert, wo er weniger Dummheiten anstellen konnte.
Kanaima, der sich genau das erhofft hatte, war endlich wieder zurück im Palast und konnte sich um seine eigenen Geschäfte kümmern. Und während Setna sich den Regierungsgeschäften und seinen prinzlichen Pflichten widmen musste, versuchte er seinen Grund und Boden nicht nur bei Isabylla weiter auszubauen.
Kanaima blinzelte die Erinnerungen fort und nahm einen Schluck aus seinem Weinkelch. Seit dieser Sache hatte er ständig einen oder mehrere Spitzel Setnas an seinen Hacken hängen, und es wurde immer schwerer, sie abzuschütteln. Doch er hatte längst noch nicht alle seine Listen ausgeschöpft, schließlich hatte er in dieser Kunst den besten Lehrmeister gehabt. Er wandte sich an den noch immer grinsenden Konsultas.
„Prinz Setna hat seine Arbeit wahrlich gut gemacht, das haben wir ja sehen können. Immerhin hat er den Verräter gefasst! Ein Militärlager dieser Größe zu kommandieren, ist jedoch ein ganz anderer Stiefel.“ Er blickte den Berater spöttisch an.
„Nun, Ihr werdet jedenfalls hierbleiben und bis zum Feldzug nicht wieder ausrücken, so will es Seine Majestät.“ Rothwal wies mit seinen fettigen Fingern auf die königliche Tafel. „Die Arbeiten an der Grenze können schließlich auch ohne Euch zu Ende geführt werden, Maestro. Das ist vielleicht auch besser so, denn Theorien sind etwas ganz anderes als die praktische Ausführung, nicht wahr?“
Nach diesem Seitenhieb auf Kanaimas vorangegangene Bemerkung wollte der Berater sich verabschieden. Er erhob sich, aber Kanaima machte sich nicht die Mühe, ihn anzusehen. Bei all dem, was er soeben erfahren hatte, erleichterte ihn nur eines: Setna würde für eine gewisse Zeit fern von Isabylla bleiben.
„Im Übrigen wird der Prinz seine Gemahlin Natalia Isabylla mit nach Braud nehmen und auch Santir“, verriet Rothwal wie beiläufig.
Schlagartig verdüsterte sich Kanaimas Stimmung. Ihm wurde nun klar, dass der Konsultas auf Aufforderung Setnas zu ihm gekommen sein musste. Er spürte, wie sein Stiefbruder ihn quer durch den Saal anstarrte, spürte die Verschlagenheit in dessen Blick, zwang sich aber, ihn nicht zu erwidern und sah stattdessen zu dem Berater auf.
„Das ist gut, dann kann Santir bei seinem Vater sein“, entgegnete er ironisch, war in Gedanken aber bereits um Isabylla besorgt. Was, zum Teufel, wollte Setna mit der Prinzessin in dieser stinkenden, nur mit rauhäutigen und ungesitteten Männern angefüllten Stadt? Ahnte der kleine Widerling etwas? Kanaima überlegte. Die Spione hatte er immer abgestreift, wenn er zu Isabylla gegangen war. Setna konnte es nicht wissen.
Konsultas Rothwal empfahl sich unterdessen und verließ endlich den Tisch. Finster blickte Kanaima ihm nach. Es war eine verrückte Welt! Warum unterstützte dieser Mann, der ein feuriger Anhänger der Patriotischen Liga war, dieses schmutzige Halbblut Setna? Schnell trank Kanaima den letzten Schluck seines Weines aus und stand von der Tafel auf. Er hatte keine Lust mehr, dem Besäufnis der Gäste zuzusehen. Er verbeugte sich vor dem königlichen Tsich und ging mit sicherem Schritt aus dem Saal.
Im Aufgang zu den oberen Gemächern holte ihn Setna ein. Das Lächeln des Kronprinzen war noch unheimlicher als das des Beraters.
„Ich weiß, dass du Isabylla den Hof machst! Ich bin nicht dumm, Kanaima! Ich habe meine Mittel und du die deinen. Aber sei unbesorgt, ich werde dich nicht anklagen.“ Er hob eine Hand und lachte, während er seinen Kopf schüttelte. „Nein, nein, verstehe das ja nicht als Großzügigkeit. Es ist eine viel härtere Strafe für dich und eine viel größere Genugtuung für mich, dich still an deiner Machtlosigkeit leiden zu sehen! Der allseits patente Maestro, der für alles ein Rezept hat, jedoch nicht gegen die netten, kleinen Aufwartungen, die ich seiner Angebeteten mache. Hm, das ist wahrhaft ein Genuss!“ Setna seufzte übertrieben schwärmerisch. Dann fasste er sein Gegenüber scharf ins Auge. „Jetzt bin ich am Zuge, Bruder! Und ich werde dich zappeln lassen!“
Kanaima zeigte jedoch nicht die geringste Regung auf das, was Setna sagte, und als er sich einfach abwenden und seinen Weg nach oben fortsetzen wollte, fügte der Jüngere zischend hinzu: „Ich weiß auch, dass du der geheimnisvolle Maskierte gewesen bist, und dass der Mann, den wir fälschlicherweise als Verräter hingerichtet haben, bloß ein Strohmann war, der sich für dich geopfert hat. Ich werde beweisen, dass du zusammen mit deiner Schwester und diesem Hana heimlich gegen den König arbeitest. Katthikes Gunst währt nicht ewig und erst recht nicht für einen scheinheiligen Vaterlandsverräter wie dich! Ich bekomme die Beweise, verlass dich darauf. Und dann werde ich dir mit aller Kunst ein Ende bereiten.“
Kanaima lachte trocken: „Den Verräter hast du persönlich gestellt und hinrichten lassen, Söhnchen. Im ganzen Land spricht man von dieser Heldentat! Willst du sie etwa freiwillig leugnen und behaupten, du hättest dich in dem Verdächtigen geirrt? Willst du laut ausrufen lassen, du hättest einen Fehler gemacht? Sollen tatsächlich alle erfahren, dass der wahre Verräter noch immer frei herumläuft? Willst du deinen Gegnern wirklich so leichtfertig deine Unfähigkeit auf dem Silbertablett präsentieren? Also, wenn das deine Kunst ist, ... bitte, nur zu, ich werde dich nicht daran hindern.“ Er machte sich mit Absicht lustig über seinen Steifbruder, denn er wusste, wie sehr dieser es hasste, als dumm hingestellt zu werden.
Setna verzog giftig die Miene, und sein struppiger Haarschopf zitterte vor Erregung.
„Ich werde dich leiden sehen, Kanaima, das schwöre ich dir. Dein dreckiges Lachen wird dir vergehen!“ Er spuckte vor dem süffisant lächelnden Älteren auf die Stufen und eilte im Sturm an ihm vorbei die Treppe hinauf, dass die Schwerttrophäe des hyaunischen Kriegers an seiner Seite heftig ins Schwingen geriet.
Noch im selben Augenblick erstarb das künstliche Lächeln auf Kanaimas Zügen. Die Situation spitzte sich langsam zu! Aber noch war er sicher und brauchte sich vor den Drohungen dieses kleinen Bastards nicht zu fürchten, noch hatte er alles in seiner Kontrolle. Bis auf seine Affäre mit Isabylla vielleicht, die war aufgeflogen, weil er in seiner Liebestollheit ganz offensichtlich zu unvorsichtig gewesen war. Er hatte Setna unterschätzt. Auch der Welpe lernte dazu.
Kanaima entschied sich anders und verließ das Palastgebäude. Nicht zu schnell schlenderte er im Dunkeln hinunter zur Akademie, wo er sich auf der Pritsche in seinem Arbeitszimmer zur Ruhe legte.
Am nächsten Morgen ging Prinzessin Isabylla, angetan mit einem schlichten, moosfarbenen Leinenkleid und einem passenden Schleier, zu den Stallungen hinunter. Sie wollte dem Kummer, der sie zu erdrücken drohte, durch einen Ausritt für einen kurzen Augenblick entfliehen. Schwermütig blickte sie in den wolkenverhangenen Himmel. Sie hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können! Die Grausamkeiten Setnas waren, seit er wieder im Palast weilte, schlimmer als je zuvor, und an manchen Tagen konnte sie sich kaum rühren vor Schmerzen. Oh, wie sehr hatte sie die Zeit ohne ihn genossen! Da war ihr das Leben beinahe lebenswert erschienen. Doch jetzt wusste sie nicht nur, dass sie sich törichten Hoffnungen hingegeben hatte, auch der Maestro war absolut machtlos gegen seinen Stiefbruder. So sehr er sie auch aufforderte durchzuhalten, und so sehr sie diesem Wunsch zu entsprechen versuchte, konnte sie doch fühlen, dass sie nicht mehr viel Kraft besaß.
Sie schloss die Augen und ging dabei weiter. Das Einzige, was sie noch über Wasser und in dieser trostlosen Welt hielt, war ihr täglicher Ausflug mit dem weißen Hengst Shaktir. Wenn der Wind ihr geschundenes Gesicht streichelte und der Boden unter den schnellen Hufen des Pferdes dahinflog, konnte sie sich hinfort träumen, fort von diesem abscheulichen Ort! Dann sponn sie sich ihre abenteuerliche Flucht zurecht. So, wie es diesem unzähmbaren Hy-Sklaven damals gelungen war, das Land zu verlassen, obwohl seine Lage vollkommen hoffnungslos gewesen war, ersehnte auch Isabylla sich desgleichen die Hilfe eines geheimnisvollen Maskierten. Sie malte sich aus, der von ihr vielverehrte Held würde eines Nachts unbemerkt in ihr Zimmer schleichen und sie fortbringen. Die Haare würde sie sich abschneiden und als Bursche verkleidet zum nächsten Hafen fliehen. Der Maskierte würde mit ihr über das Meer in ihre Heimat fahren, und sie würde wieder glücklich sein. Natürlich stellte sie sich vor, wer hinter dieser Maske steckte. Maestro Kanaima hielt doch auch nicht besonders viel hier bei einem Vater und König, der ihn wie einen dummen Tanzbären an einem kurzen Gängelband hielt und auf Kommando Kunststückchen vollführen ließ; und einem Thronfolger, der ihn verspottete, wo er nur Gelegenheit dazu fand. Kanaima konnte doch auch anderswo ein Maestro und ein angesehener Mann sein. Und in diesem Anderswo konnte er auch ihr Ehegatte sein …
Isabylla biss sich auf die Lippen und trat durch die Stalltür. Der Pferdebursche hatte wie jeden Morgen Shaktir schon fertig gesattelt bereitgestellt. Ungeduldig scharrte der schöne Schimmelhengst mit einem seiner Vorderhufe im Stroh. Isabylla band ihn los und führte ihn nach draußen. Kurz schaute sie noch einmal gen Himmel, an dem für diese Jahreszeit ungewöhnlich dicke Wolkenbänke mit Regen drohten. Es war schwül, und jederzeit konnte das Unwetter seine angestaute Kraft entladen. Doch es war ihr egal. Und wenn sie nass werden würde, nichts auf der Welt konnte sie davon abhalten, ihren morgendlichen Ritt zu unternehmen!
Sie schwang sich in den Damensitz und lenkte den Hengst im Schritt zum Äußeren Tor hinaus. Draußen auf dem Bergfried schlug sie ihren gewohnten Weg ein, der sich einmal rings um die Befestigungsmauern durch kleine Haine, Tempelgärten und Pferdekoppeln schlängelte. Doch der Schein der Freiheit trog, um alles herum brodelte die große, alles beherrschende Stadt mit ihrem scheinbar unendlichen Meer aus staubigen Ziegeldächern und schloss die Bewohner des Palastes hier auf diesem Berg ein wie in einem Gefängnis. Isabylla ließ Shaktir auf einem ebenen Stück der Straße galoppieren. Immer wieder begegnete sie Knechten, Gärtnern und Wachsoldaten, die zu Fuß Patrouille gingen und sie höflich grüßten. Hier war sie noch die Prinzessin und nicht das Prügelmädchen des Prinzen!
Als sie den Olivenhain erreichte, der sich mit seinen knorrigen, tausendjährigen Bäumen weitläufig um die Tempelgärten zog, zügelte sie Shaktir und ließ ihn in Schritt gehen. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand zu sehen war, zog sie sich mit den Zähnen den Stoffhandschuh von ihrer Rechten, bog ihren Rücken leicht zurück und tastete mit der Hand hinten unter der Satteldecke. Ihre Finger fanden schnell das Erhoffte zwischen dem warmen Pferdefell und der Decke und zogen es verdeckt hervor. Es war ein kleines Stück Papier, das genau in ihre Handfläche passte. Dementsprechend hatten auch nur ein paar kurze Sätze darauf Platz. Aber es reichte aus, um in Verbindung zu bleiben. Ihr Herz klopfte heftig, als sie die Hand hob und unauffällig die in graçenischer Sprache geschriebenen Worte las.
„M.L.F.“, das bedeutete ‚Meine liebste Freundin’, „ich bedauere zutiefst, Euch mitteilen zu müssen, dass wir uns nicht mehr sehen dürfen. S.B. weiß es!“, das war das Kürzel für Stiefbruder. „Ich fühle mich schrecklich, wenn ich daran denke, in welche Situation ich Euch gebracht habe! Das werde ich mir nie verzeihen! Seid also gewarnt. S.B. will Euch benutzen, um mir Schaden zuzufügen! Er will Euch mitnehmen, damit wir uns nicht mehr treffen können. Ach, L.F., wie es mich schmerzt, Euch ihm derart schutzlos überlassen zu müssen. Aber ich verspreche Euch, ich werde alles tun, um Euch Hilfe zukommen zu lassen. In ergebener Zuneigung ewig der Eure, D.T.F.“ Der treue Freund. Tränen traten in ihre Augen, schnell wischte sie sie fort und zog den Handschuh wieder über. Das war es also, auch ihr letzter Hoffnungsfunken war zertreten! Sie würde Setna mit nach Braud begleiten müssen und dort wahrscheinlich von ihm bis zur Unkenntlichkeit verprügelt werden, ... wenn sie nicht vorher aus dem Fenster sprang. Wütend schlug sie mit der Faust auf den Sattelknauf. Warum war das Schicksal nur so grausam zu ihr? Hatte sie nicht immer all das getan, was man von ihr verlangt hatte? Und war das der Lohn für ihren Gehorsam?
Noch einmal hieb sie auf das lederverstärkte Horn. Dabei entwischte ihr das Papier. Ein Windstoß nahm es mit sich, ehe sie danach haschen konnte, und es flatterte hoch in den dunkelgrauen Himmel auf. Weiß leuchtend flog es über die Wipfel der Bäume den Dächern der Stadt entgegen und mit ihm die letzte Liebesbotschaft des Maestros.
Isabylla trieb Shaktir in den Galopp. Sollte der Wind ihr die verbliebenen Tränen aus den Augen treiben. Mit wehendem Schleier preschte sie durch die Gärten des Tempels, ohne darauf zu achten, dabei nicht die sorgfältig gehegten Beete, kunstvollen Blütenarrangements und unachtsam daher stolzierende Pfauen über den Haufen zu reiten. Erstaunt am Kopf kratzend, blickten ihr Gärtner und Priester hinterher und dann auf den angerichteten Schaden.
Wie der Teufel ritt sie und schrie fluchend all ihren Zorn heraus. Sie wollte nicht die Frau dieser widerwärtigen, glattgesichtigen Schlange sein! Nicht die angebliche Mutter des kleinen Prinzen Santir, der ein in abscheulicher Sünde gezeugtes Kuckuckskind war! Und auch nicht die zukünftige Königin dieses verkommenen Reiches! Um keines dieser Dinge hatte sie gebeten, und trotzdem hatte ihr Vater sie weggegeben. In Adjan hätte es genug standesgemäße, junge Adelige gegeben, die sie hätte heiraten können, warum hatte ihr Vater, den sie so sehr liebte, sie nach Askhar verkauft? Besaß er denn überhaupt keinen Stolz?
„Ich werde dir zeigen, dass wenigstens deine Tochter den Stolz der Adjanen besitzt, Vater. Ich werde dir beweisen, dass ich es wert bin, wie ein Mensch behandelt zu werden und nicht wie ein Stück Vieh!“, schwor sie laut.
Ganz außer Atem kam sie schließlich wieder bei den Stallungen an, wo der Pferdebursche sofort die Zügel des Hengstes ergriff. Shaktirs Flanken bebten von der Anstrengung.
Isabylla wollte gerade absteigen, da kam Setna aus dem Stall. Seine Gesichtshaut war gefährlich blass und seine Züge unbewegt hölzern. Die Prinzessin ahnte, was das bedeutete, und blieb vorsichtshalber auf dem Rücken ihres Pferdes.
„Da bist du ja!“, schnauzte der Kronprinz sie an und kam mit langen Schritten zu ihr herüber gestapft. Seine Kohlenaugen glänzten fiebrig. „Das hört jetzt auch auf. Schluss mit der Herumtreiberei! In Zukunft wirst du bei mir um jeden Schritt, den du zu tun gedenkst, um Erlaubnis bitten, hast du verstanden? Und jetzt lass deine Sachen packen, wir reisen morgen ab!“ Ohne Vorwarnung riss er sie am Fussgelenk vom Pferd herunter, so dass sie unglücklich auf dem Pflaster aufkam und sich den Knöchel verdrehte. Dabei rutschte ihr der Schleier vom Scheitel, und ihre bronzefarbene Haarpracht ergoss sich über ihre Schultern.
Den Schmerz im Knöchel verbeißend richtete Isabylla sich wieder auf und bekam gleich darauf von Setna eine schallende Ohrfeige verpasst. Wieder flogen die Locken durch die Luft, diesmal vor ihr gerötetes Gesicht.
„Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst dir einen Zopf flechten, wie es sich für ein anständiges askharisches Weib gehört! Kleine Schlampe, du willst wohl, dass ich denke, du buhlst mit anderen Männern!“
Isabylla hob den Kopf und blickte ihren Gatten kalt an. Ihre Augen waren voller Verachtung.
„Ich bin keines von Euren askharischen Weibern“, antwortete sie schließlich beherrscht, „ich bin eine freie Adjanin und habe tausendmal mehr Stolz im Leib als Eure schmutzigen Adelshuren!“ Sie warf sich ihre Locken über die Schulter zurück und sah, wie Setna einen drohenden Schritt auf sie zu trat. „Ja, schlagt mich ruhig ein weiteres Mal, so oft wie Ihr wollt, denn es ist Euer gutes Recht als mein Ehegatte“, provozierte sie ihn.
Die Kiefermuskeln des Kronprinzen zuckten.
„Worauf wartet Ihr? Zerbrecht meinen Körper, zerstört meine Schönheit, aber eines lasst Euch gesagt sein: Meinen Stolz werdet Ihr niemals besiegen! Ich habe keine Angst vor Euch!“ Herausfordernd reckte Isabylla ihr Kinn vor. Das hatte sie noch nie gewagt.
Sie sah, wie Setna noch bleicher wurde, obwohl dies kaum noch möglich zu sein schien. Erneut holte er aus, und Isabylla schloss die Augen. Sollte er sie doch gleich jetzt totschlagen, dann blieb ihr alles Weitere erspart!
Doch der erwartete Schlag blieb aus, stattdessen ertönte ein überraschtes Keuchen. Langsam öffnete Isabylla ihre Augen wieder. Sie erblickte Setna inmitten der Bewegung erstarrt, seinen Arm schmerzhaft verbogen. Hinter ihm stand Maestro Kanaima und hielt scheinbar mühelos Setnas Handgelenk. Der Kronprinz begann sich zu wehren und befreite sich aus dem harten Griff des Älteren. Seine schwarzen Pupillen stachen heiß in das eisklare Blau von Kanaimas Augen. Einen langen atemlosen Moment musterten die beiden Männer sich wie zwei blutrünstige Raubkatzen kurz vor dem Sprung. Isabylla konnte sehen, wie Setna unauffällig den Griff seines hyaunischen Schwertes umfasste.
„Maestro, gebt Acht!“, rief sie, doch da hatte Setna den Stahl schon gezogen. Unheilvoll glänzte die Klinge im trüben Licht des Morgens, und das marmorierte Muster darauf ließ sie beinahe schlangenhaft lebendig erscheinen. Setna richtete die Spitze auf Kanaimas Körpermitte.
Im Blick des Maestros leuchtete es spöttisch auf. „Söhnchen, was wollt Ihr denn damit? Steckt die Waffe weg, bevor Ihr Euch damit selbst verletzt. Wenn Ihr mich fragt, so ist solch ein wertvolles Schwert viel zu schade für einen wie Euch, der nicht damit umzugehen versteht.“
„Und ob ich damit umzugehen weiß! Das werde ich dir gleich zeigen, du zuchtrutenschwingender Akademicus!“, schrie Setna, und ließ das Schwert aus dem Handgelenk einmal gefährlich nah vor Kanaimas Gesicht kreisen.
Isabylla warf eine Hand vor den Mund, sie fürchtete um den unbewaffneten Maestro, doch der blieb eigentümlich gelassen.
In der Ferne donnerte es, und die schwarzen Wolken schoben sich weiter vor, doch niemand kümmerte sich darum.
„Piratenbeute, weiter nichts. Ein Meisterstück in der Hand eines Unwissenden! Ihr könnt mich damit nicht blenden“, reizte der Maestro den Kronprinzen weiter. Die Schwertspitze vor seiner Nase zitterte.
Derweil nahmen die Stallburschen, die unfreiwillig Zeugen dieses unerhörten Disputes waren, mit dem Pferd am Zügel ängstlich Reißaus.
Besorgt blickte Isabylla vom Maestro in das Gesicht Setnas, das eine ungesund aschfahle Farbe angenommen hatte, und nur die hervortretenden Adern auf seinen grauen Schläfen zeigten, dass er kurz davor war, wie ein wütender Stier vorzustoßen.
„Was ist? Gebt mir eine Kostprobe von Eurer so hochgepriesenen Kunst!“, rief Kanaima ihm auffordernd zu.
Oh, warum nur hörte der Maestro nicht auf damit! Sah er denn nicht, dass er dem Kronprinzen ohne Waffen ausgeliefert war? Wollte er sich von ihm etwa einfach den Bauch aufschlitzen lassen? Weiter kam Isabylla mit ihren bebenden Gedanken nicht, denn Setna stieß mit seinem Schwert flink zu. Ein entsetzter Laut drang über ihre Lippen.
Es ging alles blitzschnell, und schon flog das Schwert durch die unwettergeladene Luft. Mit einem metallischen Klirren landete es auf dem Pflaster mehrere Schritte weit von Setna entfernt, der verblüfft auf seine Hand starrte, die einen blutenden Schnitt aufwies. Es flackerte erneut vom Himmel, und ein dumpfes Rollen folgte, diesmal schon viel näher.
„Du Hund! Du hast mir das Handgelenk aufgeschnitten!“ Setna ballte die blutende Hand zur Faust und blickte Kanaima an, der das kleine Messer, mit dem er den Angriff so kunstvoll abgewehrt hatte, wieder im Schaft seines rechten Stiefels zurückgleiten ließ.
„Das habe ich nur zur Selbstverteidigung, wie Ihr seht“, erklärte er entschuldigend und hob beide Hände.
„Das wirst du mir büßen!“ Setna ging zu seinem Schwert, hob den Stahl, der ihm nicht hatte gehorchen wollen, auf und steckte ihn ruckartig in die Scheide zurück. Sein hasserfüllter Blick flackerte. „Der König wird von dieser Beleidigung erfahren! Und dann kannst du was erleben!“
Kanaima verzog verächtlich die Lippen. „Ja, lauft nur zu Eurem Vater und heult Euch bei ihm aus, Söhnchen. Ich aber werde mich Euch erst wieder stellen, wenn Ihr ein Mann geworden seid und dieses Schwert, das Ihr da so stolz herumzeigt, zu führen gelernt habt.“ Auch diese letzte Demütigung hatte gesessen.
Setna machte ohne ein weiteres Wort kehrt, denn selbst sein beschränkter Intellekt musste ihm sagen, dass jede weitere Bemerkung seine Niederlage nur noch verschlimmert hätte. Mit schnellen Schritten verließ er den Platz vor den Stallungen.
Isabylla konnte ihre kindliche Freude kaum noch verbergen. Mit vergnügt zuckenden Mundwinkeln schaute sie dem davon stürmenden Verlierer hinterher. Wie herrlich war es, ihn einmal als Unterlegenen eines Kampfes zu sehen! Aber es war nur ein kurzer Augenblick des Triumphes, das wusste sie, denn schon bald würde sie dafür büßen müssen.
Kanaima trat zu ihr.
„Ist Euch wohl?“ Er deutete auf ihren Fuß.
Isabylla nickte und stellte sich tapfer auf den bereits anschwellenden Knöchel. „Es geht, ich habe schon Schlimmeres überstanden. Seid bedankt.“
„Verzeiht, dass ich eingegriffen habe, aber ich konnte es nicht mit ansehen, wie er Euch schlägt.“
„Ich verzeihe Euch.“ Scheu lächelte sie Kanaima an. „Aber was brachte Euch im rechten Moment hierher?“
„Ich suchte nach Euch, Isabylla.“
Ihren Namen aus seinem Munde zu hören, verursachte ihr ein heißes Gefühl. Sie senkte schnell den Blick, doch Kanaima entging die zarte Röte auf ihrem Gesicht offenbar nicht, denn er lächelte sanft.
„Mich drängte es, Euch noch einmal sprechen zu können, bevor Ihr abreist. Und jetzt bereue ich es, hier heruntergekommen und Euch damit in Schwierigkeiten gebracht zu haben.“ Er schien wirklich betroffen von dem, was soeben vorgefallen war, konnte seine Augen aber kaum von den feurigen Strähnen ihrer Haare lassen, das spürte Isabylla.
Blitz und Donner folgten einander immer rascher, und am östlichen Horizont waren die ersten Regenfahnen zu erkennen.
„Wir sollten in den Stall gehen, wenn wir nicht nass werden wollen“, empfahl die Prinzessin, nahm den Schleier von der Schulter und legte ihn sich wieder züchtig über die Haare. Das rote Leuchten erlosch.
Kanaima folgte seiner Angebeteten in den Stall, wo sie den Gang einmal auf- und abschritten. Shaktir stand in seinem Abteil und knabberte friedlich am Heu. Außer ihm waren noch drei weitere Hengste in ihren Boxen, der Rest stand leer. Keiner der Stallburschen war zu sehen oder zu hören. Sie holten wohl gerade die anderen Pferde von den Koppeln, um sie vor dem Unwetter zu schützen.
Blitzschnell, so wie vor wenigen Augenblicken noch gegen Setna, reagierte der Maestro auf diese einzigartige Gelegenheit. Er bugsierte Isabylla in eine der verwaisten Boxen und nahm ihre Hand. Erschrocken wollte sie sie ihm wieder entziehen, doch er hielt sie fest, dass sie nicht entkommen konnte. Er drückte sie sanft in eine Ecke, und ihre geweiteten Augen schimmerten unsicher im Dämmerlicht des Stalls. Langsam hob er die andere Hand und fuhr ihr damit über die weiche, sommersprossige Wange hinab zu ihrem kleinen Mund, dessen Lippen zitterten. Sein Innerstes brannte vor Verlangen, und ohne etwas zu sagen, beugte Kanaima sich hinab und küsste sie. Isabylla wehrte sich nicht und erwiderte den Kuss mit heftig klopfendem Herzen. Er spürte, wie sie am ganzen Leib zu zittern begann. Kanaima umfing sie mit einem Arm und zog sie enger an sich, noch immer hingen seine Lippen an den ihren.
Sie trennten sich erst, als etwas ihn zu warnen schien. Draußen hörten sie Hufgetrappel, aber noch fern genug, um sich noch einmal in die Augen zu sehen.
„Bleib stark für mich, um nichts Geringeres bitte ich dich, meine liebste Freundin. Ich werde kommen, und dich von ihm befreien, das verspreche ich dir! Nur, gib mir noch etwas Zeit, es muss wohlüberlegt sein“, flüsterte er.
„Mein Liebster, ich werde stark sein! Für dich ... und mich.“ Isabylla bückte sich, zückte das kleine Messer aus seinem Stiefel, schnitt sich damit eine Locke ab und gab sie ihm. Dann küsste sie ihn noch einmal schnell und sehnsuchtsvoll und sprang dann aus der Box in den Gang. Ihren geschwollenen Knöchel hatte sie offenbar ganz vergessen. Nach einem kritischen Blick in den Himmel, aus dem bereits vereinzelt dicke Tropfen gefallen kamen, lief sie los, den Schleier fest vor der Brust zusammen haltend, damit er ihr nicht wieder verrutschte.
Kanaima hörte ihre leichten Schritte auf dem Pflaster davoneilen, während seine Finger das kleine, züngelnde Haarflämmchen umfasst hielten. Er sah, wie die Stallburschen mit den Pferden gerade rechtzeitig den Stall erreichten, als der erste große Platzregen sich über das Palastgelände ergoss. Es donnerte und blitzte, und heftige Sturmböen fegten Regenvorhänge gegen das Stallgebäude. Schön im Trockenen abwartend stand Kanaima am Stalltor und blickte, tief in Gedanken versunken, auf den gepflasterten Platz, der sich schnell in einen See verwandelte, aus dem das Wasser nur nach einer Seite hin in Form eines kleinen Sturzbaches abfließen konnte.
Was soeben zwischen ihm und Isabylla geschehen war, musste auch er erst einmal ganz begreifen. So kurz und überwältigend war es gewesen, dass er nicht wusste, ob es überhaupt Wirklichkeit gewesen war. Er schloss die Augen und ließ mit erregt klopfendem Herzen den Moment noch einmal an sich vorbeiziehen. Wie weich waren ihre Lippen gewesen und wie schmerzerfüllt ihr Blick! Und wie groß war seine Liebe zu ihr, der einzigen Frau, auf die er sämtliches Hoffen richtete! Keine andere wollte er noch anschauen, nur sie, die tapfere Flammenbändigerin! Nur sie begehrte er. Plötzlich loderte Zorn in ihm auf, denn sein inneres Auge sah Setna, wie er Isabylla züchtigen wollte. Und jäh wurde Kanaima aus seinen Träumen geholt, als er an das vorangegangene Gerangel mit dem Stiefbruder dachte und an die Konsequenzen, die sein Verhalten gegenüber Isabylla haben mochte.
Zweifelsohne waren die Fronten jetzt ein für alle Mal geklärt. An der Feindschaft zwischen ihnen gab es nichts mehr falsch zu deuten. Die mühsam aufrecht erhaltenen Fassaden waren gefallen, und ein jeder hatte dem anderen sein wahres Empfinden offenbart. Kanaima fragte sich, ob sein Handeln klug gewesen war, denn der Moment war zu unerwartet gekommen, und er hätte ihn zuvor lieber noch ein wenig mehr durchdacht. Aber er hatte nicht zulassen können, dass Setna Isabylla vor seinen Augen schlug. Oft genug hatte er es, zur Untätigkeit verdammt, geschehen lassen müssen! Dieses eine Mal wenigstens hatte er eingreifen und Isabylla beweisen wollen, dass er für sie einstand. Er wusste, er brauchte keine Angst davor zu haben, dass Setna ihn beim König verpetzte, denn zu beschämend war die Demütigung für ihn gewesen, als dass ein gefallsüchtiger Geck wie der Prinz es riskieren konnte, dadurch eine Diffamierung seines eitlen Rufes zu erfahren. Doch im Rücken des Königs würde sich fortan ein Schlachtfeld ohne jegliche Barrieren auftun! Und auf dem würde der Krieg mit stillen, aber deshalb nicht ungefährlicheren Waffen ausgefochten werden! Deshalb galt es vom heutigen Tage an, da die Kriegserklärung offen ausgesprochen worden war, keinen unvorsichtigen Schritt mehr zu tun. Kanaima beschloss, sich mit seinen Getreuen, die er im Palast hatte, zu beraten. Er brauchte gute Spitzel für Braud und einen unauffälligen Leibwächter für Isabylla. Um die Spitzel würden sich Karlis und Königsblut kümmern, für den Posten eines persönlichen Leibwächters der Prinzessin aber hatte Kanaima seit einiger Zeit schon einen geeigneten Mann ins Auge gefasst. Es war der Sohn von Herzog Bhuras, und der Maestro schätzte, dass es kaum Verdacht erregen würde, wenn Oskhan, der wie sein Vater offiziell der Patriotischen Liga angehörte, sich für diesen Dienst erbot. Dass der Junge in Wahrheit aber einer der leidenschaftlichsten Anhänger Königsblutes und ein treuer Gefährte Kanaimas war, würde keiner vermuten, denn auch hier stand der Zwist zwischen dem Maestro und dem General über jeden Zweifel. Dazu kam, dass Setna derweil gewissen Respekt vor dem tüchtigen Leibgardisten bekommen hatte, denn Oskhan war nicht nur als ehemaliger Schüler Rebians der beste Schwertkämpfer unter den Jünglingen, auch kam ihm zugute, dass sein Vater, der General, dem Prinzen ein wohlgesonnener Tutor war, und das besänftigte Setnas Abneigung gegen den beinahe Gleichaltrigen ein wenig.
Der Platzregen legte sich, von den Dachtraufen rieselte es jedoch noch immer. Träge rollte der Donner von der dunkelbewölkten Ferne heran, aber der Himmel über dem Palast hellte sich etwas auf. Hier und da schickte die Sonne ihre Strahlen durch ein Wolkenloch, und dort, wo sie auf das Pflaster trafen, stiegen kleine Dampfschwaden auf. Schlagartig wurde die Luft stickig und noch schwüler als vor dem Unwetter. Die Kleidung begann unangenehm an Kanaimas Haut zu kleben.
Nachdem auch das letzte Tröpfeln aufgehört hatte, begab er sich, den unzähligen schlammbraunen Pfützen ausweichend, hinauf in den Palast, die Haarsträhne der Prinzessin wohl versteckt in einem seiner Handschuhe, die in seinem Gürtel steckten.
Rothwal schluckte, er hatte dem König eine schlechte Nachricht zu überbringen, und schon jetzt brach ihm der Schweiß aus. Ein Diener kündigte ihn an, und er betrat das Arbeitszimmer Katthikes. Der König blickte von einigen Schriftstücken auf, die auf dem Tisch vor ihm verstreut lagen. Seine Miene war finster, und er wies Rothwal mürrisch an, näher zu treten. Der Konsultas tat, wie ihm geheißen, und wartete einen quälend langen Moment, während Katthike seine Papiere sortierte und beiseite schob. Das, was er zu berichten hatte, würde den König in eine noch unheilvollere Laune versetzten, als er sie ohnehin schon besaß! Und Rothwal schauderte es davor, einen dieser gefürchteten Wutausbrüche heraufzubeschwören.
Als er endlich zum Sprechen aufgefordert wurde, bemerkte er, wie seine Zehen sich in den Schuhen krampfhaft in die Sohlen krallten. Er versuchte, sie zu entspannen, räusperte sich und legte beherzt los: „Eure Majestät, heute Morgen wurde in Askhari-Kaise einer dieser Wanderprediger bei einer weder vom Königshaus noch vom Magistrat der Stadt genehmigten Kundmachung aufgegriffen und zunächst im Stadtgefängnis festgesetzt. Auf erste Befragungen hat er nicht reagiert, der nächste Schritt wäre die Folter ...“
„Ja, und? Warum kommt Ihr damit zu mir? Foltert den Kerl.“ Der König verdrehte die Augen. „Jetzt kommen diese frechdreisten Volksverführer schon nach Askhari-Kaise ! Langsam beginnen sie mir auf die Nerven zu fallen! Was ist noch?“
Rothwal druckste herum. „Verzeiht, aber ich weiß nicht, ob das mit der Folter, also ... ob das eine so gute Idee ist.“
„Warum denn nicht?“ Die gefurchte Gesichtshaut um den grauen Bart Katthikes nahm eine rötliche Färbung an, wodurch die ungehalten aufblitzenden Augen noch greller hervorstachen.
Rothwal zog unbewusst den Kopf zwischen die Schultern.
„So sprecht doch endlich!“ Die Faust des Königs polterte auf die Tischplatte.
Der Konsultas blinzelte verschreckt, riss sich aber am Riemen und erklärte die prekäre Situation, die sich draußen vor den Palastmauern zusammenzubrauen begann: „Wenn wir den Wanderprediger foltern, und er stirbt, dann gibt es eine Revolte! Mehrere hundert Bewohner aus der Stadt haben sich schon vor dem Unteren Tor des Palastes versammelt und protestieren gegen die Gefangennahme des Predigers.“
„Diese kreuzdummen Rindviecher! Fallen auf das schöne Gerede dieser Kopfverdreher herein! Nicht zu fassen, dass wir uns damit herumschlagen müssen. Schickt die Soldaten raus, um ihnen eins auf die hohlen Nüsse zu geben, die sie für ihre Köpfe halten! Ich akzeptiere keine unzulässigen Aufmärsche und erst recht nicht gegen den Palast. Na los, worauf wartet Ihr noch?“
„Wenn ich meine Meinung nennen dürfte, Maj-“
„Zum Teufel mit Eurer Meinung, tut, was ich sage, sonst atmet Ihr demnächst durch Euren Hals! Und jetzt, raus!“
Rothwal verbeugte sich hastig und schob sich rückwärts zur Tür, die ihm der Diener öffnete. Als sich die schweren Eichenflügel wieder schlossen, hörte er die Stimme des Königs dahinter toben.
„Idioten! Wozu habe ich diese Flachköpfe zu meinen Beratern ernannt, wenn man sich doch wieder um alles selbst kümmern muss? Bringe mir den Maestro Kanaima her, aber schnell!“
Bevor der Diener aus dem Zimmer gehuscht kam, rückte Rothwal seine schwarze Kappe zurecht und machte sich aus dem Staub. Aufgebracht lief er die Treppe hinunter und rechts in die Flucht, die in den Westflügel des Palastes führte. In Gedanken stand er noch immer trotzig zu seiner Meinung, dass sinnloses Peitschen und Prügeln nicht der richtige Weg war, um das Problem mit den Wanderpredigern zu lösen. Dazu war es längst zu spät. Das Volk hatte die neuen Lehren, die durch diese selbsternannten Prediger verbreitet wurden, bereits angenommen. In den Provinzen Askhars begann allmählich die Ehrfurcht vor den alten Göttern zu bröckeln, die Tempel blieben immer öfter schlecht besucht, und der Opferdinhar blieb aus. Man huldigte jetzt anderen Götzenbildern. „Das Licht des Wahren Geistes“ nannten die Wanderprediger ihre Einladung an die Leute, an dem Erlebnis teilzunehmen, das sie schamlos auf offener Straße praktizierten. Rothwal hatte mehrere Männer verdeckt an solchen verbotenen Zusammenkünften teilnehmen lassen, um herauszufinden, was diese Prediger den Menschen versprachen. Es war denkbar schlicht: Sie sprachen von der Erlösung aus der Knechtschaft, der Befreiung von allen Fesseln, die das Reich jedem Menschen, vorweg aber den kleinen Bauern, Fronarbeitern und Leibeigenen anlegte. Und ein jeder könne diese Freiheit erlangen, wenn er „Das Licht des Wahren Geistes“ in sein Denken und sein Herz aufnehme. Auch stießen die Prediger in ihren weißen Roben, in denen sie leicht mit den Novizen des Orakels verwechselt werden konnten, Flüche und Verdammungen gegen Prinz Setna und dessen Sohn Santir aus. Ein weiteres Kind des Teufels sei gezeugt worden, um das Volk Askhar zu unterjochen und geradewegs in die Hölle zu führen, wo der Fürst der Finsternis nur darauf warte, all ihre Seelen zu fressen!
Der König hielt das Ganze scheinbar nur für ein vorübergehendes Kuriosum, denn er verurteilte das laute Klagen der mächtigen Priesterschaft des Gottvaters Hamuk’shenaz als das Jammern eines reichen Geizkragens, dem ein paar Dinhare gestohlen worden waren. Ihn interessierte die Ebbe in den tempeleigenen Opferstöcken nicht, und was hatte die Religion schon mit seinem Thron und seiner Herrschaftsgewalt zu tun? Auf den ersten Blick nichts, das war richtig, doch Katthike vergaß ganz ofensichtlich, dass auch die Religion ein machvolles Instrument war, mit dem man das Volk lenken konnte. Und dieses Instrumentes bedienten sich jetzt andere. Immer größer wurde überall im Reiche die Gemeinschaft der neuen Gläubigen und damit auch die Gefahr, dass die hohe Dienerschaft Hamuk’shenaz’ sich eines Tages vom König abwandte. Rothwal war überzeugt, dass hinter dieser ganzen Inszenierung eine List der Königsblut-Liga steckte, er konnte es nur nicht beweisen, da den Wanderpredigern bis heute keine Verbindung zu Königsblut nachgewiesen werden konnte. Einige hatten sie schon zu Tode gefoltert und in den Verliesen versauern lassen, aber sie hatten nichts als ihre scheinheilige Pflicht beteuert, ihren Glauben auf Geheiß des „Wahren Geistes“ in die Welt zu tragen. Zuerst hatte sich niemand darum geschert, was mit den Predigern geschah, wenn sie von den Soldaten von der Straße weggefangen wurden, doch dann war einer dieser schlauen Füchse gekommen und hatte sich und seine Glaubensbrüder zu Märtyrern erklärt. Und plötzlich war das Volk auf die Gefängnisse eingestürmt und drängte fortan auf die Freilassung der verfolgten, heiligen Wanderer. In vielen Städten der Provinzen hatte es immer wieder Aufstände gegeben, die von der Armee niedergekämpft worden waren. Unruhe hatte sich im Volke ausgebreitet, das sich in zwei Glaubenslager aufgespalten hatte. Und nun stand es vor den Toren des Palastes und rief laut nach Recht und Freiheit für die Brüder des „Wahren Geistes“!
‚Anstelle des Königs hätte ich diese Sekte gleich verbieten lassen’, dachte Rothwal. ‚Warum nur wollte Katthike nicht auf meinen Rat hören?’ Wütend schlug er mit der Faust gegen die Wand des Ganges, den er soeben wehenden Umhanges durchmaß. Seinem Cousin, General Kasai, hätte der König zweifellos mehr Gehör geschenkt, dessen war sich Rothwal gewiss, und es war ihm ein glühender Dorn im Fleische, dass es Maestro Kanaima womöglich gelingen könnte, mehr Gewicht in seine Ratschläge zu legen.
Der Konsultas riss die Tür zu seinem eigenen Arbeitszimmer auf, schlüpfte hindurch und warf sie laut hinter sich in den Rahmen. Er hatte darüber nachzugrübeln, wer hier im Palast nach dem Hinscheiden Latas das heimliche Zepter in der Hand hielt. Denn im hintersten Winkel seines Denkens versteckte sich die dunkle Ahnung, dass nicht er derjenige war, dessen Worte dem König die Feder führten, sondern ein anderer gewisser Meister seiner Kunst. Das zu hören, würde der Patriotischen Liga ganz und gar nicht gefallen. Das gefiel auch Rothwal keineswegs und er musste sich etwas einfallen lassen, um seine Ligagenossen zu besänftigen, denn mit dem Anwachsen der Macht Königsblutes kamen auch die Patrioten immer mehr in Zugzwang.
Was auf jeden Fall vermieden werden musste, war ein Krieg zwischen den zwei Ligen. Rothwal erlaubte sich einen tiefen Seufzer. Das Erbe des großen Konsultas Lata anzutreten, hatte er sich etwas leichter vorgestellt.
Kanaima verneigte sich vor dem König und blickte ihn in vollkommener Ruhe an. Katthike kochte, und Kanaima wusste auch, warum. Er hatte gehört, was draußen vor den Toren los war.
„Maestro, setzt Euch!“
Nur widerstrebend erfüllte Kanaima den Wunsch des Königs. In unerträglicher Nähe zu ihm zu sitzen, war ihm noch immer ein Graus. Er wartete, bis sein Gegenüber das Gespräch eröffnete.
„Maestro, Euch ist sicher zu Ohren gekommen, in welch ein Narrenhaus sich meine Stadt zu verwandeln droht. Nachdem sich zum unzähligsten Male neben dem Oberpriester des Palasttempels nun auch der höchste Würdenträger unseres Allvaters Hamuk’shenaz, Seine Exzellenz der Hohepriester von Haran-Renandi, bei mir Beschwerde vorgetragen hat, möchte ich nun Eure Meinung dazu hören.“ Katthike hob die Hände in auffordernder Geste gegen den Maestro und legte sie dann wieder auf die Tischplatte.
‚Sieh an, dir gehen wohl die guten Ratschläge aus, dass du ausgerechnet mich, den du monatelang verschmäht hast, hierher bestellst!’, dachte Kanaima und konnte nur mit Mühe verhindern, dass ein Schmunzeln seine Miene erhellte. Er hob zu sprechen an: „Ich teile die Ansicht des Konsultas Rothwal, der, wie ich mich zu entsinnen glaube, vor einigen Monaten vorgeschlagen hat, die Sekte zu verbieten und diese Predigerhunde allesamt als Volksverhetzer hinrichten zu lassen. Ein schnelles Handeln hätte der ganzen Sache damals einen sicheren Riegel vorgeschoben. Jetzt stellt sich das Ganze etwas schwieriger dar. Man müsste nahezu das halbe Volk einsperren, um es wieder zu bekehren, dafür aber haben unsere Gefängnisse keine Kapazitäten!“
Katthike biss und leckte sich abwechselnd auf der Unterlippe herum. Er ließ Kanaima die unangenehme Wahrheit aussprechen, die er so lange nicht hatte hören wollen.
„Ihr habt vollkommen Recht, Maestro“, sagte er schließlich, „das halbe Volk können wir nicht einsperren. Ich will aber auch nicht das Volk bekämpfen, sondern den Keim des Übels. Und ich will, dass Ihr diese Aufgabe für mich erledigt! Wir haben mit den Vorbereitungen des Feldzuges beileibe genug zu tun, und können momentan keinen Volksaufstand gebrauchen.“
„Ja, Majestät. Aber, wo vermutet Ihr diesen Keim?“, fragte Kanaima ungerührt.
„Habt Ihr eine Ahnung?“, gab der König zurück und sah ihn mit erwartungsvoll hochgezogenen Augenbrauen an.
„Die habe ich in der Tat.“ Auch Kanaima machte es spannend. Er musste jetzt gut nachdenken, bevor er den nächsten Schritt wagte. Der König wollte ihn prüfen, das war sicher. Er wollte ihn erneut auf seine Loyalität testen. Kanaima war von Karlis darauf vorbereitet worden, dass dies eines Tages geschehen könnte, und auch darauf, dass er, falls es nötig sein sollte, Opfer aus den eigenen Reihen zu bringen hatte. Jetzt musste er zeigen, wie gewissenhaft er seine eigene Sache vertrat. Es war eine Prüfung seines eigenen Glaubens an die Macht des Wandels.
„Nur raus damit.“ Katthike wedelte ungeduldig mit einer Hand in der Luft.
Kanaima sog Luft ein und wappnete sich.
„Es ist Königsblut!“, sagte er dann. „Die Liga hat allen Grund, Euch und den Patrioten das Wasser abzugraben. Sprich: die Unterstützung im Volk zu suchen.“
Das schlechte Gewissen überfiel ihn ganz plötzlich und unvermutet!
Mit einem Mal spürte Kanaima, dass er doch nicht so skrupellos war, wie er es sich immer gewünscht hatte. Er wusste, in diesem Moment hatte er seinen Onkel Karlis verraten und ans Messer geliefert!
Doch er musste aufrecht und stark bleiben, musste nach vorne sehen. Der König hätte es mit Sicherheit auch ohne ihn herausgefunden.
Katthike lächelte undurchsichtig.
Um sich über seinen sinkenden Mut zu helfen, sprach Kanaima weiter. Sein Herz zersprang beinahe vor Kummer. „Und Herzog Karlis-Renandi ist der Kopf der Schlange. Er hat Königsblut ins Leben gerufen, er ist der Vater aller Ideen.“
„Er ist Euer Oheim, Euer ehemaliger Mentor, wie denkt Ihr darüber, Maestro?“
„Wenn Ihr Karlis beseitigen lasst und dazu noch einige andere der wichtigsten Führer der Liga, werdet Ihr vorerst einmal Ruhe haben und Euch in Ruhe auf den Feldzug vorbereiten können. Königsblut wird sich zurückziehen und seine Wunden lecken. Es sind ihrer aber zu viele, als dass Ihr sie alle vernichten könntet. Das Netz ist einstweilen zu weit ausgedehnt und zu fein gewebt, um es vollständig und auf immer zerreißen zu können. Euch bleibt also nur ein Moment zum Atemholen, bis sich Königsblut wieder erholt hat. Zunächst einmal aber wird sich Verzagtheit in der Liga breit machen, wenn Ihr ihnen die obersten Anstifter nehmt und zeigt, dass ihr nicht davor zurückschreckt, auch hochrangige Persönlichkeiten Eurem Gericht zu unterwerfen!“
„Hm“, brummte Katthike nachdenklich. Diese Rede war scheinbar nicht das, was er erwartet hatte.
‚Was hast du gedacht? Dass ich mich dir offenbare? Du bleibst und bist ein Narr, Katthike!’, dachte Kanaima.
„Und wer sind die anderen Köpfe?“, fragte der König.
‚Jetzt gilt es. Für unsere Sache, Onkel Karlis!’, ermutigte sich der Jüngere und hasste seinen Vater in diesem Augenblick mehr als je zuvor.
Laut aber sagte er mit fester Stimme: „Herzog Mirkhan, Herzog Stanila, Hauptmann Talrek, der Magistrat von Kantaka-Stadt, ...“ Er zählte alle auf. Im Ganzen ein Dutzend Namen von Männern, treuen Bundesgenossen, deren Todesurteil er damit unterschrieb. Ihm wurde elend zu Mute, aber er ließ sich nichts anmerken. Immerhin blieb ihm erspart, seine Schwester Laika, Herzog Hana und General Bhuras zu nennen, denn sie hatten sich niemals offen zu Königsblut bekannt.
Katthike notierte sich jeden Namen säuberlich, und als Kanaima geendet hatte, legte er die Feder zur Seite und sah ihn an. Sein Blick verriet unverhohlenen Triumph, der sich tief in Kanaimas Brust bohrte.
„Morgen werden die Haftbefehle ausgestellt und jeweils eine Abteilung Soldaten zu den besagten Herren entsandt. Ich gehe davon aus, sie werden Ehrenmanns genug sein, sich ohne großes Aufheben in Verwahrung nehmen zu lassen und nicht etwa einen unrühmlichen Fluchtversuch wagen.“ Katthike sah Kanaima scharf in die Augen. „Ihr, Maestro, werdet beim Richterspruch die Anklagebank vertreten und im Nachfolgenden die Exekutionen protokollieren!“
„Es ist mir eine große Ehre, das Könighaus in dieser Angelegenheit zu vertreten, Majestät!“
„Nun denn, tut das Eure, um alles in die Wege zu leiten, während wir darauf warten, dass die Kollaborateure hier eintreffen. Ihr könnt jetzt gehen, ich habe noch zu tun.“
Kanaima verneigte sich und verließ das Arbeitszimmer. Sogleich brach im kalter Schweiß aus. Bemüht seine Haltung wahrend, stieg er die Treppe hinunter, und auch draußen auf dem Hof blieb seine Miene ausdruckslos. Ruhigen Schrittes passierte er das Innere Tor, bog nach links ab und überquerte den leeren Übungsplatz. Nach wenigen Atemzügen, mit denen er sich unter Kontrolle zu halten versuchte, betrat er endlich das Gebäude der Waffenakademie. Hier herrschte angenehme Kühle und ein tröstliches Dämmerlicht. In den unteren Räumen waren ein paar der anderen Gelehrten noch damit beschäftigt, ihr Lektionsmaterial zu sortieren. Kanaima grüßte sie knapp, stieg die Treppe empor, und jede Stufe war ihm dabei ein quälendes Beschwernis. Er ging bis zu dem kurzen Ende des Ganges und erreichte die Tür zu seinem Arbeitszimmer. Er schloss sie auf, trat ein, schloss sie wieder ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Seine Beine versagten ihm den Dienst, als er fast bei seinem Feldlager angekommen war. Den Rest des Weges kroch er auf allen vieren dorthin. Mit letzter Kraft hievte er sich hinauf, legte sich auf den Rücken und biss sich mit zusammengekniffenen Augen, aus denen die Tränen rannen, in seine Faust.
Die Gerichtsverhandlung, die zwei Wochen später abgehalten wurde, war ein brillantes Bühnenspiel wie alles, was der König zu seinem Nutzen inszenierte. Die zwölf Gefangenen wurden beschimpft und beleidigt. In Ketten standen sie der Reihe nach vor der Richterbank - am Ende der hagere, aber aufrechte Karlis-Renandi.
Es gab kleinen Zweifel an ihrer Schuld, die Kanaima als Ankläger in jeder Einzelheit vortrug. Mit unbewegten Mienen hörten die des Hochverrates Bezichtigten die Anklagerede an und blickten erhobenen Hauptes auf die Richterbank.
Kanaima fühlte ihre Unerschrockenheit und ihre Gewissheit, hier für die richtige Sache einzustehen und er beneidete sie um ihren unerschütterlichen Glauben. Er selbst befand sich am Rande seiner Beherrschung, und nur das Korsett seiner jahrelang eingeübten Routine stütze ihn. Doch er bewies seinem Onkel Karlis, dass er ein guter Schüler gewesen war und viel gelernt hatte. Es war eine letzte, für alle anderen unsichtbare Ehrerweisung an seinen ehemaligen väterlichen Mentor.
Karlis sah ihn nicht an und auch keiner der anderen. Kanaima wünschte sich, mit ihm noch einziges Mal unter vier Augen sprechen zu können, doch das war unmöglich! Jeder seiner Schritte wurde in diesen Tagen von mehr als nur einem Spion überwacht. Er hoffte, dass das, was er getan hatte, richtig war, und sie ihm vergeben würden.
Seine Rede endete, und da es keinen Verteidiger gab, wurde gleich zur Formulierung und Niederschrift des Urteiles geschritten. Nur die leise tuschelnde Stimme des Obersten Richters, der sich zu Katthike herüber gebeugt hatte und eine Hand zum Sprechen an den Mund hielt, und die gemurmelte Antwort des Königs waren zu vernehmen.
Kanaima wartete. Das bleischwere Gewicht aus Schuldgefühlen, das auf seine Brust drückte, wurde immer unerträglicher.
Schließlich kratzte die Feder des Richters auf einem Stück Pergament, und nach dem König, wurde auch Kanaima dazu aufgefordert, sein Siegel unter das Geschriebene zu setzen. Das rote Wachs tropfte heiß auf das Pergament, und Kanaima presste den Kopf seines Karneolringes darauf. Sein Wappen, das zu einer Hälfte aus der geflügelten Schlange des askharischen Königshauses bestand und zur anderen aus den drei gekreuzten Pfeilen, dem Symbol der Akademie der Kriegskunst in Borgossa, blieb gut sichtbar zurück.
Dann trat er an sein Pult, und der Gerichtsdiener verlas in vollem Brustton das Urteil, während die Anwesenden gespannt lauschten.
„Seine Majestät, der König, lässt verkünden, dass die zwölf hier vor uns stehenden Schädlinge und Aufrührer unverzüglich durch die Enthauptung mit dem Richtschwerte zu beseitigen sind. Es wird ihnen jedoch ein Tag Aufschub gewährt, an dem es ihnen gestattet sein wird, den Tempel des Hamuk’shenaz’ aufzusuchen, um für die Läuterung ihrer Seelen zu bitten. Hernach dürfen sie vor den König treten und ihm erneut ihre Treue schwören. Sollten sie dies jedoch verweigern, werden sie nicht enthauptet, sondern stattdessen als Verräter gehängt und anschließend gevierteilt, und ihre Köpfe auf den Toren zu Askhari-Kaise ausgestellt. Dies wurde geschrieben am fünften Tage des Skorpionmondes im neunundzwanzigsten Jahre der Regentschaft Seiner glanzvollen Erhabenheit, König Katthike von Askhar. Das Urteil wurde gesiegelt durch den Obersten Richter des Königlichen Rates, den Vertreter der Anklage, Maestro Kanaima, und Seine Majestät, Katthike Buthwal-Renandi, persönlich. Hiermit ist das Gericht geschlossen!“
Die Stille, die eben noch geherrscht hatte, wurde durch ein vielstimmiges Gemurmel durchbrochen. Die Zuschauer tauschten sich fachkundig über den Hergang der Verhandlung aus, und dass gutes Recht gesprochen worden war. Bis auf Bhuras waren nur Anhänger der Patriotischen Liga anwesend.
Kanaima warf einen kurzen Blick hinüber in das Gesicht des Generals, das ebenso wie das seine nicht verriet, wie düster seine Laune war.
Höchst zufrieden mit diesem Urteil zeigten sich hingegen die Gesichter des Königs und des Konsultas Rothwals. Sie erhoben sich von ihrer Empore und verließen den Raum.
Still räumte Kanaima seine Papiere zusammen, während die Gefangenen abgeführt wurden. Ein Genosse nach dem anderen ging an ihm vorbei, doch er wagte es nicht, auch nur einen von ihnen anzusehen. Auch seinen Onkel nicht, als er dessen Blick auf sich gerichtet fühlte. Die Ketten um die Füße und Handgelenke der Männer klirrten und schabten über den Boden, und er Geruch des Verlieses drang ihm in die Nase. Er verursachte ihm Übelkeit und plötzlich schwindelte ihm. Unbemerkt hielt er sich am Pult des Anklägers fest. Unter seinem Blick verschwammen die Papiere, und mit einem Mal sah er Blut aus seiner Handschrift dringen. Es zerlief auf dem Papier, rot wie das flüssige Siegelwachs, und löschte die Namen der zwölf zum Tode Verurteilten aus! Immer weiter quoll das Blut hervor, bis das ganze Pult ein besudelter Henkklotz war. Wie ein Betrunkener beschaute Kanaima seine Hände, auch sie waren behaftet mit dem unheilvollen Mal des Todes und der Schuld. Ja, er war schuld, dass zwölf gute Männer sterben mussten! Das Bild vor seinen Augen verschwamm erneut, und er blinzelte. Dann war wieder alles klar, der Blutstrom war verschwunden, und die Papiere leuchteten mit unschuldiger Akkuratesse. Kanaima nahm sie auf, klemmte sie sich unter den Arm und schritt langsam aus dem Thronsaal hinaus, der für diesen Anlass zur Gerichtsstätte umgebaut worden war.
Der Tag der Hinrichtungen war ein sehr heißer und trockener Sommertag, und die Sonne blendete die Zuschauer auf der Tribüne, die auf dem größten der Marktplätze Askhari-Kaises errichtet worden war. Ihre grellen Strahlen fingen sich in den glänzend polierten Harnischen der rings um den Platz aufgestellten Leibgarde.
In der Mitte des aus Lehm gestampften und von Häusern umstandenen Geviertes, auf dem sonst an Markttagen allerlei Waren feilgeboten wurden, stand jetzt ein Schafott. Aber nicht mit einem Henkklotz darauf, sondern einem Galgen. Drohend ragten die mit Teer bestrichenen Balken auf.
Alle zwölf Verurteilten hatten sich geweigert, dem König ihre Treue zu schwören und die lächerlich wichtigtuerischen Priester um Seelenheil anzuflehen. Sie wollten auch im letzten Moment ihre Sache nicht verraten.
Kanaima war bleich, war es seit dem Morgen schon gewesen. Angespannt stand er neben seinem Schreibtisch, auf dem ein Tintenfass mit Feder und zwölf Pergamentrollen lagen, für jeden der Verräter eine.
Jetzt um die Mittagszeit waren endlich alle versammelt, und die Exekutionen konnten beginnen. Der Maestro blickte in die Runde der sensationslüsternen Gaffer, ein buntgemischter Mob aus Stadtbevölkerung und Palastbewohnern.
Tief holte er Luft.
In seiner feinen, schwarzen Kleidung fühlte er sich wie einer der aufragenden Galgenbäume. Nur, dass er ein wenig wankte.
Mit einem ebenfalls schwarzen Tuch strich er sich den Schweiß von der Stirn, der ihm aus den Poren drang, obwohl er unter einem Sonnensegel aus heller Leinwand stand. Er blickte zu der königlichen Loge und wartete auf ein Zeichen Katthikes. Er war froh, dass Setna und Isabylla nicht anwesend waren, aus verschiedenerlei Gründen natürlich.
Kanaima spürte den Schweiß erneut laufen, seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Er hatte das Protokoll zu führen. Das hieß, bis zum letzten Atemzug und bis zum letzten Blutstropfen hier ausharren und säuberlich notieren zu müssen, wie ein jeder Verurteilter seinen Weg in die Verdammnis antrat.
Es würde ein langer Tag werden.
Ein langer Tag angefüllt mit hitzigen Schmähungen, nach Blut geifernden Männern und Frauen und unmenschlichen Gräueltaten, die an so manch stiller Ecke mit betroffenem Schweigen beantwortet werden würden. Denn auch viele Anhänger Königsblutes waren unter den Leuten im Publikum. Sie alle wollten Zeugen der Entschlossenheit und des Mutes ihrer Anführer sein und für sie beten, ihnen ihr letztes ehrenvolles Geleit geben.
Hoch oben in seiner Loge hob der König die Hand. Ein Herold trat auf das Schafott und verlas eine Verordnung, die sowohl dem Volke als auch dem Adel galt. Sie besagte, dass alle, die es wagen sollten, sich künftig gleicher Machenschaften wie der hier Verurteilten schuldig zu machen, gleichfalls mit dem Tode bestraft würden. Und dass sämtliche Wanderprediger der Sekte „Das Licht des Wahren Geistes“ ins Verließ gesperrt würden, falls sie weiterhin auf offener Straße ihre lästerlichen und das Königshaus verachtenden Lehren verbreiteten. Jegliche Praktizierung dieses falschen Verführerglaubens sei vom heutigen Tage an verboten!
Der Herold rollte das Pergament zusammen und trat zurück. Staubkörnchen tanzten lautlos in der stickigen Luft. Alle Augen waren gespannt auf den König gerichtet, der erneut seine Hand hob. Dumpfes Trommelschlagen ertönte daraufhin, und der erste Delinquent wurde durch den Ring der Leibgarde auf den Platz gebracht.
Unmittelbar schrie die Menge auf und bewarf den Gefesselten mit Flüchen und faulem Unrat. Einmütig schritt der Verurteilte geführt von einem der Kerkermeister zum Schafott, stieg die paar Stufen hinauf und hielt vor der baumelnden Schlinge.
Sein Blick war starr, wirkte vollkommen nach innen gerichtet. Deshalb schien er auch nicht die vier schweren Arbeitspferde im Geschirr zu bemerken, die vor dem Schafott zu seinen Füßen für das bereitstanden, was nach dem Hängen kommen sollte.
Kanaima beobachtete und schrieb, er hatte an dem Tisch Platz genommen, und ein Diener schenkte ihm Wasser in einen Becher.
Die Trommeln verstummten, und der Herold trat zu dem Verurteilten.
„Hauptmann Talrek, bereue und knie nieder vor deinem König, der dir die Gnade gewährt, durch das Schwert gerichtet zu werden, oder stirb den unehrenhaften Tod eines Verräters!“, schmetterte er im Namen des Königs und blickte den Hauptmann aufmerksam an.
Zuerst schien es, als habe Talrek die Aufforderung des Herolds nicht vernommen, denn er blieb ungerührt stehen. Doch plötzlich streckte er seine Brust vor, riss den Mund auf und rief aus voller Kehle zu den Dächern der umstehenden Häusern hinauf: „Ich - bereue - nichts! Lieber sterbe ich als Verräter, als der Brut des Teufels die Füße zu küssen!“
Einige Tauben flatterten auf, und ein aufgebrachtes Raunen ging durch die Menge.
Ein Wink aus der königlichen Loge brachte die Henker in Bewegung. Sie stießen Hauptmann Talrek einen Schritt vor, legten ihm die Schlinge um den Hals und gaben den acht Männern, die seitlich des Schafotts standen, den Befehl zum Ziehen. Sie legten sich das Seil über die Schulter, und der Erste rief laut: „Holt an!“
Das Seil spannte sich, und dann hoben Hauptmann Talreks Füße von den Brettern des Schafotts ab. Jeder konnte sehen, dass er auch jetzt noch um Haltung bemüht war, doch die ausbleibende Luft und der erbarmungslos würgende Zug um seinen Nacken ließen sein Gesicht zuerst rot und dann blau anlaufen. Seine gefletschten Zähne blinkten weithin sichtbar, und jede Ader an seinem Kopf schien platzen zu wollen.
Kanaima verfolgte das Geschehen und protokollierte.
Ein gurgelndes Geräusch ertönte, und ein Zucken ging durch den am Strick baumelnden Körper. Als sich aber die Augen des Hauptmanns gen Himmel drehten, ließen die acht Zugbullen ihn schnell wieder herunter, und ein Henker entfernte die Schlinge von dessen Hals. Der verruchte Übeltäter sollte ja nicht schon gleich am Galgen sterben!
Von den Henkern wurde der halb Besinnungslose vom Schafott zu den wartenden Pferden gezerrt, seine nackten Füße schleiften dabei durch den Staub.
Sie legten ihn auf den Rücken und banden starke Hanfseile um seine Handgelenke und Knöchel, die dann wiederum am Ortscheit eines jeden Pferdegeschirrs befestigt wurden. Ein Diener brachte einen Eimer Wasser und schüttete ihn dem Hauptmann ins Gesicht, so dass dieser wieder zu Bewusstsein kam.
Prustend holte Talrek Luft, wand den gequetschten Hals, der das rote Mal des Verrats trug, und sah sich suchend um. Als er erkannte, wo er war, biss er seine Kiefer aufeinander und presste hörbar Luft durch die Nase heraus. Sein Brustkorb hob und senkte sich rasch.
Mittlerweile waren die Treiber mit ihren Pferden bereit, und erwartungsvolle Stille senkte sich über den Platz.
Kanaima registrierte, dass irgendwo ein Säugling schrie, und er musste sich zwingen, seine Aufmerksamkeit wieder auf die Hinrichtung zu lenken.
Der Diener mit dem leeren Eimer trat zurück, der oberste der Henkersmeister hob eine Hand, und sofort knallten die vier Peitschen der vier Pferdetreiber.
Talreks Körper hob sich und schwebte in der Luft, alle viere weit von sich gestreckt. Zuerst geschah nichts, nur die Pferde stemmten sich mit aller Kraft in den Staub. Die Peitschen knallten, und die Rufe der Treiber ertönten.
Doch kurz darauf begann der Hauptmann zu schreien, erst verhalten, dann immer lauter, bis es ein markdurchdringendes Brüllen war. Kanaima hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, stattdessen umklammerten seine Finger die Schreibfeder und hätten sie beinahe zerdrückt, wenn nicht das Geschrei abrupt ein Ende gefunden hätte.
Ein eigentümliches Schnappen war zu vernehmen und ein grässliches Reißen.
Eines der Pferde spürte, dass es keinen Widerstand mehr hatte und lief mit ein paar befreiten Galoppsprüngen über den Platz, eine blutige Spur hinter sich herziehend. Der Treiber fing das Tier wieder ein und schnitt den abgetrennten Arm Talreks vom Ortscheit. Unbeachtet blieb er im Staub liegen.
Der Verurteilte war indes wieder bewusstlos geworden, und sein Kopf pendelte schlaff im Nacken. Blut strömte pulsierend aus der Wunde an der rechten Schulter, aus der der weiße Knorpel des Gelenks hervor ragte.
Kanaima schrieb, und einige Zuschauer wendeten sich bleich ab. Die Stille wurde unerträglich, keiner fluchte oder schrie mehr, auch der Säugling nicht.
Als der zweite Arm ausriss, war Talrek tot.
Die Treiber brachten ihre Pferde zum Stehen, und nachdem die Henker an der Brust des Hauptmannes nach dem Herzen gehorcht hatten, schlugen sie ihm mit einem länglichen Beil das Haupt vom Halse. Ein Spieß wurde herbeigetragen, vor dem Schafott in eine zuvor gebohrte Mulde gesetzt, und der Kopf darauf gepflanzt. Für alle als Warnung geltend, stand diese erste schreckliche Trophäe des Königs im hellen Sonnenschein, während die Henker den arm- und kopflosen Körper an den Füßen zum Rand des Platzes schleiften, wo er mit dem Halsstumpf gegen die Zuschauer gerichtet, liegen blieb. Einige, die dort in der Nähe standen, verschwanden schnell mit einer Hand vor den Mund gepresst in der Menge.
Kanaima untersiegelte das beendete Protokoll der ersten Hinrichtung und legte es zur Seite. Seine Miene verriet nichts über sein sich drehendes und schwankendes Inneres. Er wusste nicht, wie er den Tag überstehen sollte, ohne sich selbst übergeben zu müssen!
Dies alles mit anzusehen, verursachte ihm nicht nur körperlich Übelkeit, auch seine Seele krampfte sich immer wieder zusammen, als sei sie krank von all der Bösartigkeit, die sich hier im Denken und Tun der Menschen offenbarte.
Was würde er wohl erst empfinden, wenn Onkel Karlis als Letzter dort auf dem Schafott stand, und sein verstümmelter Körper hernach würdelos durch den Staub geschleift wurde?
Kanaima versuchte, sich zu beruhigen, indem er das Wasser aus dem bereitgestellten Becher trank. Es war warm und beschwor ein gefährliches Rumoren in seinem Magen herauf. Schnell stellte er den Becher wieder zurück und legte sich die Hand auf den Leib. Da er ahnte, dass er vom König sehr genau beobachtet wurde, mäßigte er sein Gebaren rasch wieder. Sein Rücken straffte sich, und seine Hand griff wieder nach der Feder.
Die nächsten Vollstreckungen verfolgte er durch einen dickflüssigen Nebel aus Übelkeit und hilflosem Zorn, mit denen er um seine Beherrschung kämpfte. Aber immer mehr gewann der Nebel die Vorherrschaft, und bald schien es, als schöbe sich eine große, dunkle Wolke vor die Sonne und schlucke sämtliche Farben. Die Blutlachen im Staub des Platzes wurden schwarz und die Wimpel des Königshauses grau. Die Gesichter der Menschen wirkten fahl und fern. Auch die Schreie der Sterbenden drangen nur noch dumpf in sein Bewusstsein. Weder nahm er den ekelerregenden Geruch des Blutes wahr, der zu ihm herüber wehte, noch das Summen der dicken, schwarzen Fliegen an den aufgespießten Köpfen, deren Reihe vor dem Schafott immer länger wurde.
Wie von selbst kratzte die Feder über das Pergament und formte nüchterne Worte. Wie von selbst schien der Haufen aus verstümmelten Leibern am Rand des Richtplatzes anzuwachsen, und wie von selbst siegelte Kanaimas Ring die Niederschriften und das Ende des Lebens eines weiteren Menschen.
Erst als er den letzten Protokollbogen vor sich liegen hatte, erkannte er, dass es schon Abend war, und Onkel Karlis jetzt seinen Weg zum Schafott antreten würde. Die Sonne war ein beträchtliches Stück gewandert und stand jetzt knapp über den Dächern der Westseite des Platzes. Ihr Licht tauchte die Menschen und den Ort dieser grauenvollen Tragödie in einen goldenen Schimmer.
Viele der Leute hatten den besudelten Schauplatz bereits verlassen, ihr Blutdurst war mehr als ausreichend befriedigt worden. Nur noch ein paar hartnäckige Anhänger beider Ligen hielten noch aus. Die einen, weil sie sehen wollten, wie endlich der Anführer der schmutzigen Verbrecherbande in Schmach und Schande fiel, und die anderen, um seinen Tod zu würdigen.
Die Trommeln ertönten.
Gleichmütig ging Karlis geführt durch den Kerkermeister zum Schafott und stieg die Stufen hinauf. Der Herold stellte auch ihm die eine Frage, und Kanaima war es, als höre er sie zum ersten Mal. Um sich gegen das Unabwendbare zu wappnen, das gleich vollzogen werden würde, zogen sich alle seine Sinne zu einem kleinen festen Ball zusammen.
Erhobenen Hauptes stand Karlis da und sah in die Runde. Die ihm angebotene „Gnade“ des Königs lehnte er ab, indem er vor sich auf die Bretter des Schafotts spie. Es war eine simple und unmissverständliche Geste.
Kanaima wagte es, seinen Kopf ein wenig in Richtung der königlichen Loge zu wenden, und konnte sehen, wie sich das Gesicht Katthikes vor Wut verzerrter ob dieser letzten Beleidigung seines aufrührerischen Cousins. Dann aber teilte Genugtuung seine Lippen zu einem siegessicheren Grinsen. Karlis-Renandi hatte keine Kinder, und seine Linie würde in wenigen Augenblicken hier an diesem Ort erlöschen!
Seine Hand fuhr durch die Luft, und der oberste Henkersmeister legte dem Cousin des Königs die Schlinge um den Hals. Doch als die acht Zugbullen loslegen wollten, geschah etwas Unerwartetes.
Weißer Schaum trat aus dem Munde Karlis’, und seine Augen verdrehten sich. Kurz darauf erschlaffte sein hagerer Körper, und er hing leblos am Seil.
Die acht Männer ließen den Hanfstrick los, und Karlis sank zu Boden. Der Henker beugte sich über ihn.
Kanaima beobachtete, dass Katthike aufgestanden war und ungläubig hinunter zum Schafott starrte. Der Henker richtete sich auf und schüttelte den verhüllten Kopf. Wütend schlug der König mit der Faust auf die Balustrade und holperte danach die Treppe der Tribüne hinunter. Er musste es offenbar mit eigenen Augen sehen.
Den Blutlachen ausweichend humpelte er über den Richtplatz und erklomm das Gerüst mit dem Galgen.
Kanaima verfolgte alles von seinem Tisch aus. Der kleine Ball in seinem Innern entspannte sich allmählich, und auch seine Züge glätteten sich wieder.
Jemand hatte Karlis heimlich Gift gegeben! Damit hatte er den alten Herzog vor der Schande des Verrätertodes bewahrt. Und dem Maestro kam dabei eine Vermutung, nur einer hatte zu den Gefangenen gehen können, ohne dass es verdächtig erschienen wäre. General Bhuras!
Kanaima spürte Dank aber auch Trauer und Erleichterung. Sie hatten es überstanden! Die Sache, für die Karlis als mutiges Beispiel sein Leben gelassen hatte, hatte es überstanden!
Es sah, wie der König auf ihn zugehinkt kam, und erhob sich schnell. Als Katthike vor seinem Tisch Stellung bezog, verneigte sich der Maestro und händigte dem finster dreinblickenden König die Protokolle aus. Der aber sah nicht auf die Pergamentrollen, sondern unterzog sein jüngeres Gegenüber einer langen, prüfenden Betrachtung, der Kanaima ohne weiteres standhielt. Dann nickte der Ältere knapp und begab sich eilig in seine Sänfte, die ihn durch die Straßen Askhari-Kaises zum Palast bringen sollte.
Kanaima atmete scharf ein. Wegen dieses einen kurzen Nickens hatte das alles geschehen müssen, was er heute so fein säuberlich zu Protokoll gegeben hatte! Wegen dieser winzigen Bewegung hatte er elf Männer und seinen Oheim opfern müssen, nur, damit er, Kanaima, wieder über jeden Zweifel erhaben war!
Er blickte der Sänfte des Königs nach, seine Gedanken noch immer bei dem drückenden Verlust seines Onkels, dessen Kopf inzwischen das Ende der Spießreihe zierte. Bis morgen früh würde er hier mit den anderen stehen und dann in einer Prozession sternförmig zu den Stadttoren getragen werden, wo sie ausgestellt würden, bis die Schädel bleich im Wind klapperten.
Der Maestro ließ sich sein Pferd bringen. Im Schritt ritt er auf der Hauptstraße dem Palast entgegen, der sich als schwarze Silhouette vor dem roten Schimmer der Abenddämmerung am Himmel erhob.
Unsichere Zeiten standen ihnen bevor, und für Königsblut würde es schwerer sein als zuvor, mit Gleichgesinnten in Kontakt zu treten. Kanaima lenkte seinen Blick vom Palast auf die abendlich gefüllte Straße vor sich. Sein Herz schlug ruhig und langsam, sein Hass aber kochte heißer und giftiger denn je, wie auch seine Entschlossenheit eine bittere Güte angenommen hatte.
Die Sonne brannte glühend über der sich endlos erstreckenden, felsigen Einöde, in der es nicht das geringste Fleckchen Grün zu entdecken gab. Die Luft flimmerte und machte das Atmen schwer. Immer wieder fegten heiße Windböen den Staub zwischen dem Geröll auf, und es war, als esse man den Sand dieses Landes. Immerzu knirschte er zwischen den Zähnen oder rieb rau in Kehle und Augen.
Mühsam kämpfte sich der einsame Reiter durch das zerklüftete, sandfarbene Tal - ein winziger schwarzer Punkt, der sich durch die menschenleere Steinwüste bewegte.
Wieder stob Sand auf und in die Augen von Mensch und Tier.
Raen hielt sein Pferd an und rieb sich die gereizten Lider. Das Salz seiner Tränen brannte auf seiner von der Sonne geröteten Haut. Er hätte es so machen sollen wie die Einheimischen und sich den Kopf in Tücher wickeln sollen. Er nahm sich vor, das zu tun, wenn er die nächste Oase erreichte. Bis dahin warf er sich sein weißes Untergewand über den bloßen Scheitel. Den Helm hatte er bei dieser unmenschlichen schon längst in einem der Tuchbeutel verstaut, die an den Satteltaschen baumelten.
Der Rappe unter ihm schüttelte heftig den Kopf. Die Sonnenglut quälte auch ihn, und Raen spürte, wie durstig das Tier war. Er warf einen Blick in den hellblauen Himmel und dann auf das schmale Tal, das sich vor ihm in der trockenen Felslandschaft auftat. Am Ende des Tales sollte die Oase Marakhut liegen, so hatte man es ihm zumindest beschrieben, und Raen hoffte, dass es sich auch so verhielt, denn sein Wasservorrat ging allmählich zur Neige.
Er gab Rekori den Befehl, weiterzugehen, und träge setzte der Hengst sich wieder in Bewegung. Während die Geröllfächer und Felshänge zu beiden Seiten des Tales an ihm vorbeizogen, erinnerte er sich an seine Ankunft in diesem Land. Heilfroh war er gewesen, als er das Schiff endlich verlassen konnte, nachdem er sich auf der neun Tage dauernden Überfahrt nach Port L’Haoud die Seele aus dem Leib gekotzt hatte. In der Hafenstadt, die von den Ohaoudis nach der Besetzung Lavantinas umbenannt worden war, war sein erstes Ziel eine Herberge gewesen, in der er den durch die Seekrankheit verursachten Schlafmangel ausgleichen konnte. Ganze zwei Tage blieb er im Bett und schlief.
Am dritten Tage erwachte er ausgeruht und voller Tatendrang. Gestärkt mit einem Morgenmahl aus kaltem Weizengrieß und Gemüse begab er sich in die belebten Gassen der fremdartigen Stadt.
Die meisten Gebäude waren weiß gekalkt oder zumindest mit hellem Lehm verputzt. Sie hatten flache Dächer mit einer ummauerten Terrasse obenauf. Die Häuser waren kaum mehr als drei Stockwerke hoch und würfelförmig angeordnet. Ihre Fenster waren kleine senkrechte Schlitze, die die Hitze des Tages draußen ließen, und die Türen liefen über dem Kopf in einem wunderlich hufeisenförmigen Bogen zu. Viele Eingänge waren verziert mit kunstvollen Mosaiken aus farbigen Kacheln oder filigranen, in einen herrlich weißen Stein eingemeißelten Ornamenten. Immer wiederkehrend war dabei das sternförmige Motiv aus zwei ineinander verschlungenen Vierecken. Das Symbol befand sich sogar riesenhaft in blauer Farbe aufgemalt auf dem runden, vergoldeten Kuppeldach eines Gottesheimes, dessen Grundriss ebenfalls wie dieser achtzackige Stern angelegt war.
Raen wandte sich mal hierhin und mal dorthin und staunte über diese vollkommen neue Welt, die er betreten hatte. Er betrachtete sich auch die Menschen, die hier kleiner waren als er und lange wallende Gewänder aus hellem Stoff trugen. Viele hatten gewundene Turbane oder weite Kapuzen auf dem Haupt und Sandalen an ihren nackten Füßen, die mit dem Staub der Straße bedeckt waren. Und auch, wenn die Haut der Lavantinen nicht so dunkel gefärbt war wie die der Ohaoudis, so war sie dennoch tiefgebräunt von der gnadenlosen Kraft der Sonne. Ihre Gesichter waren schmaler geschnitten, ihre Nasen scharfkantig und die Haare zwar schwarz aber glatt. Der Volksstamm der Lavantinen schien ganz offenbar andere Wurzeln zu haben als der jener hochgewachsenen, kraushaarigen Besatzer, die aus der betriebsamen Menge von Menschen und Tieren in den Straßen herausstachen wie Fahnenstangen.
Den ganzen Tag verbrachte Raen damit, durch die Gassen zu wandern, und als sich die Nacht kühl über die Stadt senkte, begab er sich zurück zu seiner Unterkunft am Hafen. Die Lichter der Häuser und Schiffe spiegelten sich auf der Wasseroberfläche des Hafenbeckens, und Musik drang aus den offenen Türen der Gasthäuser. Sie klang fremd, aber einladend, und Raen entschied sich, in einer der Schänken nach den Informationen zu fragen, die er brauchte. Er musste sich auch nicht lange umhorchen, denn in dieser Stadt wimmelte es von Handelsleuten, die aus Borgossa oder Graçe stammten und somit auch Graçenisch sprachen. Er erkundigte sich bei einem dicken Handelsfahrer mit wallendem Bart nach dem Weg nach Reschent. Der Kerl sah ihn einmal von unten bis oben an, gab ihm dann aber bereitwillig die Auskunft. Vier Tage seien es von hier nach Osten bis zur Oase Marakhut mit dem Pferd und bestimmt zwei Wochen von dort aus mit dem Kamel bis zum Wasbeni, einem der beiden großen Ströme, die dort die Wüste in etwas fruchtbarere Gefilde verwandeln. Die Hauptstadt Reschent erreiche man dann entweder mit einer der Fähren flussabwärts in drei Tagen oder mit dem Pferd oder Kamel in sechs Tagen.
Raen bedankte sich und beschloss, gleich am nächsten Tag den Proviant für die Reise zu beschaffen und am Tag darauf aufzubrechen. Nicht, dass er es besonders eilig hatte, aber er wollte Prinzessin Keï so schnell wie möglich wiedersehen.
Und nun war er hier und quälte sich durch das staubige Tal, an dessen Ende er die Oase erhoffte. Es war schon der fünfte Tag und er bereute es, nicht mehr Wasser und ein Lasttier mitgenommen zu haben. Etwas blauäugig war er an die ganze Sache herangegangen und hatte gedacht, all seine Reiserfahrungen auch hier geltend machen zu können.
Er lachte trocken über seinen eigenen Unverstand, und Rekori ließ bei dem Laut die Ohren kreisen.
„Wahrscheinlich haben wir uns längst verirrt. Keine Menschenseele ist zu sehen!“ Er fand das mit Recht merkwürdig, da dies angeblich ein von vielen Karawanen genutzter Weg sein sollte.
Am Anfang waren ihm hinter Port L’Haoud noch viele Handelsfahrer mit ihren Kamelzügen begegnet, ab dem dritten Tage aber niemand mehr.
„Falls wir die Oase erreichen, müssen wir unser Vorgehen wohl noch einmal gründlich überdenken. Ich fürchte, unsere Reise gestaltet sich anders, als wir uns das vorgestellt haben.“ Als Antwort schnaubte sich der Hengst den Staub aus den Nüstern.
Raen ritt noch eine weitere gefühlte Stunde und nichts veränderte sich, das Tal war immer noch schmal und flankiert von steilen Felsen. Nur die Sonne wanderte langsam in seinem Rücken. Die Schatten wurden länger, und über einem Bergkamm kreisten einige Geier. Wahrscheinlich war dort oben ein Tier verendet.
Raen gönnte sich einen Schluck aus seinem Wassersack und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Seine Augen suchten den Verlauf des Tales ab. Der Weg schlängelte sich am Grund einer Schlucht, die bei Regenzeit bestimmt von einem Fluss ausgefüllt wurde, und schien weiter vorn bergab zu gehen. Raen trieb Rekori an. Lustlos setzte der Hengst einen Huf vor den anderen.
Als die Kraft der Sonne endlich nachließ, und ihr Licht die Felsenlandschaft in flüssige Bronze tauchte, begann das Tal, sich allmählich zu öffnen. Immer steiler ging es jetzt begab, und die Steilhänge wichen zurück, und plötzlich tat sich vor Raen ein atemberaubender Ausblick auf.
Er zügelte Rekori und sah hinunter auf die sandgefüllte Ebene, die sich vom Gebirgszug in seinem Rücken bis in die Unendlichkeit zu erstrecken schien. Das Muster von Licht und Schatten auf den Graten der mächtigen, rot angestrahlten Dünen verwandelten die Ebene vor ihm in ein gewaltiges erstarrtes Meer aus Sand und Steinen!
Bis an den östlichen Horizont, an dem bereits dunkelblau die Nacht aufstieg, wanden sich die sanften Wellen der Sandberge - eine fesselnde Wohlgefälligkeit für das Auge des Betrachters.
Raen stieß einen ehrfürchtigen Pfiff aus. Er sah ein, dass es unmöglich war, von diesem Punkt aus weiter allein durch das fremde Land weiterzureisen. Hrauna war hier eine ganz andere, und er musste akzeptieren, dass er sie nicht kannte.
Sein Blick blieb an dem grünen Fleck zu Füßen des Gebirges hängen, in dessen Geröllfächer das Tal auslief, das er durchwandert hatte. Dort unten lag die Oase, direkt am Rand der Sandwüste. Sie war recht groß, ausgedehnte Palmenhaine umschlossen eine aus Lehmhäusern erbaute Siedlung, durch die mehrere Straßen führten. Lichter waren in den Häusern angezündet, und hier und da brannten Lagerfeuer zwischen den Palmen. Raen erkannte unter den Palmenwedeln eine große Anzahl an Zelten. Dort lagerten die Karawanen. Einer von ihnen würde er sich wohl oder übel anschließen müssen, wenn er je durch diese lebensfeindliche Ödnis zu kommen gedachte!
Da das Licht schnell schwand, beeilte sich Raen, die ausgetretenen Serpentinen auf dem Geröllfächer hinter sich zu bringen, und ehe die Nacht sich vollkommen über den Himmel spannte, gelangte er in die Siedlung der Oase Marakhut.
Am erstbesten Brunnen ließ er Rekori saufen und nahm selbst auch ein paar Schlucke des erfrischend kalten Wassers. Dann stieg er wieder auf und lenkte sein Pferd auf die Häuser zu. Er bog in die größte Straße ein und hielt Ausschau nach einer geeigneten Herberge. Es schien genügend Auswahl zu bestehen.
Neugierig betrachteten die Oasenbewohner und die anderen Reisenden den äußerst fremden Reiter. So jemanden hatten sie hier noch nicht gesehen. Sie saßen draußen vor den Häusern an niedrigen Tischen auf großen Kissen und unterhielten sich in ihrer unverständlichen Sprache. Dabei tranken sie Tee aus kleinen Gläsern und aßen mit den Fingern gemeinsam aus einer großen Schale, von der ein würziger Duft aufstieg.
Raen bemerkte, wie ausgehungert er war, hielt vor der nächstbesten Herberge, grüßte die interessiert zu ihm aufschauenden Lavantinen und Ohaoudis und betrat die Schenke. Innen beleuchteten Laternen aus gefärbtem Glas den Schankraum und vermittelten eine gemütliche Atmosphäre. Hier drinnen war nicht so viel los, da die meisten Leute offenbar die kühle Luft der Nacht bevorzugten. Raen steuerte zwischen den Tischen hindurch auf eine offene Feuerstelle an der Rückwand des Raumes zu, wo unter Aufsicht des Wirtes ein Hammel am Spieß briet. Raen lief das Wasser im Munde zusammen.
„Kann ich etwas zu essen bekommen?“, fragte er auf Graçenisch.
Der Wirt sah von seiner schweißtreibenden Arbeit auf. Aber er schien nicht verstanden zu haben, denn er hob eine Hand und zuckte mit den Achseln.
„Ich, Essen!“ Raen zeigte auf den knusprig braunen Hammel und führte die Hand dann zum Mund.
Der Wirt hob die Brauen und sagte: „Ah.“ Dann schnitt er mit einer gekonnten Bewegung ein großes Stück aus der Hinterkeule des Bratens und legte es auf einen glasierten Tonteller. Eine beleibte Frau kam herbei und füllte etwas aus einem großen Kessel dazu, das nach dem ihm bereits bekannten Weizengrieß aussah, und einige Löffel gekochtes, scharf riechendes Gemüse. Sie hielt zwei Finger in die Höhe.
Raen begriff, gab ihr zwei Kupferstücke der heimischen Währung, die Dijani hieß, und bekam den dampfenden Teller ausgehändigt.
Den ersten Happen von dem Gericht probierend sah er sich nach einem netten Platz um. Er fand einen in der Nähe der Tür, wo die frische Luft von draußen vorbeizog, und ließ sich im Schneidersitz auf einem der Kissen nieder. Da er es gewohnt war, auf dem Boden zu sitzen, fühlte er sich gleich wohl und begann zu essen. Gierig verschlang er das köstlich fettige Fleisch und den gedämpften Weizengrieß. Das Gemüse war sehr scharf und brannte höllisch im Rachen, und ihm fiel auf, sich gar nichts zum Trinken bestellt zu haben. Er rief einen der jungen Burschen zu sich her, die sich um das Wohl der Gäste zu kümmern schienen, zeigte auf eines der Teegläser an einem der Nachbartische und dann auf sich selbst. Der Junge nickte und kam wenig später - Raens Zunge brannte mittlerweile lichterloh - mit einer Kanne aus Messing und einem Glas wieder. Er stellte das Glas vor Raen ab, füllte es schwungvoll mit Tee aus der Kanne und stellte das Messinggefäß neben dem Glas ab. Raen dankte ihm, warf ihm ein Kupferstück zu und trank schnell hintereinander zwei Gläser. Der Tee war stark und süß, löschte aber die Schärfe von seiner Zunge, so dass er den Rest des Gemüses essen konnte. Als er fertig war, stellte er den Teller auf den Tisch und trank zwei weitere Gläser Tee. Erst jetzt bemerkte er, dass er beobachtet wurde.
Ein Mann, der an einem der entfernteren Tische in kleiner Runde saß, blickte unentwegt zu ihm herüber. Raen musterte ihn offen zurück. Der Fremde hatte dunkles, gelocktes Haar, das bis auf seine Schultern fiel, und sein Gesicht zierte ein gepflegter Schnurrbart. In beiden Ohren trug er dicke, goldene Ohrringe. Er war nach lavantinischer Art mit einem weiten Kaftan bekleidet und in seinem breiten Stoffgürtel trug er einen Krummdolch mit silbernem Griff. Trotzdem war Raen sich sicher, dass er kein Einheimischer war, denn dafür war er zu groß und trug die Haare nicht kurz genug, um der hiesigen Gewohnheit zu entsprechen. Plötzlich erhob sich der Mann und ging geradewegs auf ihn zu. Als er an seinem Tisch angekommen war, fragte er mit tiefer Stimme: „Darf ich mich zu Euch setzen, ehrenwerter Krieger Hyauns?“
Raen verbarg seine Überraschung ob des akzentfreien Graçenischs und wies mit seiner Linken auf das freie Kissen. Der fremde Graçener setzte sich und kreuzte die Beine wie sein Gegenüber. Er hatte sein Teeglas mitgebracht, und Raen schenkte ihm ein.
Nachdem der Fremde getrunken hatte, fragte er: „Versteht Ihr meine Sprache?“
Raen nickte.
Der Graçener lächelte. „Gut. Mein werter Name ist Silva Bebidas, aber alle nennen mich nur Bebis. Ich bin eigentlich Kaufmann aus Borgossa, habe mich aber vor einigen Jahren hier niedergelassen und handele jetzt mit edlen Stoffen, Seide, Gaze und dergleichen. Meine Karawane ist eine der größten zwischen Port L’Haoud und Jevadan, das liegt östlich von Reschent. Ich habe viel gesehen auf meinen Reisen im Morgenland, aber so jemanden wie Euch“, er deutete auf Raens Aun, „noch nicht! Mit Verlaub, aber was treibt ein Hy hier in Marakhut?“
„Ich heiße Raen Ra Roman adh Chor Shari und bin auf der Reise nach Reschent.“
„So, der Hauptstadt des ewigen Reiches aus Wind und Sand!“
Raen nickte und trank noch etwas Tee.
Die Neugier des Kauffahrers schien aber damit noch nicht befriedigt, denn er fragte: „Verzeiht, aber seid Ihr ein Söldner oder ein Dummkopf?“
Bei dieser frechen Bemerkung wandte Raen den Kopf, sah den Graçener direkt an und entgegnete ärgerlich: „Ich bin weder das eine noch das andere!“
Der Kaufmann lachte leise. „Natürlich. Aber Ihr scheint offenbar nicht zu wissen, wie viel ein Kopf wie der Eure“, er deutete wieder auf Raens Stirnreif, „hier bei gewissen Sklavenjägern wert ist?“
„Ich weiß mehr, als Ihr zu glauben denkt. Aber seid versichert, gegen solches Gesindel weiß ich mich schon zu schützen!“ Raen legte eine Hand auf seinen Schwertgriff und blitzte den aufdringlichen Fremden drohend an. Er mochte den Kerl nicht, und hätte es gerne gesehen, dass er wieder verschwand, aber vielleicht konnte Silva „Bebis“ Bebidas ihm doch noch behilflich sein.
„Ihr führt also eine Karawane?“, fragte er vorsichtig.
„Ja.“ Bebis schaute ihn belustigt an.
„Geht Ihr nach Osten?“
„Ja.“
„Wann?“
„Morgen früh. Die Festtage sind vorbei, da kann es endlich weitergehen.“
„Das trifft sich gut, nehmt mich mit, und ich werde Euch dafür bezahlen.“
„Bezahlen?“ Bebis’ braune Augen leuchteten bei diesem Wort auf.
Und Raen wusste, er hatte den Mann, der durch und durch ein Kaufmann war, bei seiner größten Schwäche gepackt: Seiner Lust an einem guten Geschäft!
„Ja, bezahlen, mit Gold“, bestätigte er.
„Mit Gold? Sprecht das bloß nicht zu laut aus!“, bedeutete der Graçener mit gedämpfter Stimme und sah sich um.
Doch niemand schien ihr Gespräch zu belauschen, und so lehnte er sich wieder vor und raunte Raen zu: „Und wo ist dieses Gold? Wer sagt mir denn, dass Ihr mich nicht betrügt und Euch von meiner Karawane davonstehlt, sobald wir den Wasbeni erreicht haben?“
Jetzt war es Raen, der lächelte. Er hob beide Hände, wies damit auf sich und antwortete mit einer Miene, die kein Wässerchen trüben konnte: „Ich bin ein Hy! Und bei Euren vielen Reisen solltet Ihr auch davon gehört haben, was man uns allgemeinhin nachsagt. Nämlich dass wir niemals lügen!“
Bebis verzog das Gesicht. Der Schnurrbart zuckte unentschlossen.
„Außerdem biete ich Euch mein Schwert als Schutz, solange wir unterwegs sind.“
„Hm“, brummte der Kaufmann, „das klingt nach einem vernünftigen Angebot. In der Tat ist man vor Räuberbanden auch in dieser gottverlassenen Gegend nie ganz sicher.“ Er streckte Raen eine seiner beringten Hände entgegen. „Nun gut, ich mache das Geschäft mit Euch. Schlagt also ein.“
Raen nahm die Hand, und Silva Bebidas’ Zähne zeigten sich unter dem dunklen Bart. Ob der Graçener eine ehrliche Haut war, würde sich noch herausstellen, dachte der Hy und schenkte noch einmal Tee nach. Auf jeden Fall wollte er wachsam sein.
Als Raen seine Müdigkeit zu spüren begann und sich bei Bebidas nach einem guten Schlafplatz erkundigte, lud der Kaufmann ihn kurzerhand zu seinen Zelten ein, die beim Lagerplatz seiner Karawane aufgeschlagen waren. Ohne lange zu überlegen, nahm Raen an.
Bebidas gab seinen Begleitern am Nachbartisch, die allesamt nach waschechten Lavantinen aussahen, ein Zeichen und verließ zusammen mit Raen die Schänke.
„Es sind meine Kamelführer, sie kennen jeden gottverdammten Stein in dieser Wüste. Ohne sie wüsste auch ich in dieser sich ständig verändernden Sandhölle manchmal nicht, wo’s langgeht. Diese Wüstenfüchse haben einen sechsten Sinn und sie können das Wasser auf fünfzig Meilen Entfernung riechen!“, erklärte Bebidas, als sie die Hauptstraße entlang bis zum Rand der Siedlung schlenderten und dann geradeaus in das nur von den Lagerfeuern erhellte Dunkel des Palmenhaines gingen. Ein leichter Wind ließ die elastischen Palmenblätter über ihren Köpfen rascheln und der Mond ging voll und rund am südöstlichen Nachthimmel auf. Raen führte Rekori am Zügel zwischen den friedlich daliegenden Zeltstädten hindurch und lauschte aufmerksam den Erzählungen des Graçeners.
„Die Mahadis - die Kameltreiber - und ihre Nomadenstämme sind die wahren Herrscher dieser Wüste. Nur ihnen gelingt es, hier inmitten des Nichts zu leben. In ihren Adern fließ statt Blut Sand und sie sprechen die Sprache des Windes. Sie wissen immer, wann ein Sturm aufzieht, sie wittern es.“
„Sind die Stürme denn so gefährlich?“
„Oh, ja ein Barral, so nennen die Stämme hier den Sturm, kann geradezu vernichtend sein. Er wirbelt den Sand auf, dass man kaum noch sehen und atmen kann, schmirgelt dir die Haut von den Knochen und begräbt komplette Karawanen unter Bergen von Sand. Er ist es, der die Dünen wandern lässt.“
„Wandern?“ Raen klang ungläubig.
„Ja, die Dünen wandern, unaufhaltsam. Sie wandern heimlich und leise rieselnd des Nachts oder mit Getöse in einem Sturm. So manche riesenhafte Düne hat schon ganze Oasen und kleine Städte verschlungen. Niemand kann sie aufhalten. Sie sind wie lebendige Wesen! Und deshalb glauben die Leute hier auch, dass in jedem Element eine Gottheit wohnt. Der Gott des Windes, des Sandes, des Wasser und so weiter. Sie verehren jeden einzelnen von ihnen mit der gleichen Ehrfurcht.“
„Und wie ist das mit den Ohaoudis? Die haben doch nur den Glauben an ihren einen Gott, Ashallah.“
„Wie ich sehe, kennt Ihr Euch bereits aus. Ihr habt Recht, die Ohaoudis huldigen nur dem einen und einzigen Gott: Ashallah. Er ist Herrscher über die Menschen und Elemente, über Erde und Himmel. Ashallah ist groß, Ashallah ist mächtig, und die Ohaoudis sehen es nicht gerne, wenn man darüber anders denkt.“
‚Das kenne ich irgendwoher!’, dachte Raen amüsiert und hörte weiter zu.
„Doch ihr Einfluss hier ist nicht so groß, wie sie es gerne hätten. Hier haben die Stämme der Mahadis das Sagen, und selbst die ohaoudischen Karawanenbesitzer sind darauf angewiesen, dass die Stämme sie in Frieden durch ihr Land ziehen lassen. In der Vergangenheit haben die Ohaoudis schon mehrfach versucht, sie zu unterwerfen, doch die Wüstenfüchse sind nicht aus ihren Löchern zu locken, sie sind zu schlau. Manchmal kommt es mir so vor, als könnten sie sich an der einen Stelle unsichtbar machen und an der anderen einfach wieder auftauchen. So schlicht sie ihr Leben hier auch bestreiten mögen, ich habe einen Heidenrespekt vor diesen Leuten und ich bin froh, dass ich zu ihren Freunden zähle und nicht zu ihren Feinden!“
„Dann sind die Ohaoudis hier also nicht gerne gesehen?“
„Sie haben ihr Abkommen und dürfen passieren, sofern ihre Absichten friedlich sind.“
Raen spitzte die Lippen. Er wunderte sich darüber, wie es dem mächtigen Volk Ohaoud nicht gelingen konnte, eine kleine Gruppe unter ihre Kontrolle zu bringen.
Sie erreichten das Lager Bebidas’.
„Ihr könnt mit in meinem Zelt schlafen, wenn Ihr mögt, es ist groß genug.“
Das war es wahrlich. Das Zelt des Kaufmanns war so groß wie ein Haus!
„Ach, und wundert Euch nicht über das Weibsvolk. Die zwei Mahadi-Frauen gehören zu mir. Reisen ist eben mein Leben und deshalb habe ich die Zerstreuung immer mit dabei, wenn Ihr versteht, was ich meine?“ Er zwinkerte Raen vielbedeutend zu.
„Vielen Dank für Euer Angebot, aber ich glaube, ich schlafe lieber hier draußen unter freiem Himmel.“
„Nun, gut.“ Der Graçener zuckte mit den Schultern. „Wie Ihr wollt. Dann wünsche ich, wohl zu ruhen.“ Er verabschiedete sich und verschwand im Zelt.
Raen sattelte Rekori ab, band die Vorderbeine des Hengstes so zusammen, dass er nicht weglaufen konnte, und machte sich sein bescheidenes Lager gleich neben dem Zelt des Kaufmanns zurecht. Ein zufriedenes Seufzen entfuhr ihm, als er seinen Kopf auf die zusammengerollte Jacke bettete. Er hätte nie damit gerechnet, dass es ihm so problemlos gelingen würde, sich einer Karawane anzuschließen. Gähnend zog er sich die Decke bis zu den Ohren hoch. Die Luft war angenehm frisch, und schnell schlief er ein.
Am nächsten Tag weckte ihn rege Betriebsamkeit, die bereits zu Sonnenaufgang im Lager entstand. Geschäftig liefen die Mahadis hin und her und kommandierten den Sklaven, den Kamelen die Waren aufzuladen und die Zelte abzubauen. Auch Bebidas trat aus seiner Nomadenunterkunft und streckte sich ausgiebig.
Raen erhob sich. Er schüttelte seine Decke aus und verstaute sie wieder in den Satteltaschen.
Der Graçener grüßte ihn und bedeutete ihm, mitzukommen.
Raen folgte dem Kaufmann quer durch das sich auflösende Lager bis zum nächsten Brunnen. Ein Sklave holte Wasser herauf und schüttete es in einen großen Steintrog. Kühl glitzerte es im ersten Licht des Tages. Der Kaufmann entblößte seine breite, behaarte Brust und schöpfte sich mit einem halben Flaschenkürbis Wasser über die Schultern. Dabei stieß er wohlige Töne aus.
Raen, der sich schon seit Tagen nicht gewaschen hatte, ging dem Beispiel Bebidas’ nur allzu gerne nach, und als das herrliche Nass über seinen nackten Oberköper rann, fühlte er sich wieder frisch und für den Tag gestärkt.
Bebidas schöpfte sich eine letzte Kelle über das gelockte Haupt und schüttelte sich anschließend wie ein nasser Bär. „Ah, das tut gut! Die nächsten Tage werden wir uns nur mit Sand waschen können.“ Er blickte Raen an und taxierte dessen wohlgebauten Körper. Dabei entgingen ihm auch die Narben nicht.
„Ihr wollt doch das nicht etwa wieder anziehen?“, fragte er dann und wies auf die schwarze Jacke des Hy.
„Ich habe nichts anderes.“
„In dem Schwarz werdet Ihr gekocht!“
„Wärmsten Dank, das habe ich schon gemerkt.“
„Hm, kommt mit, ich gebe Euch andere Kleidung.“ Der Graçener stapfte zurück zu seinem Zelt, das schon von den Sklaven abgebaut wurde. Seine zwei Frauen, gehüllt in lange luftige Reisegewänder, saßen wartend auf dem Gepäck. Ihre Gesichter waren mit einem Schleier bedeckt, der nur ihre schwarz geschminkten Augen frei ließ.
Bebidas sagte ihnen etwas in ihrer Sprache, worauf sich eine seiner Gefährtinnen im Gepäck auf die Suche machte, während die andere dem Graçener seinen Kaftan, Gürtel und das lange Stoffgebinde reichte, aus dem er sich mit wenigen geübten Handgriffen einen Turban um den Kopf wand.
Die zweite Frau kam mit dem Gewünschten, als Bebidas fertig angekleidet war. Sie hielt einen hellblauen, am Brustschlitz schön bestickten Kaftan und einen weißen Turban in ihren Händen. Sie gab die Kleidung Raen.
„Zieht das an, das ist für eine Reise in der Wüste geeigneter. Ihr könnt mir das Zeug ja später zurückgeben oder es bezahlen und behalten, wie es Euch passt. Außerdem fallt Ihr damit weniger auf.“ Er deutete wieder auf Raens Stirnreif, danach aber gleich auf seine Füße. „Eure Stiefel könnt Ihr anlassen, mit denen kommt man besser durch den Sand als mit den Sandalen. Ihr dürft nur nicht vergessen, jeden Morgen in sie hineinzusehen, denn es könnten sich giftige Skorpione oder anderes unangenehmes Viehzeug darin eingenistet haben. Ich selbst bevorzuge auch Stiefel, kann mich an den ewigen Sand zwischen den Zehen einfach nicht gewöhnen. So, und jetzt zu Eurem Reittier!“
„Was ist denn damit?“ Raen schaute sich zu Rekori um.
„Also, ich glaube nicht, dass der Zosse das schafft, und dann noch mit Gepäck ... Ihr solltet ihn lieber so mitlaufen lassen und auf einem der Kamele reiten.“
Raen verzog das Gesicht und sah zu der Reihe hässlicher, langbeiniger Kreaturen hinüber, die brüllend darauf warteten, dass es los ging. Kamele erschienen ihm eher ungelenk und sie stanken ganz entsetzlich. Von den Geräuschen, die sie von sich gaben, ganz zu schweigen!
„Ich würde es vorziehen, auf meinem Pferd zu sitzen, vielen Dank für Euer Angebot.“
„Auf das Ihr mit aller Sicherheit noch zurückkommen werdet!“, entgegnete Bebidas und rückte sich den Dolch in seinem Gürtel zurecht. „Nun, dann wollen wir doch mal sehen, ob wir noch einen Happen zu essen bekommen und dann sollten wir aufbrechen.“
Nichts als gelber Sand umgab sie! Vor und hinter ihnen erstreckten sich Dünen und nochmals Dünen. Ihre scharfen Grate und weichen Bögen glichen einander wie Bruder und Schwester. Das einzige, das sie für kurze Zeit veränderte, waren die Fußstapfen, die Mensch und Tier auf ihnen zurückließen - bis der Wind sie wieder verwischte. Wie über dem Meer erstreckte sich der Himmel riesengroß und beängstigend leer von Horizont zu Horizont. Leer war überhaupt der Begriff für das ganze Land hier! Kein einziges Lebewesen war außer ihnen zu sehen, und nichts, außer dem Geräusch des Windes war zu hören.
Raen saß auf Rekori und war trotz seiner neuen Kleidung darum bemüht, die Hitze zu ertragen. Sein Herz schlug schnell, und seine Lungen waren mit immerwährend heißer Luft gefüllt, obwohl er sich wie alle anderen ein Stück des Turbans vor Mund und Nase gebunden hatte. Der Schweiß biss ihm in den Augen, und es schwindelte ihm. Und ständig dieser Durst! Aber auch das Wasser war widerlich warm, und Raen sehnte sich nach der erlösenden Kühle der Nacht.
Neben ihm ritt, soweit das Gelände es zuließ, der Graçener auf seinem Kamel und redete und lachte in einem fort. Er hatte die Stiefel auf den Halsansatz seines Tieres gelegt und sich an die Rückenlehne aus zwei gebogenen Holzstangen gelehnt, die an dem merkwürdigen Kamelsattel befestigt waren. Seit sie vor zwei Tagen aufgebrochen waren, schien er bester Laune zu sein.
Insgeheim neidete Raen ihm seine robuste Konstitution und seinen bequemen Sitz, denn Rekori quälte sich, wie Bebis vorausgesagt hatte, mühsam durch den weichen Sand und geriet immer wieder ins Straucheln. Wenn er nicht wollte, dass sein Pferd bald lahmte, so würde er wohl auf ein Kamel umsteigen müssen.
Am nächsten Tag bekam er eines der Tiere vom lächelnden Graçener. Ein Mahadi erklärte ihm, wie er es zu führen hatte und wie man es dazu brachte, sich hinzulegen, um auf- und absteigen zu können. Skeptisch setzte sich Raen in den eigentümlichen Sattel und wäre beinahe wieder kopfüber hinuntergestürzt, als sich das Tier mit einem Grunzen erhob.
Das Vieh spürte den Unwillen des Reiters und brüllte erneut, dabei troff dünnflüssiger Schaum aus seinem Maul. Es wollte einfach loslaufen, doch der Mahadi hielt das Kamel an dem Flachsseil fest, das durch dessen Nüstern gezogen war. Er reichte das Seil Raen zusammen mit einer Peitsche aus Rohr und überließ den Hy seinem Schicksal. Brüllend schüttelte das Kamel seinen Kopf.
„Tja, Kamele sind schlaue Tiere und sehr sensibel!“, rief Bebidas vergnügt zu ihm herüber, „Seht also zu, dass Ihr es gut behandelt, dann macht es auch, was Ihr wollt.“
Raen tickte die Flanke des Tieres kurz mit dem Rohr an, und es setzte sich immer noch brüllend in Bewegung. Konzentriert widmete er sich der Lenkung des schaukelnden Ungetüms, und schon bald ging es friedlich neben dem Kamel des Graçeners einher. Angeregt begann Bebidas wieder zu erzählen, diesmal von seinem weißen Lieblingskamel, das er einmal besessen hatte.
„Verzeiht, aber ... ich ...“, unterbrach Raen ihn keine halbe Stunde später. „Ich glaube, ich muss ...“ Ohne Vorwarnung sprang er dem laufenden Kamel vom Rücken, stolperte ein paar Schritte die Düne hinab und übergab sich in den Sand. Er hatte nicht viel im Magen, aber ihm war trotzdem elend übel und er spie alles heraus.
Bebidas ließ die Karawane weiterlaufen und lenkte sein Kamel neben den Hy, der mit blassem Gesicht aufsah.
Der Graçener grinste. „Seekrank?“
Raen wischte sich über den Mund. „Wie kann das sein?“
„Den ein oder anderen erwischt’s.“
„Und was nun?“
„Entweder, Ihr steigt wieder auf das Kamel und sitzt es aus, oder ...“
„Ich kann auch auf einem Schiff das Geschaukel nicht aussitzen.“
„Dann müsst Ihr wohl erst einmal laufen. Vielleicht ist Euer Gaul morgen wieder kräftig genug, um Euch tragen zu können. Einen Tag Laufen, einen Tag Reiten, das könnte gehen.“
Raen gab ein Stöhnen von sich. In diesem Sand gehen zu müssen, war eine Tortur, erst recht mit der kaputten Fersensehne. Aber ihm blieb nichts anderes übrig und so folgte er dem Beispiel der Sklaven und Mahadis, die allesamt zu Fuß gingen.
Die Stunden krochen dahin. Um jeden Schritt quälte sich Raen. Er fühlte sich blamabel täppisch, denn in der lockeren, windabgewandten Seite der Dünen kam er kaum voran. Immer wieder fiel er hin, weil er bis über die Knöchel im Sand einsank. Mit Flüchen auf der Zunge, zog er die Hände aus dem heißen Untergrund und raffte sich auf.
Die Mahadis warfen ihm amüsierte Blicke zu, blieben aber stumm.
Bald hatte Raen sich darauf verlegt, sich am Steigbügel Rekoris festzuhalten. So verlor er wenigstens nicht ständig das Gleichgewicht und konnte sich gegebenenfalls vom Pferd aus dem Sand ziehen lassen.
Sie kamen auf eine Fläche, die auf wundersame Weise frei von Sand war und auf der Dutzende von abgestorbenen Bäumen standen. Die schwarzen Äste ragten in den violetten Abendhimmel, an dem sich die ersten Sterne zeigten. Der Graçener gab Befehl, das Lager aufzuschlagen, und die Karawane machte auf der dünenumsäumten Ebene Halt.
Erschöpft ließ Raen sich in den Sand fallen und hockte stumpfsinnig vor sich hinstarrend da, bis die Zelte aufgebaut waren und die ersten Lagerfeuer brannten.
Der Kaufmann Bebidas war kein Kostverächter, was man seiner fülligen Erscheinung auch ansehen konnte! Jeden Abend ließ er sich von seinen Sklaven Fleisch oder Gemüse braten. Mit der ewigen Weißengrütze der Mahadis gab er sich nicht ab! Und er hatte sich auch nicht lumpen lassen, seinen hyaunischen „Gast“ stets zu dem feudalen Mahl einzuladen, wohl in der Hoffnung auf einen anschließenden guten Lohn für seine Aufwendungen.
Wohlig satt streckte Raen sich hernach bei Bebidas am Feuer aus und sah in den Sternenhimmel hinauf. Einer der Kamelführer kam herbei und sprach ein paar Sätze in der fremden Sprache mit dem Kaufmann. Dabei deutete er immer wieder auf Raen.
„Mein Freund hier fragt, ob Il’Chebbabi morgen wieder auf einem Kamel reiten möchte“, übersetzte Bebis.
Raen blickte den Mahadi an und schüttelte entschieden den Kopf. Lächelnd zog der Kamelführer sich daraufhin wieder in die Schatten des nächtlichen Lagers zurück.
Raen wandte sich an Bebis: „Warum nennt er mich Il’Chebbabi?“
Der Graçener schmunzelte. „Das bedeutet in der Sprache der Stämme ‚Der nicht auf Sand gehen kann’ oder auch Fremder. Die Ohaoudis sind da hingegen wesentlich unfreundlicher mit ihrem Ausdruck Bakkara, den man damit vergleichen könnte.“
„Bakkara habe ich schon einmal gehört, das heißt Nicht-Ohaoudi, oder Nichts.“
„Ganz richtig.“
„Hm, da klingt ‚Der nicht auf Sand gehen kann’ doch netter.“
Der Graçener lachte laut und steckte sich das letzte Stück Brot, mit dem er zuvor das Fett von seinem Teller aufgewischt hatte, in den Mund. Während er kaute, sah er Raen unverwandt an.
„Seid Ihr ein Sklave der Askharer gewesen?“, fragte er plötzlich.
„Wie kommt Ihr darauf?“ Raen tat überrascht.
Bebis zeigte auf seinen Fuß. „Ihr hinkt zumindest wie einer. So, wie Ihr Euch durch den Sand kämpft, kann man nur davon ausgehen, dass Eure linke Fersensehne verletzt ist. Jene unverständliche askharische Praxis ist nebenbei auch der Grund dafür, warum die Ohaoudis keine Sklaven aus Askhar kaufen. Sie sind für dieses Terrain gänzlich ungeeignet. Stellt Euch nur vor, meine Arbeiter wären derart verstümmelt“, Bebis stieß ein mitleidiges Lachen aus, „dann kämen wir überhaupt nicht voran!“
Raen nickte. Beim normalen Gehen fiel seine Versehrtheit kaum noch auf, hier im Sand aber war es nicht zu verbergen.
„Sagen wir es so“, antwortete er vorsichtig, „ich hatte eine sehr schlechte Begegnung mit den Askharern und mich gelüstet es nicht sonderlich, meine Erinnerungen daran wieder aufzufrischen.“
Bebidas schien diese Antwort zu akzeptieren. Er faltete seine Hände vor dem Bauch und schaute in die Glut des Feuers.
Was Raen nicht ahnen konnte, war, dass der Graçener in Gedanken soeben sein eigentliches Vorhaben verwarf. Ein hübsches Sümmchen hätte der Hy auf dem Sklavenmarkt eingebracht! Mit dem lädierten Fuß allerdings war er nichts wert, und der Kaufmann in Bebis ärgerte sich, dass ihm dieses Geschäft durch die Lappen gegangen war. Außerdem musste er sich nun darauf verlassen, dass der Hy am Ende ihrer Reise auch seine Zeche zahlte, damit er für seine Mühen überhaupt etwas in den Geldbeutel bekam. Aber ein Gutes hatte das Ganze immerhin, denn wenigstens war der junge Bursche recht unterhaltsam.
Die nächsten Tage glichen einander aufs Haar. Im frühen Morgengrauen brachen sie auf, durchquerten Meile um Meile die unheimliche Stille, die zwischen den mächtigen Sandwogen hing, machten um Mittag Rast unter aufgespannten Sonnensegeln und wanderten dann weiter bis zum Abend. Nur einmal passierten sie ein kärgliches Wasserloch, an dem die Tiere getränkt und die Wassersäcke wieder aufgefüllt wurden.
Über ihren Köpfen demonstrierte die Sonne gnadenlos ihre Macht. Es war unumstritten ihr Reich, durch das sie sich bewegten ... und das des Windes, der heiß in die Gesichter und um die bloßen Knöchel der Wanderer strich.
Der Graçener ließ sein Kamel weiterhin neben dem Hy hertrotten und erzählte und erzählte, ganz egal, ob Raen, der seinen Blick angestrengt geradeaus gerichtet hielt, ihm zuhörte oder nicht. Wahrscheinlich war er froh, endlich wieder einmal jemandem seine Geschichten erzählen zu können.
Raen fühlte sich wie im Delirium, vor seinen Augen flimmerte es, und mehrmals glaubte er, in der Ferne Wasser glitzern zu sehen. Der Wasbeni, dachte er dann. Endlich! Doch jedes Mal, wenn sie die Stelle erreichten, war kein Fluss zu sehen, nicht einmal ein trockenes Flussbett, sondern nur unberührter Wüstenboden. Er schämte sich für seine Wahnvorstellungen, die er auf die mörderische Anstrengung und sein ausgedörrtes Hirn zurückführte, und wagte es deshalb nicht, den anderen davon zu erzählen. Er zog sich tief in sich zurück. Seine Gedanken schwammen träge und klebrig in einem Tümpel aus alten Erinnerungsbruchstücken und den Bildern, welche die blumigen Erzählungen des Graçeners bei ihm hervorriefen. Die Stimme Bebidas’ vermischte sich mit dem Flüstern des Windes, und bald konnte Raen das eine nicht mehr von dem anderen unterscheiden. Es schien ihm, als erzähle ihm die Wüste ihre geheimnisvolle Geschichte.
Doch irgendetwas riss ihn plötzlich aus diesem Zustand zwischen Wahn und Wirklichkeit. Es war ein Name gewesen. Ein Name, den er kannte und wegen dem er das hier überhaupt alles tat. Er blinzelte und wandte seinen Kopf - die erste Regung an diesem Tag.
„Was habt Ihr gerade gesagt?“, fragte er den Graçener krächzend.
„Dass wir auch schon einmal eine königliche Karawane als Begleitung hatten. Prinzessin Keï und ihr Bruder höchstpersönlich haben vor - lasst mich überlegen, ja, vor einem guten Jahr war es wohl gewesen -, da haben sie zusammen mit uns diese Wüste durchquert. Des Nachts hatten die hohen Herrschaften ihr Lager zwar immer separat aufgeschlagen, aber tagsüber ist sie an meiner Seite geritten, stellt Euch das nur vor! Die künftige Königin von Ohaoud! Eine beindruckende Frau ist sie und so schlagfertig.“
„Oh ja, das ist sie.“
„Ihr kennt die Prinzessin?“ Der Graçener hob erstaunt die Brauen, und kurz ärgerte Raen sich, etwas ausgeplaudert zu haben, das er eigentlich nicht hatte enthüllen wollen. Er entschloss sich aber schließlich doch, darüber zu reden. Vielleicht erfuhr er dann von Bebis mehr über die Prinzessin.
„Ich kenne Sal al In’Sahdi Keï und ihren Bruder aus Borgossa, dort waren sie an der Akademie für Kriegskünste, wenn ich mich nicht irre.“ Dass auch er an der Akademie studiert hatte, behielt er vorerst für sich.
„Nein, nein, Ihr irrt Euch nicht, das hat sie mir auch erzählt. Sie hatte die Abschlussprüfungen bestanden und war auf der Rückreise von Borgossa nach Reschent zu ihrem Vater.“
Raen überlegte: Damals war er gerade in Shari gewesen, bei Suneka. Was Keï wohl von ihm gedacht hatte? Würde sie ihn überhaupt so ohne weiteres empfangen, nachdem er sich als unzuverlässiger Wortbrecher erwiesen hatte? Er würde sich erklären müssen. Sie sollte erfahren, dass es nicht seine Schuld gewesen war, dass er nicht mehr zurück nach Borgossa gekommen war. Sie sollte wissen, wie sehr er sie noch immer liebte!
„Wann wird sie denn Königin?“, erkundigte er sich unauffällig.
„Oh, das kann noch dauern, ihr Vater ist in den besten Jahren. Außerdem wurde ja noch nicht einmal ein geeigneter Ehemann für sie gefunden. Kein Wunder, denn sämtliche ehrenwerte Söhne der angesehensten Familien des Königreiches bekommen das große Zähneklappern bei dem Gedanken daran, sich mit dieser resoluten und stolzen Frau vermählen zu müssen und vor allem ... immer zweitrangig in ihrem Schatten zu stehen.“ Bebis neigte den Kopf zur Seite. „Sie sind eben durch und durch erzväterlich erzogen, die edlen Wüstensöhne, da kann man nichts machen. Also, wenn Ihr mich fragt, sind das alles feige Hunde! Kostverächter! Die haben keine Ahnung von wahrer Klasse.“ Der Graçener schnalzte mit der Zunge. „Versteht mich bitte nicht falsch, aber die Prinzessin ist ein echtes Prachtweib! Und ich mochte ihr bestimmendes Wesen.“
Raen lächelte ironisch und fragte sich, ob der Graçener diese Eigenschaft auch an seinen unterwürfigen Mahadi-Frauen mögen würde. In seiner Erinnerung tauchte Keï vor ihm auf, hochaufgerichtet, beide Hände in die Hüften gestemmt und ein vernichtendes Argument auf den Lippen, wenn einer der Mitstudenten ihr wieder einmal dumm gekommen war. Ja, sie war ein „Prachtweib“, aber allem voran aber war sie ein echter Freund!
Plötzlich erfasste ihn unbändige Vorfreude, und als hätte er aus irgendeiner verborgenen Quelle neue Kraft geschöpft, schritt er schneller voran. Sein Wille pochte heftig in seiner Brust, und sein Blick war weit nach vorn gerichtet.
Er würde sie wiedersehen! Er würde Keï wieder sehen!
Verwundert über diese unerwartete Verwandlung schaute der Graçener auf den Hy hinab und kratzte sich dabei unter seinem Turban am Schopf.
Zwölf Tage waren sie bereits unterwegs, und Raen spürte kaum noch seine Beine. Mechanisch, nur angetrieben durch seine eiserne Beharrlichkeit bewegte er sich voran. Mittlerweile empfand er sogar gewisse Bewunderung für die Kamele, die fast ohne Wasser und Nahrung, dafür aber mit Packen schwerer Tuchballen auf ihrem Rücken unermüdlich über den Sand stapften und dabei mit ihren erhobenen Häuptern so gelassen wirkten, als machten sie einen Spaziergang. Und so manches Mal wünschte er sich ihre tellerbreiten Fußballen, die trotz des Gewichtes kaum einsanken.
„Seht doch, Antilopen!“, rief der Graçener plötzlich und wies mit dem Arm nach vorn.
Und tatsächlich, es war keine Einbildung, dort liefen ein knappes Dutzend Antilopen über die Dünen.
Raen betrachtete die kleine Herde. Noch nie hatte er solch edel anmutende Tiere gesehen. Sie hatten gerade, spitze Hörner und einen schwarzen Schweif. Graues Fell bedeckte ihren kräftigen Köper und weißes die Beine, und am Kopf waren sie schwarz und weiß gemustert. Leichtfüßig trabten die Antilopen durch den Sand, stiegen die flache Flanke einer Düne hinauf und verschwanden hinter der scharfen Linie des Grates. Nur ihre Spuren zeugten davon, dass sie auch tatsächlich dagewesen waren.
„Das waren Königsantilopen - denn nur der König darf sie jagen, oder der, der die Erlaubnis von ihm dazu hat. Und natürlich der Herrscher der Nacht ...“, erklärte Bebidas und trieb sein Kamel an.
Die Karawane zog weiter, immer nach Osten.
Die Fährten aller möglichen Lebewesen begannen sich zu häufen. Unzähliges Getier musste sich hier vorwiegend zur Nachtzeit herumgetrieben haben - von der Schlange, über den Schakal bis hin zu wilden Kamelen. Auch der Herrscher der Nacht, der Löwe, war hier vorbeigekommen! Er hatte eine ausgedehnte Schleife durch die Täler der Dünen gezogen, dann vermutlich den Geruch der Karawane gewittert und war dann wieder in Richtung des Wasbeni davon getrottet. Das behaupteten die Mahadis zumindest aus der Fährte des Raubtieres mit den handgroßen Prankenabdrücken herauszulesen.
Raen rieselte es bei dem Anblick der Spuren kalt über den Rücken. Das musste ein wahrhaft mächtiges Geschöpf sein! Eine Katze so groß wie ein Bär!
„Der Fluss ist nicht mehr fern. Nur noch einen Tag und dann müssten wir ihn sehen können, dort, immer in Richtung des Sonnenaufganges.“
„Warum hat der Löwe die Karawane nicht angegriffen?“, wollte Raen wissen, denn der Graçener hatte tags zuvor schaurige Geschichten von den menschenfressenden Ungeheuern erzählt, die des Nachts Dörfer überfielen.
„Vielleicht hat er die Aufmerksamkeit unserer Nachtwachen gespürt. Wachsame Menschen schrecken den Löwen ab. Er liebt den Hinterhalt und er fürchtet das Feuer. Macht also immer ein Feuer an in der Nacht, wenn Ihr allein durch dieses Land reisen solltet! Das hält die meisten Unruhestifter auf vier Pfoten fern.“
Raen dankte Bebidas für diesen Rat und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Horizont vor ihnen.
Der Wasbeni! Nur noch ein Tag! Im Kopf entwarf Raen bereits einen Plan. Noch heute Nacht wollte er sich heimlich davonstehlen und sich auf eigene Faust bis zum Fluss durchschlagen. Das konnte nicht mehr allzu schwer sein. Immer nach Osten hatte Bebidas bedeutet, und außerdem konnte er immer noch den Tierfährten folgen, die mit Sicherheit zum Wasser führten. Am Wasbeni würde er dann versuchen, eine der Flussfähren nach Reschent zu erwischen.
Es war besser, allein in die Stadt zu kommen, denn er traute Bebidas noch immer nicht. Der Graçener war ein Schlitzohr, etwas schwatzhaft vielleicht, aber dennoch lenkte es nur schwerlich von seiner gut verborgenen Kaufmannsschläue ab.
Den Abend verbrachte der Hy wie immer mit Bebidas am Lagerfeuer, bis sich alle im Lager, außer den Wachen, zur Ruhe begeben hatten. Auch Raen tat so, als lege er sich schlafen, doch kurz nach Mitternacht erhob er sich wieder und brach zu Fuß mit Rekori am Zügel auf, den Nordstern immer über seiner linken Schulter und das Schwert griffbereit im Gürtel. Als er weit genug vom Lager entfernt war, stieg er auf und ritt in die sternenerleuchtete Nacht hinaus.
„Ich habe es gewusst!“, polterte Bebidas am nächsten Morgen. „Oh, ich hätte meinem Gefühl vertrauen sollen. Verdammter Halunke! So viel zu der hyaunischen Ehrlichkeit!“ Seine goldenen Ohrringe baumelten heftig vor Wut.
„Äh, Ibu Bebidas, Il’Chebbabi hat gesagt, Ihr solltet nicht vergessen, morgens in Eure Stiefel zu schauen. Er sagte auch, er wolle die Kleidung behalten und jeder Zeit gerne wieder mit Euch Geschäfte machen.“
„Dieser unverschämte Witzbold, frech ist er auch noch! Warum hast du ihn überhaupt laufen lassen?“
„Er hat gesagt, Ihr wüsstet davon. Er hätte es eilig und wollte noch diese Nacht aufbrechen.“
„Eilig! Und du hast ihm das geglaubt?“
„Warum sollte ich nicht?“ Die Nachtwache hob unschuldig die Schultern.
„Diavolo!“ Bebidas ließ die Hand durch die Luft fahren und ging in sein Zelt zurück.
Dort warf er einen griesgrämigen Blick auf seine Stiefel. Er, der große Silva Bebidas, hatte sich von einem Hy aufs Kreuz legen lassen! Wahrlich, er hatte ein zu gutes Herz! Das nächste Mal würde er den Preis im Voraus verlangen.
Wütend trat er mit dem nackten Fuß gegen die Stiefel. Einer flog ein paar Schritt weit über den mit Teppichen ausgelegten Boden und gab sein Innenleben preis.
Stirnrunzelnd bückte sich Bebidas und hob den kleinen Stoffbeutel auf, der aus dem Stiefelschaft heraus gepurzelt war. Er war schwer. Schnell öffnete er ihn und sah hinein.
„Dieser Teufelskerl!“, entfuhr es ihm und er schüttete den Inhalt auf seine flache Hand. Es war ein kleiner, fingerdicker Goldbarren. Zwei seltsame Schriftzeichen waren auf einer der Flächen eingepunzt.
‚Wahrscheinlich ein hyaunisches Wappen’, dachte sich Bebis, warf den Barren in die Luft und fing ihn wieder auf. ‚Habt Dank, mein edler Herr Il’Chebbabi, mit Euch mache auch ich jeder Zeit wieder Geschäfte!“ Gut gelaunt verließ er das Zelt und gab das Signal zum Aufbruch.
Drei Tage später sah Raen vom Fluss aus die Hauptstadt Reschent im flimmernden Licht der Mittagssonne vor sich auftauchen. Die Landschaft hatte sich mittlerweile von der Sandwüste in eine trockene Steppe mit zähem Dornengestrüpp und schirmartigen Bäumen verwandelt. Das Flussufer wich flach zurück und war nur mäßig mit Pflanzen bewachsen. Auch hier am Wasser schien die Trockenheit mit ihren dörrenden Fingern nach jedem Grashalm greifen und ihn aussaugen zu wollen. Ein beständiger Kampf zwischen Leben und Vergehen.
Inmitten der kargen Ebene lag Reschent, die Stadt der mächtigsten Könige, welche der Osten dieses Kontinentes je gesehen hatte. Und Raen erkannte, dass Prinzessin Keï nicht übertrieben hatte mit ihren Schilderungen dieser lebhaften Metropole im so unwirtlichen Herzen ihres Reiches.
Goldene Kuppeln glommen in der Sonne und strahlten das Licht zurück, als seien sie über die Macht des großen Himmelsgestirns erhaben. Weiße Türme ragten über hellblauen Mauern aus dem verschachtelten Körper der Stadt ... und weit dahinter in der Ferne, nur als bläulichgraue Silhouette zu erkennen, lag der Berg, von dem die Prinzessin einst erzählt hatte.
Keï!
Raen glaubte, vor Vorfreude zu bersten. Das lang ersehnte Wiedersehen lag dort vor ihm! Sein Herz schlug erregt, und aufmerksam nahm er alles in sich auf, was diese wunderträchtige Stadt der Könige ihm wie ein prächtiger Marktstand darbot.
Der Flusskahn legte an, und er ging mit Rekori von Bord.
Ein reges Treiben herrschte am Anleger, an dem etliche Boote festgemacht hatten. Schon vor Ort feilschten Händler um die Fracht ihrer Schiffe, ganze Sklavenkolonnen transportierten unter der Aufsicht hochgewachsener Ohaoudis die Waren auf ihren Schultern in Richtung Stadt davon.
Ein Gewirr von Sprachen drang an sein Ohr, doch keine davon verstand er. Raen schwang sich auf Rekoris Rücken und ritt auf der Straße, die zum Stadttor führte, langsam durch die weitläufigen Palmenhaine und Felder. Sie schlangen sich wie ein breites fruchtbares Band üppigen Grüns vor den hohen Mauern um die Stadt herum und waren von vielen kleinen Kanälen durchzogen. Raen sah Hirse, Weizen, Linsen und Gemüse in dichten Reihen stehen, die sich im seichten Wind beugen. Die Palmen trugen direkt unter ihren Kronen dichte Trauben einer ihm unbekannten gelben Frucht, und hier und da erblickte er sogar vereinzelte Öl- und Mandelbäume. Der Stadt schien es trotz des dürren Umlands an nichts zu mangeln.
Als Raen das gewaltige Stadttor erreichte, wurde er von zwei Torwachen in fischschuppenartiger Rüstung und weiten, hellen Stoffhosen angehalten. Nach einem kritischen Blick in seine Satteltaschen und auf seine Waffen, ließen sie ihn aber passieren.
Kaum, dass er den Engpass des Stadttores hinter sich gebracht hatte, geriet er mitten in das Gewimmel der verwirrenden Straßenzüge der Königsstadt und wurde förmlich mitgerissen. Karren und Wagen versperrten ihm den Weg, überall waren Menschen, die in den Werkstätten und an kleinen Ladenständen am Straßenrand arbeiteten oder dort standen und sich das Angebotene besahen. Die anderen liefen geschäftig, offenbar ein bestimmtes Ziel im Sinn, im Strom der Straßen mit, Pferde, Esel und Kamele am Zügel hinter sich herziehend.
Raen bemerkte, dass die Kleidung der Ohaoudis der Tracht der Lavantinen ähnlich war, nur dass die Ohaoudis noch viel buntere Kaftane bevorzugten. In allen erdenklichen Farben und Mustern wehten die weiten Stoffe um die hageren, aufrechten Gestalten. Die dunklen Gesichter blickten distanziert, und ihre abweisende Haltung drückte ihre Überlegenheit aus, die sie allen anderen Völkern gegenüber empfanden.
Raen ließ sich davon nicht stören und trieb eine Weile in die Richtung, in die in die Menschenmasse mitnahm. Er überlegte, ob er noch heute zum Palast reiten sollte, kam aber zu dem Schluss, so verschwitzt und verstaubt, wie er war, nicht vor die Prinzessin treten zu wollen. Er brauchte also einen Ort, wo er sich säubern und ausruhen konnte. Nur wie sollte er hier bloß eine Herberge finden? Er kannte ja nicht einmal das Wort dafür und lesen konnte er die Schilder mit der verschnörkelten Schrift erst recht nicht. Vielleicht hätte er sich doch an Bebidas halten sollen, der wenigstes die Sprache der Ohaoudis zu sprechen vermochte. Raen seufzte. Einmal mehr war er viel zu voreilig gewesen. Geduld war wirklich nicht seine größte Tugend!
Es gelang ihm, in eine der Seitenstraßen abzubiegen. Hier war etwas weniger los, da es zu eng für die Wagen war. Fremde Gerüche drangen ihm in die Nase und ungewöhnliche Laute an sein Ohr. In dieser Gasse gab es wenigstens schon einmal Stände mit Essen und Gaststuben, aus denen Musik erklang.
Raen stieg ab und kämpfte sich von einem Haus zum nächsten. Überall fragte er mit Hilfe der Zeichensprache nach Unterkunft, bis er schließlich zu einem großen Gebäude geschickt wurde, das besonders leuchtend hellblau getüncht war und ein großes Tor an der Frontseite besaß. Durch dieses Tor kam er in einen großzügigen Innenhof, in dem unter einem Vordach mehrere Pferde und Kamele angebunden standen. Ein Sklave eilte dem neuen Gast entgegen, nahm ihm die Zügel seines Pferdes ab und führte es zu den anderen Tieren. Ein weiterer Sklave brachte Raen zum Eingang der Herberge, der sich gegenüber des großen Tores in einem zweistöckigem Gebäude mit Flachdach befand.
Er betrat eine kühle, dunkle Halle, deren Boden mit kunstvoll gemusterten Fliesen bedeckt war, und von der aus man durch die Bögen eines Peristyls wiederum in einen weiteren kleineren Innenhof blicken konnte. Anhand der kostbaren Teppiche, mit denen die um diese Tageszeit verwaisten Sitzecken ausgelegt waren, vermutete Raen, dass es sich bei dieser Herberge um ein etwas vornehmeres Haus handeln musste. Er hoffte, er würde es sich leisten können, hier unterzukommen, denn er hatte wenig Lust, noch weiter in dem Chaos da draußen nach etwas anderem zu suchen. Außerdem gefiel es ihm hier. Er ließ seinen Blick weiter schweifen, und der Sklave bat ihn, zu warten.
Kurz darauf kam er mit einem fein gekleideten Ohaoudi wieder. Der Mann überragte Raen um eine Haupteslänge und er musterte seinen Gast mit unverhohlener Überheblichkeit. Goldreifen schmückten seine Handgelenke und klirrten leise bei jeder Bewegung seiner Hände.
Beim Anblick des Schmuckes griff Raen unbewusst an seinen Zhangha-Beutel. Einen Goldbarren und einige Münzen besaß er noch. Das musste reichen, danach hätte er nichts mehr.
„Was der Herr wünschen?“, fragte der Ohaoudi in gebrochenem Graçenisch, offenbar hielt er den Besucher wegen seiner weißen Haut für einen Angehörigen dieses handelstüchtigen Volkes.
„Ich suche eine Unterkunft für eine Nacht“, erklärte Raen höflich.
Der Ohaoudi schien zu überlegen. Er strich sich den seidig glänzenden Stoff seines Gewandes glatt.
„Wie der Herr bezahlen?“
„Was muss ich denn bezahlen?“, fragte Raen etwas hochmütig zurück. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, von der Arroganz des Kerls beeindruckt zu sein.
„Zwei Silber-Dijani!“
Zwei Silber-Dijani? Das war Wucher!
Raen baute sich zu seiner ganzen Höhe auf und sah dem Ohaoudi direkt in die schwarzen Augen. „Ich zahle Euch einen Silber-Dijani und bekomme noch ein Essen dazu! Mein Pferd braucht ebenfalls Futter. Und wenn es mir hier gefällt, bleibe ich noch etwas länger.“ Ein wenig Schwindeln konnte nicht schaden, dachte er.
„Ein Silber-Dijani und einen halben, dann Ihr ein Zimmer für Euch allein und Essen bekommen!“, beharrte der Ohaoudi, seine Miene blieb starr.
Raen rang mit sich, eineinhalb Silber-Dijani war viel. Aber da er sowieso nicht vorhatte, hier länger als eine Nacht zu bleiben, willigte er schließlich ein: „Gut, einverstanden. Wo kann ich einen Geldwechsler finden?“ Er musste den Goldbarren eintauschen.
„Auf der Straße rechterhand, dann in erste Straße links. Blaues Haus mit Vordach.“
So sahen beinahe alle Häuser in dieser Stadt aus, dachte Raen, sagte aber nichts, denn er war froh, dass der den Kerl nicht noch um mehr bitten musste.
Der Ohaoudi ließ ihn allein, und ein Sklave brachte Raens Satteltaschen herein. Ein weiterer Sklave in etwas besseren Kleidern und mit hellerer Haut als die der Einheimischen erschien und führte Raen durch das Peristyl, in dem eine herrliche Ruhe herrschte. Am anderen Ende traten sie durch eine Pforte mit einem Holzgitter. Der Sklave wies mit der Hand auf einen Raum zu seiner Linken, in dem man sich waschen konnte, und stieg danach eine Treppe empor in das obere Stockwerk. Von einem schmalen Gang mit glatten Wänden gingen einzelne Türen ab. Der Sklave öffnete die dritte auf der rechten Seite und ließ den Gast zuerst eintreten. Der zweite Sklave legte das Gepäck auf den gefliesten Fußboden neben dem Bettgestell aus Holz ab, und nachdem sich beide Leibeigenen stumm verneigt hatten, verließen sie den Raum.
Endlich allein, ging Raen zu dem schmalen Fenster und öffnete die Läden. Der Ausblick gefiel ihm außerordentlich! Als hätte der mürrische Wirt es geahnt, welch Bedeutung dies für seinen Gast hatte!
Raen konnte direkt auf den ansteigenden Teil der Stadt sehen, der von den dunkelblauen Mauern des Palastes gekrönt wurde. An der Palastmauer aber, so fiel ihm auf, musste etwas Besonderes sein, denn sie reflektierte das Licht der untergehenden Sonne an unzähligen Stellen.
‚Morgen, Keï, werden wir uns sehen!’, dachte er selig und schloss die Läden nach einer Weile wieder. Dann entledigte er sich seiner Stiefel und ging in den Waschraum.
Wie schwer es war, in den Palast und vor den König oder seine Familie zu gelangen, erfuhr Raen am nächsten Tag. Schon am Unteren Tor musste er all seine Waffen abgeben, sogar seine Stiefel durchsuchten die Soldaten. Verärgert wanderte er anschließend zusammen mit etlichen anderen Stadtbewohnern hinauf zum Inneren Tor, das mehrere Mannslängen hoch aufragte. Und erst jetzt sah er, was es mit dem gestrigen Glanz der Palastmauer auf sich hatte. Jeder einzelne Ziegel des Bauwerkes war dunkelblau glasiert, und eine endlose Prozession von Tieren - Löwen mit aufgerissenen Mäulern, springende Antilopen, Kamele und seltsam gedrungene Fabelwesen mit großen Hörnern auf der Nase - war plastisch darauf abgebildet. Makellos schön war diese Mauer ... aber auch wehrhaft, denn dreieckige gezackte Zinnen bildeten ihre Bekrönung.
Raen blieb stehen und bestaunte das gigantische Wunder der Baukunst mit offenem Mund. Wie lange hatte es wohl gedauert, es zu erbauen? Wie viele Ziegel hatten dafür geformt, wie viele Fuder Glassand hatten dafür fein gemahlen und auf jeden Ziegel aufgebrannt werden müssen? Sein Blick wanderte zum Tor, in dessen Sturz ein Falke übergroß in das blaue Mauerwerk eingearbeitet war. Das Wappentier des königlichen Hauses von Ohaoud stieß mit angelegten Schwingen hinab auf all die anderen Lebewesen, über die es Herr war.
Eine brummige Unmutsbekundung brachte Raen wieder in die Wirklichkeit zurück. Ihm wurde bewusst, dass er inmitten des Weges stand und den Strom der Menschen teilte wie ein großer Flusskiesel das Wasser.
Einer der frühmorgendlichen Palastbesucher, ein älterer gebeugter Mann mit kurzen grauen Haaren und mit von seinen schweren Goldohrringen schon ganz ausgeleierten Ohrläppchen, beschimpfte ihn auf Ohaoudi. Umständlich umschiffte der Alte das lästige ausländische Hindernis und ging aufgebracht gestikulierend weiter.
Raen riss seinen Blick von dem Monument vor sich los und schickte sich an, gleichfalls seinen Weg fortzusetzen. Er hoffte nur, dass all diese Leute nicht auch vor den König gelassen werden wollten.
Diese Hoffnung wurde jäh zerstört, als er schließlich in die Vorhallen des Palastgebäudes gelangte! Denn dort wurde er zusammen mit allen anderen in einen langen Laubengang eingelassen, der einmal um einen rechteckig angelegten Hofgarten verlief, und an dessen Wandseite sich eine einzige endlose Bank aus Stein entlang streckte.
Schnell ließen sich die ersten Ohaoudis nieder, denn es waren beileibe nicht genug Sitzplätze für alle vorhanden, und ehe es sich Raen versah, war für ihn keiner mehr übrig. Missmutig lehnte er sich an eine der schlanken Säulen an der zum Garten hin offen Seite des Ganges, zwischen denen hindurch man in das frische Grün hinausgehen konnte.
Mit verschränkten Armen und abfällig beäugt von der ihm gegenüber sitzenden Reihe Einheimischer wartete er, dass irgendein Palastdiener kommen würde, dem er sein Anliegen vortragen konnte. Er wollte sich nicht den ganzen Tag hier die Beine in den Bauch stehen!
Da öffnete sich eine Tür in der Wand, wo die Bankflucht unterbrochen war, und ein in geckenhaftes hellrosa gekleideter Ohaoudi trat in den Laubengang. Sofort richteten sich alle Augen auf den Mann. Das musste einer der Hofbeamten sein, der die Gesuche der Leute entgegennahm, dachte Raen, stieß sich von der Säule ab und eilte mit entschlossenen Schritten auf den Mann mit dem ulkigen und viel zu großen Ohrschmuck zu. Mürrische Rufe der Empörung begleiteten ihn, aber das war ihm egal. Er wollte nicht länger als nötig warten.
„He!“, rief er dem Hofbeamten entgegen, der seine Augen nur ganz langsam in seine Richtung wandte. „He, ich möchte zu der Prinzessin! Sal al In’Sahdi Keï erwartet mich!”
„Was will der Bakkara?“, fragte der Ohaoudi hochmütig, aber er sprach tatsächlich Graçenisch, und Raen frohlockte. Das würde es erleichtern, ihm zu erklären, was er wollte.
„Ich bin Raen del Shari aus Hy. Sal al In’Sahdi Keï kennt meinen Namen und will mich mit Sicherheit sehen!“, gab er mit erfreuter Stimme Auskunft.
Der Hofbeamte maß ihn eines weiteren verächtlich amüsierten Blickes. Der aus vielen kleinen Gliedern und gefassten Steinen bestehende Ohrschmuck baumelte beinahe bis auf seine Schultern hinab.
„Dich sehen, Bakkara?“, entgegnete er trocken.
„Ja, ganz bestimmt.“ Raen ärgerte es, dass der Kerl ihn ständig Bakkara nannte, blickte aber weiterhin freundlich zu dem Größeren auf.
Der Hofbeamte wedelte geziert mit der Hand und sagte: „Wie alle anderen hier muss auch Bakkara warten, bis sein Name in die Liste aufgenommen wird.“
„In welche Liste?“
„Die Audienzliste, welche der Empfangsverwalter dort führt.“ Der Ohaoudi deutete auf einen dicklichen Mann am anderen Ende des Ganges.
„Und wie lange soll das dauern?“, rief Raen bestürzt aus und sah dabei auf die endlose Reihe der Wartenden. „Etwa Wochen? Hört zu“, er zwang sich, höflich zu bleiben, „soviel Zeit habe ich nicht.“
„Bedaure, die wird Er sich wohl nehmen müssen. Und wenn Bakkara schreit, wird Er noch länger warten müssen!“ Mit diesen Worten drehte der Hofbeamte sich um und stolzierte den Gang hinunter zu dem Empfangsverwalter, mit dem er ein paar Worte wechselte und dabei auf den Hy zeigte.
Raen bemühte sich, Ruhe zu bewahren. Hätte er doch bloß noch diesen verdammten Ring von der Prinzessin! Dann hätte er jetzt nicht derartige Probleme, zu ihr vorgelassen zu werden. Aber der Ring war im Besitz der Askharer und womöglich längst eingeschmolzen oder verschachert worden. Er atmete tief durch und ging zu dem Empfangsverwalter, der mit Griffel und Wachstafel unterwegs war, um sich in undurchschaubarer Reihenfolge die Namen der Wartenden zu notieren.
„Verzeihung, könntet Ihr meinen Namen bitte aufschreiben? Er lautet Ra-“
„Erst in Reihe, dann ich aufschreiben!“ Streng wies der dickliche Bursche mit dem Griffel auf die Bank voller wartender Menschen.
Raen seufzte betont ungehalten und funkelte den Ohaoudi an.
„Ihr wollt mich doch nur zappeln lassen, stimmt’s? Weil Ihr Fremde nicht mögt. Wir Bakkara sind es nicht wert, dass man sie beachtet, nicht wahr? Nun gut, nun gut“, er hob beide Hände, „Ihr habt gewonnen, ich werde brav warten!“ Am liebsten wäre er dem Kerl an die Gurgel gegangen, aber dann hätten ihn die Soldaten, die in regelmäßigen Abständen aufgestellt waren, schnell an die Luft gesetzt und womöglich auch nicht wieder hereingelassen. Er drehte sich um und ging wieder zu seiner Säule, an die er sich lehnte.
Und nachdem er sich damit abgefunden hatte, hier nichts beschleunigen zu können - auch nicht, wenn er randalierte - ergab er sich in die öde Beschäftigung des Wartens. Doch als die Sonne sich am Abend rot färbte, war der Empfangsverwalter mit seiner Liste noch immer nicht bei ihm gewesen.
„Diese Bande von Aasgeiern!“, flüsterte Raen grimmig und räumte nach Aufforderung der Soldaten nur widerwillig seinen Platz an der Säule. Er hatte keine andere Wahl, als zurück in die Herberge zu gehen und sich morgen wieder hier in die Schlange der Wartenden einzureihen.
So, wie auch am Tag darauf und am Tag darauf.
Unfreiwillig musste Raen seine Unterkunft in der vornehmen Herberge Tag um Tag verlängern. Und bald gesellte sich zu seiner Verärgerung über die Warterei auch noch die Sorge um die schnell dahin schmelzende Barschaft in seinem Geldbeutel hinzu.
Eine Woche nachdem er das erste Mal hier aufgetaucht war, wurde Raens Name endlich unter großmütigen Gebärden des Empfangsverwalters in die Liste aufgenommen.
Als Raen ihn fragte, wie lange es jetzt wohl noch dauern könnte, bis man ihm endlich Audienz gewähren würde, erntete er lediglich ein unbekümmertes Schulterzucken.
Wütend sah er dem aufgeblasenen Kerl hinterher. Wie es den Leuten hier erging, die womöglich schon seit Wochen hier saßen und mit Sicherheit allerhand Sorgen mit sich herumtrugen, war dem Palastpersonal offensichtlich vollkommen egal! Das einzige, das in gefälliger Großzügigkeit ausgeschenkt wurde, war Gleichgültigkeit.
Raen bemühte sich, seine Enttäuschung zu verbergen - auch vor sich selbst. Denn er musste sich eingestehen, dass das hier ganz und gar nicht dem Bild entsprach, das er sich von dem allzeit gerechten und stets auf das Wohl des Volkes bedachten Herrscherhauses von Ohaoud gemacht hatte.
Am nächsten Tag fischte er sich erneut den Empfangsverwalter heraus. Aber auch auf seine wiederholte Beteuerung hin, dass die Prinzessin ihn kennen und ihn bestimmt empfangen wolle, verpufften ungehört. Der Dicke ließ ihn erneut einfach stehen.
‚Welch unglaubliche Ignoranz! Welch Arroganz!’, dachte Raen empört und er war geneigt, den damaligen Schmähreden Jovanis über dieses bornierte Volk allmählich Glauben zu schenken. Bis jetzt hatte er nichts als Ablehnung und Überheblichkeit von den Ohaoudis erfahren. Nichts war zu spüren von der Warmherzigkeit und Aufgeschlossenheit, wie sie die Prinzessin besessen hatte. Nichts von Edelmut und Noblesse.
Raen begann zu zweifeln. Hatte er sich vielleicht in allem geirrt, und war Keï nur eine Ausnahme in dieser Herde dünkelhafter Kamele?
Mürrisch hockte er sich zurück auf die Bank, auf der er mittlerweile einen festen Platz sein eigen nennen konnte.
Einige der Wartenden warfen dem mittlerweile wieder in sein Schwarz gewandeten Hy verstohlene Blicke zu. Sie waren es gewohnt, geduldig und fügsam auf eine edelmütige Geste der Mächtigen zu harren. Der Fremde aber schien sich nicht damit abfinden zu können, dass sein Wort hier in diesen ehrwürdigen Hallen nicht mehr Gewicht fand als das Husten einer Eintagsfliege.
„Verdammtes Bürokratenpack!“, stieß Raen gereizt aus, bekam aber nur wieder ein vorwurfsvolles Kopfschütteln seiner Sitznachbarn als Antwort.
Es war der neunzehnte Tag, den er damit begann, auf gleichem Wege wie jeden verdammten Morgen an den Löwen und dem Falken vorbei durch das große blaue Tor in den Palast hinaufzuwandern.
Zu Hause war bereits Beginn der Erntezeit, dachte Raen betrübt, und er saß immer noch hier herum und versuchte das Unmögliche wahr zu machen! Langsam hatte er das Gefühl, sie ließen ihn bloß aus reiner Boshaftigkeit länger als die Einheimischen vor der Tür zum Audienzsaal versauern.
Wie am Tag zuvor, hockte er sich auch heute auf seinen Platz auf der Bank, lehnte den Kopf an die Wand des Laubenganges und brütete, hinaus auf den Garten starrend, vor sich hin. Der Garten war das einzig wirklich Erbauliche an diesem Ort. Aber inzwischen kannte Raen jedes Blatt an den Palmen, jede Segmentrippe ihrer Stämme und auch die Anzahl der zarten roten Blüten, die hier an herzblättrigen Ranken jeden Morgen erblühten - und mit einem Mal stellte er fest, dass er es leid war!
Er wollte hier nicht mehr länger sitzen und sich für dumm verkaufen lassen! Er war ein Hy, er musste sich nicht von den willkürlichen Regeln der Ohaoudis schikanieren lassen. Er hatte seinen Stolz und er war frei, frei, zu gehen! Sollten sie doch alle zum Teufel fahren, von ihm aus auch die Prinzessin!
Mit einem entschiedenen Schwung stand er auf. Was sollte er hier verstauben, während das Leben draußen weiterging? Er wollte sich nicht länger Zeit stehlen lassen. Außerdem hatte er kaum noch Geld.
„Dann wartet mal schön weiter, ihr tapferen Trottel, aber ohne mich!“, verabschiedete er sich auf Hyaunisch von seinem fragend aufblickenden Sitznachbarn und wandte sich zum Gehen.
Bereits zur Hälfte hatte er den Laubengang durchmessen, da ging hinter ihm die Tür in der Wand auf, und sein Name wurde gerufen.
Ungläubig fuhr er herum.
Aber er hatte sich nicht getäuscht, noch einmal erklang sein Name.
„Raen del Shari!“
Er sah, wie der Empfangsverwalter ungeduldig mit dem Finger an seine Liste schnippte, und er wollte schon den nächsten Namen aufrufen, da hob Raen seine Hand.
„Das bin ich! Hier, Raen del Shari“, rief er auf Graçenisch und eilte dem Dicken entgegen, verfolgt von den neidischen Blicken der anderen Wartenden.
Der hochnäsige Hofbeamte stand hinter dem Verwalter in der Tür und schaute einmal an Raen hinab und wieder herauf, als sähe er ihn heute zum ersten Mal. Dann gab er dem Hy ein Zeichen, ihm durch die Tür zu folgen.
Erbost über die chronische Herablassung in dem Blick des Ohaoudi stapfte Raen hinter ihm her.
Sie eilten durch sich endlos windende Gänge, die mit kunstvoll eingemeißelten Ornamentbändern verziert waren. Auch hier konnte Raen den achtzackigen Stern der zwei verschlungenen Vierecke erkennen. Unwillkürlich streckte er die Hand danach aus. Der Marmor war kühl und glatt.
„Nichts anfassen!“, befahl der Hofbeamte, als hätte er hinten Augen im Kopf. Sein rosafarbenes Gewand flatterte im Gehen um seine Knöchel, die Sohlen seiner Sandalen knirschten über den Boden aus rautenförmigen grünen Steinfliesen.
Raen verzog das Gesicht zu einer Grimasse, und streckte dem Rücken des Ohaoudi die Zunge heraus. Das war zwar kindisch, aber er konnte nicht anders, als seinem wochenlang angestauten Ärger auf diese Art Luft zu machen.
Abrupt tauchte der Hofbeamte rechts in einen abzweigenden Gang ein, und Raen beeilte sich, ihm auf den Fersen zu bleiben, ohne dabei allzu sehr zu hinken. Am Ende des Ganges schien die Sonne, und als sie den Lichtfleck erreichten, sah er einen weiteren Innenhof, der sich vor ihnen auftat.
Der Patio hatte an der einen Seite Säulen mit hohen Hufeisenbögen, und auf der anderen standen Tonkübel mit kleinen Palmen darin. Der ganze Hof war nicht mehr als dreißig Schritt lang und zwanzig breit und mit strahlend weißem Marmor ausgepflastert. Bunte Mosaiken zierten in geometrischen Mustern bis auf Brusthöhe die Wände, in die weit oben kleine, spitzbogige Fenster mit Holzgittern eingelassen waren. In einem flachen Springbrunnen in der Mitte des Gevierts sprudelte fröhlich Wasser.
Da es auf Mittag zuging, fiel das Sonnenlicht beinahe senkrecht hinab, und Raen schirmte mit einer Hand die geblendeten Augen ab. Niemand außer ihnen war hier, nicht einmal eine der allgegenwärtigen Palastwachen.
Der Beamte blickte den Hy kühl an und hieß ihn, hier zu warten. Dann verschwand er ohne ein weiteres Wort
Die farbenfrohen Mosaike an den Wänden bewundernd sah Raen sich um. Der Hof hatte noch zwei weitere Zugänge, die aber mit schweren Holztüren verschlossen waren. Einmal hörte er etwas, das wie das helle Lachen einer Frau klang und aus einem der oberen Fenster zu kommen schien. Daraufhin legte er seinen Kopf in den Nacken und blickte in den viereckigen wolkenlosen Himmelsausschnitt.
Würde ihn jetzt die Prinzessin empfangen, oder wieder nur ein anderer hochnäsiger Beamter des Königshauses? Kaum konnte er seine Aufregung noch im Zaum halten und begann unruhig auf den Füßen zu wippen.
„Willkommen in Reschent!“, ertönte es plötzlich hinter ihm, und der Klang der Stimme schoss Raen durch Mark und Bein!
Ruckartig drehte er sich um die eigene Achse und blickte in das ihm so vertraute Gesicht.
Keï!
Sie schien sich kaum verändert zu haben.
„Sal al In’Sahdi, seid gegrüßt“, flüsterte er beinahe ehrfürchtig und verneigte sich vor der schlanken, hochgewachsenen Gestalt, die dort mit auf dem Rücken verschränkten Armen unter dem Säulenbogen stand.
„Raen del Shari, wenn ich geahnt hätte, dass Ihr mich mit einem Besuch beehrt, hätte ich Euch einen adäquateren Empfang bereitet! Aber seid versichert, ich habe den Verwalter soeben dafür gerügt, mir nicht sofort Bescheid gesagt zu haben, dass ein Gast aus dem ehrenwerten Hy auf der Audienzliste steht. Es tut mir leid, dass Ihr so lange habt warten müssen! Aber sagt, warum habt Ihr denn nicht den Ring benutzt, den ich Euch gab?“ Es klang vorwurfsvoll, und Raen dachte verwirrt: ‚Ihr, Euch? Was ist mit dem Du?’ War die Prinzessin zu alter Distanz zu rückgekehrt, oder durfte sie ihn hier nicht anders ansprechen? Es schmerzte ihn ein wenig, nichts von der einstigen Vertrautheit zu spüren.
„Sal al In’Sahdi, es ist schön, Euch wiederzusehen. Der weite Weg hierher hat sich wahrlich gelohnt! Den Ring konnte ich leider nicht vorzeigen, da ich ihn nicht mehr in meinem Besitz habe.“ Er ging ein paar Schritte auf sie zu, zögerlich, denn er konnte es noch immer kaum glauben, sie da leibhaftig vor ihm stehen zu sehen, angetan in ihrem blauen Gewand mit den goldenen Säumen.
Keï, seine Keï!
Sie trug auch Schmuck: Breite goldene Reifen an ihren Oberarmen, eine Kette mit einem großen Saphir um den Hals und kleine Ohrringe. Das alles passte ganz wunderbar zu ihrer dunklen Haut. Raen war hingerissen, zeigte es jedoch nicht.
Vor den vier Stufen, die zu ihr hinaufführten, hielt er an.
„Sagt, Raen del Shari, seid Ihr verletzt? Ihr geht, als ob Ihr etwas mit Eurem Bein hättet.“
Sie hatte es sofort bemerkt! So gut hatte sie seinen alten Gang noch im Gedächtnis. Raen musste lächeln, aber noch war es ein sehr zurückhaltendes Lächeln.
„Das ..., Sal al In’Sahdi, ist eine sehr lange Geschichte“, entgegnete er mehr verlegen als bedeutungsvoll.
„Und würdet Ihr mir diese Geschichte erzählen?“, fragte Keï. Auf ihrem Gesicht lag noch immer ein reservierter Ausdruck.
„Nun, deshalb bin ich zu Euch nach Reschent gekommen.“ Erwartungsvoll blickte er zu ihr auf. Sie zögerte immer noch.
Doch dann begannen ihre Mundwinkel zuckten, und ein erster Abglanz ihres alten Lächelns, ‚seines Lächelns‘, erschien auf ihren Zügen.
Raen wurden unwillkürlich die Knie weich.
Keï streckte die Arme vor, die sie bis jetzt hinter ihrem Rücken gehalten hatte, und reichte ihm sein Schwert, das sie sich offenbar von der Palastwache hatte bringen lassen, mit den Worten: „Kommt und seid mein Gast. Bevor ich aber Eure Geschichte hören kann, muss ich Euch meinem Vater vorstellen, das gebietet der Anstand und das Protokoll.“ Sie trat an ihm vorbei, und dabei streifte ihr Duft nach Lavendel seine Nase. Raen sah sie an, doch sie wich seinem Blick aus und steuerte auf den Gang zu, durch den er mit dem Beamten gekommen war.
Mit ihren langen Beinen weit ausschreitend ging Keï vor ihm her, dass er Probleme hatte, ihr einigermaßen würdevoll folgen zu können. Und wieder spürte er Zweifel in sich aufsteigen. Sie war so kühl. Was dachte sie, warum er hierhergekommen war? Und was versprach er selbst sich überhaupt davon?
Hinter ihrem Rücken schüttelte er den Kopf. Hier in Ohaoud war er noch weniger als in Borgossa, wo er immerhin Campione gewesen war. Für das stolze Wüstenvolk aber war er nur ein Hy, ein Angehöriger eines unbedeutenden Stammes ohne Einfluss auf bewegende Geschehnisse und nicht im Geringsten von Belang für die Politik der bekannten Welt. Sich mit ihm zu beschäftigen, brachte niemandem Profit ein. Er war ein Bakkara, ein namenloses Nichts! Raen fragte sich, wie der König wohl darüber dachte?
Stumm hielt er mit der Prinzessin Schritt, die sich wie zuvor der Hofbeamte nicht nach ihm umsah. Kalt und still spürte er den Blick der Wachsoldaten auf sich lasten, die an jeder Ecke postiert waren.
Sie erreichten ein großes Tor inmitten des Palastgebäudes, und Keï hielt davor an. Das Tor war ein gewaltiger Hufeisenbogen, der mit einer Tür verschlossen war, die bei ihrer Höhe von sechs Mannslängen fußdick sein musste! Auch die Tür war mit den achtzackigen Sternen verziert, und zwei Soldaten, die winzig klein vor ihr wirkten, hielten Wache.
Keï atmete hörbar ein und drehte sich nun endlich zu Raen um.
„Dort drinnen gibt mein Vater die Audienzen und spricht Recht. Das tut er beinahe an jedem Tag der Sommermonate, vom Morgen bis zum Mittag.“
‚Und warum warten diese armen Leute da draußen dann bis zum Abend?’, dachte Raen verärgert, wischte seinen Zorn aber dann beiseite. Was gingen ihn die unverständlichen Regeln dieses Volkes an?
„Mein Vater, der König - Res al Sahdi Alman Karima-Esala, ist sein Titel in unserer Sprache und sein voller Name - weiß, wer Ihr seid. Ich habe ihm viel von Euch erzählt, auch, dass Ihr mich eigentlich begleiten wolltet.“ Wieder war da dieser Vorwurf in ihrer Stimme. Keï blickte zu Boden. „Ich habe lange auf Euch gewartet“, flüsterte sie kaum hörbar.
Aber ehe Raen darauf antworten konnte, öffnete sie eine Pforte in dem großen Tor und trat in den prunkvollen Thronsaal.
Raen schwindelte beinahe bei dem Anblick dieses Raumes, der ein weiteres Wunder der ohaoudischen Architektur verkörperte. Er war nicht groß, aber hoch. Die Decke wölbte sich zu einer Kuppel auf, die ausgefüllt war mit unzähligen feingliedrigen Zapfen gleich einer Höhlendecke mit Stalaktiten aus reinstem, strahlendem Weiß! Eingemeißelte Ornamente überzogen sämtliche Wände, Konsolen und Säulen. Verschlungene Linien rankten sich in geometrischen Mustern über die makellosen Flächen und bildeten immer wiederkehrende Kartuschen, in denen der eine und ewige Schriftzug eingelassen war, der hier überall und natürlich nur für Ohaoudis zu lesen stand.
Die Fenster waren mit kunstvollen Gittern ausgefüllt, durch die das Licht noch zusätzlich schöne Muster auf den polierten Mosaikfußboden warf.
Raens Blick erreichte endlich die Estrade und den Thron.
Der König saß auf seinem erhöhten Platz, der mit einem in verschiedenen Blautönen gewebten Baldachin überspannt war. Auf dem Baldachin war ein aufwendiges geometrisches Sternmuster in Silber eingestickt, das aussah wie eine geheimnisvolle Himmelskarte.
König Alman selbst trug ein tiefblaues Gewand mit silbernen Säumen, und Raen entsann sich, dass Silber in Ohaoud einen höheren Stellenwert einnahm als Gold. Denn das gelbe Metall konnten sie hier in schier unerschöpflichen Mengen aus ihren Bergen holen, Silber jedoch nicht! Silber war die Zier des Königs, und aus diesem Grund war der kunstvolle Reif, der den Kopf Res al Sahdi Almans schmückte, auch aus weißgesudetem, poliertem Silber - ein heller Kontrast zu dem kurzen schwarzen Haar und dem dunklen Gesicht des Herrschers.
Neben dem König auf seinem Thron aus Ebenholz, in dessen Kopfteil der erhabene Falke eingeschnitzt und mit Blattsilber überzogen war, saßen zwei in braune Kaftane gekleidete Berater vorgebeugt und mit kritischen Mienen.
Zu Füßen der Estrade standen drei Männer und eine Frau, einfache Ohaoudis und Bittsteller, die scheinbar untereinander in einen Streit verwickelt waren, denn sie gestikulierten heftig mit ihren Händen und mit anstandsvoll gesenkten Stimmen. Soldaten, die im Hintergrund standen, wachten aufmerksam über die Angelegenheit.
„Wir müssen erst warten, bis mein Vater das Urteil spricht. Soweit ich es verstanden habe, geht es um Wasserrechte in einem Dorf, draußen in der Br’achlan-Steppe“, flüsterte Keï ihm zu und blieb in angemessener Entfernung stehen.
Während sie warteten, blieb Raen noch Zeit, weiterhin den Raum zu betrachten. Und erst jetzt erkannte er, dass die Gitter in den Fenstern nicht aus weiß angestrichenem Holz bestanden, sondern aus Marmor! Fasziniert von diesen unfassbar filigranen, in Stein gemeißelten Formen weiteten sich seine Augen.
Keï bemerkte offenbar seine beinahe kindliche Verzückung angesichts der Wunder dieses Palastes, die ihr längst alltäglich geworden waren, denn sie lächelte leise.
„Was sagt der Spruch in den Kartuschen?“, wollte Raen von ihr wissen.
„Es heißt: Im Namen des Allmächtigen und Barmherzigen, der gebietet über die Welten.“
Raen nickte andächtig und fragte dann: „Und was bedeutet der achtzackige Stern, der gleichfalls überall zu sehen ist?“
„Das ist die Haoud il M’Hamath, die Blume des Propheten. Ein Symbol für die Weisheit des göttlichen Geistes. Diese Blume - Ihr könnt sie auch als lebendiges Gewächs im großen Palastgarten bewundern - erblühte neben dem Propheten, als er im Garten des Herrn den Traum der Erkenntnis hatte. Die zwei ineinander verschlungenen Vierecke stehen aber auch für die Verquickung von Himmel und Erde oder von Geist und Materie.“
Gebannt hatte Raen ihrer gedämpften Stimme gelauscht, aber mehr noch wegen ihres sanften, dunklen Klanges als wegen des Inhaltes. Sein Herz begann erneut zu beben. Es gab so viel zu erzählen! Und wie sehr beglückte ihn der Gedanke, ihrer Stimme endlos zuhören zu können.
Die Prinzessin stand keinen Schulterbreit von ihm entfernt zu seiner Linken, und er spürte ihre glühende, atmende Gegenwart; spürte die unsichtbare Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübte. Heiß quoll ihm die Leidenschaft in die Glieder und ließ seine Finger zittern. Schnell schloss er seine Hände zu Fäusten. Er durfte nicht den leisesten Hauch seiner wahren Gefühle verraten. Das war schon in Borgossa eine äußerst heikle Sache gewesen, hier aber konnte ihn eine einzige unbedachte Geste, ein einziges, scheinbar harmloses Wort den Kopf kosten!
Raen biss die Kiefer aufeinander und zwang sich in eine gleichgültige Ruhe zurück. Vielleicht war wegen seines Wortbruches zwischen ihm und der Prinzessin ohnehin längst alles verdorben, und er konnte sich glücklich schätzen, dass sie ihn überhaupt derart freundlich empfing. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Keï sich neben ihm bewegte.
„Das Urteil wurde gesprochen. Jetzt seid Ihr an der Reihe“, sagte sie und ging langsamen Schrittes auf den Thron zu. Raen folgte ihr.
König Alman und seine beiden Berater blickten den fremden Krieger, der ihnen da entgegenkam, forschend an, und Raen wagte es kaum, diesen Blick zu erwidern. Eingeschüchtert von der Strenge, die Keïs Vater ausstrahlte, entschied er sich, auf einen Punkt zu Füßen des Herrschers zu sehen. Dabei fiel ihm auf, dass auch der König lediglich Sandalen trug. Zwar waren diese mit Silber verziert, aber es war das gleiche schlichte Schuhwerk, das die meisten Ohaoudis an ihren Füßen hatten.
„Vater, verzeiht bitte die Unterbrechung Eurer Beratung, aber ich möchte Euch jemanden vorstellen.“
Raen war verwundert, dass Keï Graçenisch sprach, wartete aber ab, was sie weiter noch zu sagen gedachte. Sie streckte die Hand in seine Richtung aus.
„Das ist der ehrenwerte Raen del Shari, von dem ich Euch erzählt habe. Er war es, der mir damals in Borgossa das Leben gerettet hat, wovon ich Euch berichtete.“ Die Prinzessin sah von ihrem Vater zu Raen, was bedeutete, dass er nun das Wort hatte.
„Seid gegrüßt, Res al Sahdi Alman Karima-Esala. Ich fühle mich geehrt, dass Eure Majestät mich empfangen.“ Er wusste nicht, wie man dem König von Ohaoud huldigte und verneigte sich deshalb, wie er es auch vor dem höchsten Würdenträger Hys tun würde, tief mit vor der Brust aneinandergelegten Händen. Als er sich aufrichtete, war die Miene Almans noch immer ausdruckslos. Auch seine beiden Berater starrten ihn ernst an.
Raen hielt den Atem an, und die Stille des Kuppelsaales drang beinahe bedrohlich auf ihn ein.
Doch dann ging eine kaum wahrnehmbare Regung durch das Gesicht des Königs, und sein Mund bekam einen etwas nachgiebigeren Zug.
„Auch ich, Res al Sahdi Alman, begrüße Euch, Raen del Shari aus dem Volke der Hy. Ich möchte Euch meinen Dank aussprechen, meine Tochter und folglich auch mein Haus vor schlimmen Folgen bewahrt zu haben. Dafür gebührt Euch im Namen des ohaoudischen Volkes Anerkennung ... und auch eine angemessene Belohnung, falls Ihr diese wünscht.“ Alman sprach beinahe akzentfreies Graçenisch, und seine Stimme war tief und volltönend.
Raen erinnerte sich daran, dass auch der König in seinen jungen Jahren als Student in Borgossa gewesen war, denn es war, so hatte ihm Keï damals erzählt, eine alte Tradition des Königshauses.
Selbstbewusst hob er sein Kinn. „Nein, ich wünsche keine Belohnung für das, was ich getan habe, denn es geschah ohne jeglichen Eigennutz.“
„Was ist dann der Anlass Eures Besuches?“, fragte Alman deutlich verwundert.
Raen fühlte sich in seiner Ehre gekränkt. Der König dachte tatsächlich, er hätte die weite Reise hierher nur unternommen, um den Sold zu kassieren. Offen sah er dem Res al Sahdi in die Augen.
„Nun, Majestät, ich habe Eurer Tochter damals ein Versprechen gegeben und bin gekommen, um es einzulösen!“
„Etwa das Versprechen, ihr als Leibwächter zu dienen?“, erkundigte sich Keïs Vater interessiert.
Raen nickte. „So ist es.“
„Und warum tatet Ihr das? Ihr seid Angehöriger eines fremden Volkes. Was führt Euch dazu, Euch für die Belange Ohaouds verwenden zu wollen?“
Auch diese Frage war durchaus berechtigt, dachte Raen. Nur, wie sollte er sie beantworten? Fieberhaft suchte er nach einer plausiblen Erklärung für seine einstigen Beweggründe, doch diesmal kam ihm Keï zu Hilfe.
„Ich hatte ihn darum gebeten, weil er mir, was er ja bewiesen hatte, als geeignet erschien.“
„Das erklärt aber immer noch nicht, warum er als Bakkara dieses Versprechen einging. Hat er denn seinem eigenen Volk gegenüber keine Verpflichtungen?“
„Nein!“, stieß Raen aus. Er ärgerte sich noch immer über das Wort, das ihn als Nichts deklarierte, obwohl der König es vermutlich nicht mit Absicht so gemeint hatte. „Mich bindet nichts mehr an mein Volk, das mich zu Unrecht aus seiner Gemeinschaft verstoßen hat! Ich gehe meinen eigenen Weg und treffe meine eigenen Entscheidungen. Und meine Entscheidung war es, Sal al In’Sahdi Keï als Leibwächter zu dienen, da mir dies als eine überaus ehrenvolle Aufgabe erschien! Denn, auch wenn ich ein Bakkara bin, weiß ich dennoch, was Ehre bedeutet!“ Raen warf einen neutralen Blick auf Keï, die ihn überrascht ansah. Natürlich wusste sie nichts von dem wahren Grund, der ihn damals nach Borgossa geführt hatte.
„Wenn Euch, wie Ihr sagtet, von Eurem Volk Unrecht widerfahren ist, verspürt Ihr dann nicht den Wunsch nach Rache?“, spürte König Alman geschickt nach.
„Nein, Eure Majestät, Rache liegt nicht in meinem Wesen. Trotz aller Enttäuschungen, die ich durch mein Volk erfahren habe, bin ich im Herzen und in der Seele noch immer ein Hy, ich kämpfe allein für den Frieden!“ Das stimmte zwar nur zur Hälfte, klang aber ganz hervorragend.
Res al Sahdi Alman nickte anerkennend über diese, wie ihm schien, ehrliche Antwort. „Ich denke, ich verstehe nun Eure Gesinnung und ich erlaube Euch, als Gast in meinem Hause zu weilen.“ Er wandte sich an Keï. „Sal al In’Sahdi Keï, was ist Euer Trachten in dieser Angelegenheit?“
Raen bemerkte die liebevolle Güte in den Augen Almans, mit der er seine Tochter anschaute.
„Raen del Shari soll mein persönlicher Gast sein, das ist mein Wunsch! Und da er darum bittet, darf er auch sein Versprechen einlösen, sofern Ihr es gutheißt, Vater!“
Nachdenklich und schweigsam blickte Res al Sahdi Alman eine geraume Weile auf den Hy.
Raens kalte Finger zuckten erwartungsvoll.
„Mir ist die herausragende Kunst der hyaunischen Schwertkämpfer durchaus zu Ohren gekommen, dennoch möchte ich mir zuvor ein eigenes Bild von Euren Fähigkeiten machen. Anschließend werde ich entscheiden, ob Ihr in den Dienst meiner Tochter treten dürft. Bis dahin sollt Ihr nichts weiter sein als unser Gast.“ Er hob die Hand, was wohl das Zeichen dafür war, dass das Gespräch beendet war.
Keï verneigte sich leicht, und Raen tat es ihr nach. Auf demselben Weg, auf dem sie gekommen waren, verließen sie den Thronsaal wieder.
„Was bedeutet das, Euer Vater will sich ein Bild von meinen Fähigkeiten machen?“, fragte Raen die Prinzessin später, als sie bei einem gemeinsamen Mahl auf einer der erhöhten Terrassen mit Ausblick auf die Palastgärten saßen.
„Ich denke, er wird an Euch die Proben eines Kriegers vollziehen wollen, die in Ohaoud für jeden angesehenen Kämpfer Tradition sind. Damit wäret Ihr dann auch in den Kreis unserer Krieger aufgenommen.“
„Und wie sieht eine solche Probe aus?“
„Ihr müsst in drei Waffendisziplinen gegen den jeweils Besten der Palastkrieger antreten und Euch auszeichnen: Schwert, Bogen und Speer vom Pferderücken aus. Anschließend müsst Ihr acht Tage in der Wüste verbringen und eine Antilope jagen. Gelingt Euch das, dürft Ihr den Schweif der Antilope an Eurem Helm tragen. Die Antilopenjäger sind die vortrefflichsten und stolzesten Krieger Ohaouds. Aber keine Angst, das werdet Ihr schon schaffen, da bin ich sicher. Schließlich habe ich Euch in Borgossa all diese Disziplinen mit meisterlicher Bravour ausführen sehen“, plauderte die Prinzessin unbekümmert, doch dann schien ihr plötzlich ein anderer Gedanke zu kommen. Ihre Hand, mit der sie nach dem Wasserkelch greifen wollte, verharrte in der Luft. „Ich vergaß. Sagt, könnt Ihr mit Eurem Fuß überhaupt kämpfen?“ Sie blickte ihn schuldbewusst an.
Raen erkannte, dass ihr in diesem Moment all die Dinge durch den Kopf gingen, die sie in den vergangenen Stunden von ihm erfahren hatte, auch was in Askhar geschehen war. Keï hatte ihm sogar die Dienste ihrer Ärzte angeboten, die angeblich dazu fähig, Operationen durchführen. Aber Raen hatte dankend abgelehnt und geantwortet, er hätte sich daran gewöhnt und es sei sein Schicksal, diesen Makel zu tragen.
„Ich werde die Proben bestehen, seid unbesorgt, Sal al In’Sahdi“, sagte er nun beruhigend und sah Keï in die Augen, doch sie senkte wieder ihren Blick.
‚Was hat sie nur?’, fragte er sich enttäuscht. ‚Ständig weicht sie mir aus.’ Es behagte ihm ganz und gar nicht, sich schon wieder in einem Duell beweisen zu müssen. Aber noch mehr schmerzte ihn die Ernüchterung, die er fühlte ob ihrer kühlen Zurückhaltung. Jetzt, da sie alles von ihm erfahren hatte, jetzt, da sie wusste, was jenen unseligen Verzug verursacht hatte, konnte sie ihm doch beileibe nicht mehr gram sein?
Bevor ihn auch noch Selbstmitleid erfassen konnte, erwachte Raens innere Stimme der Vernunft und schalt ihn: ‚Was, bei Hyaun, hast du dir denn bloß vorgestellt? Dass sie dir in die Arme fällt hier unter dem strengen Blick des gesamten ohaoudischen Reiches? Törichter Träumer, bleib verdammt noch mal auf dem Boden! Du hast nicht das geringste Anrecht auf sie. Hast du nie gehabt, also reiß dich zusammen und halte den Abstand ein, denn er ist gesünder für dich!’
Raen blickte auf Keïs Leibdienerin Faïshe, die schüchtern im Hintergrund saß. Nur sie wusste etwas von den Geheimnissen zwischen der Prinzessin und ihm. Plötzlich durchflutete ihn die Sehnsucht nach der alten unbeschwerten Zeit in Borgossa. So wie damals würde es nie wieder werden, dachte er wehmütig. Das war vorbei. Im Stillen aber hoffte ein ganz kleiner Teil von ihm, dass nicht alles endgültig vorbei war und sie wieder zu ihrer Freundschaft finden würden.
Die Kunde über den ungewöhnlichen Gast der Prinzessin hatte sich schnell im ganzen Palast herumgesprochen und überall, wo er auftauchte, wurde der Hy neugierig begutachtet. Ein Bakkara, der die Gunst Sal al In’Sahdi Keïs besaß, musste etwas Besonderes sein!
Die Prinzessin hatte Raen in einem eigenen Raum untergebracht, der einfach, aber gemütlich mit einem Bett und einem Tisch eingerichtet war. Außerdem hatte er einen Balkon mit Blick auf den Garten. Morgens schien die Sonne direkt ins Zimmer, und nachts zog angenehm der Wind durch die Bogenfenster, und auch die gedämpften, noch nicht sehr vertrauten Geräusche des Palastes schwebten herauf.
Raen lag auf dem Bett und sah nachdenklich ins Dunkel. Er wollte sich bemühen, sich so schnell wie möglich an die fremde Atmosphäre zu gewöhnen. Wenn alles so verlief, wie er es sich vorstellte, würde er die nächsten Jahre hier verbringen. Es war sein selbstgewähltes Exil. Er lachte lautlos. Kein Priester aus Hy sollte noch einmal behaupten können, dass man sein Schicksal nicht selbst in die Hand nehmen könne! Er war der beste Beweis dafür, dass es doch ging. Er war hier, und das trotz aller Barrieren, die das Schicksal ihm vor die Füße geworfen hatte!
Draußen schrie ein Vogel, den er nicht kannte. Und nachdem Raen noch eine Weile gelauscht hatte, überkam ihn endlich der Schlaf.
„Wo kann ich üben?“, erkundigte er sich bei der Prinzessin am nächsten Morgen.
„Kommt mit, ich zeige Euch den Palast und anschließend den Waffenhof.“ Sie marschierte vorweg.
Raen befürchtete schon, Keï wolle ihn tatsächlich durch jedes einzelne der Palastgebäude schleifen. Denn das würde sicherlich einen ganzen Tag in Anspruch nehmen, und am Ende wüsste er trotzdem nicht, wo er sich in diesem Labyrinth befand.
Doch das Befürchtete blieb aus. Keï stieg mit ihm lediglich einen der höchsten Türme hinauf und erläuterte ihm die wichtigsten Teile der riesenhaften Palastanlage aus der Sicht des Falken, wie sie es nannte.
„Dort ist der Waffenhof mit Exerzier- und Reitplatz und dahinter die Soldatenquartiere und Stallungen. Am Westende des Palastes befindet sich der Thronsaal mit der Kuppel, seht Ihr? Ich werde Euch nach Bestehen Eurer Probe nach und nach in alle Räumlichkeiten und Wege einweihen, auch in die nicht ganz so offiziellen. Irgendwann müsst Ihr Euch aber zurechtfinden, wenn Ihr mein Leibwächter sein wollt!“ Sie sah in kurz an, und ein Lächeln blitzte in ihren Augen auf. Aber noch ehe es sich auch auf ihre Lippen legen konnte, tötete sie es ab.
Raen war versucht, sie hier und jetzt auf ihr übertrieben sprödes Verhalten anzusprechen, aber ein Wachsoldat stand in ihrer Nähe, und deshalb ließ er es zunächst bleiben. Dafür sah er sie forschend von der Seite an. Dabei bemerkte er, dass sie seinen Blick bemüht ignorierte und scheinbar unbekümmert in die Ferne schaute. Ärger kribbelte in seinem Bauch. Er wusste selbst, wie dumm es war, aber er mochte es nicht, wie sie ihn behandelte! Auch wenn sie ihre wahre Zuneigung verbergen musste, eine gewisse freundschaftliche Beziehung durfte sie zu ihm doch wohl pflegen. Sie blieb ihm ein Rätsel.
Keï drehte sich von ihm weg und ging zur Luke, durch die sie wieder hinabstieg. Raen folgte ihr mit grimmiger Miene.
Er hätte ahnen können, dass Keïs schroffe Distanz nur ein Schutzschild war, und dass sie ihn gegen ihn verwenden musste! Da tauchte ganz unerwartet der Mann auf, den sie mit aller Gewalt zu vergessen versucht hatte, weil er sie tief enttäuscht hatte, und drohte nun, sie erneut in Verzweiflung zu stürzen. Der Schutzschild war ihre einzige Rettung.
Nachdem sie den Turm hinabgestiegen waren, gingen sie durch den Garten zum Westflügel hinüber. Keï zeigte Raen die Blume des Propheten, die gerade in voller Blüte stand. Sie hatte blaue, längliche Blütenblätter, deren Spitzen sich leicht nach außen bogen und einen großen, mit braunen Punkten getupften Kelch formten, aus dem an langen Stielen gelbe Staubbeutel herausragten. Ihr Stängel und ihre Blätter waren hellgrün und ihr Duft betäubend süß. Er durchströmte den ganzen Garten mit seltsam betörender Kraft, und Raen wurde es ganz warm ums Gemüt.
Sie passierten den großen Springbrunnen, in dem das Wasser glitzernd sprudelte, und das murmelnde Geräusch tat noch ein weiteres dazu bei, dass Raen sich in einer anderen Dimension wähnte. Er schloss kurz die Augen und gab sich und seine Sinne den Klängen und Gerüchen dieser erfrischend fremden Welt hin, die bald sein neues Zuhause sein sollte.
Ein schriller Schrei weckte ihn jäh aus seinem Tagtraum. Es war derselbe Vogelruf wie in der vergangenen Nacht. Verwundert schaute er sich um und erblickte das seltsamste und eitelste Geschöpf, das er je gesehen hatte!
Vor ihm stolzierte ein Vogel so groß wie ein ausgewachsener Hahn einher. Seinen Kopf zierte eine kleine, zitternde Krone, und sein Gefieder schillerte in allen nur erdenklichen Farben. Was aber am beeindruckendsten war, war sein langer Schweif aus prächtigen Federn, den er stolz hinter sich her schleifte.
Der Vogel blieb stehen, als gefiele ihm die Bewunderung des Hy. Er stieß einen weiteren markanten Schrei aus und entfaltete plötzlich seine Flut aus Schwanzfedern zu einem bunten hohen Rad, das Raen bis zur Schulter reichte. Wie unzählige Augenpaare sahen ihn die dunklen Flecken auf den runden Federspitzen an.
„Oh!“, entfuhr es ihm überrascht, und Keï schmunzelte über sein Staunen.
„Das ist ein Pfau. Prächtiges Kerlchen, nicht wahr? Allerdings schmecken sie auch gut. Er sollte sich in Acht nehmen, beim nächsten Fest nicht im Kochtopf zu landen!“, scherzte sie und ging weiter.
Sich immer wieder den Kopf nach dem märchenhaften Vogeltier verdrehend, eilte Raen ihr nach. Was für Wundern würde er hier wohl noch begegnen?
Sie verbrachten den gesamten Vormittag gemeinsam und nahmen dann ein leichtes Mittagsmahl ein. Anschließend zogen sie sich wie die meisten Bewohner für die Stunden der ärgsten Hitze des Tages in kühlere Gefilde des Palastes zurück. So lernte Raen den verschwiegenen Teil der gigantischen Festung kennen und musste feststellen, dass die privaten Gemächer der königlichen Familie und ihrer Bediensteten noch verschwenderischer ausgestattet waren als die öffentlichen. Blüten, Blätter und andere stilisierte Pflanzenteile rankten sich auf den gemeißelten Friesen an der oberen Wandhälfte, und die Kachelmuster auf der unteren offenbarten besonders verwirrende Muster. Nur ein Blick genügte nicht, um auch nur eines von ihnen mit all seinen Einzelheiten erfassen zu können. Wahrscheinlich hätte Raen eine Woche davor sitzen können und hätte es dennoch nicht begriffen. Seine Augen wussten nicht, wo sie bei dieser Flut von Pracht ausharren sollten, immer wieder lenkte etwas Neues seine Aufmerksamkeit auf sich. Überall trennten farbige Stoffvorhänge behagliche Schlupfwinkel aus Kissen und flachen Tischen von den anderen Bereichen ab, und wo die Nischen gar zu dunkel waren, schimmerte das Licht bunter Laternen und lud zum Verweilen ein. Das taten sie dann auch endlich, und eine Dienerin brachte ihnen kühles Wasser und eine Schale voll jener runden, gelben Früchte, die Raen an den Palmen hatte hängen sehen. Es waren frische Datteln, erklärte die Prinzessin, und sie schmeckten vortrefflich.
Während sie beide auf den bequemen Kissen die gedämpfte Kühle genossen, fragte Keï immer wieder nach Raens Erlebnissen in Askhar und später in Hy, und er wurde nicht müde, ihr davon zu berichten. Besonders die Flucht aus Askhar und der geheimnisvolle Helfer faszinierten die Prinzessin. Einige Details ließ er bei seinen Berichten allerdings geflissentlich aus. So die beispiellose Schmach, die ihm in Askhar unter dem betäubenden Einfluss dieses abscheulichen Rauschmittels widerfahren war, und auch seine Heirat mit Suneka und seine beiden Kinder. Er verspürte einen merkwürdigen Stich in der Brust, als er an Sosama und Roakyn dachte. Warum getraute er sich nicht, sie Keï gegenüber zu erwähnen? Fürchtete er etwa, die Prinzessin würde ihn aus moralischen Gründen tadeln oder sich gar von ihm abwenden?
Schnell verscheuchte er diesen Gedanken wieder. Vielleicht würde er ihr später davon erzählen.
Den gesamten Nachmittag verbrachten sie in der Nische mit Blick auf einen kleinen schattigen Innenhof, nur mit der obligatorischen Faïshe in ihrer Nähe. Aber so sehr Raen sich auch mit lockeren Scherzen und heiteren Anekdoten bemühte, die alte Vertrautheit wieder aufleben zu lassen, blieben die Gesten und Gebärden auf Seiten der Prinzessin doch rein förmlicher Natur. Zu keiner einzigen freundschaftlichen Regung ließ sie sich hinreißen. Natürlich spürte er den verborgenen Kampf, der hier zwischen ihnen stattfand, und es erinnerte ihn an seine erste Begegnung mit Keï, als im Zweikampf sein Schwert immer wieder an ihrem Schild abgeglitten war. Genauso verhielt es sich auch jetzt, nur dass es sein Lächeln war, das an ihrem Blick abglitt!
Schon damals hatte sie ihn verzaubert, und das tat sie noch immer. Und er würde so lange nachforschen, bis sie ihm wenigstens erklärt hatte, warum sie sich so unnahbar gab.
Erneut steifte sein Blick ihr Gesicht. Das Verlangen, diese dunkle Haut, ihre Lippen noch einmal zu berühren, ihren Duft einatmen zu können, brachte ihn nahezu an die Grenzen jeglicher Besonnenheit. Und nur ein winziger Funken seines noch arbeitenden Verstandes hielt ihn davon ab, sie sofort in beide Arme zu schließen und sie zu küssen.
‚Zerstöre nicht gleich am ersten Tage, was du dir hier aufzubauen erhoffst!’, rief er sich zurecht und blickte nachdenklich in den Hof hinaus. Die mitleidige Miene Faïshes bemerkte er dabei nicht.
Noch am Abend desselben Tages kündigte Keï ihm an, dass auf Wunsch ihres Vaters noch heute der königliche Sternendeuter zu ihm kommen würde, um nach seinen Geburtsdaten zu fragen.
„Und wozu soll das gut sein?“, fragte Raen.
„Dies wird verraten, was die Sterne für Euch bereithalten.“ Mit diesen Worten kam auch schon ein sehr kleines und sehr hageres Männlein an einem kunstvoll geschnitzten Stock, der ihn um mehrere Handspannen überragte, in den Raum getippelt. Sein Haar war eine schlohweiße Mähne, die sein hohlwangiges Gesicht umrahmte. Raen schätzte, dass er nicht mehr allzu viele Zähle sein eigen nennen konnte.
„Er wird Euer Horoskop erstellen.“
„Horoskop?“ Er sah die Prinzessin skeptisch an.
„Ein Horoskop ist eine Voraussage der günstigen Momente. In Ohaoud befragen wir immer zuerst die Sterne, bevor wir zum Beispiel eine Reise unternehmen oder den Tag für ein Hochzeitsfest festlegen. Denn alles hat einen voraussagbar günstigen Zeitpunkt, der berücksichtigt werden sollte, um die Harmonie des Kosmos’ nicht zu stören. Aus der Stellung der Gestirne und den Daten Eurer Geburt werden Eure Glückszahlen errechnet“, führte die Prinzessin aus und erwiderte den stummen Gruß des Sternendeuters.
„Und was tun diese Zahlen?“ Raen war bereits aufgefallen, wie versessen die Ohaoudis auf Zahlen waren. Und es nahm ihn Wunder, dass diese Menschen, die so unbeirrbar an die Allmacht ihres einzigen Gottes Ashallah glaubten, gleichzeitig so abergläubisch aufgrund von bloßen Zahlenkombinationen sein konnten.
Keï lächelte ihn an, als sei er ein kleines Kind, das eine dumme Frage gestellt hatte. „Mit Hilfe der Zahlen lässt sich das Universum beschreiben und verstehen. Sie sind die Sprache der Sterne, sie verraten uns Menschen etwas von dem kosmischen Plan. “
Das hatte Raen schon einmal gehört und zwar von seinem Freund Kaera, für den Zahlen auch eine göttliche Kraft besaßen.
„Wir nennen das einfach Schicksal. Aber nun gut“, sagte er und zuckte mit den Schultern. Was konnte dieser zauselige Wahrsager schon groß vorhersehen? Raen glaubte nicht, dass es neben dem Großen Orakel der Mitte noch ein anderes menschliches Wesen gab, das tatsächlich in die Zukunft schauen konnte. Wahrscheinlich hätte sogar er selbst mehr Fähigkeit dazu als dieser alte Zauberer hier, dachte er belustigt.
„Braucht er dafür die hyaunische Zeitrechnung oder die Eure?“, fragte er die Prinzessin.
„Die unsere, falls Ihr es umrechnen könnt.“
Raen nickte und verriet dem Alten bereitwillig Tag und Jahr seiner Geburt. Keï übersetzte, woraufhin sich der Sternendeuter wortlos verneigte und wieder aus dem Raum wackelte. Er hatte kein einziges Wort gesprochen.
„Es wird eine Weile dauern, bis er die Sterne befragt hat, zumindest eine Nacht. Aber ich bin zuversichtlich, dass er morgen Früh schon so weit sein wird.“
‚Nur zu, ist mir eh einerlei’, dachte Raen und ließ seine Gedanken wieder um das kreisen, was sich mit aller Bestimmtheit voraussagen ließ: Die baldige Probe der Krieger.
Am nächsten Morgen kam der Wahrsager, gerade als sie das frühe Mahl beendet hatten. Keï wies alle Bediensteten bis auf Faïshe an, den von kühler Morgenluft erfüllten Raum zu verlassen, und ließ den Sternendeuter vortreten. Der klemmte sich seinen Stock unter die Achsel, neigte seinen Kopf vor und begann leise mit monotoner Stimme zu sprechen. Dabei malte er mit seinem dünnen Zeigefinger geheimnisvolle unsichtbare Zeichen auf seine Handfläche. Sein ausgezehrtes zahnloses Gesicht blieb währenddessen völlig ausdruckslos. Nur die Spitzen seiner Haarmähne zitterten ein wenig.
Keï hörte sich alles in Ruhe an, auch ihre Miene verriet nicht das Geringste. Nachdem der Alte geendet hatte, sah sie langsam auf und übersetzte für Raen: „Er sagt, da sei etwas Ungewöhnliches. Die Sterne zeigten auch nach mehrmaliger Berechnung bei Euch zweierlei Strömungen an.“
Da Raen nicht wusste, was das Weltbewegendes zu bedeuten hatte, wartete er, bis Keï weitersprach.
„Das eine ist der Fluss des Universums und das andere offenbar Euer eigener sehr starker Herzstrom, der den kosmischen Strom abzulenken versucht. Deshalb hat der Sternendeuter nicht viel sehen können, nur dass über allem eine unerledigte Aufgabe steht, die ihm als goldene Pfeilspitze erschienen ist. Der Sternendeuter hat versucht, dieses Zeichen zu entschlüsseln, doch er sagt, nur Ihr -“
„Was für ein Unfug!“, unterbrach Raen sie unwirsch. Er wollte nichts mehr von diesem Gefasel hören! Diese verfluchte Pfeilspitze! Hatte sie ihm nicht schon genug Ärger eingebracht? Warum verfolgte sie ihn noch immer?
Er hatte seine Aufgaben doch erfüllt. Alle, und er wollte nichts mehr damit zu schaffen haben. Schluss damit! Er sah von seinen unwillkürlich verkrampften Händen auf und erkannte, dass er Keï mit seiner unhöflichen Unterbrechung gekränkt hatte. Aber das war ihm egal, er wollte nicht mehr über dieses Thema reden und wiederholte noch einmal mit Nachdruck: „Schluss mit diesem Unsinn!“
„Wollt Ihr tatsächlich nicht mehr davon wissen?“, fragte die Prinzessin mit gerunzelter Stirn.
„Nein!“
„Auch nicht, dass der Wahrsager noch eine riesenhafte Spinne und ein rotes Pferd mit einem Menschenkopf gesehen hat?“
„Ich sagte doch: NEIN!“
„So sei es denn“, entgegnete sie schnippisch und versteifte sich in ihrer Haltung. Sie hob einen Zeigefinger. „Trotz allem werden wir die Zahlen berücksichtigen, die er für den Tag Eurer Probe errechnet hat!“
„Und?“
„Er empfiehlt den Morgen nach dem nächsten Vollmond.“
„Das ist in vier Tagen.“
„Ganz recht.“ Keï nickte. Sie dankte dem Sternendeuter und schickte ihn fort. An Raen gewandt sagte sie anschließend: „Ihr habt vier Tage, um Euch darauf vorzubereiten. Ich werde indes meinem Vater davon berichten. Er wird dem nichts entgegenzusetzen haben, denn er respektiert stets die Empfehlungen des Sternendeuters.“ Betont missfällig blitzte sie Raen an und erhob sich. „Wir sehen uns heute Abend beim Nachtmahl, ich habe jetzt noch eine wichtige Zusammenkunft.“ Ohne sich weiter zu erklären, ließ sie ihn allein.
Mit verschränkten Armen blieb Raen auf seinem Kissen hocken.
„Zum Teufel mit sämtlichen Weissagern, Prophezeiungen und Orakeln!“, brummte er verärgert. „Ich habe gründlich genug von all dem Mist. Bei Hyaun, was wären die Menschen glücklicher ohne diesen Hokuspokus! Vor allem ich wäre glücklicher!“
Die nächsten drei Tage verbrachte Raen ausschließlich im Waffenhof, wo er mit einigen Ohaoudis, die sich dazu bereiterklärt hatten, trainierte und vor allem den Umgang mit dem ohaoudischen Bogen und dem Speer übte. Doch es fiel ihm nicht schwer, sich an die neuen Waffen zu gewöhnen. Dafür hatte er schon immer ein gewisses Talent gehabt, dachte er spöttisch. Zudem freute er sich über die Arbeit mit Rekori. Diener hatten den Hengst zusammen mit seinem Gepäck aus der Herberge hinauf in den Palast geholt, und neben den edelblütigen und temperamentvollen Pferden der Ohaoudis nahm er sich zwar plump und grobschlächtig aus, aber sie waren ein eingespieltes Zweiergespann. Und Raen wusste sehr genau, was er an Rekori hatte, deshalb lehnte er auch das Angebot der Ohaoudis ab, eines der nervösen Wüstenpferde zu reiten.
Die Prinzessin bekam er unterdessen kaum zu Gesicht, aber das war auch gut so, denn sie hätte ihn nur abgelenkt.
Den Tag vor der Probe hielt der Krieger aus Hy Ruhe und genoss die Vorzüge des königlichen Badehauses. Und während ein medianischer Walksklave ihm ordentlich zu Leibe rückte, wuchs in ihm die Zuversicht, die Probe mit Würde zu bestehen. Denn wenn er eines gelernt hatte, dann war es, zu kämpfen!
Und tatsächlich bewies Raen am nächsten Tag vor den wenigen versammelten Zeugen und der königlichen Familie im gleißenden Licht der Vormittagssonne, dass er einem Muskelberg der ohaoudischen Palastwache durchaus gewachsen war und ihn im Schwertkampf mit scheinbarer Leichtigkeit sogar noch weit überflügelte - ungeachtet seines lädierten Fußes.
Der König wunderte sich zwar über den eigenwilligen Bewegungsstil des Hy, schien aber mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. Er winkte Raen mit wohlwollender Miene zu sich heran. Neben ihm saßen Keï und die Königin, die der hyaunische Gast am heutigen Tage zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Beinahe trotzig schaute die Prinzessin ihn an. War sie etwa noch immer eingeschnappt? Raen stellte fest, dass sie ihrer Mutter, einer sehr zurückhaltenden und ernsten Frau, wie aus dem Gesicht geschnitten war. Er verneigte sich.
„Ihr habt gut gekämpft und diesen Teil der Probe bestanden“, sprach König Alman freundlich. „Noch heute soll der zweite Teil beginnen. Mein Waffenmeister wird Euch ausrüsten, und eine kleine Eskorte wird Euch dann nach Westen in die Wüste bringen, wo Ihr zu Sonnenuntergang auf der höchsten Düne Eurem Gott huldigen und ihn um gutes Gelingen bitten könnt.“
Raen bedankte sich und folgte dem Waffenmeister.
Im Zeughaus, das eher dem Vergleich einer Halle standgehalten hätte, bekam er, was jedem Absolvent dieser besonderen Probe zugesprochen wurde: Eine lederne Wurfleine, zwei gut gefüllte Wassersäcke, einen Beutel mit Hartbrot für acht Tage, einen zweischneidigen Dolch, der mit einem breiten Lederband am Oberarm befestigt wurde, einen Bogen und einen einzigen Pfeil. Raens Schwert forderte der Waffenmeister ein. Der Hy gab es nur äußerst widerstrebend her und auch erst, nachdem ihm nachdrücklich erklärt worden war, dass keiner der Antilopenjäger ein Schwert bei sich tragen durfte. Als Kleidung wählte Raen sich anschließend einen knielangen, sandfarbenen Kaftan, den er sich mit dem eigenen Stoffgürtel, an dem sein Zhangha-Beutel hing und ohne den er niemals irgendwohin ging, um die Hüfte raffte. Darüber legte er sich einen braunen Umhang. Als Schutz gegen die Sonne tauschte er seinen Helm gegen eine Stoffbahn, die er sich in bereits gewohnter Weise um den Kopf wickelte. Stiefel und Hose behielt er an.
Der König, die Königin und ihre älteste Tochter verabschiedeten ihn daraufhin und wünschten ihm Glück.
Mit gemischten Gefühlen sah Keï dem davonreitenden Hy hinterher. Sie hätte ihn warnen sollen. Die Antilopenjagd war eine gefährliche Probe. Viele furchtlose Krieger waren von ihr nicht wieder zurückgekehrt, denn das, was dort draußen im Sand lauerte, waren nicht nur das feindselige Land und die unbarmherzige Macht der Sonne ...
Nach mehreren Stunden Ritt durch die endlosen Sanddünen der Wüste stieß die kleine Gruppe um Raen auf eine besonders hohe Sandaufwehung. Seine ohaoudischen Begleiter erklärten ihm, dass hier der Ort sei, an dem die Probe beginne und auch nach acht Tagen bei Sonnenuntergang wieder ende. Er musste ihnen Rekori aushändigen und sah der Reiterschar mit dem ledigen Pferd nach, wie sie Reiter für Reiter hinter einem fernen Dünenkamm verschwand, und schließlich war Raen vollkommen allein mit sich und der beängstigenden Weite des sandigen Meeres. Über ihm erstreckte sich der rötlich angehauchte Abendhimmel bis hin zu jedem der vier Horizonte, und nur der Wind flüsterte um seinen Körper.
Er beschloss, die Nacht auf der Düne zu verbringen und sich erst morgen auf die Suche nach den Antilopen zu machen, denn von hier aus hatte man die beste Übersicht. Er grub sich eine Sandmulde, schmiegte sich hinein und versuchte, mit der heraufziehenden Nacht Schlaf zu finden.
Reichlich durchgefroren erwachte er noch vor Sonnenaufgang. Im Schneidersitz und mit dem Gesicht gen Osten gewandt erwartete er das erhabene, immer wiederkehrende Schauspiel des anbrechenden Tages. Hoffnungsvoll blinzelte Raen in den aufstrebenden orangeroten Sonnenball und hielt Zwiesprache mit Hyaun. Auch Hrauna, die ihm hier ein gänzlich fremdes Gesicht zeigte, bat er um Gewogenheit und Geborgenheit in ihrem Schoß.
Nach dem Morgengebet nahm er einen Schluck Wasser, aß ein paar Bissen Brot und machte sich dann daran, seine Umgebung zu studieren. Mit einer Hand die Augen abschirmend drehte er sich um die eigene Achse und sah nach jedem Horizont hin. Im frühen Morgenlicht ließ es sich weit blicken. Aber im Westen waren nichts als Sanddünen zu sehen, im Norden das Gleiche, und unter der Sonne im Osten verhielt es sich nicht anders, das wusste er, denn aus dieser Richtung waren sie ja gestern gekommen. Er inspizierte seine eigenen Spuren, sie waren noch gut zu erkennen und notfalls würden sie ihm den Weg zurück zum Fluss und nach Reschent weisen. Er wandte sich nach Süden, denn es schien ihm, als könne er dort eine verheißungsvolle Abweichung im gewellten Muster der Dünen erkennen. Da war etwas in der Ferne, das womöglich nicht aus Sand bestand, es hob sich in diffusen Flecken von den scharfen Linien der Sandwogen ab. Vielleicht waren es Bäume?
Raen überprüfte die Himmelsrichtung, er würde genau nach Süden gehen müssen, um dort hinzugelangen. Er schulterte die Taschen und seinen Bogen und stapfte los. Während er ging, schaute er immer wieder zurück, um sich die Form und Lage der großen Düne einzuprägen. Er konnte nur schlecht schätzen, wie weit die vermeintlichen Bäume entfernt waren, aber er hoffte, sie noch an diesem Tag zu erreichen.
An einigen Stellen war der Sand sehr weich, und schnell brach auf Raen seiner Wanderung der Schweiß aus. Gegen Mittag brannte die Sonne so heiss, dass er eine Rast einlegen musste. An der steilen Schulter einer Düne grub er sich eine ebene Ablage, rammte den Bogen am Kopfende in den Sand, den Pfeil vier Schritt davon entfernt und spannte die Stoffbahn seines Turbans zwischen Pfeil und Bogen auf. Erleichtert, den sengenden Strahlen wenigstens für kurze Zeit zu entkommen, legte er sich in den Schutz des Schattenfleckes und döste ein wenig.
Die Sonne war nur zwei Handbreit weitergewandert, als er sich wieder auf den Weg machte. Aber schon bald begann die lebensnotwendige Last der Wassersäcke auf seine Schultern zu drücken und erschwerte sein Vorankommen, das durch seinen beeinträchtigten Fuß ohnehin schon mühsam genug war. Immer wieder verließ Raen die Täler und erklomm einen Dünenkamm, spähte nach den Bäumen im Süden und nach Tierfährten. Wüstenfuchs und Wildkamele waren vor ihm in dieselbe Richtung gestrebt, leider aber keine Antilopen.
Gegen Einbruch der Nacht hatte der einsame Wanderer die angepeilte Stelle noch immer nicht erreicht, sie war zwar schon näher gerückt, und Raen war sich mittlerweile sicher, dass es sich tatsächlich um Bäume handelte, aber er würde wohl noch einen Tag benötigen, um dorthin zu gelangen. Wo Bäume waren, da war auch Wasser, und wo Wasser war, da war auch Wild! Raen frohlockte, die Jagd an einem Wasserloch war denkbar einfach, und er war guter Dinge, dort früher oder später auf Antilopen zu stoßen. Er richtete sich sein schlichtes Lager für die Nacht ein, und nachdem er seine Position anhand des Nordsternes überprüft hatte, übermannte ihn der Schlaf.
Am Abend des folgenden Tages kam Raen am Rand des überraschend weit ausgedehnten Steppengebietes an. So viel man erkennen konnte, war es umringt von Dünen, und er schätzte die Fläche auf die Größe des Shari-Chor.
Viele Spuren, auch die von Antilopen, führten die Dünen hinab in das recht dicht bewachsene Buschland, aus dem hier und da eine Akazie mit braungrünem Blätterdach ragte. Doch bevor Raen den Tierfährten folgte, wollte er die nächsten Schritte noch einmal gut durchdenken. Er grub seine Nachtmulde, setzte sich auf den Dünenkamm und überschaute den Landstrich. Das Wasserloch war von hier aus nicht zu sehen. Er würde den Spuren bis dorthin folgen müssen und sich dann in einem Versteck auf die Lauer legen. Er hatte nur einen Pfeil - also nur einen Versuch -, und musste sich seines Erfolges absolut sicher sein, wenn er ihn abschoss. Geduld und Besonnenheit waren also höchstes Gebot. Doch Raen war zuversichtlich, er hatte von morgen an noch vier ganze Tage, dann erst würde er zum Ausgangspunkt zurückkehren müssen.
Als die Dunkelheit über das Land hereinfiel, legte er sich nicht gleich schlafen. Er wollte auf Tierrufe horchen und den Busch im Licht des noch fast vollen Mondes beobachten.
Der Wind hatte sich gelegt, und in der beinahe gespenstigen Stille hörte er die leisen Laute von Schakalen, die durch den Busch schlichen. Plötzlich knackte es direkt unter ihm im Geäst und gleich darauf noch ein weiteres Mal. Mehrere große grauschwarze Schatten schoben sich zwischen den Büschen hervor. Ihre Rücken wiegten gemächlich im silbrigen Mondschein, und Raen erkannte schnell, dass es eine kleine Herde wilder Kamele war, die in nordwestlicher Richtung an ihm vorbei in die mondhelle Wüste zog. Er beobachtete das undurchdringliche Gestrüpp noch länger, doch nichts tat sich mehr, und bald legte er sich zum Schlafen in die Mulde.
Den nächsten Morgen begann er ebenso wie den davor mit einem Gebet. Danach aß und trank er, richtete seine Kleidung und Ausrüstung und ritzte mit dem Dolch eine dritte Kerbe in den Ledergriff des Bogens, denn bei der Eintönigkeit, mit welcher die Tage hier in der Wüste vergingen, wollte er es nicht riskierten, die Übersicht zu verlieren. Erwartungsvoll ließ er seinen Blick noch einmal über das Gelände streifen, setzte sich dann in Bewegung und verschwand schließlich im dornigen Buschwerk.
Zunächst hielt er sich am östlichen Rand der Steppe, bis er eine frische Antilopenfährte entdeckte. Er prüfte erneut die Windrichtung und folgte dann entgegen dem Wind der Fährte von mindestens vier Tieren tiefer in den Busch hinein. Immer wieder blieb er stehen und lauschte und spähte, der Halbschatten, den die Akazien warfen, waren ihm dabei willkommene Erholung.
Behutsam arbeitete er sich vor, schlich um dichtes Gestrüpp und Baumstämme herum immer der Fährte nach, die sich deutlich im sandigen Boden abzeichnete. Als sich das Gelände allmählich öffnete, erkannte er durch das Geäst eines mannshohen Gehölzes mehrere Schatten. Es waren die grauen Leiber von Antilopen!
Aufregung packte ihn, doch er durfte nichts überstürzen. Ganz bedächtig nahm er allen unnötigen Ballast von seinen Schultern, hängte ihn an den herabhängenden Ast einer kleinen Akazie und legte den Pfeil auf die Bogensehne. Ohne ein Geräusch zu verursachen, pirschte er sich immer näher an die Tiere heran.
Als er das Gehölz erreichte, hielt er inne und spähte zwischen den Ästen hindurch.
Die Antilopen - es waren vier - standen ruhig an einem trüben Wasserloch, dessen Uferränder von unzähligen Hufen und Pfoten ganz ausgetreten waren, und soffen. Zwischendurch hoben sie immer wieder ihre gehörnten Köpfe und witterten aufmerksam. Aus der Nähe waren diese Tiere noch fabelhafter anzusehen. Kräftige, stets zum Sprung bereite Muskelstränge zeichneten sich unter ihrem glatten Fell ab und ihre schön gemusterten Gesichter blickten klug umher, ihre ganze Haltung wirkte wahrhaft königlich!
Da Raen von seiner gegenwärtigen Position aus keinen sauberen Schuss abgeben konnte, weil Äste den Pfeil abgelenkt hätten, suchte er sich eine geeignetere Stelle. Langsam, so dass die Antilopen seine Bewegungen nicht wahrnehmen konnten, stahl er sich Schritt um Schritt zu einer kleinen Öffnung hin, die sich rechterhand im Gebüsch auftat. Dort verharrte er erneut, begutachtete die Lücke und schätzte die Entfernung zu den Tieren. Er entschied sich, es zu wagen. Als geübter Jäger wählte er sich das Tier aus, welches frei von den anderen stand und ihm seine ganze Seite präsentierte. Dann nahm er eine stabile Haltung ein und zog bedächtig die Sehne aus. Schon lenkte er die Pfeilspitze auf die tödliche Stelle kurz hinter dem Schulterblatt der Antilope und hielt den Atem an, dann ließ er die Sehne los.
Seine Augen verfolgten den schnellen Flug des Pfeils über die vierzig Schritt hin bis zu seinem Ziel. Doch beinahe gleichzeitig schreckte etwas die Herde hoch, und alle Tiere sprangen aufgeregt davon. Der Pfeil verfehlte sein Ziel und schlug in das gegenüberliegende Gebüsch ein.
Raen stieß einen Fluch aus und brach durch die Äste auf die Lichtung mit dem Wasserloch. Nichts war zu hören oder zu sehen.
Was zum Teufel hatte die Antilopen verjagt?
Er war sich sicher, dass er es nicht gewesen war.
Als sich der Staub legte, lief er um das Wasserloch herum zu dem Busch, in dem sein Pfeil verschwunden war. Er fand ihn schließlich noch mehrere Schritte weiter hinter dem Gesträuch auf der Erde liegen. Eine Feder hatte sich vom Schaft gelöst und etwas Blut klebte an der scharfen Spitze. Er hatte das Tier also wenigstens gestreift, konnte aber auch von Glück sprechen, es nicht angeschossen zu haben, denn dann wäre die Antilope mitsamt dem Pfeil auf- und davongelaufen, und wäre erst Tage später irgendwo kläglich verendet.
Raen säuberte die Stahlspitze, flickte die Feder wieder an den Schaft und begab sich zurück zu dem Baum, an den er seine Ausrüstung gehängt hatte. Durst quälte ihn und er genehmigte sich ein paar Züge aus dem Schlauch. Danach sah er sich um. Die Chance, dass dieselbe Herde zur Tränke zurückkehrte, war gering, waren die Tiere doch jetzt gewarnt, und noch war auch nicht klar, was sie vertrieben hatte.
Sorgfältig erforschte Raen die Umgebung des Wasserlochs, lief einmal darum herum und suchte nach Spuren. Was er schließlich fand, jagte ihm ein Prickeln über seine Kopfhaut! Scharf sog er die Luft ein, während er die frische Fährte inspizierte.
Nicht einmal zehn Schritte von der Stelle entfernt, wo sein Pfeil gelegen hatte, verlief eine unverkennbare Spur durch den Sand.
„Hyaun, steh mir bei“, flüsterte er und starrte auf die handgroßen Prankenabdrücke.
Bei allen Kreaturen, die in Hraunas Schoß lebten, hatte er gehofft, zumindest diesem furchterregenden Wesen nicht begegnen zu müssen.
Ein weiterer Schauder schüttelte ihn. War das Untier etwa noch da gewesen, als er den Pfeil aufgenommen hatte?
Auf jeden Fall war das der Grund, warum die Herde davongelaufen war.
Als Raen sich von seinem Schreck erholt hatte, bemühte er sich, seine Gedanken in eine vernünftige Reihenfolge zu bringen. Die Sonne sank allmählich dem Horizont entgegen, und er brauchte ein sicheres Versteck für die Nacht. Er entsann sich einer Akazie mit mächtiger Baumkrone und fand sie wenig später wieder.
Zumindest ließ ihn sein guter Orientierungssinn nicht im Stich.
Er sah an dem Stamm hinauf in das ausladende Geäst. Mit der Lederleine würde es ihm gelingen, dort hinaufzukommen. Im Baum wäre er sicher und vielleicht konnte er von dort oben aus auch das Gelände besser überblicken. Er schickte sich an, das auserkorene Nachtquartier zu erklimmen. Im letzten Licht des Tages stieg er bis ganz hinauf auf einen langen Ast und sah auf die Steppe hinab. Er konnte sogar erahnen, wo das Wasserloch lag, doch Gebüsch und die Kronen anderer Bäume verdeckten es. Nichts bewegte sich dort unten. Beruhigt kletterte er wieder zurück und wählte einen breiten Hauptast aus, auf dem er die Nacht mit dem Rücken an den Stamm gelehnt und festgebunden mit dem Turbanstreifen verbringen wollte - keine besonders verlockende Aussicht, aber in Anbetracht der Gefahren, die auf dem Boden lauerten, blieb ihm nichts anderes übrig.
Die Dunkelheit löste die Dämmerung ab, und bald darauf ging der Mond auf. Er tauchte die Landschaft um Raens erhöhtes Obdach in ein fahles Licht. Eine ganze Zeit lang suchte der unfreiwillige Baumgast jeden Handbreit des Gestrüpps in der näheren Umgebung nach Bewegungen ab, doch schließlich sank er erschöpft in einen unruhigen Schlaf.
In seinen Träumen umkreisten furchterregende Geschöpfe seinen Baum, dunkle Wesen direkt aus dem Reich der Dämonen. Sie erhoben sich auf ihre Hinterklauen und kratzten am Stamm, zogen tiefe blutende Furchen in die Rinde. Ihr Geifern und Knurren klang schauderhaft, und man konnte meinen, das Schnappen ihrer Kiefer zu vernehmen. Doch dann erschien plötzlich der Herrscher der Nacht! Er stieß ein markerschütterndes Gebrüll aus, fauchte und warf stolz seinen Kopf hoch. Sofort zogen sich alle anderen Kreaturen zurück. Der Herrscher der Nacht kam auf den Stamm zugeschlichen, und seine gewaltigen Pranken scharrten dabei voll überschüssiger Kraft durch den Sand, wie auch sein langer Schwanz ungeduldig hin und her schlug.
Das Untier gelangte unter den Baum und sah hinauf. In seinen gelben Augen funkelte es mordgierig.
Sein Rachen öffnete sich, und erneut drang ein Brüllen daraus hervor, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ ...
Raen schreckte auf. Aber es dauerte nicht lang, und er erkannte, wo er war. Er saß auf einem Baum. Um ihn herum war es stockdunkel, nur die Sterne leuchten hart und hell am Himmel. Der Mond war längst untergegangen.
Raen fröstelte und wickelte sich fester in den Umhang. Bis zum Morgengrauen waren es noch einige Stunden und er schloss, den Kopf an den harten Stamm gelehnt, wieder die Augen. Er bemerkte nicht, wie etwas sehr Großes mehrmals seinen Baum umschlich und sich dann zum Wasserloch davonmachte.
Wie gerädert erwachte der Jäger am nächsten Morgen und brauchte eine Weile, bis seine steifen Glieder so weit waren, dass er gefahrlos den Abstieg wagen konnte, ohne vor Schwäche den Halt zu verlieren. Doch zuvor blickte er sich sorgsam um.
Als er schließlich vom letzten Ast in den Sand sprang, flog über ihm ein Schwarm kleiner Vögel auf, die ebenfalls die Nacht in der Krone des Baumes verbracht hatten.
Raen hob den Wassersack auf und dabei fiel sein Blick auf eine Fährte, die vom Baum wegführte. Seine Eingeweide zogen sich zusammen.
Kein Zweifel, die Fährte war am Abend zuvor noch nicht da gewesen. Der Herrscher der Nacht war hier unter seinem Baum herumgeschlichen!
Ein plötzlicher Schmerz durchzuckte seinen Kopf, und verwirrt fasste er sich an die Stirn. Bilder aus seinem Traum drangen in seine Erinnerung, Bilder vom Herrscher der Nacht - wie er sein Maul aufriss, brüllte und mit seinen krallenbewährten Pranken um sich schlug.
Aber das war doch alles nicht wirklich gewesen, es war nur ein Traum! Er schüttelte sich und bekam seine Angst allmählich wieder unter Kontrolle. Nachdem er noch einen Moment wachsam gelauscht hatte, erleichterte er sich und nahm anschließend lustlos sein fades Frühstück ein. Dann schnitt er die vierte Kerbe in den Bogen und machte sich unter aller Vorsicht auf den Weg zum Wasserloch, wo er den ganzen Tag verbrachte, ohne dass sich auch nur ein Lebewesen blicken ließ. Nicht einmal die Vögel zog es zum Wasser hin, auch fiel Raen auf, dass ihr Gesang verstummt war. Das große Raubtier musste noch in der Nähe sein!
Er bezwang seine Furcht und verharrte mit gespannten Sinnen und schussbereitem Bogen. Doch nichts rührte sich. Weder Antilopen noch Kamele und auch nicht der Herrscher der Nacht zeigten sich.
Mit arg getrübter Laune begab sich der erfolglose Jäger am Abend zu seinem Baum zurück. Nur noch zwei Tage blieben ihm.
Auch in dieser Nacht träumte er schlecht, fühlte die Kreaturen am Fuße des Stammes im Dunkeln kauern. Er erkannte, dass unter ihnen jetzt auch ein Mensch war, der sich genau so schauerlich wie die Ungeheuer benahm. Unentwegt kratzte er mit krallenartigen Fingernägeln am Stamm und geiferte unverständliche Worte. Sein Gesicht jedoch blieb stets im Schatten, und als erneut der Herrscher der Nacht auftauchte und brüllte, verschwand er in unnatürlich gebückter Haltung rennend und mit abgewandtem Antlitz.
Wieder waren am Morgen frische Spuren unter dem Baum und wieder verlief der Tag erfolglos. Obwohl Raen um die Gefahr des herumschleichenden Raubtieres wusste, döste er immer wieder aufgrund der Hitze in seinem Versteck am Wasserloch ein. Doch jedes Mal, wenn ein Geräusch ihn aufschrecken ließ, und er seine Augen wieder aufriss, war nichts zu sehen. Auch vom Herrscher der Nacht fehlte jegliche Spur.
Raen befürchtete jedoch, dass er irgendwo dort draußen lauerte, denn es war eindeutig, dass etwas Bedrohliches die anderen Tiere noch immer vom Wasserloch fernhielt.
So würde es nie etwas mit der Antilopenjagd werden, dachte er entmutigt. Er musste sich etwas anderes einfallen lassen. Vielleicht sollte er wieder hinaus in die Wüste gehen und dort nach den Tieren Ausschau halten? Sie verbargen sich bestimmt zwischen den Dünen und warteten, bis das große Raubtier seine Geduld verlor und seine Jagd aufgab.
‚Oder ich jage den Herrscher der Nacht selbst!’, dachte er trotzig. ‚Wenn ich ihn erledigt habe, dann kommen die Antilopen zurück.’ Er erhob sich aus seiner hockenden Stellung und ging zu den Spuren des Löwen, die er am Morgen neu entdeckt hatte.
Er lief die Fährte ab, den Bogen immer schussbereit. Doch die Prankenspuren kreuzten sich immer wieder mit anderen und bildeten bald ein verwirrendes Netz, das zu weitläufig war, als dass Raen es erfassen konnte. Auch führte eine Fährte hinaus in die Wüste. Nachdenklich blieb er auf der Düne stehen und blickte in die Ferne. Wenn er die letzte Nacht seiner Probe auf dem Weg zu der großen Düne ohne zu rasten durchwanderte, dann hätte er noch einen Tag mehr zur Verfügung, um zu jagen.
Auf seinem Rückweg zum Nachtlager fand Raen etwas, das nach einem Rastplatz des Raubtieres aussah, denn dort war im Sand der große Abdruck eines Körpers zu sehen. Die Spuren waren sehr frisch, und es schien, als hätte der Herrscher der Nacht hier in aller Ruhe ein Mittagsschläfchen gehalten.
Die Farben der Dämmerung überzogen allmählich den mit feinen Dunstwolken verhangenen Himmel. Raen blickte hinauf. Er konnte sich nicht daran erinnern, überhaupt schon einmal eine Wolke an diesem quälend blauen Firmament gesehen zu haben. Ob das etwas zu bedeuten hatte? Kurz überlegte er, in dieser Nacht vielleicht lieber auf dem Boden zu bleiben und ein Feuer zu entzünden, wie Bebidas es ihm dereinst empfohlen hatte. Doch dann erschien ihm der Baum erneut als sicherer, und unverrichteter Dinge stieg Raen wieder hinauf auf seinen Ast, wo er nach einiger Zeit des unbequemen Hin- und Herrutschens schließlich Ruhe fand.
Der Herrscher der Nacht brüllte, und der Mensch mitten unter den Kreaturen aus der Unterwelt hob seinen Kopf. Sein junges Gesicht war wutverzerrt, und seine Augen versprühten heißen Wahnsinn. Plötzlich schoss aus seinem Mund statt Zunge ein mit schleimigem Speichel bedeckter Wurm. Sein kleines Maul mit metallisch glänzenden Zähnen öffnete sich, und er stieß einen schneidend hohen Ton aus.
„Resa!“, rief Raen erschrocken aus und warf die Arme hoch. Er spürte plötzlich, dass er fiel, und seine Lider flogen auf.
Doch die Welt war schon aus dem Gleichgewicht geraten, das Dunkel der Nacht wirbelte an ihm vorbei. Raen überschlug sich und landete unsanft im sandigen Boden auf dem Hinterteil, wobei er sich die linke Hand verrenkte. Der Schmerz schoss ihm bis in den Ellenbogen hinauf.
„Verfluchter Trottel!“, stieß er zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor und hielt sich das taube Handgelenk. „Hast vergessen, dich festzubinden! Den Bogen wirst du mit dieser Hand jedenfalls nicht mehr halten können!“ Voller Wut trat Raen mit den Füßen Sand auf. Die kleine Staubwolke schimmerte im Mondlicht.
Warum konnte er nicht einfach einmal Glück haben!
Er verharrte auf dem Boden, bis der Schmerz nachließ. Dann untersuchte er sein Handgelenk. Es war nicht ausgerenkt, aber ob etwas gebrochen war, konnte er nicht feststellen. Er wollte sich erheben, da ertönte ein erschütterndes Gebrüll.
Raen erstarrte. Nur seine Augen bewegten sich und prüften unsicher das, was sich um ihn herum befand. Alles wirkte normal, die Dunkelheit, der Mond, das Gebüsch und der Baum. Und auch das Pochen in seiner Hand verbot jeglichen Zweifel, dass er noch träumte.
Das Brüllen schallte erneut durch die Todesstille der Nacht. Es war schwer, festzustellen, wo sich die Bestie befand und wie weit sie noch entfernt war.
Raen gelang es, sich aus seiner Starre zu lösen. Er sprang auf und eilte zum Stamm, doch das Seil, mit dessen Hilfe er stets an ihm hochgeklettert war, hing noch oben. Verzweifelt suchten seine Finger an der Borke nach Halt, aber seine linke Hand war nicht zu gebrauchen. Mit wachsender Furcht stellte er fest, dass auch der Bogen samt Pfeil noch oben im Baum hing!
„Verflucht, verflucht!“ Er schlug gegen die raue Rinde.
Als das Brüllen wieder erklang, war es schon wesentlich näher gekommen.
Raen fuhr herum und presste sich mit dem Rücken gegen den Stamm. Mit weit aufgerissen Augen suchte er das dunkle Gebüsch rund um den Baum ab.
Es knackte, und ein Zweig schien sich zu bewegen, doch dann war es wieder still - bis auf Raens eigenen schnellen, keuchenden Atem. Er zwang sich zur Ruhe. Wenn er in Panik geriet, würde im das nichts nützen. Er musste seine Angst bekämpfen!
Sein Hirn arbeitete fieberhaft, schickte ihm statt der notwendigen Klarheit aber immer wieder die irren Trugbilder seines Traumes. Einmal sah er sogar ganz deutlich Resas verzerrtes Gesicht vor sich und das Aufblitzen der gelben Augen der Bestie im Gebüsch. Er schüttelte den Kopf und schlug sich mit dem Handballen auf die Stirn, um wieder zu sich zu kommen.
Da ertönte es wieder, das grässlich heisere Gebrüll! Und endlich waren Raens Sinne hellwach, als hätten sie den Vorhang des Traumwahns endlich gewaltsam fortgeschoben!
Er stieß sich vom Baumstamm ab, riss den Dolch aus der Scheide an seinem Oberarm und lauschte angestrengt auf jedes noch so kleine Knistern und Knacken. Er legte den Kopf schief, um die Richtung zu orten, aus der es kam. Da gewahrte er einen riesenhaften, geduckten Schatten zu seiner Rechten.
Doch noch im selben Moment, in dem er sich drehte, kam der Schatten scheinbar schwerelos auf ihn zugeflogen. Ein schmerzhafter Schlag traf ihn an der Schulter, riss den Stoff seiner Kleidung auf und warf ihn zu Boden. Wildes Fauchen erklang von allen Seiten, und Staub wirbelte auf, aber noch ehe Raen wieder auf die Füße kommen konnte, war die Bestie über ihm. Ihr Gewicht drückte ihn auf die Erde zurück, und wieder traf ihn ein Hieb mit einer Pranke, diesmal an der Brust - gefährlich nahe an der Kehle vorbei!
Raen spürte warm und feucht Blut fließen und hob schützend einen Arm gegen den Schatten. Mit dem anderen versuchte er, zuzustoßen.
Das Gebrüll und der Gestank der wütenden Bestie waren überwältigend. Die Klinge seines Dolches traf auf etwas Hartes und glitt ab.
Er holte erneut aus und stieß wieder zu, während das Vieh seine Zähne bleckte und seinen anderen Arm packte.
Dann war es für einen Herzschlag lang, als erstarre die Bestie, und im nächsten Moment stürzte ihre ganze Körpermasse auf Raen hinab. Der große Kopf des Raubtieres schlug gegen den seinen, und er verlor das Bewusstsein.
Warum roch es so beißend? Und warum bekam er kaum Luft?
Raen öffnete die Augen und blinzelte in das grelle Tageslicht. Sofort schloss er sie wieder, weil stechende Schmerzen durch seinen Schädel schossen.
Was war geschehen?
Er wollte seine Arme heben, doch etwas hielt sie niedergedrückt. Sein ganzer Körper schien unter einem bleischweren Gewicht festgenagelt. Seine Lider flatterten und öffneten sich zu einem kleinen Spalt. Nach und nach gewöhnten sich seine Pupillen an das schmerzende Sonnenlicht, und er konnte wieder Farben und Formen wahrnehmen. Als er eine ganze Weile verwirrt in den dichten Mähnenpelz gestarrt hatte, der ihm ins Gesicht hing, kam plötzlich die Erinnerung zurück.
Beinahe panisch und unter Aufgebot all seiner Kräfte stemmte Raen sich unter dem behaarten, stinkenden Tierleib hervor, kroch hastig auf allen vieren davon, um Abstand zu gewinnen, und wandte sich dann wieder der regungslosen Bestie zu. Sie lag auf dem Bauch, den Kopf mit den noch immer gefletschten Zähnen nach vorn gestreckt.
Mit klopfendem Herzen betrachtete er das mächtige Geschöpf, sah die lange dunkle Mähne, die muskulösen Schultern unter dem glänzend hellbraunen Fell und die katzenartig weichen Pfoten, aus denen scharfe Krallen hervorstachen. Die gelben Augen blickten noch immer kalt abschätzend und mit tödlichem Kalkül in die Welt.
Raen schauderte. Wie leicht hätte er in diesem Kampf der Unterlegene sein können! Dann hätte er dort gelegen, mit zerfetzter Kehle.
Aber war das Vieh auch wirklich tot?
Er reckte seinen Hals vor und konnte erkennen, dass die Pupillen starr und leblos waren, die schwarzen Lefzen eingetrocknet und der mächtige Brustkorb sich nicht mehr hob und senkte.
Der Herrscher der Nacht war besiegt!
Langsam beruhigte sich Raen, doch mit der Aufmerksamkeit, die sich nun auf seinen eigenen Körper konzentrierte, erwachten auch die Schmerzen. Er sah an sich herunter und begutachtete seine Wunden. Das linke Handgelenk war mittlerweile geschwollen und steif. Seine Schulter konnte er zwar bewegen, aber die Prellung lief bereits blau an und tat höllisch weh. Das Blut, das die Vorderseite seines Kaftans tränkte, war zum Teil sein eigenes und zum anderen das des Ungeheuers. Vier tiefe Kratzspuren verliefen einmal quer über seine Brust, und er stelle fest, dass sie noch immer leicht bluteten.
Mit dröhnendem Schädel riss er seinen Umhang in Streifen und verband sich notdürftig. Dann sank er erschöpft in den Staub und blieb auf dem Rücken liegen. Bleierne Müdigkeit bemächtigte sich seiner, und ehe er sich noch Gedanken über die merkwürdigen Schatten im Baum über ihm machen konnte, schwanden ihm erneut die Sinne.
Nervtötendes Fliegensummen!
Viele kleine Beine, die über sein Gesicht liefen!
Raen setzte sich rasch auf und verscheuchte die lästigen Insekten, die mit ihren kleinen Rüsseln gierig Schweiß und Blut von seiner Haut aufgesaugt hatten.
Mit immer noch schwirrendem Kopf sah er sich um. Die Sonne war ein beträchtliches Stück weitergewandert, und ihr Licht fiel bereits verdächtig schräg durch die Äste der Bäume. Es war Abend, er hatte einen ganzen Tag verschlafen!
Er bemerkte, wie sich über ihm etwas bewegte, und sah in den Baum hinauf. Überrascht weiteten sich seine Augen.
Dort oben hockte dicht an dicht eine ganze Armee schwarzer Geier und wartete mit eingezogenen Hälsen geduldig darauf, dass das hinderliche Lebewesen dort unten endlich den Weg zum ersehnten Festmahl freigab - oder auch starb.
Einer der Geier stieß ein hässliches Krächzen aus und schüttelte sein Gefieder. Raens Blick traf auf seine Ausrüstung, die zwischen den Vögeln hing, auch die beiden Wassersäcke, und zum ersten Mal spürte er seine ausgedörrte Kehle.
Doch an das Wasser in den Säcken würde er niemals herankommen, nicht in seinem Zustand. Zum Durstlöschen musste er also zum Wasserloch laufen und das möglichst noch vor Einbruch der Dunkelheit.
Mit Mühe raffte Raen sich auf, warf einen letzten Blick auf den toten, von einem dichten Schwarm Fliegen übersäten Löwen und wankte mit schmerzenden Gliedern den ganzen Weg bis zum Wasserloch, wo er nach einer kräftezehrenden Ewigkeit endlich ankam. Er fiel auf alle viere nieder, steckte seinen Kopf in das schlammige Wasser und trank in großen Zügen; er soff wie ein Kamel, ohne darüber nachzudenken, ob das Wasser überhaupt genießbar war. Als er genug hatte, wusch er sich Gesicht und Hände und schleppte sich dann wieder hinauf zum Gestrüpp. Mit dem Aufblinken der ersten Sterne am östlichen Horizont kroch er in den dornigen Schutz der Zweige, rollte sich zusammen und ergab sich einem dumpfen traumlosen Schlaf.
Es musste der Tag der siebten Kerbe sein, dachte Raen, als er im Gestrüpp erwachte, sich mehr tot als lebendig fühlend. Ihm blieben nur noch zwei Tage, um wenigstens noch bis zu der großen Düne zurückzugelangen. Er hatte zwar kläglich versagt und schämte sich dessen, aber sterben wollte er hier draußen nicht. Also musste er seine verbliebenen Kräfte sammeln und noch heute aufbrechen.
„Wenn ich mich noch einmal kräftig mit Wasser volltrinke, dann schaffe ich es vielleicht auch.“ Er spürte, wie es in seinen Bauch gefährlich rumorte, ignorierte es aber und erhob sich stöhnend, um zunächst am Wasserloch zu trinken.
Zwei Schakale sahen ihn rechtzeitig kommen und huschten davon. Ihre Mäuler waren vom Blut gefärbt. Wie die Geier hatten auch sie in der Nacht reichlich gefressen.
Nachdem er sich gelabt und etwas Zhangha gegen die Schmerzen zu sich genommen hatte, überprüfte Raen den Sitz seines Verbandes. Er suchte sich einen Astknüppel, auf den er sich stützen konnte, und blickte nach vorn.
„Ich habe schon Ärgeres überstanden!“ dachte er und lächelte, um sich Mut zu machen.
Dann stapfte er entschlossen los, er hatte keine Zeit zu verschenken.
Die Sonne brannte auf seinen ungeschützten Scheitel und dörrte sämtliches Denken aus seinem Kopf. Sein Körper bewegte sich allein vom zähen Willen zehrend. Er wollte überleben!
Hoch über ihm kreisten seine ständigen Begleiter am Himmel. Sie hatten an dem Löwenkadaver wohl noch nicht genug zu fressen gehabt und harrten nun auf ein weiteres opulentes Mahl.
Als es Nacht wurde, fiel Raen einfach um und schlief wie ein Stein. Am Morgen zog ihn ein unsichtbarer Faden wieder auf die Beine und führte ihn Schritt um Schritt weiter nach Norden. Kaum spürte er noch Hunger oder Durst, starr war sein Blick auf den Horizont gerichtet, und seine ausgetrocknete, geschwollene Zunge lallte unverständliche Worte. Heiße Windböen zerren an seiner Kleidung und versengten seine Haut, und unter seinen Stiefelsohlen knirschte der immer ewig gleiche Sand.
Schließlich versiegte auch der letzte Tropfen seines Schweißes, und es begann ihm zu schwindeln. Schwarze und rote Flecken tanzten vor seinen Augen und nahmen ihm die Sicht. Kaum brachte er noch einen Fuß vor den anderen. Dann geriet er ins Straucheln. Er schloss seine schmerzenden Lider und schlug der Länge nach in den Sand.
Fasziniert von dem Gedanken, jetzt wohl zu sterben, erwachte sein Geist ein letztes Mal und verfeinerte ihm seine Sinne, so als wären sie aus Spinnweben, die zitternd jeden leisesten Lufthauch wahrnahmen.
Und mit einem Mal war es, als könne er die Leere um sich herum hören!
Das Rieseln des Sandes im Wind, das Anwachsen der Quellwolken über ihm am Himmel und das leise Säuseln im Gefieder der dahingleitenden Geier.
Zuerst war jedes der Geräusche für sich, und er konnte sie ganz deutlich voneinander unterscheiden, kristallklar drangen sie in sein Bewusstsein.
Dann aber vereinten sie sich, webten sich ineinander zu einer Melodie ... einer wunderschönen, flüsternden Melodie, die seufzend und lockend nach ihm rief.
‚Raen, siehst du, dass wir bald vereint sein werden?’
‚Hyaun?’, rief sein Geist. ‚Hyaun, bist du es?’
‚Du wirst es erkennen, wenn es so weit ist.’
‚Schön, dass du zu mir kommst, so muss ich nicht fürchten, allein aus dieser Welt zu gehen. Nimmst du meine Hand, ja? Lass uns gemeinsam gehen.’
‚Ja, wir werden gemeinsam gehen, aber noch nicht jetzt ...’
Raen fühlte, wie ihn etwas unsanft berührte. Abrupt hörte das Schweben seines Geistes auf, und er wurde wieder in seinen ausgelaugten Körper zurückgezogen. Der Klang der Melodie flog davon, und Raens Sinne erloschen vollständig.
„Wie geht es ihm?“
„Besser. Seine Wunden verheilen gut. Ich hoffe, er wacht bald auf.“ Keï sah von ihrem Vater auf den tief schlafenden Hy. Sein Atem ging ruhig und kräftig, nur unter seinen Lidern bewegten sich seine Augäpfel ruckartig. Er träumte.
„Meine Tochter, ich bin gekommen, um dir zu sagen, wie meine Entscheidung lautet.“
Keï legte ihre Hände in den Schoß und wartete still hoffend. Von dem Wort ihres Vater hing alles ab!
Faïshe kam und brachte dem König einen weiteren Stuhl herbei, auf dem er sich niederließ.
„Auch ich“, begann er leise und in vertrautem Tonfall, „habe schon unzählige Löwen bei der Jagd mit dem Speer oder dem Bogen erlegt. Ich weiß also, welch Unerschrockenheit es erfordert, sich dieser Bestie entgegenzustellen. Und auch, wenn dieser Krieger hier es nicht beabsichtigt hat, so hat er doch vollbracht, was nur wenigen aufrechten Männern gelingt. Ihm gebührt unser Respekt, und deshalb habe ich mich entschieden, dass er hier in deinen Diensten bleiben kann! Er hat wahrhaft sein außergewöhnliches Geschick bewiesen. Er ist ein Falke unter den Sperlingen!“
Erstaunt sah Keï auf. Solch ein ehrenvolles Lob vergab der König höchst selten. Und noch nie hatte er es gegenüber einem Ausländer verwendet.
„Habt Dank, Vater, es bedeutet mir sehr viel.“
„Oh, ich hoffe allerdings, nicht zu viel!“ Alman zwinkerte ihr bei dieser Andeutung zu und erhob sich. „Er ist und bleibt ein Fremder. Und er wird es schwer haben, sich unter unseren dunkelhäutigen Söhnen Ohaouds zu behaupten. Und offen gesagt, wenn ich vorher gewusst hätte, dass er ein Sklave Askhars war, so hätte ich ihm niemals gestattet, die Probe abzulegen. Aber es gibt doch immer wieder Überraschungen!“ Er lachte und schüttelte den Kopf. „Wenn er wieder auf den Beinen ist“, er zeigte mit einem beringten Finger auf Raen, „bekommt er seinen Namen verliehen, bis dahin ist er weiterhin Gast. Und sobald wir die Zeremonie hinter uns gebracht haben, will ich, dass wir zum Herbstpalast aufbrechen. Bendan wird auch dort sein.“
„Ja, Vater. Oh, wie ich mich freue, meinen Bruder wiederzusehen.“
Alman lächelte: „Ich auch, mein kleines Falkenherz. Unser tapferer Bendan ist wahrlich lange fort gewesen. Wenn wir im Herbstpalast sind, werden wir ein kleines Wiedersehensfest feiern, was hältst du davon?“ Er strich seiner Tochter über die Wange und verabschiedete sich.
Als er gegangen war, stahlen sich Tränen der Erleichterung und des Glückes ihn Keïs Augen und sie schämte sich ein wenig vor Faïshe, ihnen freien Lauf zu lassen. Raen würde hier bei ihr bleiben können. Und nichts würde sie so bald wieder trennen.
Der Thronsaal war voll mit Menschen. Sämtliche höheren Beamten, Berater, der Königliche Rat der Weisen, die Generäle und die Familie des Truchsess - also alles, was im Palast zu Reschent Rang und Namen hatte - waren auf Geheiß des Königs versammelt, um der Verkündung beizuwohnen. Es herrschte eine erwartungsvolle Stimmung, denn noch nie war in dieser erhabenen Halle ein Bakkara vom König für seine Dienste geehrt worden.
König Alman saß, wie immer angetan in seinem blauen Gewand mit den Silbersäumen und der ringförmigen Krone auf seinem Haupt, auf dem Falkenthron unter dem weißen Stalaktitengewölbe. Neben ihm hatten die Königin, Keï und ihre inzwischen sechs jüngeren Geschwister auf ähnlich prachtvollen Thronsitzen Platz genommen. Alle warteten darauf, dass die Diener den zu Ehrenden hereinführen würden.
Als sich die beiden gigantischen Türflügel am anderen Ende des Saals schließlich öffneten, wurde es schlagartig still.
Raen schritt durch den Gang aus Menschen, die ihn alle von Kopf bis Fuß musterten. Es war ihm unangenehm, derart peinlich genau in Augenschein genommen zu werden. Aber die Neugier, die ihm aus den dunklen Gesichtern so unverhohlen entgegenblickte, war verständlich. Er war ein Novum, etwas, das es noch nicht gegeben hatte!
Doch Raen spürte nicht nur schlichte und unschuldige Neugier, sondern auch Argwohn in den Augen aufblitzen. Nicht jeder Mensch mochte Neuheiten oder Veränderungen, das wusste er aus eigener leidvoller Erfahrung, und oft wirkte Neues gerade auf die Steifnackigen bedrohlich. Er überlegte, ob er für irgendeinen dieser Menschen jemals eine Bedrohung darstellen würde. Wer konnte das schon wissen?
Mit gelassenem Gesicht straffte er seine Haltung. Er brauchte sich für nichts zu schämen. Er war ein Krieger Hyauns, er war ein Campione! Und er hatte nichts zu fürchten, solange er in der Gunst des Königs und der Prinzessin stand.
‚Du wirst dich schon daran gewöhnen, nicht bei allen beliebt zu sein’, sagte er sich im Stillen. ‚Das ist dir ja schließlich bestens bekannt!‘
Als er vor dem König und seiner Familie ankam, sank er in die Reverenz, die ihm mittlerweile beigebracht worden war, und grüßte in Ohaoudi.
Der König neigte anmutsvoll sein Haupt und hieß ihn, aufzustehen.
„Raen del Shari, Krieger aus Hy!“, rief ein Herold aus. „Hört, was Seine Herrlichkeit, Res al Sahdi Alman, der König des über alle anderen Völker erstrahlenden Reiches der Blume M’Hamaths, zu verkünden hat. Und so höret auch ihr, Untertanen Seiner von Ashallah gesegneten Majestät, dem König der Falken, Herrscher über Sand und Wind!“ Nach diesem wahrlich langen Titel, der sogar Raens vollen Namen übertroffen hätte, trat der Herold zurück, und König Alman übernahm das Wort.
„Der besagte Raen del Shari hat sich - und das mehr als einmal - als würdig erwiesen, in die Reihen Unserer Untertanen aufgenommen zu werden. Er hat die erste Tochter des Reiches Sal al In’Sahdi Keï durch sein beherztes Eingreifen aus einer bedrohlichen Situation gerettet und bei der Probe der Krieger den Herrscher der Nacht bezwungen. Deshalb bekommt er von Uns den Titel Il’Ressabi verliehen und darf diesen künftig als seinen Namen führen.“ Almans tiefe Stimme drang Raen durch den ganzen Körper, auch wenn sich der Sinn seiner Worte erst mit Hilfe des murmelnden Übersetzers an seiner Seite offenbarte.
„Ferner darf er jeden Respektlosen, der ihn hernach noch als Bakkara bezeichnet, nach eigenem Gutdünken abstrafen. Er hat uneingeschränktes Schwertrecht im Palast zu Reschent und auf allen anderen königlichen Residenzen östlich und westlich des Wasbeni. Il’Ressabi bekleidet vom heutigen Tage an den Rang eines Akaba-Leibwächters und muss sich ausschließlich dem Befehl der königlichen Familie, allem voran aber dem Wunsche Sal al In’Sahdi Keïs unterwerfen - dies aber und unbedingt mit steter selbstloser Ergebenheit! So fordert es das alte Gebot der Akaba, das vor tausend Jahren in den heiligen Stein gemeißelt worden ist und für jeden Gültigkeit hat, der sein Leben an den Thron des Falken verpfändet. Und um dies zu besiegeln, hören Wir nun seinen Schwur!“ Der König hatte den Arm ausgestreckt, und seine offene Hand zeigte nun auf den Hy.
Raen holte tief Luft: „Ich, Raen del Shari, gelobe hier vor aller Augen dem Könighaus zu Ohaoud unverbrüchliche Treue. Mein Schwert gehört Euch, Res al Sahdi!“ Er hob dem König sein Schwert entgegen, und dieser hielt die Hand in segnender Geste darüber.
„Wir nehmen Euren Schwur an, Il’Ressabi.“
Auf ein Zeichen des Zeremonienmeisters hin kamen fünf hellhäutige Sklaven im Gänsemarsch herbei und übergaben Raen der Reihe nach die Insignien seiner neuen Würde. Zuerst den Dolch, mit dem er den Löwen getötet hatte - es war mit einem neuen Griff aus Elfenbein versehen worden und einem Knauf aus Silber. Das Heft zierten zwei bläulich schimmernde Mondsteine. Der zweite Sklave hielt ihm das smaragdgrüne, reich bestickte Gewand der Akaba-Garde entgegen, der dritte die schuppenartige Rüstung und der vierte einen Helm mit Quaste aus Löwenmähne. Der fünfte Sklave hängte Raen ein Amulett aus der Kralle des Löwen um den Hals, das er, so lautete die Weisung, stets auf den Narben tragen solle, die er sich bei dem Kampf mit dem Herrscher der Nacht zugezogen hatte. Damit könne die Kraft des mächtigsten Geschöpfes unter Ashallahs Sonne, die sich jetzt auf ihn übertagen hatte, nicht mehr aus seinem Körper entweichen!
Zum Dank verbeugte sich Raen und mit dieser letzten, für alle sichtbaren Handlung war die Zeremonie auch schon vorbei.
Eifrig über das Ereignis schwatzend zogen die Menschen in gesitteten Grüppchen davon, um die Kunde von dem mutigen Löwenbezwinger überall dort zu verbreiten, wo sie noch nicht hingelangt war.
Als Raen wenig später mit seiner neuen Herrin in seinem Quartier war, musste er seinen vielen Fragen Luft machen.
„Was ist ein Akaba-Leibwächter?“ Er war immer noch ganz aufgekratzt von der Zeremonie und konnte sein Glück nicht fassen.
„Die Akaba sind jene Leibwächter, die jederzeit Zugang zu den königlichen Gemächern haben. Sie stehen zumeist unter der Order eines einzigen Herrn, aber sie beschützen ihn nicht nur, sie erfüllen auch manchmal das Amt des Leibdieners oder erledigen vertrauliche Botendienste. Ein Akaba ist weder dem Dekret des Palastes noch dem des Militärs untertänig. Er ist unabhängig und hat das Recht, sich überall im Land frei zu bewegen, niemand darf ihn behindern. Allerdings ist ihm das Wort seines Herren Gesetz! Ihm dient er mit seinem Leben! Ihr erinnert Euch doch noch an Jamil, meinem Leibwächter aus Borgossa?“
Raen nickte, natürlich kannte er den stets griesgrämig blickenden Riesen noch.
„Er war mein Akaba, mein persönlicher Beschützer.“
„Was ist aus ihm geworden?“
„Mein Vater hat ihn degradiert, nachdem wir wieder hier in Reschent waren.“
„Warum?“
„Oh, das ist Eure Schuld, denn Ihr musstet mich ja unbedingt an seiner Stelle retten. Jamil dient jetzt wieder als Soldat in der Palastgarde.“
So konnte es also auch gehen, dachte Raen. „Wer ist Euer gegenwärtiger Akaba? Denn seit Jamil in Ungnade gefallen ist, könnt Ihr ja nicht ohne geblieben sein.“ Er wunderte sich ohnehin schon, warum er keinen Leibwächter in Keïs direkter Umgebung gesehen hat.
„Koufra, er ist sehr geschickt, er kann sich quasi unsichtbar machen. In seinen Adern fließt das Blut der südlichen Stämme. Die wildesten in ganz Ohaoud, aber Ashallah sei Dank unsere treuesten Verbündeten. Er war oft in unserer Nähe, Ihr habt ihn nur nicht bemerkt. Er gehorcht auf meine verdeckten Zeichen. Ihr werdet Euch mit ihm arrangieren. Der gute Koufra ist zwar etwas wortkarg, aber er wird Euch alles beibringen, was Ihr wissen müsst. Und solange Ihr noch nicht gleichrangig seid, ist er mein erster Akaba und Ihr mein zweiter.“
„Ist er jetzt auch hier?“
„Nein.“
„Wann werde ich ihn kennenlernen?“
„Morgen.“
„Und was bedeutet jetzt mein neuer Name, Il’Ressabi?“
„‚Der mit dem Herrscher der Nacht wandelt’. Ressa heißt Löwe“, erklärte Keï.
Raen senkte nachdenklich den Blick. Das hörte sich beinahe an wie ‚Resa’! War das ein Zufall? Der Gedanke an seinen kleinen Bruder flößte ihm unwillkürlich Furcht ein, denn er fühlte sich an dessen unheimliches Gesicht erinnert, das ihm im Traum zusammen mit dem Herrscher der Nacht erschienen war. Schließlich wäre es nicht das erste Mal, dass ihm ein Traum etwas mitzuteilen versuchte.
Raen bemühte sich, sein Unbehagen zur Seite zu schieben. Selbst wenn das alles etwas zu bedeuten hätte, könnte er hier so fern der Heimat eh nichts dagegen ausrichten. Und er wollte sich jetzt nicht die Laune verderben lassen, nachdem der heutige Tag so viel Gutes für ihn gebracht hatte.
Aber das beklemmende Gefühl ließ ihn trotz allem nicht vollends los. Etwas in ihm hatte sich verändert. Seine Träume waren seit den Nächten in der Wüste weitaus bedrohlicher geworden, dunkler und ... echter!
Indessen war der Ankleider mit seiner Arbeit fertig und trat mehrere Schritte zurück, um sein Werk zu betrachten. Auch die Prinzessin blickte abschätzend auf den Hy.
„Und?“, fragte Raen, mit den Fingern andächtig über die glatten Metallschuppen streichend.
„Steht Euch gut!“ Keï lächelte. „Ja, wirklich, auch wenn Eure Haut so hell wie ein Weizenbrot ist und Ihr so klein seid, dass ihr aufrecht unter einem Kamel durchgehen könntet!“
Hinter ihr begann Faïshe zu kichern, und Raens Züge verzogen sich zu einem Grinsen.
Für einen kurzen Moment war sie wieder die alte, schelmische Keï, und er wärmte sich an der Lebensfreude, die sie ausstrahlte.
Er drehte sich einmal um sich selbst und stolzierte im Zimmer auf und ab.
„Nicht ganz der hyaunischen Mode entsprechend, aber dennoch ganz hübsch. Nur der Helm ist etwas ... ungewohnt. Muss ich ihn tragen?“ Er wandte sich zu der Prinzessin um. Ihm graute es davor, den Schuppenpanzer, so beweglich er auch sein mochte, in der Gluthitze der Wüste tragen zu müssen. Und der Helm war ganz und gar nicht nach seinem Geschmack. Er war aus einer eisernen Halbkugel geformt, hatte einen schmalen Nasenschutz, eine Brünne aus Kettengeflecht und dann dieser Schweif aus Löwenmähne darauf. Er zog die Nase kraus.
„Ihr müsst die Rüstung nur anlegen, wenn wir auf Reisen sind, und auch dann nur in gefährlichen Gebieten. Beruhigt Euch das?“
„Ein wenig.“ Er nahm den Helm vom Kopf und fuhr sich mit der Hand über sein kurzes Haar. Es war mal wieder Zeit für eine Rasur, dachte er und bemerkte sehr wohl, wie Keïs Blick von seinem goldenen Stirnreif seine ganze Gestalt hinab und wieder hinauf wanderte. Er spürte ihre verborgene Bewunderung, die ihr anschließendes gleichgültiges Abwenden Lügen straften.
Mit einem Wink schickte er den Ankleider aus dem Zimmer. Und als sie endlich bis auf Faïshe allein waren, trat Raen hinter Keï, die am Fenster stand und in den Abend hinaussah. Im Garten schrie der Pfau.
„Was kann ich nur tun, dass du mich wieder Freund nennst?“, fragte er leise. Er stand so dicht hinter ihr, dass er ihren Duft wahrnehmen konnte, und er konnte sich gerade noch beherrschen, ihr nicht seine Hände um ihre Taille zu legen.
„Freund werde ich Euch nie wieder nennen! Ihr seid jetzt mein Akaba!“, antwortete sie steif.
„Ist das mehr als ein Freund? Dann wäre ich damit zufrieden.“ Das breite Lächeln auf seinem Gesicht, mit dem er sie immer weich gekriegt hatte, war deutlich in seinen Worten zu hören, doch Keï blieb mit dem Rücken zu ihm gewandt stehen. Er sah auf die Härchen in ihrem dunklen Nacken und hätte am liebsten seine Lippen über ihren Hals und ihre bloßen Schultern wandern lassen.
Doch seine Nähe schien auch ihr zu schaffen zu machen, denn Keï drehte sich abrupt zu ihm um und trat einen Schritt zurück. Sie sah ihn an, und ihr Mund, den er so gern mit einem Kuss verschlossen hätte, zitterte.
„Ein Akaba ist ein Akaba!“, sagte sie schließlich schroff. „Das sollte Euch mehr als nur zufriedenstellen! Im Übrigen solltet Ihr Eure Sachen packen, morgen werden wir zum Herbstpalast aufbrechen.“
„Herbstpalast?“ Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht.
„Die Regenzeit ist nicht mehr fern. Dann schwillt der Wasbeni bis über die Ufer und alles rund um Reschent versinkt in übel riechendem Flussschlamm. Die Luft wird feucht und schwer und das Ungeziefer ist kaum zu ertragen, deshalb sucht die königliche Familie um diese Jahreszeit immer den Herbstpalast im Süden auf. Die Reise dorthin wird mehr als eine Woche dauern, stellt Euch also darauf ein!“
„Gebt Ihr Eure Order immer so kurzfristig aus?“, setzte Raen ihr spitz entgegen.
„Ich gebe meine Order, wie ich es für richtig halte. Es steht Euch nicht an, darüber zu urteilen!“
„Sehr wohl, Herrin!“ Er verneigte sich flott, so dass die Prinzessin nicht mehr sehen konnte, dass das Vorangegangene spöttisch gemeint gewesen war.
„Sa douk, heißt das in unserer Sprache! Gewöhnt Euch daran!“, fuhr sie ihn erneut an, gab Faïshe ein Zeichen und verließ sein Quartier.
Gekränkt von ihrem herrischen Auftreten sah Raen noch lange auf die Tür, die sich hinter Keï geräuschvoll geschlossen hatte. Ganz entgegen ihrer Annahme hatte er sich schon längst vorgenommen, so schnell wie möglich Ohaoudi zu lernen. Denn er wollte nicht immer auf die Übersetzungen angewiesen sein. Zwar beherrschten viele der Beamten und Adligen hier bei Hofe Graçenisch, da es nach ihrer eigenen Sprache die wichtigste Handelssprache auf dem Kontinent war, aber das genügte Raen nicht. Wenn er dieses Volk begreifen wollte, dann musste er ihre Sprache lernen.
Die königliche Karawane war um ein Vielfaches größer als die von Bebidas, und Raen staunte, was und wer alles auf den Kamelhöckern mitreisen sollte, darunter auch der klapprige Sternendeuter, der schon auf seinem Reittier saß und mehr aus wallendem Stoff zu bestehen schien, denn aus Fleisch und Knochen. Er hatte diesen Tag als Tag der Abreise bestimmt.
Leider stellte sich für Raen erneut das Problem, wie er am besten die Wüste durchqueren sollte. Was würde Keï sagen, wenn ihr Akaba sich auf einem Kamel die Seele aus dem Leib spie? Auch musste er Rekori im Palast lassen, was ihm gar nicht gefiel, obwohl Keï ihm versichert hatte, sein Hengst sei in den fürsorglichen Händen des Stallmeisters gut aufgehoben.
Als Raen sich aber in den Trubel im großen Palasthof begab, der den Aufbruch der Karawane begleitete, stellte er erleichtert fest, dass die Akaba allesamt zu Pferde unterwegs sein würden. Er gesellte sich zu den in Smaragdgrün gekleideten Leibwächtern, die ihn ausnahmslos um einen Kopf überragten und abschätzig lächelnd auf ihn hinabsahen. Dennoch grüßten sie ihn.
Wer von ihnen mochte wohl Koufra sein?
Dem einen oder anderen höflich zunickend, bewegte Raen sich durch den Wald von hochgeschossenen Männern und bemühte sich, seine Unsicherheit zu verbergen. Da trat einer der Akaba vor ihn. Raen blickte in das schwarze Gesicht.
„Koufra?“, fragte er.
Der andere schnalzte lediglich mit der Zunge und drückte ihm die Zügel seines Pferdes in die Hand. Es war ein temperamentvoller brauner Hengst mit weißer Nase und Blässe. Unruhig zog er mit geblähten Nüstern am Zügel.
Raen wandte sich zum ersten Leibwächter der Prinzessin um und wollte ihm danken, doch der war längst verschwunden. Verwundert sah er sich um, konnte Koufra aber nirgendwo entdecken. In ihren grünen Monturen und Rüstungen sahen die Akaba alle gleich aus. Er betrachtete wieder sein Pferd. Sattel und Zaumzeug des Hengstes waren mit kunstvollen Bronzebeschlägen besetzt, und grüne Quasten baumelten von Brustblatt und Satteldecke.
Leider war es in dem ganzen Durcheinander zu eng, um dem Pferd mit dem askharischen Griff zu befehlen, sich hinzulegen, damit er bequem aufsteigen konnte. Also setzte er eine grimmig entschlossene Miene auf und machte sich daran, möglichst ohne großen Gesichtsverlust die Schwierigkeit zu meistern, mit seinem lädierten Fuß und der Rüstung am Leib auf das tänzelnde Tier hinaufzukommen. Die smaragdgrünen Reiter beobachteten ihn interessiert. Doch glücklicherweise war das Pferd kleiner als Rekori, und Raen kam gleich mit dem ersten Satz auf seinen Rücken. Die Akaba lächelten hinter ihren Turbanschleiern über seine scheinbar ungeschickte Art, und einige schauten einander belustigt an.
Der ungestüme Hengst wollte gleich losrennen, doch Raen packte hart die Zügel und riss ihn hoch. Gekonnt hielt er sich im Sattel, und das Pferd kam wieder auf die Vorderhufe. Wieder warfen die Ohaoudis sich Blicke zu, und langsam beschlich Raen das Gefühl, als wollten sie ihn mit diesem besonders lebhaften Tier auf die Probe stellen. Aber reiten konnte er schon immer gut, und er würde ihnen zeigen, dass ein Banskeid einem erlesenen Akaba in nichts nachstand! Außer vielleicht in seiner Körpergröße.
Auch er zog sich seinen Turbanschleier vor die Nase, nahm seine mit einem Wimpel geschmückte Lanze entgegen und wartete, das fieberhafte Trippeln des Pferdes unter ihm mit gnadenlosem Schenkeldruck kontrollierend, auf das Aufbruchssignal.
Als endlich das Hornsignal ertönte, setzte sich die Karawane in Bewegung.
Der König und seine Familie ritten auf Kamelen, und deshalb war das Tempo recht gemächlich. Die Akaba - Raen zählte sechzehn von ihnen - flankierten die Reittiere der königlichen Prozession und geleiteten sie zu den Toren des Palastes hinaus und durch die Straßen Reschents, wobei sie stolz ihre glänzenden Kürasse präsentierten.
Die dreifache Anzahl von Soldaten der Palastwache fassten wiederum die Akaba ein, und dahinter folgte der gesamte Tross mit dem Gepäck, dem Wasservorrat, den Zelten und der Dienerschaft.
Die Leute der Stadt sahen nicht oft solch einen prächtig ausstaffierten Zug und dazu noch mit dem König vorweg. Sie verharrten in ihrem geschäftigen Treiben und verneigten sich tief vor ihrem Herrscher. Das Königspaar und seine Kinder winkten immer wieder freundlich zurück. Auch Keï, die ein weites hellblaues Reisegewand trug, mit dem sie jeden Zoll ihrer Haut bedeckte, um sich vor der Sonne zu schützen, hob ihren Arm und grüßte die Menschen der Stadt.
Raen, der nur wenige Schritt schräg hinter ihrem Kamel ritt, beobachtete das Geschehen aufmerksam, während er sich mit dem Hengst unter ihm ein Duell um die Führungsgewalt lieferte. Soweit er konnte, musterte er auch die anderen Akaba. Ausnahmslos alle von ihnen hatten Ehrauszeichnungen an ihren Helmen. Zwei davon trugen sogar neben dem Antilopenschweif auch den Wedel aus Löwenmähne als Helmzier. Raen vermutete, dass es die persönlichen Leibwächter des Königs und der Königin waren. Sie hatten ihre Pferde vortrefflich im Griff und wirkten sehr selbstsicher und gelassen. Sie waren die mustergültigsten und imposantesten Kämpfer Ohaouds! Ehrfürchtig sahen die Menschen zu ihnen auf, und die Kinder wünschten sich so zu sein wie ein Akaba. Und er, Raen, war jetzt einer von ihnen!
Sie passierten das Stadttor und durchquerten die Felder und flüsternden Palmenhaine. Erst am Fluss schlugen sie sich nach links auf einen breiten Karawanenweg, der nach Süden führte.
Dicke weiße Wolken ballten sich am Himmel, verschluckten schließlich die Sonne, und Raen war dankbar, als die Sonnenstrahlen nicht mehr auf seine Rüstung brannten. Zwar kam immer wieder ein Diener herbei geritten, der ihn und die anderen Soldaten mit Wasser übergoss, damit das Metall sich abkühlte, doch das brachte nur kurze Erquickung. Stattdessen bemühte er sich, viel zu trinken.
Bis zum Abend folgten sie dem Weg am Fluss entlang, auf dem nicht viel los war. Nur zwei Karawanen kamen ihnen entgegen geschaukelt. Heimlich äugte Raen, ob eine davon vielleicht Bebidas’ Zug war, doch der Graçener war nicht dabei.
Als die Sonne schließlich hinter der dichten Wolkendecke unterging und nur kurz über dem Horizont durch eine Lücke ihr rotes Licht zu ihnen sandte, machte die Reisegesellschaft Halt, und das Lager wurde aufgeschlagen. Allerdings weit genug vom Fluss entfernt, da es in ihm Krokodile gab. Raen, der noch nie Krokodile gesehen hatte, erschauerte erneut bei der Beschreibung dieser Tiere. In diesem Land gab es wirklich furchterregende Geschöpfe! Misstrauisch begutachtete er den Fluss aus der Ferne. Schwimmende Echsen, so lang wie zwei Männer und mit einem Maul so groß, dass eine ganze Antilope hineinpasste! Er hoffte beinahe, die Akaba hätten sich nur wieder einen Scherz mit ihm erlaubt, doch der Ernst mit dem sie gesprochen hatten, ließ ihn vermuten, dass das diesmal nicht der Fall war.
Die Prinzessin hatte an diesem Tag noch kein einziges Wort mit ihm gesprochen und so verhielt es sich auch nach dem Nachtmahl, das die mitgereisten Köche der königlichen Familie zubereitet hatten. Keï blieb in ihrem erlauchten Kreise und ging bald mit Faïshe in ihr Zelt.
Doch Raen hatte ohnehin anderes zu tun. Die Akaba, die immer nahe bei ihren Herren waren, aber dennoch ihr eigenes Feuer schürten, brachten ihm eines ihrer Spielchen bei, mit dem sie sich gerne die wenige Zeit vertrieben, die sie für sich hatten. Es dauerte eine Weile, bis er es verstanden hatte, und bis dahin verulkten die Ohaoudis ihn kräftig. Aber dann schlug Raen zurück und gewann die nächsten drei Partien, was zunächst Staunen, schließlich aber lautes Gelächter hervorrief.
„Anfängerglück“, riefen die baumlangen Kerle heiter und begannen eine weitere Runde. Und zum ersten Male erkannte Raen, dass hinter der hochmütig abweisenden Maske der Ohaoudis durchaus gutmütige und lebenslustige Menschen steckten, und er lachte bei ihren Scherzen fröhlich mit, auch wenn diese so manches Mal auf seine Kosten gingen. Nur Koufra blieb ihm gegenüber zugeknöpft und durchdrang ihn schweigend mit seinen Blicken.
Schnell ging der Abend vorbei, und bald begaben sich alle, bis auf die Nachtwachen, die aus der Gruppe der Soldaten rekrutiert wurden, zur Ruhe. Die Akaba legten sich ganz in die Nähe ihrer Herren im jeweiligen Vorzelt nieder. Prinzessin Keï hatte ein Zelt für sich allein, in dem nur noch Faïshe und zwei ihrer Dienerinnen schliefen, und Koufra bezog ganz selbstverständlich sein Lager vor dessen Eingang. Mit einem unfreundlichen Blick an Raen wies er ihm das Zelt, das den übrigen Akaba zur Verfügung stand. Aber Raen zog es vor, unter freiem Himmel zu nächtigen. Er wickelte sich in seine Decke und packte sich - seinen Sattel als Kopfstütze - neben das Akaba-Zelt. Lange sah er in die sternenlose Dunkelheit hinaus und blickte immer wieder hinüber zu Keïs Zelt, bevor er Schlaf finden konnte.
Auch die nächsten Tage blieb die Prinzessin unnahbar, ließ ihrem zweiten Akaba die nötigsten Befehle durch Koufra zukommen und war ansonsten immer in der Nähe ihres Vaters anzufinden. Raen beobachtete sie unauffällig, wann immer er konnte, und es schien, als genieße sie das unbefangene Zusammensein mit ihrer Familie hier draußen in der Wüste, wo sie nur wenig daran erinnerte, wer sie tatsächlich war. Selbst der König hatte den behäbigen Panzer aus umständlichen Umgangsformen, die sie im Palast untereinander zu pflegen hatten, abgelegt und war seinen Kindern nur noch Vater und seiner Frau ein liebevoller Ehemann. In diesen seltenen harmonischen Momenten hätte man die Familie auch für die irgendeines reichen Handelsfahrers halten können, wären da nicht die ungewöhnliche Größe des Zuges und die fabelhaften Akaba in ihrem Dunstkreis gewesen.
Aber je mehr Raen Keï betrachtete, ohne dass sie es bemerkte, desto deutlicher wurde ihm, welch unglücklichen Anschein sie gab. Denn auch wenn gute Stimmung vorherrschte, so kannte Raen seine Freundin doch besser und er ertappte sie oft dabei, wie sie in ruhigen Augenblicken immer wieder ernst vor sich hinstarrte. Auch ihre Gestik spiegelte nicht annähernd die Lebhaftigkeit wider, die sie in Borgossa versprüht hatte. Was war übrig von ihrem Temperament und ihrer unbändigen Begeisterung für die Dinge? Hatten jene Gefühle nur in der kurzen Freiheit in Borgossa erblühen können und waren nun zerdrückt worden unter dem Gewicht ihrer zukünftigen Rolle als Königin? War in ihrem jetzigen Leben kein Platz mehr dafür?
In Raen rührte sich der Verdacht, damals in Borgossa eine ganz andere Keï kennengelernt zu haben, und er fühlte erneut tiefe Enttäuschung in sein Herz fließen. Um sich aber vor der Niedergeschlagenheit zu schützen, die sich wie kalter Anreim an ihn zu hängen drohte, gab er alles dran, sich wenigstens in die Gemeinschaft der Akaba zu finden und lernte schnell ihre Gepflogenheiten, ihre Regeln und viele neue Wörter. Selbst Koufra entlockte er die ersten zusammenhängenden Sätze.
Drei Tage nach ihrem Aufbruch von Reschent überquerten sie auf Fähren den Fluss, dessen Wasser schon etwas angestiegen war, da es vierhundert Meilen flussaufwärts in den Bergen bereits geregnet hatte. Die Wolken beherrschten auch weiterhin den Himmel, und in der Ferne waren graue Regenfahnen zu erkennen. Einmal tröpfelte es auch auf die Köpfe der Reisenden hinab. Die willkommene Erfrischung währte jedoch nicht lange, und was eben noch mit den Perlen der kostbaren Feuchtigkeit benetzt war, war im nächsten Augenblick schon wieder dörr und trocken. Gierig saugte der Wüstenboden alles in sich auf, ohne den Lebewesen etwas davon zu lassen.
Nach der Flussquerung ging es auf direktem Wege in das stille Dünenmeer der Wüste - immer weiter nach Süden. Und schon bald war die Karawane zwischen den gelben Sandbergen entschwunden.
Als hätten sie eine magische Marke überschritten, klarte bereits am nächsten Tag der Himmel auf, ohne dass hier in der Wüste auch nur ein Regentropfen den Boden erreicht hatte! Ohne Gnade trat die Sonne zurück in ihr grenzenloses, hyazinthblaues Reich und schmolz auch die letzten Wolkenfetzen hinfort.
Raen war heilfroh, nicht mehr in seiner Rüstung zu stecken. Es war ihnen gestattet worden, sie abzulegen, da das Gebiet von hier bis zum Herbstpalast von einem dem Königshaus sehr nahe stehendem Stamm beherrscht wurde. Der Stammesfürst selbst hatte sich nicht lumpen lassen und war persönlich mit dreißig verhüllten Kriegern herbeigekommen, um den hohen Gast und dessen Familie zu begrüßen und zu geleiten. Eine alte Tradition, wie Raen erfuhr. Die fremden Krieger flankierten die Karawane in weit auseinandergezogener Formation, und die kleinen Banner an ihren Lanzen wehten fröhlich im heißen Wind. Es waren Stammesbrüder von Koufra, und die Prinzessin hatte ihm erlaubt, sich zu ihnen zu gesellen, um Neuigkeiten auszutauschen und alte Freunde zu sprechen.
Nachdem sie eine Woche unterwegs waren, änderte sich Keïs abwesende Miene. Ihr Blick wurde wieder lebhafter und wanderte unaufhörlich umher, dabei streifte er immer wieder unauffällig den Hy, der in der grünberockten Gruppe der Akaba wegen seiner geringeren Körpergröße gut auszumachen war. Auch begann sie von sich aus ein Gespräch mit ihm, als Raen eines Mittags anstelle von Koufra an ihrer Seite ritt, den einst so stürmischen Hengst bemerkenswert folgsam am Zügel.
„Ihr habt Euch durchgesetzt, wie ich sehe.“ Sie ruckte ihr Kinn in Richtung seines Pferdes.
„Ja, wir kommen gut miteinander aus, nicht wahr?“ Raen klopfte dem Braunen auf den schweißnassen Hals.
„Wie ich gesehen habe, legt er sich sogar hin, um Euch aufsteigen zu lassen. Ich bin beeindruckt.“ Keï schürzte die Lippen. „Was haltet Ihr davon, wenn ich ihn Euch schenke?“
Raen blickte verlegen. „Ich fühle mich geehrt, aber es ist ein sehr wertvolles Tier.“
„Er gehört Euch.“
„Habt Dank Sal al In’Sahdi. Aber sagt bitte, hat er auch einen Namen?“
Keï lächelte ihm warm über die Schulter zu. Sanft schaukelte sie auf dem Kamelrücken hin und her. „Er heißt Eschouaret - weiße Nase!“
„Weiße Nase?“ Raen musste schmunzeln.
„Ja, weiße Nase. Ich dachte mir schon, dass ihr gut zusammenpasst!“ Keï rieb sich ihre eigene Nase, warf dann aber den Kopf zurück und lachte laut. Es klang wie Musik in Raens Ohren.
„Eschouaret“, wiederholte er andächtig. „Ich glaube, ich werde es Eschou abkürzen. Weiß - richtig?“
Keï nickte, und Raen beugte sich im Sattel vor. „Ich hoffe, du bist damit einverstanden, mein Freund?“ Er kraulte die Mähne des Hengstes, während Keï ihren besonderen Leibwächter mit einem weiteren Lächeln bedachte. Sie mochte es offensichtlich, wie liebevoll er mit den Tieren umging.
Indes war sich Raen nicht sicher, ob sich Eschou mit Rekori auch vertragen würde, aber er sah ein, dass er für dieses Land ein Tier brauchte, das im Sand geboren worden und den heißen Wind in den Nüstern gewohnt war wie alle anderen Lebewesen hier - und Kamele schieden dafür schon einmal aus!
„Wisst Ihr, dass mir auf Kamelen schlecht wird!“, gestand er der Prinzessin.
„Tatsächlich? Nun, was sollte man auch anderes von einer Weißnase erwarten!“ Sie winkte gespielt herablassend ab.
„Ach, Prinçipessa!“, nahm Raen ihren scherzhaften Tonfall auf in der Hoffnung, endlich einen Zugang zu ihr zu finden. „Für Euch würde ich mich sogar in das nächste Schlammloch werfen, um meine Pelle der Euren anzupassen, nur leider ist keines in Sicht!“ Aus den Augenwinkeln registrierte er, wie einer von Keïs jüngeren Brüdern ihr kleines Spielchen eingehend beobachtete. Er nahm die Gunst der Gelegenheit wahr, grüßte den vielleicht Achtjährigen salopp, und ließ ganz unvermittelt Eschouaret steigen. Mit einem großen Satz sprang der Hengst voran, auf ihm im lässigen Sitz Raen. Die Zügeln fahren lassend drehte er sich schnell einmal im Sattel herum, so dass er für einen kurzen Moment verkehrt herum auf dem Pferd saß und winkte.
Der junge Prinz, von dem Raen nicht einmal wusste, wie er eigentlich hieß, machte große Augen und wandte sich schnell zu seinen anderen Geschwistern um. Mit seinem Finger auf den Hy zeigend rief er etwas in seiner Sprache, woraufhin die ganze Kinderschar in bewundernde Rufe ausbrach.
Raen zügelte Eschou und lenkte ihn wieder an Keïs Seite.
„Na, entschädigt das für den Mangel an Kameltauglichkeit?“, fragte er frech grinsend. Inzwischen blickten auch die anderen Akaba zu ihnen hinüber. Was der für sie kurzbeinige Hy da vorgeführt hatte, war offenbar gut gewesen.
Keï wiegte den Kopf. „Vielleicht sollte ich Euch in einem Zirkus auftreten lassen, dann kann ich mit Euch noch Geld verdienen!“
„Sa douk, Sal al In’Sahdi! Alles, was Ihr sagt.“ Raen verneigte sich mit einer Hand vor der Brust und als er wieder aufsah, zeigte sie ihm für einen Herzschlag lang ‚sein Lächeln‘.
Den Rest des Tages verbrachte sie damit, Raen weitere ohaoudische Wörter beizubringen.
Im Verlauf des nächsten Tages tauchte am Horizont eine Bergkette aus sonderbar dunklem Gestein auf, das nicht zu dem gelben Sand der Wüste passte, und wuchs allmählich in die Höhe. Die bizarren Felsungetüme waren nicht so hoch wie die Berge um Reschent, hoben sich aber aufgrund ihrer andersartigen Beschaffenheit deutlich von der Landschaft ab. Das Besondere an ihnen waren die lotrechten, wie ins Gestein eingemeißelten Rillen und Säulen an ihren steilen Flanken. Es waren riesige basaltene Überreste von uralten Vulkanschloten, die Abertausende von Jahren der Verwitterung ausgesetzt, nun ihr wie von Wunderhand geordnetes Inneres offenbarten; stumme Zeugen der Zeit - weithin sichtbar. Und zu Füßen dieser geheimnisvollen, dunklen Bergstöcke schmiegte sich die Oase Il’Abh in die Dünen, das Ziel ihrer Reise!
Je näher sie der Oase kamen, desto mehr Einzelheiten hoben sich von den erdfarbenen Tönen der Umgebung ab. Palmen umstanden eine Handvoll kleinerer lehmverputzter Gebäude, eine Karawanserei und den Herbstpalast, dessen viereckige rotbraune Lehmtürme die Palmenkronen überragten. Der Palast war nicht groß. Vier Türme und hohe, bezinnte Mauern fassten drei Innenhöfe ein. Der erste war der Empfangshof, der zweite jener, in dem die Dienerschaft Quartier fand und der dritte und größte das Refugium der königlichen Familie. Und obwohl der Palast aus schlichtem Lehm war, war er mit hübschen eingeritzten Ornamenten verziert.
Die Oasenbewohner - Angehörige desselben Stammes, der auch die Reisenden begleitete, lagernde Nomaden und die Familie des Verwalters des Palastes - kamen herbei und begrüßten die ankommende Karawane. Tief verneigten sie sich in ihren hellen Kaftanen und huldigten dem hohen Gast, der sich einmal im Jahr die Ehre gab, für einige Wochen fern von den Staatsgeschäften an diesem einsamen Ort die Ruhe zu genießen. Il’Abh, ein kleines, aber bezauberndes Reich der Träume, ein erfrischender Garten im trockenen Staub Ohaouds! Hier konnte der König geradewegs aus der Kraft der Erde schöpfen; nackter Fels, Sand und Himmel, es gab nichts, das die Sinne ablenkte. Hier existierte nur klares Denken, ... das reine, pure Sein.
Keï erklärte Raen, dass es in diesem Landstrich niemals regnete. Und doch konnten die Menschen in Il’Abh überleben, dank des artesischen Brunnens, der durch das Gestein hinauf quoll und die Oase speiste. Und im Hintergrund boten die Basalttürme Schutz vor den gefürchteten Sandstürmen. Keddachan hießen diese Felsen, „Drachenschuppen“, so erzählte die Prinzessin. In der Mythologie der Ohaoudi war einst Ashallah von seinem Thron im Himmel hinabgestiegen, um gegen die furchterregende Riesenschlange Ifni zu kämpfen, die all das Wasser der Welt allein für sich in Anspruch nahm, um darin zu baden. Sie verdorrte alles Leben unter ihrem heißen Atem und fraß das Vieh, das die Menschen mühselig über den kümmerlichen Boden trieben. Ashallah bat Ifni, sie möge von ihrem zerstörerischen Tun ablassen, doch boshaft und neiderfüllt, wie sie war, spie sie ihm als Antwort einen schwefeligen Feuerstrahl entgegen. Aber Ashallah trug die Sonne als Schutzschild mit sich, und ihre Hitze blendete die Schlange. Ifni bäumte sich auf und bot ihm ihre Brust. Ashallah stieß seinen Sichelmondsäbel in ihr Herz, und Ifni stürzte mit einem letzten Todesschrei in den Sand. Ihr Gewicht grub ihren Körper so tief in die Dünen, dass nur noch ihre hohen Rückenschuppen herausschauten: Die Keddachan! Nunmehr Schutz für Mensch und Tier. Und die Oase Il’Abh, als Wunde Ifnis, aus der das lebensspendende Nass bis zum heutigen Tage an die Oberfläche dringt.
Wie alle Mythen faszinierte Raen auch diese Geschichte und er freute sich schon darauf, von Keï bald mehr davon zu hören. Denn durch die Mythen und Legenden der Menschen erschloss sich dem Betrachter die wahre Seele eines fremden Volkes.
Die Karawane erreichte das Eingangsportal des Palastes. Jemand hatte sich dort postiert. Ein junger, hochgewachsener Mann mit breiten Schultern und mächtigen Oberarmen. Raen erkannte ihn sofort.
Prinz Bendan trat seinem Vater und seiner Mutter mit geöffneten Armen entgegen und verneigte sich mit dieser Geste tief. Als er sich wieder aufrichtete, legte ihm König Alman die Hand auf die Schulter. Keï und ihre Geschwister stiegen schnell von ihren liegenden Kamelen und begrüßten ihren Bruder mit freudestrahlender Miene.
Raen beobachtete sie, während er von Eschou sprang und die Zügel einem Knecht gab. Bendan hatte sich nicht verändert. Jede Bewegung seines kraftstrotzenden Körpers verriet noch immer den jugendlichen Übermut, der in ihm wohnte, und sein breiter Mund grinste mit hell leuchtenden Zähnen von einem Ohr zum anderen. Er nahm Keï in seine baumstammgleichen Arme und hob sie hoch, als sei sie leicht wie ein Palmenblatt. Keïs Lachen wehte zu ihm herüber.
Dann war die Reihe an Raen. Die Prinzessin winkte ihn ungeduldig herbei und sagte etwas zu ihrem Bruder, der seinen Blick überrascht auf den herbeikommenden Hy heftete. Raen grüßte ihn und stellte fest, dass er sich gar nicht sicher war, wie er eigentlich zu Bendan stand. In Borgossa war der Prinz immer eine unweigerliche Begleiterscheinung gewesen, ein manchmal lästiger Schatten, der ab und an gesprochen oder gelacht hatte. Kaum hatte es die Prinzessin ohne ihren „großen“ kleinen Bruder gegeben - bis auf die wenigen kleinen Momente, von denen natürlich nur Raen und Keï wussten.
Bendan, der gerade von einer schwierigen Auseinandersetzung mit den Grenzstämmen im Osten zurückgekehrt war, sah ihm geradewegs in die Augen und grüßte höflich, aber reserviert zurück. Raen hatte nichts anderes erwartet, aber falls der jüngere Ohaoudi darüber Missfallen empfand, weil er wieder aufgetaucht war, so ließ er es zumindest nicht ans Tageslicht.
‚Ist doch gleich. Und wenn es ihn ärgert, dass du hier bist. Er hat nichts zu bestimmen’, dachte Raen und folgte Keï, die sich mit ihrer Familie und den anderen Akaba anschickte, den Palast zu betreten. Sie durchschritten nacheinander die Höfe, und nur aus den Augenwinkeln sah Raen sich um, denn allzu große Neugier hätte ihm als Akaba nicht gut angestanden. Die Räumlichkeiten des Herbstpalastes waren wesentlich schlichter eingerichtet als die des Königspalastes in der Hauptstadt. Es schien, als spiegele sich die Kargheit der Landschaft auch hier im Innern wieder. Die Möbel waren einfach, und auch die Farben der Teppiche und Vorhänge waren weit gedämpfter, als die üppig sinnliche Pracht in Reschent. In den Innenhöfen gab es keinen Garten, sondern jeweils nur einen Springbrunnen aus weißem Marmor und im letzten, königlichen Hof zwei daran anschließende Becken mit Seerosen, deren Blüten und Blätter auf der Wasseroberfläche schwammen. Wasser galt als das kostbarste Gut und wurde hier in seiner reinsten Form verehrt. Überall schmückte es in stilisierten, fließenden Wellen Wände und Fußböden. Es war hübsch anzusehen und wirkte beruhigend zugleich.
Das große langgestreckte Gesellschaftszimmer am entlegenen Ende des Palastes, auf das die ehrwürdige Familie zusammen mit ihren Leibwächtern zustrebte, empfing sie mit weit geöffneten Türflügeln. Man setzte sich auf die Kissen, sah auf den Innenhof hinaus, und Diener reichten kühles Wasser.
Raen ließ sich gegenüber der Prinzessin neben dem Eingang nieder und betrachtete das Wandmosaik in ihrem Rücken. Es zeigte die Schlange Ifni im Kampf mit Ashallah und war der einzige nennenswerte Schmuck in diesem Raum. Das mit scharfen Zähnen bewehrte Maul der grauen Schlange war weit aufgerissen, und der Gott - barhäuptig und nur mit einem Hüfttuch bekleidet - stieß ihr sein sichelförmiges Schwert entgegen. Zu beiden Seiten des Mosaiks waren Fenster in die Rückwand eingelassen. Die Läden waren ebenfalls geöffnet und ließen das goldene Abendlicht herein.
Raen trank durstig das ihm dargebotene Wasser und schmeckte einen erfrischenden Hauch von Zitrone. Während er den Gesprächen in der fremden Sprache und dem leisen Plätschern des Springbrunnens lauschte, überkam ihn schließlich eine angenehme Müdigkeit. Er senkte seine Lider zur Hälfte und ergab sich dem Zustand der angenehmen Schwere seiner Glieder. Die Ruhe, die an diesem Ort aus den Tiefen der Erde aufstieg, tat ihm wohl, und tiefe Zufriedenheit durchströmte ihn.
Es war gut, hier zu sein.
Bald nahm die Müdigkeit von allen Besitz, und die Gesellschaft löste sich auf. Jeder begab sich in das ihm zugewiesene Quartier. Raen teilte sich ein kleines Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes mit Koufra, der an diesem Abend jedoch die Nachtwache versah. Der Hy beneidete den Ohaoudi um seine unverwüstliche Ausdauer, denn der große sehnige Akaba schien als einziger nicht müde zu sein und zog gemächlich, aber aufmerksam wie ein Bussard seine Runden vor dem Zimmer der Prinzessin.
Raen fiel in den Schlaf, kaum, dass sein Kopf das weiche Kissen berührte. Er träumte vom Zauber dieses Ortes, von Keïs hellem Lachen und ihren nackten Füßen auf dem weißen Marmor.
Sie lief zu dem Brunnen und spritzte ihm Wasser entgegen. Kühl trafen die Tropfen auf sein Gesicht und bloßen Arme und rannen glitzernd über seine Haut hinab. ‚Sein Lächeln‘ lag auf ihren Lippen, und der Blick ihrer schwarzen Augen drang tief in ihn hinein. Sie tauchte ihre Hände in den Brunnen ...
Mit einem Mal veränderte sich das Licht der Sonne, strahlte kalt und gleißend in den Hof hinab. Keïs Lächeln erstarrte, und Entsetzten verzerrte ihr Gesicht, als sie auf ihre Hände sah. An ihnen perlte nicht mehr das klare Nass ab, sondern zogen sich dickflüssige rote Rinnsale wie Adern über ihre Haut. Blut sprudelte statt des Wassers aus dem Springbrunnen und sprühte auf den weißen Boden!
Taumelnd bewegte sich die Prinzessin von dem Brunnen fort. Sie sah nicht, wie hinter ihr ein Schatten auf vier Beinen zwischen den Säulen umherschlich, linkisch und in böser Absicht.
Raen wollte sie warnen, doch plötzlich verdunkelte sich der Himmel, Wolken verschluckten die Sonne, und in einem dichten Schleier fielen graue und schwarze Flocken herab. Der weiße Stein, mit dem der Hof gepflastert war, verschwand unter einer dicken Schicht aus schmutzigem Schnee. Er legte sich lautlos auf Keïs Haupt und Arme, bedeckte die vorgezogenen Dächer des Peristyls. Aber es war kein Schnee. Die Flocken waren warm und mit glühenden Körnchen durchsetzt!
‚Es ist Asche!’, schoss es Raen durch den Kopf. Nur woher kam sie?
Das Blut aus dem Springbrunnen quoll über und ergoss sich in die graue Schicht aus weichen, flaumleichten Flocken. Rot floss der Strom direkt auf ihn zu, verzweigte sich und bildete Arme, die sich nach ihm streckten. Raen trat angewidert zurück, wich den Flussarmen des Blutes mit seinen Fußspitzen aus. Die Prinzessin hatte er ganz vergessen. Sie stand noch immer wie zu einer Statue erstarrt da, die Hände anklagend vorgestreckt. Auch den Schatten ließ er unbeachtet und floh im Rückwärtsgehen vor den Blutflüssen.
Da sprang das dunkle, katzenartige Wesen auf ihn zu. Es warf ihn mit den Vorderbeinen um, und er fiel in das Blut. Schnell drehte sich die Kreatur zu dem Gefallenen herum und richtete sich auf die Hinterbeine. Ihr Körper war mit goldbraunem Fell bedeckt, und ihre handartigen Pranken besaßen gebogene Klauen. Aber was war das?
Vor Entsetzen spannte sich seine Gesichtshaut um seinen Schädel. Er kannte die Kreatur!
Mit kalten Augen sah Resa ihn an!
Dann öffnete sich langsam sein Mund, und der Wurm kam heraus.
„Du bist das Unheil!“, zischte die graue, sich ringelnde Kreatur im Mund seines Bruders, und es klang, als sprächen zwei Stimmen aus einer Kehle - ein verzerrtes Kreischen wie von rostigen Türangeln.
Raen hob die Hände an die Ohren. Es war unerträglich!
„Du bist das Unheil! Und wir werden dich vernichten!“ Die Kreatur reckte einen Arm vor, und ein klauenbewährter Finger zeigte direkt auf ihn.
Da durchzuckte ein gleißender Schmerz seinen Kopf. Helles Licht blitzte auf, und Raen riss die Augen auf.
„Was ist?“, fragte eine Stimme. Es war Keï.
Raen blinzelte und erkannte, dass er noch immer zusammen mit der königlichen Familie im Gesellschaftszimmer saß. Verwirrt strich er sich über die Lider. Sie waren doch schon zu Bett gegangen. Oder hatte er das auch nur geträumt?
„Die Hitze!“, gestand er hastig, bevor die Prinzessin ihm noch mehr Fragen stellen konnte. Er hatte sich genug blamiert und wollte so schnell wie möglich allein sein. Doch er musste den unangenehmen Blicken der anderen Akaba noch so lange standhalten, bis der König ihm gestattete, sich zurückzuziehen.
In dieser Nacht blieb Raen wach, auch wenn die Müdigkeit ihn mit aller Gewalt in ihr Reich hinüberziehen wollte. Doch seine Angst, noch einmal in diesen schrecklichen Traum einzutauchen - und vor dem, was er möglicherweise bedeuten könnte! - hielt ihn wach.
Als die Sonne am nächsten Morgen fröhlich durch das hölzerne Fenstergitter in sein Zimmer leuchtete, verschwanden die Angst und das beklemmende Gefühl der Nacht. Erschöpft, aber guter Dinge erhob sich Raen von seinem Lager. Koufra war noch immer nicht da. Wahrscheinlich wartete er mit seiner ihm eigenen, vorwurfsvollen Art darauf, dass er ihn endlich ablöste. Noch immer waren der erste Akaba und der Hy nicht miteinander warm geworden, und auch wenn Raens inneres Zeitgefühl ihn immer rechtzeitig weckte, so war Koufra ihm doch stets einen Schritt voraus und verurteilte ihn mit ausdrucksloser, stummer Miene. Das ärgerte Raen, er fühlte sich in einen unfreiwilligen Wettstreit gezwungen, in dem es nur darum ging, wer pünktlicher beim Dienst erschien.
Aber auch heute wollte er sich bemühen, sein Amt ohne Fehl und Tadel zu erfüllen. Und es begann damit, die Prinzessin auf einem Morgenspaziergang durch die Oase zu begleiten.
Keï war still und schien nicht im Geringsten an einem Gespräch interessiert. Sie war in ein schlichtes, lavendelfarbenes Gewand ähnlich einem Kaftan gekleidet und ging gemächlich auf dem schmalen Pfad durch den Palmenhain. Ihre Sinne schienen mehr auf die Umgebung gerichtet als auf ihre Begleiter.
Dafür plauderte Faïshe neuerdings um so mehr mit Raen. Sie erzählte ihm von ihrem Leben im Palast, und er beantwortete höflich ihre Fragen nach seiner Heimat. Verwundert fragte er sich, warum das zierliche Mädchen plötzlich so redselig geworden war, aber es machte ihm trotzdem Spaß, sich mit ihr zu unterhalten. Die Schweigsamkeit der Prinzessin empfand er hingegen als schmerzlichen Rückschlag. Es war ihm unverständlich, warum Keï erneut die Sprache verloren hatte, nachdem sie die letzten Tage der Reise schon soweit aufgetaut war, dass sie Späße gemacht hatte. In zaghaften Vorstößen versuchte er, die Prinzessin in ein Gespräch zu verwickeln, doch sie blieb lustlos einsilbig.
Am Abend löste ihn Koufra ab, und Raen legte sich schlafen. Zu seiner Erleichterung blieb er diese Nacht von seinem Traumgesicht verschont.
Die folgenden Tage waren geprägt von entspannter Stimmung und beruhigender Gleichförmigkeit. Selbst in der Regungslosigkeit der Luft konnte man die urzeitliche Kraft dieses außergewöhnlichen Ortes spüren, in der jeder auf seine Art schwelgte. Der König und die Königin zogen sich oft zurück und ließen ihre Kinder in der Obhut der Kindermädchen. Bendan war entweder mit einer langwierigen Partie Schach gegen den Sternendeuter beschäftigt, oder trieb sich außerhalb der Palastmauern herum, wo er, wie Keï amüsiert bemerkte, mit größter Wahrscheinlichkeit einer kleinen Liebschaft mit einer der Dienerinnen nachging.
Jeden Morgen begleitete Raen die Prinzessin auf ihren Spaziergängen, nahm danach an den eher spielerischen Waffenübungen der Akaba teil und saß die Nachmittage mit Keï auf einer der Hochterrassen auf der Mauer des Herbstpalastes, und sie blickten gemeinsam Tee trinkend in die Ferne. Stets war Faïshe mit bei ihnen und führte an Stelle ihrer Herrin die Konversation. Sie war wie ein kleiner, aufgeregter Vogel, der unentwegt zwitscherte und balzte.
Binnen weniger Tage empfand Raen ihre bewundernden Blicke und ihre heimlichen Berührungen als aufdringlich. Sie wusste doch, dass er die Prinzessin verehrte, und nur sie! Warum also versuchte Faïshe, ihn zu locken? Keï selbst schien davon nichts mitzubekommen, sie schwebte mit ihren Gedanken in einem anderen Universum, fern von der alltäglichen banalen Gegenwart.
‚Wenn das so weitergeht, werde ich noch verrückt!’, dachte Raen. Faïshes unmittelbare Weiblichkeit, die sie ihm kaum vorenthielt, weckte sein Verlangen nach der Prinzessin umso mehr. Keï jedoch zeigte ihm beharrlich die kalte Schulter, nippte an ihrem gesüßten Tee und sah an ihm vorbei auf die Felsformationen im Hintergrund.
Die Akaba trieben bereits ihre Scherze mit ihm, weil Faïshe ein Auge auf ihn geworfen hatte. Auch neckten sie die Dienerin mit anzüglichen Bemerkungen wegen ihrer offenkundigen Schwäche für weißhäutige, kleinwüchsige Männer!
Raen hob sein Teeglas und musterte Faïshe verstohlen über den Rand hinweg. Ihre Gesichtszüge waren feiner als Keïs, ihre Lippen dunkler und schmaler. Die sinnliche Form ihres Kopfes schloss sich der perfekt geschwungenen Linie ihres Halses an. Ihre schmalen, nackten Schultern schimmerten dunkelbraun im Sonnenlicht. Sie hatte nichts von der männlichen Spannkraft in ihrem zartgliedrigen Köper, die Keï dank ihrer durch unentwegtes Üben wohl geformten Muskeln besaß, und auch ihre Sprache war weniger bestimmt und beinahe erregend sanft.
Raen schürzte die Lippen. Was war dagegen einzuwenden, sich vielleicht vorerst mit ihr zu vergnügen? Sie wollte es doch augenscheinlich auch.
Sofort verwarf er diesen Gedanken wieder und stellte ruckartig das Glas ab. Was war nur los mit ihm? Er gehörte der Prinzessin, und er würde standhaft ausharren, bis sie ihm wieder Beachtung schenkte. Nur für sie war er hierher nach Ohaoud gekommen und für sie würde er warten, und sei es bis zu dem Tag, an dem er so zahnlos und verdorrt wäre wie der alte Sternendeuter!
„Wir werden morgen einen Ausflug unternehmen“, sagte Keï wie aus dem Nichts und lenkte Raen damit aus seiner geistigen Misere.
„Wohin?“ Demonstrativ suchend blickte er in die Weite aus Sand und Felsen rund um die Oase.
„Es gibt einen hübschen Ort dort in den Felsen. Er ist einen Tagesritt entfernt. Jedes Mal, wenn wir in Il’Abh sind, verbringe ich dort ein paar Tage allein und besteige die Felskuppen. Es ist herrlich einsam und bietet wunderschöne Ausblicke ... besonders bei Sonnenuntergang.“ Die Andeutung eines Lächelns flog über ihr Gesicht.
„Was heißt allein?“, erkundigte sich Raen sachlich, er wollte nur wissen, worauf er sich einließ.
„Nur Ihr, Koufra, Faïshe, mein Leibkoch und drei weitere Soldaten werden mich begleiten. Hier in der Gegend habe ich nichts zu befürchten, sie ist sicher. Deshalb ist es auch der einzige Platz auf Erden, an dem es mir möglich ist, Einsamkeit zu erfahren.“ Ihr Blick flackerte und schnell ließ sie ihn in die Ferne schweifen, hin zu den mächtigen stillen Sandwogen. „Wir brechen mit Sonnenaufgang auf.“
„Sa douk, Sal al In’Sahdi.“ Raen neigte sein Haupt und bat darum, sich entfernen zu dürfen.
„Wie Ihr Wünscht, Il’Ressabi“, entgegnete Keï schläfrig, „aber haltet Euch bereit, heute Abend ist das Fest.“
Raen verneigte sich erneut und ließ die beiden Frauen allein. Diese tauschten einen wissenden Blick miteinander, hoben ihre Teegläser und tranken.
Das Wiedersehensfest, das der König für seinen Sohn Bendan gab, war zwar von begrenztem Umfang, bot aber alles, was ein stimmungsvolles Beisammensein haben musste. Die Köche tischten erlesene Gerichte auf, einer der Akaba der Königin führte kleine Kunststückchen mit seinem Dolch vor, Diener spielten auf verschiedenen Instrumenten und dazu tanzte ein ohaoudisches Mädchen. Jenes bezaubernde Geschöpf, von dem Keï behauptet hatte, es beschäftige ihren Bruder. Ihre Bewegungen waren schlangenhaft betörend. Nahezu lüstern ließ sie ihre Hüften kreisen und bog ihren nackten, von Öl glänzenden Oberkörper vor und zurück. Raen konnte beobachten, wie es in Bendans Augen verlangend aufleuchtete. Es schien klar, wo sie die Nacht verbringen würde. Sicher war auch, dass Raen selbst hellauf entflammt war, die Nacht aber für ihn nur eine kalte vereinsamte Schlafstätte bereithielt. Unter dem Vorwand, müde zu sein, machte er sich alsbald rar und ging in den Hof hinaus. Das Geviert war kaum beleuchtet und das war gut. Seufzend ließ er sich auf die umsäumenden Stufen nieder und schaute zu den Sternen empor. Kühl legte die Dunkelheit ihre Hände um sein verwirrtes Gemüt, und langsam gewann sein Norden wieder die Überhand. Er lehnte sich gegen eine Säule, zog die Knie an und legte die Arme darum. Musik und rhythmisches Klatschen drangen durch die Fenster nach draußen und vermischten sich mit dem Plätschern des Springbrunnens. Raen schloss die Augen und erinnerte sich an die schönen Momente in Borgossa. Wie es Manoen jetzt wohl erging? Ob er seinen Brief bekommen hatte? Bei dem Gedanken an den Brief, kam ihm noch eine andere Erinnerung. Irgendetwas war da mit einem Brief gewesen. Damals …
Aber das Bild war zu undeutlich, und ehe er es festhalten konnte, döste er ein.
Folgsam arbeitete sich Eschou die seichte Schulter der Düne hinauf. Ihm vorweg schwärmten zwei der Soldaten auf ihren Pferden hin und her, und hinter ihm ritten, ebenfalls in einer Reihe, die Prinzessin und ihr Anhang. Kamele trugen die Zelte und die Wasservorräte. Der dritte Soldat kümmerte sich um die Lasttiere. Sie waren mitten im Felsenlabyrinth. Imposant ragten die verwitterten Basaltstöcke um sie herum auf, einer bizarrer als der andere. Die beiden vorauseilenden Soldaten kannten den Weg und führten sie sicher durch die engen Schluchten und über die tückischen Blockmeere, die neben dem Sand immer öfter den Raum zwischen den Felsen ausfüllten. Raen war hingerissen von der unzugänglichen Schönheit der Keddachan, die sich laut der Prinzessin noch viele Meilen weit nach Südwesten erstreckten. Nur die Nomaden wagten es, sie zu durchqueren, ansonsten gab es hier nicht einmal mehr Geier. Skorpione, Schlangen und Spinnen waren die eigentlichen Herrscher, die sich tagsüber in die Schatten der Felskuppen verkrochen und nur nachts herauskamen. Wenn man genau hinsah, konnte man ihre Spuren im Sand lesen; kleine emsige Spuren auf der ewigen Suche nach Nahrung.
Gegen Abend erreichten sie den Platz, der seit Jahren schon Keïs einziger Rückzug von den Anforderungen darstellte, welche die Welt an sie stellte. Drei hohe Basalthäupter schlossen einen kleinen Kessel ein, aus dem nur zwei Schluchten wieder hinausführten, eine davon hatten sie durchquert. Der Boden des Kessels war mit feinkörnigem, glitzerndem Sand bedeckt und mehrere zusammengetragene Steinringe zeigten an, dass hier bereits Menschen gelagert hatten.
Keï gab Befehl, die Zelte zu errichten und sprang von ihrem Pferd. Mit den Knien fiel sie in den weichen Sand, schöpfte ihn mit beiden Händen wie Wasser und ließ die winzigen Körner durch ihre Finger rieseln. Das tat sie viele Male, als könne sie gar nicht genug von der edlen Qualität des Sandes bekommen. Dabei lachte sie.
Als die Nacht sich senkte, und die Lagerfeuer brannten, trat Raen zusammen mit einem der Soldaten die erste Nachtwache an. Koufra würde die zweite übernehmen, und so würden sie sich immer abwechseln. Die beiden Akaba der Prinzessin teilten sich ein Zelt von den insgesamt drei aufgeschlagenen Behausungen; geduckte Schatten auf dem vom abnehmenden Halbmond beschienenen Sand.
Am Morgen kam Koufra und löste Raen ab. Für einige Stunden zog dieser sich in sein Zelt und schlief. Gegen Mittag wurde es unter den Stoffbahnen aber so stickig, dass er sich hinaus in das blendende Sonnenlicht begab. Nachdem er sich bei dem Koch eine Schale Weizengrütze geholt hatte, bestieg er einen kleinen schattigen Felsvorsprung und ließ sich dort nieder. Von hier aus konnte er das Lager gut überblicken, in dem die Menschen träge im Schatten von Sonnsegeln dösten oder plauderten. Es war herrlich ruhig, und Raen konnte nachvollziehen, warum es der Prinzessin hier so gut gefiel. Von all dem wundersamen Plätzen, die er bis jetzt gesehen hatte, war dies der Ort, an dem jegliches menschliche Tun und Schaffen, sämtliche Gesetze und Regeln, die je erfunden worden waren, um dem Menschen eine Ordnung aufzuzwingen, bedeutungslos im Sand versanken. Hier zählten keine Titel und Ehrenabzeichen, keine Ränge oder komplizierte Familienzugehörigkeiten, hier war man lediglich Mensch und spürte das pure Leben. Auch Raen hatte sich noch nie lebendiger gefühlt als in der Wüste! Sie war eine Offenbarung der eigenen Schwächen und Stärken und verlangte stets und unerbittlich die Wahrheit. Lug und Trug waren fern, verblassten in ihrer urbanen Bedeutung angesichts der vernichtenden Macht der Wüste. Am liebsten hätte Raen einen Freudenruf ausgestoßen, so sehr drang die Lebenslust durch seine Adern, doch er unterließ es und spähte stattdessen nach der Prinzessin. Sie saß, nur als blauer Punkt zu erkennen, ihm gegenüber auf der sonnigen Seite des Kessels ebenfalls auf einem Felsen. Faïshe war bei ihr. Raen hob die Hand und winkte. Erst schien es, als sähen die zwei Frauen ihn nicht, doch dann winkte eine der beiden zurück. Dass es Faïshe war, störte nicht im Geringsten seine gute Laune. Er hatte sich in der vergangenen Nacht damit abgefunden, ein enthaltsames Dasein an der Seite der Prinzessin zu führen. Das war allemal besser, als sich mit anderen flüchtigen Ablenkungen etwas vorzumachen. Er würde auch diese Herausforderung meistern, und vielleicht war das Schicksal ihm irgendwann einmal gnädig ...
Den ganzen Nachmittag saß er auf dem Felsen und stieg erst hinab, als ein Magenknurren ihn signalisierte, dass er etwas zu essen brauchte. Auch die Prinzessin und ihre Dienerin fanden sich beim Zelt des Koches ein und ließen sich getrocknetes Obst, süßes Sesammus und Wasser geben.
„Il’Ressabi, kommt Ihr mit auf den Kala-Il’Kisil? Ich möchte von dort oben den Sonnenuntergang beobachten“, fragte Keï und biss die Hälfte von einer getrockneten Feige ab. Allein, dass sie eine Frage stellte und keinen Befehl erteilte, verwunderte Raen.
„Gerne, Sal al In’Sahdi“, entgegnete er, verbarg aber hinter einer nüchternen Miene sorgsam seine Freude über diese Einladung.
„Gut. Faïshe, was ist mit dir?“
Die Dienerin verzog leidend das Gesicht. „Herrin, wenn Ihr erlaubt, so würde ich gerne unten bleiben. Mein Füße sind schon ganz wund.“
„Es sei dir erlaubt, liebste Faïshe.“ Keï lächelte milde. „Meine arme, kleine Freundin, erhole dich nur gut von den Strapazen, die ich dir zumute!“, neckte sie die Kleinere und sah dann schulterzuckend zu ihrem zweiten Akaba. „Dann sind wir wohl nur zu zweit.“
Das war Raen nur recht und er sah innerlich jubilierend zu der Spitze des Basaltkopfes auf, den sie zu erklimmen gedachten.
Durch die treppenartige Struktur der aneinander geordneten Basaltsäulen gestaltete sich der Aufstieg kinderleicht. Raen hatte den Wassersack über der Schulter und sein Schwert im Gürtel stecken. Er ließ die Prinzessin voransteigen, um sie stützen zu können, für den Fall, dass sie abrutschen sollte.
Zum Gipfel hin wurde die Bergflanke steiler und die Stufen, die sie zu überwinden hatten, höher, doch Keï kletterte mühelos wie eine Ginsterkatze, und noch bevor die Sonne den Horizont küsste, gewannen sie den höchsten Punkt der Felskuppe. Ein seichter Wind aus Süden strich über ihre verschwitzte Haut, und tief atmeten sie durch. In den Augen der Prinzessin spiegelte sich die rote Sonne wider, und plötzlich breitete sie die Arme aus und rief laut: „Masira Hamra! Masira Hamra!“
Raen wartete still, es machte ihm Freude, sie so zu sehen. Ein leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel, und auch sein Blick streifte schließlich über die mit überirdischem Purpur übergossene Landschaft aus Felskegeln und Sandkesseln zu ihren Füßen.
„En Hika, En lo - Licht ist Hoffnung, Licht ist heilig“, flüstere er und dachte, dass es wohl eine ähnliche Bedeutung hatte.
Langsam versank die Sonne hinter den versteinerten Schuppenzacken Ifnis, und der Anblick des glühenden Himmelskörpers erfüllte Raens Herz mit Ehrfurcht und Dankbarkeit. Unwillkürlich ließ er sich auf die Knie sinken, betete zu Hyaun und dankte ihm, ihn hierher geführt zu haben.
Die Prinzessin bemerkte den Zauber, der ihren Begleiter gefangen hielt, und blickte den Hy lange an. Und wenn er in diesem Moment aufgeschaut hätte, so hätte er ihre wirklichen Gefühle sehen können, welche aus ihren Augen sprachen. Aber Raen sah nicht auf, er starrte weiterhin verzückt auf den violetten Schimmer am Horizont, ganz vertieft in das Zwiegespräch mit den Elementen.
Irgendwann erwachte er aus seiner seligen Versunkenheit und blinzelte zu der Prinzessin hinüber. In ihrem Rücken stand bereits der Mond am Himmel.
‚Ich liebe dich, Keï! Und ich möchte nicht einen Atemzug ohne dich sein!’, hätte er ihr beinahe gestanden, aber er schluckte es gerade noch rechtzeitig hinunter. Er wollte sie nicht bedrängen. Sie würde ihm ein Zeichen geben.
Einen Moment sah es so aus, als wollte auch sie ihm etwas sagen, ihre Lippen zuckten kurz und unschlüssig, doch dann wandte sie sich von ihm ab und begann wortlos den Abstieg. Sicheren Schrittes sprang sie eine Stufe nach der anderen hinab. Raen folgte ihr, eine seltsam dumpfe Enttäuschung in seiner Brust spürend.
Als sie unten ankamen, verabschiedete die Prinzessin sich und begab sich ohne Umschweife in ihr Zelt. Raen saß noch eine Weile fernab vom Feuer und beobachtete, wie Koufra sich vor den Eingang von Keïs Behausung niederließ, dann verschwand auch er in seinem Zelt.
Ein leises Scharren weckte Raen, und er drehte sich herum. Er sah eine Bewegung am Vorhang des Zelteinganges.
„Wer ist da?“, fragte er auf Ohaoudi in die schwarze Dunkelheit und setzte sich auf.
Kaum merkliche Schritte kamen auf ihn zu und er griff nach seinem Dolch.
„Wer, zum Teufel, ist da!“
Plötzlich fühlte er einen Körper neben sich, und eine Stimme flüsterte in sein Ohr: „Psssst, ich bin es, Faïshe.“
Raen schwante Eindeutiges und nahm von der Dienerin Abstand, die sich anschickte, unter seine Decke zu kriechen.
„Was willst du hier?“, protestierte er. Sie hatten sich anscheinend darauf geeinigt, Graçenisch zu sprechen.
„Das sage ich dir gleich, jetzt lass mich mit unter die Decke, mir ist kalt!“ Ihr Ton war überraschend bestimmend, und Raen gewährte ihr einen Platz im Warmen, rückte aber so weit von ihr ab, dass er sie nicht berührte.
Schnatternd zog Faïshe sich die Decke bis unters Kinn.
„Wenn du hier bist, um mit mir -“
„Bin ich nicht, sei unbesorgt. Und jetzt hör mir zu!“, zischelte Faïshe.
Verwundert verstummte Raen.
„Meine Herrin schickt mich, weil sie dich sehen will.“
„Jetzt?“
„Zumindest noch diese Nacht, ja!“ Es klang etwas spöttisch.
„Wo ist sie?“ Raen schoss plötzlich Hitze durch den Leib und er wollte aufspringen, doch Faïshe hielt ihn zurück.
„Schhht! Du tust jetzt, was ich dir sage, und dann kannst du zu ihr.“
„Und was soll ich tun?“ Die Ungeduld zerrte an seinen bebenden Nerven.
Faïshe kicherte begehrlich. „Wir werden jetzt so tun, als teilten wir zusammen das Lager. Ganz ohne Hemmungen, jeder soll es hören! Danach werde ich das Zelt auf dem normalen Wege verlassen und die Wachen ablenken. Du kriechst gleichzeitig unter der Rückwand hinaus und läufst schnell geradewegs zu den Felsen des Kala-Il’Kisil. Dort wartet meine Herrin.“
„Aber Koufra hat Nachtwache. Bekommt er nichts mit?“
„Nur das, was er soll!“ Wieder lachte Faïshe beinahe lüstern und begann erst leise und dann immer lauter zu seufzen und zu stöhnen.
„Los, mach schon mit!“, forderte sie ihn auf und wand sich unter der Decke, als gebe sie sich der Lust hin, ohne jedoch dem Hy zu nahe zu kommen. Peinlich berührt stimmte Raen mit ein und schnell fanden sie in einen gemeinsamen Rhythmus.
Obwohl nur vorgetäuscht, heizte der Mummenschanz sein Verlangen unweigerlich an, und ließ die Erregung in seinen Lauten echt klingen. Dabei war doch gar nicht klar, was die Prinzessin überhaupt von ihm wollte. Vielleicht hatte sie nur vor, ungestört mit ihm zu reden. Seine Vernunft ließ seine Begierde wieder etwas abkühlen, während er und die Dienerin gut gespielt zum Höhepunkt kamen. Anschließend warf sich Raen in die Kissen zurück und musste ein hysterisches Lachen unterdrücken. Welch ein verrückter Plan! Ihre Raffinesse hatte die Prinzessin im Gegensatz zu ihrer Offenheit also noch nicht eingebüßt.
„Ich gehe jetzt, sei also bereit“, flüsterte Keïs engste Verbündete, die soeben offenbart hatte, wie heißblütig sie bei einer kaltblütigen Lüge sein konnte.
„Ja, ich bin bereit, und ... danke, Faïshe.“ Schnell zog er sich den Kaftan über.
„Danke nicht mir, ich tue das für meine Herrin.“
„Obwohl du es nicht gutheißt ...?“
Faïshe zögerte. „Nein, denn auch ich weiß, was es bedeutet, auf das verzichten zu müssen, was man liebt!“
Noch ehe Raen ihr eine weitere Frage stellen konnte, schlüpfte sie aus dem Zelt. Er konnte ihre Schritte im Sand hören und die Stimmen der Wächter, die ihr anzügliche Bemerkungen hinterher riefen.
Es war Zeit, gemahnte er sich. Auf dem Bauch robbte er unter der rückwärtigen Zeltwand hindurch, kam auf die nackten Füße und lief geduckt auf die Felsen zu, das Zelt bewusst immer zwischen sich und den Wächtern. Der Mond schien hell genug, um sicher die Schritte zu setzen, und mit mehreren hastigen Sprüngen war er kurz darauf in die Felsen geklettert. Im Schutz eines großen, hervorstehenden Blockes verharrte er schließlich und horchte in die Nacht hinaus.
Wo war nun Keï?
Sein Herz klopfte heftig, allerdings mehr vor Aufregung als vor Anstrengung. Irgendwo über ihm rieselten Steinchen, und Raen wandte den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Ein Schatten löste sich mehrere Längen oberhalb seines Versteckes aus den Felsen und winkte ihm zu. Vorsichtig und immer darauf bedacht, nur auf festen Fels zu treten, schlich er zu dem Schatten hinauf. Voller Erwartung schlug sein Herz noch schneller.
Auf den letzten Ellen streckte sich ihm eine Hand entgegen und zog ihn hoch. Er überwand die Felszinnen und sprang in den mit weichem Sand gefüllten natürlichen Balkon - ein ideales Nest am Berghang weit über dem Lager.
Keï setzte sich, sie war gegen die Kälte der Wüstennächte in ein weites, dunkles Gewand gehüllt. Still hockten sie eine Weile nebeneinander, jeder dem wilden Pochen seines eigenen Herzens lauschend.
Bemüht gelassen betrachtete Raen die Sterne, konnte seine drängende Ungeduld aber kaum noch zügeln. Warum hatte sie ihn hierher gelockt?
In seinem Innern richtete er all seine Sinne auf die Frau neben sich. Sie waren allein, vollkommen allein!
Unwillkürlich erschauerte er.
„Ist dir kalt?“, fragte Keï schließlich leise. Ihre Stimme war sanft und dunkel.
„Nein, ich habe nur an etwas denken müssen.“
„An was denn?“
Raen schwieg, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. Nachher hatte er sich doch getäuscht, und sie wollte tatsächlich nur mit ihm reden.
Da spürte er plötzlich, wie sie sachte seine Hand berührte, mit der er sich im Sand abstützte. Es war nur der flüchtige Hauch einer Berührung, aber Raen durchzuckte es wie ein Blitz.
Erneut strich sie ihm über den Handrücken. Nein, er hatte sich nicht geirrt!
Die Erfüllung all seines Sehnens schien plötzlich zum Greifen nahe.
Er wandte sich ihr zu, und sah in ihr vom Mondlicht beschienenes Antlitz.
„Keï!“, stieß er flüsternd aus.
„Ja?“, kam es zögerlich zurück.
„Sag nur einmal meinen Namen, bitte!“
„Raen ...“
Er schloss die Augen, sein Herz machte einen beinahe schmerzhaften Satz. Hart biss er sich dabei auf die Lippen.
„Ja“, sagte er dann bedeutungsvoll.
Heute sollte es sein!
Er sog die kühle Nachtluft ein.
Heute gehörte das Glück ihnen. Ihnen ganz allein!
Keï hob eine Hand und berührte sein Gesicht. Es war unerträglich schön! Ihre Finger glitten über seine Wange, und Raen seufzte. Schließlich brach sie ihr Schweigen.
„Raen, was ist das nur, das mich dazu bringt, all meine Vernunft zu vergessen?“
Er lächelte in das Dunkel. „Keï, meine liebste Freundin, ich habe keine Ahnung. Alles, was ich dir sagen kann, ist, dass es mir genauso ergeht, ... seit dem Augenblick, da wir uns damals in Borgossa begegnet sind!“
„Also ist es Schicksal?“ Sie rückte näher an ihn heran, und er konnte nun deutlich ihren Lavendelduft riechen.
„Ich dachte, du glaubst nicht an das Schicksal.“ Sein leises Lachen klang verschwörerisch. Er beugte sich zu ihr hin. „Vergiss das alles“, flüsterte er ihr ins Ohr, „vergiss, wer du bist, und vergiss, wer ich bin. Diese Nacht gehört uns. Und kein Schicksal der Welt kann es uns wieder nehmen!“ Raen küsste sie neben das Ohr auf die Wange. Beinahe hastig suchten ihre Hände seinen Nacken, und endlich fanden sich ihre Lippen. Raen meinte, vor Glück zerspringen zu müssen, als er sie sanft und weich spürte. Jede Faser seines Körpers rief nach ihr. Keï! Keï! Keï!
Wie von Fesseln befreit glitten seine Hände über ihren Rücken. Hungrig, endlich den Körper seiner einzig wahren Geliebten erkunden zu dürfen, fanden sie einen Weg unter die Lagen ihres Gewandes. Er fühlte zarte, warme Haut.
Keï löste ihre Lippen von den seinen, öffnete den Ausschnitt seines Kaftans und küsste ihn auf Hals und Brust. Brennend ballte sich die Erregung in seinem Unterleib, und er stöhnte leise auf. Dann ließ er sich fallen ... in ihre Arme, und sah nur noch ihre dunkle Silhouette gegen den Sternenhimmel, als sie sich über ihn beugte.
Trotz der Kälte entledigten sie sich ihrer Kleidung und breiteten nur ihren weiten Umhang über sich. Seine Haut hatte die Farbe des Sandes und ihre die des nächtlichen Himmels. Das Weiße in ihren Augen blitzte auf, und Raen schien es, als sei die Nacht auf ihn herabgestiegen. Auf ihm sitzend nahm Keï ihn in sich auf. Erde und Luft, Sand und Sterne - wie in einem längst vergessenen, heidnischen Ritual vereinigten sich in dieser Nacht alle Elemente zu einem einzigen: Dem Urstoff, der mächtigsten Substanz, über die selbst die Götter keine Gewalt besaßen.
Gift troff von ihren Kiefern. Ungehalten scharrte Zaizura mit ihren langschenkeligen Beinen. Ihr fetter Leib bebte, und ihre sechs kalten Augen waren direkt auf das sich liebende Paar gerichtet. Wie konnten sie es wagen! Unbedeutende Menschenwesen!
Die große Spinne stampfte mit zweien ihrer schweren Beine auf. Staub stob hoch in die Luft, und die Erde erzitterte. Das Netz aus klebrigen Schicksalsfäden geriet in Bewegung, vibrierte und schillerte in allen Farben.
Nichtswürdige Kreaturen!
Sie erdreisteten sich, gegen ihren Willen zu handeln! Allen voran dieser abtrünnige Menschensohn Raen!
Glutheiße dämonische Wut entfachte sich in ihrem großen empfindlichen Hirn, aber auch die Angst, sie könnte ihren Krieg gegen den Sterblichen Soghul und dem Zukunftshüter Al Nor verlieren, den die beiden gegen sie angezettelt hatten, um die Menschen von ihrer uneingeschränkten, lähmenden Macht zu befreien; ein gefährliches Gemisch, das sich durch ihre Nervenbahnen ätzte, und sie schließlich in blindwütige Raserei geraten ließ. Wie besessen stampfte sie umher und webte neue Fäden, riss alte Verbindungen auf und verknüpfte sie neu. Und langsam veränderte das Netz seine Form.
„Ihr niederträchtigen Ungläubigen!“, rief ihr geiferndes Maul. „Zaizuras Rache ist fürchterlich!“
Und wenn das alles nicht half, dachte sie, so würde sie ihren besten Krieger ausschicken!
Als Raen in seinem Zelt erwachte, sagte ihm sein ungutes Gefühl gleich, dass der Traum, den er gehabt hatte, eine Warnung an ihn gewesen war. Eine Warnung Zaizuras. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen.
„Sie verliert ihre Macht über mich! Deshalb ist sie wütend“, versuchte er sich einzureden und zog sich an. Er hob den Stoff seines Kaftans an die Nase und roch daran. Keïs Duft hing noch immer daran. Die plötzliche Erinnerung an die vergangene Nacht überwältigte ihn, und sein Herz überschlug sich förmlich. Sein Atem ging rasch und verlangend, und nur widerwillig zwang er den wild schlagenden Muskel in seiner Brust in einen ruhigeren Takt. Er musste sich zusammenreißen! Sie beide mussten sich zusammenreißen, auch wenn es ihnen noch so schwerfiel! Niemand durfte auch nur das Geringste merken - sonst würde sich, noch bevor die Sonne sich zu einer weiteren Nacht senkte, stattdessen der Schlund des Dämonenreiches auftun und ihn auf der Stelle verschlingen.
Zwei Nächte darauf lag Raen wach in seinem Zelt und fragte sich, ob Keï ihn auch heute erwartete. Eine bange Angst beschlich ihn. Vielleicht war das Ganze ja nur eine einmalige Angelegenheit gewesen. Vielleicht hatte die Prinzessin ja nur einen gewissen Durst an ihm stillen wollen, die prickelnde Lust an einem gefährlichen Spiel?
Die Nacht schritt voran, Stunden um Stunden der Ungewissheit, ohne dass sich etwas tat, oder er Schlaf finden konnte. Irgendwann versuchte Raen, sich mit Erinnerungen abzulenken. Die letzten zwei Tage waren sehr schön gewesen. Er und Keï hatten sich wieder mehr unterhalten und ständig heimliche Blicke ausgetauscht, dass ihm jedes Mal vor Wonne ganz trunken zumute gewesen war. Unerwartet heftig hatte sein Leben die letzte fehlende Komponente erhalten, nach der seine Seele sich so sehr verzehrt hatte, und nie zuvor hatte er sich vollkommener gefühlt. Es war, als befände er sich in einem Traum. Nur dass es kein Traum war!
Plötzlich hob sich der Zelteingang, und eine zierliche Gestalt kam hereingeschlichen. Faïshe!
Raen setzte sich erwartungsfroh auf. Die Dienerin kam neben ihn, und ohne ein Wort gewechselt zu haben, vollzogen sie das gleiche Schauspiel wie schon einmal zuvor, diesmal aber mit so viel Inbrunst, dass die getäuschten Wächter draußen vor den Zelten sich wünschten, die Prinzessin möge auch ihnen einmal ihre Dienerin vorbeischicken. Und selbst der asketische Koufra dachte daran, schon viel zu lange ohne diesen Genuss geblieben zu sein.
Wiederholt stahl sich Raen unter der Zeltwand hindurch ins Freie, während Faïshe auf dem Weg zu ihrem Nachtlager zurück die mokanten Reden der Männer über sich ergehen ließ.
Flink stieg Raen zu dem Felsenbalkon hinauf, wo Keï in den dunklen Umhang gehüllt auf ihn wartete. Sie hatte die Knie angezogen und sah in still an. Eine Weile spähte Raen zum Lager hinunter, wo die Wachen am Feuer saßen und in die Flammen starrten. ‚Sie ahnen nichts von alledem!‘, dachte Raen ruhig.
Auf einmal umschlang Keï seinen Rücken und schmiegte sich an ihn.
Unten vor ihrem Zelt wandte Koufra seinen Kopf und schaute einmal ringsum in die Dunkelheit. Vielleicht meinte er, etwas zu fühlen, ein Kribbeln im Nacken, doch dann entspannte sich seine Haltung wieder, und der erste Akaba sah weiter ins Feuer.
Keïs Hände auf seiner Brust, ihre Nähe und ihr Duft, der ihm in die Nase stieg, wühlten Raens Leidenschaft auf, und er drehte sich zu ihr um.
„Ich hatte schon gefürchtet, du kommst nicht“, flüsterte sie und wischte sich über das Gesicht. Hatte sie etwa geweint?
Mit einem jäh überfließenden Gefühl der Zuneigung schloss er sie im Sitzen fest in die Arme. Dass sie genauso Furcht und Glück empfand wie er, bewies ihm, wie sehr sie ihn liebte.
„Keï“, sagte er überwältigt, „ich werde immer bei dir sein. Amora par sémpre.“
„Ach, Raen, lass uns einander lieber nichts versprechen, was wir nicht halten können.“ Sie klang traurig.
„Was sagst du da? Wieso sollte ich mein Wort nicht halten?“
Keï spürte scheinbar, wie er aufgebracht war und legte ihm eine Hand an die Wange.
„Par sémpre! Ich meine doch nur, dass wir gar nicht wissen, was noch alles passieren wird“, besänftigte sie ihn. „Ich werde bald heiraten, und du wirst den Schmerz irgendwann nicht mehr ertragen und dann ...“
‚Wirst du mich wieder verlassen’, dachte Raen ihren Satz und ihre größten Befürchtungen zu Ende. „Ich bin Schmerzen gewohnt, ich werde sie schon aushalten, wenn ich nur bei dir sein kann“, sagte er leise und einfühlend. Es klang schön, doch er war sich nicht sicher, ob er tatsächlich für immer darüber hinweg schauen konnte, wenn sie künftig mit einem anderen Mann verbunden sein würde, mit dem sie ihre Pflicht erfüllte und Kinder zeugte. Würde er sich tatsächlich damit zufrieden geben, sie stets nur aus der Ferne betrachten und seine Liebe lediglich in wenigen kleinen Momenten wie diesen mit ihr teilen zu können?
„Par sémpre“, hauchte Keï beinahe verzweifelt in sein Ohr und umfing ihn. Und er wusste, dass sie ihn spüren und alles andere vergessen wollte. Dass sie nur einmal noch nur Frau sein wollte und nicht Prinzessin oder gar die zukünftige Königin.
Raen küsste sie, und verlangend tasteten seine Hände unter ihrem Gewand nach ihren Brüsten.
Keï erschauerte förmlich unter seinen Berührungen. Ungeduldig zog sie erst ihm den Kaftan über den Kopf und entkleidete sich dann selbst.
Die Nachtluft strich kalt über ihren Körper, doch Keï nahm nur seine Küsse auf ihrer Haut wahr. Wenn sie auch das vorangegangene Mal selbst die Zügel in der Hand hatte halten müssen, überließ sie sich jetzt ganz und gar seinem Fordern. Sie legte sich mit dem Rücken in den Sand, hob die Arme über den Kopf und ergab sich den verführerischen Liebkosungen. Als sie sein Gewicht auf sich spürte, stöhnte sie leise auf und ließ ihn gewähren. Schon seine ersten zaghaften Bewegungen in ihr rissen sie in einen immer schneller werdenden Strudel, der sie hemmungslos und intensiv einem unbegreiflich himmlischen Rausch entgegen sog. Mit zusammengepressten Lippen kam sie zum Höhepunkt, umklammerte fest die Schultern ihres Liebhabers - ein Vonsichstoßen und Ansichreißen zugleich. Und auch für Keï war die Erkenntnis der Liebe in ihrer absoluten Form bestürzend. Mit einer Heftigkeit, die sie nie für möglich gehalten hätte, wurde die klaffende Leere in ihrem Innern geschlossen.
So fühlte es sich also an, wenn man mit dem Herzen und der Seele liebte!
Lose in ihre Kleider gewickelt lagen sie später erschöpft und glücklich im Sand und sahen zu den Sternen empor. Nur sie hatten es mit angesehen, nur sie waren Zeuge. Amora par sémpre.
Raen warf einen wehmütigen Blick zurück auf die Oase mit dem Herbstpalast und auf die Basaltfelsen der Keddachan dahinter. Irgendwo dort lang der Kala-Il’Kisil, an dessen Flanke sich ein kleiner natürlicher Balkon schmiegte ...
Keï hatte ihm versprochen, jedes Jahr an diesen Ort zu reisen, jedes Jahr im Herbst. Dies war ihr Ort, ganz egal, was auch immer geschehen mochte. Und Raen war bereit, ein ganzes Jahr lang zu warten, um dort wieder mit ihr zusammen sein zu dürfen. Das war Lohn genug. So versuchte er sich zumindest einzureden. Die unbeschwerten Tage von Il’Abh waren sorgsam in seine Erinnerungen eingeschlossen, denn sie waren kostbare Wegzehrung, mit der er für eine sehr lange Zeit haushalten musste.
Er schob sich den Stoff des Turbans vor Mund und Nase und trieb mit einem Schnalzen Eschou an, der sich leichtfüßig in den Trab setzte und dem großen Karawanenzug durch den Sand folgte. Hinter ihm wurden die Keddachan langsam immer kleiner und kleiner.
Als sie acht Tage später in Reschent ankamen, waren die Überschwemmungen des Wasbeni bereits zurückgegangen und hatten die Felder am Flusssaum wieder freigegeben. Frisches Grün spross aus dem fruchtbaren Schlamm, den die träge dahinfließenden, braunen Wassermassen des Wasbeni hier abgeladen hatten. Deutlich roch es noch nach Moder und Fäulnis, aber der Gestank war lange nicht mehr so überwältigend wie in den ersten Tagen, nachdem das Wasser wieder zurückgegangen war. Die Sonne hatte den gröbsten Unflat ausgetrocknet und auch die Schwärme von Tausenden kleiner Mücken mit ihrer Hitze abgetötet. Schon bald würde Reschent inmitten einer blühenden Landschaft liegen. Der Regen hatte die tief im Sand versteckten Lebensgeister sämtlicher Gräser und Wildblumen geweckt. Ihre Samen keimten, und die Sprosse bohrten sich beinahe über Nacht ihren Weg an die Erdoberfläche, wo sie ihre Blätter und Blüten entfalteten.
Sah man von den Türmen des Palastes auf den grün und gelb getupften Teppich der Ebene hinunter, so konnte man kaum glauben, dass dort vor wenigen Tagen noch Dürre und Staub geherrscht hatten.
Raen stand mit Keï auf den Zinnen, genoss den herrlichen Anblick und die Gegenwart der Frau, die er über alles liebte. Selig schwelgte er in der Tatsache des bloßen Daseins.
Neben ihm seufzte Keï verträumt. Ob auch sie an das dachte, was sie am Kala-Il’Kisil geteilt hatten?
Raen betrachtete ihr Profil. Seit sie den Herbstpalast verlassen hatten, hatten sie kein Wort mehr darüber verloren. Sie wollte das so. Diese Gedanken auszusprechen, war gefährlich, und sie würden sie schließlich immer in den Augen des anderen lesen können. Das musste genügen, bis ... ja, bis wann eigentlich? Bis sie nächstes Jahr wieder in den Keddachan sein würden?
Raen zog sich das Herz zusammen. Er hatte sich vorgenommen, geduldig zu sein, aber das war angesichts der unmittelbaren Nähe Keïs eine Übung, die mehr Disziplin erforderte als alles andere.
Doch nicht nur er litt, das fühlte er, auch die Prinzessin quälte sich besonders in den Nächten damit herum, ihre Sehnsucht in Ketten zu legen und weg zusperren, bis sie sie wieder freilassen durfte.
„Hast du schon gehört? Ein Askharer steht auf der Audienzliste“, erwähnte sie beiläufig. „Stell dir vor, der Kerl sitzt dort schon seit vier Wochen. Er ist fuchsteufelswild und protestiert jeden Tag. Die Soldaten hätten ihn schon rausgeworfen, aber ...“
„Wer ist er?“
„Das wollte ich ja gerade sagen, er ist angeblich ein Sohn des Königs von Askhar. Maestro Kanaima nennt er sich. Aber wir lassen ihn noch ein wenig zappeln.“ Keï klang amüsiert.
In Raen jedoch zog eine dunkle Ahnung auf. Von einem Maestro Kanaima hatte er zwar noch nie etwas gehört, aber vielleicht war er ihm in Askhar trotzdem begegnet.
„Was will er?“, fragte er.
„Keine Ahnung. Das will er nur dem König persönlich sagen. Aber mein Vater lässt sich nicht drängen. Erst recht nicht von einem Askharer, und mag dieser noch so sehr ein Sohn des Königs sein.“
„Kann ich ihn sehen?“
Keï blickte ihn stirnrunzelnd an, doch dann schien sie zu verstehen. „Glaubst du, du hast ihn in Askhar schon einmal gesehen?“
„Könnte sein.“ Raen kaute auf seinem Daumennagel, und überlegte, ob der Besuch des Askharers etwas mit ihm zu tun hatte.
„Er ist im ersten Riadh, du weißt ja, wo das ist. Geh hin und sieh ihn dir an. Aber sei bedacht.“
„Ja.“
Keï hielt eine Hand hoch. „Und, Il’Ressabi! Keine persönlichen Rachefeldzüge hier im Palast! Als Audienzgast steht der Askharer unter dem Schutz meines Vaters.“
„Keine Angst, ich will nur wissen, wer er ist.“ Raen verzog seinen Mund zu einem Lächeln, doch es war nicht echt, und bevor die Prinzessin es merken konnte, entschuldigte er sich und stieg hastig den Turm hinab. Das ungute Gefühl wurde immer drängender.
Wenig später erreichte er den Eingang zum ersten Hofgarten, in dem auch er damals lange Zeit gesessen und gewartet hatte. Bevor er die vertraut lange Reihe der Wartenden abschritt, verhüllte er sein Gesicht mit dem Schleier des Turbans. Für den Askharer war er jetzt nur noch als Akaba zu erkennen, niemals würde er einen Hy unter dem grünen Habit vermuten.
„Il’Askhari?“, fragte er den Wachsoldaten am Eingang, und der deutete auf einen dunklen Punkt mit hellem Gesicht am Ende des rechten Laubenganges. Raen versuchte, ihn von hier aus zu erfassen, doch er war zu weit fort. Er nickte dem Soldaten zu und ging, ein bestimmtes Ziel vorgebend, den Gang entlang.
Die Wartenden drehten ihre Köpfe nach dem Akaba, und Raen konnte es kaum glauben, aber in ihren Augen lag Bewunderung.
‚Wenn ihr wüsstet! Das letzte Mal habt ihr mich noch mit eurer unvergleichlichen Herablassung bedacht. Da war ich für euch noch ein Bakkara uns saß mitten unter euch und jetzt ... .’ Er brach seinen Gedanken ab, denn er wollte sich auf den Askharer konzentrieren. Der war keine zwanzig Schritt mehr entfernt und saß gelangweilt und mit an die Wand zurückgelehntem Kopf da, genau wie er damals.
Aber offenbar sah der vornehm wirkende Askharer aus den Augenwinkeln die Person auf sich zukommen, denn er wandte Raen plötzlich sein Gesicht zu. Die strahlend blauen Augen richteten sich genau auf ihn.
Raen stockte der Atem, und beinahe hätte er auch im Gehen ein Zögern gezeigt, doch schnell kam er wieder zu sich und schritt gelassen weiter. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Es bestand kein Zweifel! Er kannte den Askharer!
Zwar nicht dessen Gesicht, aber dessen Augen!
Ein heißer Schwall von Erinnerungen brach über Raen herein, während er an dem Mann vorbeimarschierte, der ihm vor zwei Jahren als Maskierter zur Flucht nach Hy verholfen hatte!
Auch der Askharer unterzog die vorüberziehende Gestalt in der smaragdgrünen Kleidung einer genauen Begutachtung. Sie trug ausländische Stiefel und es schien, als ziehe sie den linken Fuß kaum merklich etwas nach. Er war eindeutig hellhäutig und hatte kein Gehänge an der Seite mit einem dieser prächtigen Säbel, sondern sein Schwert hinten im Gürtel stecken - ein hyaunisches Schwert!
„He!“, rief der askharische Besucher plötzlich und sprang auf.
Doch Raen hatte ihn schon mehrere Schritte hinter sich gelassen und tat so, als fühle er sich nicht angesprochen. Er eilte zu der Tür, durch die er damals von dem Hofbeamten zu der Prinzessin geführt worden war, öffnete sie und warf einen schnellen Blick zurück. Der Askharer hatte ihm hinterherlaufen wollen, doch die Wachsoldaten hielten ihn davon ab. Heftig stritt er mit ihnen. Als Raen genug gesehen hatte, schlüpfte er durch die Tür und schloss sie. Dämmriges Zwielicht empfing ihn, und vor ihm gähnte das scheinbar menschenleere Labyrinth der Gänge durch die Eingeweide des Palastes. Hastig riss er sich den Schleier von Mund und Nase, stieß angestrengt den Atem aus und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Er hatte das Gefühl, als hole ihn erneut die Vergangenheit ein.
Was zum Teufel suchte dieser Kerl hier in Reschent?
Er überlegte fieberhaft, doch er fand keinen Zusammenhang zwischen seiner damaligen Rettung und dem jetzigen Auftauchen des Askharers. War er aus politischen Gründen hier oder aus persönlichen?
Die politische Absicht schien Raen plausibler, aber was erhoffte sich Askhar vom Erzfeind Ohaoud und was hatte der Kerl dem König Geheimes mitzuteilen?
Immer schneller kreisten die unbeantworteten Fragen in seinem Kopf umher, und immer beklemmender wurden dabei die Erinnerungen an seine Gefangenschaft in Askhar. Sein längst verdrängter und vergessener Ekel gegen sich selbst und die abscheulichen Dinge, die er als Sklave Askhars hatte tun müssen, erwachte zu neuer, beißender Schärfe. Und eine unausweichliche Frage drängte sich aus allen anderen heraus in den Vordergrund. Was hatte er seitdem mit seiner Freiheit angestellt, die ihm so unverhofft geschenkt worden war? Was hatte er Gutes vollbracht?
‚Wahrhaftig nichts, wofür ich mich rühmen könnte!’, dachte Raen bitter, auf diese unangenehme Weise so plötzlich mit seinen Taten konfrontiert. ‚Ich habe meine Frau verlassen und kaltherzig verletzt, habe ohne mit der Wimper zu zucken meine Kinder einem Halbwaisendasein überlassen und meinen Vater schwer enttäuscht. Das alles nur, um hierher nach Ohaoud zu kommen und die Prinzessin zu verführen! Ich habe ihr die Ehre geraubt, obwohl ich wusste, dass sie dabei ihre Zukunft aufs Spiel setzt und ihren Vater hintergeht. Wie schäbig können Absichten noch sein? Du bist eine erbärmliche und selbstsüchtige Kreatur, Raen Shari! Schäm dich, die gleiche Luft zu atmen wie die ehrlichen und redlichen Menschen dieser Welt!’
Eine Wache bog in den Gang und kam ihm entgegen. Raen setzte eine unbekümmerte Miene auf, grüßte den Soldaten und tauchte in das Labyrinth ein, in dem er sich mittlerweile gut auskannte. Er musste allein sein. Die Prinzessin würde er später darüber informieren, dass er den Askharer kannte.
Am nächsten Tag sehnte er sich den Beginn der Waffenübungen herbei, er brauchte Ablenkung von dem, was da im ersten Hofgarten saß und auf Audienz wartete. Mit aller Leidenschaft stürzte er sich in das Schwerttraining, maß sich mit einigen Akaba und ließ sich von ihnen in ihre Technik mit dem Krummsäbel einweihen. Danach prüfte er sich selbst im Bogenschießen und hörte nicht eher auf, bis die Pfeile auf einen Fingerbreit genau ihr Ziel auf einer pendelnden Scheibe fanden, was ihm einige Anerkennung seiner Leibwächterkollegen einbrachte. Den heißen Nachmittag verbrachte er anschließend in den Stallungen bei Rekori dösend im Stroh, und als die Abendstunden ausgerufen wurden, zwang er sich noch zu einem Dauerlauf an der Unteren Palastmauer entlang. Schnell strömte der Atem durch seine Lungen. Es tat gut, sich zu spüren und eins zu werden mit dem Rhythmus der Schritte. Zwei Runden absolviert er und lief dann in seiner unverwechselbaren Art direkt zum Badehaus, wo er sich den Schweiß des Tages abwusch, denn die Prinzessin erwartete ihn zum Nachtmahl.
Etwas schweigsam saß er später mit ihr zusammen vor ihrem Gemach, sah in den kleinen Garten hinaus und aß gekühltes, mit Honig beträufeltes Obst. Sein Appetit hielt sich in Grenzen, aber er griff trotzdem zu, denn er wollte nicht unhöflich sein, wenn er schon einmal zu solch köstlichen Genüssen eingeladen wurde.
„Wie waren die Übungen?“
„Gut.“ Er wusste genau, was sie eigentlich wissen wollte, scheute sich aber noch, mit ihr darüber zu sprechen. Auch sie beschäftigte der askharische Besucher. Sein Schweigen reizte schließlich ihre Ungeduld, und sie konnte nicht länger an sich halten.
„Was denkst du über den Askharer? Ich sehe doch, dass er dir zu schaffen macht“, fragte sie ihn geradeheraus.
Raen kaute den saftig süßen Bissen Melone zu Ende und antwortete dann ebenfalls offen und ausführlich: „Am liebsten würde ich auf ihn zugehen und ihn fragen, warum er mich damals gerettet hat. Aber selbstverständlich würde er alles abstreiten. Er hatte zu jener Zeit seine Gründe und wird es mir heute noch viel weniger darüber verraten. Damit würde er sich nur selbst in Gefahr bringen. Stell dir vor, der König von Askhar hat nicht die geringste Ahnung davon, dass es sein eigener Sohn gewesen ist, der seinem wertvollsten Gefangenen zur Flucht verholfen hat. Nein, Maestro Kanaima darf mich nicht noch einmal hier sehen. Ich bin ein zu großes Risiko für ihn. Falls er mich nicht eh schon erkannt hat.“
„Hm“, machte Keï gedankenvoll.
Raen aber hatte noch viel weiter nachgedacht. Für ihn gab es keinen Zweifel, dass es sich bei dem askharischen Prinzen um genau jenen handelte, der sich, laut Manoen, in Borgossa an der Akademie für Kriegskünste seine Sporen verdient hatte. Und dass er sich Maestro nannte, zeigte an, dass er noch drei Jahre länger studiert hatte. Man konnte also davon ausgehen, dass er über ein enormes strategisches Talent und militärisches Wissen verfügte. Ein Mann, den man fürchten musste, auch wenn er hier saß und vom König von Ohaoud vorgeführt wurde!
Aber der König von Askhar hatte nicht umsonst genau diesen Mann geschickt, das ahnte Raen. Er wollte etwas bezwecken, etwas, das offenbar keiner der üblichen Boten ausführen konnte. Kalt lief es ihm den Rücken herunter, als er an König Katthike dachte und an dessen belfernden Schoßhund, diesen Zärtling Setna. Wie gerne hätte er ihm im Duell gegenübergestanden! Wie gerne hätte er ihm am Ende das stumpfe Turnierschwert in die Kehle gebohrt, um sein eigenes Skeid zurückzugewinnen!
Ob er es noch immer trug wie eine Trophäe, die er nicht einmal selbst erobert hatte?
„Wir müssen warten, bis mein Vater mit ihm gesprochen hat. Beschattet wird er ja schon. Wir wissen, dass Maestro Kanaima mit nur zwei Begleitern gereist ist - zwei askharischen Soldaten - und in einer Herberge im Oubukh-Viertel wohnt.“
‚Hoffentlich auch bei diesem Halsabschneider!’, dachte Raen gehässig. ‚So würde ihn seine Warterei wenigstens teuer zu stehen kommen.’
„Auch in seinem Gepäck ist nichts Verdächtiges gefunden worden.“
„Ihr habt sein Gepäck durchsuchen lassen?“
„Natürlich! Auch ihn selbst am Unteren Tor. Er hatte ein kleines Messer im Stiefel, sonst nichts. Und er war ziemlich ungehalten darüber, von uns derart respektlos behandelt zu werden.“
Raen erinnerte sich an das Messer, schließlich hatte er es selbst schon an der Kehle sitzen gehabt.
Keï bemerkte seine noch immer nicht besänftigte Besorgnis. „Warum denkst du, dass Maestro Kanaima eine Bedrohung für dich darstellen könnte, wenn du doch hier unter dem Schutz meines Vaters stehst? Er kann dir nicht das Geringste anhaben, selbst wenn er dich erkannt haben sollte.“
„Ich weiß nicht, es ist nur so ein Gefühl ... “ Er biss sich wieder auf den Daumennagel. „Sag, wann wird dein Vater mit ihm sprechen?“
„Ich weiß es nicht, vielleicht in zwei Tagen, vielleicht in drei oder vier.“
„Wirst du dabei sein?“
„Ich denke nicht. Aber sei unbesorgt, ich habe meine Informanten.“ Sie zwinkerte ihm fröhlich zu, doch konnte sie ihn damit nicht aufmuntern. „Und jetzt vergiss den Kerl. Er ist es nicht wert, sich von ihm die Laune verderben zu lassen!“
Das klang sehr vernünftig, aber wenn Raen ehrlich war, so zerrüttete der Askharer ihm nicht nur seine großartige Laune, er ließ ihn regelrecht Angst spüren.
Was, wenn der Kerl nicht nur eine Warnung des Schicksals verkörperte, sondern bereits die Strafe war? Was, wenn der ehrenwerte Maestro nur hier war, um ihn im Namen Zaizuras zu strafen?
Raen fühlte, dass er unter Verfolgungswahn litt, aber er konnte ihn nicht abschütteln. Zu dicht waren seine nächtlichen Träume bereits an die Wahrheit herangerückt. Zu deutlich spürte er Zaizuras drohenden Blick unentwegt auf sich gerichtet!
Lange hielt er es nicht mehr bei der Prinzessin aus, seine selbst zugefügte Erschöpfung machte sich bemerkbar, und müde verabschiedete er sich von ihr.
Als er schließlich allein durch die Gänge trottete, flehte er stumm zu seinen göttlichen Begleitern: ‚Al Nor, Hyaun, bitte, helft mir! Auch, wenn meine Gedanken in der letzten Zeit nicht oft bei euch gewesen sind, steht mir bei!’ Niedergeschlagen warf er sich in seinem Zimmer auf das Bett und schlug sich wie ein kleines Kind die Decke über den Kopf.
Zwei Tage später brach die Welt, die er neu um sich herum errichtet hatte, ein.
Aber weder Al Nor noch Hyaun kamen ihm zu Hilfe. Allein Zaizura besah und labte sich ausgiebig an dem, was sie ihre Rache nannte.
Raen saß auf den Stufen zu dem großen Garten, in dem die Pfauen umher stolzierten. Lustig plätscherte der Springbrunnen im Hintergrund. Doch seine Stimmung war alles andere als lustig!
Der Askharer war soeben zur Audienz gerufen worden, und die Anspannung des Wartens erreichte ihren Höhepunkt. Unruhig spielte Raen mit dem Löwenamulett um seinen Hals, ließ die Kralle immer wieder durch seine Finger gleiten. Plötzlich durchzuckte jäher Schmerz seinen Schädel, und das Amulett fiel auf seine Brust zurück. Mit einem Stöhnen griff er sich an die Stirn und krümmte sich. Diesmal blitzte zusammen mit der Pein auch ein Bild auf. Im Geiste sah er sich einen Brief in seinen Händen halten. Doch so plötzlich, wie der Schmerz gekommen war, flaute er auch wieder ab, und Raen rieb sich die Schläfen. Was war das nur? Diese spontan auftretenden Kopfschmerzen suchten ihn jetzt schon des Öfteren heim. Ohne ersichtlichen Grund überfielen sie ihn, lähmten für einen Moment sein Denken und verschwanden dann wieder, als sei nichts gewesen. Ob er krank war?
In diesem Augenblick schlug eine Tür, und Raen sah auf. Es war Keï, die durch den Säulengang auf ihn zugelaufen kam. Alarmiert erhob er sich, und als er in ihre entsetzt geweiteten Augen blickte, erfasste ihn das Unbehagen mit einer solch gewaltigen Woge, dass ihm schwindelig wurde.
„Du musst sofort verschwinden!“, stieß Keï atemlos hervor, als sie bei ihm ankam und seine beiden Oberarme umfasste. Ihre Lippen bebten.
„Verschwinden? Aus dem Palast?“, fragte Raen hastig.
„Aus Reschent, aus Ohaoud!“ Keï war ganz aufgelöst, ließ seine Arme los und wischte sich fahrig über die Stirn, auf der sich kleine Schweißperlen gebildet hatten.
Fassungslos starrte Raen sie an. Eine unsichtbare Hand griff an seine Kehle und drückte langsam zu.
„Was ist geschehen?“, fragte er, nur mühsam seine herauf sprudelnde Furcht beherrschend.
„Der Maestro Kanaima ... er hat den Ring, den ich dir damals geschenkt habe, und einen Brief ... von dir!“
Raen riss die Augen auf. Einen Brief? Er wollte etwas sagen, doch Keï redete einfach weiter: „In diesem Brief steht alles über uns! Oh, Raen, es ist schrecklich! Wie konntest du das nur alles aufschreiben?“ Ihre Stimme brach mit einem Schluchzen ab.
In Raens Kopf schwirrte es, und sein Gesicht war unter der Wüstenbräune kalkweiß. Verflucht seien alle Götter! Der Brief! Es konnte nicht wahr sein, dass ihm dieser Brief jetzt doch noch zum Verhängnis wurde!
Seine Knie wurden weich und er musste sich an der Säule abstützen. Durch jenes feige Geständnis in Form eines Briefes verlor er jetzt das Wertvollste, was er je besessen hatte. Ein paar geschriebene Worte - und sie zerstörten alles, was ihm von Bedeutung war!
‚Ja, das gefällt dir, Zaizura, nicht wahr?’, rief seine innere Stimme hasserfüllt.
Die Grausamkeit, mit welcher Sie ihren Krieg gegen ihn führte, war ohnegleichen!
Ein zorniger Schrei wollte sich den Weg aus seiner Brust bahnen, doch er biss die Zähne aufeinander und würgte ihn wieder hinunter. In seinen Augen glänzte kalter Hass. Hass auf sich selbst und seine eigene Feigheit, Hass auf Zaizura und auf den Askharer, der hier einfach hereinspaziert kam und sein Glück zerstörte!
„Es tut mir leid, Keï“, brachte er gequält hervor, „es war eine unverzeihliche Dummheit. Ich habe dich in Gefahr gebracht. Ich wollte …“
„Nein, nicht du hast mich in Gefahr gebracht, ich war es selbst! Ich allein trage die Schuld an alldem. Ich hätte es besser wissen müssen! Raen, sieh mich an und hör mir jetzt gut zu, Askhar wird noch in diesem Sommer dein Volk angreifen, und der Abgesandte Kanaima versucht mit deinem Brief meinen Vater dazu zu zwingen, diesen Krieg zu unterstützen, andernfalls wird er die Beweise für meine schamlose Buhlerei mit einem Hy offenlegen. Mein Vater hat keine Wahl! Er wird deinen Kopf fordern, um meine Ehre wieder reinzuwaschen. Du musst verschwinden, sofort!“
Keï hatte Recht, jetzt war nicht die Zeit für bittere Flüche oder Vorwürfe, sie mussten Abschied nehmen, und Raen ahnte, dass es ein Abschied für immer war!
Der schmerzende Kloß in seinem Hals machte ihm das Sprechen beinahe unmöglich. Er sah sie an, Tränen rannen ihr über Gesicht und Hals, und ihre Brust bebte unter den Schluchzern, denen sie nun nichts mehr entgegensetzte.
„Faïshe hat deine Pferde satteln lassen, sie hat dir auch Proviant in die Taschen gesteckt. Sie wartet vor dem nördlichen Palasttor auf dich. Du musst dich beeilen, bevor die Wachen alarmiert werden. Noch hast du die Befugnisse eines Akaba!“
„Was wird aus dir?“, fragte er voll Bitterkeit.
„Kümmere dich nicht um mich, mir wird nichts geschehen. Und jetzt lauf! Lauf um dein Leben und sieh dich nicht um!“
„Ich liebe dich!“, hauchte er außer sich vor Seelennot.
„Ich liebe dich auch.“
„Lebe wohl.“
„Lebe wohl.“ Er presste sie in wilder Verzweiflung noch einmal an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. Dann stieß er sich von ihr ab und eilte durch den Garten.
„Warte!“, rief Keï ihm hinterher, und Raen drehte sich noch einmal um, lief dabei aber weiter rückwärts.
„Geh auf keinen Fall nach Borgossa oder nach Graçe. Die Jäger meines Vaters werden dich überall suchen und sie werden keine Ruhe geben, bis sie deinen Kopf haben! Geh direkt nach Hy, nur dort bist du sicher!“
Raen nickte kaum merklich, wandte sich um und rannte davon.
Keï sah ihm nach, und als das letzte grüne Schimmern seiner Akaba-Robe zwischen den Säulen verschwunden war, zersplitterte ihr Herz in Hunderte kalter Scherben. Sie ballte die Fäuste vor der Brust, um es zu verhindern, doch es geschah. Ein Schrei entfuhr ihrer Kehle, rau und verzweifelt. Oh, wie sie diese Welt hasste und das, was sie darin war! Ohne Rücksicht auf den Schmerz warf sie sich gegen die Wand und schlug immer wieder mit ihren Fäusten gegen den ungerührten Stein.
Als die Kraft sie verließ, sackte sie auf den Boden und weinte laut und hemmungslos, bis sie keine Träne mehr hatte, mit der sie ihr Schicksal beweinen konnte.
Lange saß sie da, bis die ersten Soldaten an ihr vorbeieilten. Der Befehl, den Hy zu jagen, war ausgegeben, doch Raen hatte das Palasttor hoffentlich schon längst passiert und war auf dem Weg in die Wüste.
Sie gewahrte, dass ihr Bruder Bendan zu ihr kam und sie aufhob. Sein Gesicht war eine starre Maske und er sagte kein Wort, aber Keï wusste, dass er sie in diesem Moment zum ersten Mal wirklich verachtete.
‚Soll er doch!’, lachte sie bitter in sich hinein. Kein Kitt der Welt würde in der Lage sein, die Scherben ihres Lebens je wieder zusammenzufügen. Par sémpre!
Raen war zum Heulen zumute und am liebsten hätte er sich auf den nächsten Dünenkamm gesetzt und sich von den Soldaten König Almans fangen lassen. Dieser verdammte Brief! Mit ihm hatte er sich seinen Strick selbst gedreht. Es war allein seine Schuld. Und das war das Schlimmste: Er konnte niemand anderem dafür die Verantwortung geben als sich selbst. Er und niemand anderer hatte dem Schicksal in die Hand gespielt!
Raen fluchte laut. Welch unbegreifliche Dummheit hatte ihn damals den Brief schreiben lassen?
Kurz bevor er von Borgossa aufgebrochen war, um nach Hy zu reisen, hatte er ihn verfasst. Er hatte alles über sich und die Prinzessin aufgeschrieben, in Hyaunisch, denn er war eigentlich an Suneka gerichtet gewesen - für den Fall, dass er es nicht über sein Herz gebracht hätte, ihr die Wahrheit zu sagen. Und er hatte es ja auch tatsächlich nicht vollbracht. Wie erbärmlich feige er doch war! Und für diese Feigheit musste er jetzt bezahlen! Den Brief an Suneka hatte er in einem der Wörterbücher versteckt, die er in seinem Gepäck gehabt hatte, als er am Hafen von Borgossa in die Hände der Askharer geraten war. Im Gegensatz zu den Urnen und dem sonstigen Gepäck, das sie über Bord hatten gehen lassen, hatten die Askharer die Bücher offensichtlich behalten. Sie mussten den Brief später gefunden haben, und die Wörterbücher hatten ihnen auch gleich noch die Möglichkeit geliefert, ihn zu übersetzen! Vom Hyaunischen ins Askharische!
Wie hatte er nur so verteufelt dumm sein können, den Brief in den Büchern zu verstecken? Er schlug sich mit der Faust hart gegen den Kopf.
Hätte er ihn schlicht im Gepäck gehabt, so wäre er mit über Bord gegangen und wäre längst vom Meerwasser zersetzt worden, und mit ihm das Geheimnis!
Aber so war es nun einmal nicht gekommen.
Das hatte Zaizura so eingerichtet!
Raen schlug sich erneut auf den Kopf, und der Schmerz ließ ihn zusammenzucken.
Zu Beginn hatte er gar nicht damit aufhören können, sich in seiner Wut selbst zuzusetzen. Das Verlangen, etwas zu zerstören, war übermächtig gewesen. Doch er hatte natürlich nichts anderes gefunden außer sich selbst. Daraufhin hatte er immer wieder mit den Faustknöcheln auf seinen Körper gedroschen, bis die Schmerzen schließlich so stark geworden waren, dass sie die Wut für einen Moment überspülten.
Noch einmal hieb er sich auf die Stirn und biss knirschend die Zähne zusammen. Er hatte es verdient!
Resigniert blickte Raen auf Eschous wehende Mähne. Das Pferd arbeitete sich tapfer durch den Sand. Hinter ihm am Zügel folgte Rekori. Die kleine Siedlung am Wasbeni mit dem Karawanenlagerplatz konnte nicht mehr weit sein. Die ersten zwei Nächte war er durchgeritten und hatte sich kaum eine Rast gegönnt aus Furcht vor seinen Verfolgern. Jetzt erfüllte ihn die nächste Sorge. Er musste eine Karawane oder einen Mahadi-Führer finden, der ihn zurück durch die Wüste brachte, sonst war er verloren! Er hatte kaum etwas als Bezahlung mit sich, außer den zwei Pferden und seinen Waffen. Alles andere hatte er im Palast zurücklassen müssen. Sein Vorteil war allerdings, dass keiner der Ohaoudis wusste, auf welchem Weg er damals ursprünglich nach Reschent gereist war, denn natürlich würde er als erstes versuchen, das Land auch auf die gleiche Weise wieder zu verlassen. Sie würden ihn also überall im Reich suchen und sich nicht nur auf einen Punkt konzentrieren. Er hatte ihnen sogar noch eine falsche Fährte gelegt, denn er war zuerst nach Süden geritten, wo einige Karawanenzüge und andere Reisende ihn gesehen und das mit Sicherheit auch seinen Verfolgern berichtet hatten. Des Nachts hatte er dann schwimmend den Fluss durchquert und war dabei beinahe allein schon aus Angst vor den Krokodilen abgesoffen. Am anderen Ufer hatte er die Pferde wieder eingefangen, seine Spuren verwischt und war direkt in die Wüste hineingeritten. Parallel zum Fluss hatte er sich dann nach Norden durchgeschlagen. Trotzdem hatte er nicht viel Vorsprung, und wenn sich keine Karawane finden ließ, die in den nächsten Tagen die Wüste durchquerte, so würden seine Chancen, zu entkommen, rapide abnehmen.
Allein die Wüste in Angriff zu nehmen, war glatter Selbstmord. Aber wenn es keinem anderen Ausweg gab, so würde er auch dieses Wagnis eingehen!
Es war immer noch besser, als in Schmach und Schande in Reschent hingerichtet zu werden. Doch auch wenn er es sich noch so sehr wünschte, dieses qualvolle Leben endlich zu verlassen, so hatte das Schicksal ihm ungewollt doch eine erneute Aufgabe auferlegt. Deutlich erinnerte Raen sich an die Worte der Prinzessin. „Askhar wird Hy angreifen!“
Ob er das nun wahrhaben wollte oder nicht, er musste am Leben bleiben und sein Volk warnen! Denn er war der einzige, der davon wusste.
Es war an der Zeit, zu beweisen, dass er tatsächlich für etwas taugte! Und dass er nicht nur Unheil und Vernichtung anrichten konnte! Vielleicht gelang es ihm ausnahmsweise einmal, das Glück der Menschen zu bewahren, anstatt es zu zerstören - sein eigenes inbegriffen!
Ein Dutzend Palmenkronen tauchten im Licht der sinkenden Sonne vor ihm auf, und er trieb Eschou noch einmal an. Von weitem sah er schon die Kamele, die Zelte und die Menschen, die zwischen ihnen umherliefen. Die ersten Kochfeuer brannten schon, und ihr Rauch stieg in den wolkenlosen Abendhimmel auf.
Raen zügelte den raschen Galopp seines kleinen Hengstes und näherte sich im gemäßigten Schritt den Lagern. Er war sich bewusst, dass er noch immer die Tracht eines Akaba trug und wollte diesen Einfluss auch gebrauchen. Den erstbesten vorbeieilenden Kameltreiber fragte er nach dem Verwalter der Karawanserei, denn das war der Mann, der jeden eintreffenden Handelszug registrierte. An ihm ging kein Kamel vorbei, ohne von ihm in Augenschein genommen zu werden. Er wusste, was sie mit sich führten, und welches Ziel die Waren hatten. Bei ihm würde Raen am schnellsten erfahren, welche Karawane in der nächsten Zeit nach Westen aufbrechen würde. Der Kameltreiber wies auf einen äußerst großen Ohaoudi inmitten einer Schar diskutierender Händler und sein ehrfürchtiger Blick streifte dabei seine Akaba-Tracht.
Raen dankte ihm und ritt auf den Mann zu, der eine Haupteslänge aus dem Kreis der schnatternden Männer herausragte und ein recht mürrisches Gesicht machte. Er nutzte seine Autorität, die ihm seine Kleidung verlieh, und rief auf Ohaoudi: „He da! Wer sind die Führer der Karawanen nach Westen?“
Der Chef der Karawanserei sah ungehalten auf, und in seinen Augen spiegelte sich plötzliche Überraschung wider, denn bei dem schlechten Ohaoudi hatte er natürlich einen Ausländer erwartet, nicht aber einen hochrangigen Krieger des Reiches. Er verneigte sich ehrfürchtig, und auch der Schwarm lärmender Händler verstummte.
„Die Führer sind Ibu Tachimes, Ibu Matut, Ibu Bebidas, ...“
„Bebidas? Wo ist er?“ Aufkeimende Erleichterung und Freude vertrieben jäh Raens Müdigkeit.
„Ihr findet ihn auf der anderen Seite der Siedlung, Ibu Akaba.“
Raen nickte und trieb Eschou an den Männern vorbei. Die sahen ihm hinterher, bis er zwischen den Zelten verschwunden war, und fingen dann aufgeregt wieder an zu debattieren.
Raen erkannte das Zelt des Graçeners sofort wieder. Er hielt und stieg ab. Einem der Diener sagte er, er wolle seinen Herrn sprechen. Der sah natürlich nur die smaragdgrüne Robe und machte sich eiligst davon.
Bebidas kam direkt vom Bade, das sah Raen an seinen nassen Haaren, aus denen das Wasser auf den hastig übergeworfenen Kaftan perlte.
„Seid gegrüßt hoher Herr Akaba, was kann ich für Euch tun?“, fragte er respektvoll.
Raen amüsierte es, dass der Graçener ihn nicht erkannte, verharrte deshalb noch einen Moment länger in seiner würdevollen Haltung und schob dann erst den Schleier von Mund und Nase. Die Augen des Kaufmanns weiteten sich, und dann erschien ein breites Grinsen unter dem schwarzen Schnurrbart.
„Donnerwetter, Ihr?“, rief er aus und streckte dem Hy als Begrüßung seine Rechte entgegen. Raen schüttelte sie erfreut.
„Also, Ihr seid wahrhaftig immer für Überraschungen gut!“ Bebis wies mit einer Hand auf Raens Kleidung. „Ein Akaba, Ihr habt es weit gebracht, alle Achtung! Kommt mit in mein Zelt und seid heute Abend mein Gast.“
Raen nahm die Einladung gerne an und folgte dem Graçener in sein Zelt. Drinnen huschten die beiden Frauen schnell von ihren Kissen und zogen sich in den hinteren Teil des Zeltes zurück. Raen grüßte sie höflich und setzte sich auf den frei gewordenen Platz.
Nachdem er von dem köstlich süßen Tee getrunken hatte, den ein Diener ihm reichte, erklärte er dem Graçener sein Anliegen, die Wahrheit verriet er ihm jedoch nicht.
Der Kaufmann überlegte nicht lange und schloss das Geschäft mit ihm ab. Schließlich hatte er gute Erfahrungen mit dem Hy gemacht.
Bei dem köstlichen Mahl, das die Mahadi-Frauen ihnen anschließend auftrugen, warf Raen dem Graçener ein paar ausgewählte Happen von dem vor, was ihm in den letzten Monaten geschehen war. Bebidas zeigte sich beeindruckt und auch er berichtete, wo er sich überall herumgetrieben hatte. Die ungezwungene Plauderei tat Raen gut und lenkte ihn von der ewig untergründigen Gefahr durch seine Verfolger ab.
Am nächsten Morgen brach die Karawane auf und schlug den uralten Weg durch die Wüste ein, den seit Menschengedenken schon unzählige Handelsreisende vor ihnen benutzt hatten. Der Wind wehte ihnen heiß um die Nasen, und der Sand rieselte unter ihren Füßen. Langsam schaukelnd zog die Kette von Kamelen durch die Dünen. Je weiter sie sich von Reschent entfernten, desto schwermütiger wurde Raen und er sah immer öfter zurück. Der Horizont aber blieb leer. Das war gut, doch in seinem Herzen wünschte er sich beinahe sehnlichst, die Soldaten mögen kommen und ihn zu Keï zurückbringen, oder noch besser, die Prinzessin selbst würde nach ihm suchen, um ihm zu sagen, dass alles nur halb so schlimm sei und ihr Vater ihn begnadigt hätte. Doch weder das eine noch das andere geschah, und die Trübsinnigkeit zog bei Raen ein wie eine arg zerzauste Krähe, die bei ihm endlich eine geeignete Niststätte für ihre unselige Brut gefunden hatte. Und sehr zu Bebidas Bedauern wurde er immer schweigsamer, während sich die Krähe bei ihm immer heimischer fühlte und behaglich in ihrem Nest gluckste.
Der Graçener bemerkte, dass den Hy etwas bedrückte, doch er hielt sich mit Fragen zurück und ließ ihn in Ruhe.
An einem Abend saß Raen zum Schutz vor der Kälte und unerwünschten Blicken bei Bebidas im Zelt, das nur von einigen Laternen erhellt war. Die Mahadi-Frauen hatten gerade das Essen fortgebracht, und gemütlich in die Kissen gelehnt, genossen die Männer ihren Tee. Während draußen die Dämmerung immer gedecktere Farbtöne annahm, blickte Raen in die beinahe undurchsichtige, süße, braune Flüssigkeit in seinem Glas und war tief in seinen gleichfalls süßherben Kummer versunken. Immer wieder warf Bebidas ihm einen zum Gespräch auffordernden Seitenblick zu, doch Raen blieb mit seinen Gedanken abwesend, nippte nur angelegentlich an seinem Tee, der gar nicht weniger zu werden schien.
Plötzlich kam einer der Mahadi in das Zelt gelaufen.
„Herr, von Osten kommen Reiter. Vermutlich Soldaten!“, berichtete er aufgeregt.
„Oh, nanu“, war das einzige, was Bebidas darauf antwortete.
Das rüttelte Raen aus seiner Starre. Jetzt war es soweit, dachte er, die Jäger hatten ihn eingeholt! Und hier in der Wüste würde er ihnen nicht entkommen können, nicht einmal nachts. Er saß in der Falle! Merkwürdigerweise ließ ihn diese Tatsache völlig kalt. Und er spürte sogar Erleichterung. Sollten sie ihn doch holen! Ihm war mittlerweile alles egal, Hauptsache, er wurde endlich von seinem Kummer erlöst. Er wollte ihn nicht mehr, wollte nicht mehr dieses schadenfroh krächzende Federvieh in seiner Brust wohnen haben, dieses räudige Gefühl des Verlustes!
Doch irgendetwas in ihm verlangte von ihm, einen letzten Versuch zu wagen; ein winziger Funke, der sich unter den Krallen der Krähe im Geäst des Nestes verborgen hielt, und der jetzt immer stärker zu leuchten begann. Immer heller wurde er und strahlte immer mehr Wärme aus. Empört keckernd flog die Krähe schließlich auf, schimpfte rau ihren Protest heraus und machte sich flügelschlagend davon. Ihr Nest ging in Flammen auf.
Raen blinzelte, leerte in einem Zug das Teeglas und wandte sich dann an den Graçener.
„Verzeiht mir, aber ich habe Euch nicht die Wahrheit gesagt!“, bekannte er schnell und entschlossen. „Aber die Soldaten des Königs sind hinter mir her!“
Der Graçener sah ihn einen Moment lang an, und dachte Raen schon, dass er ihn eiskalt verraten würde. Er hätte es ihm nicht einmal übelgenommen, denn mit Sicherheit war mittlerweile ein hohes Kopfgeld auf ihn ausgesetzt worden.
In Bebidas’ Augen funkelte es listig und für seinen fülligen Körper reagierte er überraschend schnell, als er plötzlich aufhüpfte und nach seinen Frauen rief. Beinahe gleichzeitig gab er dem Kameltreiber Anweisungen in der Stammessprache, woraufhin dieser rasch das Zelt verließ.
Raen packte unvermittelt den Griff seines Schwertes. Er verstand nicht, was vor sich ging, und beobachtete misstrauisch den mit einem Mal so lebhaften Graçener. Schon kamen die Frauen herbei und hielten Bebidas das Geforderte entgegen. Es waren bunte Frauenkleider. Raen runzelte die Stirn.
„Na, los, worauf wartet Ihr noch. Zieht das an!“, forderte Bebidas ihn auf.
Raen zögerte. „Ihr wollt mir helfen?“
„Wonach sieht es denn aus? Hopp, hinein in die Klamotten! Euer hübsches, junges Gesicht ist in diesem Fall Euer Glück. Noch etwas schön geschminkt werdet ihr ein ganz reizendes Fräulein abgeben!“ Er lachte und sah zu, wie Raen sich entkleidete. Dabei fielen ihm die frischen Narben auf dessen Brust auf und das Amulett mit der Löwenkralle.
„Ich werde Euch später fragen, was das alles zu bedeuten hat“, sagte er mit ernstem Ton und gab einem der Diener ein Zeichen. Der hob die grüne Akaba-Kleidung und die Stiefel vom Boden auf. „Vergrab das fernab vom Lager im Sand. Und verwisch deine Spuren. Das Schwert“, Bebis zeigte auf Raens auffälliges Skeid, „versteckst du in einem der Tuchballen. Beeil dich!“
Kaum hatte der Diener das Zelt verlassen, drang auch schon das entfernte Stampfen von Pferden und das Klirren der Metallplättchen an den Rüstungen der Soldaten an ihre Ohren.
Raen, der schon halb im Schleier des Frauengewandes steckte, erstarrte und sah auf.
„Meine Pferde!“, fiel es ihm siedend heiß ein. „An ihnen werden sie mich erkennen!“
„Keine Angst, mir wird schon etwas einfallen“, beruhigte ihn der Graçener und trieb die Frauen an, den Hy schneller anzukleiden.
Der ließ es geschehen. Was hatte er auch für eine andere Wahl? Noch immer rätselte er, warum Bebidas ihm half. War es pure Abenteuerlust gepaart mit der Herausforderung an seine Kaufmannsschläue, oder hegte er noch andere Hintergedanken?
Eine der Mahadi-Frauen machte sich mit geschickten Händen daran, rund um Raens Augen Kohle aufzutragen. Sie färbte auch gleich seine Augenbrauen mit. Danach schlug sie den orangefarbenen, halbdurchsichtigen Stoff des Schleiers vor sein Gesicht, so dass nur noch seine Augen zu sehen waren, und trat dann zurück. Bebidas betrachtete den in die weiten Kleider gehüllten Hy.
„Ausgezeichnet! Ein wenig zu breite Schultern vielleicht, aber sonst recht niedlich!“ Er wurde ernst. „Ihr werdet so tun, als wäret Ihr stumm. Ich werde für Euch sprechen, falls es nötig sein sollte. Und Ihr dürft Euch nicht mehr als nötig bewegen. Euer Gang verrät Euch. Er ist, wie soll ich es sagen, nicht gerade damenhaft.“
Wenn die Situation nicht so bitterernst gewesen wäre, hätte Raen lautschallend gelacht, so aber verbiss er sich jegliche Regungen und erstarrte, als er draußen Rufe hörte.
Die Soldaten erreichten das Lager! Ihre Pferde kamen zum Stehen. Sie schnaubten angestrengt.
„Jetzt gilt es“, flüsterte Bebidas. Er straffte seine Gestalt, zwirbelte seinen Schnurrbart und schlüpfte durch den Eingang hinaus. Raen hörte, wie er die Soldaten höflich in Ohaoudi begrüßte, doch die Stimme, die darauf als Antwort kam, ließ ihm schlagartig das Blut in den Adern stocken.
Koufra!
Raen sprang von den Kissen auf und eine Hand fuhr an den Dolch, den er unter seinem Gewand versteckt trug. In der Not würde er ihn gebrauchen!
Die Frauen hielten ihn am Saum seiner Kleider fest und zogen ihn wieder zurück auf den Platz zwischen ihnen. Eine unmissverständliche Mahnung aus ihren schwarz geschminkten Augen gab ihm zu verstehen, ruhig zu bleiben. Draußen hörte er Bebidas mit Koufra sprechen, und wie die Soldaten mit der Durchsuchung des Lagers begannen, denn in vernehmlicher Strenge riefen sie aus, dass jeder bleiben sollte, wo er war! Nervös richtete sich Raens Blick auf den Eingang. Würde sein Aufzug Koufra täuschen?
Seine Finger krallten sich in die Kissen, als er Bebidas lachen hörte, und gleich darauf der Vorhang des Einganges zur Seite geschlagen wurde. Raen sah das unverkennbare Grün aufleuchten, und der erste Akaba der Prinzessin betrat das Zelt.
Sofort erfassten Koufras aufmerksame Bussardaugen in dem dämmrigen Licht jeden Gegenstand und jede Person. Langsam ging der Akaba einmal durch das Zelt, stocherte mit dem Fuß mal hier und mal dort in den Decken auf dem Boden, während Bebidas ihm scheinbar unbekümmert zuschaute. Raen blieb so ruhig, wie es ihm möglich war und beobachtete die Frauen, um sich so zu verhalten wie sie.
Koufra beendete seine Runde und stellte sich neben Bebidas vor den Eingang. Seine Linke lag locker auf dem Griff seines Säbels. Er schien auf etwas zu warten.
Raen wusste, wenn er aufflog, dann war Bebidas des Todes!
Koufras stechender Blick streifte ihn, und schnell blickte Raen scheu zu Boden, so wie es eine Frau tun würde, die von einem Mann begutachtet wurde.
„Einen hübschen Harem habt Ihr da! Sind Euch die Weiber auf den Reisen nicht lästig?“, fragte der Akaba, aus dem Raen nie schlau geworden war. Sein kaltschnäuziger Tonfall verursachte ihm eine Gänsehaut.
„Oh, nein, ganz im Gegenteil“, versicherte Bebidas, „wenn man so viel reist wie ich, so ist das eine sehr angenehmer ‚Umstand’, meine kleinen Blüten bei mir zu haben - besonders in den Abendstunden.“ Bebidas ließ die Brauen tanzen. „Und was das Reisen selbst anbelangt, so sind die Frauen der Mahadi-Stämme sehr robust. Sie treten einem Kamel genauso in den Arsch wie einem Sklaven!“ Der Graçener brach in dröhnendes Gelächter aus. Doch es verklang schnell, da der grimmige Akaba nicht mit einstimmte. Unverwandt starrte Koufra Raen an. Erkannte er ihn etwa, oder fand er ihn nur als Frau attraktiv?
Bebidas bemerkte den Blick des Ohaoudi. „Wollt Ihr sie Euch einmal anschauen? Sie sind wirklich ganz bezaubernd“, fragte er, und unter seiner Maskierung brach Raen der Schweiß aus. War der Graçener von allen guten Geistern verlassen!
Er fühlte, wie der Schweiß auf seiner Stirn allmählich den Schleier um seinen Kopf durchtränkte.
Koufra winkte mit beinahe angewiderter Miene ab. Und erst jetzt fiel Raen ein, dass sich die Ohaoudis nicht viel aus Frauen anderer Stämme machten. Bebidas hatte das selbstverständlich gewusst. Dieses Schlitzohr!
Raen schielte auf den Schatten Koufras an der Zeltwand. Hoffentlich würde der Mistkerl gleich verschwinden, sonst würden ihn die dunklen Schweißflecken, die sich auf seinem Schleier ausbreiteten, noch verraten. Geziert neigte er den Kopf noch tiefer.
Einer der anderen Soldaten erschien aus dem Dunkel der Nacht, und sein Gesicht zeigte, dass er Neuigkeiten hatte.
„Wir haben die zwei Pferde gefunden“, sagte er, „sonst nichts.“
Koufras Blick löste sich von den drei Frauen, von denen eine erleichtert ihre verkrampfte Haltung änderte.
„Wo habt Ihr die Tiere her?“, erkundigte sich der Akaba bei Bebidas. Sein Ton klang jetzt gefährlich, und Raen war bereit, dem Graçener jeden Moment zu Hilfe zu eilen. Unauffällig tastete seine Hand nach dem Griff des Dolches.
„Ach, Ihr meint den unförmigen Rappen und die Weißnase. Ich hab’ sie einem Ausländer abgekauft, der den Eindruck machte, sehr in Eile zu sein und jeden Dijani gebrauchen zu können. Er konnte es gar nicht abwarten, auf das nächste Fährschiff nach Süden zu kommen.“
„Wann war das?“, fasste Koufra bissig wie ein Hund nach.
Bebidas tat so, als überlege er. „Vor sechs, nein, sieben Tagen. Unten am Wasbeni, nicht weit vom Anleger bei Reschent entfernt. Meine Karawane hatte dort kurz gerastet.“
Koufra schob den Unterkiefer vor, und das Weiß seiner Augen blitzte im Licht der Lampen unwillig auf. Raen konnte förmlich seine verärgerten Gedanken hören. Der Akaba und seine Männer würden noch heute Nacht den Weg zurück zum Wasbeni antreten müssen, um die Spur zu verfolgen.
Ohne ein weiteres Wort machte Koufra auf dem Absatz kehrt und stapfte aus dem Zelt. Bebidas ging ihm hinterher, und Raen vernahm, wie er so etwas sagte, wie ‚Hoffe, Euch geholfen zu haben’ und ‚Gute Nacht, die Herren’.
Dann erschien der Graçener wieder im Zelt.
Das Hufgetrappel der Pferde entfernte sich.
Bebidas schloss ruhig den Zelteingang und atmete dann hörbar aus.
„So, und nun zu Euch!“ Seine braunen Augen erfassten Raen, der sich den Schleier von Gesicht zog und mit beschwichtigender Geste von den Kissen aufstand.
Was er dem Graçener daraufhin bis spät in die Nacht berichtete, brachte selbst den vielwissenden und weltgewandten Kaufmann zum Staunen.
„Beim Barte meiner Mutter - der Herrgott hab sie selig -, das ist ein Ding!“, rief Bebis schließlich aus und schlug sich mit beiden Händen auf seine Oberschenkel. „Die Prinzessin von Ohaoud! Ihr seid wahrlich kein Kind von Traurigkeit! Was immer man den Hy nachsagt, trifft auf Euch jedenfalls nicht zu. Nachgiebig und zurückhaltend, dass ich nicht lache! Offenbar wisst Ihr, was Ihr wollt und habt Euch nicht aufhalten lassen. Das gefällt mir.“ Bebis’ Miene verdüsterte sich mit einem Mal. „Aber Ihr sagtet, es wird Krieg geben?“
Raen nickte.
„Diese Nachricht muss verbreitet werden! Ich werde sie überall herumerzählen. Ihr habt mein Wort. So eine Schweinerei!“ Bebidas schien aufrichtig empört. Auch er hegte nicht gerade Sympathie für die machtbesessenen Askharer. „Und ich verspreche Euch noch etwas: Ich bringe Euch in Eure Heimat zurück, heil und unversehrt. Solange Ihr bei mir seid, soll Euch nichts geschehen. Ich werde Euch auf einem meiner Schiffe aus Ohaoud heraus schmuggeln. Sagt, welcher Hafen ist der beste, um schnell nach Hy zu gelangen?“
„Salapolis“, entgegnete Raen. Er war froh, dem Graçener alles erzählt zu haben.
„Salapolis, das sollte sich einrichten lassen. Macht Euch keine Sorgen.“ Bebidas’ persönlicher Ehrgeiz war offenbar geweckt. Er wollte der Welt zeigen, welche Bedeutung ein einfacher Kaufmann haben konnte. „Nur - und das muss zu Eurem Schutz leider so bleiben - solltet Ihr die Frauenkleider anbehalten, bis wir in Port L’Haoud sind.“
Raen seufzte, aber der Graçener hatte vermutlich Recht. Die Soldaten konnten jeder Zeit wiederkommen, und tagsüber hatten sie nicht die Deckung der Zelte, in denen er sich schnell umkleiden konnte.
„So sei es denn!“, sagte ergeben und zupfte am Schleier.
Bebidas lachte bellend und so laut, dass die Frauen nebenan aufwachten. Er schlug Raen hart auf die Schulter. „Ihr werdet es überleben, mein Freund und Löwentöter!“
Sie erreichten Port L’Haoud drei Wochen später und ohne Zwischenfälle. Zweimal waren sie noch kontrolliert worden, doch keiner hatte den Hy in seiner Verkleidung erkannt. Trotzdem war Bebidas froh, es geschafft zu haben, und der Hy war sichtlich erleichtert, als er die Faruengewänder endlich gegen vernünftige Männerkleidung eintauschen konnte, die ihm Bebidas aus seinem Fundus spendierte.
Sie waren in seinem Lagerhaus am Hafen, wo die Tuchballen von den Kamelen geladen und untergebracht wurden, bis sie mit einem seiner Schiffer nach Graçe, Zaranien oder Mediana befördert werden würden. Das Haus war zwar schlicht, aber sein kleines und feines Königreich, sein Stützpunkt. Im oberen Stockwerk unter dem Flachdach gab es einige großzügig eingerichtete Zimmer, in denen er die Zeit verbrachte, bis er zur nächsten Reise aufbrach. Ein ähnliches Lager, so erzählte er dem Hy, besaß er noch in Jevadan und in Borgossa.
„Das in Borgossa ist das Kostspieligste von allen, es hat mich ein kleines Vermögen gekostet. Es ist ein Jammer, dass ich nicht mehr so oft dort sein kann. Das Hafenviertel und La Gioia sind schon eine wahre Pracht. Aber was erzähle ich Euch davon, Ihr kennt es ja.“
Der Hy schmunzelte und wollte offensichtlich gerade etwas Zotiges darauf entgegnen, da schien ihn ganz überraschend eine Art Schmerz zu treffen, denn seine Augen verdrehten sich, und er hielt sich die Schläfen.
„Was ist mit Euch? Seid Ihr krank? Ich kann Euch einen Arzt beschaffen“, erkundigte sich der Bebidas besorgt.
„Nein, nein, schon gut, es ist nichts Schlimmes“, wehrte der Hy stöhnend ab. „Wahrscheinlich nur die Anstrengung. Ich muss mich ein wenig ausruhen.“
Bebis zog skeptisch die Brauen zusammen. Während ihrer Reise hatte er schon mehrere Male beobachtet, wie der Hy sich mit schmerzverzerrter Miene an den Kopf gegriffen hatte. Und des Nachts hatte er oft wirres Zeug in mehreren Sprachen von sich gegeben. Bebis hatte die Frauen heimlich nachsehen lassen, ob den Hy ein Fieber befallen hatte, doch das war es nicht.
‚Vielleicht einer von diesen bösartigen Geschwulsten im Kopf, die auf das Hirn drücken?’, dachte er.
„Ich werde mich jetzt hinlegen, wenn Ihr es gestattet. Die Wüste hat mich mehr erschöpft als ich gedacht hätte“, entschuldigte sich der Hy, und das Flackern seiner Lider verriet, dass er noch immer Qualen litt.
„So ruhet wohl. Wir sehen uns morgen.“
Wie ein Blinder tappte der Hy davon, eine Hand vor der Stirn, die andere tastend ausgestreckt. Beunruhigt sah der Graçener ihm nach.
Raen gelangte in sein Zimmer und streckte sich schnell auf dem bequemen Bett aus. In seinem Kopf schwirrte es, und nur langsam ebbten die Schmerzen ab.
So lange hatten sie noch nie angehalten! Auch die Bilder waren inzwischen immer vielschichtiger geworden, und brachten eine Flut unverständlicher Visionen mit sich.
Raen ächzte gequält, rieb sich die Augen und grub sich die Fingernägel in seine Kopfhaut, um die unbestimmte Furcht zu verscheuchen, die sich seiner zu bemächtigen drohte. Mit aller Macht stemmte sein Geist sich dagegen und beschwor als Ablenkung die schönen Bilder der vergangenen Monate herauf. Das schmerzte zwar auf andere Weise, aber bald erschienen ihm die Schatten der Nacht nicht mehr ganz so bedrohlich.
Bebidas organisierte Raens Flucht. Auf einem seiner Schiffe verschaffte er ihm einen Platz und sorgte dafür, dass er bis zur Abreise vor den Soldaten des Königs verborgen blieb.
Dass dem Graçener vier Schiffe gehörten, machte Raen umso deutlicher, wie wohlhabend und einflussreich der Kaufmann sein musste. Und er fragte sich, warum dieser immer noch selbst auf Reisen ging. Könnte er doch stattdessen in einer der großen Handelsstädte in einem schönen, bequemen Haus mit einem großen Arbeitszimmer sitzen und seinen Reichtum genießen. Aber irgendetwas trieb ihn immer wieder hinaus in die Wüste, mit der ihn eine besondere Liebe zu verbinden schien!
Der Abend des Abschieds kam, alles war gepackt und wartete darauf, unauffällig eingeschifft zu werden. Bebidas stand mit Raen am Tor des Warenlagers. Draußen hatten die Schiffswachen soeben die Stunde nach Mitternacht ausgerufen. Es war die Stunde der unaufmerksamen Zollinspekteure und müden Soldaten, die Stunde, in der Ratten und Schmuggler ihre Vorteile wahrnahmen.
Eine immer unerträglicher werdende Traurigkeit erfüllte Raen, als er dem Graçener im Schein einer einzelnen Kerze ins bärtige Gesicht sah. Er würde ihn nicht wiedersehen, das sagte ihm sein unseliges Gefühl, das stets Recht behielt. Und deshalb fiel es ihm um so schwerer, dem neu gewonnen Freund den Rücken zu kehren.
Stillen Blickes reichte er dem Kaufmann den wertvollen Dolch, mit dem der den Herrscher der Nacht getötet hatte, und die Zügel Eschous. Aber Bebidas hob abwehrend die beringten Hände.
„Oh nein, für diesen Freundschaftsdienst will ich keine Belohnung! Dafür war es mir ein zu großes Vergnügen. Außerdem ist beides viel zu wertvoll. Ich kann das nicht annehmen.“
„Ihr müsst es aber. Ich lasse sie so oder so zurück. Eschou würde sich in den kalten Gefilden meiner Heimat nicht wohlfühlen. Er ist ein Sohn der Wüste und dort gehört er hin. Und der Dolch, nun, es hängen zu viele Erinnerungen daran ...“
Bebidas nahm den Dolch und strich andächtig über den glattpolierten Griff mit den Mondsteinen. Dann zog er seinen eigenen Dolch aus dem Gürtel und tauschte ihn gegen Raens Geschenk. „Ich werde ihn in Ehren halten. Und wenn mich jemand danach fragt, sage ich einfach, ich hätte ihn bei Eurer Leiche in der Wüste gefunden! Nur noch vertrocknete Haut und bleiche Knochen! Hahaha!“ Er zwinkerte dem Jüngeren zu. „Fürwahr, ich fürchte, es wird künftig reichlich langweilig ohne Euch sein.“ Bebidas zuckte mit den Schultern. „Aber so ist das Leben, die Dinge kommen und gehen, und Bebis zieht weiter durch die Wüste.“
Sie schüttelten sich die Hände.
„Vergesst Euren Freund, den schlauen Kaufmann, nicht!“, sagte Bebidas scherzhaft.
„Das werde ich nicht! Vielen Dank für alles.“
Bebis winkte lächelnd ab und ließ Raen gehen.
„Gehabt Euch wohl, und möge Gott, oder wer auch immer über Euch wachen mag, mit Euch sein“, flüsterte er kaum hörbar in die Stille des Warenlagers. Dann drehte er sich um und ging hinauf in sein Schlafgemach, während sich der Hy im Schutze der Dunkelheit auf das Schiff schlich.
Die Überfahrt war die Hölle - eine feuchte Hölle.
‚Aber was sollte sich auch daran geändert haben?’, dachte Raen jammervoll, schließlich war es ihm noch immer nicht gelungen, die richtigen Formeln zu finden, welche die Götter des Meeres besänftigten. Durchnässt von seinem eigenen kalten Schweiß lag er zusammengerollt in der winzigen Koje. Das Dröhnen der Brecher, die gegen den Schiffsleib krachten und das Gefährt schlingern ließen wie ein steuerloses, plumpes Fass, war kaum noch von dem Hämmern in seinem Kopf zu unterscheiden. Die Schmerzen kamen jetzt in immer kürzeren Abständen. Stetig wie die Wellen des Meeres wanderten sie über ihn hinweg und hinterließen immer häufiger seltsames Schwemmgut am Strand zurück. Sein Geist war der einsame Strandläufer, der all die wunderlichen Gegenstände einsammelte und mit nach Hause nahm, um sie dort genauer zu betrachten und zu sortieren. Mittlerweile füllten Dutzende dieser merkwürdigen Relikte Regale und Schränke, lagen auf dem Tisch und auf dem Boden herum, sogar ins Bett hatten sich schon einige geschlichen und piesackten ihn. Aber noch immer war es ihm nicht gelungen, sie in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Eine Reihenfolge, die ihm endlich eine Bedeutung offenbarte.
Wieder erfasste ihn die beklemmende Angst, und wieder schlug Raen sich gewaltsam gegen den Kopf, um sie zu bannen. Das Schaukeln des Schiffes verwirrte seine Sinne. Aus bloßer Bosheit schickten ihm die Götter der Meere Wahnvorstellungen, um sich seine Ehrerbietigkeit zu erzwingen!
Ein Schwall Übelkeit zwang Raen, sich aufzurichten. Hastig griff er nach dem Eimer, in dem bereits stinkender Inhalt aus seinem Magen schwappte, und erbrach mit einem kraftlosen Würgen das Wenige, das er noch in sich hatte.
Oh, wie er das Meer hasste! Oh, wie er es hasste, dass es sich trennend zwischen ihn und seiner sich immer weiter von ihm entfernenden Geliebten legte.
Unbeachtet verstrich sein sechsundzwanzigster Geburtstag auf See, ohne dass Raen sich auch nur einen Fingerbreit hätte regen können; der Januar war kein besonders freundlicher Monat, um das Mittlere Meer zu überqueren.
Bleich wie ein Fisch und steif wie eine Vogelscheuche ging er eine Woche später in Salapolis an Land und verkroch sich erst einmal in einer Herberge, um sich von den Strapazen zu erholen. In seinen salzverkrusteten Träumen verschwammen die noch immer abstrusen Visionen mit den Erinnerungen an Keï zu einem chaotischen Gemenge aus den verschiedensten Gefühlen. Nur ganz allmählich beruhigte sich sein vom Meer noch mehr aufgewühltes Inneres, und Raen konnte wieder einfache und klare Gedanken fassen.
An einem sonnig warmen Februarmorgen brach er schließlich nach Norden auf. Rekori trabte erfrischt voran, und heiter sangen die ersten Feldlerchen hoch über seinem Kopf. Hier im schneefreien Süden war der Frühling bereits im Anmarsch und erhellte die Gemüter der Bewohner dieses Landstriches, nicht jedoch das des einsamen Reisenden. Denn je näher Raen den Grenzen seines eigenen Landes kam und damit auch Hyauns Präsenz, die wachend über dem hyaunischen Volke schwebte, desto übermächtiger wurden erneut die Schmerzen in seinem Kopf.
Oft konnte er gerade noch rechtzeitig Rekori anhalten, bevor er aus dem Sattel ins Gras glitt, um dort regungslos liegen zu bleiben, bis er wieder fähig war, sich zu orientieren. Manchmal konnte er sich an nichts erinnern, wenn er auf dem Waldboden liegend neben den Hufen seines Pferdes erwachte. Verständnislos blinzelte er dann in die fremde Umgebung und fragte sich, was in Hyauns Namen er hier tat?
Seine Angst vor einer Krankheit war längst einer anderen, irrwitzigen Idee gewichen. Diese aber entbehrte auf dermaßen ironische Weise jeglicher Logik, dass es bei Raen jedes Mal einen Lachkrampf verursachte, wenn er an sie dachte.
Nein, nein, Hyaun erlaubte sich nur einen Scherz mit ihm! Nur einen schlechten Scherz. Er war ein Ichor, und ein Heimatloser konnte niemals ... nein, er konnte den Gedanken nicht zu Ende denken, er war einfach zu absurd.
Als zehn Tage darauf die schneeleuchtenden Gipfel des Karpos-Gebirges vor dem Reisenden aufragten, nahm er sie nur durch einen roten Schleier aus Schmerzen wahr. Das Licht Hyauns strahlte so grell und unüberwindlich vom Himmel über die Bergspitzen hinab, dass er seinen Blick abwenden musste.
Er erwartete ihn, das fühlte er, doch würden das seine Landsleute auch tun?
Raen verließ die Entschlossenheit. Was, wenn die Krieger am Grenzübergang ihn nicht einmal nach Hy hineinließen?
Doch seine Sorgen waren unbegründet. Die Grenztore öffneten sich vor ihm wie eine Umarmung, und rührend wurde er auf der anderen Seite empfangen. Warm plätscherte der Klang seiner Muttersprache in seine Ohren. Und hilfsbereit, wie ihr Ruf es ihnen seit jeher nachsagte, brachten die Krieger Hyauns den seltsam gekleideten Heimkehrer und vermeintlich Kranken in ihren warmen Räumlichkeiten unter, bis er in der Lage sein würde, seinen Weg fortzusetzen.
Die Gespräche, die Raen während dieser Tage bei seinen Kriegergenossen auffing, trugen allerdings nicht gerade zur Beruhigung seines geistigen Zustandes bei. Sie alle fühlten es über ihr Aun: Wieder einmal stand ein Wechsel des Setna bevor!
Die Gabe des Geistes strebte nach einem neuen Wirt und stand kurz vor dem Übertritt, während der scheidende Al Setna Arhad im Tempel von Tena-lo-Ghan im wohl dosierten Zhangha-Rausch lag und darauf wartete, dass er von seiner Aufgabe befreit werden würde.
Raen bemerkte jedoch nichts von alledem. Der Nebel des Schmerzes hatte sein Aun außer Funktion gesetzt. Das einzige, was er zu spüren meinte, war eine unsichtbare Hand, die ihn immer begieriger in das Zentrum Seiner Macht zog.
Und dieses unerklärliche Ziehen und Drängen war es schließlich, das ihn dazu veranlasste, den Schutz des Grenzturmes frühzeitig zu verlassen, obwohl es gefährlich war, in der Zeit des unberechenbaren Wetters und der Lawinen alleine den Pass zu überqueren.
Aber seine Reise stand längst unter dem Schutz einer viel höheren Macht, und so erreichte er am dritten Tage unversehrt die andere Seite des Gebirges. Einladend tat sich das hyaunische Zentralland vor ihm auf.
Aber auch das strahlende Licht, das ihn seit der Grenzquerung einzuhüllen schien und seine Sicht so sehr beeinträchtigte, dass er seine Augen kaum noch mehr offen halten konnte, bekam endlich einen Ursprung. In weiter Ferne, das konnte Raen von den Steilhängen des Gebirges aus sehen, schoss es als leuchtende Säule aus dem laublosen Winterwald empor und fiel ringsherum als gleißender Regen wieder hinab auf die Erde.
„Komm!“, flüsterten die energiegeladenen Strahlen. „Es wird Zeit, dass wir uns vereinen!“
„Ja!“, antwortete Raen wie in Trance. „Ja, ich komme.“
Geleitet von der lockenden Stimme des Lichts lenkte er sein Pferd hinab in den bereits tauenden Schnee der Wälder Hys. Eine Welt aus schwarzen Ästen, schmutzigen Schneeresten, schlammgrauem Boden und weißem, herrlichem Licht - Seinem Licht!
Wie er an die Grenze seines heimischen Chors gelangte, daran konnte Raen sich nicht erinnern. Wahrscheinlich war es Rekori zu verdanken, dass er die Heimatluft witterte und den halb Bewusstlosen in Windeseile nach Shari brachte.
Die Wachen am Tor des Chorten wunderten sich über den augenscheinlich geschwächten Reiter, dessen Pferd über die Straße direkt auf sie zu galoppiert kam, und die seltsame Tracht, die er trug. Was suchte ein Fremder hier? Und warum hing er auf dem Pferd, als sei er von einem Pfeil getroffen worden?
Aufgeregt liefen sie ihm entgegen und fingen sein Pferd am Fuße des Burgfelsens ein. Kraftlos sackte der Reiter aus dem Sattel und direkt in die Arme eines älteren Kriegers. Es war Kensa, der dem jungen Mann in sein lebloses Gesicht schaute ... und ihn erkannte.
„Raen! Bei Hyaun, es ist Raen!“, rief er vollkommen verblüfft.
Sofort griffen mehrere kräftige Hände zu und brachten den Besinnungslosen hinauf in den Hof der Festung, wo sich bereits eine Schar Neugieriger versammelt hatte.
Eine nicht wesentlich geringere Schar besorgter Menschen hatte sich später auch um das Bett des im Delirium Liegenden zusammengefunden. Sie warteten auf Hyaunset suer Loenka, der mit seinem Gehstock etwas länger benötigte.
„Was ist mit ihm?“, fragte Suneka, die es noch immer nicht fassen konnte, dass ihr verloren geglaubter Ehegatte so mir nichts dir nichts wieder aufgetaucht war. Freudentränen rannen ihr unentwegt über die geröteten Wangen.
„Ich weiß es nicht, eine Art Fieber, schätze ich. Doch es ist sonderbar, sein Körper ist ganz kalt, obwohl er schwitzt“, antwortete Andra mit Blick in das bleiche Gesicht ihres Bruders. Auch sie begriff nicht, was ihn so plötzlich wieder hierher gebracht hatte. Und noch weniger konnte sie sich erklären, woran er litt.
Abwechselnd schüttelten die beiden Frauen den Kopf und unterhielten sich weiter leise.
Indes saßen Kaera und Roman einfach nur da und schwiegen einträchtig. Sie fühlten etwas ganz und gar Unglaubliches auf sich zukommen, doch noch war der Nebel in ihren Köpfen zu dicht.
„Oh, was ist das jetzt?“, rief Suneka aus, als sie sah, dass Andras Hände erschrocken von der Stirn Raens zurückzuckten.
„Es ist heiß!“, flüsterte die Medizi und meinte den Stirnreif.
Im gleichen Moment flogen Raens Hände hoch und versuchten beinahe panisch, mit den Fingernägeln das Aun von seinen Schläfen zu reißen. Entschlossen packte Andra seine Handgelenke und hielt ihn davon ab. Raen wehrte sich heftig, bleckte mit geschlossenen Augen die Zähne und wand sich aus ihrem Griff.
„Geht zur Seite!“, ertönte plötzlich die Stimme des Oberpriesters von der Tür her, und sofort wurde ihm Platz am Lager des scheinbar Besessenen gemacht.
Loenka humpelte herbei und ließ sich umständlich neben Raen nieder. Er wich einem unkontrollierten Fausthieb aus, schloss dann die Augen und konzentrierte sich. Seine Hand legte sich auf die Stirn des Bewusstlosen und verweilte mehrere Herzschläge dort, dabei summte er unverständliche Formeln vor sich hin, so als bemühe er sich, Zugang zu dem Geist des Gequälten zu erlangen. Abrupt hörte das Umsichschlagen auf, und Raens Arme fielen erschlafft herunter. Nichts außer seinem schnellen Atem war zu hören, bis Loenka seine Hand wieder zurückzog und die Augen öffnete. Dann bewegten sich seine Lippen und formten die Worte, die Kaera und Roman bereits erwartet hatten:
„Er ... ist ... Setna!“
Loenka tat das, wofür er von seinem Vorgänger Hyaunset suer Gahin Anleitung erhalten hatte. Jeder Oberpriester eines jeden Clans in Hy wusste, was zu tun war, wenn sich die Gabe des Geistes bei einem Clanmitglied zeigte.
Er ließ Raen in den Tempel bringen und verabreichte ihm die besondere Zhangha-Mischung, die für diesen Zweck stets in einem verschlossenen Schränkchen aufbewahrt wurde. Doch der frisch Gesegnete musste so schnell wie möglich nach Tena-lo-Ghan gebracht werden, denn nur die Priester des Krönungstempels, die Palansetna, waren in Besitzt des geheimsten allen Wissens.
Loenka war nicht wohl dabei, er glaubte, wenn er Raen aus seiner Obhut entließ, dann hatte er keinen Einfluss mehr auf das, was mit ihm geschehen würde. Raen wäre den Palansetna-Priestern schutzlos ausgeliefert. Und das war nicht gut. Loenkas Instinkt witterte die Gefahr, die in Tena-lo-Ghan auf seinen Schützling lauerte.
Aber was konnte er schon groß dagegen unternehmen? Nichts! Gegenüber den Worten der Palansetna war seine Stellung ein Halm im Wind. Sie waren die höchste und mächtigste Priesterriege in Hy, alle Geheimnisse um die Gabe des Geistes hielten sie zu einem Strang gebündelt in ihren Händen, und niemand außer ihnen hatte Zutritt zum Tenasetna, nicht einmal der Oberpriester Tena-lo-Ghans.
Ärger stieg in Loenka auf ob seiner eigenen Hilflosigkeit. Er musste sich damit begnügen, nur seine bescheidenen Mittel einsetzen zu können, und Raen im Stillen immer und immer wieder zu schwören, dass er sein Versprechen, ihm beizustehen, einhalten würde - möge es kosten, was es wolle!
Im Geiste sah Loenka sich unter den Leuten seines Clans um. Viel Unterstützung würde er in dieser Angelegenheit aus Shari wohl nicht erhalten. Vielleicht Roman, wenn er ihn über alles aufklärte, und auch Kaera, der ein kluger Kopf war, es nur gut versteckte. Aber wer sonst noch?
Andra natürlich!
Sie war die beständigste und leidenschaftlichste Fürstreiterin Raens, war es schon immer gewesen. Sie würde er nicht lange überzeugen müssen. Auf Medizi Andra konnte er sich verlassen! Diese Gewissheit beruhigte ihn ein wenig, und er beschloss, noch heute eine Unterredung mit ihr zu führen, selbstverständlich unter vier Augen. Denn diese Angelegenheit erforderte es, eine Verbündete in der Hinterhand zu haben, die für ihn im Notfall agieren konnte. Loenka war sich durchaus bewusst, welches Risiko er einging und in was er Andra und die anderen mit hineinzog, indem er sie anstiftete. Wenn die Palansetna ihn entlarvten, so würden sie nicht nur ihn wegen Hochverrats und Häresie verurteilen und aus dem Lande jagen, sondern auch jeden, dem auch nur der geringste Verdacht anhaftete, mit ihm kollaboriert zu haben. Sie würden keine Nachsicht walten lassen und lieber einen mehr als einen zu wenig in die Verbannung schicken. Der Frieden musste um jeden Preis gewahrt werden und auch die Reinheit des Glaubens und der Gemeinschaft.
Aus Loenkas Kehle fuhr ein raues Lachen, was die anderen anwesenden Priester die Stirn runzeln ließ. Auch er wäre dann ein unlauteres Subjekt, das aus dem Körper der Gesellschaft entfernt werden müsste, so wie sie es einst mit Raen getan hatten, der jetzt wie zum Hohn gegen ihre schöne, perfekte Welt von Ihm zum Führer des Volkes ernannt wurde!
„Hyaun, du bist schon ein Schelm, treibst deinen Schabernack mit uns treuen Anhängern deiner Worte!“, flüsterte Loenka und lächelte vergnügt. „Nun, dann will ich mal. Eine schwere Aufgabe liegt vor mir, eine Aufgabe, deren Ausgang ungewiss ist. Aber die Hoffnung, so klein ihr Funken auch sein mag, bringt mich dazu, es trotz aller Hindernisse zu wagen. Was bleibt uns noch, wenn nicht der Glaube an die Hoffnung!“ Loenka musste sich leise diesen Mut zusprechen, denn er brauchte ihn, um bewältigen zu können, was vor ihm lag. In seiner Brust wurde es ihm hohl, und nicht zum ersten Mal fühlte er sich einsam, einsam und verlassen. Es gab keinen, zu dem er hätte gehen können, um Rat zu suchen, keinen, der ihm die Hand auf die Schulter legte und ihm gut zusprach. Er warf einen Blick auf das friedlich schlafende Gesicht Raens. Was wohl jetzt in dessen Kopf vorging? Kämpften die beiden Mächte - sein eigener ausgereifter Geist und die Gabe - darin um die Vorherrschaft?
Einen kurzen Moment verharrte Loenka tief in Gedanken, dann erhob er sich, griff nach seinem Stock und machte sich daran, alles für die Abreise vorzubereiten. Bereits morgen sollten sie aufbrechen, denn sie durften keine Zeit verlieren. So gerne er die Sache auch verzögert hätte, aber ohne den Schutz des Setna war Hy gefährlich verwundbar, und das konnte selbst er nicht verantworten.
Sein Plan war es, auf dem Fluss reisen. Mit einem Bewusstlosen im Gepäck würde das am schnellsten gehen. Und noch hatte die Schneeschmelze in den Bergen nicht eingesetzt, so dass sie eine Flussfahrt wagen konnten: Stromabwärts den Resch hinunter bis zum Nori und dann weiter nach Osten. Wenn sie Tag und Nacht fuhren, könnten sie in vier Tagen in Tena-lo-Ghan sein.
Es war bereits späte Nacht, und obgleich Loenka müde war, wollte er noch einmal nach Raen schauen. Als er den kleinen Raum vom nächtlich ruhigen Oberen Heiligtum aus betrat, sah er Resa über dem Schlafenden gebeugt.
„Was machst du da?“, fragte er streng. Noch immer hegte er dem zweiten Sohn Romans gegenüber tiefes Misstrauen. Denn das, was vor seinem schweren Sturz mit Resa vor sich gegangen war, hatte er noch nicht vergessen können, auch wenn der junge Krieger sich seitdem mehr als vorbildlich in die Gemeinschaft fügte.
Resa schreckte von Raen zurück und wandte sich um. „Hyaunset suer Loenka, ich ... ich wollte … ich musste sehen, wie es ihm geht.“
„Du darfst dich dem Setna nicht nähern, wenn er nicht verhüllt ist! Das weißt du doch!“
„Ja, aber ich dachte, da er mein Bruder ist, ist das nicht so schlimm.“
„Für die Zeit der Trägerschaft ist er niemand, nicht dein Bruder, noch seiner Kinder Vater oder seiner Frau Ehemann und nicht einmal der Freund von irgendjemandem. Er ist der Setna!“
Resa senkte schuldbewusst den Blick. Die Geste wirkte echt, doch etwas daran störte Loenka. Er konnte nicht sagen, was, aber Resas Erklärung, nur um Raens Zustand besorgt zu sein, konnte er nicht so recht Glauben schenken. Hatte der Siebzehnjährige sich doch in den vergangenen Jahren auch nicht viel um das Ergehen seines älteren Bruders geschert.
„Geh jetzt. Und ich muss dich wohl nicht noch einmal ermahnen, dass die Identität des Setna geheim zu bleiben hat!“
„Nein, Hyaunset suer, natürlich nicht. Gute Nacht.“
„Gute Nacht, Resa.“
Gehorsam verließ der junge Krieger den Tempel.
Draußen beschleunigte Resa seinen Schritt. Hinter seiner unschuldigen Miene brodelte es.‚Dieser verfluchte Fuchsbalg von einem Gottesdiener!’, dachte er finster. ‚Wacht über Raen, wie eine Fähe über ihre Jungen.’
Der Dämon in dem Oberpriester war wieder stärker geworden, obwohl er ihn durch den Sturz damals zurückgeschlagen hatte. Das spürte er nicht nur, sondern das sagte ihm auch die Stimme, mit der er sich vor einiger Zeit wieder versöhnt hatte.
‚Du musst warten, es wird eine andere Möglichkeit geben. Ich vertraue dir, Resa Furiosa! Du bist mein bester Krieger! Auf dir liegen all meine Hoffnungen.’
‚Ja, ich werde mein Bestes geben, es wird nicht fehlschlagen, das gelobe ich.’
‚Gut, gut, du weißt ja, was die Belohnung dafür sein wird.’
Auf Resas Gesicht zeigte sich ein böses Lächeln, verhüllt von der Dunkelheit des Hofes, über den er soeben schritt. Ein wohliger Schauer der Vorfreude durchfuhr ihn bei dem Gedanken an den Tag, an dem sich seine geheimsten Wünsche erfüllen würden, und in seiner Hose regte sich sein Geschlecht.
Resa seufzte zufrieden. Endlich würde er Macht über jene Menschen bekommen, die Raen am meisten liebte, und dann würde er ihnen weh tun! Allen voran Suneka, die ihn behandelte als sei er noch ein kleines Kind. Er hasste es, wie sie weder seinem freundlichen Werben noch seinen frechen Anzüglichkeiten Beachtung schenkte. Mieses Weibsstück! Der Druck in seiner Hose verstärkte sich. Schnell bog Resa ab in eine der verlassenen Werkstätten am Tor, öffnete die Tür und schlüpfte in den Raum, in dem bis vor kurzem noch fleißig gesägt und gedrechselt worden war.
Doch jetzt war alles still. Holzspäne bedeckten den Fußboden und dämpften seine Schritte, als er sich zwischen den nach frischem Harz duftenden Brettern und Leisten hindurch wand. In seinem Versteck - ein Winkel an der Rückwand - angekommen, stützte er sich mit einer Hand ab und lauschte noch einmal aufmerksam, bevor er sich die Hose öffnete. Dann richtete er alle seine Gedanken auf Suneka, während seine andere Hand geschäftig zu arbeiten begann.
*
Die Aufregung war groß, als wenige Tage später der kleine Tross mit dem verhüllten Prinzen in Tena-lo-Ghan Einzug hielt. Sofort wurde die Palansetna-Priesterschaft herbeigerufen, die sich der fragilen Fracht Loenkas annahm und Raen auf einer Trage in das Tenasetna brachten. Die Krieger, die Loenka auf der Reise begleitet hatten, darunter auch Roman und Kaera, hatten keinen Zugang zu dem Heiligtum. Sie wurden in einen der Wohntürme geführt und erhielten dort erst einmal ein warmes Mahl.
Nur dem Oberpriester von Shari wurde es gestattet, die Trage mit dem Bewusstlosen bis in die Vorräume des Tenasetna zu begleiten. Vor einer großen goldenen Tür an der Stirnseite des Vorraumes war dann aber Schluss. Hier durfte auch er nicht weiter!
Die Palansetna hießen ihn ruhig aber bestimmt zu warten und trugen den Prinzen durch die zweiflügelige Tür, die von zweien der schwarz gekleideten Priestern lautlos wieder geschlossen wurde. Loenka ließ sich in der kleinen, kargen Halle, die wie ein Gebetsraum eingerichtet war und nur die geschmückte Tür als Altar besaß, auf einer flachen Bank nieder. Geduldig legte er die Hände in den Schoß und betrachtete die vergoldeten Schnitzereien der Tür. Sie zeigten ein seltenes, stehendes Abbild Hyauns. Er trug zwei Raben auf seinen Schultern und die Krone der Allwissenheit auf dem Haupte, und Seine Hände hielt er ausgestreckt, als böte Er sich und Seine Gabe den Menschen als Geschenk dar. Über Hyaun bildete ein Netz das Himmelsgewölbe. Es war das Reich Zaizuras, das über allem stand. Wolken und kleine, feuerballartige Gebilde zogen durch die Maschen des Netzes und um Hyaun herum: Die Ahnen der Winde. Links des Netzes stand die Sonne und rechts der Mond, und unter den Füßen Hyauns trugen drei Säulen den Boden auf dem Er stand: Hrauna, Chorta, Setna, dargestellt durch eine Kornähre, eine gezähmte Flamme und ein Auge. Und unter den Säulen, aus denen eine schützende, strahlende Aura erwuchs und ein weiteres Gewölbe bildete, standen ein Mann und eine Frau inmitten von unkontrolliert lodernden Flammen. Doch unter ihren Füßen erstarb das Feuer, das für das Unaussprechliche stand, das Übel aller Welten, das die Menschen mit Hilfe ihres Glaubens ersticken konnten. Als letzte Ebene schloss sich unter dem Feuer und den Menschen das Reich der Unterwelt und der Dämonen an. Zwei Totenköpfe säumten ein quappenähnliches Ungeheuer, das mit seinem aufgerissenen, zahnbewehrten Maul nach den Menschen schnappte. Stilisierte Blüten und Blätter des Zhangha und kleine Kriegerfiguren mit Schwertern umrahmten das vollständige Bildnis der hyaunischen Glaubenswelt, das es so kein zweites Mal in Hy geben mochte und das nur den Palansetna und wenigen anderen zugänglich war. Und das war auch gut so, dachte Loenka, denn es hätte einem jeden normalen Menschen augenblicklich Angst eingejagt. Selbst, wenn man das Bild verstand, hatte es etwas Bedrohliches an sich. Schnell murmelte er ein Gebet, das er aber mehr stellvertretend für denjenigen sprach, der sich jetzt hinter diesem goldenen Schrein in fremden Händen befand.
Was die Palansetna in diesem Moment mit Raen anstellten, konnte Loenka nur erahnen. Wahrscheinlich flößten sie ihm irgendwelche mysteriösen Tränke ein, die erwirkten, dass sein Geist aufweichte und gefügig wurde, was ihnen letztendlich Zugriff auf die Gabe ermöglichte. Alles, was jetzt wichtig war, war die vollständige Gewalt über das zu gewinnen, was der Setna darstellte: Ein Werkzeug im Dienst des Friedens und mit ihm die Kontrolle über die Krieger. Es musste schnell gehen, denn noch immer war Hy empfindlich angreifbar und die Krieger ohne Führung.
Ein Geräusch ließ Loenka aus seinen Gedanken fahren. Er wandte den Kopf. Eine kleine Nebentür hatte sich geöffnet, und ein Mann kam in den Raum gewankt. Er trug nur ein Laken um die Schultern und wirkte, als stehe er unter dem Einfluss eines Rauschmittels. Der Mann strauchelte, konnte sich aber auf den Beinen halten und schleppte sich weiter voran. Loenka stand auf und eilte ihm entgegen, um ihn zu stützen.
„Was ist mit dir?“, fragte er besorgt.
Der Mann presste sich eine Hand auf die Stirn und stöhnte: „I-ich konnte weg, da sie im M-moment nicht auf mich aufpassen. Aber sie werden nach mir ... suchen. Bist du Loenka?“, fragte er lallend.
„Ja“, Loenka blickte den Mann verdutzt an, „der bin ich. Aber woher ...“
„Ich habe eine Nachricht für dich!“ Schwer stützte sich der Größere auf den Oberpriester, dass dieser Mühe hatte, ihn zu halten.
„Du musst ihm helfen!“
„Wem?“
„Raen, er ist da drinnen“, der vollkommen fremde Mann deutete auf die goldene Tür. „Er braucht deine Hilfe. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit, du musst dich beeilen!“
„Was redest du da, und wer bist du überhaupt?“ Loenkas ungutes Gefühl wurde mit einem unangenehmen Schlag übermächtig.
„Ich ... bin Arhad. Ich war der Setna bevor ...“ Er sackte in die Knie, und Loenka musste ihn auf dem Boden absetzen.
„Raen hat zu mir gesprochen.“ Kraftlos wies Arhad auf seine Stirn, auf der Loenka erst jetzt den schmalen Abdruck eines Stirnreifs erkennen konnte. Aus irgendeinem bestimmten Grund hatten sie ihm das Aun abgenommen.
„Aber, was soll ich tun?“, fragte er den Mann, der einmal Setna gewesen war. „Ich kann da nicht einfach so reingehen.“
„Doch, das kannst du. Hol ihn das raus! Beeil dich, es dauert nicht mehr lange, ich kann es spüren.“ Arhad sah ihn gequält an, doch dann glitt sein Blick auf etwas, das sich hinter Loenka befand, und beinahe im selben Moment tauchten zwei schwarzgewandete Palansetna neben ihnen auf. Ihre Mienen waren wie versteinert. Mit schnellen Griffen entwanden sie dem Besucher den geschwächten Arhad, brachten ihn ohne ein Wort zurück durch die Tür und ließen Loenka zurück.
Bestürzt starrte der Hyaunset suer von Shari hinter ihnen her. Die letzten Worte, die Arhad ihm hatte zuflüstern können, drangen wie heiße Nadeln in seinen einst so eisernen Glauben und begannen aufzuweichen, was bis vor wenigen Augenblicken noch unerschütterlicher Fels gewesen war!
‚Hol auch mich hier raus. Ich halte das nicht mehr aus, bitte! Es ist ein Gefängnis!’, waren Arhads leise Worte gewesen, ehe die Schwarzen ihn gepackt hatten.
Loenka konnte das nicht begreifen. Warum hielten die Palansetna den Mann in einem derartigen Arrest? Konnte Hyaun das wollen? Konnte Er das wirklich wollen?
Unschlüssig hockte er auf dem polierten Holzfußboden und umklammerte mit einer Hand den Brustsaum seines gelben Gewandes und mit der anderen seinen Gehstock. Was sollte er jetzt bloß tun? Die Zeit drängte, wenn Arhad die Wahrheit gesprochen hatte. Und das hatte er, das fühlte Loenka.
Aber er war allein, bestenfalls konnte er Roman und Kaera für diese Sache gewinnen. Doch würden sie zu dritt in das Tenasetna eindringen können? Dieses Haus des Setna, das in Wirklichkeit ein Gefängnis war! Und wie würden Roman und Kaera reagieren, wenn er auch ihnen den Glauben zerbrach?
‚Du musst handeln! Triff eine Entscheidung! Wie oft hast du anderen diesen schönen Ratschlag geben? Jetzt halte dich auch selbst daran!’ Loenka spürte, wie schwer es war, sein eigenes Handeln zu bestimmen, wenn man daran gewöhnt war, sich um nichts kümmern zu müssen, da alles nach strengen Regeln verlief. Und dabei hatte er als Hyaunset suer schon ein Wesentliches mehr an Verantwortung tragen müssen als alle anderen in seinem Clan. Aber aus der Ordnung der Gemeinschaft auszubrechen und sich ganz davon frei zumachen, war selbst für ihn eine Herausforderung.
‚Sei es drum!’, spornte er sich an und raffte sich auf. Er warf einen beinahe furchtsamen Blick über die Schulter auf die goldene Tür und verließ dann rasch das Gebäude, das auf ihn plötzlich einen düsteren und bedrängenden Eindruck machte.
Ohne anzuhalten hinkte er die Stufen hinab ins Freie und drehte sich erst um, als er mitten auf dem großen Hof des Chorten stand, und sich das jagende Gefühl in seinem Nacken wieder legte. Er gab offensichtlich einen leicht verwirrten Anschein, denn einige vorbeikommende Bewohner Tena-lo-Ghans blickten ihn an und hielten hilfsbereit inne. Sie setzten ihren Weg aber fort, nachdem er ihnen mitgeteilt hatte, dass er sich hier nicht auskenne und seine Reisegefährten suche.
Er wollte sich gerade in Richtung des genannten Turmes wenden, als er Hufgetrappel vernahm. Er warf einen Blick zum Tor des Chorten, und seine Augen weiteten sich überrascht.
Der besondere Besucher, der dort gerade in die Festung einritt, schien als sei er direkt von Hyaun gesandt! Und obwohl Loenka ihn noch nie gesehen hatte, erkannte er ihn sofort!
In den Erzählungen, die er über diese Person gehört hatte, war er nur zu gut beschrieben worden.
Der eintreffende Gast trug unverkennbar das schwarze Habit der Krieger und dazu den Helm. Seine Statur war stattlich und seine Augenbrauen, das konnte Loenka selbst aus der Entfernung sehen, waren rot. Ohne Zweifel, das musste Manoen sein!
Loenka setzte sich in Bewegung und ging geradewegs auf den Mann zu, dabei gewahrte er zwei weitere Reiter, die ihn begleiteten, einer davon war ebenfalls ein Banskeid.
Der große Krieger zügelte sein Pferd vor dem Priester und schaute ihn fragend an. Sein Gesichtsausdruck war nicht gerade freundlich.
„Seid gegrüßt, Hyaun Banskeid Manoen!“, rief Loenka ihm entgegen.
Die Miene des Hünen blieb abweisend, zeigte aber geringe Spuren von Verwunderung. „Magistrate del Art Militaris strategica“, ergänzte er brüsk, anstatt zu grüßen.
Loenka lächelte unbeirrt. „Mein Name ist Hyaunset suer Loenka aus Shari, und ich bin ein Freund Raens.“
Die Lippen Manoens verzogen sich zu einem verächtlichen Grinsen. „Freund?“, wiederholte er mit einem sarkastischen Unterton und Blick auf Loenkas Robe.
„Ja, ein sehr guter Freund sogar.“ Loenka konnte nicht wissen, wie groß Manoens Ablehnung gegen jedweden Kleriker war, denn davon hatte ihm Raen natürlich nichts erzählt. Er fand das Verhalten des jüngeren Kriegers reichlich unhöflich, nicht einmal zurückgegrüßt hatte er! Auch könnte er wenigstes absteigen und nicht so von oben herab mit ihm reden. Doch Loenka ließ sich nicht einschüchtern. Wenn Manoen Raens bester Freund war, so würde er ihm auch helfen!
„Hättest du wohl Zeit für ein Gespräch, Magistrate Banskeid Manoen? Ich will nicht drängen, aber es geht um das Wohl unseres gemeinsamen Freundes.“
Manoen schien keinerlei Verlangen zu haben, mit einem Priester sprechen zu wollen, doch Loenka sah ihn unverwandt an, gab ihm keine Möglichkeit zur Ausflucht.
„Nun gut, Hyaunset suer“, lenkte der Rothaarige ein, „aber zuerst wollen wir etwas essen und uns von der Reise erholen.“ Er stieg ab, und die beiden anderen folgten seinem Beispiel. Auch ihre Mienen waren nicht gerade vom Sonnenschein berührt.
„Das sind Magistrate del Artes Liberales Eisan Uke und Scolario Hyaun Banskeid Taghat aus Borgossa“, erklärte Manoen und legte bedeutungsvoll die Betonung auf ihre nichthyaunischen Titel und den Namen der Stadt ihrer Herkunft.
Loenka wunderte sich ein wenig, dass er nicht ihre Clannamen nannte, aber vielleicht identifizierten sie sich schon lange nicht mehr mit ihren ehemaligen Gemeinschaften, weil ihre Heimat jetzt Borgossa war.
„Ich erwarte dich im Tempel, es ist dringend!“, beschwor er den rothaarigen Ichor und verneigte sich, wie es sich gehörte.
Doch Manoen nickte ihm lediglich zu und ging mit den beiden anderen an ihm vorbei zum Wohnturm, wo auch schon Roman mit der ersten Reisegruppe bewirtet wurde.
Mit brennender Ungeduld beobachtete der Oberpriester von Shari wie die drei Ankömmlinge den Turm betraten.
‚Die Zeit drängt!’ Arhads Worte hallten in seinem Gedächtnis wieder, und Loenka sah sich nervös um. Was sollte er jetzt nur tun?
Das Auftauchen Manoens war gewiss eine glückliche Fügung, aber er konnte ihn nicht so einfach überfallen mit seinem Vorhaben, das sich allmählich in seinem Kopf zu manifestieren begann. Er blickte auf den Krönungstempel Tena-lo-Ghans, dem größten Tempel in ganz Hy. Dort war sein Platz, dort bekam er sein Essen und ein Bett für die Nacht. Der Tempel war sein Zuhause. Aber zum ersten Mal in seinem Leben begab Loenka sich nur äußerst ungern in den scheinbar geborgenen Schoß der Priesterschaft. Er sah zum leicht bewölkten Frühlingshimmel hinauf. Die Dämmerung kündigte sich mit einem goldenen Schimmer an, und auf den Dachfirsten sangen bereits die Amseln. Wie viel Zeit blieb ihm noch? Hoffentlich würde Manoen ihn nicht allzu lange warten lassen.
Schwebe ich? Fliegt meine Seele, und mein Körper ist längst tot?
Es fühlt sich aber nicht so an, als sei ich bei den Ahnen der Winde. Außerdem ist es dunkel. Wenn ich mit den Ahnen fliegen würde, müsste ich doch unser Land unter mir sehen können. Die Wälder, Hügel und Flüsse. Es muss also etwas anderes sein. Hm. Hallo? Hallo! Ist da noch jemand?
Ja, ich bin hier!
Wer bist du?
Ich war bereits ein Teil von dir, als du geboren wurdest.
Hyaun? Al Nor?
Und jetzt haben wir uns vereint. Es fühlt sich doch gut an?
J-ja, es fühlt sich gut an. Tatsächlich. Aber sag mir doch, wer du bist?
Ich bin alles... und ich bin nichts. Ich bin du. Ich war immer und werde immer sein.
Ein Teil von mir?
Ja.
Und wo sind die anderen. Hyaun, Al Nor?
Sie sind bei dir, du brauchst keine Angst haben.
Da bin ich erleichtert, ich will nämlich nicht mehr allein sein.
Das bist du auch nicht, wach auf und sieh.
Du bist nicht allein!
„Guten Abend, Hyaunset suer.“ Es klang aus vollem Herzen spöttisch, doch Loenka drehte sich um und lächelte trotz allem.
„Guten Abend, Magistrate Banskeid Manoen, schön, dass du zu mir gefunden hast.“ Er erhob sich von seinem Platz vor der Statue Hyauns, die hier im Krönungstempel zu Tena-lo-Ghan von entsprechend beeindruckender Größe war und mehrere Mannslängen emporragte bis unter den dunklen Dachwinkel. Bevor Manoen zu ihm gekommen war, hatte Loenka meditiert, um seine wachsende Ungeduld zu besänftigen. Nun führte er ihn in einen der kleinen Seitenräume, in dem der hochgewachsene Krieger noch riesenhafter wirkte. Loenka bemerkte, dass er sich so weit von ihm entfernt niedersetzte, wie die eingeschränkten Dimensionen der Umgebung es zuließen.
„Was willst du mit mir besprechen?“, kam der Hüne gleich zur Sache, wich seinem Blick aber bemüht aus.
„Es geht um Raen. Deswegen bist du doch hier nach Tena-lo-Ghan gekommen, oder nicht?“ Loenka flüsterte. Zwar konnte man kein Misstrauen wecken, wo es keines gab, aber dennoch wollte er vorsichtig sein. Das Thema, das er anzuschneiden gedachte, war schließlich höchst brisant. „Ich kann mir denken, was du von uns Priestern hältst“, begann er, „aber du kannst mir trotzdem vertrauen.“
Wortlos wollte Manoen sich daraufhin erheben. Offenbar fühlte er sich angegriffen.
„So warte doch! Jetzt ist nicht die Zeit, um alte Feindschaften auszutragen. Wir müssen uns beeilen. Jede Stunde zählt!“
„Wobei?“
„Um Raen zu retten!“
Manoens Miene veränderte sich und wurde etwas weicher. Ein Mundwinkel zuckte. „Du willst ihn vor deinen eignen Leuten retten?“, sagte er und klang dabei wieder abfällig.
„Wenn du es so nennen willst, ja! Hörst du mir jetzt zu?“
Manoen zögerte, doch dann nickte er. Mit verschränkten Armen gab er dem Priester zu verstehen, dass er bereit war. In seiner Starrköpfigkeit erinnerte er Loenka sehr stark an Raen und das gefiel ihm.
Leise und vorsichtig begann er schließlich darzustellen, was er plante und dass er dabei auf seine, Manoens, Hilfe angewiesen war.
Der große Krieger lauschte mit starrem Blick, und als der Priester geendet hatte, sah er ihm zum ersten Mal in die Augen. Dann schüttelte er den Kopf. „Das ist Rebellion!“, flüsterte er beinahe ungläubig und schnalzte mit der Zunge.
Doch Loenka glaubte, zu sehen, dass ihm der Gedanke nicht im Geringsten misshagte. Dann trat ein Lächeln auf die zuvor fest verriegelten Gesichtszüge Manoens, und es war, als hätte jemand ein Fenster geöffnet und die Sonne hereingelassen. Das Lächeln schien das halbe Gesicht einzunehmen, und Loenka konnte sich nicht helfen, aber er bekam schon bei dem bloßen Anblick gute Laune. Das war also der legendäre, lustige Manoen, so wie Raen ihn beschrieben hatte!
„Ich bin dabei!“, sagte der Rotschopf schlicht und hielt dem Priester in bester borgossinischer Manier die Hand hin. Loenka schlug ein.
Loenka hatte ihnen allen den Grundriss des Tenasetna beschrieben, und jeder wusste, was er zu tun hatte! Etwas nervös schaute ihn die kleine Runde von Verschwörern jetzt an, und das schlechte Gewissen überkam ihn erneut. War das, was er hier tat, das Richtige? Er war verantwortlich dafür, wenn es schiefging.
Sichtlich unwohl schaute auch der brave Roman drein, aber er war der erste gewesen, der ohne zu zögern eingewilligt hatte. Loenka ahnte, dass ihn etwas Bestimmtes dazu trieb, doch er fragte nicht danach. Der junge Kaera war ebenfalls nicht schwer zu überzeugen gewesen, wie auch die beiden Mitstreiter Manoens. Sie waren also zu sechst. Keine große Zahl, aber immerhin, es könnte gelingen.
Er betete still um Beistand. Entweder würde am Ende dieses Tages nichts mehr so sein, wie es einmal war, oder alles würde bleiben, wie es ist, und ungerührt würde Zaizura sie ihrem Schicksal überlassen! Er atmete einmal tief durch und setzte dann eine entschlossene Miene auf.
„Freunde, ich danke euch, dass ihr euch entschlossen habt, mit mir zu gehen. Es wird Zeit!“ Er sah auf den Eingang des Tenasetna. Es war früher Morgen, und die Leute Tena-lo-Ghans waren arglos mit ihrem Tagewerk beschäftig. Niemand achtete auf die kleine Gruppe von Menschen auf dem Hof, niemand bemerkte ihre angespannte Haltung.
„Los!“, gab Loenka schließlich das Zeichen, und langsam bewegte sich die Gruppe auf die Treppe zum Haus des Setna zu.
Aber ich kann nicht aufwachen. Etwas hindert mich daran. Hilf mir doch! Ich kann meine Augen nicht öffnen!
Das liegt daran, dass sie dir von ihren Schlafkräutern gegeben haben. Du musst dagegen ankämpfen. Befreie dich von ihnen!
Ich versuche es ja, aber es ist so schwer. Es macht mich so ... so müde. So unendlich müde. Ich glaube, ich möchte jetzt erst einmal schlafen.
Nein, bleib gefälligst wach. Wenn du einschläfst, dann haben sie gewonnen! Kämpfe. Kämpfe!
Lass sie doch gewinnen, ich bin es müde ...
NEIN! Niemals!
Niemals hätten sie gedacht, dass jemand den Gehorsam brechen könnte und das Tenasetna stürmen würde! Deshalb gab es auch keine Wachen oder Krieger, welche die Eindringlinge hätten davon abhalten können, zum Setna vorzudringen.
Die vier Priester, die sich ihnen aufgebracht entgegenstellten, waren kein ernstzunehmendes Hindernis, und als sei seine Brust der Bug eines Schiffes, durchteilte Manoen mühelos die klägliche Welle des Widerstandes und drang, die anderen in seinem Kielwasser, zielstrebig immer tiefer in das heiligste aller Heiligtümer ein.
Die vier überrumpelten Priester keiften empört und rannten dann hastig aus dem Gebäude, wohl um sich Hilfe bei der Kriegerschaft Tena-lo-Ghans zu holen.
Doch der Rammbock Manoen und seine fünf Mitstreiter waren nicht mehr aufzuhalten! Sie erreichten die goldene Tür, und mit aller Wucht, die sein massiger Körper aufbringen konnte, warf sich der große Krieger gegen die beiden Flügel. Der dünne hölzerne Riegel auf der anderen Seite brach, und die Tür flog auf. Sofort drangen die Befreier in den Raum dahinter. Er war sehr dunkel, nur ein paar Öllampen brannten, doch die erschrocken blickenden Augenpaare von sechs Palansetna entgingen ihnen nicht. Zwischen ihnen lag Raen, noch immer ohne Bewusstsein. Er war bis zum Hals in ein schwarzes Tuch gehüllt, nur sein bleiches Gesicht war unbedeckt.
Mit drei schnellen Schritten war Manoen bei ihnen und zerrte die ersten beiden Palansetna an ihren Gewändern von Raen fort.
„Was fällt euch ein! Sofort hinaus mit euch! Ihr wagt es, hier einzudringen und die heilige Zeremonie zu stören!“, protestierten die anderen vier und erhoben sich. Doch ihre drohende Haltung beeindruckte Manoen und seine Helfer nur wenig.
Kaera zückte sein Schwert, ein weiteres schweres Vergehen in diesen heiligen Räumlichkeiten, und trieb damit die sechs Palansetna an die Rückwand des dämmrigen Raumes. Der scharfe Geruch des Räucherwerks brannte ihnen in Augen und Nasen. Manoen kniete sich neben Raen, öffnete dessen Mund und tropfte eine milchige Flüssigkeit aus einem kleinen Fläschchen auf seine Zunge.
„Was ist das?“, fragte Loenka.
„Es ist das Gegenmittel, ein Hyaunset in Borgossa namens Reko hat es mir zubereitet. Er konnte nicht mitkommen, obwohl er es gewollt hat. Aber er ist Maestro und lehrt jetzt selbst an der Universität.“
Loenka hob respektvoll die Brauen.
Da öffnete Raen die Augen.
„Was ist los?“, rief er und wollte sich aufsetzen, doch das enge Tuch hinderte ihn daran. Er befreite sich daraus und kam hoch.
„Mein Freund, ich bin hier.“ Liebevoll tätschelte Manoen den Scheitel des verwirrt um sich Blickenden.
„Du?“ Raen sah ihn überrascht an. „Was machst du hier?“
„Du hast mich gerufen, und ich bin gekommen.“ Der Rotschopf tippte sich an sein Aun. „Kannst du aufstehen, oder muss ich dich tragen?“
Raen kam zitternd auf die Beine und wickelte sich das schwarze Tuch wieder um den bloßen Körper.
„Und jetzt?“, wollte er wissen.
„Jetzt nichts wie raus hier, die anderen Krieger sind bestimmt schon unterwegs.“ Manoen packte Raen unter dem Arm und zog ihn mit sich. Loenka hatte derweil mit Roman die Nebenräume durchstöbert und Arhad gefunden. Roman trug den geschwächten ehemaligen Setna auf dem Rücken.
Im Laufschritt stürmten sie aus dem Gebäude, doch draußen wurden sie bereits erwartet. Manoen, der mit Raen an erster Stelle lief, hielt so unvermittelt inne, dass die anderen hinter ihm gegen ihn prallten. Wie vom Donner gerührt blickten sie von den Stufen hinab auf die Wand aus Kriegern, die ihnen jeglichen Fluchtweg abschnitt. Sie hatten wie Kaera ihre Schwerter gezogen, und es gab keinen Zweifel daran, dass sie die sechs Abtrünnigen, die gerade dabei waren, den Setna zu entführen, in Stücke schneiden würden, wenn sie es auch nur wagten, einen Schritt weiter zu gehen!
Schlagartig schwand Loenka der Mut. Weiter würden sie nicht kommen. Es war vorbei!
„Ergebt euch!“, rief der Clanchef von Tena-lo-Ghan in der ersten Reihe der Krieger. „Dann wird der Oberste Rat bei eurer Verurteilung Milde walten lassen.“
„Milde, ha!“, schrie ihnen Manoen entgegen. „Auf eure falsche Milde scheiße ich!“
„Du wagst es, so mit uns zu sprechen, Ichor?“, donnerte der Chor suer Palan zurück.
„Ich bin vielleicht ein Ichor, aber ich lasse mir nicht den Mund verbieten, capisco!“
„Was machen wir jetzt?“, hörte Loenka Kaera neben sich wispern.
Der Hüne fuhr zu ihnen herum. „Ganz einfach, Raen wird ihnen befehlen, uns ziehen zu lassen!“, knurrte er. „Los, Raen, worauf wartest du?“
Raen sah seinen Freund hilflos an. „Aber ich kann es nicht, ich ...“
„Du bist der Setna, natürlich kannst du! Du hast die Macht über sie!“, brüllte der Größere ihn an.
Raen blickte von dem wutschnaubenden Rotschopf auf die über dreihundert Krieger zwischen ihnen und dem Tor des Chorten. Was ging hier nur vor? Eben noch hatte er selig geschlummert und nun …
Der Clanchef trat einen drohenden Schritt auf sie zu.
„Nun mach schon!“, drängte Manoen flüsternd.
Raen schluckte. Was hatte sein Freund da soeben gesagt? Er war der Setna?
Das konnte er nur schwer glauben.
Er spürte den brennenden Blick des Rotschopfes und das Erwartungsvolle Schweigen seiner Begleiter in seinem Rücken.
Tu es! Die Stimme klang klar und deutlich in seinem Kopf.
Und schließlich schloss er die Augen und versuchte sich zu konzentrieren.
Ich bin der Setna!
Jeder konnte sehen, wie die Entschlossenheit des Clanchefs plötzlich ins Wanken geriet, und all die anderen Banskeid mit einem Mal ihre Waffen senkten. Und bis auf Uke konnten auch die Befreier über ihr Aun hören, was Raen seinen Untertanen befahl: „Lasst uns durch, Krieger Hyauns, gebt uns Pferde, Proviant und Schutz auf unserer Reise! Seid euch gewiss, dass dies Sein Wille ist. Ich danke euch.“
Der Blick des Clanchefs wurde gefügig. Gehorsam trat er zur Seite, und die Krieger hinter ihm taten es ihm nach. Eine Gasse bildete sich, und die Gruppe um Raen setzte sich in Bewegung.
„Verneigt euch vor eurem Prinzen! Ima lo Setna!“, rief Manoen feierlich aus, während sie die Reihen der Krieger Tena-lo-Ghans passierten und auf das Tor zuschritten, das ihnen soeben geöffnet wurde.
„Wo soll es hingehen?“, fragte Taghat und nahm Roman die Last des besinnungslosen Arhad ab.
„Nach Shari!“, entgegnete Loenka. „Dort gibt es noch mehr von uns!“
Die Reise zurück nach Shari verlief ohne Hindernisse, auch wenn sie auf dem Landweg mehr Zeit in Anspruch nahm als zuvor die Flussfahrt. Noch während sie unterwegs waren, klärte Loenka den überraschten Setna über ihre Lage auf.
Raen war endlich wieder bei klarem Verstand und freute sich besonders über die unerwartete Unterstützung Manoens und der anderen beiden Freunde aus dem Hytena. Und da er sich endlich an alles erinnern konnte, berichtete er Loenka von dem bevorstehenden Angriff Askhars auf Hy.
„Bist du dir sicher?“, erkundigte sich der Priester und trank den Rest Wasser aus seiner Schale. Sie hatten an einem kleinen Bach Halt gemacht und ihren Durst gestillt. Die Sonne schien durch das noch kahle Dach des Waldes und wärmte die Glieder der im Kreis sitzenden Reisenden. Blaue und weiße Blumen blühten auf dem mit braunem Laub bedeckten Boden. Raen hatte ganz vergessen, wie gut sich der Frühling in Hy anfühlte. Er pflückte eine der blauen Blumen und betrachtete die feinen Härchen am Rand der Blätter und die gelben Staubgefäße in den Blüten. Die Gabe des Setna verlieh ihm nicht nur einen außerordentlich scharfen Blick für die großen, universellen Zusammenhänge, sondern auch für die kleinen Dinge.
„Ja, ich bin mir sicher“, antwortete er, „außerdem hat mir die Gabe einen Hinweis gegeben, den ich jetzt verstehe: ‚Der weiße Geier hat sich in die Lüfte erhoben und die Krähen folgen ihm.’ Das bedeutet, dass die Askharer ihre Armee längst in Gang gesetzt haben.“ Raen erinnerte sich an die Flucht durch Askhar und an die Stadt nahe der Grenze, an der sie vorbeigekommen waren. Schon damals hatte er dort die Vision von dem weißen Geier gehabt.
„Dann musst du Doban warnen und die Krieger dort versammeln“, drängte Loenka.
„Das habe ich bereits getan, aber die Krieger rufe ich noch nicht zusammen, da ich nicht weiß, ob die Askharer tatsächlich zuerst Doban angreifen werden.“
Loenka, Roman und auch Arhad, der sich von seiner Betäubung wieder erholt hatte, nickten nachdenklich.
„Ich sehe, ihr sorgt euch, doch das braucht ihr nicht. Ein wenig Zeit bleibt uns noch.“ Raen hielt die Blüte ins Gegenlicht und studierte die zarten Äderchen auf den Blütenblättern, noch pulsierte das Leben darin, doch bald würde es ins Stocken geraten und austrocknen, weil er den dünnen Stängel vom Boden Mutter Hraunas gekappt hatte. Er sprach weiter: „Es gibt einen bestimmten Grund, warum der Erhabene mich mit der Gabe gesegnet hat. Ich werde Hy in den Krieg führen und ich sage euch, es wird der letzte sein, den dieses Volk auszufechten hat. Ich kenne nun den Weg!“
Danach herrschte Schweigen, keiner getraute sich, die Worte des Setna anzuzweifeln.
Nur die aufmerksamen braunen Augen Romans waren noch auf seinen Sohn gerichtet, der mit einer Hand ein kleines Loch aushob und die Blume darin vergrub. Dankbarkeit erfüllte den Vater, denn endlich, endlich, spürte er seine Verzagtheit weichen, die ihn wie eine harsche Kruste aus Sinter lebendig hatte erstarren lassen. Nach so vielen Jahren sollte er nun doch noch die Zuversicht finden, die er sich in den Qualen seiner nicht enden wollenden Selbstzweifel ersehnt hatte. Für ihn - und davon ahnten die anderen natürlich nichts - erhielt zu guter Letzt nun doch noch alles einen Sinn.
Ein Kreis schloss sich!
In Gedanken wiederholte Roman die ersten Zeilen der Prophezeiung, mit der seine Leiden vor sechsundzwanzig Jahren begonnen hatten und mit der sie bald enden würden!
‚Ihr werdet Dinge sehen, an denen Ihr zweifeln werdet.
In diesem Moment, erinnert Euch!
Traditionen und alte Regeln werden gebrochen, um andere zu erhalten.
Die Blume muss gedeihen und sterben, um ihre Samen in die Erde zu geben,
Damit sie neu erblühen kann.
Erinnert Euch!
Die Wege göttlicher Geister sind wundersam.’
Ein Lächeln huschte über Romans Züge. Wie fortgeblasen war sein Jahrzehnte alter Schwermut, vorbei die grüblerische Selbstzerfleischung! Es gab Hoffnung für sie alle, Hoffnung auf einen endgültigen Frieden. Raen würde sie dort hinführen. Und er, Roman, würde an seiner Seite gehen und würde laut sein Vermächtnis verkünden. Gepriesen sei Hyaun und Seine Weisheit, endlich wusste auch er, was er zu tun hatte! Heimlich zupfte er sich eine der blauen Blumen ab und steckte sie in seinen Jackenausschnitt. Das Orakel hatte ihn zum Beobachter erklärt, zum Chronisten des Wandels.
Kurz vor Shari hielt Loenka den Zug noch einmal an. Etwas unsicher schaute er in das Gesicht des Setna. Dann sammelte er sich und begann zu sprechen: „Al Setna ..., Raen, wir haben in den vergangenen Tagen viel auf dich eingeredet, viel erzählt und viel beraten, und du hast zugehört. Was du von unseren Plänen hältst, wissen wir jedoch nicht. Allein, dass du mit uns geritten bist, war mir ein positives Zeichen. Aber jetzt ist die letzte Gelegenheit für dich, uns mitzuteilen, ob du unsere Absichten überhaupt teilst. Noch kannst du die Robe anziehen und nach Tena-lo-Ghan zurückkehren, noch kannst du den Platz einnehmen, den dir die Palansetna bereithalten, und an der Krönungszeremonie teilnehmen. Noch ist ein normales Leben“, Loenka musste unfreiwillig schmunzeln, als er sich der Ironie bewusst wurde, „für dich möglich. Wir allerdings haben unsere Rückkehr in die Gemeinschaft mit dem Sturm auf das Tenasetna verwirkt. Aber das ist uns gleich, denn wir haben uns frei dafür entschieden, einen neuen Weg zu gehen. Wir würden es also akzeptieren“, er blickte in die Gesichter der anderen, die entweder verschlossen waren oder Kampfbereitschaft ausstrahlten, „wir akzeptieren, wenn du diesen Weg nicht als den deinen anerkennst.“ Loenka nestelte an seiner Satteltasche und zog den schwarzen Umhang heraus, den der Setna zu tragen pflegte, um seine Identität zu verhüllen. Er hielt ihn Raen entgegen.
Aufmerksam sahen die Begleiter den jungen Berufenen an.
Der schien auf einen entfernten Punkt im Wald zu blicken und die Worte des Priesters gar nicht gehört zu haben.
Eine Weile verharrten alle gebannt. Wie würde Raen sich entscheiden? Würde er ihre kleine Gruppe anführen und mit ihnen etwas Neues bewirken oder würde er sich von ihnen abwenden?
Das Pferd unter Raen trat unruhig von einem Huf auf den anderen. Es witterte den Stall und verstand nicht, worauf sie hier noch warteten. Der Setna hielt die Zügel straff.
„Hy ist in Gefahr“, sagte er schließlich ruhig, den Blick immer noch in die Ferne gerichtet. „Da Askhar einen Krieg plant, würden größere Umstürze im Innern diese Gefahr nur noch mehren. Es wäre nicht klug, etwas zu verändern.“
Loenkas Herzschlag hämmerte ihm bis in die Schläfen. Hatte er alles umsonst geopfert? Würde nun doch alles bleiben, wie es war? Und würde er anstelle Raens das Land verlassen müssen?
Plötzlich streckte der Setna die Hand fordernd nach dem Umhang aus.
Loenka bemühte sich um eine unbekümmerte Miene, und gab ihn Raen. Sein Hals schnürte sich zu.
Der Setna, der mittlerweile wieder die Kleidung eines Kriegers trug, legte sich den schwarzen Stoff um die Schultern und band ihn vor der Brust zu. Noch ließ er die Kapuze vom Kopf.
„Sie sollen mich erkennen“, sinnierte er. „Ich meine wirklich erkennen! Sie sollen sehen, dass ich Setna ... und der Mensch Raen bin! Denn es ist der Mensch in mir, der die Dinge verändern will, und die Gabe des Setna wird mir dabei helfen!“
Plötzliche Erleichterung durchströmte Loenka wie Wasser ein ausgetrocknetes Flussbett hinter einem gebrochenen Damm; aber auch Freude und Aufregung, denn jetzt würden sie wahrhaftig etwas bewegen können.
„Du“, er riss sich zusammen und zwang das Beben aus seiner Stimme, „du wirst also bei uns bleiben und die Kapuze nicht aufsetzen?“
„Nein.“ Raen blickte dem Priester in die Augen. „Ich habe doch gesagt, dass ihr euch nicht zu sorgen braucht. Warum also tut ihr es jetzt?“
Betreten schaute Loenka zur Seite. „Verzeih, dass wir an dir gezweifelt haben, Raen, ... Al Setna!“ Er verneigte sich.
Raen nickte, hob den Arm in die Richtung, in welcher der Chorten lag, und sagte: „Nun, dann lasst uns nicht länger warten, ich sehne mich nach meiner Heimat.“
Seine Begleiter lachten gelöst und trieben ihre Pferde an. Bald trabten sie frisch voran, hinaus aus dem Wald und in die Feldmark, die sich rund um den Chorten von Shari erstreckte.
*
Fast zur gleichen Zeit formierte sich in Tena-lo-Ghan der Widerstand. Die Palansetna konnten es nicht auf sich sitzen lassen, dass man sie so dreist ihrer Befehlsgewalt beraubt hatte. Außerdem war ein außer Kontrolle geratener Setna eine große Gefahr für ihre Existenz und für das System, das sie zu pflegen hatten.
Rheta, der Oberste der sechzehn Palansetna-Priester, stand zu Füßen der Statue Hyauns im Unteren Heiligtum des Krönungstempels, in dem die Krönung dieses Mal wohl ausfallen würde, und sprach zu der Versammlung der gelbgewandeten Hyaunset. Ihre Orden waren zwar miteinander verwandt, ihre Aufgaben jedoch grundverschieden. Während die Hyaunset flächendeckend im ganzen Land dafür Sorge zu tragen hatten, dass in ihren Clans die Ordnung eingehalten wurde, standen die Palansetna an der Spitze der Macht. Sie beschäftigten sich nicht mit solch trivialen Dingen wie Regelverstößen und Gottesdiensten. Ihre Obliegenheiten waren von weit maßgeblicherer Natur. Während die Hyaunset das Herz und die Krieger der Arm Hys waren, so waren sie das Hirn! Seit Anbeginn der Ära der Setna lenkten sie das Geschick des Volkes und das mit äußerstem Erfolg. Selbst die Hyaunset waren nur zu einem sehr geringen Teil in die Wahrheit über die Aufgabe der Palansetna eingeweiht.
Und deshalb war es von höchster Dringlichkeit, dass die Palansetna nun das Heft in die Hand nahmen. Doch dabei war Rheta allein auf seine Erfahrung angewiesen, denn für einen solchen Fall waren weder er noch seine fünfzehn Ordensbrüder in ihrer Ausbildung vorbereitet worden. Der Ausbruch eines Setna aus der Überwachung der Palansetna hatte seit jeher als schlichtweg unmöglich gegolten.
Bis vor wenigen Tagen.
„Wir können“, rief Rheta in die Altarhalle über die kahlen Köpfe der Hyaunset hinweg, „unser Wohl nicht in die Hände eines Mannes legen, der mehr als einmal gegen die Gesetze Hyauns verstoßen hat und deshalb auch rechtskräftig verbannt wurde. Er hat seinem Volk den Rücken gekehrt und hat sich entschlossen, keiner mehr von uns zu sein. Raen aus Shari ist eine Gefahr für sich selbst und für unser Volk! Wir müssen die Gabe aus ihm befreien, damit sie in jemand gelangen kann, der mehr Verantwortungsbewusstsein besitzt.“ Rheta legte eine bedeutungsvolle Pause ein. Er verabscheute es, um den heißen Brei herumreden und sich unpräzise ausdrücken zu müssen, aber die Hyaunset durften nicht zu viel erfahren. „Unser erster Schritt wird sein, dass wir die Krieger auf unsere Seite zurückgewinnen.“
„Aber wie sollen wir das anstellen? Sie gehorchen ausnahmslos dem Setna, so wie auch die Oberpriester“, fragte einer der Zhangha-Priester.
„Ganz einfach, wir müssen ihnen das Aun abnehmen, dann hat der Setna keinen Einfluss mehr auf sie.“ Rheta dachte, wie gut es doch war, dass die Palansetna niemals mit einem Aun ausgestattet wurden. Er sah, wie ein zustimmendes Nicken sich einer Welle gleich bis in die hintersten Reihen fortsetzte, wo die Novizen saßen.
Dort herrschte ehrfürchtiges Schweigen, denn das, was sie hier zu hören bekamen, war einfach zu unglaublich! Mit offenen Mündern starrten sie auf die Schwarzgewandeten. Nur ein junger Bursche ließ sich nicht von der Autorität des Sprechers irritieren. Er wusste, auf welcher Seite er stand!
„Wir senden Boten an sämtliche Clans aus“, fuhr Rheta fort, „außer natürlich nach Shari - denn sie sollen keinen Verdacht schöpfen. Wir werden veranlassen, überall zur gleichen Zeit Zhangha-Zeremonien abzuhalten, in denen die Krieger ihrer Auns ledig werden. Ich schlage den nächsten Vollmond vor, bis dahin sind es noch drei Wochen und jeder Clan kann von unseren Boten erreicht werden. Kommen wir nun auch gleich zum zweiten Schritt: Er beinhaltet, dass wir mit eben denselben Boten alle Priester und Clanoberhäupter hier nach Tena-lo-Ghan rufen, damit wir uns als eine Einheit präsentieren können. Diese ist unbedingt nötig, um uns das Vertrauen der einfachen Leute zu erhalten. Es macht sie nervös, wenn ihr beschauliches Leben auch nur ein Wimperschlag aus den Fugen gerät und anders verläuft als sie es gewohnt sind. Um ihren Argwohn zu dämpfen, müssen wir sie davon überzeugen, es geschehe etwas Gutes. Und natürlich ist es das ja auch in ihrem Sinne!“ Rheta lächelte hintergründig. Zuvor hatte er ‚einfache Leute’ einen Hauch abfällig betont, doch allen Anwesenden schien weder das merkwürdige Lächeln noch seine Geringschätzung aufgefallen zu sein, mit der Rheta seine Ausdrucksformen erweiterte.
„Eine Frage noch“, meldete sich einer der höherrangigen Priester aus den vorderen Reihen zu Wort, „der Setna sagte voraus, es werde einen Krieg geben! Wäre es nicht besser, unseren Widerstand zu vertagen, bis diese Krise überstanden ist?“
„Damit Raen Shari so lange freie Hand über unsere Armee hat? Nein, um keinen Preis, wer weiß, was er bis dahin noch alles ausheckt! Das können wir nicht verantworten, wir müssen sofort einschreiten!“
Erneut nickten die Priester wie eine riesenhafte Herde einfältiger Esel.
Der junge Novize in der letzten Reihe musste sich Mühe geben, nicht angewidert die Nase zu rümpfen angesichts dieser geballten Gutgläubigkeit. Sein Vater hatte völlig Recht gehabt, den Palansetna war nicht zu trauen! Sie umgaben sich mit ihrer geheimnisvollen Aura und beeindruckten damit die Leute. Mit Sicherheit aber führten sie mehr im Schilde, als sie ihnen allen hier glauben machen wollten. Schon immer hatte der Schwarze Rat, wie die Palansetna auch genannt wurden, unheimlich auf ihn gewirkt. Und Unheimliches planten sie!
Nur würden sie sich dabei selbstverständlich nie selbst die Hände schmutzig machen. Das hatten sie schon damals nicht getan, als sein Großvater, den sie den ‚Freiwilligen’ nannten, für sie alle hatte sterben müssen!
„Ich verlasse mich also auf eure Verschwiegenheit und Unterstützung!“, schallte Rhetas volltönende Stimme vom Altarpodest hinab. „Ich möchte, dass ihr mir jetzt schwört, alles in eurer Kraft stehende zu tun, um die Ordnung wiederherzustellen. Ordnung und Einheit, das ist es, was zählt. Ordnung und Einheit!“
„Wir schwören! Ordnung und Einheit!“, wiederholten alle im Chor.
Alle, bis auf einer, der nur seine Lippen bewegte, nicht aber die Worte sprach.
Danach entließ Rheta die Hyaunset und zog sich mit seinem Schwarzen Rat in das Tenasetna zurück.
Der Novize ärgerte sich, dass er dort nicht hinein durfte, sonst hätte er noch mehr herausfinden können. Doch er wusste auch so schon genug, um sich sicher zu sein, dass er etwas unternehmen musste. Und er wusste auch schon, was. Das Problem dabei war nur, dass er noch nie in seinem Leben gereist war! Er brauchte also mindestens einen Verbündeten, der seinerseits darüber Bescheid wusste, wie man eine lange Stecke zurücklegte und man sich draußen außerhalb des Chors orientierte. Aber auch hierfür hatte er schon eine Lösung. Sein ein Jahr älterer Bruder war ein Krieger, ihm würde er sich anvertrauen.
In der Hoffnung, vielleicht auch bald seinen Vater wiederzusehen, verließ Tor Hyaun Akani Ra Arhad adh Chor Tena-lo-Ghan den Krönungstempel und machte sich auf den Weg zu seinem Bruder.
*
Auch in Shari gab es eine Woche nach der Rückkehr der Gruppe eine Versammlung. Unruhiges Gemurmel erfüllte den Hof des Chorten. Die Gerüchte waren schon überall zu hören, und Verwirrung hatte begonnen sich auszubreiten. Raen wollte und konnte nicht länger mit seiner Verkündung warten, deshalb hatte er den gesamten Clan herbeigerufen.
Dichtgedrängt standen die Leute auf dem Hof und sahen erwartungsvoll zu der Treppe des Tempels hinauf, auf deren Absatz Raen mit Loenka und Arhad stand, das goldene Eingangsportal im Rücken. Der Rest ihrer kleinen Gruppe, zu der sich einstweilen auch Andra und nach einigem Zögern auch Osa, Hanenka, Soema und Suneka gesellt hatten, säumte die Stufen. Den Kriegern wie auch den Priestern Sharis hatte Raen befohlen, im Tempel zu bleiben, damit sich die Leute in der angespannten Atmosphäre durch ihre Präsenz nicht bedroht oder eingeschüchtert fühlten.
Er spürte, dass er nervös war und ging noch einmal in sich, um still Kraft aus der neuen pulsierenden Quelle in seinem Geist zu schöpfen. Er wusste jetzt, dass alles, was er bisher erlebt hatte, alles, was ihm widerfahren war, einen bestimmten Zeck erfüllte! Und dass er diese Erfahrungen nun nutzen musste, um die Aufgabe zu erfüllen, die ihm von den höheren Mächten aufgetragen worden war. Sorgfältig hielt er seine gesammelten Erkenntnisse in seinem Kopf geordnet, so dass er jederzeit darauf Zugriff hatte wie in einer großen Bibliothek. Der Weg, den er hinter sich gebracht hatte, war kurvenreich und voller Hindernisse gewesen. Das letzte Stück aber, das nun noch vor ihm lag, war so gerade und scharf gezogen wie die Klinge seines Schwertes! Und genauso gerade und scharf wie eine Klinge wollte er jetzt auch denken und handeln!
Er räusperte sich, tauschte einen Blick mit seinem Vater und begann seine Rede:
„Seid Willkommen, Leute von Shari! Ich habe euch zusammengerufen, um euch auf das vorzubereiten, was in nicht allzu ferner Zukunft geschehen wird. Ihr müsst stark und tapfer sein, denn es wird nicht nur ein Krieg dieses Land erschüttern“, er legte eine längere Unterbrechung ein, damit die Leute den ersten Schreck verdauen konnten, um den zweiten gleichfalls aufmerksam empfangen zu können. Die Mienen der Menschen verdüsterten sich zusehends, und viele murmelten Gebete. Als die Welle der Beunruhigung aber etwas abflaute, fuhr Raen fort: „Viele Dinge werden sich verändern. Ich werde sie verändern!“ Er wartete wieder die Reaktion ab, doch diese fiel zurückhaltender aus, als er erwartet hatte
‚Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie sich etwaige Veränderungen noch weniger vorstellen können, als den Krieg’, dachte er. ‚Ich muss ihnen wohl etwas genauer erklären, was es mit den beabsichtigten Umgestaltungen auf sich hat, damit sie den Ernst der Lage begreifen.’ Er nahm all seine Entschlossenheit zusammen, um das auszusprechen, was er seit dem Erhalt der Gabe klar und deutlich wusste: „Nach mir wird es keinen Setna mehr geben! Ich werde der letzte sein!“
Der Letzte? Raen sah die Ungläubigkeit an den Gesichtern. Sogar Loenka hob neben ihm überrascht die Augenbrauen, wagte es aber nicht, ihn zu unterbrechen.
„Es ist also die letzte Möglichkeit für uns, etwas Besseres aus diesem Geschenk Hyauns zu machen. Etwas Besseres, als uns hinter hohen Mauern vor der Außenwelt zu verstecken! Damit besiegeln wir nur unseren endgültigen Untergang, denn die Welt draußen schläft nicht. Sie schläft nicht wie wir, sondern entwickelt sich stetig und unaufhaltsam weiter. Und eines Tages werden unsere Mauern kein Hindernis mehr für sie sein!“ Raen rief in sich selbst die Vision wach, die er vor einigen Tagen gehabt hatte: Dicke Mauern, die mit einem einzigen, ohrenbetäubenden Knall zersplitterten und in sich zusammenfielen; lange, seltsame Rohre, aus denen Feuer kam, das auf weite Entfernung Menschen tötete und Schwerter und Lanzen zu nutzlosen Waffen machten! Diese Vision war ihm aus sehr, sehr ferner Zukunft geschickt worden, und es würden vielleicht noch zwei oder drei Jahrhunderte ins Land ziehen, bis das, was er gesehen hatte, wahr werden würde, aber sie mussten jetzt aufwachen, jetzt, um in zweihundert Jahren gewappnet zu sein! Raen sah in die einzelnen Gesichter seines Clans. Er erkannte Henendra, Hereke, das Kindermädchen Lasha, seinen Schwiegervater Radast, Resas Amme Hariu und viele andere in der Menge ... und vor seinem inneren Auge gesellten sich noch weitere Gesichter von Menschen hinzu, die längst nicht mehr unter ihnen waren: Kosam, Alea, Anin der Krieger, der vor seinen Augen an den schweren Verbrennungen gestorben war, Sel, Uma, Baeli und Toruma, der nur getötet wurde, weil er mit ihm zur falschen Zeit unterwegs gewesen war! Für sie alle stand er jetzt hier oben. Raen fühlte, wie ihn plötzlich Liebe zu seinem Volk durchströmte und sich warm in seinem ganzen Körper bis in die Fingerspitzen ausbreitete.
Er würde sie beschützen, er würde sie von ihren Fesseln des Unwissens befreien!
Mit einem Lächeln auf den Lippen sprach er weiter: „Wir müssen aufwachen, der Traum ist zu Ende. Das Volk Hyauns muss lernen, seinen eigenen Weg zu gehen, ohne die Hilfe des Setna. Ihr müsst lernen, eure Entscheidungen selbst zu fällen und sie nicht jemand anderem zu überlassen. Ich weiß, dass das schwer sein wird, aber es ist unumgänglich, damit wir als Volk weiter bestehen können und nicht als Sklaven irgendeines fremden Reiches enden! Nur so haben wir eine Zukunft, und diese können wir von heute an selbst bestimmen! Wenn wir uns auf unsere Tugenden besinnen, wird das Volk Hy ein ehrliches und aufrichtiges bleiben, doch wir dürfen keine Furcht mehr vor fremden Einflüssen haben. Sie werden uns Freundschaft mit den anderen Völkern bringen, und Freundschaft ist ein weitaus festeres Band, das uns mehr Sicherheit bringt als eine Mauer aus Stein! Es wird nicht leicht, das sage ich euch. Der Weg, der uns bevorsteht, hält Entbehrungen und Leid bereit, aber wenn wir ihn mit Zuversicht und festem Glauben beschreiten und die Zeit des Wandels überstehen, werden wir stärker sein als je zuvor. Nur so kann Hy weiterleben!“ Er hob eine Hand. „Aber habt keine Angst, verzagt nicht, denn ich werde euch führen. Vertraut auf die Macht Hyauns, die durch mich fließt. Er ist bei uns, jetzt, morgen und in der Zukunft, auch wenn der Setna nicht mehr ist!“
Nachdem er geendet hatte, herrschte eine Weile erstarrtes Schweigen. Die meisten mussten das, was er soeben gesagt hatte, erst einmal verdauen. Raen ahnte, was für ungeheure Worte das für sie sein mussten, unvorstellbare Worte!
Nach und nach brach erregtes Gemurmel aus, und die Leute sahen einander ungläubig an, als fragten sie sich: Habt ihr das auch gerade gehört?
Erneut wurden Gebete gesprochen, diesmal viel lauter. Und hier und da hörte Raen Rufe wie: „Zaizura wird uns dafür bestrafen! Zaizura wird uns vernichten!“
Ruhig wartete er. Er spürte, was in ihren aufgewühlten Herzen gerade vor sich ging, in welch Verwirrung er sie so unvorbereitet gestoßen hatte. Einige Frauen begannen zu weinen, mit zitternden Armen hoben sie ihm die Hände entgegen. Er war der Setna, er sprach die Wahrheit. Und vor dieser Wahrheit fürchteten sie sich! Es war nun seine Aufgabe, ihnen ein Stück Hoffnung zurückzugeben; eine starke Hand anzubieten, die sie ergreifen konnten, um mit ihrer Hilfe inmitten des heran rollenden Chaos’, das er heraufbeschworen hatte, nicht den festen Boden unter den Füßen zu verlieren.
Einige Leute warfen furchtsame Blicke zu den Wohntürmen und Mauern empor, so als wäre auch die gewohnte Umgebung, die Heimat, bereits im Begriff, sich zu verändern. Doch die weißen Mauern standen unerschütterlich da und ragten wie eh und je in den blauen Morgenhimmel auf, an dem Raen in einiger Entfernung einen Schwarm Krähen kreisen sah. Er wusste nicht, ob sie echt waren oder nur eine Vision, sicher war nur, was sie bedeuteten. Es hatte begonnen und war nicht mehr aufzuhalten!
Er wandte sich den immer aufgebrachteren und durcheinander redenden Menschen zu, doch gerade, als er den Mund öffnen wollte, um ihnen Erlösung von ihren Seelenqualen zu versprechen, stürmte ein Mann aus der Menge hervor und schrie:
„Du Verleumder, du verabscheuungswürdiger Gotteslästerer!“ Es war Hereke. Er lief ein paar Stufen die Treppe hinauf und stieß seine Faust gegen Raen in die Luft. „Du ... du bist ein Betrüger!“ Er wandte sich an die Menschen hinter ihm. „Ich sage euch, er ist nicht der wahre Setna! Er ist ein Lügner! Warum sonst hat er alle Priester und Krieger weggesperrt? Und warum verhüllt er sich nicht, wie der Setna es tun sollte?“ Sein Kopf war hochrot, als er sich wieder zu Raen drehte. Sein Arm wies unverändert auf ihn. „Du bist ein Dämon! Weiche, geh zurück in deine Unterwelt!“ Hereke öffnete seine Faust und warf ihm die getrockneten Blätter des Wermuts entgegen, das Abwehrmittel gegen die Ungeheuer der Unterwelt. Sie rieselten vor Raens Füße auf die Stufen.
Ein Raunen ging durch die Menge, und viele schlugen das Zeichen der drei heiligen Säulen. Man konnte sehen, wie sehr die tugendhaften, aber gebeutelten Einwohner von Shari hin- und hergerissen waren zwischen dem, was Hereke da behauptete und dem, was ihre eigenen Augen sahen. Dort stand ein Mann in der Robe des Setna, ein junger Mann, den sie alle sehr gut kannten, und der keineswegs wie ein Dämon wirkte!
Um ein zusätzliches Wirrnis reicher erwarteten sie nun, was als nächstes geschehen würde.
Der einzige, der wusste, wie man einen Dämon aus seiner Verkleidung lockte, hielt sich indes vornehm im Hintergrund. Vom dritten Stockwerk des Nordturmes aus beobachtete er das Geschehen, er hatte sich nicht wie die anderen in den Tempel verbannen lassen. Seine braunen Augen erfassten jede Bewegung des Setna. Wäre er tatsächlich ein Dämon, so könnte er die Wermutbarriere nicht überschreiten!
Gespannt wartete Resa, was passieren würde. Er war es gewesen, der den Reitmeister dazu angestiftet hatte. Er hatte dessen zerbrochene Freundschaft zu Raen ausgenutzt, um ihn als Werkzeug gegen seinen Bruder zu führen, denn er selbst musste unerkannt bleiben, das befahl ihm die Stimme. Aber er musste auch wissen, ob in Raen ein Dämon wohnte, so wie in Loenka. Er musste wissen, wie stark seine Gegner waren. Loenka hatte sich damals verraten, indem ihn ein wahrer Niesanfall heimgesucht hatte, als Resa ihm heimlich Wermut in sein morgendliches Waschwasser getan hatte. Die Augen des falschen Priesters waren rot angelaufen und sein Gesicht angeschwollen, kaum hatte er noch Luft bekommen und sich immer wieder an den Hals gegriffen, bis ihm schließlich die anderen Priester zu Hilfe geeilt waren und ihm eine Medizin verabreicht hatten. Die Probe war eindeutig gewesen! In Loenka hauste ein Geist der Unterwelt! Und gleich würde sich herausstellen, ob es sich mit Raen genauso verhielt.
‚Wundern würde es mich nicht’, dachte Resa und sah auf seinen verhassten Bruder hinab.
Unten auf dem Treppenabsatz senkte Raen seinen Kopf, sah dabei aber weiter geradeaus und fixierte den Provokateur, der es gewagt hatte, ihn zu beschimpfen. Sein Blick stach in dessen Augen und versuchte, in Herekes Geist einzudringen. Das war nicht so einfach zu bewältigen wie bei den Kriegern, deren Barrieren durch ihr Aun butterweich waren. Es kostete ihn ein übermenschliches Maß an Kraft, Herekes Gegenwehr zu brechen, aber nach dem dritten Anlauf gelang es ihm.
Er spürte den Kontakt zu den widerstrebenden Gedanken seines einstigen besten Freundes und gewahrte dessen Wut und Abscheu! Sie hatten für hyaunische Maßstäbe bereits beachtliche Ausmaße angenommen. Auch Hereke hatte sich bereits verändert, ohne es selbst zu merken.
Raen versandte einen kleinen Impuls, so etwas wie eine kleine innere Ohrfeige, die den Reitmeister wieder zur Vernunft bringen sollte.
Abrupt hielt Hereke im Erklimmen der Stufen inne. Seine Augen verdrehten sich zuckend, und sein Mund blieb offen stehen. Seine Arme sackten nach unten und baumelten kraftlos an seiner Seite. Er sah aus wie ein geistesschwacher Idiot, der gerade einen Anfall erlitt.
Es verbrauchte Raens gesamte Energie, Hereke auf diese Art festzuhalten, und er spürte, wie seine Kräfte schnell schwanden, sie rannen aus ihm heraus, als hätte das Reservoir in seinem Innern ein großes Loch. Er musste den Reitmeister loslassen, sonst würde er selbst schlichtweg ohnmächtig werden und das würde seiner soeben in Frage gestellten Glaubwürdigkeit nicht gerade zuträglich sein. Wie eine unsichtbare Nadel zog Raen seinen Blick aus dem Hirn des Reitmeisters zurück. Hereke erschauerte erneut und blinzelte heftig, bevor wieder Leben in seinen Köper floss.
Zur Überraschung aller - und besonders zu Resas, der von seinen erhöhten Beobachtungsposten aufsprang - trat Raen vor und überschritt die Wermutbarriere!
Er öffnete seine Arme, umfing damit den verdutzten Hereke und drückte den Größeren an sich. Die Stufen erlaubten es, dass ihre Köpfe auf gleicher Höhe waren. Raen legte seine Wange an die des Reitmeisters, so dass sein Aun dessen Schläfe berührte und bewegte die Lippen. Doch nur Hereke konnte hören, was der Setna ihm direkt in sein Ohr flüsterte.
Gebannt blickte die Menge auf die Szene. Was tat der Setna da? Vergab er dem Reitmeister seine unbedachten Anschuldigungen? Oder bestrafte er ihn?
Hereke fuhr mehrmals leicht zusammen, während der Setna mit ihm sprach.
Doch dann entließ Raen ihn vorsichtig aus seiner Umarmung und stieg rückwärts wieder mehrere Stufen hinauf. In seinen Blick hatten sich traurige Schatten gelegt, das leuchtende Grün war eine Nuance dunkler geworden. Er war erschöpft. Mit steifen Beinen gelangte er wieder auf den Absatz, und hob den Menschen seines Clans seine beiden Hände entgegen.
„Geht nun, erfüllt eure Aufgaben und Arbeiten, wie ihr es gewohnt seid, aber bereitet euch in eurem Herzen gut darauf vor: Die Zeit des Wandels ist nicht mehr fern, und dann werdet ihr ein befreites Herz und einen offenen Geist benötigen. Ich segne euch! Ne lotei Na!“
Die Gemeinschaft Sharis verbeugte sich und sprach wie aus einem Munde: „Ima lo Setna! Ima lo Setna!“ Geheiligt sei der Setna!
Dann löste sich die Versammlung langsam auf, und auch Hereke ging schweigend mit seiner Familie davon.
„Ich werde es nicht schaffen, meine Kraft wird nicht reichen“, flüsterte Raen leise mit dem Rücken zum Hof gewandt, „ihre Zweifel sind zu stark!“
Loenka trat an seine Seite. „Oh, doch, du wirst es schaffen, denn du bist der einzige, der es schaffen kann!“ Er wollte Raen unter dem Arm stützen und ihn in den Tempel führen, da hörten sie schnelle leichte Schritte die Treppe hinauffliegen.
„Vater!“, rief eine helle fröhliche Stimme. „Vater!“
Es versetzte Raen einen Stich, dennoch drehte er sich um und bemühte sich um ein unbeschwertes Lächeln.
„Sosa!“, sagte er und fing das kleine, auf ihn zustürmende Mädchen in seinen Armen auf.
„Oh, Sosama! Ich habe dir doch gesagt, dass du bei Großmutter bleiben sollst!“, hörte Raen, wie Suneka ihre Tochter streng zurecht rief. Doch Sosa beachtete den Tadel ihrer Mutter nicht. „Du bist wieder da!“, sagte sie ehrfürchtig und glücklich zugleich und legte ihren Kopf an seine Brust.
Raen war in die Hocke gegangen, und sein schwarzer Umhang umfing ihn und seine Tochter wie ein schützender Schatten. Er fühlte, wie Sosama sich an ihn klammerte, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. Gerührt drückte er ihr einen Kuss auf das weiche, dunkle Haar ihres Scheitels.
„Ja, ich bin wieder da“, raunte er ihr zu. „Ich bin wieder ... zu Hause.“ Ein Kloß bildete sich in seiner Kehle. Zu Hause! Diese Worte auszusprechen, fiel ihm noch immer sehr schwer.
„Warum hatten die Leute denn eben so große Angst vor dir?“, fragte Sosama unbedarft. Sie rieb sich eines ihrer grünen Augen und sah ihren Vater offen an.
„Sie hatten keine Angst vor mir.“ Raen lachte leise.
„Wovor denn dann?“
„Sosama, bitte, du sollst nicht immer solch dumme Fragen stellen!“, fuhr Suneka ungeduldig dazwischen, doch Raen sagte ihr mit einem kurzen Blick, dass es in Ordnung war.
„Sie haben Angst vor dem, was ich ihnen gesagt habe. Hast du mitbekommen, was es war?“
Sosama nickte. „Du hast ihnen gesagt, dass sich etwas verändern wird.“
„Siehst du, und das ist es, wovor sie Angst haben, vor der Veränderung.“ Er schaute seiner Tochter ins Gesicht. Und obwohl sie erst vier Jahre alt war, meinte er zu erkennen, dass sie alles begriffen hatte, denn wissend und scheinbar furchtlos blickte Sosama zurück. ‚Du hast mein Blut in dir, mein unheilvolles Erbe, das dir jetzt zu gute kommen wird’, dachte er und strich ihr neckend über die Wange. Zum ersten Mal in seinem Leben war er erleichtert, seinen Makel an seine Kinder weitergegeben zu haben. Er würde ihnen helfen, die neue Zeit mit weniger Bedenken zu begrüßen. „Versprichst du mir etwas, Sosa?“, flüsterte er ihr verschwörerisch zu.
„Ja, Vater.“ Es klang ganz eifrig.
„Aber es ist ein Geheimnis, du musst es für dich behalten.“
Sosama nickte und blickte ihn gespannt an.
„Versprich mir, dass du niemals aufhören wirst, dumme Fragen zu stellen. Sei stets neugierig und frage dich immer, was hinter den Bergen ist.“
„Aber Mutter ...“
„Schhht, Mutter versteht das noch nicht, aber sie wird es bald. Du kannst ihr dabei helfen.“
„Ich verspreche es dir“, wisperte Sosama ernst.
„Gut, mein kleiner Spatz. Ich bin stolz auf dich, dass du so tapfer bist“, lobte Raen seine Tochter, und auf dem Gesicht des Mädchens breitete sich unmittelbar ein strahlendes Lächeln aus.
„Und ich bin auch stolz auf dich, dass du der Setna bist!“ Sie ließ von ihm ab, und nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, blickte sie bewundernd zu ihm auf.
‚Setna’, wiederholte Raen gedankenvoll seinen neuen, vielbedeutenden Titel. Im Laufe seines jungen Lebens hatte er allerhand Namen erhalten, und er fragte sich, mit welchem er den Leuten in Erinnerung bleiben würde, wenn er eines Tages nicht mehr war.
Voll giftigen Abscheus stieß Resa sich vom Fensterbrett ab. Er ertrug das glückliche Gesicht Sunekas nicht und auch nicht die Gefühlsduselei um die Tochter. Zum Würgen! Ruckartig schloss er das Fenster. Durch die Schlieren der Glaskaros sah er den Hof nur noch verschwommen.
‚Schon viel besser!’, dachte er schlecht gelaunt und stapfte aus dem Zimmer, bevor noch jemand merkte, dass er nicht da war, wo er eigentlich sein sollte!
Auf dem Weg in den Tempel ging Resa in Gedanken noch einmal durch, was er gesehen hatte. Raen hatte die Probe bestanden, er war kein Dämon, nur ein Mensch. Aber ein Mensch, der die Kräfte der Gabe besaß, und das war ebenfalls nicht zu unterschätzen. Er verzog mürrisch den Mund. Seine Gegner waren stark, und es würde nicht leicht werden, sie zu bezwingen. Aber es würde ihm schon gelingen, denn er hatte eine weit größere Macht in seinem Rücken als sie!
Unten vor dem Eingang des Tempels ergriff Suneka die Hand ihrer Tochter. Ihre Augen fragen ihren Ehemann, wann er wieder zu ihr kommen würde.
Raen erwiderte ihren Blick. Auch er sehnte sich nach vertrauter Nähe, aber er wusste, dass es nicht ging. Es wäre den anderen der Gruppe gegenüber nicht gerecht, die sich streng von ihren Familien fern hielten. Er musste vorerst bei ihnen im Tempel bleiben, denn dort hatten sie Quartier bezogen, um zu demonstrieren, wie ernst es ihnen mit dem war, was der Setna gesagt hatte. Wenn er jetzt in den Schoß seiner Familie zurückkehrte, würde das ein falsches Signal für alle setzen.
„Es tut mir leid, Suneka, es muss warten“, entschuldigte er sich und hob eine Hand. Doch unschlüssig verharrte sie in Brusthöhe zwischen ihm und seiner Frau. Im Hintergrund sah Raen unten an der Treppe Radast und die vom Schmerz der Gicht gebeugte Shani mit seinem Sohn Roakyn stehen, der schon laufen und einige Worte sprechen konnte. Ihre Mienen waren ausdruckslos, nur Roakyn zerrte an der Hand seines Großvaters und wollte hinauf zu seiner Mutter, seiner Schwester und dem Mann, den er nicht kannte.
Raens Finger zuckten, dann fuhr seine Hand aus ihrer Starre und legte sich sachte an Sunekas Wange. Ihre Blicke trafen sich und hielten stumme Zwiesprache. Sunekas Lippen bebten, doch dann nickte sie kaum merklich und blickte zu Sosama hinab.
„Komm, dein Vater braucht Ruhe. Wir müssen warten. Später wird er Zeit für uns haben.“
Nach einem letzten Blick in Raens Gesicht wandte sie sich um und stieg die Treppe zu ihren Eltern hinab.
Gleichzeitig machte auch der Setna mit einer heftigen Bewegung kehrt und ging festen Schrittes in den Tempel zurück, wo die Gruppe der Gleichgesinnten bereits auf ihn wartete.
In dieser Nacht bekam Raen Besuch von Al Nor, und der hielt eine Überraschung für ihn bereit.
„Oh, du bist endlich ganz ein Mensch!“, rief Raen erstaunt aus.
„Ja, sieht gut aus, nicht?“ Al Nor strich sich mit beiden Händen über seine Brust. „Der Körper gefällt mir, auch wenn er vielleicht etwas hager ist.“
Raen betrachtete die neue Statur seines Freundes. Hager war er wirklich, und nicht besonders groß. Al Nor trug ein hauchdünnes golddurchwirktes Gewand, genau wie die Statue von Hyaun. Sein Kopf war kahl und mit dem nun vollkommenen menschlichen Körper wirkte er wesentlich älter als vorher.
„Tja, vielleicht bin ich auch älter geworden“, sagte Al Nor, der Raens Gedanken gelesen hatte, „aber es wird ja auch langsam Zeit.“
Raen nickte.
„Aber eigentlich bin ich nicht gekommen, um dir meine neue Erscheinung zu zeigen, sondern, um dich zu loben.“
Raens Augen weiteten sich, und Al Nor lächelte.
„Das, was du heute getan hast, war sehr mutig und richtig, es war der erste Schritt.“
„Der erste Schritt in eine neue Zeit?“, fragte Raen sorgenvoll.
„Wenn du willst, dass es so ist, wird es auch so sein!“
„Aber weiß ich denn, was ich wirklich will?“
Al Nors freundliches Lachen ertönte. „Natürlich weißt du das!“
‚Natürlich’, dachte Raen. ‚Natürlich.’
„Kopf hoch, mein junger Freund. Es wird dir gelingen. Ich muss jetzt leider gehen. Meine Aufgabe hier bei dir ist nun beinahe beendet.“
„Du musst fort? Aber du kannst mich doch nicht ausgerechnet jetzt allein lassen!“, brachte Raen aufgebracht hervor. „Ich brauche dich doch. Was ist, wenn Zaizura mich daran hindert, das zu tun, was ich vorhabe? Sie ist stark, und nur du weißt, wie man gegen sie kämpft.“
„Sei unbesorgt, Raen, du besitzt nun mehr Macht, als du dir je hättest erträumen können. Du wirst wissen, wie du sie einzusetzen hast. Und wenn alles zum Ende kommt, werden wir uns noch einmal wiedersehen. Dann werden die Pforten der Ewigkeit sich für dich öffnen und du wirst wählen können. Und nun gehab dich wohl. Viel Glück, junger Krieger, Sohn des Lichts. Viel Glück!“ Mit diesen Worten schwebte Al Nor davon. Immer weiter hinauf in den grellen Himmel und immer weiter fort.
Traurig schaute Raen ihm hinterher, bis ihm die geblendeten Augen wehtaten.
Was mochte Al Nor nur damit gemeint haben, als er sagte, dass sich ihm die Pforten der Ewigkeit öffnen würden, und er dann wählen könnte?
Es war Neumond, die Mitte des Frühlingsmonates, und nur wenige Tage waren seit der großen Versammlung vergagen, als unerwartet zwei junge Reiter durch das Tor des Shari-Chorten geprescht kamen. Ihre Kleidung war arg verschmutzt, und sie machten einen gehetzten Eindruck. Außerdem war es sehr verwunderlich, dass zwei so junge Burschen allein unterwegs waren und offensichtlich eine weite Reise hinter sich hatten. Einer von ihnen trug das schwarze Gewand der Krieger und der andere das gelbe der Priester. Das merkwürdige Duo zügelte die Pferde auf dem rutschigen Pflaster. Der junge Krieger sprang behände aus dem Sattel, fing das Tier seines Begleiters am Zaum ein und half dem Novizen ebenfalls abzusteigen, der augenscheinlich noch nicht oft auf einem Pferd gesessen hatte.
Die Torwachen eilten sich, nach ihrem Anliegen zu fragen, natürlich nicht ohne den einen oder anderen interessierten Blick.
„Zum Setna!“, antworteten die beiden Burschen, die nicht viel älter als vierzehn sein konnten. Auch ihre Gesichter waren nicht mehr ganz sauber und leuchteten rot vor Erregung.
Skeptisch betrachteten die Torwächter die Jungen.
„Bitte, es ist sehr dringend. Es gibt Neuigkeiten aus Tena-lo-Ghan“, erklärte der Novize, dessen Haar dringend mal wieder eine Schur gebrauchen könnte, während der junge Banskeid, der noch nicht einmal ein eigenes Schwert besaß, ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat.
„Eure Namen?“, fragte der befehlsberechtigte der drei Wächter streng.
„Ich bin Tor Hyaun Akani und das ist mein Bruder Tor Ban Anchol Ra Arhad adh Chor Tena-lo-Ghan.“
„Ist euer Vater etwa Arhad, der Sohn des Freiwilligen?“
„Ja, das ist er.“
„Kommt mit!“
Die beiden Jungen warfen sich einen erleichterten Blick zu und folgten den fremden Kriegern in den Tempel.
Als sie vor den Setna geführt wurden, senkten sie demütig ihre Köpfe.
Raen saß gerade beim Mittagsmahl zusammen mit den anderen und blickte verwundert auf die beiden abgerissenen Jungen.
Noch im selben Augenblick erkannte Arhad seine Sprösslinge und sprang auf.
„Anchol! Akani! Was macht ihr denn hier? Seid ihr etwa alleine gereist?“ Er wandte sich an Raen. „Entschuldige bitte, Setna, aber das sind meine beiden Söhne.“
Die jungen Burschen verneigten sich höflich und folgten dann der Aufforderung Raens, sich zu setzen und mit der Gruppe zu essen.
„Nein, d-danke. Zu-zuerst müssen wir m-mit Euch reden, ehrwürdiger Setna! Es ist wichtig.“
„Was gibt es denn?“ Raen stellte seine Schale mit dem Eintopf zur Seite und sah den Tor Hyaun an, der sich vor Aufregung unbeholfen verhaspelte. „Sprich.“
Der Novize schaute nervös in die Runde, und sofort verstand Raen seine Sorge.
„Allen, die hier sitzen, kannst du vertrauen, Tor Hyaun Akani. Erzähle uns, was dich die weite Reise hierher zu uns hat machen lassen.“
„Die Palansetna planen, allen Kriegern ihr Aun abzunehmen, damit Ihr ihnen nichts mehr befehlen könnt! Und sie rufen alle Priester des Landes zu sich nach Tena-lo-Ghan, um Euch die Gabe wegzunehmen!“, platzte eine wahre Flut von Worten aus Akani heraus, und dann wiederholte er getreulich, was er Rheta hatte sagen hören.
Noch während der Junge erzählte, bemerkte Raen, wie Loenka sich alarmiert aufrichtete. Ja, sie hätten die Palansetna in ihre Gewalt bringen und sie mit sich nehmen sollen. Er sah, dass der Priester das Gleiche dachte. Den Einfluss der schwarzen Priesterschaft hatten sie gründlich unterschätzt.
„Sie wollen allen Kriegern das Aun abnehmen?“, rief Manoen aufgebracht, als Akani seinen Bericht beendet hatte. „Haben sie den Verstand verloren? Es wird Krieg geben. Wie soll denn der Setna ohne das Aun die Krieger ins Gefecht führen? Diavolo, die stürzen uns noch alle ins Unglück! Diese verdammten Dottersäcke!“
Loenka hob eine Hand, um den hitzig schimpfenden Rotschopf zum Schweigen zu bringen. Manoen blitzte den Priester an und schloss beleidigt den Mund.
„Wie lange ist die Rede Rhetas her?“, fragte Raen den jungen Boten schließlich besorgt.
„Wir waren sieben Tage unterwegs. Es ist also acht Tage her.“
„Und zum Vollmond des Saatmonats wollen sie die Zeremonien stattfinden lassen?“
„Ja.“
„Das ist in zwei Wochen“, grübelte Raen laut. „Was können wir tun? Sollen wir unsererseits Boten ausschicken, welche die Boten der Palansetna abfangen?“
„Nein, ich weiß, was zu tun ist!“, sagte Loenka ernst. „Aber das wird uns gleichfalls einen großen Vorteil kosten, wenn es zum Krieg kommt. Wir müssen es abwägen.“
„Von welchem Vorteil sprichst du?“, wollte Raen wissen.
„Vom Zhangha. Du musst den Kriegern befehlen, das Zhangha fortzuwerfen, sie dürfen es nicht mehr essen.“
„Wieso das Zhangha, was ...?“ Raen dämmerte es. „Loenka, sag es, ich will es von dir hören!“, verlangte er.
Der Hyaunset suer, der selbst ein Aun trug, rieb sich die Schläfe und begann dann schließlich sichtlich zerknirscht das bedeutendste Geheimnis der Priester zu verraten. „Mit dem Zhangha, das zusammen mit dem Rauch des Melams eine bestimme Wirkung auf den Geist eines Menschen hat, verschaffen wir uns Zugang zum Willen der Krieger. Wir bringen sie in einen Zustand, in dem ihr Geist bereit ist, unsere Befehle zu empfangen. Später führen die Krieger diese dann aus, ohne dass es ihnen bewusst ist.“
„Und was sind das für Befehle?“
Loenka räusperte sich. Sein Gesicht wirkte mit einem Mal sehr alt. Doch Raen blieb unnachgiebig. „Ich will es wissen!“ Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie Manoen mit bitterer Zufriedenheit lächelte.
„Sag es uns!“, drängte Raen ungehalten. „Jeder hier in dieser Runde soll es hören, auch die beiden Burschen.“ Die Hände auf seinen Oberschenkeln ballten sich zu Fäusten. Kaum konnte er seine Wut noch unterdrücken. Doch sein heftiges Empfinden richtete sich nicht gegen Loenka, der nur seine ihm zugewiesene Aufgabe erfüllt hatte, sondern gegen das ganzheitliche Flechtwerk der Priesterschaft, mit dem das gesamte Volk manipuliert worden war.
Loenka fuhr mit bebender Stimme fort: „Wir haben den Kriegern befohlen, alles, was fremd und feindlich ist, zu vernichten und zu töten - ausnahmslos. Wir haben ihnen eingeredet, es sei eine große Ehre, wenn sie ihr Leben für das Wohl der Gemeinschaft opferten. Ihnen wurde beigebracht, Schmerz und Entbehrung zu ertragen, allem voran aber das Unaussprechliche in sich aufzunehmen und nicht wieder freizugeben, damit es die Seelen der Unwissenden nicht beschmutzen konnte. Die Krieger sind die Gefäße der schlechten Erinnerungen und Erfahrungen des Volkes, und wir, die Priester, haben sie zum Schweigen und stillen Leiden verurteilt und versiegelt. Denn was macht es schon, wenn viele Tausende glücklich sind, und dafür nur einige wenige stellvertretend Qualen erleiden müssen? Das ist der Preis. Der Preis für ein glückliches Dasein.“ Der Oberpriester senkte beschämt den Kopf. Er kämpfte deutlich für alle erkennbar mit seiner Fassung. „Das Zhangha ist unser Werkzeug, mit ihm können wir die Banskeid willfährig halten, damit sie für uns die Kriege führen.“ Er schluckte hart. „Raen, ... ich ... ich wollte es dir immer sagen, weil kein anderer als du mehr Anrecht darauf gehabt hätte, aber ich hatte keinen Mut dazu. Verzeih mir. Verzeih mir, bitte ...“ Loenka warf seinem ehemaligen Schützling einen flehenden Blick zu und sank dann niedergeschlagen in sich zusammen. Von einem Augenblick zum nächsten schien der Hyaunset suer, den Raen seit seiner Kindheit für dessen Gelehrtheit bewundert hatte, all seine Willenskraft und Selbstachtung verloren zu haben.
‚Nein’, dachte er, ‚das können wir jetzt nicht gebrauchen. Wir müssen Stärke zeigen. Wir müssen stark sein! Auch wenn die Priesterkaste ein Geflecht aus Lügen erschaffen hat, um damit willentlich das Volk in einem seligen Schlaf zu halten!’ Raen spürte ganz deutlich, dass Hyaun keine Lüge war. Hyaun war wirklich! Die Priester hatten Ihn nur für ihre Zwecke missbraucht. Und Zaizura war der Gegenpol, den sie heiligten und predigten; das Schreckgespenst, das stets Angst und Ehrfurcht einflößen sollte! Aber aus diesen beiden Polen konnte man auch eine Essenz gewinnen, nämlich die reinste und ursprünglichste Form des Glaubens, die keinerlei Regeln und Gesetze verlangte: Die Wahrheit vom Guten und dem Bösen, die in jedem Menschen steckte wie ein unzertrennbarer Zwillingsgeist. Raen konnte sie spüren, wenn er ganz tief in sein Herz hineinhorchte. Ob die anderen das allerdings auch vermochten, bezweifelte er. Noch schien es ihnen nicht möglich, die Wahrheit in sich selbst zu finden. Und deshalb war es seine Aufgabe, sie dorthin zu geleiten.
„Loenka, die Schuld liegt nicht bei dir“, erklärte er und sah den Freund an. „Du gehorchtest nur den Regeln, die dir - uns allen - seit jeher selbstverständliches und unanzweifelbares Gesetz waren. Ich will dir stattdessen dafür danken, dass du dich entschieden hast, dich davon zu befreien, um den anderen Schlafenden die Wahrheit zu bringen. Du bist erwacht und siehst jetzt mit offenen Augen! Dein Beispiel soll den dir Nachfolgenden ein leitendes Licht für ihr künftiges Handeln sein. Ohne dich - und natürlich auch ohne euch, Manoen, Taghat, Uke, Vater, Kaera - wäre ich noch immer in den Händen der Palansetna und nichts würde sich verändern. Ich danke euch!“ Er blickte in die gerührt schweigende Runde. Selbst aus Manoens Gesicht war der unverhohlene Triumph gewichen, den er soeben noch über den Priester empfunden hatte, weil dieser sein unangenehmes Geheimnis hatte lüften müssen.
Nur die beiden Burschen, Akani und Anchol, zeigten keinerlei Befangenheit. Erwartungsvoll warteten sie darauf, dass der Setna auch etwas zu ihnen sagte.
Raen lächelte sie an. Es war ihre Zukunft, die er in neue Bahnen zu lenken gedachte. In ihr würden nicht nur Hys Krieger- und Priesterschaft zu einer anderen, neuen Zusammengehörigkeit finden müssen, zu einem vollkommen neuen Selbstverständnis ihrer Rollen, allen würde die Möglichkeit gegeben werden, selbst zu wählen, und das immer und immer wieder. Doch bis dahin lag noch ein sehr steiles und steiniges Stück Weg vor ihnen, und er würde jede Hilfe benötigen, die sich ihm bot.
„Ich danke auch euch für euren mutigen Einsatz“, sagte er freundlich zu den beiden, „das war nicht selbstverständlich. Wollt ihr euch unserer Gruppe anschließen?“
Die Söhne Arhads sahen einander an.
„Aber ich warne euch“, fuhr Raen mit erhobenem Zeigefinger fort, „es ist kein Leichtes, das habt ihr soeben am Beispiele Loenkas sehen können. Wir haben uns versprochen, dass keine Frage zwischen uns mehr unbeantwortet bleiben soll. Nun?“ Raen schaute den Jungen ins Gesicht.
Die beiden blickten vom Setna sehnsüchtig zu ihrem Vater.
„Dürfen wir, Vater?“, fragten sie. „Du hast uns immer gesagt, dass der freie Wille, der freie Entschluss, etwas sehr Wichtiges ist.“
„Ja, das habe ich. Und das hat auch mein Vater mir damals mit auf den Weg gegeben, bevor er der Freiwillige wurde“, entgegnete Arhad und sah traurigen Blickes auf seine Jungen. „Ich bin froh, dass ihr hier seid“, sagte er und nickte dann.
Daraufhin hob Raen sein Kinn und sprach: „So gelobet dem Kreise des ‚Freien Geistes’, stets mit ungetrübten Blick die Wahrheit zu sehen und andere die Wahrheit sehen zu lassen.“
„Wir geloben“, schworen die beiden Burschen feierlich.
„Nun denn, seid willkommen im Kreise der Tonan - der Freien. Und jetzt setzt euch zu uns und esst etwas.“
Akani und Anchol strahlten über das ganze Gesicht. „Danke, ehrwürdiger S-“
Raen blickte sie scharf an. „Das ‚ehrwürdiger’ könnt ihr künftig weglassen. Nennt mich Raen oder meinethalben schlicht Setna, wenn ihr es euch nicht verkneifen könnt. Aber in der Gruppe der Freien soll ein jeder nur mit seinem Vornamen genannt werden.“
„Ist gut.“ Die Jungen setzten sich und ließen sich Schüsseln mit Eintopf reichen. Dann aßen sie hungrig; hatten sie sich die letzten Tage doch nur von ihrem spärlichen Reiseproviant ernährt.
Später saßen Raen und Loenka allein in einem der kleinen Nebenräume des Oberen Heiligtums und unterhielten sich. Loenka hatte sich von seinem schamvollen Geständnis erholt und strahlte wieder die altbekannte Abgeklärtheit aus, die ihm anhaftete wie ewig leuchtender Firn auf einem sehr alten, sehr ehrwürdigen Berggipfel. Raen hatte den priesterlichen Freund um Rat gebeten, denn ihr nächster Schritt wollte sorgfältig durchdacht sein.
„Wenn ich den Kriegern nun also befehle, das Zhangha nicht mehr zu essen, dann haben die Priester keinen Einfluss mehr auf sie?“, fasste er zusammen.
„Ja, aber dafür werden sie Schmerzen empfinden und sich an alles erinnern, was im Kampf geschehen ist. Und sie werden langsamer sein.“
„Können sie trotzdem noch das ‚Atemgetragen’ erreichen?“
Loenka nickte.
„Dann werden sie noch immer schnell genug sein“, stellte Raen fest. „Ich habe schon seit Jahren kein Zhangha mehr genommen, bevor ich in einen Kampf ging. Und ich habe sie alle bestanden.“
„Sie werden mehr Mut aufbringen müssen, da das neue Schmerzempfinden sie zaghaft machen wird“, merkte Loenka an.
„Das glaube ich kaum, denn ohne die Nebel des Zhangha-Rausches wird ihnen das erste Mal besonders deutlich bewusst sein, wofür sie kämpfen. Sie werden nicht bloß dem Befehl irgendeines Anführers folgen, sondern ihrem Instinkt, das zu beschützen, was sie lieben. Das wird ein weit größerer Ansporn sein als zuvor und sie zu nicht minder gefürchteten Kriegern machen.“ Raen lächelte Loenka an. „Jetzt, da ich die Wahrheit über das Zhangha kenne, bin ich sicher, dass wir es nicht mehr brauchen.“ Er griff nach seinem Zhangha-Beutel, nahm die vier Erinnerungstücke heraus, die er noch immer darin verwahrte, und drehte ihn dann mit der Öffnung nach unten. Leise prasselten die kleinen Kügelchen vor ihm auf die Strohmatte. Einen Moment sah er auf die gepressten dunklen Körnchen und wischte sie dann mit der Rechten auseinander, während er die Linke offen ausgestreckt hielt, so dass Loenka den Fuchszahn, den Kristall, das Schneckenhaus und die Löwenkralle sehen konnte.
„Das ist es, was in Zukunft zählt: Nicht die berauschende Wirkung eines Krautes oder die mahnenden Worte der Priester, um so mehr dafür aber das Wissen, dass da jemand ist, der mich liebt, den ich liebe und für den ich meine Waffen erhebe und in den Kampf ziehe!“ Raen schloss die Faust um die vier Andenken an Freundschaft, Aufopferung und Zuneigung, aber auch an die Umkehr aller Gefühle in das Gegenteil und biss sich auf die Unterlippe, weil sein Herz ihm vor Kummer um die verlorene Liebe zu Keï zu zerspringen drohte. Schnell tat er die Stücke zurück in seinen Beutel und befestigte ihn wieder an seinem Gürtel. Loenka folgte jeder seiner Bewegungen mit den Augen. Die in sich gekehrte Ruhe des Oberpriesters verriet Raen, dass er ihn verstanden hatte.
„Nachdem ich den Kriegern befohlen habe, das Zhangha künftig zu verschmähen, werde ich mich darauf vorbereiten, nach Tena-lo-Ghan zu reisen“, sagte er leise. „Ich muss die Palansetna zur Vernunft bringen, bevor sie auf weitere dumme Gedanken kommen.“
„Sie sind gefährlich“, warnte Loenka.
„Nicht gefährlicher als die Gegner, die ich bereits bezwungen habe.“
„Aber sie haben besondere Fähigkeiten und Mittel ...“
„Es wird ihnen nicht gelingen, Macht über mich zu erlangen, das versichere ich dir, Loenka“, entgegnete Raen unbekümmert. „Ich brauche nur dreißig Krieger, denen ich unbedingt vertrauen kann.“
„Willst du die Palansetna töten?“
„Nein, aber wenn ich Gewalt anwenden muss, dann werde ich es tun. Doch vorerst will ich versuchen, die Angelegenheit auf friedlichem Wege zu lösen. Wirst du mir die Männer aussuchen?“
„Ich werde dreißig Banskeid für dich bereithalten. Wer sonst soll dich noch begleiten?“
„Nur Manoen und die beiden Jungen. Ihr anderen werdet hierbleiben und die Tonan weiter voranbringen, und du wirst sie anführen.“
Raen sah leichte Enttäuschung über das Gesicht des Priesters huschen. Er hatte wohl gehofft, ihn ebenfalls begleiten zu dürfen. Raen legte ihm eine Hand auf den Unterarm.
„Jemand muss hier in Shari die Dinge anpacken. Und du bist der mit den besten Eigenschaften dafür.“
Loenka nickte und fragte: „Wie willst du gegen die Palansetna vorgehen?“
„Das weiß ich noch nicht. Ich werde es sehen, wenn ich dort bin. Auf jeden Fall gedenke ich, die Versammlung der Priester auszunutzen. Ach, und Loenka, bis zu meiner Abreise möchte ich, dass man mir ein leuchtend rotes Futter in den Umhang näht. Bitte kümmere dich darum, ja?“ Raen nahm sich den Umhang von den Schultern und reichte ihn dem Oberpriester, der ihn kommentarlos entgegennahm.
„Und veranlasse bitte, dass alle jungen Tor Ban, die kurz vor ihrem Dritten Grad stehen, während meiner Abwesenheit ihr Al Hyaun und ihre Schwerter bekommen.“
„Darunter ist auch dein Bruder, Resa.“
„Ja, und?“
Loenka zögerte. „Nichts. Du hast Recht, er ist soweit. Benötigst du sonst noch etwas?“ „Schicke nun Manoen zu mir, ich will mit ihm besprechen, was weiter geschehen soll.“
„Gut.“ Der Priester verabschiedete sich und zog sich zurück.
In seine Gedanken vertieft wartete Raen auf Manoen. Warum nur hatte er ein schlechtes Gefühl verspürt, als Loenka von seinem Bruder gesprochen hatte? Warum hatte er bei seiner Antwort gezögert? Der Traum, in dem Resa ihm als Bestie mit Menschenkopf erschienen war, kam ihm wieder in den Sinn. Er hätte Loenka vehementer ausquetschen sollen, der Priester verheimlichte ihm noch immer etwas. Er würde später noch einmal mit ihm reden.
Es klopfte, und kurz darauf erschien Manoens kurzgeschorener Rotschopf im Türspalt. Raen lächelte und wies seinen Freund an, hereinzukommen.
Nach dem ausgegebenen Zhangha-Verbot ließ Raen die zwei Wochen bis zum Vollmond ungerührt verstreichen und auch die Woche danach. Die Priesterkaste Hys sollte genug Zeit haben, sich in Tena-lo-Ghan zusammenzufinden.
Erst kurz vor Ende des Saatmondes machte er sich auf den Weg zur heiligen Hauptstadt, zusammen mit Manoen, Anchol, Akani und dreißig Kriegern aus Shari, unter denen sich auch der alte Schwertmeister Kensa befand.
Da die Schmelzwasser aus dem Junghal den Resch mittlerweile in einen reißenden, weißschäumenden Strom verwandelt hatten, nahmen sie den Landweg und damit vier Reisetage mehr in Kauf. Raen war ganz froh darüber, denn er befürchtete, dass ihn selbst auf dem Fluss die Seekrankheit heimgesucht hätte.
So schlängelte sich der kleine Zug der Krieger durch den frühlingsfrischen Wald in Richtung Norden. Manoen, der den Auftrag hatte, immer nahe bei Raen zu sein, ritt neben seinem Freund, der eingehüllt in seinen schwarzen Umhang auf seinem Rappen saß und sehr in sich zurückgezogen war, denn er sann bereits über das nach, was sie in Tena-lo-Ghan erwartete. Die Palansetna waren schwer zu berechnende Gegner. Nicht einmal Loenka in seiner Funktion als Oberpriester hatte genaueres über den geheimnisvollen Schwarzen Rat des Setna gewusst. Seit jeher waren sie in der Nähe des Prinzen von Hy, um ihn zu unterstützen und zu umsorgen. Eine Tradition - das hatten sie die Leute zumindest immer glauben lassen. Aber dem war ganz und gar nicht so, wie sie durch Arhad vor kurzem in Erfahrung gebracht hatten. All die Jahrhunderte über hatten die schwarzen Priester den Senta mit Hilfe ihrer Drogen und Zaubereien kontrolliert und ihn als Leitfigur und Befehlsgeber benutzt.
Eine schöne Tradition!, dachte Raen spöttisch. Wahrscheinlich aber, so fürchtete er, waren die Palansetna auch noch zu viel mehr fähig. Es konnte durchaus sein, dass auch sie Waffen besaßen und sie beherrschten. Sie mussten also auf der Hut sein. Raen blickte neben sich zu Manoen. Er wusste, dass die Palansetna für seinen Freund den schlimmsten klerikalen Abschaum verkörperten, der je über das Antlitz dieser Welt gekrochen war. Und der Rotschopf hatte ihm selbst gestanden, dass es ihm eine lang ersehnte Genugtuung sein würde, diese Pest mit seiner Faust eigenhändig zu zermalmen.
Raen schmunzelte und blickte wieder nach vorn auf den Weg, der sich wie ein braunes Band durch die unergründlichen Weiten der hyaunischen Wälder schlängelte.
Das Wetter blieb sonnig und begünstigte das Vorankommen der Reisenden. Und nach sieben Tagen durchritten sie erneut das Tor des gewaltigen Chorten von Tena-lo-Ghan. Die Begrüßung war verhalten, nur einige Krieger kamen und nahmen die Pferde der unerwarteten Gäste in Empfang, sonst war kaum ein Mensch zu sehen.
Raen stieg ab und ließ seinen Blick über die Fassaden der Gebäude schweifen. Eine seltsame Ruhe hing zwischen den Wohntürmen der Festung und dem Tempel, obwohl der, wie er mutmaßte, zum Bersten gefüllt war mit dem gelbgewandeten Widerstand. Hier und da konnte er den hellen Fleck eines Gesichtes hinter den geschlossenen Fenstern ausmachen. Man beobachtete sie. Doch die wahre Gefahr befand sich nicht im Tempel, sondern hockte hinter den dicken Mauern des Tenasetna rechts daneben und brütete über neuen Plänen. Mit Sicherheit war der Schwarze Rat derweil schon darüber informiert worden, dass der Setna eingetroffen war.
Raen wandte sich dem schwarz verputzten Gebäude zu, um dessen Dachgeschoß ein goldenes Zierband verlief. Es glänzte matt im Licht der sinkenden Sonne. Manoen hielt sich direkt in seinem Rücken, und wieder hinter ihm standen die dreißig Krieger aus Shari. Es dauerte nicht lange, und die Tür des Tenasetna öffnete sich langsam.
Raen spürte plötzlich, wie erschöpft er von der Reise war. Lieber hätte er sich und seiner Gruppe etwas Erholung gegönnt, bevor es zum Kampf kam, aber es hatte keinen Sinn, noch länger zu warten und den Palansetna damit Zeit zu geben, sich auf die Situation einzustellen. Bestimmt hatten sie als allerletztes in Betracht gezogen, dass Raen direkt zu ihnen kommen würde, und waren jetzt einigermaßen überrascht.
Tief atmete er noch einmal durch und sammelte all seine Kräfte für die kommende Konfrontation.
Die Türflügel des Tenasetna schwangen ganz auf, und fünf Männer in schwarzen Roben traten heraus.
„Der vorderste mit dem scharfkantigen Gesicht ist Rheta“, flüsterte Akani von hinten.
Raen nickte kaum merklich und heftete seine Augen auf den Wortführer des Schwarzen Rates. Er kannte ihn längst. Vor sieben Jahren hatte er ihm schon einmal gegenübergestanden.
Rheta blieb an der obersten Stufe stehen und sah auf die kleine Versammlung herab. Ein verächtliches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Er wusste, dass er den Setna nicht mit falscher Freundlichkeit zu täuschen brauchte. Doch plötzlich verhärtete sich sein Blick, und sein Finger schoss aus den dunklen Falten seines Gewandes hervor und deutete auf den jungen Novizen neben Raen.
„Du bist ein Verräter, Akani, Sohn von Arhad! Ein mieser kleiner Abtrünniger! Du hast unsere Pläne verraten“, spuckte Rheta dem Burschen förmlich entgegen. Dabei konnte man sehen, dass seine Mundhöhle schwarzgefärbt vom Saft irgendeines Krautes war, das er gegessen hatte. Unheimlich weiß leuchteten seine Zähne daraus hervor.
Akani zuckte zurück und verbarg sich hinter dem Setna.
„Nein, nicht dieser Junge ist ein Verräter, sondern du, Rheta!“, antwortete Raen. „Du und dein Orden, ihr habt euer ganzes Volk hintergangen und es in einem scheinbar seligen Nichtwissen gehalten. Ihr habt euch anbeten und durchfüttern lassen, während ihr ganz allmählich eure Macht gefestigt habt! Unterdessen haben die Menschen ein Leben in Bescheidenheit geführt, weil ihr das als heilig erklärt habt. Und Ihr und eure Handlanger, die Hyaunset, habt euch in euren Privilegien gesonnt und euch über die Gutgläubigkeit der Leute amüsiert. Ihr seid es, die verabscheuungswürdig sind!“
„Ha!“ Wieder öffnete sich die schwarze Höhlung im Gesicht des Palansetna, die eine magische Anziehung auf alle ausübte. Fasziniert starrten Raens Begleiter den Priester an.
„Du bist ein jämmerliches Nichts, Raen Shari! Vor dir haben wir keine Angst. Du bist nur einer von jenen kleingeistigen Gotteslästerern, die seit jeher nicht müde werden, gegen uns zu wettern. Leider bist du ein sehr hartnäckiges Exemplar, das habe ich deinem Priesterfreund Loenka damals auch schon gesagt. Wie schade nur, dass er den Verstand verloren hat und meine Befehle verweigert. So sehe ich mich gezwungen, selbst zu zweckdienlicheren Mitteln zu greifen, um dich loszuwerden. Aber sei gewiss, deine Strafe wird diesmal härter ausfallen als eine Verbannung! Und auch Zaizura wird eine hübsche Buße für dich bereithalten.“
„Deine Drohungen kannst du dir sparen, Rheta. Ich weiß, dass Zaizura auf mich wartet. Aber ich werde ihr mit Freuden entgegentreten, um ihr mein Schwert zwischen die Augen zu rammen!“ Raen hörte, wie hinter ihm scharf Luft eingesogen wurde. Selbst seine Mitstreiter empfanden seine Äußerung als anstößig.
„Ein Gotteslästerer, wie ich schon sagte, und dazu noch lästig wie eine Schmeißfliege“, bestätigte Rheta lachend und wiegte selbstsicher den Kopf.
Es würde nicht viel bringen, dachte Raen, doch versuchen wollte er es trotzdem. „Ich bin hierher gekommen, um euch die Möglichkeit zu geben, euch zu besinnen und auf unsere Seite zu treten.“
„Und welche Seite soll das sein? Die Abkehr vom Wege Hyauns und direkt hinein in den Schlund Zaizuras? Ich müsste verrückt sein, das zu tun!“ Wieder lachte Rheta, und es klang, als hätte er Mitleid mit dem armen Irren, der dort vor ihm stand und verwirrtes Zeug faselte. „Du hast hier keinerlei Macht, Setna!“ Wie auf ein geheimes Zeichen hin öffneten sich plötzlich die goldenen Türen des Tempels, und eine wahre Flut von gelbgewandeten Menschen quoll daraus hervor in den Hof und füllte ihn langsam. Sie schloss die Gruppe der Widersacher in sich ein und kam stumm immer näher, ihre Augen stumpf in die Leere blickend. Sie gehorchten dem Palansetna, eine hörige Meute willenloser Kreaturen.
Raen lief es kalt den Rücken herunter. Mit welcher dunklen Macht lenkte Rheta sie?
„Zauberei“, hörte er Manoen in seinem Rücken flüstern. „Dagegen können wir nichts tun! Sie sind zu viele, er hat sie verhext.“
Die dreißig Krieger bildeten einen Kreis um Raen und stemmten sich mit Gewalt gegen die auf sie eindrängende Priesterschar, deren Gesichter gespenstig bleich waren. Manoen sicherte weiterhin Raens Rücken. Der aber wollte sich nicht vom Entsetzen seines Freundes anstecken lassen und entgegnete mit beinahe belustigtem Tonfall: „Dein Versuch, uns zu beeindrucken, ist lächerlich, Rheta. Ich brauche nur mit der Wimper zu zucken, und schon würden die Krieger Tena-lo-Ghans mir zu Hilfe eilen“,
„Das ist wohl richtig“, erwiderte der Palansetna diabolisch grinsend, „wenn sie nicht auch von unserem recht wirkungsvollen Mittel gekostet hätten!“ Rheta ruckte seinen Kopf in Richtung der Mauer, auf der sich ringsherum sämtliche Krieger des Clans versammelt hatten und ihre Bögen schussbereit hielten. „Du hast ihnen lediglich verboten, das Zhangha zu sich zu nehmen, nicht aber andere Kräuter.“
Raens Eingeweide zogen sich zusammen, und metallisch schmeckte er die aufsteigende Furcht auf seiner Zunge. Es war die bittere Wahrheit, Rheta hatte sie in der Gewalt!
„Du bist vollkommen wahnsinnig!“, schrie jetzt Manoen. „Du bringst uns allen den Untergang, du gewissenlose Aaskrähe!“
Es war kaum zu sehen und ging sehr schnell. Ein reptilienartiges Blinzeln von Rheta, und ein Pfeil löste sich aus einer der Bogensehnen. Sirrend flog er heran.
Raen reagierte, ohne nachzudenken. Er zog sein Schwert und riss den Arm nach oben. Ein trockenes Knacken ertönte, und der in zwei Teile zerschnittene Schaft des Pfeils fiel direkt vor Manoens Füßen zu Boden. Der starrte sprachlos auf das Geschoss.
„D-danke“, stotterte der Rotschopf schließlich und sah seinen Freund mit entrücktem Blick an. „Du hast den Pfeil mit dem Schwert gestoppt! Wie, zum Teufel, hast du das gemacht?“
Raen zuckte mit den Schultern aber sein Gesicht blieb ernst. Ihm war klar, dass er sie nicht alle auf diese Art beschützen konnte. Deshalb steckte er sein Schwert zurück in die Scheide und wandte sich an Rheta, der seine Überlegenheit sichtlich genoss.
„Halt ein, ich werde mich dir ergeben. Unter einer Bedingung jedoch“, lenkte er zum Schein ein, um Zeit zu gewinnen. Er musste hier und jetzt den Kampf gegen diesen Feind aus dem tiefsten vermoderten Innern der hyaunischen Volksgemeinschaft aufnehmen und ihn besiegen oder in die Hölle fahren. Dies aber möglichst, ohne seine Mitstreiter in Gefahr zu bringen. Er musste dem Priester mit den dunklen Kräften allein gegenübertreten.
„Und deine Bedingung wäre?“, erkundigte sich Rheta, erfreut über Raens Einsicht. Er ruckte mit dem Kinn, und das Drängen der willenlosen Menschenmasse um sie herum hörte auf.
„Lass meine Begleiter unbehelligt abziehen“, forderte Raen.
Hinter ihm wollte Manoen protestieren, doch er gemahnte ihn mit einem einzigen kurzen Blitzen seiner grünen Augen, besser den Mund zu halten.
„Verbarrikadiert euch in dem großen Turm an der Mündung des Resch in den Nori“, raunte er seinem Freund zu. „Wenn ich in fünf Tagen zur Dämmerung nicht zu euch stoße, dann gebt mich verloren. Ihr könnt selbst entscheiden, ob ihr für die Tonan weiterkämpfen wollt, oder nicht, aber vergesst nicht, dass Askhar zum Krieg rüstet. Ihr müsst das Volk beschützen! Auch wenn es dem Schwarzen Rat gelingen sollte, mich zu töten, wird es nach mir keinen Setna mehr geben. Die Gabe wird mit mir sterben, und dann seid ihr auf euch gestellt. Doch von alldem weiß der verblendete Kerl dort nichts, und das ist mein Vorteil“ Raen blinzelte Manoen zu und wandte sich dann wieder an Rheta. „Nun, Palansetna, was ist?“
„Einverstanden.“ Rheta hob die Hand, und die Masse der Priester teilte sich genau dort, wo sein Finger hinzeigte. Ein Durchgang bis zum Tor tat sich auf. „Nur zu, sie können gehen.“
Raen warf seinen Begleitern einen letzten Blick zu und entließ sie dann. Er sah zu, wie sie zu ihren Pferden liefen, aufstiegen und eilig davonritten, ohne sich nach den drohend gespannten Bögen in ihren Rücken umzusehen.
Als sie verschwunden waren, ließ Rheta die Hand sinken, und die Menge schloss sich wieder um Raen, wuchs erneut zu einem Körper zusammen. Seine grauen Augen richteten sich auf den Setna und hielten ihn auf unheimliche Weise fest im Griff. Ein unheilvoll befriedigtes Leuchten brach ungehindert aus ihnen hervor. Rheta machte keinen Hehl aus seinen Gefühlen. Er öffnete seinen schwarzgefärbten Mund.
„Komm mit mir.“ Sein Zeigefinger krümmte sich und wies danach auf die geöffnete Tür zum Tenasetna. Raen gehorchte der lockenden Aura des Palansetna und folgte ihm in das fensterlose, düstere Gebäude.
„Ist das, was ihr tut, im Sinne des ersten Setna von Hy?“, fragte er Rheta, als sie durch die Eingangshalle schritten. Er wollte erfahren, wo der Ursprung der Palansetna lag.
„Unser Orden war auf der Flucht, wir brauchten eine neue Heimat, und die fanden wir in diesem wunderbaren Land hier.“
„Oh, und mit den obendrein noch so wunderbar beeinflussbaren Einwohnern, nicht wahr?“
„Warum so bissig?“, fragte Rheta über die Schulter hinweg, ging dabei aber weiter voran. „Auch du bist eines unserer Geschöpfe, nur uns verdankst du deine Fähigkeiten. Denn auch die Kriegerkaste wurde damals von denjenigen gegründet, die den Setna Budhan auf seiner Flucht begleitet hatten. Sie brachten das Wissen um die besondere Kampfkunst aus der alten Heimat mit und lehrten sie den Verteidigern ihres neuen Reiches. Sie waren es auch, die die Hyaunset erschufen, als eine Art überwachendes Organ, wenn man so sagen möchte. Du siehst also, es gibt in Hy nichts, was nicht auf unser Einwirken zurückgeht. Auch dein Leben ist unser Konstrukt.“
„Und euren Gott, habt ihr den gleichfalls bloß erschaffen, wie es euch passte?“, stieß Raen giftig hervor.
„Nein.“ Rheta blieb vor der großen goldenen Tür stehen und drehte sich zu ihm um. „Hyaun ist Wirklichkeit. Nur gibt es für ihn viele unterschiedliche Namen. Die einen nennen ihn Den Herrn, die anderen Hamuk’shenaz und wieder andere Ashallah. Wir hatten uns entschieden, ihn Hyaun zu nennen, das klang gut, weißt du.“
Die Impertinenz, mit der Rheta sprach, machte Raen rasend. „Ihr ... ihr seid nichts anderes als Volksverführer mit selbstsüchtigen und schändlichen Absichten!“, schrie er hitzig.
Rheta lachte laut auf. Das schwarze Loch seines Mundes wirkte dabei obszön. „Die Huta - wie dein Volk sich damals nannte - haben förmlich danach gelechzt, von ihren Sorgen erlöst zu werden und einem neuen Gott und dessen auserwähltem Führer mit göttlicher Macht folgen zu dürfen. Und nichts anderes haben wir getan, wir haben ihnen gegeben, wonach sie sich sehnten: Ein sorgenfreies und sicheres Leben, unabhängig und frei von äußeren Einflüssen und ohne die Bedrohung des ständigen Wandels, dem alle anderen Völker ausgesetzt sind. Scharenweise sind sie damals zu unserem Glauben übergelaufen und das freiwillig. Hörst du, freiwillig!“
Rheta stieß die beiden goldenen Türflügel auf, die Manoen vor wenigen Wochen mit Gewalt eingerannt hatte. „Bitte, nach dir, Al Setna!“, sagte er spöttisch und deutete in den von nur wenigen Öllampen erhellten Raum.
„Was willst du mit mir tun?“
„Das wirst du gleich sehen.“
Einer der anderen Palansetna stieß Raen unsanft durch die Tür, und noch ein anderer schloss und verriegelte sie anschließend von innen.
Raen zählte mit Rheta sieben Gegner in dem kleinen Raum, der außer einem kleinen unscheinbaren Altar, dunklen Wandbehängen und mehreren Truhen nichts enthielt. Dichte Rauchschwaden von Räucherwerk stiegen aus unzähligen flachen Schalen auf und erschwerten ihm das Atmen. Er bemerkte die betäubende Wirkung, die von dem Rauch ausging, denn seine Sinne begannen bereits an Schärfe zu verlieren. Wenn er dadurch nicht noch mehr in Nachteil geraten wollte, musste er jetzt handeln.
Ohne Vorwarnung warf er sich herum und griff dabei nach seinem Schwert, doch er stellte fest, dass sie es ihm zuvor unbemerkt abgenommen hatten. Seine Hand griff ins Leere. Ein zischender Fluch drang über seine Lippen, dennoch setzte er seine Bewegung gegen Rheta ungebremst fort. ‚Dann müssen meine Hände eben als Waffen genügen’, dachte er und schob seinen Ellenbogen vor, um damit Rhetas Nase zu zertrümmern. Doch kurz bevor er gegen den Obersten der Palansetna prallte, wich dieser überraschend geschickt aus und brachte ihn mit einem Stoß in den Rücken zu Fall. Raen schlitterte gegen die Wand, sah in das ungerührt auf ihn herabblickende Gesicht eines der anderen Palansetna hinauf und sprang sogleich wieder auf die Füße. Sie mussten den Fähigkeiten ihres Anführers sehr vertrauen, da sie keinerlei Anstalten machten, einzugreifen. Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine Bewegung und wich dem auf ihn zukommenden Fuß aus. Mit beiden Händen packte er den Knöchel, der sich auf seiner Kopfhöhe befand und drehte ihn herum. Rheta wand sich mit einer Drehung seinerseits aus Raens Griff und trat mit dem anderen Fuß zu, dabei schwebte er für den Bruchteil eines Lidschlags in der Luft. Der Fuß traf Raen vor die Brust, die Luft entwich aus seinen Lungen, und er flog durch die Wucht zurück.
Während er nach Atem rang, dachte er erstaunt, dass Rheta nicht nur Kampferfahrung besaß, sondern dazu auch noch unglaubliche Kraft. Er streckte die Arme nach hinten aus, stieß sich von der Wand ab und nutzte den Schwung, um sich erneut auf Rheta zu stürzen. Der Priester erwartete ihn in einer für ihn bekannten Verteidigungshaltung. Er kämpfte also mit der Technik der eigenen Banskeid. Ob er wohl noch mehr konnte? Bestimmt nicht, denn wo sollte er das herhaben? Raen frohlockte. Da er im Laufe seines Lebens noch einige zusätzliche Künste im Kampf mit den bloßen Händen erlernt hatte, sah er sich eindeutig im Vorteil. Er täuschte Rheta mit einer Finte, die ihn seinen Schutzarm senken ließ, und gab dem überraschten Palansetna darauf seine Faust zu schmecken. Mit einem unterdrückten Aufschrei taumelte dieser zurück und fasste sich an die aufgeplatzte Lippe. Blut rann zwischen seinen Fingern hindurch. Raen wollte nachsetzen, spürte jedoch den Einfluss des Rauches. Er brannte in seiner Kehle und trübte ihm die Sicht. Das Bild vor seinen Augen verschwamm. Angestrengt blinzelte er die Schlieren fort und konzentrierte sich wieder auf seinen Gegner, der scheinbar benommen an der gegenüberliegenden Wand lehnte.
Raen trat einen Schritt auf ihn zu und hob erneut seinen Arm, die Hand zur Faust geballt. Rheta blickte ihn an, rührte sich aber nicht, der Schlag hatte ihn wohl härter getroffen, als er zunächst vermutet hatte. Immer weiter ging Raen auf in zu.
Doch was war das? Er wurde langsamer. Oder bewegte sich Rheta von ihm fort?
Mit aller Kraft versuchte er, zum Sprung anzusetzen und vorzuschnellen, um Rheta zu packen, doch die Entfernung wurde immer größer und sein Vorankommen mit jeder Muskelbewegung zäher. Wieder reizte ihn das Räucherwerk zu Tränen, die hervorquollen und seine Sicht behinderten. Er konnte gerade noch erkennen, wie Rhetas blutende Lippen sich zu einem überheblichen Lächeln verzogen, dann versagten seine Beine, und er schlug lang auf den Holzfußboden. Unfähig, sich zu rühren, gewahrte er, wie die Palansetna ihn ergriffen und herumdrehten. Verschwommen schwebte das Gesicht Rhetas über ihm.
„Das Melam wirkt. Sei getrost, so wirst du kaum etwas spüren. Wehre dich nicht dagegen, dann ist es schnell vorbei“, säuselte der Priester. „In wenigen Augenblicken wird es heißen: Heil dem neuen Setna!“
„Das wird euch alles nichts nützen, meine Saat ist bereits gesät und euer Untergang nicht mehr aufzuhalten. Die Ära der Setna ist vorbei!“, brachte Raen lallend hervor. „Ich warne dich! Mich zu töten, beschleunigt die ganze Sache nur.“
„Halt dein verdammtes, lästerhaftes Maul!“, zischte ihm einer der Gehilfen Rhetas ins Ohr, während der Oberste der Palansetna seelenruhig einige Utensilien zusammensuchte, darunter war auch ein schmaler, spitzer Dolch. Er prüfte die Güte der Klinge und grinste dann zufrieden.
Raens Augenlider wurden unendlich schwer, und so sehr er auch dagegen ankämpfte, sie fielen ihm schließlich ganz zu. Alles, was er noch hörte, war ein leises triumphierendes Kichern und das Schlagen seines eigenen Herzens. Er spürte, wie jemand den Ausschnitt seiner Jacke öffnete und seine Brust entblößte.
Die kalte Spitze des Dolches tastete sich seine Rippen entlang und verharrte an der Stelle, unter der sich sein Herz befand. Raen hörte es immer lauter und hallend pochen. Dröhnend pulsierte das Blut durch seine Adern. Es war, als schlüge jemand eine Trommel direkt in seinem Kopf. Der Rhythmus war schnell und hart, beinahe wie der einer Kriegstrommel. Sein Geist begann im Einklang mit diesen Schlägen zu vibrieren, bis sein Zustand sich veränderte. Er wurde flüssig und gleich danach leicht wie Luft. Er stieg empor und wurde schließlich von den fortlaufenden Wellen, die durch seinen ganzen Körper spülten, davongetragen.
Der Druck der Klinge verstärkte sich und die Spitze durchstach die Haut. Sie drang ins Fleisch, schabte an seiner Rippe vorbei und ...
Völlig unerwartet schnellte die rechte Hand des scheinbar Bewusstlosen vor, umfasste Rhetas Faust, die den Dolch führte, und hielt ihn mit eisernem Griff davon ab, die Klinge tiefer in seine Brust zu stoßen.
Erschrocken über die plötzliche Regung des vermeintlich Ohnmächtigen wichen die anderen Palansetna zurück. Rheta jedoch fletschte die Zähne und legte entschlossen all sein Gewicht auf den Dolch. Aber Raen hielt ihn weiterhin mit nur einer Hand auf. Und während der Priester keuchend all seine Kräfte aufwand, um sein Werk zu vollenden, suchte Raens andere Hand Rhetas Nacken, fand ihn und packte hart zu. Mit einem mühelosen Ruck riss er den Priester zur Seite. Der von dem Dolch abließ und mit seinem Oberkörper auf Raen fiel. Ohne, dass Rheta sich dagegen wehren konnte, wurde sein Kopf von der Hand in seinem Nacken immer näher an das Gesicht des Setna gezwungen, bis sein Ohr beinahe dessen Lippen berührte. Sie begannen sich zu bewegen, und die nur für Rheta vernehmbaren Worte drangen unaufhaltsam durch sein Trommelfell und den Gehörgang bis in seinen Kopf.
Die über alles strahlende Macht Hyauns traf ihn mit voller Wucht ins Hirn und löschte all sein bisheriges Denken! Rhetas schwarzgefärbter Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei der Erkenntnis. Der Gott selbst war gekommen, um sich an ihm zu rächen für all die Jahrhunderte des Missbrauchs, den der Orden in Seinem Namen am hyaunischen Volke begangen hatte. Allmählich traten Rhetas von innen geblendete Augen hervor, und ein Röcheln drang aus seiner geschwärzten Kehle.
Hyaun - und es war immer noch ein guter Name, schoss es ihm ausgerechnet jetzt durch den Kopf - hatte sich aus dem kontrollierenden Griff des Ordens entwunden und demonstrierte nun seine entfesselte Herrlichkeit!
Rhetas Mund schloss sich wieder. Es hatte keinen Sinn, sich dagegen zu verschließen. Die Zeit der Palansetna war endgültig vorbei. Die jahrtausendelange Flucht fand in diesem Moment ein Ende!
Mit einem Mal wurde Rhetas Blick friedlich ... dann brach das Grau seiner Augen, und leblos sackte sein Körper über dem letzten Setna von Hy zusammen.
Eine geraume Weile bewegte sich nichts in dem Raum, auch die übrigen Palansetna wagten es nicht, sich zu rühren.
Da ertönte plötzlich ein Zischen, und die Leiche Rhetas regte sich. Aber es war nicht der Oberste der schwarzen Priester, der im wabernden Dunst des Räucherwerks wieder auferstand, sondern Raen, der sich unter ihm hervor wand und dabei vor Anstrengung laut Luft ausstieß. Der Jüngere schob den toten Palansetna von sich und blickte sich verwirrt um. Was war geschehen? Wieso lag Rheta tot über ihm?
Er drehte den Kopf, und seine Aufmerksamkeit erfasste die verbliebenen, wie gelähmt dahockenden Palansetna. Ängstlich sahen sie ihn an, dann warfen sie sich auf die Erde und riefen verzweifelt aus einem Munde: „Bitte, ehrwürdiger Setna, richte über uns, wie du über unseren Bruder Rheta gerichtet hast! Unser Leben gehört Euch, oh Göttlicher!“
Erstaunt erhob sich Raen und ging auf die sechs älteren Männer zu. Was auch immer in diesem Raum geschehen war, es hatte sie zutiefst erschreckt.
„Tötet uns, Setna, damit wir in Ehren aus dieser Welt scheiden!“
„Was denkt ihr nur? Nein, ich werde euch nicht töten, das war nie meine Absicht.“
Zwei der Palansetna hoben ihren Kopf und schauten ihn mit unsicherem Blick an.
„Ihr könnt gehen, verlasst Hy und kommt nie wieder!“
„Ja, ehrwürdiger Setna, wir tun, was Ihr verlangt!“, antworteten sie hastig und sprangen auf, um Raens Befehl Folge zu leisten, aber auch um der erdrückenden Gegenwart Hyauns entkommen zu können. Denn, was Raen selbst nicht sehen konnte, war, dass seine Augen noch immer dieses unheimliche Licht ausstrahlten, dessen Ursprung nicht von dieser Welt war.
Er ging zu der Tür, entriegelte und öffnete sie. Ein Schwall frischer Luft drang zu ihnen herein. Raen wies auf die Eingangshalle.
„Geht, nun! Und nehmt eure Brüder mit.“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, setzten sich die Palansetna in Bewegung. Drei von ihnen schwärmten aus, um den Rest zu holen, und als sie schließlich zum Hauptportal des Tenasetna hinaus auf den Hof stolperten, wurden sie von einer ratlosen Versammlung Priester und Krieger empfangen. Der Zauber Rhetas hatte von ihnen abgelassen, und nun fragten sie sich verwundert, was sie hier taten.
Raen sandte den Kriegern ein Signal über das Aun zu, und diese begannen sich sogleich um die Hyaunset und verängstigt hervorgekommenen Bewohner der Festung zu kümmern.
Unbeachtet von der sich auflösenden Menge liefen die fünfzehn Palansetna auf das Tor des Chorten zu. Raen folgte ihnen ohne Eile. Unter dem Torsturz blieb er schließlich stehen und sah den Fliehenden hinterher. Wie eine Schar verschreckter Krähen stoben sie mit ihren flatternden, schwarzen Roben davon. Plötzlich merkte er auf, denn es erschien ihm, als fügten sich endlich Vision und Realität wie ein riesiges Räderlaufwerk mit einem gedämpften, überirdischen Klacken ineinander.
„Der weiße Geier fliegt, und die Krähen folgen ihm!“, dachte er laut. Es war soweit, Askhar hatte sein Heer nach Doban in Gang gesetzt. Die letzte Schlacht begann!
Kanaima schlüpfte mit seiner Linken in den gepanzerten Handschuh. Es war sehr ungewohnt, wieder in einer Rüstung zu stecken. Das hatte er nicht mehr getan seit dem letzten Feldzug gegen Adjan ... nein, er revidierte seinen Gedanken, das hatte er nicht mehr getan, seit er den unseligen Hy auf seiner Flucht begleitet hatte. Noch immer erinnerte er sich nur äußerst ungern daran, diesem Kerl zur Freiheit verholfen zu haben und auch daran, dass er ganz offensichtlich zur gleichen Zeit wie er in Ohaoud gewesen war. Es gab kaum einen Zweifel, denn sein unverkennbares Hinken und sein Schwert hatten ihn verraten. Aber was hatte er dort nur zu suchen gehabt? Und hatte der Hy auch ihn erkannt? Wenn ja, dann war sein Geheimnis in Gefahr. Der Kerl würde sich möglicherweise an ihm rächen wollen, da er die Wahrheit über ihn und die Prinzessin enthüllt und damit den Zorn des Königs von Ohaoud auf ihn gelenkt hatte. Dass der Hy den Soldaten Almans entwischt war, hatte Kanaima erfahren, kurz bevor er sich auf die Rückreise nach Askhar begeben hatte. Doch wo sich sein persönlicher Unstern namens Raen momentan aufhielt, war vollkommen ungewiss. Kanaima wischte die unangenehmen Gedanken an den Kerl beiseite. Jetzt standen wichtigere Dinge an. Er wandte sich um und ließ seinen Blick über die wartenden Truppen auf dem großen Feld vor dem Heerlager von Braud schweifen. König Katthike hatte es tatsächlich geschafft, das größte Heer, das Askhar jemals gesehen hatte, auf die Beine zu stellen. Zwar war es ihm nicht gelungen, die von Kanaima empfohlenen fünfzigtausend Mann zusammenzubekommen, aber es waren immerhin erstaunliche vierzigtausend, die hier und in drei weiteren Lagern entlang des Junghal Gebirges bereit standen!
Ein Bursche im schlichten Brustharnisch hielt Kanaima den Steigbügel und half ihm beim Aufsteigen. Das ganze Metall am Leib machte ihn schwerfällig, aber der König hatte darauf bestanden, dass sein Maestro an seiner Seite mit in die Schlacht zog, wie er es theatralisch ausgedrückt hatte. Schlacht war auch schon zu viel der Bedeutung für das, was hier in den nächsten Wochen stattfinden würde. Geplant war, die Doban-Grenze wie bereits Jahre zuvor mit den Katapulten anzugreifen und nur einen gewissen Teil der Streitmacht zur Schau zu stellen. Es war nur ein Ablenkungsmanöver, das Hys gesamte Kriegerschaft nach Doban rufen und dort beschäftigt halten sollte, während der Rest der Königlichen Armee darauf wartete, dass die Bautrupps an den bereits auf askharischer Seite präparierten Pässen mit ihren Arbeiten ins hyaunische Gebiet vorstoßen konnten. Der Ausbau sollte so lange, wie er unentdeckt blieb, fortgeführt werden, doch falls die hyaunischen Hunde es früher spitzbekamen, so würde der Angriff sofort stattfinden. Die Wahrscheinlichkeit jedoch, dass sie es zu spät merkten, war groß, denn die neuen Pässe befanden sich an Stellen, die von den Hy kaum überwacht wurden. Das hatten die Späher herausgefunden, die sich weit auf das feindliche Territorium vorgewagt hatten.
Kanaima suchte mit seinem Blick den König und fand ihn mehrere Pferdelängen zu seiner Linken ebenfalls schon hoch zu Ross. Für ihn grenzte es nahezu an ein Wunder, dass Katthike sich bequemt hatte, zu Beginn des Aufmarsches selbst das Kommando zu führen. Das lag wahrscheinlich am guten Wetter und den vielversprechenden Erfolgsaussichten. Den bevorstehenden Triumph wollte er sich nicht entgehen lassen. Aber natürlich war es auch gut, wenn die Hy den König und den gesamten Führungsstab am Fuße ihrer Mauer zu Gesicht bekamen, dann schöpften sie keinen Verdacht.
Das Blau von Kanaimas Augen erfasste Setna, der gleich neben seinem Stiefvater darum bemüht war, sein unruhiges Pferd zu bändigen. Ein verächtliches Lächeln stahl sich auf Kanaimas Lippen. Der kleine Widerling hatte eine unverkennbar schlechte Aura, die jedes Lebewesen instinktiv dazu veranlasste, vor ihm zu fliehen. Er empfand beinahe Mitleid mit dem unglückseligen Pferd, das sich verzweifelt gegen die Befehle des Ungeheuers auf seinem Rücken zu wehren versuchte. Er sah, wie der Prinz dem Tier brutal die Sporen in die Flanken jagte.
‚Hoffentlich trifft dich der erste Pfeil, du Mistvieh!’, wünschte Kanaima seinem Stiefbruder. ‚Und der zweite gleich Katthike!’ Er war froh, dass wenigstens Isabylla jetzt ihre Ruhe vor Setna haben würde, da dieser mit ins Feld zog und sie nach Askhari-Kaise zurückgeschickt hatte. Isabylla hatte viel gelitten in den vergangenen Monaten, in denen Kanaima ihr nicht zu Hilfe kommen konnte. Doch sie war tapfer gewesen, und dank Oskhans Einsatz hatte sich Setnas Zorn bald auf andere Dinge gerichtet, leider auch auf den kleinen Santir.
Kanaima bemerkte den Wink von General Bhuras. Er trug eine prächtige, mit Gold besetzte Rüstung und war zudem gut daran zu erkennen, dass immer eine Handvoll Standartenträger um ihn herum waren. Bhuras hob die Hand, er war bereit. Kanaima winkte zurück. Der Oberste General nickte und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Meer von Soldaten. Auch Kanaima konnte seine Augen nicht von dem faszinierenden Anblick der für den Krieg gerüsteten Männer wenden. Welch ein Aufwand, welch Herausforderung es bedeuten würde, dieses riesenhafte Heer mit Nachschub zu versorgen! Besonders wenn sie erst das Gebirge überschritten hätten. Aber Kanaima hatte gemeinsam mit Bhuras alles bis ins letzte Detail ausgeklügelt. Nicht einen einzigen Schachzug hatten sie außer Acht gelassen. Auch nicht die, von denen Katthike nichts ahnte.
‚Dies‘, so dachte er, ‚wird mein Meisterstück, mein Königsstück!‘
Ein Signal ertönte und wurde von den Feldzeichen bis in die vordersten Reihen weitergetragen. Kanaimas Platz war in der Nähe des Königs, und er begab sich dorthin. Den eisigen Blick Setnas ignorierte er, als er neben Katthike in die Reihe scherte. Gleich darauf setzte sich der riesenhafte Körper der Armee träge in Bewegung. Eine Abteilung nach der nächsten marschierte unter dem Kommando der Unterführer los, darunter auch die schweren Ochsenkarren mit den Teilen der Katapulte und die Vorratswagen mit den Zelten. Die rotgoldenen Wimpel wippten im Takt, den die Trommler vorgaben, und die Rüstungen der Soldaten leuchteten bei jedem Schritt frisch rotlackiert in der Sonne auf, die sich hinter den Wolken am frühmorgendlichen Horizont hervorschob und die Gipfel des Gebirges mit hellem Licht übergoss.
Ob das Orakel der Hy dieses Bild jetzt auch sehen konnte?, überlegte Kanaima. Oder schlief es noch ruhig und selig, ohne zu ahnen, was da auf sein Volk zukam?
Er trieb sein Pferd an und hielt sich immer neben dem König. Sie würden es ja sehen, wenn sie die Grenzmauer erreichten. Und wenn Kanaima ehrlich war, konnte er es kaum erwarten.
*
Raen konnte förmlich spüren, wie das Blut aus den Gesichtern sämtlicher Krieger wich, die auf der Krone der Mauer standen und hinab in das buschbewachsene Grenzland schauten. Seit dem Sonnenaufgang war das askharische Heer damit beschäftigt, aufzumarschieren, und verursachte dabei einen unglaublichen Lärm, der bis zur Wehr hinauf schallte. Doch nicht etwa der Lärm war es oder die aus dem Staub heraus schillernden Rüstungen der feindlichen Soldaten und Reiter, welche die Krieger Hys leises Entsetzen fühlen ließ, es war die erschreckende Zahl von Kriegsmaschinen, welche die askharische Armee mit sich führte!
„Hyaun steh uns bei“, flüsterte Raen, nachdem er die ersten Schätzungen vorgenommen hatte.
„Zehn- bis elftausend Mann, sechsundzwanzig Katapulte!“, murmelte Kaera neben ihm bestätigend. „Ein dicker Brocken!“
„Du sagst es.“ Raen ärgerte es maßlos, dass Hy noch immer keine einzige dieser Wurfmaschinen besaß. So würden sie dem Beschuss der Askharer ausgesetzt sein, ohne darauf antworten zu können. „Komm.“ Er klopfte Kaera auf die Schulter und ging dann voran zum Treppenabstieg der Mauer. Sie mussten sich beraten. Heute würde ohnehin nicht mehr viel passieren.
Im mittleren Stockwerk des nächstgelegen Wehrturmes warteten Raen und Kaera darauf, dass alle herbeigerufenen Anführer erschienen.
Als sie schließlich kamen, spiegelte sich auf ihren Gesichtern große Besorgnis wider, und ihr bedrücktes Schweigen verriet Raen, wie sehr sie daran zweifelten, dass das Schicksal ihnen noch wohlgesonnen war. Sie zogen ihre Schwerter aus dem Gürtel und setzten sich.
„Seid gegrüßt, Chor suer Palan“, eröffnete Raen die Ratssitzung der einhundertdreiundfünfzig Clanoberhäupter, „nun, ich will nicht lange um den heißen Brei reden, auch ich bin überrascht von der Stärke der Askharer. Wenn sie auch nur annähernd genug Munition für ihre Katapulte haben, dann wird es für uns mehr als problematisch, die Mauer auf unsere traditionelle Weise zu verteidigen.“ Seine nachfolgenden Gedanken ließ er unausgesprochen, denn er wusste genau, was jetzt in den Köpfen der anderen vor sich ging. Er war der Grenzgänger, der es damals gewagt hatte, über die Mauer zu gehen, um die Katapulte zu zerstören und den General zu töten. Er sah es in ihren Gesichtern. Das würde er doch nicht etwa wieder tun wollen? Er würde doch nicht wieder gegen die Gesetze verstoßen?
Oh doch, genau das hatte er vor!
Nur mussten sie dieses Mal vorsichtiger sein, denn die Askharer hatten mit Sicherheit aus der Erfahrung des letzten Desasters gelernt.
Raen sah in die Runde, doch kaum einer erwiderte seinen Blick. Noch immer getrauten sich die meisten nicht, ihm direkt ins Gesicht zu schauen, da sie sich noch nicht daran gewöhnt hatten, wie offen sich der Setna ihnen gegenüber zeigte. Vielleicht aber auch, weil sie den Widerspruch in seiner Persönlichkeit noch nicht verarbeitet hatten - der verbannte Grenzgänger, der jetzt Setna war!
Raen hatte Verständnis für sie. Er verlangte ihnen einiges ab, das absolut gegen ihre fest verwurzelte Gewohnheit war. Und wer konnte schon voraussagen, dass das alles auch von Erfolg gekrönt sein würde? Aber es gab nun einmal keinen anderen Weg. Er hatte seine Bestimmung!
Da keiner der Anwesenden etwas entgegnen wollte, meldete sich Manoen zu Wort, schließlich war er für die in Borgossa lebenden Hy auch so etwas wie ein Clanoberhaupt: „Was schlagt Ihr also vor, Al Setna?“ Er sprach Raen absichtlich mit seinem Würdentitel an, um zu zeigen, dass er seine Autorität anerkannte und ihm bedingungslos folgte.
Raen warf seinem Freund einen dankbaren Blick zu. Er wusste, dass er sich nun allein auf das besinnen musste, was er an der Akademie für Kriegskünste gelernt hatte, er war der Anführer, und niemand würde ihm seine Entscheidungen abnehmen können. Aber er war froh, wenigstens Manoen als seinen ersten „General“ an seiner Seite zu wissen. Denn der Rotschopf war in Kriegstaktiken gleichfalls sehr beschlagen, auch wenn man es ihm nicht unbedingt ansah.
„Hört“, antwortete er auf dessen vorangegangene Frage, „wir können nicht blind und taub bleiben und nur darauf warten, dass etwas passiert. Wir müssen selbst ausrücken und in Aktion treten. Uns bleibt keine andere Wahl, als einen ersten Vorstoß über die Grenze zu wagen, um zumindest an Informationen zu gelangen. Ich werde eine Gruppe Späher losschicken, die das bewerkstelligen sollen. Hernach werden wir entscheiden, wie es weitergehen soll.“
„Und wen habt Ihr dafür auserkoren?“, wollte Manoen wissen.
Ein paar bange Gesichter mehr wandten sich Raen zu, und er musste sich ein Lächeln verkneifen.
„Gibt es denn ein paar Freiwillige?“, fragte er keck, wurde dann aber unmittelbar wieder ernst. „Es gibt einen Grund, warum ich gerade euch als Clanoberhäupter das frage, denn ich brauche unbedingt Krieger, die es gewohnt sind, Verantwortung zu übernehmen!“
Das deutliche Zögern der Chor suer Palan signalisierte Manoen, dass er erneut gefragt war. „Ich würde mich dafür anbieten“, sagte er ruhig.
„Ich auch“, meldete sich Taghat und streckte seinen Rücken.
„Hab Dank, Manoen, aber dich brauche ich hier als meinen Berater“, entschied Raen, „Taghats Stimme nehme ich jedoch gerne an.“
„Ich bin auch dabei!“, erbot sich jetzt auch Arhad, „ich gehe da rüber, das ist kein Problem für mich“, gab er sich unbekümmert.
Dass sich der ehemalige Setna bereiterklärte, löste plötzlich etwas in den sturen Köpfen der anderen Anführer. Mehrere Hände hoben sich gleichzeitig. Raen nickte zufrieden, als er auch Reni darunter fand. Der Clanchef von Shari hatte den anderen voraus, dass sein Geist bereits vorher schon Bekanntschaft mit Raens neuen Ideen gemacht hatte. Reni schien ihm zu vertrauen, und das tat Raen gut. Er wählte sich ein Dutzend Krieger aus und gab Arhad das Kommando über die Gruppe, die in der Nacht ausziehen sollte, nachdem er sie genau über das Gelände vor der Mauer und einige Gewohnheiten der Askharer unterrichtet hatte. Am liebsten wäre er selbst mitgegangen, doch das war vollkommen unmöglich, das durfte er nicht riskieren.
„Eine Frage noch, Al Setna.“ Der Chor suer Palan von Rinpal erhob sich. Raen gab ihm ein Zeichen, er solle sprechen.
„Können wir das Zhangha wieder nehmen?“
„Nein, ihr sollt es überhaupt nicht mehr nehmen!“
„Ist das der Wille Hyauns, Al Setna?“
„Nein, es ist mein Wille“, entgegnete Raen entschieden.
Verdutzt sah ihn der Clanchef von Rinpal an. „Aber ... wir brauchen das Zhangha doch, ohne das Zhangha sind wir ...“
„Ohne Zhangha sind wir genauso stark wie sonst auch. Ich weiß, dass wir es nicht benötigen. Es ist überflüssig.“ Sie brauchten nicht die volle Wahrheit über das Kraut zu erfahren. Das hätte sie in dieser schweren Stunde nur noch mehr beunruhigt. Wenn der Krieg überstanden war, würde er sie über alles aufklären.
„Aber warum ...“
„Glaubt mir, es ist besser, wenn ihr vom heutigen Tage an vergesst, es jemals zu euch genommen zu haben. Ihr werdet sehen, es macht keinen Unterschied, vertraut mir und euren eigenen Fähigkeiten und nicht irgendeinem Kraut!“, beendete Raen die Debatte. Danach löste er die Versammlung auf. Schweigend und, wie er hoffte, zu neuem Denken angeregt, verließen die ehrwürdigen Banskeid, bis auf Arhad, Kaera und Manoen den Raum. Gemeinsam ließen sie sich auf der Sitzbank am rückwärtigen Fenster nieder, das auf das Gebirge zeigte. Grau hoben sich die beiden Gipfel der südlichen Wächter vom leicht bedeckten Himmel ab.
„Ich gedenke“, begann Raen schließlich das Gespräch in diesem etwas vertrauteren Kreise, „einen Teil unseres Heeres über den Einmann-Pass zu schicken, um die Armee der Askharer von der Seite her anzugreifen. Die Askharer werden zwar wachsam sein, aber sie werden kaum vermuten, dass gleich eine ganze Abteilung unserer Krieger anrückt. Sie denken womöglich noch immer, wir trauen uns nicht über die Grenze. Eine andere Gruppe wird sich zur gleichen Zeit aus dem Westen her an sie anschleichen und versuchen, im Moment der Ablenkung die Katapulte zu zerstören oder sie zumindest in ihrer Funktion zu beeinträchtigen. Wenn wir das schaffen, dann ist die größte Gefahr vorerst gebannt. Was hältst du davon, Manoen?“
Der große Krieger nickte bedächtig. „Wir müssen auf ihre Kundschafter Acht geben. Am besten knüpfen wir uns ein paar von denen zuerst vor. Wir nehmen sie gefangen und quetschen sie aus.“ Der Rotschopf schlug sich auf den Oberschenkel. „Ach, zu dumm, wir werden sie ja nicht versehen, keiner von uns spricht Askhari.“
„Ich spreche Askhari“, verkündete Raen nüchtern.
Manoen sah ihn überrascht an.
„Ich habe es zwangsläufig gelernt, als ich mich in ihrer Gastfreundschaft befand. Aber ich hatte auch einmal ein Wörterbuch, falls du dich daran erinnerst.“
„Stimmt, wo ist es? Das könnten wir jetzt gut gebrauchen.“
„Sie sind leider alle in die Hände der Askharer gefallen“, brummte Raen missmutig und verdrängte schnell die schmerzhaften Konsequenzen, die das gehabt hatte. Es fiel ihm nicht leicht, Keï aus seinen Gedanken zu verbannen, aber die Bedeutung seines Auftrags zwang ihn dazu.
„Warten wir also ab, was unsere Späher uns bringen, derweil kümmere ich mich um das Aufstellen der Abteilung zum Einmann-Pass. Wir brauchen mehrere Wagen und Packtiere, die sie mit Vorrat versorgen.“
„Und jemanden, der sie anführt!“, meinte Arhad mit ernster Miene.
„Ja, jemand, der fähig ist, einen Angriff zu reiten!“, gab Manoen zu Bedenken. „Einen, der in der Lage ist, zu denken wie ein streitbarer Angreifer!“
Er hatte Recht. Raen überlegte, wer unter den Clanchefs seine alten Hemmnisse am Ehesten überwinden und einen Angriff durchführen könnte? Aber auch nach einer zweiten Erwägung kam er zu demselben Schluss. Es gab eigentlich nur einen, dem er diese bedeutende Aufgabe anvertrauen konnte. Alle anderen Anführer, die sie in ihren Reihen hatten, waren zwar durchaus erfahrene Männer im Gefecht und in der Verteidigung der Anlagen, aber eben nur in der Verteidigung. Wenn es um den Angriff ging, waren sie so unbeschriebene Blätter wie jungfräuliche Pergamentseiten.
„Manoen, das wirst du übernehmen!“
„Ich?“ Manoen fiel aus allen Wolken. „Aber ... .“ Er schluckte vernehmlich.
Raen presste die Lippen aufeinander und nickte. Er wusste, wie wenig es seinem Freund schmeckte, eine derart große Verantwortung übernehmen zu müssen, aber auch er würde an dieser Herausforderung wachsen. „Ich entbehre dich nur sehr ungern, aber du bist der einzige, der über das gleiche Wissen wie ich verfügt“, erklärte er seine Entscheidung.
„Ich bin kein Anführer, Raen.“
„Du kannst das, ich weiß es. Manoen, du bist ein Magistrate del Art Militaris und mehr als nur ein Hausvorstand! Denk an den ewig nörgelnden Maestro Karbald, zeige ihm, dass du deinen Titel zu recht trägst!“
Die braunen Augen Manoens drangen tief in Raens Blick ein. Der Rotschopf wollte erkunden, ob sein Freund es wirklich aufrichtig meinte. Offenbar fand er nach einer Weile, wonach er gesucht hatte, denn er atmete tief ein und sagte: „Gut, ich mache es. Aber nur, wenn du mir versprichst, dass du jemand anderen ernennst, der deinen Rücken freihält, während ich fort bin!“
Raen lächelte, die Fürsorge seines Freundes rührte ihn. „Denkst du dabei an jemand Bestimmten?“
„Ich empfehle dir Taghat. Er ist ein guter Junge. Ich vertraue ihm mehr als all den anderen da draußen!“ Manoen wies durch das Fenster auf die sich bereithaltende Reiterei. Raen sah gleichfalls hinunter und erinnerte sich an Taghat, als dieser damals frisch im Hytena eingetroffen war: Ein schüchterner, beinahe ängstlicher Bursche, der jedem Konflikt aus dem Wege gegangen war.
Manoen schien seine Skepsis zu bemerken und sprang für seinen Schützling in die Bresche.
„Auch er hat seinen Mut entdeckt, Raen, ob du es glaubst oder nicht. Letztes Jahr hat er sogar am großen Turnier in Borgossa teilgenommen. Leider hat ein Graçener gewonnen, und er ist nur Dritter geworden. Tja, die Zeit der hyaunischen Campiones ist wohl vorbei! Na ja, aber was ich eigentlich sagen will, ist, dass Taghat ein wirklich feiner Kerl ist. Nicht so streitlustig wie du, dafür aber sehr zuverlässig.“
„Was soll denn das heißen?“, unterbrach Raen ihn gespielt empört.
Manoens Mund verzog sich. Der Hüne grinste als Antwort breit ... und steckte die anderen beiden mit seiner unerschütterlichen Fröhlichkeit an.
Raen freute sich darüber, dass Manoen sein erheiterndes Lachen trotz all der Kümmernisse nicht verloren hatte. „Ich danke dir für deine Ermahnung an die alten Zeiten, mein Freund, und auch daran, dass Menschen sich ändern können!“ Er hob einen Zeigefinger. „Das kannst du uns gleich an deinem eigenen Beispiel beweisen, Generale Manoen! Capisco?“
„Gegen diese Logik komme ich einfach nicht an.“ Der Rotschopf hob ergeben die Hände, und die anderen brachen in gelöstes Gelächter aus.
Es sollte das letzte Mal sein, dass einem jeden von ihnen zum Lachen zumute war.
*
Als die ersten Geschosse gegen die Mauer flogen, packte auch Kanaima wieder die Erregung. Es war ein erhabener Anblick, diese stattliche Anzahl von Kriegsmaschinen im Einsatz zu sehen. Das Donnern der aufschlagenden Geschosse am Bollwerk der Hy und das Knarren der Wurfarme war der Klang der Überlegenheit in seinen Ohren. Das Hand-in-Hand der Katapultmannschaften und der Ochsentreiber, die für Nachschub an Munition sorgten, war die reinste Augenweide. Dank seiner makellosen Planung lief alles reibungslos: Das Spannen, das Nachladen, das erneute Auslösen. Kanaima verfolgte die Flugbahn der Kalkfelsen und deren Aufprall an den schwarzen Steinen der Grenzwehr. Sie hinterließen schöne, helle Markierungen. Kanaimas Strategie sah vor, das Mauerwerk zuerst etwas mürbe zu machen, es dann mit Brandgeschossen anzuflammen und hernach die harten Basaltköpfe einzusetzen, um die Wehr zu durchbrechen - und das an mehreren Stellen gleichzeitig. Dann würden sie die Katapulte neu justieren und die hinter den Löchern wartende Reiterei der Hy unter Beschuss nehmen, während er die Fußsoldaten mit der ersten Welle und im Anschluss die eigene Reiterei in der zweiten Welle über große hölzerne Hühnerleitern zum Einsatz brachte, welche die Schotterschultern überbrücken sollten.
Auch wenn sich das eigentliche Augenmerk auf die anderen Pässe konzentrierte, und Kanaima nur das Ablenkungsmanöver kommandierte, sollten es die Hy dort oben auf der Mauer mit der Angst zu tun bekommen. Sie in möglichst kurzer Zeit kleinzukriegen, war zu seinem erklärten persönlichen Ziel geworden. Zuerst hatte er sich gar nicht dafür interessiert, tatsächlich irgendetwas zu bewirken und hatte bloß nur seine eigenen heimlichen Vorhaben im Sinn gehabt. Doch an einer unbewussten Äußerung Setnas hatte sich schließlich sein Ehrgeiz entfacht.
„Ich hasse die Hy und ich hasse diese Mauer! Wie gerne würde ich sie eigenhändig in Schutt und Asche schleifen. Aber wartet es nur ab, wenn ich erst einmal am Pass bin, dann werde ich diese Hunde mit Freuden abschlachten“, hatte der kleine Scheißer gesagt, und Kanaima hatte ganz genau dessen sehnsüchtigen Blick auf die Strecke mit den gedrungenen Kriegsmaschinen aufgefangen.
‚Du würdest viel lieber hierbleiben, nicht wahr?’, hatte er gedacht. ‚Weil du hier ohne deinen Vater wärest, der dich ständig herumkommandiert, weil du hier bestimmen und selbst zu Ruhm gelangen könntest - so wie ich!’ Plötzlich war er froh gewesen, die Aufgabe bekommen zu haben und bald weit entfernt vom König und auf sich gestellt zu sein. Auf sich und sein unvergleichliches Wissen, denn auf nichts anderes vertraute er! Sprungartig war Kanaimas Laune noch exzellenter geworden, und um sich einen weiteren großen Anreiz zu schaffen, lieferte er sich nun einen inoffiziellen Wettstreit mit den Bautruppen an den Pässen. Wer bewerkstelligte als erstes den Durchbruch? Wer konnte den ersten kleinen Sieg einfahren und einen Fuß auf hyaunischen Boden setzen? Kanaima war davon überzeugt, dass er derjenige sein würde.
Zufrieden legte er eine Hand auf den Sattelknauf und die andere auf die Stelle des Brustharnischs, unter er sich die in sein Wams eingenähte Locke Isabyllas befand, und genoss seine überlegene Geistesgröße.
Das musste einer der obersten Kommandeure sein, dachte Arhad. Er lag versteckt auf einem kleinen Felsvorsprung, von dem aus man gute Sicht über die Ebene vor der Mauer hatte. Hinter ihm, und westlich der Ebene, erstreckte sich hoher Fichtenwald, in dem sich ein Teil seiner Spähmannschaft verborgen hielt. Der andere Teil war im Wald auf der anderen Seite der Schlucht. Reni führte sie an.
Arhad konzentrierte sich auf den Befehlshaber, der dort unten zwei Pfeilschüsse entfernt auf seinem rotbraunen Pferd saß. Nicht nur dessen wertvolle Rüstung und dessen aufrechter Sitz, einfach alles an ihm strahlte natürliche Autorität aus. Leider konnte er nicht näher heran, um das Gesicht des Askharers studieren zu können. Sie hatten von Raen eine genaue Beschreibung der wichtigsten Personen in Askhars Führungsriege erhalten. Da waren der kleinwüchsige und hinkende König und dessen schmalschultriger Kronprinz, der etwas Klägliches, gleichzeitig aber auch etwas Dunkles an sich hatte; der plattnasige General mit der Statur eines Stiers und der vornehme Maestro der Kriegskünste, der dem König wie aus dem Gesicht geschnitten war. Arhad tippte auf den Maestro.
Plötzlich knackte es hinter ihm. Schnell drehte er sich um und horchte. War es einer von seinen Leuten oder ein askharischer Kundschafter, der da durch den Wald auf ihn zu kam? Arhad bemühte sich, das dichte Gehölz mit seinem Blick zu durchdringen.
Da! War da nicht eben ein Schatten von einem Stamm zum nächsten gehuscht? Vorsichtig kroch der ehemalige Setna in diese Richtung, ohne jedoch seine eigene Deckung auffliegen zu lassen. Das Getöse der Kriegsmaschinen im Hintergrund vollkommen ausblendend, lauschte er auf neuerliche Geräusche. Doch eine geraume Weile lang tat sich nichts, und gerade als Arhad wieder zu seinem alten Beobachtungsplatz zurückkehren wollte, gewahrte er einen bekannten Laut. Noch bevor sein Verstand ihn sagen konnte, dass es das Lösen einer Bogensehne war, schlug ein Pfeil direkt neben ihm in einen vermoderten Baumstumpf ein. Fluchend rollte er sich herum und in den Schutz eines Felsens. Ein askharischer Späher!
Jetzt musste er schnell handeln, wenn er nicht wollte, dass auf askharischer Seite Alarm geschlagen wurde. Ohne Rücksicht darauf, dass der verborgene Angreifer mit Sicherheit schon mit einem neuen Pfeil auf ihn zielte, stürzte er los, schlug wie ein Hase Haken von Baumstamm zu Baumstamm und durchforschte dabei aufmerksam das Unterholz, aus dem der Pfeil gekommen war. Ein erneutes Sirren ertönte, und Arhad duckte sich. Der Pfeil verfehlte ihn um eine ganze Schrittlänge und verschwand im Wald, wobei er hörbar gegen mehrere Äste prallte. Der Schütze war nicht besonders gut, dachte der Hy, zückte sein Messer und hechtete los. Als er an dem dichtbelaubten Gestrüpp ankam, hinter dem er den feindlichen Späher vermutete, hörte er einen erstickten Laut. Er wich schnell nach rechts aus, machte einen Satz nach vorn und durchdrang den natürlichen Sichtschutz. Dahinter erwartete ihn eine überraschende Szene.
Taghat hielt einen fremden Kerl von hinten über den Mund gepackt und bedrohte mit einem Messer dessen Kehle. Der Blick des jungen Banskeid traf den von Arhad, der sich erleichtert aufrichtete und in aller Ruhe auf die beiden zu trat. Der Bogen des Askharers lag zu seinen Füßen im Heidelbeergestrüpp, Arhad hob ihn auf und betrachtete ihn interessiert. Dann blickte er auf den askharischen Kundschafter, der mit verrenktem Hals hasssprühende Blicke aussandte. Wie auch die Hy hatte er zur Tarnung sein Gesicht, mit Ruß geschwärzt, was das Weiß seiner rollenden Augen besonders hervorhob.
„Was machen wir mit ihm?“, fragte Taghat.
„Sie werden ihn heute Abend in ihrem Lager vermissen, ob wir ihn nun töten oder mitnehmen. Zu dumm, damit ist unsere Mission zu Ende. Auch wenn der hier keinen Alarm mehr schlagen kann, werden sie zwangläufig darauf kommen, dass wir hier auf ihrer Seite waren. Es sei denn ...“
„Es sei denn, es würde wie ein dummer Unfall aussehen. Das würde ihnen zumindest einige Rätsel aufgeben und sie nicht unbedingt darauf bringen, dass hier feindliche Späher herumlaufen.“
„Richtig!“ Arhad schnippte mit dem Finger, betrachtete den Askharer und überlegte, wie solch ein Unfall aussehen könnte. Gleichzeitig verspürte er Respekt vor dem Kalkül des beinahe zwanzig Jahre jüngeren Taghat. Manoen hatte Recht, der Bursche zögerte wirklich keinen Augenblick. Arhad beschloss, Raen davon zu berichten, sobald sie wieder auf hyaunischer Seite waren.
Der Askharer hatte zwar die Worte nicht verstanden, welche die beiden Hy miteinander gewechselt hatten, ahnte aber offensichtlich, dass sein letztes Stündchen geschlagen hatte. Mit einem überraschenden Tritt auf Arhads Oberkörper stieß er sich gegen Taghat, der das Gleichgewicht verlor, rückwärts ins niedrige Heidelbeergestrüpp fiel und dabei den Gefangenen losließ. Der Askharer rollte sich blitzschnell herum und kam vor dem jungen Hy wieder auf die Füße. Er riss sein Messer aus der Scheide und öffnete seinen Mund, um so laut wie er konnte nach Hilfe zu brüllen. Doch der Schrei erstarb in seiner Kehle.
Arhad, der sich eben erst wieder aufgerichtet hatte, sah, wie die Gliedmaßen des Askharers plötzlich erschlafften, und er vornüber neben Taghat in die Heidelbeeren stürzte. Gelassen erhob sich der junge Krieger kurz darauf, drehte den Toten herum und zog sein Messer aus dessen Hals direkt über dem Schlüsselbeinansatz. Das Blut wischte er wie selbstverständlich an der Kleidung des Feindes ab. Danach steckte er sein Messer wieder weg. Als er wahrnahm, dass Arhad große Augen machte, zuckte er mit den Schultern und entgegnete trocken: „Nach einem Unfall sieht das jetzt wohl nicht mehr aus.“
„Das fürchte ich auch. Komm, wir nehmen ihn mit, so finden sie wenigstens seine Leiche nicht.“ Arhad machte sich daran, den Toten zu schultern, während Taghat dessen Habseligkeiten zusammensuchte und sämtliche Spuren verwischte. Er holte sogar weiter oben den Pfeil aus dem Baumstupf. Den anderen ließ er allerdings dort, wo er war, der Wald hatte ihn verschluckt und würde ihn nicht wieder hergeben. Danach machten sich die beiden mit ihrer schweren Last an den Abstieg der bewaldeten Felsflanke. Zum Glück hatte der Askharer auch nur leichte Kampfkleidung am Leibe, so dass sie nicht auch noch dessen Rüstung zu schleppen hatten.
Mit dem Ruf des Kuckucks holte Arhad wenig später die vier anderen Krieger seiner Gruppe zusammen, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum westlichen Ende der Mauer, wo sie im Schutze der Dunkelheit mit Seilen herübergeholt wurden.
Noch in derselben Nacht rief das Pfeifen von Signalpfeilen auch die anderen Kundschafter zurück.
Der Einsatz der Späher war zwar denkbar kurz gewesen, hatte aber trotzdem die gewünschten Informationen eingebracht. Raen wusste nun, dass dort unten vor der Mauer nicht nur der besagte Maestro, sondern auch der König und sein junger Schoßhund ihr Lager im schützenden Hinterland errichtet hatten. Alle von ihm beschriebenen Personen waren von seinen Spionen erkannt worden. Auch hatten Arhad und seine Männer in Erfahrung gebracht, dass die Katapulte nachts von je zehn Soldaten bewacht wurden und von scharfen Kettenhunden, die sofort anschlugen, wenn sich etwas den Maschinen näherte. Es war also unmöglich, alle Katapulte auf einmal in einem einzigen Überraschungsangriff zu zerstören. Er musste sich also etwas Besseres einfallen lassen. Schweigend schaute Raen vom Fenster auf das schwarze Band der Mauer, das im dunstigen Licht des Nachmittages lag. Er war allein in dem Raum, den sie als zentralen Beratungssitz benutzten und der von ihm in den ersten der drei Chorten verlagert worden war. Nach dem Beginn des Katapultbeschusses war es in den Türmen entlang der Mauer nicht mehr sicher gewesen ... und zu laut. Raen brauchte Ruhe zum Nachdenken und um aus seinen Visionen deuten zu können. Ob es dafür Zeit gab oder nicht, er musste sie sich nehmen, wenn er Hyauns Botschaften verstehen wollte. Das Dröhnen der Einschläge war auch so noch laut genug. Es schallte von der Mauer durch den trüben Tag bis zu ihm hinauf und lenkte ihn unentwegt ab, ließ selbst hier den Grund unter seinen empfindlich gestimmten Sinnen erzittern.
Fahrig rieb er sich die brennenden Augen. Er konnte schon lange nicht mehr vernünftig schlafen. Sein Körper fühlte sich dumpf und matt an und schrie nach Erholung. In seinem Kopf hingegen schmetterten die Gedanken in seinen Geist wie ein Wasserfall. Und wenn er sie nicht rechtzeitig zu fassen bekam und herausfischte, zerschlugen sie einander unter ihrer eigenen Wucht.
Gereizt blinzelte er, als wieder ein Stakkato von Einschlägen an sein Ohr drang. So konnte er sich nicht konzentrieren! Er musste wenigstens das Fenster zu machen. Vielleicht sollte er sogar den Tempel aufsuchen, um vollkommene Ruhe zu finden. Er erhob sich und wollte die beiden Fensterflügel schließen, da fiel sein Blick auf eine kleine Spinne, die gerade dabei war, im rechten oberen Fenstereck ihr Netz zu weben. Ungerührt vom Krieg der Menschen und behütet von ihrem eigenen kleinen Kosmos setzte sie ihre Arbeit fort. Fasziniert beobachtete Raen sie, obwohl er das gar nicht wollte. Magisch hielt ihn das kleine Geschöpf im Bann, hypnotisierte sein Denken und führte es nach und nach im Kreis, so wie sie ihre Fäden im Kreis legte. Rund herum, immer wieder. Raen verlor sich ganz in der Betrachtung ihrer fleißig knüpfenden Hinterbeine. Rund herum. Rund herum. Träge senkten sich seine Lieder, er lehnte sich weiter vor, um besser sehen zu können. Fünf Stockwerke unter ihm verwandelte sich das Pflaster des Hofes in einen grauen, wabernden Nebel, doch Raen sah nur die Spinne. Mit jedem Rad, das sie um ihr Netz sponn, fühlte er seinen Körper leichter werden. So leicht, dass er meinte, kurz vorm Schweben zu sein. Ein angenehmes Gefühl.
Mit einem Mal drang aus dem nebelwallenden Nichts unter ihm eine flüsternde Stimme zu ihm empor.
„Al Nor, bist du das?“, fragte er mit entrücktem Blick.
„Komm ...“, antwortete das Flüstern.
Raen spürte eine Hand auf seinem Rücken. Der Druck verstärkte sich. Er wollte sich ihm ergeben, doch da durchfuhr ihn ein greller Lichtblitz, und etwas riss ihn zurück. Seine Augen flogen auf und nahmen wieder alles wahr. Er war vom Fenster zurückgetaumelt und stand mehrere Schritt im Raum. Er drehte sich um.
Hinter ihm stand Resa.
„Was machst du denn hier?“, stieß Raen überrascht hervor.
Ein rätselhaftes Flimmern huschte über die beinahe schwarzen Augen seines jüngeren Bruders, als er seinen Mund öffnete und der graue Wurm aus dem Dunkel der Mundhöhle hervor stieß. Speichelverschmiert wand er sich zwischen den blassen Lippen und kreischte in einer unerträglichen Tonlage. Es schien, als riefe er nach etwas, und kurz darauf kamen auch schon Spinnen über Resas Schultern gekrabbelt. Unzählige kleine Spinnen, genau wie die vor dem Fenster. Von überall her kamen sie, aus den Ohren, der Nase, der Haut selbst. Rasend schnell hüllten sie Resa ein.
Raen konnte nicht anders. Er schrie!
Sein eigener entsetzter Laut weckte ihn schließlich. Er blinzelte und erkannte, dass er immer noch am Fenster stand. In der Ferne lag noch immer der Nachmittagsdunst über der Mauer und noch immer erklang das Dröhnen der Geschosse. Er legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf in die Fensterecke. Die Spinne und ihr Netz waren verschwunden. Es war nur eine Vision gewesen. Mit einer Hand hielt er sich den pochenden Schädel und trat vom Fenster weg. Als er sich umwandte, blickte er Resa direkt ins Gesicht. Abrupt blieb erstehen. Alarmiert schlug sein Herz schneller und pumpte Blut durch seinen erschöpften Körper, um ihm den überlebenswichtigen Schub zu geben. Es war noch nicht vorbei!
„Was machst du denn hier?“, fragte er seinen Bruder, und es war ihm, als befände er sich in einer endlosen Wiederholung der Zeit.
Aber Resa, der zuvor offenbar erschrocken von ihm zurückgewichen war, entspannte seine Schultern, trat einen Schritt auf ihn zu und erklärte mit gerunzelter Stirn: „Ich sollte doch zu Euch kommen.“ Seine dunklen Augen sahen Raen fest an. Die schwarze Kriegerkleidung und der Helm ließen ihn sehr ernst und erwachsen wirken.
Aber war da nicht wieder dieses Flimmern? Dieses kurze verräterische Aufleuchten in der Finsternis jener unheimlichen Pupillen?
Nein, Raen stieß angestrengt Luft aus. Da war nichts, nichts als Besorgnis über den verwirrten Zustand seines älteren Bruders. Er schüttelte den Kopf, weil ihm nun endlich einfiel, dass er tatsächlich nach Resa hatte schicken lassen. Seine Hand wich von der Stirn und er lächelte, erleichtert, dass es diesmal die Wirklichkeit war, in der er sich befand.
„Ist alles in Ordnung mit Euch, Al Setna? Soll ich einen Medizi holen?“, erkundigte Resa sich zurückhaltend.
„Nein, ... ich meine, ja, es ist alles in Ordnung und ich brauche keinen Medizi. Hyaun hat gerade zu mir gesprochen, weißt du, danach schwirrt einem mächtig der Kopf.“ Raen hatte keine Ahnung, warum er das seinem Bruder erzählte. Pflegten sie doch längst keine innige Beziehung mehr zueinander. Aber etwas in Resas Blick ließ ihn die einstmalige zärtliche Zuneigung wieder spüren. Es war wie der warme Hauch des Sommerwindes, der sein Gesicht streifte und die Erinnerungen aus der Kindheit mit sich brachte. Und plötzlich vermisste Raen den kleinen aufgeweckten Resa mit dem ewig wirren Haarschopf. Er vermisste den Resa, wie er früher einmal gewesen war, anschmiegsam und voll kindlicher Bewunderung für den großen Bruder. In einem Anflug von Wehmut streckte Raen die Hand aus und berührte Resa an der Schulter. Der stand stocksteif da und sah starr an dem Älteren vorbei.
‚Für solche Gesten ist es wohl zu spät’, dachte Raen schmerzerfüllt und zog seine Hand wieder zurück. „Du kannst gehen“, sagte er müde. „Ich wollte nur sehen, ob es dir gut geht.“
„Ja, Al Setna.“ Resa verneigte sich pflichtgemäß und verließ den Raum.
Kraftlos und von der neuen Vision zutiefst beunruhigt ließ Raen sich auf die Sitzbank unter dem Fenster sinken.
Was, bei allen Dämonen der Unterwelt, war nur mit ihm los? Sah er jetzt schon am helllichten Tag Gespenster? Nicht nur, dass er mit rätselhaften Voraussichten überhäuft wurde, in letzter Zeit schien es auch, als sähe er ständig Resa in seinen Träumen, in seinen Visionen oder wie jetzt auch schon tagsüber. Und das Verrückteste an der ganzen Sache war, dass er sich einbildete, Resa würde ihn beobachten. Heimlich und aus dem Hintergrund, fortwährend fühlte er dessen Blick auf sich gerichtet. Doch jedes Mal, wenn er sich unauffällig umsah, konnte er niemanden entdecken, der ihn anstarrte, und erst recht nicht Resa. Auch jenes Kribbeln, das er stets bei dem Gedanken an Resa empfand, hatte nicht eingesetzt, als er ihm von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatte. Ganz normal und vernünftig hatte Resa gewirkt. Aber war er das auch? Vernünftig? Normal? Schließlich floss in seinen Adern das gleiche fatale Blut.
„Ach, verdammt!“, entfuhr es Raen überreizt. Der Verfolgungswahn machte ihn nervös und schreckhaft. „Komm zu dir, konzentrier dich auf die wichtigen Dinge! Was mit Resa ist, ist jetzt nicht von Belang, darum kannst du dich später kümmern. Falls da überhaupt etwas ist.“ Schwungvoll schloss er das Fenster, durch das bereits die Kühle der anbrechenden Dämmerung hereinzog. Dabei sah er unten im Hof Resa, der auf seinem Pferd den Chorten verließ. Plötzlich hatte Raen eine Idee.
‚Ich schicke Resa mit Manoen mit, dann weiß ich wenigstens mit aller Sicherheit, dass er nicht in meiner Nähe ist, und vielleicht werden dann auch die Sinnestäuschungen weniger’, dachte er hoffnungsvoll und machte sich daran, seinen ersten Generale aufzusuchen.
Unzufrieden stapfte Resa die Treppen des Wohnturmes hinab. Erneut war er seinem Bruder unterlegen gewesen. Unten auf dem Hof wartete sein Pferd. Mühelos schwang er sich in den Sattel und trabte zum Tor des Chorten hinaus. Es half nichts, er musste zurück auf seinen Posten in der Reiterei und auf eine andere Gelegenheit warten. Warum das Glück aber auch nicht ein einziges Mal auf seiner Seite sein konnte!
Den ganzen Weg bis zu seiner Gefechtseinheit waren Resas Gedanken schwarz und klebrig wie das Pech, das darauf wartete, von der Mauer auf die Angreifer geschüttet zu werden. Sein Vorhaben war gründlich fehlgeschlagen und dabei war es ein so günstiger Moment gewesen! Er hatte Raen ganz allein und vollkommen weggetreten vorgefunden. Sie hatte gute Arbeit geleistet. Besser hätte es gar nicht sein können. Ein kleiner Stoß und dann ... dann war Raen durch etwas gewarnt worden, und er hatte von ihm ablassen müssen, weil er seiner Kraft noch immer nicht gewachsen war. Voller Ingrimm dachte Resa, dass die Macht, die in Raen wohnte, viel größer war, als er bisher angenommen hatte. Aber glücklicherweise war es ihm gelungen, ihn zu täuschen. Er hatte ganz genau gespürt, wie die geistigen Fühler seines Bruders versucht hatten, über sein Aun in seine Gefühle vorzudringen, doch gerade noch rechtzeitig hatte er sich dagegen verschließen können. Genau so wie Sie es ihn gelehrt hatte: Mit den schönen alten Bildern, die er seinem Bruder nur vorhalten musste, um ihm damit die Sicht auf seine wahre Gesinnung zu verstellen. Und Raen, der sentimentale Trottel, war tatsächlich darauf hereingefallen, war in der plötzlich aufwallenden Erinnerung derart dahin geschmolzen, dass Resa sich davor geekelt hatte.
Trotz allem musste er Sie um mehr Hilfe bitten, wenn er Raen jemals besiegen wollte. Er richtete seinen Blick in den Himmel, als ob er sie dort oben zwischen dem Wolkendunst sehen könnte und rief in Gedanken: ‚Zaizura, meine Herrin, ich bin dein Krieger. Sprich zu mir und sage mir, was ich tun soll. Warum war ich zu schwach?’
‚Zu allererst beruhige dich, Resa Furiosa’, schienen die Wolken ihm zu antworten. ‚Du musst unbedingt deine Tarnung aufrechterhalten, sonst merkt jemand noch etwas!’
‚Er ist so stark. Die Gabe Hyauns beschützt ihn.’
‚Es wird einen Moment der Schwäche geben, es ist deine Aufgabe, ihn zu finden und zu nutzen.’
‚Aber warum hilfst du mir nicht?’
‚Weil Er es merken würde. Er hat ihn gewarnt.’
‚Dann müssen wir auch Ihn bekämpfen!’
Ein Lachen ertönte, von dem er sich verletzt fühlte. ‚Du Dummerchen’, sagte es. ‚Kleines Dummerchen. Er ist er. Sie sind zu einer Person geworden. Du kannst nur gegen sie beide kämpfen! Willst du das noch immer?’
‚Ja, verdammt, ich will es!’
‚Dann wird es dir auch gelingen!’
*
Noch am selben Tag war auf der anderen Seite der Mauer General Bhuras davon unterrichtet worden, dass einer seiner Kundschafter nicht mehr zurückgekommen war.
„Das kann nur eines bedeuten“, sagte er zu Kanaima, der lediglich vielwissend nickte. Der Köder war geschluckt worden.
Drei Tage später zogen der König, Prinz Setna und der General in aller Heimlichkeit von der Doban-Grenze ab. Ihr Blendwerk war erfolgreich gewesen. Die Hy-Späher - denn es waren zweifellos hyaunische Spione gewesen, die einen von Bhuras’ Leuten hatten verschwinden lassen - hatten die beinahe elftausend Soldaten und den Herrscher Askhars mit seinem gesamten Stab gesehen. Niemals würden sie auf die Idee kommen, dass es noch eine viel größere Armee gab, die sich fernab von hier kontinuierlich über die neuen Pässe in ihr Gebiet vorarbeitete.
Raen hatte seine Streitmacht in zwei gleichgroße Abteilungen aufgeteilt. Die eine blieb nach wie vor an der Mauer, während die andere über den Einmann-Pass vorrückte. Eine Woche war bereits vergangen, seit Manoen mit seinem viertausend Mann starken Heer aufgebrochen war. Weitere fünfhundert Krieger hatten sich unter Renis Führung westlich des Armeefeldes der Askharer in einem schwer zugänglichen, dichtbewaldeten Tal eingenistet und harrten auf Raens Angriffsbefehl. Der Feind hingegen hatte den Beschuss keinen Tag ausgesetzt und stand nun davor, an zwei Stellen durchzubrechen. Noch aber hatte Raen keine Nachricht von seinem Generale erhalten. Noch war er zur Untätigkeit verdammt.
„Dieses Nichtstun macht mich wahnsinnig!“, sagte er zu Kaera.
Der Freund betrachtete gerade die Klinge seines Schwertes. Er hatte sie zuvor geputzt. Beim Anblick des im Licht der Öllampen blinkenden Stahls ahnte Raen, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis diese Klinge ihre ersten Scharten bekäme. Er sah es beinahe fühlbar vor seinem inneren Auge, sah auch Kaeras verzerrtes Gesicht, den Mund weit zu einem wütenden Schrei geöffnet. Raen hoffte nur, dass es nicht das Blut Kaeras war, das an dessen Kleidung und Haut haftete, und ließ das Bild fahren.
Immer häufiger brachte die Gabe ihm solch bruchstückhafte Einblicke ... und sie kündigten Schreckliches an.
„Uns bleibt nichts anderes übrig“, entgegnete das leidenschaftliche Zahlengenie. „Wir müssen auf die Tauben warten.“
„Hm? Ach richtig, die Tauben.“ Raen schob seine Sorgen gewaltsam ein Stück weiter von sich, so als wolle er sie später aus der Ferne betrachten und richtete seine Aufmerksamkeit auf das, was sein Freund und Berater gesagt hatte. Manoen hatte Brieftauben mit sich genommen, die er vom Dach des Chorten hatte wegfangen lassen. Ein hervorragender Einfall. Doch noch war keiner der Vögel eingetroffen.
„Ich rechne in vier Tagen mit der ersten, dann müsste die Abteilung am Turm zum Eingang des Passes angekommen sein“, sagte er.
„Und dann brauchen sie noch einmal fünf Tage, um das Gebirge zu überqueren.“ Kaera blickte auf ein großes Pergamentstück, das auf ein Brett genagelt war, und auf dem Raen die Doban-Grenze und den Einmann-Pass eingezeichnet hatte. Mit Rot waren die Stellungen des Feindes markiert und mit Schwarz die der eigenen Streitmacht.
„Ganz recht, fünf Tage und danach noch zwei, um in die Nähe des feindlichen Heeres vorrücken zu können“, erklärte Raen, und dachte nebenbei, dass ihn die Karte an die Prüfung bei Im’Shumayalan erinnerte. Nur, dass dies hier keine Prüfung war.
„Das wird knapp.“ Kaera steckte die Klinge in die Scheide. Sein Gesicht verriet Anspannung.
„Hm hm, die Mauer hält nicht mehr lange, mit etwas Glück zwei bis drei Tage.“
„Wie lange werden wir sie davon abhalten können, zu uns rüber zu kommen?“
Raen hob die Schultern. „Lange genug, hoffe ich.“
Es war längst tiefste Nacht, und jeder, der in der gespenstig leeren Festung schlafen konnte, tat das auch. Gleich zu Beginn des Beschusses hatte Raen die drei Chorten von Doban räumen und die Bewohner über den Pass schaffen lassen. Nur noch die nötigste Besetzung war geblieben: Die Medizi, die Küchenmeister, einige Handwerker und die Priester. Alles in allem rund achthundert Leute, die sich um die Versorgung der Krieger kümmerten.
Dabei hatte er auch seine alte Freundin wiedergetroffen: Shani, die Medizi, die ihn schon mehrfach gesundgepflegt hatte. Trotz der Umstände hatte sie sich gefreut, ihn wiederzusehen, und sich ohne zu zögern erboten, gleichfalls die Stellung zu halten. Doch Raen hatte sie zusammen mit ihrem Mann und den zwei Kindern auf den Weg ins Zentralland geschickt. Nach Shari. Dort würde es ihr nicht schwerfallen, sich schnell in die beständig wachsende Gemeinschaft der Tonan einzubringen. Er sah deutlich Shanis befreit lächelndes Gesicht vor sich und dachte, dass Andra in ihr eine verwandte Seele entdecken und sie sogleich unter ihre Fittiche nehmen würde. Ganz unvermittelt wandelte sich das Bild der Erinnerung; ein Gesicht schob sich vor das andere, und Raen konnte seine Schwester sehen. Sie stand im Schnee an einem großen Feuer, hielt ihre Hände vor die Brust gepresst und weinte, denn es war ein Totenfeuer. Die Flammen schlugen hoch in den winterlichen Himmel. Aber so überraschend, wie der Eindruck gekommen war, verschwand er auch wieder, und Raen blickte vor sich in den dunklen Raum.
Kaera, der bereits damit vertraut war, dass der Setna immer wieder von Vorhersehungen heimgesucht wurde, beobachtete ihn zwar, blieb dabei aber vollkommen gelassen.
Er fragte auch nie, was Raen gesehen hatte, und dafür war er ihm auch dankbar. Kaera war einfach nur da und wartete stets geduldig, bis sein Gegenüber sich blinzelnd vom Besuch der Gabe erholt hatte. Die Gegenwart des Freundes half Raen immer, sich wieder zu orientieren.
„Ich denke, wir sollten jetzt schlafen gehen“, sagte er wenig später leise und sah Kaera an.
„Gut“, erwiderte dieser bereitwillig. Sie standen von den Kissen auf. Auch Taghat, der die ganze Zeit über unauffällig im Hintergrund des Beratungsraumes gesessen hatte, erhob sich und trat aus den flackernden Schatten.
„So ruhet wohl, meine Freunde“, verabschiedete sich der Setna von seinem Berater und seinem Leibwächter und begab sich in sein kleines Zimmer, das im selben Geschoß lag.
Als er nur mit seinem Untergewand bekleidet im Bett lag, schloss er die Augen. Doch er wollte nicht in den süßen Schlummer hinübergleiten, sondern etwas ganz anderes. Es war offensichtlich, dass er immer, wenn er an jemanden dachte oder denjenigen ansah, einen winzigen Blick in dessen Zukunft werfen konnte. Deshalb versuchte er jetzt, sich auf den König von Askhar und den Maestro zu konzentrieren, versuchte, sich ganz genau an deren Gesichter zu erinnern. Er sah die blauen Augen, die er nie mehr würde vergessen können, sah das lange schwarze Haar Prinz Kanaimas und die graudurchsetzten Strähnen Katthikes, den sorgfältig gestutzten Bart, den mürrischen Zug um den Mundwinkel, die kraftvolle und elegante Erscheinung des einen und die verwachsene Statur des anderen. Was führten diese beiden Männer im Schilde? Eine ganze Zeit lang wartete er darauf, dass etwas geschah. Doch es blieb dunkel um den König und dessen Schergen, und schließlich gab er es auf.
‚Wäre ja auch zu einfach gewesen’, dachte er und rollte sich auf die andere Seite, um wenigstens bequem zu liegen, für den Fall, dass er tatsächlich eindösen sollte.
Der Tag, an dem die Mauer einstürzte, war ein grauer Regentag. Die Katapulte schwiegen, da sie, wenn sie feucht wurden, ständig neu hätten justiert werden müssen. Kein einziges Geschoß kam durch die dichten Regenschleier geflogen, und beklemmende Stille lag schwer über Wehr und Lager. Dicht hinter der Mauer duckten sich die Verteidiger gegen die böigen Schauer, die sie schon nach wenigen Augenblicken bis auf die Haut durchtränkt hatten. In Rinnsalen floss ihnen das Nass unter den Kragen ihres Rüstzeugs und aus den Hosenbeinen in die Stiefel. Auf ihren Gesichtern lag die grimmige Genugtuung, dass es den Angreifern auf der anderen Seite genauso erging.
Vielleicht lag es am Regen, der in die aufgesprengten Fugen eingedrungen war, vielleicht aber auch an der Stille selbst, die das ungeschützt daliegende, innere Mauerwerk am Mittag unversehens dazu veranlasste, einfach nachzugeben und mit einem hässlichen Seufzer in sich zusammenzusacken. Beinahe lustlos polterten die schweren Steinblöcke in den Schlamm oder rollten ein paar Schritte über die Schotterschulter hinab, um dann bei ihren Kameraden liegenzubleiben, wie abgetrennte Köpfe bei einer Massenhinrichtung. Die dumpfen Geräusche, die sie dabei verursachten, verklangen sofort im feuchten Hauch des Tages, der alle Gedanken lähmte. Schwerfällig entstand Bewegung unter den Verteidigern, die Reiterei hinter der klaffenden Lücke rückte enger zusammen. Angespannt warteten sie auf das Einsetzen des Kriegsgebrülls der Askharer. Doch es blieb aus.
Nach einer Weile reckten sich vorsichtig die Hälse aus der Deckung, und auch Raen erklomm die Mauer, um selbst einen Blick auf das feindliche Armeefeld zu werfen. Aber auf der anderen Seite regte sich nichts, nur ein paar stark qualmende Feuer wehrten sich in einiger Entfernung gegen den unaufhörlich prasselnden Regen.
„Wahrscheinlich genügt ihnen ein Durchbruch nicht und sie schonen ihre Soldaten. Des Maestros Taktik verlangt vermutlich mehrere Schneisen, durch die er brechen kann. Ich würde es wohl ähnlich machen“, murmelte er, und nur Kaera und Taghat, die unmittelbar neben ihm standen, konnten es hören. Und obwohl von den Askharern vorläufig keine Bedrohung auszugehen schien, ließ Raen seine völlig durchnässten Krieger weiter warten.
‚Wäge dich niemals in Sicherheit. Denn Sicherheit im Krieg ist stets ein Trugbild, das der Feind und dein sich sehnender Geist dir vorzugaukeln versuchen!’, war einer der ersten Leitsätze gewesen, die er von dem von ihm verehrten Im’Shumayalan gelernt hatte. Und Raen hatte das Gefühl, dass der verstorbene Maestro in diesem Moment von seinem beschaulichen Sitz irgendwo dort oben in den Wolken auf ihn hinabschaute und gespannt darauf harrte, welche Entscheidungen seine beiden Schüler wohl treffen mochten. Denn es war die Ironie des Schicksals, dass die Kriegsführer beider Seiten denselben Lehrmeister gehabt hatten.
Raen wischte sich den Regen aus den Augen, und sah in seiner Erinnerung den alten Maestro lächeln. Sein dünner langer Bart zitterte, als er mit sanfter Stimme sprach: „Scolario, eccellente!“
Gegen Abend riss die Wolkendecke auf, und der Regen zog nach Westen weiter. Raen stellte ein lückenloses Wachkommando um das Loch in der Mauer auf und erlaubte seinen Kriegern, sich in die Lager zu begeben. Sie sollten sich aufwärmen und gut essen, denn kranke Kämpfer waren nicht viel wert.
Am nächsten Vormittag kam der erste fliegende Bote. Mit Verspätung, denn er hatte sich durch den Regen abschrecken lassen. Kaera holte die aufgeregt gurrende Taube aus der Dachkammer des Wohnturmes, in der sie ihr angestammtes Heim hatte und brachte sie zu Raen. Beobachtet von den siebenundsiebzig hier verbliebenen Clanoberhäuptern nahm der Setna die kleine Röhre aus Silber vom Fuß der Taube, öffnete sie und entrollte das hauchdünne Papier. Manoens klein aber säuberlich geschriebene Worte verschwammen von seinen Augen, als er sie las, und er musste sich an einer der Holzsäulen abstützen, weil ihm plötzlich schwindelig wurde. Die unerwartete Vision war so mächtig, dass er schließlich an der Säule entlang in die Knie ging. Manoens Schrift wurde lebendig und verwandelte sich in Bilder. Mit weit aufgerissenen Augen sah Raen, was auch sein General gesehen hatte:
„Sie sind hier, Raen! Sie haben den Pass verbreitert und bauen ihn nun bis in unser Gebiet aus. Askhar steht vor unserer Tür! Sie haben die Wachtürme besetzt und die Krieger dort getötet. Stattdessen sitzen dort nun falsche Banskeid, die unsere Kleidung tragen und unsere Sprache sprechen! Niemand hat etwas davon gemerkt. Was geschieht hier nur? Habe Späher ausgeschickt. Sie berichten, dass hinter dem Bautrupp bereits ein großer Teil der askharischen Armee wartet. Muss Entscheidung treffen. Oh, Raen, warum bist du nicht hier? Ich vermute, die Askharer wissen noch nicht, dass wir sie entdeckt haben. Werde morgen den Bautrupp angreifen, um den Ausbau zu stoppen. Noch ist Zeit, noch ist der restliche Weg zu steil für sie. Raen, ich habe eine Befürchtung: Vielleicht gibt es noch mehr dieser Übergänge. Du musst danach suchen lassen. Auch ich habe bereits einige Kundschafter weiter nach Osten gesandt. Sie haben ebenfalls Tauben bei sich. Nach unserem Angriff werden die Askharer ihre Taktik umstellen müssen, das hoffe ich zumindest. Wünsch mir Glück, mein Freund! Gruß, Manoen.“
Erst als Raen sich wieder rührte und mit klarem Blick seinen Kopf hob, kam Taghat neben ihn und half ihm auf die Beine. Raen setzte sich auf die Bank unter dem Fenster. Noch immer innerlich bebend atmete er mehrmals tief die frische Luft ein, sämtliche peinlich berührte Regungen seiner Beobachter ignorierend.
Allmählich fühlte er sich in der Lage zu sprechen. „Am Einmann-Pass steht ein weiteres großes Heer der Askharer. Sie haben sich durch Bautruppen Zugang verschafft. Aber Manoen wird sie aufhalten“, informierte er die Clanchefs bemüht sachlich.
Einige sprangen sofort auf und riefen bestürzt: „Bei Hyaun, das ist unser Ende! Zwei Stellungen können wir nicht verteidigen, nicht wenn die zweite Armee noch einmal so groß ist wie die erste!“
Verärgert hob Raen eine Hand und erstickte damit die heraufdrängende Panik, die ihnen den Verstand zu vernebeln drohte.
„Und ob wir sie verteidigen können, und wenn es drei oder gar vier sind! So lange Leben in uns ist, so lange der Atem durch unsere Körper strömt, werden wir die Askharer daran hindern, in das Land unserer Vorväter einzudringen!“, gemahnte er die Chor suer Palan an ihre Kriegerpflicht. Aber in ihrer unwilligen Stille spürte er, was sie dachten: Welchen Wert hatte das Land ihrer Vorväter noch, wenn der Geist Hyauns sie verlassen würde?
Raen wurde wütend, ob dieser einfältigen Zaghaftigkeit. Er erhob sich und trat in ihre Mitte.
„Unsere Familien verlassen sich auf uns. Sie bangen mit uns und weinen um uns. Wollt ihr sie etwa derart enttäuschen? Ihr hab ihnen geschworen, zu kämpfen bis der letzte Tropfen eures Lebenssaftes aus euch herausrinnt. Ihnen habt ihr es geschworen und niemand anderem; nicht den Priestern, nicht Hyaun und auch nicht dem Setna! Ich sage euch, nur wir alle gemeinsam können den Askharern Einhalt gebieten. Wenn wir ihnen als ein Mann entgegentreten, werden wir ihnen zeigen, wie stark die Gemeinschaft Hys ist, und wir werden ihnen unsere Antwort schon von weitem entgegen schmettern, dass ihnen Hören und Sehen vergeht! Vor Angst in ihre Rüstung sollen sie sich pissen, wenn sie sehen, dass die gefürchteten Krieger Hys sie erwarten, um sie mit Freuden in die ewige Verdammnis zu schicken! Ich frage euch nun: Gebt ihr euch und eure Familien schon jetzt auf oder geht ihr mit mir, Schulter an Schulter als ein Mann?“ Nach dieser feurigen Ansprache atmete Raen scharf ein und sah erwartungsvoll in die Runde. Hatten sie seine Worte endlich begriffen? Mit blitzenden Augen drehte er sich um sich selbst und nahm jedes Gesicht in sich auf.
„Ich frage euch“, flüsterte er ein weiteres Mal mehr zu sich selbst.
„Wir gehen mit Euch“, tönte es schließlich zaghaft aus den Kehlen der älteren Männer.
„Ich höre nichts!“, schrie Raen.
„Ja, Al Setna! Wir gehen mit Euch!“, schallte es zurück, dass die Luft in den Raum vibrierte.
Raen nickte. Schon viel besser, dachte er und sah Kaera an, der ihm mit einem vielsagenden Blick antwortete. Langsam ging er zwischen den grünbemalten Säulen hin und her, um sein in Wallung geratenes Blut wieder etwas abzukühlen, und als er schließlich spürte, dass alle Anwesenden seinen Appell in ihre Herzen aufgenommen hatten, wandte er sich an seine Anführer und klärte sie über das weitere Vorgehen auf.
Anschließend saß Raen ganz allein ein seinem privaten Zimmer und konzentrierte all seine Sinne auf Manoen. Er musste sich mit ihm in Verbindung setzen und ihm mitteilen, dass er seine Botschaft erhalten hatte und dass er auf seine Entscheidungen vertraute. Er fragte sich kurz, ob Manoens Familie ahnte, welch verantwortungsvollen Posten ihr einst so aufsässiger Sohn innehatte und wie wichtig er für diese Schlacht war. Raen schloss seine Augen und mit der Erinnerung an das breite Lächeln seines Freundes fiel es ihm leicht, sich dessen Gesicht vorzustellen. Aus dem lustigen Gesicht wurde schnell der ganze rothaarige Hüne, und kurz darauf öffnete sich der Strudel der Zeit und nahm Raen mit sich. Er erblickte Manoen in seinem Rüstzeug auf seinem Pferd sitzend. Um ihn herum herrschte das Chaos einer Schlacht, und der Generale musste all seine Bärenkräfte einsetzen, um sich die Feinde vom Leib zu halten. Schwertschwingend und wild brüllend schlug er sich durch die Reihen der rotgewandeten Feinde, die zuckend und blutend unter seinen Hieben zusammenbrachen. Nur widerwillig, denn Raen hätte gern mehr von der Zukunft seines Freundes gesehen, verdrängte er das Bild, streckte seine Fühler aus und suchte nach Kontakt zum Geist des Generale. Einem Strahl aus unsichtbarem Licht gleich trug die Gabe Hyauns seine Gedanken über die Berge und Täler und lenkte sie hin bis zu dem Turm auf der anderen Seite des Gebirgszuges, wo Manoen sich gegen die Askharer verschanzt hatte. Das Aun des Freundes fing den Strahl ein und verband sie beide schließlich miteinander. Und so kam es, dass dreißig Meilen von Doban entfernt der hochgewachsene Generale erfreut aufhorchte und der vertrauten Stimme in seinem Kopf lauschte. Als diese sich wenig später verabschiedete und sich in den summenden Hintergrund zurückzog, lächelte er still und griff zur Feder.
Zwei Tage später flatterte die nächste Taube ein. Unten an der Mauer donnerten wieder die Geschosse, aber noch war kein weiteres Stück eingestürzt. Raen zog sich mit Kaera in eines der Zelte im Lager zurück. Auf die kommende Vision vorbereitet, begann er zu lesen, was der kleine, geflügelte Bote ihm gebracht hatte. Manoens vertraute Schrift auf dem Papierröllchen war tröstlich, doch das, was sie berichtete nicht. Trotzdem öffnete Raen wie zuvor seinen Geist und sah mit den Augen seines Generals:
„Haben den Bautrupp erfolgreich angegriffen. Ihre Baugeräte sind zerstört, ihre Arbeiterkolonnen fast vollständig vernichtet und ihre Soldaten zurückgeschlagen. Sie kauern nun im Schutze des nächsten Gipfels und lecken ihre Wunden. Wie viele dort oben genau sitzen, weiß ich noch nicht, aber sicher ist, dass die Soldaten selbst weitergraben müssen, wenn sie vorankommen wollen. Trotz unseres Erfolges fühle ich Kummer, denn zu spät erkannten wir im Gefecht, dass unter ihren Arbeitern viele Hy waren. Sie haben um Gnade gefleht, als meine Banskeid über sie herfielen. Diese askharischen Schweine haben unsere eigenen Leute als Schutzschild benutzt! Ihren Tod konnte ich nicht mehr verhindern. Geschätzte vierhundert Feinde sind gefallen, darunter hundert Männer hyaunischen Blutes. Das schmerzt mich. Auf unserer Seite gab es hingegen nur dreizehn Verluste. Warte jetzt auf Neues von den Spähern und halte weiter die Stellung. Falls die Kundschafter im Osten noch mehr Übergänge finden, teile ich mein Heer auf und gehe mit dorthin. Gruß, Manoen.“
Als er geendet hatte, nahm Raen ohne etwas zu sagen den Umhang von seinen Schultern, wendete ihm von innen nach außen, so dass das grelle Rot des Futters zum Vorschein kam, und band ihn vor der Brust wieder zu.
„Das erste Blut ist vergossen worden und dies soll alle daran erinnern, wofür wir unser Blut geben!“, erklärte er Kaera.
„Aber, dann wird der Feind dich erkennen“, wandte der Berater ein. Und seine Sorge war berechtig, denn Raen würde mit diesem Aufzug weithin sichtbar aus dem Schwarz seiner Krieger hervorstechen und es den Pfeilen der Askharern leicht machen, ihn zu finden.
„Sollen sie mich ruhig sehen! Auch sie sollen sich fragen, wofür sie kämpfen“, beschied Raen ungerührt und ging aus dem Zelt.
*
Die Nachricht darüber, dass die Hy den Ausbau des Einmann-Passes entdeckt und gestoppt hatten, ärgerte Kanaima zwar, aber er wusste auch, dass die Königliche Armee nicht mehr aufzuhalten war, egal was die Hy ihr in ihrer Verzweiflung entgegenwarfen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, und er konnte gelassen abwarten. Vielleicht würde er sogar noch ganz nebenbei den wichtigsten aller Zugänge erobern und mit seiner Katapultschar auf eigene Faust nach Hy einziehen. Kanaima blickte hinauf zu den zwei Bergspitzen, die den Doban-Pass flankierten. Jener bedeutende und schicksalhafte Ort, an dem Ruhm und Niederlage der askharischen Vergangenheit so dicht beieinander lagen. Er musste an General Kasai denken, dem es bestimmt gewesen war, hier zuerst die Schmach seines Lebens und dann den Tod zu finden. Kanaima fragte sich, was der Pass für ihn selbst bereithielt? Sollte ihm womöglich gelingen, was sämtliche askharische Feldherren vor ihm nicht vollbracht hatten? Immerhin hatte er genau an dieser Stelle auch seine Prophezeiung erfüllt. Mit der unweigerlichen Erinnerung an die Worte des Orakels fühlte er plötzlich, wie mächtig der Strom des Schicksals war, der sich hier über diesem Landstrich bündelte und nur darauf wartete, sich in des einen Gunst und des anderen Untergang zu verwandeln. Vor seinem inneren Auge sah Kanaima sich in siegreicher Pose auf den felsigen Höhen des Passes stehen, mit Blick auf die Trümmer der zerstörten Grenzmauer. Er sah die drei großen Festungen der Hy zu seinen Füßen brennen. Doch was war das? Er runzelte die Stirn. Auf einmal tauchte ein Gesicht auf. Wie aus dem Nichts erschien es und blickte ihn an, halb durchsichtig vor dem Hintergrund aus Flammen und Rauch. Natürlich kannte er die ebenmäßigen Züge und den brennenden Blick. Es war genau wie in dem Traum, den er vor einigen Tagen des Nachts gehabt hatte. Da hatte er den Kerl auch gesehen. Aber nicht etwa, wie er ihm hinkend und in Sklavenkleidern durch den Karst des Andalai folgte oder in dem prächtigen grünen Gewand der Ohaoudis. In seinem Traum hatte er einen roten Umhang getragen und oben auf der Mauerkrone der Grenzwehr gestanden wie ein Kapitän im Sturm. Flimmerndes Zwielicht hatte ihm umfangen, und der suchende Blick des Hy hatte immer wieder glühend heiß über sein Bewusstsein gestrichen, war aber nie verharrt; ganz so, als könne er ihn zwar spüren, nicht jedoch wirklich sehen. Doch auch Kanaima hatte etwas gefühlt, etwas, das ihn mit dem Kerl verband.
Was hatte das bloß zu bedeuten?
Der Maestro schüttelte den Kopf, weil er es nicht wissen wollte. Die Wahrnehmung löste sich auf, und er schaute um sich. Niemand hatte bemerkt, dass ihr Anführer einen ganzen Moment lang wie ein Idiot vor sich hingestarrt hatte. Die Katapulte knarrten und schwirrten geschäftig vor sich hin und schleuderten Feuer und Basalt gegen die Mauer. Kanaimas Blick schweifte das langgestreckte Bauwerk entlang und gewahrte die Verteidiger als kleine schwarze Punkte obenauf, lächerlich wenige im Vergleich zu seinem eigenen Heer. Dennoch würde es kein Kinderspiel werden, sie zu überwinden, das wusste er. Gerade als er sich abwenden wollte, hielten seine Augen an etwas fest, einer Bewegung, einem grellen Farbtupfer inmitten der dunkelgewandeten Feinde! Er merkte nicht, wie sein Atem stockte und seine Hände sich um die Zügel verkrampften. Kalt und zäh rann das Blut durch seine Adern, während er sich einzureden versuchte, sich bloß getäuscht zu haben und dass seine Sinne ihm einen Streich gespielt hatten. Er kniff die Augen zusammen und suchte die Stelle der Mauerkrone erneut ab. Wenn dort jemals ein roter Punkt gewesen war, so war er jetzt spurlos verschwunden!
*
Roman war erstaunt, was sein Sohn alles von der Kriegsführung verstand und wie wortgewaltig und überlegt er auf jede Veränderung reagierte. Das musste er wohl in Borgossa gelernt haben. Im Stillen dankte er Hyaun dafür, dass sein Sohn diese besonderen Fähigkeiten erlangt hatte. Und obwohl die Lage für sie alle brenzlig war, fühlte er sich vollkommen sicher, weil er wusste, dass es Raen war, der die Entscheidungen traf.
Heimlich betrachtete er ihn, wie er dort in sicherer Entfernung von den Einschlägen der Geschosse und in ständiger Begleitung seiner zwei Freunde auf der Mauer umherwanderte. Umschmeichelt vom unheilvollen Rot seines Umhanges sprach er mal hier und mal da mit einem der Anführer und begutachtete dann wieder eine ganze Weile die Anstrengungen des Feindes. Roman stellte sich vor, wie Raen in seinem Kopf die Ideen schuf und wieder verwarf, wie er Taktiken gegeneinander abwog und sich dann für die eine entschied. Er beobachtete ihn schon seit einiger Zeit, seit die Tonan ihn von den Palansetna befreit hatten. Er hatte gesehen, wie sein Sohn, die Stirn in beide Hände gestützt, über der großen Karte gebrütet hatte, wie er sich ganz selbstverständlich mit den viel älteren Chor suer Palan beriet, und wie er jedes Mal mitten in der Bewegung verharrte, wenn ihn eine Vision traf, leicht nach vorn gebeugt und den Blick verschleiert. Aber auch, wie er hinterher daraus erwachte, und seine nur für wenige Menschen sichtbare Aura stets ein wenig reiner strahlte. Roman hatte sich bemüht, alles in sich aufzunehmen und es zu bewahren für diejenigen, die nach ihnen kommen würden. Es war seine Bestimmung und nach so langer Zeit auch eine Freude, erfahren zu dürfen, welch außergewöhnliche Persönlichkeit aus seinem Kinde erwachsen war. Dass Raen noch immer eigensinnig war und geradeheraus sagte, was ihm nicht passte, empfand Roman mittlerweile nicht mehr als Makel, sondern als Vorteil. Und dass er jede Begebenheit noch immer sorgfältig hinterfragte und sie nicht als vom Schicksal gegeben hinnahm, erleichterte ihn auf gewisse Weise sogar. Wahrscheinlich, weil er sich selbst nie davon hatte befreien können, die Macht des Schicksals als etwas Zweifelhaftes anzusehen. Am meisten aber gefiel ihm an Raen, wie dieser nie vergaß, die Zuversicht aus seiner Haltung und aus seinem Gesicht sprechen zu lassen. Denn es war eben diese Zuversicht, die den Bann gebrochen und einen jeden dazu veranlasst hatte, ihm mit Herz und Seele zu folgen. Auch er würde das tun. Roman tastete nach seinem Zhangha-Beutel in dem sich nicht mehr das Kraut, sondern die kleine blaue Blume befand, die er gepflückt hatte, als die Tonan geboren wurden, und er fühlte, dass ihn nichts mehr würde erschüttern können.
Der alte Krieger sah, dass sein Sohn auf ihn zukam. Der rote Umhang wehte um seine schlanke Erscheinung. Er trug ihn trotz der zunehmenden Hitze, denn die Sonne hatte während der vergangenen Wochen deutlich an Kraft gewonnen und schob nun auch die letzten Wolken vom Sommerhimmel.
Der Setna erreichte die Stelle der Mauer, an der sein Vater stand. Er schaute ihn freundlich an, und den Älteren durchfuhr wieder einmal mehr ein Schauer ob der stillen Kraft des Ausdrucks, die in diesem Blick lag.
„Sei gegrüßt, Vater. Ich hatte dich lange nicht gesehen und mich schon gefragt, wie es dir wohl ergehen mag.“
„Gut, und unversehrt, wie du erkennen kannst.“
„Das freut mich. Sehen wir uns später beim Nachtmahl?“
„Gerne“, nahm Roman die Einladung an und lächelte.
Wenige Tage später trafen gleich zwei Tauben ein. Die eine war von Manoen und die andere von einem der Kundschafter. Raen las zuerst die Botschaft des Generale, denn er ahnte bereits, was die andere enthielt.
„Mein lieber Freund, wie befürchtet befinden sich noch zwei weitere von den Askharern ausgebaute Übergänge weiter östlich von hier. Doch auch sie scheinen noch nicht ganz fertig zu sein. Breche unverzüglich mit der Hälfte meines Heeres auf. Habe das Kommando hier am Pass an Banskeid Dharin - du weißt, er ist auch ein ehemaliger Setna - übertragen. Erbitte deine Unterstützung. Sende uns die Hälfte deiner Krieger. Größe der feindlichen Armee auf dreißigtausend geschätzt, je Zehn an jedem Pass. Hyaun steh uns bei! Gruß, Manoen.“
Dass sein Freund, der von jeglichen Gottesanrufungen für gewöhnlich die Finger ließ, Hyaun um Beistand bat, zeigte Raen, wie ernst er die Situation einschätzte. Er beauftragte Kaera damit, die Clanchefs zusammenzutrommeln, und las die zweite Nachricht.
„Al Setna, zweiter Pass östlich des Sonnenkopfes und dritter am Noghan ausgehoben. Feind hat auch hier Türme mit falschen Banskeid besetzt. Bauarbeiten noch nicht abgeschlossen, askharische Armee lagert in den Bergen. Warte auf Anweisung. In Ehrerbietung, Arhad.“ Eine kleine Zeichnung, die beschrieb, wo die Pässe lagen, war dem Schreiben beigefügt. Guter Arhad, dachte Raen. Manoen hatte klug gehandelt, ihn auszuschicken.
Die Chor suer Palan erschienen, und Raen teilte sie gleichmäßig in zwei Gruppen auf. Die eine sollte weiterhin hier bleiben und die andere unter dem Kommando von Reni auf dem schnellsten Wege nach Osten ausziehen.
Nachdem die Anführer gegangen waren, um die Vorbereitungen für den Aufbruch zu treffen, ließ Raen sich eine weitere große Holztafel und Pergament bringen. Er nagelte das Pergament auf das Holz und fügte es an die bereits vorhandene Karte vom Doban-Pass an. Dann tunkte er die Feder in die Tinte und begann zu zeichnen. Die Front hatte sich bedrohlich vergrößert, zog sich jetzt über die ganze Länge des Junghal. Das änderte seine gesamte Taktik.
Als er fertig war und die neuen Pässe markiert hatte, rief er Kaera zu sich heran.
„Ich habe vor, die Mauer aufzugeben und den Rest unseres Heeres weiter oben auf dem Pass zu verschanzen“, erklärte er ruhig. „Mit so wenigen Männern ist die Mauer nicht zu verteidigen. Am Pass wird es leichter, dort gibt es nur einen Durchgang und an dem werde ich Steinfallen und andere Wehren bauen lassen. Bitte informiere alle Helfer, sie sollen aus den Chorten holen und verladen, was noch von Wert ist und dann ab über den Pass! Ich kann nicht riskieren, dass sich noch ein Bewohner hier aufhält, wenn die Mauer fällt. Es ist bitter, aber uns bleibt keine andere Wahl. Doban ist bereits verloren.“
„Ja, Setna“, antwortete Kaera, seine Lippen waren zu einem geraden Strich zusammen gepresst, und Raen konnte sehen, wie auch ihn die neuen Nachrichten erschütterten. Es war eine einfache Rechnung: Neuntausend gegen geschätzte vierzigtausend, falls es nicht noch mehr wurden.
„Sollten wir nicht noch mehr tun?“, fragte Kaera unsicher.
„Ich kann nicht einen Krieger entbehren“, entgegnete Raen, auch er zog bereits eine Evakuierung sämtlicher südlicher Clans über den Nori in Betracht. Doch wer sollte sie organisieren? Er brauchte jeden, der ein Schwert führen konnte, hier.
„Die Medizi könnten es tun, sie müssen nicht alle beim Heer bleiben. Außerdem haben sie die nötige Ruhe“, führte Kaera den Gedanken weiter aus.
„Du hast Recht, wir sollten es tun, solange uns noch ausreichend Zeit bleibt. Hol mir noch einmal die Räte der Medizi hierher. Ich werde mit ihnen sprechen.“ Schweren Herzens dachte Raen daran, dass bald auch der Chorten von Shari ungeschützt und verlassen daliegen würde. Aber wenn es den Askharern tatsächlich gelingen sollte, bis ins Zentralland vorzustoßen, würden sie lediglich leergeräumte Festungen vorfinden, in denen es kaum etwas gab, dass sie rauben oder schänden konnten. Das würde sie wahrhaft frustrieren. Und die Moral der Soldaten war ein nicht zu vernachlässigender Faktor, wenn man einen Krieg führte.
Nachdem Raen den Medizi ihre neue Aufgabe zugewiesen und von ihnen besorgte Mienen, aber auch ihre sanfte Zustimmung erhalten hatte, zog er sich zurück in sein Zimmer, um Manoen und Arhad seine Befehle zu übermitteln. Taghat wachte vor seiner Tür.
In der Nacht lag er wach und versuchte erneut, in die Köpfe seiner beiden ärgsten Feinde vorzustoßen. Diesmal gelang es ihm sogar, sich ihre Stimmen in Erinnerung zu rufen: Das nasale Schnarren des Königs und die gewählte Ausdrucksweise des Maestros. Ihre Bilder manifestierten sich, wurden zum Anfassen deutlich, und Raen wagte einen weiteren Schritt auf sie zu. Doch wieder glitten seine Gedanken an ihnen ab wie an einer polierten Oberfläche, an der es keinen Halt gab. Die Bilder verblassten und schwebten davon. Lange starrte er in die Dunkelheit und fragte sich, warum die Gabe ihn nicht sehen lassen wollte, was die Absicht dieser beiden Askharer war, und warum sie ihn nicht davor gewarnt hatte, dass der Feind mehrere Pässe ausgebaut hatte. War das Zaizuras Werk? Raen dachte an die Spinnengöttin und dann an Prinz Kanaima. Das Schicksal hatte ihre Wege immer wieder kreuzen lassen, das musste einen Grund haben.
*
Was war das nur? Er versuchte mit aller Macht, nicht an diesen Kerl zu denken, und trotzdem spukte er unentwegt durch seinen Kopf. Wutentbrannt setzte Kanaima sich auf. Das Laken klebte an seiner Haut und sein Lager war zerwühlt. Die Hitze des Tages staute sich unter der Zeltplane. Er rief nach einer Ordonnanz, die den Eingang aufschlug, damit frische Luft hineingelangen konnte. Und als die erste kühle Brise über sein schweißfeuchtes Gesicht strich, entspannte er sich ein wenig. Mit der Hand fuhr er sich durch das offene Haar und lehnte sich zurück auf seine Kissen. Jetzt versaute ihm dieser vermaledeite Hundsfott auch noch seine ruhigen Nächte! Mit einem Seufzer legte er sich einen Arm über die Augen, draußen hörte er die knirschenden Schritte der Wachen, das Knacken des Feuers ... und noch etwas anderes. Sein Kopf ruckte hoch, und Kanaima vergewisserte sich, dass alle Leibwächter an ihren Plätzen standen. Beruhigt ließ er sich wieder auf das Lager sinken. Ein einziger Assassino würde niemals an dem Dutzend Männern vorbeikommen, die er aus reiner Vorsicht um sich versammelt hatte, und auch nicht zwei oder drei Attentäter. Er war vollkommen sicher. Oder? Kanaima fluchte leise. Warum dachte er überhaupt an so etwas? Weshalb war er plötzlich so argwöhnisch? Nur weil er schon wieder von diesem Hy geträumt hatte, hieß das noch lange nicht, dass er auch tatsächlich dort draußen herumschlich und nach seinem Leben trachtete.
Der gelbe Schein des Feuers drang durch die Leinwand des Zeltes und zeichnete darauf die Schatten zweier Soldaten ab.
‚Er hat es schon einmal getan und er ist der einzige, dem ich das auch noch ein zweites Mal zutraue. Und selbst, wenn ich ihm das Leben gerettet habe, kann ich mich nicht darauf verlassen, dass er mich verschonen würde, falls wir einander begegnen sollten.’ Aber warum sollten wir einander begegnen? Das letzte Mal, als du ihn gesehen hast, war er in Ohaoud und das halbe Königreich hinter ihm her. Warum sollte er jetzt hier sein?
Er ist hier, das spüre ich. Er ist hinter dieser verfluchten Mauer!
Die Schatten der Soldaten bewegten sich, und Kanaima wandte den Kopf. Die kühle Luft verursachte ihm eine Gänsehaut. Abrupt setzte er sich auf. Doch noch immer war nichts Ungewöhnliches zu hören, nur das leise Knirschen der Stiefel. Kanaima rieb sich die nackten Oberarme und ihm kam der Gedanke, dass es vermutlich besser wäre, sich damit abzufinden, denn es war offensichtlich seine Vorsehung, mit diesem Mann verbunden zu sein.
Aber er wollte nicht! Dieser Kerl brachte nichts als Schwierigkeiten und womöglich noch seine gesamten Pläne in Gefahr. Zum Teufel mit ihm!
Kanaima schwang seine Beine aus dem Bett. Er würde jetzt eh nicht mehr schlafen können. Mit einem Seufzer stand er auf, warf sich eine Tunika über und ging hinaus in die Nacht, gefolgt von seinen Leibwächtern.
Im verlassenen Zelt flackerte das Feuer weiter von außen durch die Leinwand, und die gedämpften Geräusche des Maestros, der sich an die wärmende Glut setzte, drangen herein. Gänzlich unbeachtet von der Welt der Menschen krabbelte eine kleine Spinne über die Kissen und verschwand unter dem Bettgestell.
*
Am nächsten Morgen verabschiedete Raen seinen neuen Heerführer Reni und sah zu, wie dessen zweitausend Mann und die Abteilung der Medizi und Helfer so unauffällig wie möglich zum Pass hinaufzogen, sorgfältig darauf bedacht, keine Staubwolken aufzuwirbeln. Auch waren die Wagen mit grünen Zweigen getarnt und alles Glänzende mit schwarzer Farbe angestrichen worden, um ein verräterisches Blinken im Sonnenlicht zu vermeiden. Die anderen zweitausendzweihundert Krieger ließ Raen auf der Mauer auf- und abgehen, so dass es schien, als sei alles unverändert. Sie blickten hinunter auf die im hellen Licht des Morgens stehenden Kriegsmaschinen. Der süße Duft der blühenden Holunderdolden wehte zu ihnen herauf und brachte die Erinnerung an die Heimat mit.
Zwei lange Monate versuchte Askhar über die unfertigen Pässen nach Hy einzudringen, und zwei Monate hielten die tapferen Banskeid sie davon ab. Immer wieder tröpfelten vereinzelte Gruppen der Askharer über Trampel- und Gämsenpfade die Berghänge hinab, aber meist schafften sie es nicht einmal bis in den niedrigen Krüppelwald. Schon vorher wurden sie von den beweglichen Hy-Verbänden abgefangen und ohne Rücksicht niedergemacht. Ihre toten Körper lagen überall zwischen den Felsen und Dornenbüschen herum - als Warnung und als Futter für die Tiere der Berge. Und an manchen Tagen war der Himmel schwarz von Krähen und Geiern. Es hatte sich herumgesprochen, dass es hier ein Festessen gab.
König Katthike fluchte. Nicht, dass sein Heer in den Bergen feststeckte und er seine Übermacht nicht geltend machen konnte, und nicht, dass die Reiterei und die schweren gepanzerten Streitwagen in diesem unwegsamen Gelände vollkommen nutzlos waren, war das Schlimmste, sondern dass sie hier von einer geringen Zahl Bauerntölpel vorgeführt wurden, die nicht viel mehr von Kriegsstrategie verstanden als ein Ziegenhirte! Außerdem - und das kam noch hinzu - fror er hier oben im Gebirge des Nachts erbärmlich. Einmal hatte es sogar geschneit - im Sommer!
Schlecht gelaunt blickte Katthike von dem im Hochtal lagernden Heer auf seine eisenverstärkten Stiefelspitzen. Ungehalten stieß er einen der Kiesel fort, die sich hier an dieser Stelle am Berg heimlich zu vermehren schienen, denn ganz egal, wie viele man an einem Tag forträumte, am nächsten Morgen waren es wieder genauso viele graue und weißgeäderte Felsen, die ihnen den Weg versperrten. Mit unnötig viel Schwung trat er den nächsten Stein weg. Er polterte den Hang hinab und landete direkt zwischen den angebundenen Pferden, die aus ihrem dösenden Zustand schreckten und die Köpfe hochrissen. Doch die Unruhe, die sich wie eine Welle durch die Reihen der Tiere fortsetzte, schwappte auch wieder zu Katthike hinauf und ließ seine Haut kribbeln. Mit jedem Tag, den sie hier oben hockten, verdüsterte sich zusehends seine Stimmung. Es musste etwas geschehen. Auch wenn der General anderer Meinung war, denn leider Bhuras befolgte noch immer genau die Anweisungen Kanaimas und verwies fortwährend darauf, Geduld zu haben.
Der nächste Stein suchte sich seinen Weg in die Tiefe. Katthike spuckte hinterher. Er hatte keine Lust, noch weiter Geduld zu haben! Jemand musste die Hy von hinten angreifen und sie ablenken, damit das Heer endlich aus den Bergen hinab ins Zentralland vordringen konnte. Sonst würden sie noch hier sitzen, wenn der Winter anbrach!
Gleich am nächsten Morgen sandte Katthike mehrere Boten vom Scheren-Pass, welcher der mittlere der drei neuen Übergänge war, nach Westen zum Doban-Pass. Er wollte, dass Kanaima hier bei ihm erschien und sich etwas einfallen ließ.
Ganz ähnlich wie dem König erging es dem Stiefsohn. In der Eintönigkeit des Wartens war Setnas anfängliche Euphorie über den Kriegszug recht bald einer gefährlich anschwellenden Unzufriedenheit gewichen. Missmutig und zu Tode gelangweilt kauerte er trotz des spätsommerlichen Sonnenscheins in seinem Zelt. Er hatte es satt, hier herumzusitzen und nicht einmal in die Nähe der Scharmützel zu dürfen. Der König hatte es ihm ausdrücklich verboten. Und dabei wollte er endlich wieder einmal kämpfen! Er brannte darauf, sein Hy-Schwert an dessen Erschaffern auszuprobieren. Wie viele der schwarzen Teufel sich wohl dort unten zu Füßen der Berge versteckt hatten? Die Späher behaupteten, sie wüssten es nicht, weil man sie nie zu Gesicht bekam. Zwar fanden sie ihre verlassenen Lagerplätze, doch nie die Hy-Krieger selbst. Es schien, als seien sie unsichtbar, als hätten sie den Wald und die Nacht als Verbündete, durch die sie sich flink wie Katzen und gefährlich wie die Wölfe bewegten. Vielleicht flogen sie aber auch durch das Unterholz oder von einem Schatten zwischen den Felsen zum andern so wie all die Raben und Krähen und hinterließen deshalb keine Spuren. Die Hy hatten viele Geheimnisse und Kräfte, so uralt wie die Natur. Und in diese so derart respektlos einzudringen, brachte womöglich Unglück. Zumindest erzählten sich das die Späher abends am Lagerfeuer.
Was für ein schwachsinniges Geschwätz! Manchmal, so dachte Setna, schienen die Kundschafter eher an all diese Märchen zu glauben als an die wahre Stärke Askhars. An Stelle des Königs würde er diese Reden verbieten, denn sie grenzten an Verrat. Dennoch war es merkwürdig, dass gerade die Späher immer allesamt unbeschadet von ihren Gängen zurückkamen, die Soldaten jedoch nicht. Setna stierte zum Zelteingang, durch den ein heller Sonnenstreifen auf den Boden fiel. Und wenn es doch stimmte, was sie behaupteten? Die Späher waren keine Soldaten, sie waren Jäger und Fährtenleser; erfahrene Männer, die sich mit dem Wald, seinen Gesetzen und Geschöpfen gut auskannten ... und sie respektieren. Setna schlug sich auf sein Knie. Unsinn! So etwas gab es nicht. Die Hy besaßen keine übernatürlichen Fähigkeiten, sie hatten kein Abkommen mit einer geheimen Macht, sie waren bloß Menschen und noch dazu welche von minderer Güte. Und das würde er beweisen!
Er hatte es satt, immer nur als Anhängsel des Königs angesehen zu werden; der Welpe, über den alle bloß milde schmunzelten. Und das, obwohl er bereits eigene Kommandos äußerst erfolgreich ausgeführt hatte! Er wollte, nein, er musste ihnen zeigen, was er konnte, musste ihre Zweifel ein für alle mal ersticken. Aber nicht etwa wie üblich in einem Übungskampf mit einem der Leibgardisten oder in einem dieser dämlichen Reiterspiele, das war Kinderkram. Es gab etwas viel Besseres! Er wollte sich messen mit den angeblich so wundersam begabten Kriegern Hys! Er würde zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Zum Einen würde er endlich ernst genommen werden als ehrbarer Kämpfer und zum Anderen würde er die Märchen über die verdammten Hy widerlegen. Langsam nahm der Plan in seinem Kopf Gestalt an. Er würde auf eigene Faust losziehen und mit einer Trophäe zurückkehren, die all den anderen feigen Hunden bewies, dass sie sich bloß vor einer schmutzigen Horde Bauern fürchteten!
Gepackt von neuem Unternehmungsgeist sprang er auf und trat durch den Schlitz des Zelteinganges ins Freie. Die Sonne schien auf seinen wirren Scheitel, und Setna streckte sich. Er hatte einen ganzen Nachmittag Zeit, um sich vorzubereiten. Kurz nach Sonnenuntergang wollte er aufbrechen.
Bemüht, sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen, wanderte er durch das Lager und sah sich vorsichtig nach den Stellungen der Wachtposten um, an denen er sich würde vorbeischleichen müssen.
Als die Geräusche der Nacht in sein Zelt drangen, erhob Setna sich leise von seinem Lager und spähte hinaus. Überall brannten kleinere und größere Lagerfeuer, an denen die Soldaten eng beieinander saßen und sich wärmten, denn es war so kalt, dass man seinen Atem sehen konnte. Setna fröstelte, denn er hatte nur seine schlichte Unterkleidung an. Er sah, dass seine beiden Leibwächter, die eigentlich den Zelteingang bewachen sollten, sich etwas näher an das Feuer gesetzt hatten. Unbemerkt glitt er in ihrem Rücken an ihnen vorbei, hielt, tief in die Schatten zwischen den Zelten geduckt, auf die Pferde zu, und lief in deren Schutz weiter am Hang entlang. Erst an einem großen Felsen hielt er inne, lauschte und schob dann mehrere flache Steine beiseite. Darunter hatte er seine Ausrüstung versteckt. Schnell zog er sie an, schlüpfte in die dunkelgegerbte, weiche Lederhose, das Lederwams und in die festen Stiefel. Danach band er sich den Schwertgurt um die Hüften. Doch als das Gehänge mit dem hyaunischen Schwert ein leises Klirren von sich gab, überlegte Setna es sich anders und nahm den schweren Gürtel wieder ab. Er würde ihn nur behindern. Ganz nach Waldläufermanier wollte er das Schwert in der Hand tragen. Sein Messer steckte er sich in den rechten Stiefelschaft. Als letztes schwärzte er sein Gesicht mit Ruß und streifte sich die Handschuhe über. Er war bereit!
Setna vergewisserte sich, dass alles ruhig war, und lief weiter am Hang entlang, bis er zu seiner Rechten die vollkommen ruhige Oberfläche des Bergsees sah, auf der sich der soeben aufgegangene Halbmond spiegelte. Am nördlichen Ende des Sees erkannte er die hohen Schatten einiger Bergzedern, hinter denen sich der Ausgang des Hochtales befand. Setna wusste, dass auch dort Wachen postiert waren. Als er sie ausgemacht hatte, schlug er einen ausreichend großen Bogen um sie herum, durchquerte ein schmales Seitental, ließ mehrere mit trockenem Gras bewachsene Bodenwellen hinter sich und erklomm einen felsigen Kamm. Als er oben ankam, pfiff ihm ein unangenehm schneidender Wind ins Gesicht, aber dafür war auch der Blick endlich frei. Setnas Herz begann schneller zu schlagen. Unter ihm vom Mond beleuchtet lag die steil abfallende Schulter des Junghal. Hier war das Reich der sie ewig verhöhnenden Gipfel zu Ende! Mit großen Geröllbrocken bedeckt, zwischen denen es tückische Ritzen und Löcher gab, lief die Schulter nach einigen Tausend Schritten in dichten Wald aus. Davor lag eine etwas weniger abschüssige Fläche, auf der sich neben den Felsen auch unheimlich verkrümmte Schatten duckten - das besagte Krüppelgehölz. Weiter war es bisher keinem askharischen Soldaten gelungen, vorzudringen. Setna hielt die Nase in den Wind und meinte, selbst hier oben den Geruch ihrer Leichen wahrzunehmen. Sein Blick wanderte zu den Spitzen der Fichten, die im Mondschein hinter dem Krüppelwald gerade noch auszumachen waren. War dort in der Ferne nicht der matte Lichtschein eines Feuers? Das Feuer eines Lagers?
Dort unten waren Hy!
In seiner Phantasie malte er sich aus, wie er sich an dieses Lager anschlich und wie es ihm gelang, einen der Hy-Krieger zu überwältigen. Wie er ihm das Messer an die Kehle setzte und dann ganz langsam und genüsslich durch Sehnen und Muskeln schnitt, wie ihm das warme Blut über die Finger floss. Natürlich stellte er sich vor, dass dieser Krieger der dreckige Assassino war! Der entflohene Sklave, dessen Hurenbalg er jetzt als seinen Sohn großziehen musste! Wahrlich, sein Hass auf diesen Kerl kannte keine Grenzen. Setna hatte sogar die goldene Pfeilspitze, durch die einst General Kasai gefallen war, auf einen Schaft gekittet - nur für den einen Fall, dass ihm der Assassino über den Weg laufen sollte. Er würde zuerst ihn damit töten und dann dessen Kind, vor das sich Isabylla neuerdings so schützend stellte. Aber Setna ahnte, dass sie das nur tat, um ihm eins auszuwischen, denn damit schlug sie sich auf die Seite des Königs. Heiß schoss ihm die Wut zwischen seine Gedanken. Dieses liederliche Weibsstück! Wenn der Krieg erst einmal vorüber wäre, würde er auch ihrer heimlichen Buhlerei mit Kanaima ein Ende bereiten. Dann würde der feine Maestro nämlich seinen Kopf verlieren. Weil er, Setna, endlich König wäre!
Dieser Gedanke beruhigte ihn, und er konnte sich wieder auf das konzentrieren, was er vorhatte. Ungezügelte Wut würde ihn nur unvorsichtig machen, und das durfte er mit keinem Atemzug sein, wenn er in das Reich der sagenhaften Hy-Krieger eindrang. Auch würde er aufpassen müssen, nicht den eigenen Kundschaftern in die Arme zu laufen.
Um besser von Felsen zu Felsen springen zu können, steckte Setna sich sein Schwert in den dünnen Ledergürtel, der sein Wams zusammenhielt. Er brauchte jetzt beide Hände frei. Bei jeder Bewegung darauf bedacht, kein einziges Geräusch zu verursachen, machte er sich schließlich daran, die Bergschulter hinabzuklettern. Er tauchte zwischen die Felsen und wand sich durch sie hindurch und über sie hinweg wie eine Eidechse. Er fand, dass er seine Sache sehr gut machte, denn recht schnell gelangte er hinab bis zu dem Krüppelgehölz. In einer Übelkeit erregenden Woge schlug ihm der Gestank nach Verwesung entgegen. Ungerührt band sich Setna ein dunkles Tuch vor Mund und Nase und betrachtete das Gelände, das bis zum Wald erstreckte. Überall lagen die von den Aasfressern zum Teil arg zugerichteten Leichen der Soldaten zwischen den krummen Kiefern und Steinbrocken. An manchen Stellen türmten sie sich sogar übereinander oder lagen Schulter an Schulter, einem unappetitlich bizarren Teppich gleich. Kaum wusste Setna, wohin er seine Füße setzen sollte. Einmal konnte er sich nicht rechtzeitig abfangen und trat auf etwas Nachgiebiges. Es knackte kaum hörbar, beinahe so als biege man einen frischen grünen Zweig um. Setna erkannte, dass er in den abgefressenen Brustkorb einer Leiche getreten war. Sein Stiefel steckte darin fest. Er unterdrückte ein Würgen, zog seinen Fuß wieder heraus und arbeitete sich weiter voran. Die ersten niedrigen Fichten waren nicht mehr weit. Plötzlich huschte zu seiner Linken ein grauer Schatten fort. Leichtfüßig und mit einem langen Schweif sprang er über die Felsen davon. Ihm folgten drei weitere. Es waren Wölfe. Im Mondlicht konnte Setna sogar ihre vom Blut dunkel gefärbten Schnauzen sehen. Aber von ihnen ging keine Gefahr aus, sie waren satt, wahrscheinlich satter als jemals zuvor in ihrem Leben. Er wartete, bis die Tiere sich entfernt hatten, lauschte in die nur vom Seufzen des Windes erfüllte Nacht und war kurz darauf am Rand des Krüppelgehölzes angekommen. Dahinter erstreckte sich das gähnende Dunkel des Hochwaldes, in dem das Gelände auch weiterhin nicht minder steil abfiel. Im Schutze eines Wacholderbusches starrte Setna auf die schwarze Wand aus hochgewachsenen Bäumen. Wenn er da hineinging, würde er sich gut orientieren müssen, um auch wieder einen Weg herauszufinden. Sterne und Mond würde er durch das dichte Geäst wohl kaum sehen können.
Noch einmal blickte er sich gründlich um und verschwand kurz darauf in der finsteren Umarmung der Nadelbäume.
Den Fremden hatte er schon beobachtet, während dieser sich über das Leichenfeld geschlichen hatte. Er war auf ihn aufmerksam geworden, als die Wölfe vor ihm geflüchtet waren. Die Graupelze waren die besten Wächter, auf ihre feinen Nasen konnte man sich immer verlassen. Jetzt verfolgte er dem vermeintlichen feindlichen Späher immer tiefer in den Wald hinein. Was hatte er vor? War es einer von den üblichen Kundschaftern der Askharer, die sie bisher so erfolgreich an der Nase herumgeführt hatten, oder war es jemand mit einem anderen Auftrag?
Mit geübter Routine stahl er sich dem Kerl hinterher und wich dabei instinktiv jedem trockenen Ästchen aus, das auf der Erde zwischen Nadeln und Moos lag. Eine tiefe Befriedigung breitete sich in ihm aus. Immer wenn er das tat, hatte er das Gefühl, als schwebe er lautlos wie eine Eule an sein Opfer heran. Er genoss es, nicht bemerkt zu werden, genoss seine Kunst, in der er schon immer der Beste gewesen war! Niemand im Clan hatte es ihm nachmachen können. Nicht einmal sein Bruder, der sonst in allem - und das hasste er - stets besser gewesen war. Einmal hatte dieser sich sogar über ihn lustig gemacht. Auf einer Jagd hatte er mit seinen Kameraden beisammen gestanden und darüber gelacht, dass er sich zwar gut anschleichen könne, das Wild dann aber letzten Endes doch verschreckte, weil er ein zu ungeduldiger Schütze sei. Eine wahrhaft edelmütige Geste von seinem Bruder. Und jetzt war er Setna. Pah! Das würde ihn trotzdem nicht davon abhalten, sich das zu holen, was ihm zustand. Auch wenn er sich noch etwas gedulden musste, aber es würde ihm schon noch glücken.
Resa beeilte sich, weiter hinter dem Askharer zu bleiben. Er war froh, hier zu sein, froh, endlich einmal agieren zu können, ohne dass ihm dabei einer der älteren Banskeid dazwischenredete oder ihn herumkommandierte. Hier, fern von der übermächtigen Aura seines Bruders, war seine Begabung endlich einmal gefragt, und binnen kürzester Zeit war er zu einem der besten Späher geworden. Die Krieger dieser Abteilung respektierten ihn und schätzten seine Arbeit. Sogar der Generale sprach in den höchsten Tönen von ihm.
Resa gewahrte, dass der Askharer vor ihm sich anders bewegte als die gewöhnlichen Späher, irgendwie ungeschickter. Und es ging etwas von ihm aus. Es war verrückt, aber es schien, als brächte genau dieser eigenartige Besucher die gewünschte Veränderung mit sich, nach der er sich seit Ewigkeiten sehnte. Obwohl es völlig irrational war und gegen die Order verstieß, beschloss Resa zwischen zwei leisen Atemzügen, ihn zu fangen!
Der Kerl lief nun einen unbewussten Bogen und hielt nicht mehr direkt auf das zuvor angestrebte Feuer zu, das sie wie viele andere als Irreführung entzündet hatten. Schließlich wurde der Askharer merklich langsamer, und Resa bereitete sich vor. Es war soweit, der andere hatte die Orientierung verloren. Jetzt war er an der Reihe!
Er überholte den Mann keine drei Schritt von ihm entfernt. Es war leichtsinnig knapp, aber es gab ihm einen besonderen Nervenkitzel. Er wollte ihm den Weg abschneiden, doch mit einem Mal blieb der Askharer stehen und witterte sprungbereit wie ein Hirsch in die ihn umgebende Dunkelheit. Hatte er etwas gehört?
Resa verschwendete keinen weiteren Gedanken, er duckte sich, spannte seine Muskeln und sprang auf seine überrumpelte Beute.
Ein erstickter Schrei war alles, was Setna noch herausbringen konnte, als etwas Großes ihn hart von der Seite traf und ihn umriss. Er und das Etwas stürzten auf den weichen Waldboden. In Panik wollte er sich herum rollen und das Messer zücken, doch ein eiserner Fanggriff in seinem Nacken hielt ihn bäuchlings auf die Erde gedrückt. Die Fichtennadeln piekten ihm in die Wange und er roch Harz. Dann spürte er, wie er durchsucht und ihm sein Schwert entwunden wurde. Die Erleichterung darüber, dass es sich ganz eindeutig nur um einen Menschen und kein unheimliches Zauberwesen handelte, beruhigte ihn stärker, als es in dieser Situation angebracht gewesen wäre.
„Wer bist du?“, presste er unter Anstrengung hervor, da der andere mit seinem ganzen Gewicht auf seinem Rücken saß. Doch der verstand seine Worte offenbar nicht, denn er gab keine Antwort. Stattdessen packte er seine beiden Arme und band sie ihm mit einer Schnur auf dem Rücken zusammen. So fest, dass Setna meinte, ihm stürben augenblicklich die Finger ab. Er unternahm einen Versuch, sich zu wehren, um dem anderen zu zeigen, dass er damit nicht einverstanden war. Doch sofort spürte er eine kalte Klinge an seinem Hals. Augenblicklich ließ er seinen Körper wieder erschlaffen. Er ergab sich. Er hatte keine andere Wahl.
Seine Körpersprache verstand der andere. Er sagte etwas in seiner Sprache und zerrte ihn am Kragen auf die Füße. Setna spuckte eine Fichtennadel aus und verfluchte sich für seine Dummheit. Fügsam ließ er sich von dem Hy abführen, von dem er bis jetzt nichts wusste, als dass er tatsächlich ein Mann war. Ein unglaublich lautloser und schneller Mann, dachte er. Und während er stolpernd durch das finstere Dickicht weiter bergab gestoßen wurde, ihm Äste das Gesicht zerkratzten, und der Atem des andern in seinen Ohren wie ein gleichmäßiges Flügelschlagen klang, packte Setna die Vorstellung, die Hy könnten vielleicht doch mit höheren Mächten im Bunde sein. Und dass das, was ihn da gerade abführte, doch kein menschliches Wesen, sondern eine riesige Krähe war, die ihm, sobald er es wagen würde, sich umzudrehen, mit ihrem monströsen Schnabel die Augen aushackte! Ein hysterisches Lachen wollte seine Brust sprengen, weil er dergleichen vor kurzem noch als völligen Blödsinn abgetan hatte. Märchen, sonst nichts! Aber Setna beherrschte sich und hielt seine Sinne beisammen, er würde sie noch dringend brauchen.
Er hatte keine Ahnung, wo er hingeführt wurde, nur dass es jetzt nicht mehr bergab ging. Nach einer endlosen Wanderung schien das Ziel erreicht, und der Hy gab ihm durch einen Ruck an seinen Fesseln zu verstehen, anzuhalten. An dieser Stelle drang Mondlicht durch die Bäume, und Setna konnte zwischen großen Felsblöcken eine Höhle erkennen. Der Hy führte ihn durch den niedrigen Eingang hinein, drückte ihn auf den kalten Boden nieder, der nach Bärenmist roch, und machte sich daran, ihn gewissenhaft zu verschnüren. Dabei legte er Setna die Fesseln so an, dass sie sich bei jeder kleinsten Bewegung um seinen Hals fester zu zogen. Zum Schluss stopfte er ihm einen Knebel in den Mund und fixierte auch diesen. Danach schien der Hy sein Werk noch eine Weile ganz selbstverliebt zu betrachten und verabschiedete sich dann mit einem Rippentritt.
Resa kehrte in das Lager zurück, mit dem vier andere Banskeid vortäuschten, hier würde eine ganze Abteilung übernachten. Sie saßen an einem großen Feuer und schauten sich nach ihm um, als er auf die Lichtung trat. Als Späher konnte er kommen und gehen, wann er wollte, wichtig war nur, regelmäßig Kontakt zu den Kriegern zu halten. Manchmal schlief er im Lager, manchmal aber auch im Wald, je nachdem, ob es ihn nach Gesellschaft gelüstete. Aber das war nichts Besonderes, denn die meisten Späher machten das so.
Resa grüßte die anderen mit den Worten „alles ruhig“ und setzte sich etwas abseits. Einer der vier Krieger stand auf und nicht lange, nachdem er verschwunden war, legte Resa sich schlafen.
Setna erwachte aus seinem gequälten Schlaf, als das graue Licht der Morgendämmerung durch die Öffnung der Höhle sickerte und der Geruch des Bärenkots ihm beißend in die Nase drang. Zuerst wusste er nicht, wo er war, doch dann erinnerte er sich. Er wollte sich bewegen, aber die Schlinge um seinen Hals schnitt ihm die Luft ab, und er ließ es sofort wieder bleiben. In Panik rang er nach Atem und versuchte, zur Ruhe zu kommen, indem er sich auf seinen rasenden Herzschlag konzentrierte, aber der Knebel und der Gestank machten es ihm schwer. Plötzlich bewegte sich ein Schatten durch das Licht am Eingang, und Setna verdrehte die Augen, um besser sehen zu können. War es der Kerl, der ihn in der Nacht gefangen hatte, oder der Bär, der in seine Höhle zurückkam? Das Seil schnitt ihm in den Hals, und wieder bekam er keine Luft. Ihm schwanden die Sinne.
Wasser tröpfelte ihm ins Gesicht, und er öffnete seine Augen. Er sah eine Gestalt, die einen Wassersack in den Händen hielt und neben ihm auf einem Stein hockte. Doch als er seinem Fänger endlich ins Gesicht blicken konnte, fiel er aus allen Wolken. Dieser junge Bursche hatte ihn überwältigt? Dieses Milchgesicht? Der war doch nicht einmal großjährig. Setna konnte es nicht fassen, dass er sich von einem Kind hatte abführen lassen! Er hustete in den Knebel. Zäh zog sich der Hass in seinem Bauch zusammen und drückte mit kalter Faust in seinen Magen. Wenn er gekonnte hätte, so hätte er dem Bübchen zuerst den Schädel eingeschlagen und im Anschluss wie eine Jagdbeute ausgeweidet. Dann hätte er dabei zugesehen, wie die Wölfe sich an ihm gütlich täten. Sein Blut wäre feuchtglänzend über den stinkenden Boden geflossen und hätte sich auf seinem Weg mit Dreck und Unflat vereint. Schließlich hätte es sich dunkel und schmutzig eingetrübt, kurz bevor es endgültig geronnen wäre. Und er hätte diesen Anblick genossen. Doch es war nur Wunschdenken. Tatsache war, dass er jetzt hier festsaß in den Fängen eines halbstarken Hy, und es mit viel größerer Wahrscheinlichkeit sein Blut war, das demnächst den Höhlenboden tränkte. Und daran war allein seine eigene eitle Überheblichkeit Schuld!
Diese Erkenntnis traf Setna hart, beinahe härter, als die Schmach seiner Gefangennahme. Und zum ersten Mal in seinem Leben sah er sich gezwungen, über sein Selbstbewusstsein nachzusinnen, das bisher als unerschütterlich galt. Doch dieser unangenehme Moment ging schnell vorüber, denn der Kerl erhob sich und stieß ihn neugierig mit der Stiefelspitze an, so als wolle er die Reaktion dieser unbekannten Kreatur erkunden, die er gefangen hatte. Setna sah, dass er beiläufig an etwas kaute, wahrscheinlich seinem Morgenmahl.
‚Dreckiger Bastard!’, dachte er. ‚Leider würdest du, selbst wenn ich sprechen könnte, nichts verstehen! Das ist doppeltes Pech, denn sonst hätte ich dir gesagt, dass mir deine weibische Visage nicht die geringste Angst einflößt, du kleiner hyaunischer Mistfresser!’ Er knurrte wütend, erntete aber nur ein hämisches Grinsen seines Gegenübers. Setna schnaufte erneut und zerrte an den Handfesseln, was ihm aber wieder nur Atemnot bescherte. Und schließlich sah er ein, dass solch kindische Regungen nur Kraftverschwendung waren. Er drehte seinen Blick an die Höhlendecke und schloss die Augen. Welch ein Hohn, jetzt konnte er diese gottlose Missgeburt nicht einmal beschimpfen!
Der Kerl stieß ihn ein weiteres Mal grob an, und nur widerwillig öffnete Setna wieder seine Augen. Er sah, dass er ihm sein eigenes Schwert vor die Nase hielt und etwas fragte.
Setna blickte in stummem Trotz zurück. Ja, es war ein hyaunisches Schwert, na und!
‚Und ich werde es dir in deinen hyaunischen Wanst stoßen, wenn ich es jemals wieder in die Finger bekomme!’
Resa hatte erkannt, dass es das alte Schwert seines Bruders war, das der seltsame Askharer bei sich getragen hatte. Und zwar genau jenes, das sie ihm in seiner Gefangenschaft in Askhar abgenommen hatten. Er erkannte das Damastmuster wieder, das so unverwechselbar war wie ein Namenszug. Und er wusste, dass das ein Zeichen war. Ein Zeichen von Ihr! Jetzt würde seine Zeit anbrechen.
Resa überlegte, was der Gefangene bedeuten mochte und was er mit ihm machen sollte. Vielleicht sollte er ihn zum Generale bringen? Der würde ihn bestimmt für seinen außergewöhnlichen Fang loben, denn es war eindeutig, dass der Askharer etwas Besonders war. Aber immer wenn Resa an den Generale dachte, waren die Gefühle in seiner Brust widersprüchlich. Auf der einen Seite verehrte er den charaktervollen Hünen und wollte es ihm stets recht machen, denn die Anerkennung aus seinem Munde war mehr wert als alles andere. Auf der andern Seite aber war Banskeid Manoen ein guter Freund Raens und das machte ihn eigentlich zum Feind, denn alle Freunde Raens hatten eine unausstehliche Art an sich, die Resa nicht leiden konnte. Doch der Generale hatte bisher nichts von Raens belehrender Überheblichkeit oder Bevormundung gezeigt, er behandelte seine Leute gerecht.
Wachsam beobachtete Resa den Askharer, der inzwischen aufgehört hatte, sich gegen den Knebel zu wehren. Er hatte es schon gestern Nacht gespürt, und auch jetzt im Halbdunkel der Höhle konnte er sich nicht dagegen verschließen, dass ihn etwas an diesem Mann faszinierte. Er beugte sich zu ihm herüber, um herauszufinden, was es sein könnte.
Doch er fand es nicht. Allerdings hatte er noch Zeit genug, den Gefangenen zu erforschen, denn es war seiner, und er konnte mit ihm machen, was er wollte. Jetzt aber hatte er erst einmal seinen Auftrag als Kundschafter zu erfüllen. Wie jeden Tag würde er die askharischen Späher necken und auf falsche Fährten führen. Resa vergewisserte sich noch einmal, ob die Fesseln gut saßen.
„So, mein Freund“, sagte er und tätschelte dem wutschnaubenden Kerl die schmutzige Wange, „ich komme heute Abend zurück. Warte hier schön auf mich.“ Dann ließ er ihn allein.
Die Höhle lag vor eigenen und feindlichen Spähern gut geschützt, und Resa wollte, dass sein Gefangener am Abend geschwächt sein würde. Denn nur so konnte er es riskieren, ihm vielleicht vom Knebel zu befreien, um sich mit ihm zu verständigen.
Gut gelaunt schlich er zwischen den harzigen Baumstämmen durch den Wald, sehr darauf achtgebend, welche Spuren er hinterließ und welche nicht.
Das Gefühl des Ausgeliefertseins war unerträglich. Setna litt an fürchterlichem Durst und an der unveränderten Haltung seines Körpers. Er hatte kaum noch Gefühl in den Beinen, und sein Kopf schmerzte aufgrund des Flüssigkeitsmangels. Hin und wieder schlief er ein, was eine Erleichterung war und ihn seine unerfreuliche Lage für einige Augenblicke vergessen ließ. Doch wenn er dann wieder erwachte, war der Schmerz schlimmer als zuvor. Wäre Kanaima anwesend gewesen, so hätte er sicherlich gesagt, dass es ihm recht geschah. Denn endlich einmal erfuhr er am eigenen Leibe, was er unzähligen Unglücklichen aus reiner Lust am Quälen angetan hatte. Doch das brachte den Kronprinzen nicht zur Besinnung. Allein der Gedanke, Kanaima könnte sich über seine Ungeschicklichkeit ins Fäustchen lachen, machte ihn fuchsteufelswild. Ein Wutanfall nach dem nächsten, bei denen er sich selbst beinahe bis zur Bewusstlosigkeit würgte, brachten Setna schließlich an den Rand der Erschöpfung. Kraftlos lag er hernach auf der Seite, gleichgültig, ob der Bärenkot sein Gesicht beschmutzte, und ließ den Tränen freien Lauf. Sein Selbstmitleid kannte keine Grenzen, und ihm gefiel es, sich buchstäblich darin zu suhlen. Noch nie ihm Leben war er so gedemütigt worden. Und lieber würde er hier sterben, als dass ihn die eigenen Späher oder gar Kanaima so sähen.
Gegen Abend kam Resa in die Höhle zurück. Der Askharer lag regungslos da, schien ohne Leben. Er hockte sich neben ihn und fühlte seinen Herzschlag am Hals. Plötzlich flogen die Lider des Gefangenen auf, und die zwei schwarzen Augen bohrten sich direkt in die seinen. Obwohl Resa zurückwich, erkannte er in diesem Augenblick, was ihn an dem Kerl so faszinierte. Es waren diese schwarzen, alles hassenden Augen! Dieser kalte, weltumfassende Abscheu, der in ihnen lag, und einem geradewegs die Seele versengte!
Jeder Mensch hätte unbewusst einen großen Bogen um diesen Mann mit den bösen Augen gemacht und seinen Blick sofort abgewendet, Resa jedoch starrte ungehemmt zurück. Magisch zog ihn das schwarze Glänzen an, in das er bereitwillig eintauchte wie in ein erlösendes Heilbad. Erregt fuhr er sich über die Oberarme. Noch nie hatte er jemanden getroffen, der auch nur annähernd soviel Hass empfand wie er selbst. Dieser Mann hier aber übertraf alles, und er liebte ihn schon jetzt dafür! Er war nicht nur ein Gleichgesinnter, er war die Verkörperung des Hasses in ihrer vollendeten und großartigsten Form. Er war Furiosa!
Schnell beeilte sich Resa, ihm den Knebel aus dem Mund zu nehmen, natürlich nicht ohne ihm vorher zu signalisieren, dass schreien keinen Zweck hatte.
Der Askharer hustete und leckte sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Resa gab ihm aus dem Schlauch zu trinken. Danach schloss der Gefangene für einen Moment die Augen, und Resa wartete. Wie sollte er mit ihm reden? Wie sollte er ihm klar machen, dass sie Brüder waren, Brüder im Geiste. Und dass das Schicksal sie zusammengeführt hatte, damit sie beide gemeinsam in Ihrem Namen Rache nehmen konnten.
Als der Askharer ihn wieder anblickte und dabei recht friedlich wirkte, unternahm er einen ersten Versuch. Er zeigte auf sich und sagte: „Resa.“ Dann zeigte er mit fragender Miene auf den Gefangenen. Er wiederholte die Geste mehrmals, bis er das Gefühl hatte, der andere hätte ihn verstanden.
„Setna“, krächzte der Askharer schließlich.
„Setna?“ Resa runzelte die Stirn. Wollte der Kerl etwa den Setna sprechen? Unmut durchzuckte ihn. Zu Raen würde er ihn ganz bestimmt nicht bringen! Schon dachte er darüber nach, ihm den Knebel wieder in den Mund zu stopfen, da begann der Askharer zu reden. Doch er verstand kein Wort. Er schüttelte den Kopf und hob die Schultern. Kurzentschlossen packte er den Festverschnürten, setzte ihn mit dem Oberkörper auf, wobei er ein schmerzvolles Stöhnen von sich gab, und löste eine Hand aus den Fesseln, so dass er sie frei bewegen konnte. Dann wischte Resa den Boden vor sich glatt und zeichnet mit einem Stock Berge. Aufmerksam beobachtete ihn der Askharer dabei. Resa zeigte schließlich auf sich und auf ihn und dann auf die Berge. Die schwarzen Augen verengten sich. Der Jüngere malte noch eine Armee mit dem Schlangenbanner darüber in den Dreck und wiederholte seine Gesten. „Ich sage euch, wer unser Setna ist, wenn du mir hilfst, ihn zu vernichten!“, sagte er, und bei dem Wort Setna, horchte der andere auf.
Der Askharer nickte. „Setna“, bedeutete er und zeigte auf sich.
Resa schüttelte den Kopf. „Nein du bist nicht der Setna, ich -“
Der andere unterbrach ihn mit vehementem Nicken und wies immer wieder auf sich. „Setna!“
Und plötzlich fiel es Resa wie Schuppen von den Augen. „Du bist der Kronprinz Setna!“, rief er aus. „Natürlich, wie konnte ich nur so dumm sein! Welch seltsames Geratewohl hat dich hierher gebracht?“ Aber er wusste, dass es kein Zufall gewesen war. Sie hatte ihn hierher gebracht! Er lehnte sich zurück und fischte das Schwert vom Felsen.
„Das gehört meinem Bruder Raen. Du musst ihn kennen, wenn du es trägst.“
„Raen?“, fragte der andere und in dessen Augen erwachte dabei ein noch wilderer Hass, als er ihn bisher wahrgenommen hatte. „Assassino!“, spie er förmlich aus, und das hassvolle Glimmen in seinem Blick war kaum noch zu ertragen.
In Resa aber wuchs ein unbändiges Gefühl der Freude. Er nickte langsam, und ein Lächeln bahnte sich seinen Weg. Der Askharer kannte seinen Bruder, das machte die ganze Sache noch einfacher.
Dass der Hy den dreckigen Assassino kannte und ihn zu ihm führen wollte, war ein Wink der Götter, dachte Setna. Und mit einem Mal fand er sein Vorgehen gar nicht mehr so dumm. Der König würde staunen, wenn er den Kerl mit zu ihm ins Lager brächte.
Der Hy hatte ihn nach ihrem Gespräch die Fesseln gelöst und ihn aus der Höhle geschafft. Nur langsam waren Setnas steifgewordenen Glieder wieder in Gang gekommen, und immer wieder hatte er sich an Baumstämmen abstützen müssen, damit seine Beine nicht einfach unter ihm nachgaben. Zwei Tage und drei Nächte hatte er gefesselt in der Höhle gelegen.
Jetzt stach ihm das helle Sonnenlicht in die Augen, während er sich einen Weg durch den Wald suchte. Den Hy wusste er immer zwei Armeslängen hinter sich. Er hörte seinen gleichmäßigen Atem. Bei vollem Tageslicht sah der Bursche noch milchgesichtiger aus. Setna spürte, wie seine von der Erschöpfung schläfrige Wut unvermittelt aufkochte, doch er drängte sie zurück in ihre dunkle Behausung. Der Hy war sein Trumpf, den er nicht verspielen durfte, nur weil es dem Kerl gelungen war, ihn zu überrumpeln und damit seinen Stolz gekränkt hatte. Außerdem war er ein für sein Alter ungewöhnlich kräftig gebauter Jüngling, gegen den selbst ein ausgewachsener Mann unterliegen konnte, wenn er überrascht wurde. Und so war es ja auch gewesen. Setna hustete, sein Hals war noch immer rau und schmerzte.
Doch sofort erntete er dafür ein strenges Schhhht aus seinem Rücken. Beschwichtigend hob er beide Hände. Schon gut, er wollte sich ja fügen. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen und erklomm Stück für Stück den bewaldeten Berghang.
Kurz bevor sie den Krüppelwald erreichten, hielt der Hy ihn an. Er gab ihm das Zeichen, sich am Rand der Fichtengehölzes hinzuhocken. Jetzt konnte auch Setna die Stimmen hören. Er lenkte seinen Blick in die Richtung, aus der sie kamen. Der Gestank der Leichen war in den vergangenen Tagen nicht erträglicher geworden. Und während er möglichst flach einzuatmen versuchte, sah er, wie eine Gruppe schwarzgewandeter Hy-Krieger zwischen den Felsen umherwanderte. Unter ihnen war ein riesenhafter Kerl mit massigem Brustkorb und breiten Schultern. Er hielt sich eine Hand vor Mund und Nase und blickte immer wieder den Berghang hinauf. Neben ihm wirkten die anderen Krieger wie Zwerge.
„Generale!“, flüsterte der Hy schräg hinter ihm, legte einen Finger an die Lippen und kroch wieder mehrere Schritte zurück ins Unterholz. Sie würden warten müssen, bis die Gruppe verschwunden war. Setna warf noch einen Blick auf den Hünen, um ihn sich gut einzuprägen, und legte sich dann ebenfalls ins Gras.
Es war drückend heiß und die sich bedrohlich über ihren Köpfen türmenden Wolken kündigten Gewitter an. Resa hatte mit dem Askharer bereits den größten Teil des Geröllhanges hinter sich gebracht. Er wandte seine Augen vom Rücken des Vorauskletternden ab und blickte kurz zurück. Unten sah er die dichten Vogelschwärme, die immer wieder aufflogen, weil sie sich beim Fressen gestört fühlten. Noch immer meinte er, den Geruch der Leichen in der Nase zu haben, obwohl kein Wind ging.
Er hatte sich entschieden, mit dem Askharer zu gehen, weil er erkannt hatte, welch mächtigen Verbündeten er sich damit schaffen konnte. Auch schien der Prinz nicht ganz abgeneigt zu sein, auf das Abkommen einzugehen. Es würde sich zeigen, wenn sie den askharischen Stützpunkt erreicht hatten. Für den Fall, dass er ihn hereinlegen wollte, war er gewappnet. Er würde so schnell mit seinem Messer nach ihm werfen, dass keiner mehr würde eingreifen können.
Der Himmel wurde immer düsterer. Resa setzte seinen Weg fort und folgte dem Askharer. Als sie endlich keuchend oben ankamen, zerplatzten die ersten Regentropfen auf den Steinen rings um sie herum. Der Prinz bedeutete ihm, es sei nicht mehr weit, und Resa spähte wachsam um sich. Er rechnete jeden Augenblick damit, von askharischen Soldaten überrumpelt zu werden. Dann nickte er und signalisierte dem Askharer, er solle weiterhin vorangehen.
Wenig später bewegten sie sich durch ein mit Büschen bewachsenes Hochtal, und Resa schloss zügig zu dem Askharer auf. Und genau, wie er es vermutet hatte, brachen kurz darauf bewaffnete Männer aus dem Gestrüpp hervor. Blitzschnell zückte Resa sein Schwert und richtete es auf den Rücken des Prinzen, der stehen blieb.
„Ich bringe ihn um, wenn ihr noch näher kommt!“, schrie er und unterstrich seine Drohung mit einem entschlossenen Augenfunkeln.
Die Soldaten hielten inne, aber nicht, weil sie seine Worte verstanden hatten, sondern weil der Prinz ihnen ein Zeichen gab. Er sagte etwas in einem befehlsgewohnten Tonfall, und daraufhin zogen die Soldaten sich wieder zurück. Der Regen wurde immer stärker, und die ersten Blitze krachten vom Himmel. Ihr Echo hallte bedrohlich von den Berggipfeln wider.
Nach einem weiteren anstrengenden Marsch und von den Wachsoldaten aus der Ferne argwöhnisch begleitet erreichten sie schließlich das ausgedehnte Hochtal, in dem die Königliche Armee lagerte. Beinahe augenblicklich entstand Bewegung zwischen den Zelten, als der Prinz mit seiner ungewöhnlichen Begleitung am Rande des Lagers erschien. Warnend hielt er eine Hand vorgestreckt. Niemand sollte sich ihnen nähern. Zufrieden registrierte Resa, dass die Horden von feindlichen Soldaten sich daran hielten. In seiner Rechten das noch immer gezückte Schwert und in seiner Linken versteckt das Messer, folgte er dem Prinzen durch die Menge der angriffslustig blickenden Männer in die Zeltstadt hinein. Der strömende Regen hatte den struppigen Haarschopf des Askharers gezähmt, und die schwarzen Strähnen klebten ihm jetzt seitlich am Gesicht. Auch waren Ruß und Schmutz fortgewaschen worden, und Resa konnte seine erstaunlich weichen Züge erkennen.
Der Donner rollte unablässig in ihren Ohren, und irgendwo weiter oben im Gebirge ging eine Steinlawine ab, aber Resa konzentrierte sich auf jede Regung seines Vordermannes und der Soldaten. Er war bereit, sofort zu handeln.
Sie gelangten an ein großes, rotes Zelt, dessen Eingangsplane schwungvoll zurückgeworfen wurde. Ein graubärtiger Mann, der einen halben Kopf kleiner war als alle Umstehenden, blickte ihnen entgegen. Resa wusste sofort, wen er vor sich hatte.
„Setna!“, rief König Katthike aus, trat aber nicht hinaus in den Regen, sondern wartete, bis der Prinz bei ihm war. Erst dann legte er ihm eine Hand auf die Schulter und sah ihn eindringlich an. „Wo, bei allen Göttern, hast du dich herumgetrieben? Wir haben dich überall gesucht! Du -“ Er sah den Hy und griff hastig nach seinem Schwert. Setna konnte ihn gerade noch rechtzeitig davon abhalten, es zu ziehen.
„Nicht!“, rief er und umfasste das Handgelenk seines Stiefvaters. „Er ist ein Überläufer!“
„Ein Überläufer? Ha! So etwas gibt es bei den Hy doch gar nicht!“ Katthike lieferte sich ein funkelndes Blickduell mit dem feindlichen Krieger, der ihm ohne weiteres standhielt.
„Um das herauszufinden, sollten wir einen der Hy-Sklaven als Übersetzer holen, dann können wir mit ihm reden. Aber wenn ich ihn richtig verstanden habe, will er uns seinen Anführer, den Setna, preisgeben.“
„Ach wirklich, und warum sollte er das tun? Wer sagt uns denn, dass er seinerseits kein Spion ist oder ein Assassino?“
„Das werden wir ihn gleich persönlich fragen können. Zuerst aber schlage ich vor, wir behalten die Ruhe und gehen ins Zelt.“
Setna wusste, dass Katthike es nicht mochte, von ihm derart dirigiert zu werden, aber nach einem langen tadelnden Blick und einem gebellten „Aber die Waffen muss er ablegen!“ gab er den Eingang frei, und sie konnten dem Regen endlich entfliehen.
Sie ließen sich auf bequemen Stühlen nieder, und ein Diener half Setna aus der nassen und anschließend in die trockene Kleidung. Der Hy nahm lediglich eine Decke entgegen, die er sich um die Schultern warf. Ein Feuer in einem Eisenbecken in der Mitte des Stuhlkreises prasselte angenehm warm. Setna beobachtete den Fremden, der misstrauisch in die Runde blickte, zu der sich nun auch General Bhuras hinzugesellte. Der Hy-Sklave kam wenig später ebenfalls völlig durchnässt ins Zelt. Er hielt seinen Blick gesenkt und trat schüchtern hinter den Landsmann.
„Frag den Kerl, was er von uns will!“, befahl der König, und der Sklave übersetzte. Sofort trat ein breites Lächeln auf die Züge des Hy-Kriegers. Offenbar war er angenehm erfreut darüber, sich endlich angemessen ausdrücken zu können.
„Ich will euch ein Angebot machen“, entgegnete er gelassen, wartete auf die nächste Frage, die auch prompt kam.
„Was für ein Angebot?“
„Ich werde euch verraten, wer der Setna ist und welche Pläne er hat, und ihr werdet ihn für mich töten!“
Setna registrierte zufrieden, wie sich Katthikes Augen weiteten.
„Warum willst du, dass wir ihn töten?“, fragte der König.
„Das ist allein meine Angelegenheit! Also, werdet ihr es tun?“
„Weshalb erledigst du es nicht selbst, wenn du doch weißt, wer es ist?“, hakte Katthike weiter nach.
„Ich kann es nicht. Nicht allein.“
Der König und Bhuras lehnten sich gleichzeitig zurück.
„Und woher sollen wir wissen, dass du uns nicht in eine Falle lockst, dass er dich nicht genau mit diesem Auftrag zu uns geschickt hat, um uns auszuspionieren?“, erkundigte sich Bhuras.
„Seine lautere Absicht kann ich, glaube ich, ganz gut bezeugen“, mischte sich Setna ein, „denn der Kerl, er nennt sich im übrigen Resa, hat mich gefangen genommen und nicht umgekehrt.“ Etwas verlegen blickte er einen nach dem anderen an. Er hoffte, der Hy war es wert, dass er diese peinliche Niederlage eingestand.
Er bemerkte, wie Katthike säuerlich auf seiner Unterlippe herumzukauen begann. Offenbar konnte er es noch nicht so recht glauben, dass es in diesem von edlen Grundsätzen durchdrungenen Volk einen Verräter geben sollte. Er tauschte einen Blick mit Bhuras, der kaum merklich nickte.
„Nun, gut. Wie willst du, dass wir vorgehen?“, ließ der König dann für den Hy übersetzen, und Setna lächelte zufrieden.
Der junge Hy-Krieger reckte sein Kinn vor und antwortete: „Ich werde euch sagen, was der Setna vorhat, wo er seine Stellungen hat und wie groß seine Armee ist, jedes noch so kleine Detail! Danach werde ich zu den meinen zurückkehren, damit niemand Verdacht schöpft. Ich werde aber weiterhin Kontakt zu euch halten, denn auch der Setna ändert seine Taktik.“
„Und woher willst ausgerechnet du wissen, was der Setna im Schilde führt?“, fragte Katthike bissig.
„Weil ich mit ihm verbunden bin“, er tippte sich an seinen Stirnreif, „und weil er mein Bruder ist!“
„Das erklärt schon einmal die Motivation, oder nicht?“, sagte Katthike belustigt an Setna und Bhuras gewandt, verbot dem Hy-Sklaven aber, es zu übersetzen. „Und wie heißt nun dein Bruder und wo finden wir ihn?“
„Zuerst werdet ihr mir euer Wort geben!“, beharrte der junge Hy entschieden. Und einmal mehr dachte Setna, dass der Bursche etwas recht Gefälliges an sich hatte. Zumindest hatte er ebenso schöne Ideen wie er.
„Du hast mein Wort, das Wort des Königs von Askhar!“, verkündete Katthike feierlich und hob die Hände.
‚Auch wenn das nicht viel wert ist’, dachte Setna schmunzelnd, ‚aber immerhin gibt er sich Mühe.’
Der Hy sah vom König zu ihm, als fordere er auch von ihm Gewissheit.
Setna reagierte darauf und schloss sich seinem Stiefvater an: „Ich schulde dir mein Leben, und da ist mein Wort wohl das Mindeste, was ich dir geben kann.“ Und solange der Hy ihm nützlich war, gedachte er sich auch daran zu halten.
Der Hy-Krieger nickte ernst, fuhr sich mit einer leicht nervösen Geste über den Mund und sagte dann: „Der Setna ist Raen Shari! Eben jener Krieger, der in Borgossa studiert und aus eurer Gefangenschaft entflohen ist! Und der vor sieben Jahren euren General getötet hat.“
„Der Assassino ist dein Bruder?“, entfuhr es Setna und er sprang auf.
Der aufwallende Hass in den Augen des Prinzen befriedigte Resa. Er war Balsam für seine Seele.
„Wo ist er? Ich werde ihn eigenhändig umbringen!“, hörte er den Übersetzer leise die Worte des Prinz sagen, dessen Gesicht aschfahl geworden war.
Resa genoss den Anblick, die Reinheit dieses Gefühls auf dessen makellosen Zügen. Ein Schauer floss über seinen Rücken, und wieder tauchte er in den hasserfüllten Blick des anderen ein, um sich davon behaglich umspülen zu lassen. Erst nach einer ganzen Weile antwortete er: „Mein Bruder ist am Doban-Pass und befehligt dort die Truppen. Sein General, ein Freund aus Borgossa, ist hier am Pass und hat das Kommando. Da ihr Raen kennt, brauche ich ihn ja nicht zu beschreiben, aber er trägt als einziger von uns einen roten Umhang. Daran ist er immer leicht zu erkennen. Unsere Armee umfasst neuntausend Krieger, ein wenig über zweitausend an jedem Pass also. Ich werde euch verraten, wie ihr den Doban-Pass zu Fall bringen könnt ... und ihn.“
„Und alles, was du als Belohnung dafür haben willst, ist, dass wir ihn für dich töten?“
„Ja. Aber wenn alles vorbei ist, will ich noch seine Frau für mich!“
Der Prinz und der König grinsten plötzlich beide gleichzeitig, das schien nach ihrem Geschmack zu sein.
„Du kannst dir von euren Weibern nehmen, wen du willst! Sie interessieren uns nicht“, entgegnete der König. „Und wenn deine Informationen stimmen, und wir Erfolg haben, kannst du anschließend einen Platz in meiner Armee haben.“
„Gut“, sagte Resa monoton. In Gedanken war er bereits bei seinem furiosen Triumph. Er allein hätte Raen niemals besiegen können, aber eine ganze Armee würde Hyaun wohl kaum abwehren können. Und Sie hatte ihm den Beistand geschickt, den er benötigte. Er war seinem Ziel so nahe.
Raen raufte sich die kurzen Haare. „Wie kann das sein? Wie haben die Askharer es geschafft, die Fallen zu umgehen?“
„Vielleicht durch feindliche Späher ...“, mutmaßte Kaera, der sich ebenfalls seinen Helm abgenommen hatte und sich etwas Erholung gönnte.
„Nein“, entgegnete Raen, „es ist ziemlich sicher, dass keine askharischen Späher durchgekommen sind! Und wenn, dann hätten sie selbst Opfer der Fallen werden müssen. Es bleibt eigentlich nur eine Möglichkeit.“
Besorgt sah Kaera vom Setna, der auf einem Stein saß, auf die unter ihnen liegende Passstraße. Er ahnte, was sein Freund gleich aussprechen würde, und es gefiel ihm ganz und gar nicht. Es würde das Vertrauen zerstören, das eine ihrer stärksten Waffen war. Er lauschte. In der Ferne war das Vorrücken der feindlichen Armee zu hören - ein stetig anwachsendes Grollen. Zu sehen war jedoch noch nichts. Morgen früh erst, so schätzte Kaera, würde es ernst werden.
„Jemand hat es ihnen verraten“, sagte Raen neben ihm gefasst, „einer von uns!“ Er blickte mit müden Augen zu seinem Berater auf.
„Aber wer soll es gewesen sein?“ Kaera konnte es nicht glauben.
„Das ist es ja gerade, was mich verzweifeln lässt, es will nicht in meinen Kopf, dass wir einen Verräter unter uns haben!“
Da war es, das gefürchtete Wort: Verräter! Ein hyaunischer Verräter! Kaera ließ den Kopf hängen, denn es sprengte seine Vorstellungskraft. Wem unter ihnen konnte es ein Ansinnen sein, mit dem Feind gemeinsame Sache zu machen? Wer unter ihnen hatte einen Grund, seinem eigenen Volk schaden zu wollen? Und was für ein Grund konnte das sein?
„Wir dürfen jetzt nicht verzagen, mein Freund, auch wenn es noch so entmutigend scheint. Aber wir müssen weiter mit gutem Beispiel voranschreiten und Zuversicht zeigen! Nur so können wir unseren Kriegern Vertrauen in ihre Stärke geben und letztlich auch demjenigen entgegenarbeiten, der unsere Eintracht zu zerstören sucht. Wer auch immer das sein mag.“
„Wir müssen ihn ausfindig machen!“, stieß Kaera hitzig aus.
„Ach, Kaera, wie willst du das denn anstellen?“
Der Zahlenmeister zuckte hilflos mit den Schultern.
„Wir sollten uns auf das Gute in uns konzentrieren und nicht auf das Schlechte.“ Raen lächelte aufmunternd. „Weißt du, ich habe gelernt, dass auch das Schlechte seinen Platz im Leben hat, dass es unweigerlich ein Teil von uns ist, ganz gleich wie sehr du es zu ignorieren versuchst. Wenn man seine Schwächen aber akzeptiert, so nimmt man dem Schlechten seine Macht. Manchmal kann man es allerdings auch nutzen, um Gutes zu bewirken. Verstehst du, was ich meine?“
„Ich bemühe mich“, entgegnete Kaera.
„Wir wissen nun, dass es eine undichte Stelle gibt. Deshalb werde ich eine offensichtliche Schlachtaufstellung wählen, an der es nichts Heimliches, also auch nichts zu verraten gibt. So nehmen wir den Askharern den Vorteil ihres Informanten. Außerdem werde ich meine Order mündlich ausgeben, das reduziert den Standort des Verräters schon einmal auf diesen Pass. Und du wirst das alles für dich behalten, denn ich will nicht, dass unnötig Unruhe entsteht.“ Raen wischte sich erschöpft über das Gesicht und stand von dem Stein auf. „Es wird Zeit, wir müssen die Beratung einberufen.“
Kaera nickte. Er bewunderte seinen Anführer. Obwohl sie in den vergangenen Tagen mehrere schmerzliche Rückschläge erlitten hatten, und obwohl die Müdigkeit ihn beinahe lähmen musste, hatte er sein unerschütterliches Selbstbewusstsein dennoch nicht verloren. Raens Herz war stark, und so sollte auch das seine sein, schwor sich Kaera. Er folgte dem Beispiel des Setna, setzte seinen Helm wieder auf und stieg mit ihm gemeinsam zu den wartenden Kriegern hinab.
Das hyaunische Heer hatte sich weit über den Doban-Pass in die Berge zurückziehen müssen, nachdem es den Askharern gelungen war, die Fallen zu überwinden. Selbst des Nachts hatten die Angreifer den Druck aufrecht erhalten können, da sie viermal mehr Soldaten auf ihrer Seite hatten. Hundert Banskeid waren gefallen, vierzig verwundet, und einen großen Teil ihrer Vorräte und Zelte hatten sie an den Feind verloren. Raen hatte unverzüglich einen raumgreifenden Rückzug befohlen, um Zeit zu gewinnen und um sich nach dem überraschenden Angriff neu zu formieren. Doch er wusste auch, dass sie jetzt nur noch wenig Luft im Rücken hatten, lediglich zwei Höhenzüge trennten sie von den flacheren Gefilden und den ersten Chorten. Natürlich hatte er sofort Verstärkung vom Einmann-Pass angefordert, doch die würde noch einige Tage unterwegs sein, bis sie das Tor nach Hy erreichte.
Raen zog sich seinen Umhang vor der Brust zusammen. Die Sonne war schon hinter den Gipfeln verschwunden und es wurde schnell kalt. Der Sommer war vorbei, und hier oben brachte der Herbstmond bereits den ersten Nachtfrost. Die Beratung mit den Anführern war beendet, und nun sah er zu, wie sie zu ihren Gruppen gingen und seine Befehle weitergaben. Ob der Verräter unter ihnen war? Er betrachtete die schwarzgewandete Schar. Einige Verbände erhoben sich und machten sich auf den Weg zu ihren Stellungen in den Felshängen. Die Nacht würde für sie alle ungemütlich werden ohne Zelte.
Raen seufzte verhalten. Auch wenn es für die anderen so aussah, als ob seine Selbstsicherheit ungebrochen sei, hatte er doch das Gefühl, als entglitten ihm allmählich die Zügel. Erst der unvermutete Durchbruch der Askharer und jetzt dieser Verräter. Die Gabe schien ihn immer mehr im Stich zu lassen. Zwar hatte er noch ständig Visionen, aber keine hatte ihn davor gewarnt, was in den vergangenen Tagen geschehen war. Es war wie verhext, so sehr er sich auch anstrengte, etwas zu sehen, es schien als stünde Zaizura mit einem ihrer gigantischen Beine auf der Tür zur Zukunft und hielte sie mit böser Absicht verschlossen.
Zwar war der erste Schnee nicht mehr fern, aber Raen hatte trotz allem wenig Hoffnung, die feindliche Armee bis zum Winter hier oben im Gebirge festzuhalten zu können. Außerdem würde das Eis die Askharer eher weiter vorantreiben, als zurück über die Berge drängen. Es beruhigte ihn ein wenig, vor einigen Wochen veranlasst zu haben, alle Chorten von hier bis zum Nori zu evakuieren, und zu wissen, dass die Leute, darunter auch Suneka und seine Kinder, bei den nördlichen Clans gut untergebracht waren. Mutige Bauern, die in den Clangebieten geblieben waren, hatten noch einen Teil der Ernte eingebracht und sie über den Fluss geschafft. Die Nachrichten der Medizi, die alles organisiert hatten, erreichten Raen noch immer regelmäßig, und er war froh, zu sehen, dass sie es bereits verinnerlicht hatten, in seinem Sinne zu denken und zu handeln.
Er ging zu dem großen Lagerfeuer hinüber, das sie mitten auf der Passstraße entzündet hatten, und ließ sich dort zwischen seinen Kriegern nieder. Natürlich bemerkte er die verstohlenen Seitenblicke derer, die am Vorabend der Schlacht keinen Schlaf finden konnten, und gab sich deshalb besondere Mühe, gelassen zu wirken. Er bettete seinen Kopf auf eine Vorratstasche und schloss die Augen.
In der Nacht hatte der Setna eine gewaltige Vision und das Gefühl, dass Al Nor ganz in seiner Nähe gewesen war. Und als er noch vor Sonnenaufgang aufwachte, wusste Raen, dass er zuerst gegen Zaizura kämpfen musste, wenn er sein Volk retten wollte. Denn Sie war der Feind, der ihm schon sein ganzes Leben lang Steine in den Weg gerollt hatte, um ihn daran zu hindern, sein eigenes Schicksal zu erfüllen. Sie wollte ihren Untergang!
Er setzte sich auf, ganz steif von der Kälte, und blinzelte in den klaren Himmel. Aber wie sollte er zu ihr gelangen? Al Nor hielt sich im Hintergrund, und ohne ihn konnte er nicht in ihr Reich eindringen. Es galt also, einen anderen Weg zu finden. Aber vorher musste er seine Krieger in eine Schlacht führen und darauf hoffen, die Askharer aufzuhalten. Raen schlug den Umhang zurück und überprüfte den Sitz seines Rüstzeugs, in dem er geschlafen hatte. Um ihn herum herrschte schon einige Betriebsamkeit. Während die einen ihre Ausrüstung zusammenräumten und ihre Waffen überprüften, aßen andere noch still ihr spärliches Morgenmahl. Das Feuer war heruntergebrannt, würde aber demnächst mit Pech wieder voll entfacht werden, da es die erste Wegsperre gegen die Askharer darstellte. Die Fässer standen schon bereit.
Kaera und Taghat kamen über einen schmalen Seitenpfad zu Pferde herbei und führten Rekori am Zügel mit. Sie und einige andere Krieger würden an diesem Tag die einzigen sein, die nicht zu Fuß kämpften. Raen behagte seine Sonderstellung überhaupt nicht, aber der Setna musste immer den Überblick behalten und, wenn es nötig sein sollte, auch schnell fliehen können.
Er nahm einen Streifen Speck zwischen die Zähne und stieg auf. Rekori spürte die Unruhe der Menschen um sich herum und tänzelte nervös, aber Raen hielt den Hengst mit festem Schenkeldruck und kaute auf dem Speck herum. Er blickte sich um.
„Sind die Bogenschützen auf ihren Posten?“, fragte er einen seiner obersten Anführer.
„Ja, Setna. Die Spießträger und die Feuerschleuderer auch.“
„Nun, dann möge Hyaun unsere Arme stark halten. Entzündet das Feuer!“ Raen reckte eine Faust in die Höhe und rief mit lauter Stimme: „Ima lo Valsonanpal - Gelobt sei das Land unserer Vorväter!“
„Ima lo Setna!“, antworteten ihm seine Krieger aus tausend Kehlen, und ihre Entschlossenheit hallte mächtig von den Berghängen wieder.
Raen lächelte. Sie waren dem Feind zwar zahlenmäßig unterlegen, keinesfalls aber im Kampfeswillen.
Dichter schwarzer Rauch stieg von dem neuen großen Feuer auf, und als sei dies das verabredete Zeichen, ertönten von jenseits der Passstraße die Hornsignale der Askharer.
Raen trabte mit seinen zwei Begleitern einen Abzweig hinauf, der sich hinter den fünf Wegsperren befand, um von dort aus den Beginn des Kampfes zu beobachten. Spannungsgeladene Ruhe legte sich über die Wartenden. Noch war der heran marschierende Feind von einer Biegung verdeckt, und nur die Staubwolke kündigte an, dass sie die Feuerbarriere bald erreichen würden.
Die Passstraße, flankiert von Felswänden und Geröllhängen, verlief hinter dem Feuer beinahe eben weiter - eine trichterförmige Schleuse, durch die die Askharer hindurch mussten, und die sich immer weiter zusammenzog, um schließlich wieder breiter zu werden und steil zu den Gipfeln hinauf anzusteigen. Vier Steinwälle blockierten hinter dem Feuer die Straße, und an jeder Barriere erwarteten die Angreifer ganz unterschiedliche Abwehrmaßnahmen. Raen hatte diese Stelle der Passstraße bewusst gewählt.
Ein Warnruf erklang und wurde weitergeleitet. Alle Augen richteten sich auf das Feuer. Raen zog Rekoris Zügel straff, damit er still hielt.
Und endlich tauchten hinter den schwarzen Rauchschwaden die ersten Wimpel auf. Sie tanzten über den Köpfen eines großen Aufgebotes an Fußsoldaten, das sich direkt auf die erste Barriere zu bewegte. Aber der Kriegsherr der Askharer war nicht dumm. Er schickte leichte Kampfeinheiten an den Berghängen voraus, um den Einsatz der Fallen zu behindern. Erste Scharmützel mit den Hy-Kriegern fanden statt. Raen behielt die Geduld und ließ den langgestreckten Wurm der Fußsoldaten bis zum Feuer vorrücken. Erst dann gab er das Zeichen. Hell ertönte das Pfeifen der Signalpfeile am Himmel, und wie aus dem Nichts erhoben sich die hyaunischen Bogenschützen aus ihren viel weiter oben gelegenen Verstecken. Sie schossen ohne Verzögerung auf alles, was sich in roter Rüstung bewegte. Die Reihen der Askharer gerieten im Pfeilhagel durcheinander, versuchten in Deckung zu gehen, doch sie konnten weder vor noch zurück, denn die eigenen, nachrückenden Männer schnitten ihnen auf der schmalen Straße den Rückweg ab. Unaufhaltsam drängte die Flut von Soldaten dem Feuer entgegen. Die Vordersten brüllten und stemmten sich gegen die Kameraden in ihrem Rücken, doch sie wurden gnadenlos nach vorn in die Flammen geschoben. Unter schrillen Todesschreien verbrannten sie oder kamen als lebendige Fackeln auf der anderen Seite des Feuers wieder herausgerannt.
Das schien der gegnerische Kriegsherr wohl durchaus beabsichtigt zu haben, denn wie in Panik geratene Käfer stiegen die Soldaten übereinander hinweg, und erstickten das Feuer schließlich unter mehreren Lagen toter Körper.
Der Maestro der Askharer zog skrupellos alle Register, das war Raen damit klar! Er pfiff, und die Bogenschützen zogen sich augenblicklich bis zur nächsten Barriere zurück. Der Steinwall war mannshoch und konnte nicht von Reitern überwunden werden, doch die waren auch nicht in Sicht. Immer mehr Fußvolk quoll die Passstraße entlang wie ein entfesselter Gebirgsbach nach einem Unwetter. Das Echo der um ihr Leben voranstürmenden Soldaten hallte das enge Tal hinauf. Kurz vor dem Steinwall erwischte sie der zweite Pfeilhagel, und der Strom geriet erneut ins Stocken. Viele Dutzend Askharer fielen tödlich getroffen. Diejenigen, die Schilde hatten, hielten sie sich schützend über die Köpfe und setzten ihren Weg fort. Vom Druck der eigenen Leute vorangetrieben, prallten sie regelrecht gegen die Felsen der Barriere und begannen sie panisch zu überklettern. Und als sich um die hundert Soldaten im Raum zwischen den zwei ersten Wällen angesammelt hatten, griffen die hyaunischen Spießträger sie von der Seite an. Alle Hundert fielen, weil sie in der Falle saßen. Auf diese Weise ging es weiter, ohne dass die Askharer etwas dagegen unternehmen konnten. Ihr gewaltsames Vordringen geriet am Steinwall mit einem Mal zu ihrem Nachteil, denn alle Soldaten, die aus Angst, zerquetscht zu werden, hastig die Barriere überkletterten, wurden auf der anderen Seite augenblicklich niedergestochen, immer schön nacheinander wie bei einer Treibjagd. Erst als von der Biegung her ein durchdringendes Hornsignal zu hören war, ließ das Voranstürmen nach, kam schließlich ganz zum Erliegen und verwandelte sich dann in einen ebenso schnellen Rückzug. Der wurde von den Bogenschützen der Hy gezielt eingedeckt, bis er außer Reichweite war.
Ein erstes Luftholen ging durch die Reihen der Verteidiger, doch Raen war sicher, dass die Unterbrechung nur von kurzer Dauer sein würde. Der askharische Maestro schonte seine Männer nicht und er hatte nach den vergangenen Erfolgen Blut geleckt. Er würde alles darangeben, den Pass in möglichst kurzer Zeit zu gewinnen. Raen ahnte auch, dass die andere Seite beabsichtigte, ihre gesamte Vorhut als Pfeilfang zu opfern, was allein dazu dienen sollte, die hyaunischen Schützen dazu zu verleiten, all ihre Munition zu verschießen, während die Askharer ihre Pfeile sparten. Deshalb kommandierte Raen die Bogenschützen ab und setzte die Feuerschleuderer an ihre Stelle. Der Wechsel war kaum vollzogen, da kam der zweite Angriff der Askharer in Gang. Raen sah sofort, dass sie hinter der Vorhut große Holzrampen mit sich führten, mit denen sie die Steinwälle bezwingen wollten. Er ließ sie herankommen und gab dann das Signal. Die Feuerschleuderer entzündeten ihre kindskopfgroßen Geschosse, ließen sie in metallenen Netzen über ihren Köpfen kreisen und entließen sie dann gegen den Strom der Angreifer. Die dünnen Tonwände der Feuerbehälter zerplatzten und gaben ihren flüssigen, brennenden Inhalt aus Pech und Öl über den Köpfen der Soldaten frei. Erneut brach Chaos aus. Doch plötzlich kamen große Abteilungen der Askharer über die Berghänge geschwärmt, und ein Teil der Feuerschleuderer sah sich gezwungen, darauf zu reagieren. Sie zogen ihre Schwerter und warfen sich gegen die Feinde. Sofort schickte Raen weitere Krieger hinauf, um den Schleuderern Rückendeckung zu geben. Unten war es den Askharern derweil gelungen, eine der Rampen an den ersten Steinwall zu legen, doch zwei gezielte Würfe mit Brandgeschossen ließen sie in Flammen auf gehen. Schwarzer Rauch und Schreie stiegen zum Himmel empor und auch der Geruch nach verbranntem Leder und Haaren.
Bis zum Nachmittag rieb sich die askharische Armee an der Abwehr der Hy auf, dann zog sie sich unvermittelt zurück.
Die hyaunischen Kämpfer brachen in Jubel aus und reckten ihre Waffen dem davonziehenden Feind entgegen. Den ersten Tag hatten sie überstanden, sie hatten ihnen Einhalt geboten - zumindest vorerst. Raen wechselte einen angespannten Blick mit Kaera, der ein schmales Lächeln zustande brachte, und gab dann Anweisung, die Lager zu errichten und Essen und Wasser auszuteilen.
In der Nacht drang das Geschrei der zurückgelassenen, verwundeten Askharer zu ihnen hinauf, doch die Krieger Hyauns verschlossen ihre Ohren und Herzen und bemühten sich darum, ihre eigenen Wunden zu versorgen. Denn die Order des Setna hieß: Keine Gefangenen und keinen Gnadentod!
Bis lange nach Mitternacht ging Raen noch in den verstreuten Feldlagern umher, um sich nach den Verlusten zu erkundigen und seinen Kriegern Mut zuzusprechen.
Mehrere Tage lang vollbrachte es das kleine beherzte Heer der Hy, das enge Stück der Passstraße zu halten. Doch dann traf auf der anderen Seite die lang erwartete und schwer beladene Nachhut der Feinde ein, und der askharische Maestro konnte seine Taktik verlagern.
Als die Sonne an diesem Spätseptembermorgen ihr lächelndes Angesicht über die Berggipfel erhob, konnten die Hy mit ansehen, wie die Askharer in aller Ruhe ihre schweren Kriegsmaschinen in Position brachten.
Schon gegen Mittag standen sie zum Einsatz bereit. Raen war klar, dass sie dem nichts entgegenzusetzen hatten, und er beorderte alle Krieger von den Barrieren fort, da diese mit großer Gewissheit zuerst beschossen werden würden. Ihnen blieb jetzt nichts anderes mehr übrig, als die Flanken zu besetzen und die feindlichen Soldaten, wenn sie durchbrachen, mit allem zu befeuern, was sie noch hatten. Die andere Hälfte der Krieger würde zu Pferde am oberen Passstück warten, wo das Gelände noch einmal eng wurde, sie waren die letzte Barriere, bevor die Straße hinunter ins Hauptland führte. Leider warteten sie noch immer vergeblich auf die Verstärkung vom Einmann-Pass. Darüber hinaus hatte Raen erkennen müssen, dass die Front entlang des gesamten Gebirges viel zu weit auseinander gezogen war und damit die Schlagkraft seines Heeres in viele kleine Teile zerrissen hatte. Es fiel ihm schwer, den nächsten Befehl zu geben, doch er hatte keine andere Wahl, nur vereint konnten sie die Askharer wirkungsvoll bekämpfen, auch wenn das hieß, dass er die anderen Pässe zunächst aufgeben musste.
Er konzentrierte sich und rief über sein Aun sämtliche Krieger von ihren Stützpunkten im Junghal zum nördlichen Eingang des Doban-Passes.
‚Noch ist nichts verloren’, dachte er und sah von seinem erhöhten Aussichtspunkt aus zu, wie die ersten Geschosse der askharischen Katapulte den vordersten Steinwall einfach fortsprengten. ‚Der hyaunische Wald wird noch einiges an Überraschungen für unsere Feinde bereit halten!’
Eine Pause war entstanden, in der die Maschinen neu justiert wurden. Es waren nur sechs Katapulte in gestaffelter Aufstellung, aber es gab nichts, was Raen tun konnte, um sie zu zerstören. Die Askharer hatten sie gut abgesichert.
Bald erklang das charakteristische Klacken und Schaben der langen Wurfarme, und die nächste Salve war unterwegs. Sie ging zu kurz und verfehlte ihr Ziel.
„Falsch berechnet“, kommentierte Kaera trocken.
Raen warf ihm einen Blick zu. Er spürte, wie gern sein Freund sich einmal an diesen Kriegsgeräten versucht hätte - genau wie er selbst auch. Das neuerliche Spannen und Beladen kostete Zeit. Raen prüfte den Sonnenstand.
„Vielleicht gelingt es ihnen heute noch, durchzubrechen“, gab er an, „dann werden wir ihnen zeigen, wozu wir Hy fähig sind!“
Kaera schob entschlossen das Kinn vor. „Ja, auch unsere Schnelligkeit wird in wegsamerem Gelände deutlich an Wirksamkeit gewinnen. Ob die Askharer das auch bedacht haben?“
Rekori zuckte unter Raen zusammen, als der zweite Steinwall auf der Passstraße sich mit Getöse in Wohlgefallen zerlegte.
„Guter Schuss!“, knurrte Kaera. „Die Katapultmeister verstehen etwas von ihrem Handwerk.“
Im Verlaufe des Nachmittages wurde die Sonne von dicken Wolken verschluckt. Die Folge war, dass es schneller dunkel wurde, und die Askharer dadurch gezwungen waren, den Beschuss des letzten Steinwalls aufzugeben. Die Entfernung von über dreihundert Doppelschritten war wohl zu groß.
Raen stellte eine Reihe von Nachtwachen auf, die alle fremden Späher abfangen sollte. Und als es stockfinster war, ließ er heimlich die Wälle etwas versetzt wieder aufbauen. Das würde ihnen einen Hauch mehr Zeit verschaffen.
Später saß er an einem Lagerfeuer, das sie am Fuße einer rückwärtigen Felswand entzündet hatten, und aß mit wenig Appetit seine Ration Weizengrütze mit Hammelfleisch, da hörte er Hufgetrappel und erfreute Rufe. Der Bote der Reiterei war gekommen. Raen erhob sich, um den Mann zu empfangen und seinen Bericht zu hören. Überrascht stellte er fest, dass es sein Vater war.
Roman lächelte und hob zum Gruß beide Hände vor die Brust, als er zu ihm in den Lichtkreis des Feuers trat.
„Ich habe sehr gute Neuigkeiten“, eröffnete er, „ein Bote kam kurz vor Sonnenuntergang zu uns. Die erste Verstärkung aus dem Osten wird morgen Abend bei uns eintreffen und die zweite in zwei Tagen.“
„Welche zweite?“, fragte Raen.
„Manoen hat in weiser Voraussicht schon vor zwei Wochen sofort tausend Mann losgeschickt.“
„Guter Mann, das nenne ich mal eine ausgezeichnete Ahnung.“ Raen gelang ein Lächeln und er bedeutete seinem Vater, er solle sich setzen. Roman ließ sich mit einem Seufzer nieder. Auch er sah sehr müde aus.
„Möchtest du noch etwas von dem Essen? Es ist nicht besonders schmackhaft, aber es füllt den Magen.“
„Gerne.“
Taghat brachte eine dampfende Schale, und Roman nahm sie dankend entgegen.
„Und wie sieht es hier aus?“, fragte er nach einer Weile zwischen zwei Happen.
„Morgen werden sie durchbrechen“, entgegnete Raen, „das ist gewiss! Haltet euch also bereit.“
„Ja, ich werde es ausrichten.“ Schnell hatte Roman aufgegessen. Er stellte die Schale weg und sah Raen an. Ein Lächeln trat auf die Züge des Älteren, und dabei verdoppelten sich die Fältchen um seine Augen schlagartig. Beinahe wehmütig dachte Raen, wie alt sein Vater doch geworden war. Alt und doch kaum verändert. Es war faszinierend. Die Eltern konnten sehen, wie ihre Kinder größer wurden und sich entwickelten, in den Augen eines Kindes wandelte sich das Bild der Eltern jedoch kaum, ganz egal, wie viel Zeit verstrich.
Roman erhob sich. „Ich muss zurück, gibt es sonst noch etwas?“
„Nein.“ Raen stand ebenfalls auf.
„Also gut.“ Sein Vater schien zu zögern. „Dann will ich mal.“ Er wollte sich umdrehen, doch Raen hielt ihn zurück.
„Warte“, sagte er, trat auf seinen Vater zu und umarmte ihn fest. „Viel Glück!“, flüsterte er ihm ins Ohr, sein Kinn auf der Schulter des Älteren.
„Viel Glück, mein Sohn.“ Er strich Raen über den Rücken und blickte ihm noch einmal in die Augen, bevor er schließlich ging.
Der Jüngere schaute seinem Vater hinterher, bis dieser in der schwarzen Umarmung der Nacht verschwand. Wenig später hörte er sein Pferd davon traben. Tief im Herzen war Raen froh, dass sein Vater morgen nicht hier war. Es würde unerbittlich zugehen und für viele von ihnen wahrscheinlich der letzte Tag ihres Lebens sein. Vor seinem inneren Auge sah er bereits das schauderhafte Gemetzel. Er legte seinen Kopf in den Nacken und versuchte, den Gedanken mit der frischen Nachtluft, die er in seine Lungen pumpte, zu verscheuchen. Die Verantwortung eines Kriegsherrn setzte seinem Gewissen arg zu, aber er wusste, dass es unabänderlich und sein Schicksal war!
‚Ich sollte mich nicht fragen, wie viele Menschen aufgrund meiner Entscheidungen sterben müssen, ich sollte mich lieber darum kümmern, wie vielen ich damit das Leben rette!’ Mit den Fingerknöcheln bearbeitete Raen seine Stirn, besorgt beobachtet von Taghat. ‚Denke nicht an die Toten, denke an die Lebenden. Sie brauchen dich!’, hämmerte er sich wieder und immer wieder ins Gedächtnis und starrte dabei verdrossen ins Feuer. Die Flammen flackerten und ließen die Schatten der Felsen um ihn herum tanzen. Plötzlich spürte Raen, wie erschöpft er war. Er setzte sich auf eine Satteldecke, lehnte sich an ein leeres Vorratsfass, und augenblicklich senkten sich seine Lider.
Er träumte von einem schönen Sommertag. Die Sonne schien, und sanft strich der Wind über die bestellten Felder, ließ sie wogen wie ein großes Tuch, auf das die Ahnen ihren Atem bliesen. Der grünen Farbe der Kornähren nach zu schließen war es Ende des Blütenmondes. Er liebte diese Zeit des Jahres, in der alles noch so frisch war. Verzückt fuhr er mit einer Hand über die rauen Grannen der Ähren. Er konnte sogar den Duft des unreifen Korns wahrnehmen und das Summen der Insekten. Alles war so klar und rein ... so friedlich. Er schloss die Augen und hob sein Gesicht den warmen Strahlen der Sonne entgegen.
Plötzlich hörte er Stimmen und sah in einiger Entfernung drei Menschen die Straße entlang kommen, hinter ihnen erhob sich der Chorten weißleuchtend über die Felder. Es waren zwei Männer, ein älterer mit langen, grauen Haaren und ein jüngerer mit hellbraunem Zopf, das andere war eine junge Frau, die dem Burschen sehr ähnlich sah. Die beiden jungen Leute hatten den älteren in ihre Mitte genommen und schlenderten so fröhlich lachend einher. Alle drei trugen bunte Kleidung und wirkten sehr glücklich. Raen lächelte. Es war ein schönes Bild.
Ein Schwarm Sperlinge flog aus dem hohen Gras am Wegesrand auf und zog lustig zwitschernd davon. Raen schaute kurz den Vögeln nach und kehrte dann mit seinem Blick wieder zu den drei Spaziergängern zurück. Sie hatten eine Abzweigung genommen und entfernten sich wieder langsam von ihm. Es war komisch, irgendwie schien es ihm, als kämen sie ihm bekannt vor. Besonders der Alte in der Mitte ...
Mit einem Mal fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Das war sein Vater! Natürlich, er hatte dessen Lachen gehört, es hatte sich kaum verändert, war nur etwas heiserer geworden. Fasziniert betrachtete Raen ihn. Roman wirkte so ganz anders in normaler Kleidung und mit langen Haaren. War er etwa kein Krieger mehr? Und die beiden anderen, wer waren sie?
„Dreht euch doch noch einmal um!“, rief er ihnen zu.
Als hätte die Frau ihn gehört, wandte sie ihren Kopf und blickte zu ihm herüber. Das Grün ihrer Augen hatte dieselbe Tönung wie das des Gerstenfeldes, das zwischen ihnen lag.
„Sosama!“, sprach Raen laut. Dann musste der andere Roakyn sein. Er rief ihre Namen, doch die drei schienen ihn nicht zu hören. Sosama sah jetzt wieder vor sich auf den Weg.
Raen wollte ihnen hinterher, doch er spürte, wie er jäh von einer Windböe emporgehoben wurde. Seine Füße lösten sich vom Boden, und federleicht schwebte er immer höher hinauf in den hellen Tag. Unter sich sah er seine Kinder und seinen Vater weiter den Weg entlanggehen - bunte Farbtupfer im üppigen Grün des Chor. Wieder legte sich ein Lächeln auf seine Züge. Er fühlte, dass er immer bei ihnen sein würde.
Kleiner und kleiner wurde die Landschaft unter ihm, und als er schließlich in die kitzelnde Umarmung der Wolken eintauchte, war er dankbar für diesen Blick in die Zukunft, den er hatte werfen dürfen.
Am nächsten Morgen war das Bild an der Passstraße das gleiche wie am Tag zuvor. Jede Partei stand auf ihrer Seite und überlegte mit unterschiedlichen Gefühlen im Bauch, wie dieser Tag für sie wohl ausgehen würde. Die Askharer mochten sich darüber ärgern, dass die Barrieren wieder standen oder auch nicht, zumindest herrschte eine seltsame Ruhe bei den Katapulten.
Raen hatte sich wieder auf der kleinen Anhöhe in Stellung gebracht, an der die Passstraße hinter der letzten Barriere linkerhand vorbeiführte. Er beobachtete die stillstehenden Maschinen, die über siebenhundert Doppelschritte entfernt in den morgendlichen Schatten der Berghänge standen, und vermutete, dass die deshalb nicht feuerten, weil die Askharer sie erst wieder neu einstellen mussten.
Eine Bewegung lenkte seinen Blick ab. Es war ein Schwarm Dohlen, der hinter der Biegung aufflog. Die Rufe der Vögel waren in der klaren Luft deutlich zu hören. Er folgte ihrem Flug mit den Augen. Plötzlich durchbrach heiseres Kriegsgebrüll die angespannte Atmosphäre. Und die schrillen Warnpfiffe der hyaunischen Vorposten bestätigten, was Raens Ohren erst nicht zu glauben wagten.
„Sie greifen an?“, fragte er stirnrunzelnd. „Ohne vorher die Barrieren zu sprengen?“
Neben ihm zuckte Kaera mit den Achseln und umfasste die Zügel seines Pferdes fester. Schon kam die Horde der Feinde um die Kurve in Sicht, mit dem Schwung des Gefälles rannten sie wie eine riesenhafte Herde wütender Stiere auf den ersten Steinwall zu.
Raen hielt seine Signalpfeife bereit. Er überlegte fieberhaft. Es musste einen sehr guten Grund geben, warum die Askharer die Katapulte nicht benutzten. Hatte der Maestro auf der anderen Seite es so eilig, oder war etwas mit den Maschinen nicht in Ordnung? Zum Teufel, denk nach!
Die brüllende Masse erreichte die Barriere, wurde langsamer, teilte sich mit einem Mal und ließ schnelle Läufer mit schmalen Rampen durch. Noch ehe die Hy von den Hängen ihr Feuer schleudern konnten, hatte sich das askharische Fußvolk wieder in Gang gesetzt und überquerte mit Hilfe der Rampen mühelos den Wall. In dem Lärm, den die Soldaten mit ihrem Wutgebrüll und den scheppernden Rüstungsteilen verursachten, ging das Geräusch der auslösenden Katapulte vollkommen unter. Die Feuergeschosse kamen mit funkensprühendem Schweif in einem flachen Bogen herangeflogen, und ehe Raen seinen fatalen Irrtum erkannte, war es zu spät!
Die Geschosse zerbarsten genau inmitten der Krieger auf den Flanken zu beiden Seiten der Straße, und ein verheerender Feuerwall verschluckte die vorderste Abteilung der vollkommen überraschten Feuerschleuderer und Bogenschützen.
„Zurück, alle zurück von den Flanken!“, schrie Raen und ruderte heftig mit dem Arm in der Luft.
„Sie haben uns hereingelegt“, erfasste Kaera die Situation schreckensbleich, „sie haben gestern nur die Entfernung gemessen. Wir sind solche Narren!“
„Jetzt ist keine Zeit zum Lamentieren, los, schafft alle Abteilungen hinter die letzte Barriere. Alle Mann zurück!“ Am liebsten wäre Raen auch voran in den bevorstehenden Zusammenprall mit der askharischen Armee geritten, um eigenhändig Vergeltung zu üben, aber seine Verantwortung gebot ihm zu verharren, wo er war. Sein Schwert musste in der Scheide bleiben und sein Verstand kühl!
Kurz vergewisserte er sich, dass er nach hinten über die Kuppe leicht entkommen konnte, um zu der Reiterei zu gelangen, und wandte sich dann wieder mit mahlenden Kiefern dem Geschehen zu. Die feindliche Armee hatte bereits die zweite Barriere hinter sich gebracht, während noch immer dichte Rauchschwaden an den Hängen rechts und links der Straße aufquollen und vom schmerzlichen Verlust vieler Männer kündeten.
Prinz Setna betrachtete das famose Spektakel aus sicherem Abstand: Der machtvolle Vorstoß der Königlichen Armee und die überraschende Feuereinlage; auf der anderen Seite die verzweifelten Versuche der Verteidiger, von den Hängen zu flüchten. Alles konzentrierte sich jetzt auf die letzte Barriere, wo beide Heere aufeinanderstoßen würden. Alle, bis auf ihn. Setna wandte seinen Blick von dem chaotischen Gedränge unten auf der Passstraße ab und sah nach Norden. Er hatte ihn längst entdeckt, den roten Umhang! Und es gab keinen Zweifel. Der Mann, der ihn trug, war der Assassino!
Setna konnte von seinem Versteck aus dessen Gesicht sehen, das er unter Tausenden wiederkennen würde, weil er nichts auf der Welt mehr verabscheute! Der Kerl saß geschätzte achtzig Schritt entfernt hoch zu Ross am Ende des Engpasses auf einer Hügelkuppe und sah dem bevorstehenden Blutbad seelenruhig entgegen. Dabei schien er von dem Geschehen zu seinen Füßen so sehr abgelenkt, dass er den kleinen Verband askharischer Kämpfer nicht bemerkte, der sich mittlerweile weit über den sich rechts von der Straße befindlichen Berghang herangearbeitet hatte. Dass er ihnen keinerlei Beachtung schenkte, hatte aber womöglich damit zu tun, das sich Setna und seine Begleiter einer ausgezeichneten Tarnung bedienten, mit der sie im ungeordneten Rückzug der hyaunischen Krieger nicht auffielen. Denn sie trugen deren Kleidung und hatten sich sogar sämtlich im Gesicht glattrasiert. Helm und Stirnreif, die sie einigen toten Kriegen abgenommen hatten, ließen ihr Äußeres aus der Ferne noch weniger verdächtig erscheinen. Die Täuschung war perfekt, allein nur ihre fremde Zunge hätte sie verraten, aber das interessierte in diesem Moment niemanden. Unbehelligt konnten sie sich im allgemeinen Durcheinander dem feindlichen Kriegsherrn nähern. Setna ließ dabei jedoch alle Vorsicht walten. So kurz vorm Ziel durften sie nichts übereilen.
Den ganzen Weg vom Scheren-Pass bis hierher hatte er den König darauf gedrungen, diese Gruppe anführen zu dürfen, und Katthike hatte es ihm schließlich bewilligt - wohl in dem Wissen, dass sein Stiefsohn sich ohnehin unbefugt davonstehlen würde.
Geduckt bewegten die falschen Hy-Krieger sich von Felsen zu Felsen und gelangten immer weiter in den Rücken des Assassino und seiner beiden berittenen Begleiter, aber gleichzeitig auch tiefer in das feindliche Gebiet. Setna warf einen Blick zurück. Wenn ihr Vorhaben schiefging, konnten sie immer noch in einem weiten Bogen zurück über den Bergkamm flüchten. Er spähte wieder nach unten. Das Gefecht auf der Passstraße hatte begonnen, brüllend warfen sich die schwarzberockten Verteidiger gegen die scheinbar übermächtige rote Flut der Königlichen Armee. Eine perfekte Ablenkung! Setna gab seinen gefälschten Banskeid ein Zeichen, dass sie versuchen sollten, näher an den Prinzen von Hy heranzuschleichen. Er wollte nichts dem Zufall überlassen, brauchte einen absolut sicheren Schuss. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, während er den Assassino nicht aus den Augen ließ und daran dachte, es ihm in wenigen Augenblicken mit gleicher Münze zurückzahlen zu können. Die gleiche Pfeilspitze, mit der der Hy damals General Kasai so hinterrücks ermordet hatte, würde jetzt ihn töten!
„Das geschieht dir nur recht, dreckiger Schweinehirt!“, flüsterte Setna und arbeitete sich weiter voran. „Und ich werde mir dein Ohr als Trophäe holen, denn ich breche meine Versprechen nie!“ Er erinnerte sich daran, wie es sich angefühlt hatte, den Hy in seiner Gewalt zu haben. Und es würde sich noch viel besser anfühlen, wenn er ihn mit seinem eigenen Pfeil durchbohrte!
Setna hob eine Hand. Die Stelle hier zwischen den hohen Felsen war gut geeignet und außerhalb der Gefechtszone. Eine Weile beobachtete er regungslos sein Ziel und schätzte die Entfernung. Ob der Kerl ahnte, dass er von seinem Bruder verraten worden war? Tja, wenn nicht, würde er es leider auch nicht mehr erfahren. Zu schade, dachte Setna, das verblüffte Gesicht hätte er zu gern gesehen. Er drehte sich zu seinen Begleitern um und gab ihnen zu verstehen, dass er es von hier aus wagen wollte. Sie waren zu sechst, allesamt die hervorragendsten Schützen der Königlichen Armee und sie sollten alle zugleich auf den hyaunischen Heerführer schießen. Sicher war sicher. Setna zog den Pfeil mit der besonderen Befiederung aus seinem Köcher an der Hüfte. Die Spitze blinkte vielverheißend in der Sonne. Tags zuvor hatte er sie noch einmal nachgeschliffen. Mühelos würde sie dickes Leder durchdringen, denn er wusste, dass selbst der Setna von Hy keinen Metallpanzer trug. Er legte den Pfeil auf die Sehne und atmete ruhig. Aufregung durfte er sich jetzt nicht leisten. Dann wechselte er einen letzten Blick mit seinen Begleitern und wandte sich seinem Ziel zu. Der Assassino war vierzig Schritt entfernt und beinahe auf gleicher Höhe, nur ein kleines schmales Tal lag zwischen ihnen. Vom Gefecht war von hier aus mehr zu hören als zu sehen.
‚Bei den Göttern, ich muss einfach treffen!’ Setna umfasste das Leder des Griffsstücks und hob den Bogen. Er zog ihn aus, hielt den Atem an, zielte und ließ die Sehne los, noch bevor sein Arm wegen des hohen Zuggewichtes zu zittern begann. Der Pfeil war schnell, doch aufgrund der leuchtend roten Befiederung konnte er seine Flugbahn gut verfolgen, auch die der anderen fünf Geschosse.
Raen spürte einen plötzlichen Schlag im linken Oberarm und er gewahrte, dass Taghat zu seiner Linken aufstöhnte und vornüber vom Pferd kippte. Ein Pfeil steckte in seinem Rücken. Noch ehe Raen sich versah, wurde er von Kaera aus dem Sattel gezogen und landete unsanft im Schutz der Tiere. Hektisch bemühte sich sein Berater, die beiden Pferde zusammenzuhalten, um in ihrer Deckung aus der Gefahrenzone fliehen zu können. Ein weiteres Mal schlugen Pfeile ein und auch die Pferde wurden getroffen. Sie wieherten schrill auf und liefen stolpernd die abgewandte Seite der Felskuppe hinab, zwischen ihnen Raen und Kaera, der lauthals nach Unterstützung schrie.
Als sie am Fuße des Hügels in Sicherheit waren, brachte Kaera mit aller Gewalt die aufgescheuchten Pferd zum Stehen, drückte die Zügel den herbeieilenden Reitern in die Hand und wandte sich dann besorgt zu Raen um.
„Du bist verletzt. Lass mal sehen.“ Er betrachtete den Oberarm des Setna, in dem ein Pfeil steckte. Der Ärmel seiner Jacke war schon ganz feucht vom Blut. „Ich versuche, ihn herauszuziehen!“ Er umfasste den Schaft und zog.
Raen konnte sich einen Schrei nicht unterdrücken, und der reißende Schmerz verursachte ihm Übelkeit. Doch der Pfeil rührte sich nicht. Er hatte offenbar Widerhaken. Ein Medizi würde ihn herausholen müssen. Kaera brach den Schaft ab, und Raen biss die Zähne aufeinander, um nicht wieder zu schreien. Anschließend riss der Berater einen Streifen Stoff aus Raens Umhang, wand ihn oberhalb der Wunde um den Arm und zog den Knoten so fest zu wie er konnte. Sofort spürte Raen, wie der Arm taub. Aber das war allemal besser, als zu verbluten, dachte er nüchtern.
„Was ist mit Taghat?“, fragte er und sah den Hügel hinauf. Einige Krieger waren bereits dabei, ihn vorsichtig zu erklimmen.
„Ich weiß es nicht, er liegt noch dort oben. Die anderen werden sich um ihn kümmern. Aber jetzt müssen wir erst einmal zusehen, dass wir dich hier fortbekommen. Es ist zu gefährlich für dich!“
Raen nickte mit schmerzverzerrtem Gesicht, und Kaera half ihm auf sein Pferd, das aus einer Streifwunde an der Kruppe blutete. Danach bedeutete der Berater vieren der berittenen Krieger, den Setna in die Sicherheit der Berge zu geleiten. Sie nickten und nahmen ihren Anführer in ihre Mitte.
„Halt!“, rief Raen und wandte sich noch einmal nach seinem Freund um. „Kaera! Ihr müsst die Askharer aufhalten, wenigstens bis heute Abend, dann trifft die Verstärkung ein!“
„Das werden wir, und wenn es das Letzte ist, was wir tun! Und jetzt los!“
„Möge Hyaun euch beschützen!“
„Worauf wartet ihr noch!“, fuhr Kaera die Reiter an, die augenblicklich antrabten und den Setna auf seinem Pferd mit sich zogen.
Während der Kriegslärm in ihrem Rücken immer schwächer wurde, beugte Raen sich tief über Rekoris Hals und galoppierte die gewundene Passstraße hinauf in den letzten Gebirgszug zwischen Doban und dem Hauptland.
„So, das hätten wir!“, sagte der Medizi und legte seine Instrumente beiseite. Er hielt Raen, der darauf bestanden hatte, bei Bewusstsein zu bleiben, die herausoperierte Spitze vor die Nase.
Der Setna blinzelte benommen, spuckte das Beißholz aus und nahm sie entgegen. Mit dem Daumen wischte er sein Blut von dem scharfen Blatt, das ihm verdächtig bekannt vorkam. Und als er das goldene Schimmern sah, glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen. Aufgeregt schnappte er nach Luft und wollte aufspringen.
„Schhht, stillhalten bitte!“, befahl der Medizi, der derweil damit beschäftigt war, die Wunde, die noch immer blutete, zu nähen.
„Das gibt es doch nicht! Das ... kann ich nicht glauben.“ Raen war wie vom Donner gerührt, wendete die Spitze am fingerlangen Überbleibsel des Pfeilschaftes immer wieder im Licht der flackernden Öllampe, welche das Zelt und den Arbeitsplatz des Medizi nur spärlich beleuchtete.
„Oh, doch, Ihr könnt es ruhig glauben, Al Setna, Ihr seid noch einmal davongekommen. So, jetzt werde ich die Wunde verbinden, und dann können wir nur hoffen, dass sie nicht brandig wird.“
Nachdem er Raen den Verband angelegt hatte, drückte er ihn noch etwas Veda in die Hand. „Nur für den Fall, dass die Schmerzen allzu groß werden. Und nicht vergessen, den Becher mit dem Sud dort auszutrinken!“
„Werde ich, hab Dank“, brachte Raen monoton hervor, noch immer gefangen im Bann der Spitze.
Der Medizi nickte und verließ das Zelt. Draußen herrschte bereits Nacht und sie strich mit ihren kalten Fingern durch die Zeltöffnung über Raens bloßen Oberkörper. Ihm fröstelte und er schlüpfte mühevoll wieder in seine Jacke, obwohl er das noch feuchte Blut im linken Ärmel fühlte. Dann erhob er sich von der Behandlungsbank und ging zu dem Becher, der auf einer der Truhen mit den Utensilien der Medizi stand. Er setzte ihn an die Lippen und leerte den überraschend süßen Inhalt in einem Zug. Als er den Becher abstellte, öffnete sich der Zelteingang, und Kaera erschien. Erleichtert, den anderen gleichfalls wohlauf zu sehen, fielen die beiden Männer einander in die Arme.
„Bitte berichte mir, schon seit Stunden frage ich mich, was bei euch am Pass geschehen ist, nachdem du mich fortgeschickt hast!“, drängte Raen wenig später ungeduldig und wies Kaera den Platz auf der Bank.
„Wir konnten die Stellung nicht halten!“, berichtete der Jüngere und ließ sich schwer auf die Bank fallen. An seinem Lederharnisch und auf seinem Gesicht klebte getrocknetes Blut. Es war das Bild aus seiner Vision! Doch so weit Raen erkennen konnte, schien sein Freund unverletzt.
„Nachdem wir im Gefecht die Kontrolle und zu viele Männer verloren hatten, habe ich den Rückzug in die Berge befohlen“, fuhr Kaera fort, „die Askharer sind jedoch nicht hinter uns her. Sie haben lediglich die Stellung eingenommen und besetzt. Ich schätze, sie wollen zuerst die Straße frei räumen, um danach ihre Reiterei zu uns durchzubringen. Nach Einbruch der Dunkelheit habe ich die versprengten Abteilungen gesammelt und sie hierhergeführt. Es sind noch vierhundert Mann.“
‚Von tausendzweihundert’, dachte Raen kummervoll.
Kaera senkte den Blick, wohl weil er sich seiner herauf quellenden Tränen schämte.
„Und was ist mit Taghat?“, wollte Raen wissen, auch er fühlte sich elend.
Kaera sah ihn nicht an, aber er antwortete: „Er hat noch gelebt, als wir ihn gefunden haben. Doch selbst die Medizi konnten nichts mehr für ihn tun. Er starb nur wenig später. Der Pfeil hat seine Lunge verletzt.“
Raen schwieg betroffen und rieb sich abwesend seinen pochenden Arm. Der Junge war wie alle anderen Banskeid, die am heutigen Tag ihr Leben gelassen hatten, wahrhaft tapfer gewesen. Er setzte sich zu Kaera auf die Bank.
„Mögen ihre Seelen frei sein!“, sagte er leise und hob beide Hände zum Gebet an die Lippen.
Neben ihm Kaera sprach die tröstlichen Worte mit. Die Tränen hatten helle Streifen auf seinem schmutzigen Gesicht hinterlassen.
„Was werden wir jetzt tun?“, fragte der Jüngere nach einer geraumen Weile. Er blinzelte und schien kaum noch in der Lage, seine Augen offen zu halten.
„Die erste Verstärkung ist vorhin eingetroffen. Morgen früh werden wir uns in den Wald zurückziehen. Dort gibt es Deckung und weitere Möglichkeiten, unsere Verteidigung zu gestalten. Aber jetzt leg dich erst einmal schlafen, hm?“ Raen legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter. „Ich brauche dich nämlich ausgeruht!“
Kaera nickte und ließ sich einfach seitlich auf die Bank sinken. Ohne auch nur sein Schwert abzulegen, schlief er schließlich zusammengerollt wie ein kleines Kind ein.
Raen deckte seinen Umhang über ihn und verließ das Zelt.
Er war noch zu aufgewühlt, um Ruhe finden zu können. Der Verlust Taghats und das schicksalhafte neuerliche Auftauchen der Pfeilspitze beschäftigten ihn. Er hatte sie Kaera gar nicht gezeigt und ihm gesagt, dass es Askharer gewesen sein mussten, die auf sie geschossen hatten und dass sie es nur auf ihn abgesehen hatten. Aber das war nicht das eigentlich Wichtige, auch wenn es den traurigen Tod von Taghat verursacht hatte. Raen wusste jetzt, dass er mit der Spitze des Orakels die Waffe zurück in seine Hände bekommen hatte, mit der er Zaizura besiegen konnte. Er musste nur noch einen Weg zu Ihr finden. Zielstrebig lief er durch das stille Lager bis zu der Abbruchkante, von der aus man über die endlos bewaldeten Hügel des Hauptlandes schauen konnte; im Dunkel der Nacht ein schwarzes Meer unter einem sternenklaren Firmament. Die Anstrengung ließ seine Wunde heftiger pochen, doch der heiß wallende Schmerz brachte ihm genau die Klarheit, die er brauchte! Nach all den Jahren verstand er nun die Worte der Prophezeiung, und endlich war es unmissverständlich, was sie von ihm verlangten. Es gab keine andere Bedeutung mehr. Nur in meiner Hand kann sie Ende und Anfang zugleich sein. Raen sah hinaus in die Nacht und über das Land seiner Väter. Der Wind strich ihm über das Gesicht und brachte die Würze des Herbstes mit sich, den Geruch nach fallenden Blättern, feuchtem Moos und Pilzen. Er sog den Duft seiner Heimat tief in seine Lungen und schloss die Augen. Die Aufgabe, die für ihn schon seit Anbeginn seines Lebens bereitstand, fühlte sich noch immer viel zu groß an, aber er würde alles geben, zu erfüllen, wofür man ihn ausersehen hatte. Er hob die Hand, legte die Pfeilspitze an sein Aun und erlebte vor seinem inneren Auge ein weiteres Mal den Tod des Setna Raeson in den Verliesen Askhars.
*
Es war offensichtlich, Setna ärgerte sich schwarz! Auch wenn es seiner Gruppe gelungen war, heil zur Armee zurückzukommen, schien er höchst unzufrieden mit dem Fehlschlagen seines Attentats zu sein! Kanaima ahnte, dass der Assassino ihm erneut entkommen war. Wütend schlug Setna daraufhin alles entzwei, was ihm nicht rechtzeitig aus dem Weg ging.
Auch am Morgen nach seiner Rückkehr saß er noch immer fluchend im Kommandozelt beim Morgenmahl und drangsalierte die hilflose Ordonnanz. Einem der jungen Burschen schlug er sogar mit seiner Reitpeitsche ins Gesicht, dass dieser vom Feldscher versorgt werden musste.
Kanaima schüttelte den Kopf über das unmögliche Gebaren seines Stiefbruders. Demonstrativ ließ er den angebissenen Hühnerschlegel auf seinen Teller fallen und wischte sich die Finger sauber. Keinen Augenblick länger ertrug er diese kindisch destruktive Stimmung. Er blickte den König an und fragte diesen um Erlaubnis, sich entfernen zu dürfen.
Katthike, der den Frust seines geliebten Zöglings hingegen sichtbar vollends nachempfinden konnte, ließ ihn toben. Gelassen pulte er mit einer Messerspitze den Dreck unter seinen Fingernägeln hervor, aber mit einem müden Wink gab er dem Maestro schließlich zu verstehen, sich verziehen zu dürfen.
Draußen vor dem Zelt, das noch immer im Schutz des Armeelagers hinter den Katapulten stand, pfiff Kanaima sich einen Soldaten heran, der ihm sein Pferd bringen sollte. Er wollte sich ablenken und das neu eroberte Stück Passstraße besichtigen. Ungeduldig wartete er, bis der junge Bursche mit dem Rotfuchs kam. Kanaima ließ sich den Steigbügel halten, zwinkerte dem Jungen aufmunternd zu und ritt danach in Richtung des Engpasses.
Die Spuren vom gestrigen Kampf waren nicht zu übersehen. Überall lagen Leichen, blutüberströmt oder verkohlt. Das Räumkommando hatte sie säuberlich nach Herkunft getrennt und zu Haufen zusammengetragen, die Askharer rechts, die Hy links. Die ersten Geier schwebten hoch oben am Himmel, während die Dohlen und Krähen bereits keckernd auf den Toten hin und her hüpften und sich um die besten Stücke zankten.
Kanaima sah, dass auf beiden Seiten Rüstungen und Waffen eingesammelt worden waren. Er nahm sich vor, das erbeutete Gut später zu besichtigen und sich eines der Hy-Schwerter auszusuchen. Auch das Gold hatten die Fledderer den Hy sorgfältig von der Stirn gekratzt. Kanaima konnte nirgendwo noch einen Stirnreif glänzen sehen. Stumm gafften ihn die grauen Gesichter der Toten an - eine stille Anklage. Er wandte seinen Blick ab.
Eigentlich hätte er Freude und Stolz fühlen müssen, weil er, Maestro Kanaima, als erster Askharer den Pass nach Hy erobert hatte! Nur noch um eine Daumenbreite war er davon entfernt, in das Zentralland einzumarschieren. Ein historischer Moment!
Doch merkwürdigerweise verspürte Kanaima weder Genugtuung noch Zufriedenheit darüber. Sein sportlicher Ehrgeiz, der ihn anfangs noch angespornt hatte, war erloschen. Seit er erfahren hatte, dass sein hyaunisches Gegenüber borgossinische Kriegspraktiken beherrschte und kein anderer war als der Kerl, den er ständig nachts in seinen Träumen sah, war er nahezu erstarrt und ratlos. Natürlich ließ er das niemanden merken, aber in ihm mehrten sich die Zweifel an der Richtigkeit dieses Feldzuges. Das Orakel hatte gewiss nicht von ihm verlangt, den Hy zu retten, damit er jetzt gegen ihn kämpfte. Das konnte nicht richtig sein! Was aber war die Wahrheit? Je länger Kanaima darüber nachgrübelte, desto stärker hegte er das Verlangen, mit dem Prinzen von Hy sprechen zu können - und nicht, ihn hinterrücks zu meucheln, wie es Setnas heißester Wunsch war. Dass der Versuch fehlgeschlagen war, freute Kanaima beinahe diebisch, nicht nur weil es Setna gegen den Strich ging, wieder einmal versagt zu haben, sondern auch, weil er den hyaunischen Feldherrn noch am Leben wusste. Er durfte nicht sterben, zumindest nicht, bevor er ihn noch einmal gesprochen hatte.
Kanaima grüßte General Bhuras, der die Räumarbeiten an der letzten Barriere überwachte. Sein Blick fiel auf eine Reihe am Straßenrand in den Boden gerammte Stangen, auf denen eine Auswahl an Köpfen der Feinde gespießt war. Sie stellten Triumph und Ansporn zugleich dar, und sollten die Soldaten, die bald an ihnen vorbeimarschierten, zu weiteren Heldentaten ermutigen. Mit bemüht gleichgültiger Miene trabte Kanaima weiter. Wenn er das Sagen gehabt hätte, hätte er sämtliche Verstümmelungen, mit denen die Soldaten nach dem Kampf ihr Mütchen kühlten, verboten, denn diese primitivste aller Ausübungen der Rache widerte ihn an. Aber der König gönnte den Männern diese einfachen Freuden, welche obendrein die Moral stärkten. Kanaima stieß verächtlich Luft aus, ließ den Schlachtgrund hinter sich und trieb sein Pferd die Flanke des Hügels hinauf, auf dem am gestrigen Tage das Oberhaupt Hys Stellung bezogen hatte und von wo aus es nach dem Attentat geflohen war. Wenn er das Sagen hätte, dachte Kanaima erneut verbittert, dann würde er Kontakt zu ihm aufnehmen. Doch Katthike würde eine frühe Friedensverhandlung niemals zulassen. Nicht jetzt, da sie den Schlüssel zu Hy in ihren Händen hielten. Außerdem war es nicht der Frieden, den der König wollte, sondern die Vernichtung dieses Volkes!
Oben auf der Kuppe stieg Kanaima ab. Zuerst sah er rechterhand über das kleine Tal hinweg zu dem Punkt, von dem aus Setna seinen Angaben nach geschossen hatte. Dann betrachtete er den steinigen Boden zu seinen Füßen und fand neben Huf- und Fußabdrücken recht bald auch mehrere große, getrocknete Blutflecken. Kanaima hockte sich hin und berührte die zähe, dunkelrote Masse. Nachdenklich zerrieb er etwas davon zwischen seinen Fingern, dabei blinzelte zu der Passstraße hinüber, die sich hinter dem Hügel steil den letzten Höhenzug hinaufwand. Irgendwo dort auf der anderen Seite dieser Gipfel hielt sich der mit dem Namen Raen auf, der Mann, mit dem sein Schicksal verbunden war. Es musste ihm irgendwie gelingen, mit ihm in Verbindung zu treten, denn nur bei ihm würde er eine Antwort finden.
Kanaima wischte sich die Finger an seiner Hose ab, ergriff den Sattelknauf und zog sich auf den Rotfuchs. Danach lenkte er ihn den Hügel hinab und zurück zum Lager.
*
Hoch oben in den Bergen von Ghor wehte der Wind bereits weit kälter als in den bewaldeten Niederungen Hys, die in aller herbstlichen Pracht zu Füßen der schwarzen Gipfel lagen. Hier oben zwischen den Felsen, die den Himmel berührten, gab es keinen Herbst, hier ging der Sommer direkt in den Winter über. Und deshalb war es Zeit für jeden Reisenden, Hirten oder Jäger, eiligen Schrittes das Gebirge zu verlassen und Obdach zu suchen, bevor Eis und Schnee für die nächsten vier bis fünf Monate die Herrschaft über die Berge übernahmen.
Soghul das Orakel hatte seinen schmächtigen Körper in zwei Lagen dicke, weiße Wollroben eingewickelt. Er saß auf seinem Stuhl im Raum des Sehens und ließ sich von einem der jüngeren Novizen ein heißes Fußbad bereiten. Er seufzte wohlig, als er seine dürren Zehen in das dampfende, mit Kräutern versetzte Wasser tauchte.
„Ah, tut das gut! Ach, Sorin, sei so lieb und bringe uns noch einen Blütentee, ja? Die Kraft der warmen Jahreszeiten werden wir brauchen.“
„Ja, Meister“, sagte der fahlhäutige Junge, verneigte sich andächtig und eilte mit klappernden Absätzen davon.
Soghul lehnte seinen schon seit Jahrzehnten, wenn nicht sogar schon seit Jahrhunderten, kahlen Schädel zurück an die Stuhllehne und ließ ein erneutes Ächzen hören.
Sein erster Novize Sorgha beobachtete ihn besorgt. Das Orakel schien in den vergangenen Monaten rapide gealtert zu sein und sah noch knochiger aus als sonst. Auch war sein Blick nicht mehr von dem kraftvollen Licht erfüllt wie noch im Frühjahr, und oft senkten sich müde seine Lider über den weißen Pupillen, und er schlief einfach ein, manchmal sogar mitten im Gespräch. Sorgha war ernsthaft beunruhigt über den Zustand seines Meisters.
„Mein bester Sorgha, ist alles für die Reise fertig?“, fragte Soghul. Er drehte den Kopf in die Richtung seines engsten Vertrauten.
„Ja, Meister. Es ist alles bereit. Wir können schon morgen früh aufbrechen, wenn Ihr dies wünscht“, entgegnete Sorgha in ruhigem Tonfall. Doch innerlich behagte es ihm gar nicht, dass das Orakel sich anschickte, ausgerechnet jetzt, da der Winter vor der Tür stand, den Berg verlassen zu wollen. Würde Soghul die Anstrengungen einer Reise überhaupt verkraften? Es würde bitterkalt und beschwerlich werden. Und er selbst war auch nicht mehr der Jüngste, spürte jeden Winter tiefer in seine Knochen kriechen.
„Keine Angst, Sorgha, deine Knochen werden dich noch weit tragen, vielleicht weiter als du dir wünschen magst“, entgegnete Soghul mit einem verschmitzten Lächeln auf seinen farblosen Lippen, als hätte er mal wieder mühelos in seinen Gedanken gelesen.
Sorgha warf ihm ein zweiflerisches Stirnrunzeln zu, mehr erlaubte er sich nicht an Widerrede.
„Sieh mich nicht so zaudernd an. Du hast selbst gesehen, welche Botschaft uns Al Nor übermittelt hat. Der Augenblick der Entscheidung ist nah. Deshalb dürfen wir uns jetzt nicht darum kümmern, ob wir die Reise überstehen oder nicht. Du weißt, was unsere Aufgabe ist, und dass die Zeit gekommen ist, in der sich die Prophezeiungen erfüllen werden. In nur wenigen Monden werden wir wissen, ob es dunkel wird über dem östlichen Kontinent, oder ob ein neues, viel helleres Licht erstrahlen wird. Und wir beide werden die Träger dieser Entscheidung in Empfang nehmen und sie geleiten, ganz gleich wie ihre Wahl ausgefallen sein wird - ich auf meinem Weg in die Ewigkeit und du auf deiner Pilgerreise zu den Stätten des neuen Glaubens.“
Sorgha nickte ergeben und senkte den Blick. Es wusste, dass es so sein würde, wie Soghul es sagte. Trotzdem, oder gerade deswegen, schmerzte es ihn, und sein Herz wünschte sich aus tiefer Verzweiflung darüber, seinen verehrten und geliebten Mentor bald zu verlieren, dass es anders kommen möge. Es war albern, und gerade er sollte es besser wissen, aber er hoffte, dass Al Nor sich geirrt hatte, und alles so bleiben würde wie es war.
„Wir werden morgen aufbrechen, und ich will keine Bedenken oder Zaghaftigkeiten mehr spüren. Der Wandel der Welt erfordert unsere Anwesenheit!“, beschied das Orakel streng.
„Ja, Meister.“ Sorgha kroch auf den Knien zum Stuhl, umfasste sanft Soghuls dürre Hand und küsste sie. Eine Träne löste sich von seiner Wange und tropfte auf die pergamentene Haut des Älteren. Sorgha verrieb sie liebevoll auf dem Handrücken. Dann lächelte er in das geheimnisvoll weiß leuchtende Angesicht des Meisters hinauf und versprach ihm, dass er nicht verzagen wolle.
Der junge Novize betrat den Raum, blieb angesichts der ungewöhnlichen Szene stehen und betrachtete verlegen die Utensilien auf seinem Tablett. Soghul aber winkte ihm, und daraufhin brachte der zehnjährige Sorin das Tablett mit dem Tee zu den beiden weisen Männern, die er so bewunderte. Das große Orakel nahm seine Tasse entgegen, lüpfte den Deckel und atmete den Duft ein. Sorgha setzte sich wieder auf seinen Platz zu Füßen seines Meisters und tat es ihm nach. Das mildblumige Aroma des Tees, das die Erinnerung an den Sommer in sich trug, erleichterte plötzlich und auf wundersame Weise seine von Mutlosigkeit beseelten Gedanken. Und mit einem Blick auf den jungen Sorin erkannte er, dass die Novizen von Tulga ihm folgen würden, wenn Soghul nicht mehr da wäre, und dass er sich um sie kümmern wollte, wie das große Orakel es getan hatte.
Raen ließ das Heerlager am Fuße des Doban-Passes abbrechen, zerteilte es in schnell bewegliche Verbände und verlegte sie in die verwirrende Üppigkeit des hyaunischen Waldes. Die bewaldeten Hügel würden zwar bald vollständig ihr Laub verlieren, doch es gab genug undurchdringliches Unterholz und Nadelbäume, die ihnen weiterhin Deckung boten.
Von einer Armee konnte der Wald nur mit Hilfe der Straßen durchquert werden. Straßen, die nicht breiter waren als ein Wagen und ein labyrinthisches Netz bildeten, das die Chorten miteinander verband. Doch an den Abzweigungen würde ein Unwissender keinerlei Hinweise finden, wohin die Arme der Gabelung führten. Nur ein Hy wusste, wie man sich hier zurechtfand und die Wegmarken las.
Raen hatte richtig vorausgesehen, dass die Askharer zunächst erwartungsvoll und hungrig auf Plünderungen geradeaus in die Niederungen zwischen den Hügeln stürmen und dann von den veränderten Bedingungen des Geländes zwangsläufig gestoppt werden würden. Zudem war das Wetter auf ihrer Seite und bescherte ihnen seit Tagen unablässig Regen, der einige der Straßen binnen weniger Augenblicke in Schlammlöcher verwandelt hatte. Es würde die Askharer erheblich an Zeit kosten, ihre schweren Wagen dort hindurchzuschaffen, währenddessen sollten sie auf keinen einzigen Hy treffen. Alles würde wie ausgestorben wirken.
Selbst der erste Chorten, auf den sie stießen, brachte den Askharern keinerlei Genugtuung, denn er bot nichts, wonach es einen Soldaten gelüstete, wenn er sich monatelang in den Bergen und dann im feuchten Wald herumgedrückt hatte. Das bisschen Gold aus dem Tempel war schnell in den Taschen einiger Weniger verschwunden, und die gähnende Leere der Vorrathäuser ließ die Mägen der ruhmreichen Eroberer enttäuscht aufheulen. Aus Frust ließ die askharische Armee ihre ganze Zerstörungswut an der Festung aus und legte sie in Schutt und Asche. Das Feuer brannte mehrere Nächte hindurch und reizte die zur Untätigkeit verdonnerten Verteidiger, die aus einiger Entfernung das Toben der Askharer beobachteten. Aber auch, wenn Raen der Verlust des Chorten schmerzte, bestand er jedoch weiterhin auf die strickte Einhaltung des Versteckspiels.
„Häuser kann man wieder aufbauen und Felder wieder bestellen, Tote hingegen kann man nicht wieder lebendig machen!“, ermahnte er seine Anführer, weil sie allzu ungeduldig mit den Füßen scharrten.
„Aber wie lange wollt Ihr noch warten, Al Setna?“, fragte einer.
„Bis unser Heer vollständig ist, und die Askharer die Nerven verlieren!“
Es war klar, dass der askharische Maestro bald merken würde, was er beabsichtigte, wenn es ihm der Verräter nicht schon vorher berichtete, doch so lange wollte Raen an seiner Zermürbungstaktik festhalten. Und auch Manoen hatte eine vielversprechende Idee vom Scheren-Pass mitgebracht. Die fremden Eindringlinge sollten die geheimen Mächte Hys kennenlernen!
„Wir werden uns ihre Unkenntnis zu Nutzen machen. Manoen hat beobachtet, dass sich Späher und Soldaten am Scheren-Pass nur sehr furchtsam bewegt haben, sie hatten Angst vor jeder kleinsten Bewegung in der ihnen fremden Umgebung. Diese Furcht gilt es nun zu nähren! Sie sollen denken, der Wald hätte Augen und Ohren ... und eine Stimme. Und diese Stimme wird ihnen zuflüstern, dass sie des Todes sind, wenn sie weiterhin in das Reich eindringen, das ihnen nicht gehört!“
„Und wie soll das vonstattengehen?“, wollte Reni interessiert wissen.
„Indem wir ihnen wie Geister erscheinen. Wie auf der engen Passstraße wird es ihnen nicht gelingen, eine andere Formation als die eines langgestreckten Zuges einzunehmen, was ihnen noch immer den Vorteil ihrer Masse nimmt. Wir werden einzelne Abschnitte dieses Zuges in besonders unübersichtlichem Gelände und nur noch im Dunkeln angreifen. Dazu werden wir unsere weißen Untergewänder über unser Rüstzeug ziehen oder andere Verkleidungen anlegen.“
„Verkleidungen?“
„Ja. Wir werfen uns Felle über und schlüpfen in die Körper der Tiere, verwandeln uns in Wölfe, Bären und Wildschweine! Oder denkt euch meinethalben auch irgendwelche Fabelwesen aus, Hauptsache, sie halten uns für unheimliche Geistwesen. Auch die Spuren, die wir hinterlassen, werden keine menschlichen sein. Ich habe bereits eine Wagenladung Dachschindeln hierherschaffen lassen. Aus ihnen werden wir uns neue Sohlen in Form von Tierfährten schnitzen, die wir uns unter die Füße binden. Außerdem werden wir ein paar hübsche Fallen längsseits der Wege für sie bereithalten. Sollen sie doch weiter durch unser Land irren. Den Nori werden sie jedenfalls nicht überqueren! Es ist unser Vorteil: Wir wissen unsere Familien in Sicherheit und können ganz in Ruhe Hrauna für uns arbeiten lassen. Die Askharer werden Verluste einfahren, wir dagegen nicht, denn wir wissen, wie man im Winter im Wald überlebt. Und irgendwann wird die Angst sie beherrschen und ihnen der Nachschub ausgehen. Sie werden hungern und frieren und sich in die Hosen pissen. Nicht einmal ihr König oder ihr Kriegsmaestro werden ein Mittel dagegen aufbringen können! Und dann kommt unsere Stunde!“
„Bravo, das klingt gut! Ein ausgezeichneter Plan!“, rief Reni. Begeistert stimmten auch die anderen Anführer in seine Lobpreisung mit ein.
Raen wechselte ein zufriedenes Lächeln mit Manoen. Er war froh, seinen Freund wieder an seiner Seite zu haben. Der Tod von Taghat hatte auch den Rotschopf sehr getroffen und er hatte sich schwere Vorwürfe gemacht, ihn mit nach Hy genommen zu haben. Aber er verzagte nicht, schien gar entschlossener denn je, das Volk zu beschützen, das ihn einst ausgestoßen hatte.
„Das wird ein großer Spaß!“, flüsterte der Generale ihm zu.
„Ein großer Spaß, der uns Zeit verschafft, und mir im Besonderen. Denn ich muss mich auf eine andere Aufgabe vorbereiten.“
Manoen hob fragend die Brauen.
„Ich kann dir nur so viel sagen: Es hat etwas mit einem vor langer Zeit erteilten Auftrag und dem hier zu tun.“ Raen zückte die Pfeilspitze aus seiner Messerscheide und zeigte sie dem Generale verborgen in einer Hand. „Aber, bitte, behalte das für dich. Ich weiß, dass ich mich nur schwer von meinem Heer entfernen kann, aber das Anliegen des Volkes wird bei dir in guten Händen sein.“
„Du willst uns alleine lassen?“
Raen schüttelte den Kopf, lächelte und steckte die Pfeilspitze wieder zum Messer in die Scheide zurück. „Noch nicht jetzt, aber es wird der Moment kommen, da ich ... einen anderen Weg gehen muss.“ Er sah das Unverständnis im Blick seines Freundes und fügte beschwichtigend hinzu: „Es ist unausweichlich, aber ich verspreche dir, es geschieht zu Wohle unseres Volkes. Alles, was ich will, ist der Frieden, und ich werde dafür tun, was nötig ist!“ Er sah Manoen fest in die Augen und rang ihm im Stillen ein Einverständnis ab.
„Ich will aber nicht, dass du gehst. Nicht ohne mich!“, presste der Hüne unglücklich hervor und warf einen besorgten Seitenblick auf die Krieger in ihrer Nähe.
„Es ist längst keine Frage des Wollens mehr, mein Freund“, flüsterte Raen und legte Manoen eine Hand auf den Arm. „Und wenn man es nüchtern betrachtet, habe ich nie wirklich eine Wahl gehabt, der freie Wille war eine Illusion. Eine schöne, zugegeben. Aber wir alle sind aus einem bestimmten Grund hier, und mein Schicksal fordert nun, dass ich mich füge.“
„Ich ... ich verstehe das nicht. Du glaubst doch nicht an das Schicksal. Die Freiheit ist unser Glaube, das hast du selbst zusammen mit mir in Borgossa laut aufgerufen ... und vor kurzem noch den Anhängern der Tonan gepredigt. Willst du jetzt etwa sagen, dass es eine Lüge war? Dass du den Menschen, die an dich glauben, eine falsche Freiheit versprochen hast?“ Manoen war lauter geworden, sein Kinn bebte. Raen nahm ihm am Arm und führte ihn von den anderen weg.
„Nein, das war keine Lüge. Das einzige, wofür ich lebe und je gekämpft habe, ist die Freiheit! Begreif doch, es ist nicht mein Bestimmen, das mich leitet, sondern das eines höheren Sinnes. Du wirst der einzige sein, der davon weiß, deshalb musst du mir vertrauen.“
„Aber ich werde es ihnen erklären müssen, wenn du nicht mehr bei ihnen bist.“
„Du wirst die richtigen Worte dafür finden, dessen bin ich mir sicher. Manoen du trägst in dir, woran ich immer geglaubt habe. Geh voran, verwandele dieses Volk in ein freies Volk, führe die Tonan in eine neue Zukunft in Frieden und Freundschaft mit den anderen Völkern, und sieh nur zurück, um dich meiner zu erinnern.“
Erschrocken weiteten sich Manoens Augen. „Du wirst nicht zurückkommen?“
Raen hob die Schultern. „Ich weiß es nicht, das liegt nicht in meinem Ermessen.“
Der Rotschopf biss sich auf die Lippen. Dann nickte er langsam und hob schwerfällig den Kopf. „Ich bin dein Freund, Raen, ich tue alles, worum du mich bittest!“ Entschlossen klopfte der Generale sich gegen die breite Brust.
Raen verzog die Lippen zu einem gutmütigen Lächeln. „Tu nicht das, worum ich dich bitte, tue, was dein Herz dir rät!“
„Darauf hast du mein Wort!“ Überwältigt schloss Manoen den Kleineren in die Arme, dabei stieß er an die Wunde an dessen Arm, und Raen stöhnte leise auf.
Sich seines ungestümen Gefühlssturmes bewusst, ließ der Rotschopf den Setna sofort los. „Oh, es tut mir leid. Wie geht es dem Arm?“, erkundigte er sich verlegen.
„Besser, aber es wird wohl noch etwas dauern, bis ich ihn wieder bewegen kann“, spielte Raen die höllischen Schmerzen herunter, die ihm die Verletzung bereitete, denn er wollte Manoen nicht noch mehr beunruhigen, als er es ohnehin schon war. Er klopfte dem Freund auf die Schulter und sagte: „Komm, und jetzt lass uns den Spaß aushecken, den wir mit den Askharern treiben wollen.“
Eine Woche später verwüstete ein schwerer Sturm einen großen Teil des ohne auf Schutz bedacht errichteten Lagers der askharischen Armee. Sie war nach dem Verlassen des ersten Chor wieder tief in den Wald eingedrungen und versuchte im schleppenden Tempo und weit auseinandergezogen weiter nordwärts zu kommen. Aber nicht nur den Askharern hatten die Sturmböen heftig mitgespielt, auch den Büschen und Bäumen waren ihre letzten Blätter aus den Kronen gerissen worden, die nun vollkommen nackt waren. Für die Hy bedeutete das, sich von jetzt an noch vorsichtiger bewegen zu müssen, da der Blick auf Hügelflanken und Triften nun frei war.
In einer bedeckten Nacht im Windmond, dem Oktober, wie er in Borgossa genannt wurde, unternahmen die Verteidiger schließlich ihre ersten Angriffe. Lautlos fielen sie über die lagernden Soldaten her, töteten sie allein mit ihren Messer und Schwertern.
Doch für die Askharer waren es nicht die bekannten, schwarz gekleideten Feinde, die da wie aus dem Nichts auftauchten, ihnen in einem blitzschnellen Tanz Hälse und Bäuche aufschlitzen und dann mit einem seltsam unheimlichen Klappern wieder im Schutze der Nacht verschwanden. Sie sahen blasse Spukgestalten, die Geister der Toten mit blutbesudelten Gesichtern, die zusammen mit klauenbewährten, knurrenden Bestien über sie kamen, um sich zu rächen! Sie hinterließen nichts als niedergemetzelte Soldaten und Spuren von Wölfen und Bären im Schlamm der Straße.
Manchmal hörten die Askharer auch tagsüber das unheimliche Klappern. Es schien von überall her zu kommen und hallte durch den kahlen Wald. Dicht drängten sie sich dann zusammen und äugten angstvoll in das sie umgebende Reich aus knorrigen Bäumen, dornigen Büschen und bemoosten Steinen. Seit Tagen verdeckten Wolken die Sonne und nachts die Sterne. Nebel waberte über den feuchten Boden, hauchte seinen kalten Atem aus der Unterwelt in das zermürbte Gemüt der Soldaten und ließ jeden Baumstamm wie eine Schimäre aus ihren Alpträumen aussehen. Allmählich verloren selbst die Späher ihre unerschütterliche Orientierung. Und bald verschwand einer nach dem anderen der Fährtenleser spurlos. Die askharischen Heerführer merkten nicht, wie ihr Zug langsam nach Osten abdriftete. Und als die Spitze der umherirrenden Armee schließlich auf ihre eigene Wegfährte traf, verlor der König die Beherrschung! Wütend ließ er den Zug stoppen und rief bei flackerndem Fackelschein und eiskaltem Schneeregen seine Führungsriege zusammen.
„Genug ist genug, wir schlagen ein Lager auf! Wir warten, bis klar ist, wo wir sind und vor allem bis das Wetter besser wird!“
„Hier im Wald? Majestät, ich würde vorschlagen, dass eine der Hy-Festungen besser geeignet wäre“, schlug Bhuras vor, selbst darum bemüht, die Fassung zu behalten, denn das gespenstische Theater, das hier gespielt wurde, behagte auch ihm ganz und gar nicht.
„Falls wir es schaffen, eine zu finden! Dieser verdammte Wald! Ich hasse ihn!“ Katthike schmetterte seinen Panzerhandschuh in den Dreck, der ihnen bereits bis unter die Kleidung gekrochen war. Seit sie das Gebirge verlassen hatten, waren sie völlig verschmutzt, und die einheitliche Farbe der Gewandungen und Gesichter der Soldaten war Braun.
„Wo steckt eigentlich dieser Überläufer? Er sollte uns hier herausführen!“, schnauzte Katthike.
„Ich weiß es nicht. Er ist nicht zu unserem letzten verabredeten Treffen gekommen. Vielleicht ist er aufgeflogen“, mutmaßte Setna und zog seinen Hals tiefer in seine Rüstung. Er musste schreien, um den Wind zu übertönen, der über ihnen durch die kahlen Kronen rauschte und noch mehr Schnee mitbrachte.
„Oder die Bestien haben ihn erwischt!“, bedeutete Bhuras ahnungsvoll und erschauerte.
„Jetzt fangt Ihr nicht auch noch mit diesem Blödsinn an, General! Es ist schlimm genug, dass diese abergläubischen Hohlköpfe von Soldaten glauben, wir würden von den Geistern des Waldes verfolgt!“, fauchte Katthike und rieb sich in einer ungeduldigen Geste Schneeflocken und Schlammspritzer vom wutverzerrtem Gesicht.
„Der Überläufer hat uns doch erklärt, dass es seine Landsleute sind, die sich bloß als Bestien verkleidet haben, um uns Angst einzujagen“, wiederholte Setna mit unterdrücktem Ärger über die kindische Furcht des Generals, „und das Geräusch, das unsere feigen Söldner so phantasievoll als ‚Das Zähneklappern des Todes’ bezeichnen, wird von nichts weiter als ein paar Windspielen aus hohlen Hölzern verursacht. Was gibt es daran bitteschön zu fürchten?“
„Richtig!“, schaltete sich Katthike wieder in das Gespräch. „Das ist lächerlicher Mummenschanz, und davor scheißt sich die Königliche Armee von Askhar in die Hose!“
„Und wohin sind unsere Späher verschwunden?“, warf Bhuras aufgebracht ein.
„Weiß der Geier, wo die Trottel sich herumtreiben! Vielleicht jagen sie sich einen saftigen Braten. Ich für meinen Teil will so schnell wie möglich aus dieser verdammten Kälte raus!“, keifte der König. Er wandte sich an Kanaima. „Ihr scheint mir als einziger vernünftig. Bringt mich und Setna hier fort! In eine Festung, einen dieser Höfe oder egal wohin, Hauptsache, es ist warm und windgeschützt! Und treibt diesen verfluchten Hasenfüßen von Soldaten ein für alle mal ihren Geisterglauben aus! Ich will von diesem ganzen Humbug nichts mehr hören, habt Ihr verstanden?“
Kanaima verneigte sich wortlos. Er hatte es schon lange aufgegeben, seine Bedenken zu äußern. Neben den nervenzerfetzenden Attacken der Hy trug auch die hemmungslos zur Schau gestellte Gereiztheit des Königs einen gewaltigen Teil dazu bei, dass die Soldaten der Mut verließ. Es würde schwer werden, sie neu zu motivieren.
„Scheiß Kälte!“, stieß Katthike hervor. „Errichtet das Lager, wie ich es befohlen habe, wir werden erst weiterziehen, wenn die Kundschafter eine Festung ausfindig gemacht haben. Und dort werden wir überwintern.“
Eine Ordonnanz brachte ihm einen Stuhl und spannte eine Zeltplane gegen den Schnee über ihm auf. Mit vor der Brust verschränkten Armen stierte er hernach mürrisch in das Fortschreiten der Dämmerung, sehnte sich nach einem prickelnd warmen Feuer und einem hyaunischen Gesicht, das er zerschlitzen konnte.
Am nächsten Tag, es hatte leicht gefroren und die dünne Schneeschicht war liegengeblieben, fanden die zu neuen Kundschaftern ernannten Soldaten die alten Späher. Wie blutrote Statuen standen sie regungslos mitten im Wald.
Nachdem sie auf gedämpfte Zurufe nicht reagierten, bewegte man sich vorsichtig auf sie zu und erkannte schließlich mit nicht geringem Grauen, was mit ihnen geschehen war.
Die abgehäuteten Körper der Fährtenleser wurden mit in den Rücken gestoßenen Astgabeln aufrecht gehalten und wirkten, als steckten sie in einer rotglänzenden, perfekt angepassten Rüstung. Ihre Köpfe waren an einen rückwärtigen Ast gebunden, damit sie geradeaus blickten. Die Augen glotzten beinahe komisch verwundert aus lidlosen Augenhöhlen und aus ihren lippenlosen Mündern quollen bündelweise schwarze Federn!
Drei der Kundschafter übergaben sich auf der Stelle in den Schnee. Der Rest wandte seinen Blick schnell ab und rannte, mit Gewalt ihren kärglichen Mageninhalt zurückwürgend, zum Lager zurück, wo sie atemlos und erregt durcheinander plappernd Bericht erstatteten.
Katthike bestand darauf, zu den Leichen geführt zu werden. Und als er der schauderhaft grotesken Reihe von Waldwächtern gegenüberstand, verriet nur ein krampfhaft unterdrücktes Zucken seines linken Augenlids, dass er erneut kurz vor einem Wutausbruch stand.
„Was für eine Sauerei!“, zischte er tonlos und knetete seinen Schwertgriff.
Hinter ihm wieherten mit einem Mal aufgeregt die Pferde und rissen an ihren Zügeln, dass die Leibwächter Mühe hatten, sie zu halten. Und noch während Katthike die freigelegten roten Muskelstränge und weißen Sehnen der unglücklichen Späher betrachtete, begann es tief in der Erde zu rumoren. Erst spürten er und seine Begleiter ein leichtes Zittern des Bodens, dann ein anschwellendes Grollen, das plötzlich in mehrere heftige Stöße mündete, die sie allesamt von dem Füßen holten. Verwundert blieb Katthike auf allen vieren und wartete zwei weitere Beben ab. Seine Leibwächter und der General wechselten verstörte Blicke und hielten sich ebenfalls geduckt. Doch das bedrohliche Knarren der Bäume und Zischen der peitschenden Äste verklang schließlich, und als alles wieder fest auf der Erde zu stehen schien, erhoben sich der König und seine Leute.
„Was, zum Teufel war das?“, fragte einer.
„Na, was wohl. Ich vermute mal, ein Erdbeben“, brummte Katthike und klopfte sich den Schnee von den Knien.
Die Panik, die daraufhin im Heerlager ausbrach, war kaum durch Worte der Vernunft zu bremsen. Über den ganzen Zug, der immerhin mehrere Meilen lang war, erstreckte sich das blanke Entsetzen über die Nachricht der grausam zugerichteten Späher und das darauf folgende Beben, das mit Sicherheit eine weitere Warnung der fremden Götter gewesen war. Kopflos sprengten die Soldaten auseinander, stießen sich gegenseitig über den Haufen und liefen in alle Richtungen in den Wald davon wie verschrecktes Rehwild. Dabei vergaßen sie für einen nicht ganz unbedeutenden Moment, dass der Wald, in dem sie verzweifelt Schutz zu finden versuchten, nicht ihr Freund war!
An diesem Tag verloren die Askharer über viertausend Kämpfer, zweihundertfünfzig Pferde, hundertdreißig Maultiere und sieben Wagen!
Es war ein unverhoffter Triumph für die Hy, die das Erdbeben natürlich nicht eingeplant hatten und gleichermaßen überrascht gewesen waren. Aber als sie gesehen hatten, welche Wirkung es auf die feindlichen Soldaten hatte, hatten sie die Gunst der Stunde für sich genutzt.
Die in Panik flüchtenden Askharer waren ihnen direkt in die Arme gelaufen, und sie hatten nichts weiter tun müssen, als ihre Schwerter und Spieße voranzuhalten. Die meisten der Feinde waren nicht einmal überrascht, als sie den Stahl im Bauch fühlten und in die Fratzen der Bestiengestalten blickten. Es schien, als akzeptierten sie, dass auf diese Weise der Tod zu ihnen kam.
Mühelos erledigten die Hy-Krieger ihre Arbeit, fingen die herrenlosen Tiere ein, und als Hornsignale und berittene Offiziere die versprengten askharischen Soldaten aus ihrer Verwirrung rissen und zusammenriefen, zogen sie sich gesammelt in die Tiefen des Waldes zurück.
Des Nachts lag in der Ferne ein rötlicher Schein über den Gipfeln des Junghal-Gebirges, und immer wieder störten tiefes Grollen aus der Erde und erneute Stöße die Nachtruhe in beiden Lagern. Am Morgen türmten sich am östlichen Horizont gigantische schwarze Rauchwolken auf und verschluckten die fahle Morgensonne. Gegen Mittag war der Himmel so verhangen, als sei bereits schon wieder Dämmerung.
Nach über hundert Jahren Schlaf hatte der Vulkan namens Noghan beschlossen, seinen vom flüssigen Magma geblähten Leib zu entlasten und spuckte nun giftigen Rauch und Feuer aus seinem Hauptschlot. Ein breiter Lavastrom ergoss sich seine nördliche Flanke hinab und fraß sich langsam in den Wald, was wiederum unmittelbar einen Waldbrand zur Folge hatte, der sich jedoch nicht weit ausbreiten konnte, da Bäume und Boden zu feucht waren.
Raen sah zu den finsteren Wolken auf und fühlte etwas auf sein Gesicht rieseln. Mit einer Hand strich er es fort und wollte es betrachten, da rief Kaera: „Es regnet Asche! Schwarze Asche!“
Und plötzlich fühlte Raen sich geradewegs in eine seiner Visionen versetzt: Er sah Keï inmitten des Ascheregens stehen, die blutigen Hände ausgestreckt, und Resa, der sich in Bestiengestalt vor ihm aufrichtete. Sein Krallenfinger zeigte auf Raen, und der grässliche Wurm in seinem Mund kreischte; „Unheil!“
Doch eine Bewegung riss Raen vom Anblick seines Bruders los. Keï? Nein, sie war es nicht. Die Prinzessin stand immer noch wie zu Stein erstarrt neben dem blutsprudelnden Brunnen. Etwas Anderes rührte sich hinter Resas Rücken, etwas Gigantisches, das verschwommene Konturen hatte und sich wie haarige Baumstämme bis in den rauchig finsteren Himmel erhob. Raen sah sechs schwarze Augen durch die Wolken herab glimmen. Ihre tödliche Kälte drang in sein Herz.
„Zaizura!“, rief seine Traumstimme. „Lass von ihnen ab!“ Er zückte die Pfeilspitze und stieß sie der monströsen Gestalt entgegen. „Ich werde dich töten!“
Ein dröhnendes Lachen rollte wie Donner über ihn hinweg. Noch nie hatte er Zaizura lachen gehört.
„Du, kleiner Wicht, du kannst mir nichts anhaben! Willst du mich etwa mit diesem winzigen Ding da am großen Zeh kitzeln?“ Wieder hallte laut das Lachen vom Himmel, und ein kalter Schmerz traf Raen ins Herz.
‚Sie hat Recht’, dachte er, während er sich zusammenkrümmte und eine Hand auf die Brust presste, um zu verhindern, dass sein Herz zu Eis erstarrte. Wie sollte er je zu ihr hinauf kommen? Ohne Al Nor konnte er nicht fliegen.
Sein Blick streifte Keï, die ihn plötzlich anblickte. Er konnte ihre Liebe spüren, und schlagartig pulsierte Wärme durch seine Brust.
Über ihm schrie Zaizura schrill auf und stampfte unwillig mit dem Fuß auf die Erde, so dass alles vibrierte. Ein anderes Bein hob sich und wollte auf Keï niedersausen, um sie zu zerquetschen. Doch kurz bevor es auf das Haupt der Prinzessin treffen konnte, umhüllte gleißendes Licht Keïs Körper und verbrannte den schweren, mit metallisch harten Dornen versehenen Fuß der Spinnengöttin. Es zischte und roch verkohlt, und wieder schrie Zaizura wutentbrannt auf.
Raen erkannte plötzlich, welche Kräfte er nutzen konnte und schrie ihr entgegen: „Ja! Ich werde dich töten!“ Er blickte auf Keï, die ihn unter ihrer Lichthaube hinweg anlächelte, und dann konzentrierte er sich. Er musste fliegen, musste sich in die Lüfte erheben können wie Al Nor, nur dann konnte er zu Ihr gelangen und Ihr die Pfeilspitze in eines ihrer fürchterlichen Augen rammen! Er musste fliegen!
Doch es tat sich nichts. Raen sah, dass seine Füße noch immer in der Asche zwischen den Blutströmen standen. Er blickte wieder auf, das Leuchten Keïs war verloschen, ihr Lächeln auch. Und jetzt war es Resa, der seinen Mund zu einem breiten Grinsen verzog und schließlich lauthals lachte.
„Du Narr!“, riefen er und der Wurm gleichzeitig. „Du elender Narr!“
Plötzlich trat Resa vor und stieß seinen Arm gegen Raen. Wieder durchbohrte der kalte Schmerz sein Herz, und erstaunt sah er an dem Arm seines Bruders entlang bis zu sich hin. Eine Klaue hatte sich in eine lange Klinge verwandelt und steckte tief in seiner Brust. Blut troff aus der Wunde und vereinte sich mit den Blutflüssen in der Asche.
„Deine Verbündeten sind zu schwach, sieh es doch endlich ein. Wir werden dich vernichten und nicht du Uns!“ Resa lachte und drehte dabei seinen verlängerten Finger in der Wunde. Raen packte die Klinge mit bloßen Händen und schrie!
„He? He! Ist alles in Ordnung?“, fragte eine Stimme.
Verwundert blinzelte Raen und stellte fest, dass er sich auf dem kalten Waldboden wiederfand, in seiner zusammengeballten Rechten hatte er die Pfeilspitze. Kaera half ihm beim Aufstehen, und nervös fuhr Raen sich anschließend über die heiße Stirn. Seine Beine waren zitterig und er musste sich einen Augenblick auf seinen Berater stützen. Hatte er Fieber? Wenn ja, dann konnte das nur von der Wunde kommen.
„Es geht wieder, nur eine Vision“, entschuldigte er sich.
„Aber eine ziemlich heftige. Du hast wie wild geschrien und mit dem Ding da herumgefuchtelt. Das ist doch die Pfeilspitze, die dich verwundet hat, das erkenne ich an dem Schaft, den ich abgebrochen habe.“
„Ja“, bestätigte Raen widerwillig und steckte die Spitze schnell weg. Er bemerkte, dass noch andere Krieger besorgt zu ihnen herüberblickten. Schnell richtete er sich auf und ließ Kaera los. „Wo ist mein Bruder?“, fragte er ihn.
„Resa? Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung. Manoen könnte es wissen, Resa war Späher unter seinem Kommando. Ich gehe ihn fragen.“
„Ist gut.“ Raen wankte zu Rekori hinüber und legte seine Stirn an dessen Hals. Der Hengst schnaubte freundlich, und der angenehme Geruch seines zottigen Winterfells drang tröstlich in die Nase seines Herrn.
„Raen?“
„Ja?“ Er wandte sich um. Manoen saß im Sattel seines Pferdes und grüßte. Seine Schultern und Kruppe und Mähne seiner Stute waren mit der unaufhörlich rieselnden Asche bedeckt.
„Resa ist auf Spähgang“, gab der Generale an.
„Schicke ihn zu mir, wenn er wieder auftaucht, ich muss mit ihm reden!“
„Mache ich. Geht es dir gut?“
Raen winkte ungehalten ab. Manoen verstand und ließ den Setna allein.
Roman saß auf einem umgekippten Baumstamm, von dem aus er den Wald beobachtete, denn er war einer der Vorposten, die das Lager bewachten. Versonnen hielt er seine Hand flach ausgestreckt und fing die Ascheflocken auf, die inzwischen schon alles unter sich begraben hatten. Überall lag eine dicke Schicht des dunklen Ausstoßes des Feuerberges auf dem Boden, den Ästen und den Zelten. Roman pustete die Flocken von der Hand und fing neue auf.
Das war also der schwarze Schnee!, dachte er bei sich. ‚Umhüllt wird das Licht’, rezitierte er aus dem Gedächtnis die Zeilen der Prophezeiung und blickte in den dunkel verrauchten Himmel empor. ‚Wenn der schwarze Winter den schwarzen Schnee führt, und der dunkle Bruder das düstere Heer über das Land Hy.’ Alles enträtselte sich allmählich, alles bis auf den dunklen Bruder. Um wen handelte es sich dabei? Das wusste Roman noch immer nicht. War es der gegnerische Kriegsherr, der König von Askhar oder ...
Moment, was war das? Roman bemerkte eine vorsichtig schleichende Gestalt etwa siebzig Schritt von ihm entfernt. Das war doch Resa! Er strengte seine Augen an und spähte durch den Ascheregen. Natürlich, er erkannte ihn am Gang. Es war sein jüngster Sohn, ohne Zweifel.
„He, Resa!“, rief er leise und winkte, doch die Gestalt huschte weiter von Deckung zu Deckung, ohne zu ihm herüberzuschauen. Ob Resa ahnte, dass er ihn sehen konnte? Roman rutschte von seinem Stamm. Er wollte sich einen Spaß erlauben und Resa nachschleichen. Der würde vielleicht Augen machen, wenn plötzlich sein Vater hinter im stünde. Roman lächelte in der Vorfreude auf diese kleine Überraschung, doch gerade, als er sich in Bewegung setzen wollte, ertönte hinter ihm das Grunzen eines Wildschweins. Er hielt inne und ließ enttäuscht die Schultern sinken. Die Ablösung näherte sich. Er musste warten, bis sie bei ihm war. Er antwortete mit dem gleichen Laut. Die Ablösung erschien, und nachdem Roman ihn über die bisherige ruhige Lage aufgeklärt hatte, konnte er den Platz endlich verlassen. Er strich auf den Punkt zu, an dem er Resa das letzte Mal hatte auftauchen sehen. Doch so sehr er die Stelle auch absuchte und in den Wald hinaus horchte, er fand keinerlei Spur von seinem Sohn.
„Er ist wirklich gut“, flüsterte er, „fast könnte man meinen, er sei geflogen, wenn ich nicht gesehen hätte, dass seine Füße den Boden berührt haben.“ Roman nickte anerkennend und gab seine Suche auf. An der Ablösung vorbei ging er zum Lager zurück, das gut versteckt und mit Asche bestreut in einer kleinen Niederung lag.
*
„Das wird ja langsam Zeit, dass du mal wieder auftauchst!“ Setna spie gereizt in die Asche, und der Hy-Sklave neben ihm übersetzte seine Worte in neutralem Tonfall.
Der junge Hy sah gelassen von einem zum anderen und entgegnete dann: „Ich konnte nicht eher kommen, ich war nicht allein.“
Setna fuhr aufgebracht mit der Hand durch die Luft. „Wir haben viele Soldaten verloren bei euren Angriffen! Warum hast du uns nicht gewarnt? Hast du unsere Abmachung vergessen?“ - Du hyaunische Mistkröte!, hätte er am liebsten noch hinzugefügt, beherrschte sich aber und rotzte statt dessen ein weiteres Mal auf den Boden. Ständig hatte man Asche auf der Zunge.
Der Hy-Krieger verzog kaum merklich das Gesicht. „Wie ich sagte, ich konnte mich nicht von unserer Abteilung lösen, ohne dabei gesehen zu werden. Der ganze Wald wimmelt nur so von kleinen Grüppchen unserer Krieger.“
„Dankeschön, das wissen wir inzwischen auch!“
„Ich kann euch verraten, wo ihre Lager sind. Dann könnt ihr sie in der Nacht überfallen.“
„Das hätte dir mal eher einfallen können. Jetzt bekomme ich keinen der Soldaten mehr in den Wald und schon gar nicht nachts! Sag uns besser, was euer Anführer vorhat.“
„Das weiß ich nicht“, entgegnete Resa ruhig, „er gibt seine Befehle oft nur noch mündlich aus, und ich bekomme nicht alles mit. Die Verbände sind zu verstreut, sie handeln teilweise selbstständig. Ich befürchte, mein Bruder weiß, dass es einen Verräter gibt.“
„Weiß er auch, dass du es bist?“
„Nein. Das wird er niemals herausfinden!“
„So? Und da bist du dir so sicher?“
„Sehr sicher!“ Der Hy verschränkte trotzig die Arme.
„Und wie willst du uns die Informationen beschaffen, die wir brauchen, um diesen verdammten Feldzug zu gewinnen?“
„Ich werde versuchen, näher an ihn heranzukommen und seinen Generale auszuhorchen.“
„Gut, aber vorher führst du uns zu der nächsten Festung!“
„Wozu? Dort gibt es nichts zu plündern, alle sind fort.“
„Das weiß ich, Klugscheißer! Ich stelle hier die Fragen, klar! Es geht dich nichts an, was wir dort vorhaben.“ Setna wandte sich an den Übersetzer. „Den Klugscheißer lässt du weg, verstanden?“
„Ihr wollt überwintern, nehme ich an“, schlussfolgerte der Hy, nachdem der Sklave zu Ende gesprochen hatte.
„Halt dein Maul, ja!“, fuhr Setna ihm oder besser dem Übersetzer über den Mund und trat einen drohenden Schritt auf den Hy zu. Der jedoch blieb noch immer scheinbar unbeeindruckt und sah ihn furchtlos an.
„Also, was ist? Willst du noch immer, dass wir dir helfen, deinen Bruder zu töten?“
„Natürlich!“
„Dann hilf gefälligst uns! Und zwar jetzt!“, zischte er, und seine mit Asche bedeckten Haarspitzen zitterten dabei heftig.
Der Hy-Krieger zögerte. Der Ton gefiel ihm augenscheinlich nicht, denn er verzog das Gesicht.
„Nun gut“, sagte er dann, „ich werde euch zu der nächsten Festung führen. Aber erst, wenn es für mich ungefährlich ist!“
„Und wann soll das sein? Wenn wir in dieser erbärmlichen Kälte erfroren sind?“
„Ich werde euch benachrichtigen!“ Der Hy stemmte die Hände in die Hüften. „Wollt ihr mich sonst noch etwas wissen lassen?“
„Nein, du kannst gehen.“ Setna wedelte mit der Hand in der Luft.
Der Hy-Krieger sah ihn an und verzog den Mund, als wollte er noch etwas sagen. Doch dann wandte er sich um und kletterte die rechte Wand der kleinen Schlucht hinauf, in der sie sich getroffen hatten. Ein kleiner Bach durchfloss sie in Richtung Osten, wo er nahe am Shari Chor vorbeikam und später in den Resch mündete.
Setna sah dem Hy nach, bis er über den Rand des Einschnitts verschwunden war. Dabei knetete er seine behandschuhte Faust. Er hatte längst beschlossen, den Kerl loszuwerden. Er brachte ihnen keinen Nutzen mehr ... bis auf einen einzigen. Setna hatte sich eine wunderbare letzte Zweckdienlichkeit für den Hy ersonnen und einen Plan, dessen Genialität er selbst bestaunte. Doch vorher wollte er sich von ihm noch zu der Festung führen lassen.
Als Resa am Abend ins Lager zurückkam, fing Manoen ihn ab. Misstrauisch blickte der Junge zu ihm auf, doch Manoen lächelte, und so lächelte Resa scheu zurück. Dabei sah er aus wie ein junges Abbild seines Vaters.
Komisch, dachte Manoen, wie Brüder nur so ungleich sein konnten. Resa war vollkommen anders als Raen, ... aber dennoch ein guter Junge.
„Dein Bruder will dich sprechen. Geh zu ihm, ja?“, sagte er und sah ein Funkeln in Resas Augen treten. Er hielt es jedoch für Freude darüber, dass der Setna ihn zu sich rief. Er klopfte dem Jüngeren auf die aschebestreute Schulter und entließ ihn.
Resa durfte das Zelt des Setna betreten, nachdem der neue Leibwächter ihn angekündigt hatte.
Raen saß auf einem Feldbett und schaute auf. Er sah schlecht aus, ein dünner Schweißfilm bedeckte sein bleiches Gesicht, und er hielt sich betont unauffällig den linken Arm. Resa sah trotzdem, dass er Qualen litt, doch sein Mitleid hielt sich in Grenzen.
„Bitte, Resa, komm und setz dich zu mir“, sagte Raen und deutete mit dem Kinn auf eine Kiste, die ihm gegenüber stand.
Nur widerstrebend folgte Resa der Aufforderung. Er wollte nicht in die Nähe seines Bruders, ertrug dessen ekelerregend erhabene und gütige Aura nicht. Mit vorgetäuscht betroffener Miene wappnete er sich gegen die unsichtbaren, über alles tastenden Fühler, die Raen ständig aussandte, und setzte sich. Doch schnell merkte er, dass das geistige Forschen des Setna seit ihrer letzten Begegnung schwächer geworden war und wirkungslos gegen den Schutzwall stieß, den er errichtet hatte. Er brauchte also kaum Angst zu haben, dass Raen seine Gefühle würde lesen können, und so entspannte Resa sich und weidete sich zufrieden an der offen zu Tage tretenden Schwäche seines Bruders.
‚Vielleicht stirbt er ja von ganz allein, ohne, dass ich etwas tun muss’, dachte er und faltete bedächtig die Hände auf den Knien. Er sah, wie Raen schluckte und dann zum Sprechen ansetzte. Die Wunde musste wirklich ihn schrecklich schmerzen. Er verkniff sich ein Lächeln und lauschte.
„Resa, sag, wie ist es dir in den vergangenen Monaten ergangen? Manoen hat mir schon von deinen hervorragenden Leistungen als Späher berichtet. Aber ich möchte es aus deinem Munde hören.“
„Ich verstehe nicht, was du meinst.“ Er machte ein unschuldiges Gesicht.
„Du bist noch sehr jung, gerade mal siebzehn, und schon musst du in einem der schlimmsten Kriege kämpfen, den dieses Land jemals gesehen hat. Wie fühlst du dich dabei?“
Resa wich dem Blick seines Bruders aus. Er konnte ihm wohl kaum gestehen, dass er sich niemals zuvor großartiger gefühlt hatte, deshalb zuckte er mit den Schultern und sagte: „Ich verteidige mein Volk, das ist meine Aufgabe als Banskeid! Nichts anderes zählt!“
„Nichts anderes?“, sprach Raen seine letzten Worte in einem seltsamen Tonfall nach, aus dem Resa nicht heraushören konnte, ob es eine misstrauische Frage oder nur eine schlichte Wiederholung war.
Resa entschied sich, dass es besser war, zu schweigen und abzuwarten.
Raens Augen verengten sich und studierten das Gesicht seines Bruders. Dann streckte er ihm seine Faust entgegen und fragte: „Kennst du das hier?“ Er öffnete langsam die Finger und präsentierte ihm eine goldglänzende Pfeilspitze an einem abgebrochenen Schaft. Resa schürzte überrascht die Lippen, doch schnell hatte er seine Regungen wieder im Griff und antwortete unbekümmert: „Nein.“ Das war natürlich eine Lüge, denn er wußsste ganz genau, was es war. Sie hatte ihm davon erzählt.
„Wirklich nicht?“ Raen durchbohrte Resa förmlich mit seinem Blick. „Nimm sie!“, befahl er.
Resa öffnete bereitwillig die Hand, und Raen legte die Spitze hinein. Er zog die Hand zu sich und betrachtete das Stück eingehend. Dabei schrie die Stimme Zaizuras in seinem Kopf: „Da ist sie! Das ist der Schlüssel zu seiner Macht! Bring sie mir! Bring mir die Pfeilspitze!“
‚Das kann ich nicht. Ich kann sie nicht einfach so mitnehmen. Nicht, so lange er sie bei sich trägt.’
„Du MUSST sie mir aber bringen!“
Resa seufzte. So nah und doch so fern! Er schüttelte den Kopf und gab die Pfeilspitze an Raen zurück. „Ich kenne sie nicht.“
Diesmal hob Raen die Schultern und verstaute die Spitze in der Scheide seines Messers, was Resa genau beobachtete. Danach schauten sie einander an, unschlüssig, was sie sagen sollten. Plötzlich fuhr Raens Hand an seinen linken Oberarm, und es zuckte merklich in seinem Gesicht.
„Solltest du nicht lieber etwas Zhangha oder Veda nehmen?“, fragte Resa gespielt rührig, doch Raen schüttelte den Kopf.
„Das kann ich mir nicht erlauben, ich brauche einen klaren Geist.“ Er lächelte geplagt. „Du kannst jetzt gehen, du hast bestimmt Hunger.“
„Ja“, schwindelte Resa, erhob sich, grüßte und ging ohne ein weiteres Wort aus dem Zelt.
Als Raen daraufhin allein war, krallten sich seine Finger in den Ellenbogen des verwundeten Armes. Der Gegenschmerz verschaffte ihm kurze Erleichterung und zitternd stieß er Luft aus. Vielleicht würde er doch etwas Veda nehmen müssen, um bei den Qualen überhaupt bei Verstand zu bleiben. Er schlang beide Arme um den Leib und lehnte sich vor. In dieser Haltung dachte er über das nach, was dieses neuerliche Gespräch mit Resa ergeben hatte. Warum hatte er nicht gefragt, was es mit der Pfeilspitze auf sich hatte? Jeder andere hätte es getan, wenn man sie ihm derart demonstrativ unter die Nase gehalten hätte, Resa jedoch nicht. Das machte ihn zwar noch lange nicht verdächtig, aber es musste schließlich einen Grund dafür geben, warum er ihn so oft in seinen Visionen sah. Raen hatte sich bisher vor der Bespitzelung seines eigenen Bruders gescheut, doch jetzt beschloss er, ihn von einem der anderen Späher im Auge behalten zu lassen.
In den nächsten Tagen - Ascheregen und Schneefall wechselten einander munter ab und bedeckten die Landschaft mal mit einer grauschwarzen, mal mit einer weißen Schicht - traf auch die letzte noch fehlende Heeresabteilung der Hy vom östlichsten Pass bei Raen und seiner Armee ein, und es gab ein Wiedersehen mit Arhad. Ähnlich wie die Askharer, so berichtete Arhad, hatten auch sie Probleme gehabt, über die aufgeweichten Wege voranzukommen, aber natürlich hatten sie sich wenigstens in ihren Gefilden ausgekannt. Doch nun war das hyaunische Heer endlich wieder vereint und würde mit ganzer Kraft zuschlagen können. Ganz im Gegensatz zu den Askharern planten Raen und Manoen nämlich keine Überwinterung. Sie wollten dem Feind keine Gelegenheit geben, sich auszuruhen, bevor auch er sich mit seinen Restverbänden von den Pässen vereinen konnte. Bis jetzt hatten die Askharer noch arge Schwierigkeiten, sich nach der Gebirgsquerung zu formieren, und irrten genauso planlos in den Wäldern umher wie ihre Hauptarmee, bei der sich momentan der König und dessen höchster Führungsstab befanden. Deshalb wollte Raen die Situation so rasch wie möglich nutzen und diesen Führungsstab kaltstellen. Der feindliche König, sein Prinz, die Generäle und schließlich auch der Maestro mussten verschwinden, ganz egal, ob letzterer ihm einmal das Leben gerettet hatte! Das war zwar nicht die vornehme Art und das Wort Assassino in Askhar ein böser Schimpf, aber Raen scherte sich einen Dreck darum. Ohne ihre Häupter war die askharische Schlange blind! So einfach war das - in der Theorie zumindest. In der tatsächlichen praktischen Ausführung aber würde es sich etwas schwieriger gestalten, dem König von Askhar ans Leder zu gehen, denn er wurde immer sehr gut von einer eigenen Armee von Leibwächtern behütet, die sich wie ein schützender Ring aus Schilden und Rüstungen um ihn legte, wenn es brenzlig wurde. Vielleicht, so dachte Raen, würden sie wieder auf Pfeile zurückgreifen müssen, was im Wald wegen der vielen Äste, die einen Schuss ablenken konnten, eine Kunst war. Aber sie würden es versuchen. Er sah auf die goldene Pfeilspitze in seiner Messerscheide, schüttelte dann aber den Kopf. Nein, sie war nicht für ein menschliches Wesen bestimmt. Die Askharer würden bescheidenen Stahl zu spüren bekommen, schlichten, scharfen, hyaunischen Stahl!
Längst hatte Raen ausspähen lassen, wo sich die besagten Personen im Heereskörper der Askharer aufhielten. Die Soldaten hatten auf mehreren Meilen der Straße Lager bezogen und warteten auf den Befehl zum Weiterziehen. Ihre Stimmung war immer noch äußerst ängstlich und sie hockten selbst tagsüber so eng aufeinander wie eine Herde Schafe, die den Wolf wittert. Und wie eine Herde blökender Hammel liefen sie schließlich auch auseinander, als die Bestien nach Einbruch der Dunkelheit mit schaurig heulendem Kriegsruf aus dem Wald brachen und mit ihren Klingenkrallen tief in das Lager vordrangen. Ihr Ziel war das große Zelt, in dem zumindest der Maestro zu schlafen pflegte. Die Leibwache davor war schnell beseitigt, die im Innern wehrte sich tapfer und tötete einige der hyaunischen Angreifer, so dass der Maestro, der in leichtem Rüstzeug auf seinem Lager gelegen hatte, beim ersten Kampflärm aufgesprungen war und durch eine Zeltwand entwich, die er mit seinem Dolch aufschlitzte. Mit gezücktem Schwert tauchte er hernach im Chaos der kämpfenden Bestien und fliehenden Soldaten unter.
Doch einer hatte ihn dabei genau beobachtet. Arhad, der seine Späherqualitäten bereits bewiesen hatte, verfolgte ihn zunächst unauffällig mit vier anderen Hy-Kriegern. Er sah, wie der Maestro durch das Heer nach vorne floh, weil er sich dort einen festeren Zusammenhalt erhoffte, in dem er Schutz suchen konnte. Doch da hatte er sich geirrt. Überall hatte die Panik um sich gegriffen, und niemand kümmerte sich mehr um den anderen. Als der Maestro das erkannte, hielt er in seinem Lauf inne und blickte sich um. Zu spät gewahrte er, dass er von vier Bestien eingekreist war. Sie bildeten ein unüberwindliches Hindernis, doch der Askharer bedrohte sie trotzdem mit seinem Schwert. Eine der Bestien ließ ihre Krallen immer wieder vor ihm herab sausen, und alle vier knurrten gefährlich. Ihre fellumrahmten Gesichter waren schwarz und verzerrt, und ihre Zähne blitzten hell auf. Der Maestro bemerkte nicht, wie er immer weiter in den Wald und vom Geschehen weggedrängt wurde, so sehr war er damit beschäftigt, die sirrenden Schläge abzuwehren. Und als ihm schließlich aufzugehen schien, dass ihre Angriffe nur zum Schein waren, wollte er sich herumwerfen und zur Seite ausbrechen. Doch ein harter Schlag traf ihn am ungeschützten Hinterkopf, und er sank bewusstlos in die aufgewühlte Mischung aus Schnee und Asche.
Arhad steckte zufrieden sein Schwert in die Scheide und befahl seinen drei Bestien, den Maestro in das Lager des Setna zu bringen.
Der Noghan hatte aufgehört, zu rumoren und seinen gewaltigen Ascheausstoß verringert, und so hatte der Schnee sich über Nacht durchsetzen können und die graudüster verrußte Landschaft, die wie aus einer Höllenvision zu entstammen schien, mit einem feinen, weißen Laken überzogen, aus dem nur die dunklen Stämme der Bäume herausragten. Kanaima blinzelte in den grellen Widerschein des Lichts auf dem Schnee, als er aus dem Zelt gezerrt wurde, in dem er offenbar verwahrt worden war. Sein Schädel schmerzte und sein Nacken war steif. Und die Gewissheit, dass er jetzt Gefangener des Feindes war, machte seine Laune nicht besser.
Mürrisch ließ er sich zu einer Gruppe von Männern schleifen. Einer von ihnen trug einen roten Umhang, und Kanaima erkannte ihn sofort.
Der junge hyaunische Kriegsherr schritt nachdenklich vor seinen Leuten auf und ab. Sein Umhang strich dabei über den Schnee, verwischte seine Spuren aber nicht. Er wirkte sehr ernst und verschlossen, und war sichtlich angeschlagen, denn in seinen Augen glänzte es fiebrig. Offensichtlich litt der Setna an einer Krankheit, dennoch hielt er sich aufrecht und strahlte ungebrochene Entschlossenheit aus. Er blieb stehen, flüsterte seinem Generale, dem Hünen, etwas zu und wandte sich dann endlich an seinen Gefangenen. Eine Weile taxierte er Kanaima, und dieser hätte zu gern gewusst, was der Hy jetzt gerade dachte. Freute er sich über seinen Fang, oder war ihm die Schuld unbequem, die er ihm gegenüber verspürte?
Dann begann er endlich zu sprechen, freundlicherweise in Askhari: „Maestro Kanaima, ich brauche wohl nicht zu erklären, wer ich bin?“ Er wartete kurz ab, bis Kanaima mit dem Kopf geschüttelt hatte, und fuhr dann fort: „Dass wir uns unter diesen Umständen wiedertreffen, betrübt mich. Hatte ich doch damals angenommen, Ihr hegtet weit edlere Absichten, als einen Feldzug gegen mein Volk anzuzetteln!“ Ein harter Ausdruck gesellte sich in den Blick des Setna, und mit einem Mal war sich Kanaima nicht mehr so sicher, ob der Hy seine Schuld einzulösen gedachte. Er versuchte, sich sein wachsendes Unbehagen nicht anmerken zu lassen, und antwortete: „Ich wollte nie wirklich einen Krieg gegen Euch! Aber der König fordert meinen Gehorsam. Ich bin nur sein Werkzeug.“
„Das ist eine Lüge! Ihr selbst wart in Ohaoud und habt König Alman mit dem Ring erpresst, an Eurem Krieg teilzunehmen, in welcher Form auch immer!“
„Das ist wahr. Aber ich bin nicht freiwillig dort gewesen und es ist auch nicht mein Krieg. König Katthike hat mich mit dieser Absicht nach Ohaoud gesandt.“ Kanaima sah, dass der Hy seinen Zorn nur schwer unter Kontrolle hielt, und er ahnte auch, dass es ein sehr persönliches Anliegen war, mit dem dieser sich trug. Er wurde nachdenklich. Vielleicht sollte er besser ehrlich sein. Die Flucht nach vorne war manchmal die wirksamste Taktik. Er blickte Raen in die Augen. „Es tut mir leid, wenn ich Euch mit dieser Sache in Verlegenheit gebracht habe. Nun ja, ich wusste natürlich von Euch und der Prinzessin, aber ich habe es lediglich gemäß meiner Natur als Maestro der Kriegsstrategien gewinnbringend eingesetzt. Als Absolvent der Akademie in Borgossa dürftet Ihr diesen Schritt nachvollziehen können. Selbstverständlich erwarte ich nicht, dass Ihr mir verzeiht.“
Raen zeigte ein bissiges Lächeln. „Oh, Ihr habt mich nicht nur in Verlegenheit gebracht, Maestro Kanaima, Ihr habt mir auch etwas genommen, das ich sehr liebte!“
„Das verstehe ich durchaus.“ Kanaima legte den Kopf schief. „Aber wie gesagt, ich erwarte nicht, dass Ihr mir meine Intervention nachseht, sie geschah aus rein strategischen Gesichtspunkten. Ich will jedoch, dass Ihr wisst, dass dieser Krieg nicht mein Ansinnen war.“
Raen trat so schnell an Kanaima heran, dass dieser zusammenzuckte. Die Augen des Hy funkelten und schienen ihn zu durchdringen wie ein gläsernes Schwert.
„Ich weiß, was Euer Ansinnen ist! Ihr könnt es nicht vor mir verschleiern. Sagt mir, Prinz Kanaima, was werdet Ihr tun, wenn Ihr König von Askhar seid?“, fragte Raen mit tiefer, beschwörender Stimme.
Kanaima konnte seine Überraschung nicht verbergen und öffnete seinen Mund. Derweil brachte der Hy sein Gesicht so nah an das seine heran, dass er sein eigenes Spiegelbild in den bestürzend grünen Augen sehen konnte.
„Prinz Kanaima, was liebt Ihr?“, raunte der Setna.
Bei dieser Frage zog ein unerwarteter Schauer über Kanaimas Rücken. Sie erinnerte ihn unweigerlich an den obersten, heiligen Leitsatz des Patrons: „Ein Herrscher muss sein Volk lieben, sonst kann er nicht in dessen Sinne regieren!“ Hatte er sich so weit davon entfernt? War er unmerklich von seinem Kurs abgewichen? Er spürte, wie der Blick des Hy ihn festhielt und durch seine Gefühle forschte, sie wie ein Schiff durchkreuzte, sie wendete, von innen nach außen kehrte und dann schließlich beiseite schob, um an ihnen vorbei in sein Herz zu dringen. Wehrlos ließ Kanaima es geschehen und was er nun in Augen des anderen sehen konnte, war nicht mehr länger nur sein eigenes Abbild. In atemberaubender Abfolge zeigte sich dort alles, was er war und was ihn dazu hatte werden lassen: Sein Durst nach väterlicher Zuneigung, sein Mordversuch an Setna, seine Verbannung nach Kalav, seine Tante Sama-Karla, die Zeit in Borgossa, der Patron, seine Rückkehr nach Askhar und seine geheimsten Absichten gegen den König, seine Schwester Laika, Isabylla, Karlis-Renandi ...
Kanaima schluckte und versuchte, das heftige Beben seiner Finger zu unterbinden, in dem er sie in die verstärkten Säume seines Lederwamses krallte.
Eine geraume Weile starrten die beiden Männer sich an, und nur Raens Umhang wurde von einer leichten Böe gebauscht. Die umstehenden Hy-Krieger betrachteten die Szene gebannt und erschauerten insgeheim. Der Setna benutzte seine Gabe gegen den Askharer, und dieser zitterte hilflos am ganzen Leib. Was musste das für eine Macht sein!
Aber plötzlich durchfuhr es den Setna, und er trat verwirrt einen Schritt zurück. Eine Hand hob er vor die Augen, und die andere ballte sich zu einer Faust.
Kanaima runzelte die Stirn, weil die geheimnisvolle Verbindung zwischen ihnen jäh unterbrochen wurde, und er fühlte eine schnell anwachsende Leere in sich. Hätte er seine Hände in diesem Moment nicht beherrscht, so hätte er sie vorgestreckt und versucht, nach dem verlorenen Kontakt zu greifen. Doch noch bevor er sich dessen richtig bewusst werden und dem unerklärlichen Sehnen in seinem Innern einen Namen geben konnte, war der Hy wieder bei ihm ... und die Leere wich. Aber statt des guten Gefühls breitete sich nun eiskalter Schmerz in ihm aus, und er begriff schlagartig, dass auch er wahrnehmen konnte, was sein Gegenüber empfand.
„Du weißt, wer der Verräter auf unserer Seite ist!“, flüsterte Raen sichtbar um Fassung bemüht, obwohl sonst niemand das Gespräch verfolgen konnte, da sie ja immer noch Askhari sprachen.
Kanaima nickte langsam.
Raen schloss mit zusammengepressten Lippen die Augen und senkte den Kopf, als träfe ihn ein weiterer unsäglicher Schmerz. Kanaima fühlte deutlich, was in ihm vorging. Von seinem eigenen Bruder hintergangen zu werden, war etwas, das auch dem unerschütterlichsten Mann den Glauben an das Gute nehmen konnte. Einen Verräter in einem Menschen zu finden, den man von klein auf kannte und dem man sein Vertrauen geschenkt hatte, war schlimmer als der Tod!
Kanaima stand aufrecht und beobachtete wie alle anderen die Regungen des Setna. Doch nur er allein wusste, dass es keine Vision war, die ihn heimsuchte, sondern die herbe Bitternis der Wahrheit.
Irgendwann, Kanaima wusste nicht, wie lange sie so dagestanden hatten, gewann die alles durchdringende, wundersame Entschlossenheit des Setna Oberhand und richtete ihn wieder auf. Und Kanaima durchfloss warm die Erkenntnis, dass der Mann, der da vor ihm stand, sein Herz nicht nur an eine fremdländische Prinzessin verloren hatte, sondern auch sein Volk über alles liebte, und zwar so sehr, dass er dafür seinen Bruder und sogar sich selbst aufgeben würde! Genau so, wie Onkel Karlis-Renandi und die elf anderen treuen Anhänger Königsblutes es getan hatten und für das askharische Volk gestorben waren! Und natürlich auch für ihn, Kanaima, der in ihren Augen der Hoffnungsträger für ein neues, besseres Askhar war. Und jetzt war die Reihe an ihm, etwas ähnlich Großes zu vollbringen. Etwas Gutes, das ihm dem Respekt aller Menschen einbringen würde. Eine Tat, die sämtliche vorherigen Untaten der askharischen Könige begleichen könnte.
„Um den Verräter werde ich mich kümmern, das ist lediglich eine Sache zwischen mir und ihm“, hauchte Raen in eisigem Ton. „Und nun zurück zu meiner Frage. Wäret Ihr so freundlich, sie mir zu beantworten?“ Sein Blick glitt erneut in den des Askharers und ließ ihn nicht entkommen.
„Ihr fragtet mich, was ich liebe?“, entgegnete Kanaima offen. „Nun, ich will es Euch sagen: Als erstes liebe ich mein Volk.“ Er zögerte kurz. „Und als zweites eine Frau, die ich nicht haben kann ganz ähnlich wie Ihr.“
„Aber Ihr werdet sie bekommen, wenn Euch gelingt, wonach Ihr trachtet“, konstatierte Raen sachlich.
„Ich hoffe dies zumindest.“ Kanaima gestattete sich ein aufrichtiges Lächeln. Sein Gegenüber schien darüber nachzusinnen, ob das wohl gerecht sei. Leider wurde die Verbindung zu ihm schwächer, und Kanaima konnte nicht mehr fühlen, was er wirklich dachte.
„Der Feldzug gegen Euer Volk war nur ein Mittel, mit dem ich den König ablenken ... und ihn letzten Endes auch loswerden wollte“, sprach Kanaima schließlich weiter.
„Dann tötet Euren Vater endlich und beendet den Feldzug und die tausend Jahre Krieg!“, forderte Raen unumwunden.
Kanaima hob die Hände. „Das will ich ja, und ich suche ständig nach einer guten Gelegenheit, aber es bietet sich keine. Außerdem ist da noch Prinz Setna.“
„Der Welpe sollte doch wohl kein Problem darstellen!“
„Aber auch Ihr konntet ihn nicht zu fassen bekommen, nicht wahr?“, gab Kanaima leicht belustigt zurück.
Raen verzog missfällig den Mund. „Da habt Ihr leider Recht. Wir haben es bereits mehrfach versucht, aber die graue Leibgarde macht ihre Arbeit gut. Ich habe einige ausgezeichnete Kämpfer an sie verloren. Und solch ein Glücksschuss wie damals bei Eurem General will meinen Kriegern nicht gelingen.“ Raen hob die Schultern und ließ sie mit einer komischen Geste wieder fallen. „Wir taugen eben nicht viel zu guten Assassinos.“ Der Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht.
Kanaima lächelte gleichfalls. Der selbstironische Unterton des Hy weckte vollends seine alte Sympathie für ihn, und er gab sich einen Ruck. „Was haltet Ihr davon, einen Pakt zu schließen? Damals waren wir nicht in der Lage dazu, weil wir einander zu blind und zu verbohrt gegenüber standen, weil ein jeder von uns zu verstrickt in den alten Hass war, der uns von Kindesbeinen an eingeflößt wurde. Jetzt aber sind wir weiser und erfahrener und bekommen die Möglichkeit, darüber nachzudenken. Warum sollten wir nicht dort weitermachen, wo wir aufgehört haben, als ich Euch an der Grenze entließ? Was spricht gegen einen Vertrag der Freundschaft zwischen unseren Völkern, der uns Schulter an Schulter in eine neue Zeit gehen lässt?“
Raen blickte ihn lange an, offenbar erfüllt von einer Flut von Gedanken. Hegte er etwa immer noch einen Groll gegen ihn, weil er nach Ohaoud gekommen war und ihn an den König verraten hatte? Kanaima könnte es verstehen, denn auch er wusste nicht, wie er reagieren würde, wenn man ihm auf diese Art Isabylla nehmen würde. Bang wartete er ab. Dann sah er Raen schlucken und ein Flackern durch dessen Blick gehen. Wie hatte er sich entscheiden?
„Ich will nicht annehmen, dass Ihr mir dieses Angebot jetzt nur macht, um freizukommen, Maestro Kanaima?“, fragte der Setna argwöhnisch, offenbar wollte er nicht wieder enttäuscht werden.
„Nein, ich spreche ehrlich, und das könnt Ihr sehr deutlich fühlen, wenn ich mich nicht irre! Aber wenn Ihr mir trotz allem nicht glauben wollt, dann kann ich auch bei Euch bleiben, bis alles vorbei ist. Oder Ihr könnt den König mit mir erpressen. Wie Ihr wollt.“
Raen nickte, schien endlich seine letzten Zweifel über Bord zu werfen und streckte dem Gefangenen kurzentschlossen seine Hand entgegen. Der askharische Prinz ergriff sie ohne Umschweife und drückte sie.
Und beide spürten, dass es richtig war.
Ein verwundertes Raunen ging durch die Reihen der Hy-Krieger, die Zeuge des ungewöhnlichen Handschlages waren - dem ersten freundschaftlichen Austausch zwischen Hy und Askhar nach vielen hundert Jahren! Natürlich drängte es sie, zu erfahren, was ihr Setna soeben mit dem Gefangenen ausgehandelt hatte, und als die Hände sich trennten, und Raen und Kanaima ein Lächeln ausgetauscht hatten, war es der großgewachsene Generale, der es als erster wagte, eine Frage zu stellen.
Raen winkte ihn heran, und auch die anderen Umstehenden. „Prinz Kanaima, dies ist mein Führungsstab, wir wollen unser Bündnis vor ihnen bekräftigen. Ich bedaure, dass Ihr keine Bürgen bei Euch habt, aber ich gehe davon aus, dass wir das Prozedere zu gegebener Zeit wiederholen werden, nicht wahr?“
Kanaima nickte und grüßte die ihm vorgestellten Personen nacheinander. Auf Roman haftete sein Blick etwas länger, da Raen ihn als seinen Vater genannt hatte. Dann schüttelte auch er die Hände der anderen, nachdem Raen ihnen alles übersetzt hatte. Und sofort spürte Kanaima, wie sich die Stimmung unter ihnen veränderte. Die Gesichter der Hy-Krieger öffneten sich, als hätte jemand die Läden von den Fenstern genommen, und Hoffnung strahlte aus ihnen heraus.
„Ihr könnt wählen, mein Freund. Wollt Ihr zu den Euren zurückkehren, oder mit uns beraten, wie wir Euren König von unserem Pakt überzeugen können?“ Die Ironie, mit der Raen sprach, ließ Kanaima auflachen.
„Da wir von nun an dasselbe Ziel verfolgen, nehme ich Euer Angebot an und bleibe Euer Gast“, entgegnete er. Und so wie ein Gast wurde er schließlich auch behandelt. Raen führte ihn in sein Zelt und bot ihm zuerst Essen und heißen Tee an, bevor sie sich in einen weiteren Austausch vertieften, nach dem es ihnen beiden unerwartet heftig gelüstete.
In den nächsten Tagen schneite es ohne Unterbrechung. Sanft legte sich der Schnee über die letzten Reste der hervortretenden Asche und erfüllte den Wald mit seiner ihm eigenen Stille, die all diejenigen in friedliche Stimmung versetzte, die sich beim Betrachten tief verschneiter Landstriche verloren.
Nicht so jedoch König Katthike, der sichtlich nervös kaum noch sein Zelt verließ, seit sein Maestro genau dort in jenem weißen Nichts verschwunden war. Natürlich hatten die Hy ihn erwischt, das stand außer Frage, doch da Katthike auch den Schnee verabscheute, war es ganz gleich, gegen welche Unbilden sich sein aufwallender Unmut richtete. Für ihn war klar, dass sich mit einem Mal alles gegen ihn verschworen hatte: Die Götter, das Wetter, die Feinde, seine unwilligen Soldaten und sogar sein Stiefsohn, der sich in ein anderes Zelt verzogen hatte. Und immer stärker verspürte er den Wunsch, hier einfach alles stehen zu lassen und in die warme Heimat zurückzukehren. Wieso auch nicht? Er war der König und nicht dazu gezwungen, in dieser unwirtlichen Gegend überwintern zu müssen. Sollten die anderen doch so lange hier die Stellung halten, und er würde zurückkommen, sobald der Frühling nahte. Doch bevor er nach Askhar aufbrechen wollte, musste er noch herausfinden, was nun mit Kanaima war, und ob man mit den Hy um ihn verhandeln konnte. Ein Bote sollte eine Nachricht zu den feindlichen Stellungen bringen und erst zurückkommen, wenn er in Erfahrung gebracht hatte, ob der Maestro noch am Leben war. Nicht, dass er sich so sehr um das Wohlergehen Kanaimas sorgte, aber er war nun einmal der beste Kriegsstratege Askhars und aus diesem Grunde unersetzlich. Mit einem alles umfassenden Fluch trat Katthike gegen einen Stuhl und warf ihn um. Seit vier Tagen lief er nun schon in seinem Zelt ungeduldige Kreise wie ein Löwe im Käfig und wartete auf die Rückkehr des Boten.
Indessen strich Setna eingemummt in einen dicken Wollumhang durch das ruhige Lager. Er wich der üblen Laune seines Stiefvaters aus, indem er sich bei ihm so wenig wie möglich blicken ließ. Und er trug sich auch mit ganz anderen Gedanken als dieser, denn für ihn bot das Verschwinden des Maestros die einmalige Gelegenheit, endlich seinen Plan in die Tat umzusetzen. Und deshalb hoffte er, Kanaima würde noch länger bleiben, wo er war - und wenn es sich dabei um die Hölle handelte, so war ihm das nur recht! Unauffällig betrachtete er die Soldaten, die sich jetzt auch schon bei Tage an Feuern wärmten. Dafür hatten sie bereits unzählige abgestorbene Bäume in der Umgebung gefällt und mit den Zugochsen hierher geschleift.
Bald, dachte Setna, würden sie einen starken und entschlossenen König bekommen, einen Herrscher, der ihnen unerschrocken vorausritt und sie nicht einfach hängen ließ wie der verdrossene und verweichlichte Katthike. Bald würden sie ihm folgen! Bald!
Er seufzte versonnen. Doch vorher musste er den Überläufer ködern, der für sein Vorhaben unerlässlich war. Er hatte ihm durch die Späher bereits Zeichen auslegen lassen, dass er sich unverzüglich mit ihm treffen wolle. Noch aber ließ dieser vermaledeite Hundsfott von Hy sich nicht blicken! Setna musste sich Mühe geben, seine Verärgerung über den Knaben nicht zu sehr zu steigern. So lange Kanaima nicht auftauchte, war noch alles möglich.
Trotzdem packte schließlich auch ihn die Ungeduld mit ihrer unnachgiebigen Hand, und selbst nachts begann Setna bei jedem kleinsten Geräusch aus dem Schlaf zu fahren, weil er dachte, es könnte ein Bote mit der Nachricht des Überläufers sein - oder eben auch Kanaima.
An einem wolkenverhangenen Morgen, der mit neuerlichem Schneefall drohte, stand schließlich der heißersehnte Bote im Zelt. Er war sichtlich übermüdet und durchgefroren, als er dem Prinzen mitteilte, dass der Überläufer draußen im Wald auf ihn wartete. Augenblicklich sprang Setna von seinem Lager, warf sich Lederwams und Brustpanzer über und stieg in seine Stiefel. Das Schwert an seine Seite gegürtet, und den erstbesten Hy-Sklaven aus dem Schlaf zerrend, eilte er dem Späher hinterher und ging im Kopf jeden einzelnen Schritt seines Planes noch einmal durch.
Rasch stapften sie durch den bis zur Wade reichenden Schnee und je tiefer sie in den winterlichen Wald eindrangen, desto größer wurde die Aufregung, die sich Setnas bemächtigte, doch er drängte sie zurück und gemahnte sich an seine beste Tugend, nämlich die der Abgebrühtheit.
„Wo ist er?“, hörte er sich dennoch ungeduldig fragen.
„Über die Kuppe dort und auf der anderen Seite dann wieder hinab“, antwortete der Späher und deutete auf eine kleine Erhebung vor ihnen. Setna nahm das Gelände genau in Augenschein und frohlockte innerlich. Besser konnten die Bedingungen gar nicht sein! Dicke Schneepolster auf kleinen Bäumen und Büschen behinderten die Sicht und bildeten ein Labyrinth aus gebauschten, bauchigen Formen. Und hier und da verliefen bereits einige Spuren zwischen den Stämmen und weißen Schneegebilden hindurch.
Sie erklommen den Hügel, doch plötzlich bewegte sich ein ganzer Baum neben ihnen, und Schnee wirbelte durch die Luft. Erschrocken griffen Setna und der Späher nach ihren Schwertern und beobachteten kampfbereit die Stelle, an welcher der Schnee gefallen war. Doch da regte sich nichts weiter, die Zweige des Baumes hatten sich augenscheinlich nur ihrer weißen Last entledigt. Mit erhöhter Aufmerksamkeit bewegten die beiden Askharer und der vor Kälte bibbernde Sklave sich hügelabwärts, vorbei an einer ganzen Reihe niedriger Kiefern, die einen vollkommenen Sichtschutz bildeten. Als sie sie umrundet hatten, kam dahinter ein Stück Wald zu Tage, das weitgehend frei von Unterholz war. Setna blieb stehen und spähte umher. Er sah niemanden.
„Dort drüben ist er“, sagte der Kundschafter und deutete auf einen mannsdicken Baumstamm. Und tatsächlich löste sich soeben eine Gestalt von der dunklen Borke. In seiner schwarzen Kleidung konnte man den Überläufer beinahe selbst für einen Baumstamm halten, dachte Setna und trat langsam näher. Der Hy kam ebenfalls auf ihn zu, er hatte welche von diesen komisch wirkenden, tellerartigen Schneeschuhen an, mit denen man leichter vorankam, weil man nicht ständig einsank.
Als sie sich zehn Schritte von einander entfernt gegenüberstanden, grüßte Setna. Der Hy nickte ernst und sah ihn fragend an.
Setna wandte sich an seinen Späher: „Wo sind die anderen Spähposten?“
„Noch mindesten zweihundert Schritt voraus, diese Stelle hier ist sicher.“
„Gut, lass uns jetzt allein. Geh ins Lager zurück und wärm dich auf. Ich brauche dich nicht mehr.“
„Aber ...“
„Er ist unser Verbündeter, er wird mir schon nichts tun!“, fuhr er den Mann unwirsch an, und der sah zu, sich schleunigst rar zu machen.
Als Setna sich sicher war, dass der Späher fort war, sagte er dem Hy-Sklaven, was er übersetzen sollte.
„Der König von Askhar möchte mit dem Setna von Hy um den Maestro Kanaima verhandeln, der sich in Eurer Gewalt befindet.“
„Dann soll er kommen, und ich werde dem Setna Bescheid geben“, antwortete der Hy. Er schien nicht überrascht zu sein.
„Ist der Maestro wohlauf?“
„Ihm geht es vermutlich besser als es sollte!“
„Was willst du damit sagen?“
„Er hat einen Pakt mit dem Setna geschlossen, und ist nun sein Gast!“
„Was?!“ Setnas überraschte Stimme verhallte schnell an den Schneemassen auf den Zweigen. Dennoch war sein Ausruf etwas zu laut gewesen. Er nahm sich zusammen. „Wenn du mich auf den Arm nimmst, dann …“
„Es ist die Wahrheit! Der Maestro macht mit meinem Bruder gemeinsame Sache. Er will bei ihm bleiben, bis die Armee Askhars besiegt ist und der Pakt in Kraft treten kann.“
„Von was für einem Pakt faselst du da die ganze Zeit?“ Setna kochte innerlich. Kanaima, dieser miese Verräter! Aber das würde er noch büßen! Setna stampfte in den Schnee.
„Einen Friedensvertrag zwischen Hy und Askhar“, antwortete Resa und blickte ihn mit unbeteiligter Miene an.
War er wirklich so abgeklärt, oder verbarg er nur seine Angst?
„Und warum, bis du nicht schon früher gekommen, um mir das zu berichten? Es scheint doch ein recht entscheidendes Detail zu sein!“
„Seit Tagen kann ich nicht in unser Lager zurück, denn ich befürchte, der Maestro hat mich verraten. Ich will auf der Stelle ganz zu euch überlaufen.“
„Einen Friedensvertrag?“, fragte Setna ohne auf das Gesuch des Hy einzugehen, und blitzte ihn an.
„Ja.“
Setna schüttelte sich vor Zorn und knurrte etwas, das der Sklave nicht übersetzte. Eine Weile überlegte er und sagte dann: „Ich denke, damit haben sich die Verhandlungen wohl erledigt. Warte hier, ich hole den König, und du kannst ihm das Ganze noch einmal selbst berichten!“
Setna wollte sich zum Gehen wenden, doch der Hy gab einen beinahe verzweifelten Laut von sich. Setna drehte sich halb um und warf einen verächtlichen Blick zurück.
„Kann ich nicht jetzt schon mit in euer Lager kommen und dort berichten?“, übersetzte der Sklave das Anliegen des Überläufers.
Setna schüttelte den Kopf. „Nein, ich will nicht, dass sich vorschnell Gerüchte verbreiten. Du bleibst hier und ich komme mit dem König zurück, verstanden?“
„Ja.“
„Gut. Es dauert nicht lange.“
Setna gab dem Hy-Sklaven ein Zeichen, und beide machten sich auf den Weg zurück, wobei sie ihren eigenen Spuren folgten.
Als sie das Kieferdickicht zwischen sich und dem Überläufer gebracht hatten, sprang Setna den Sklaven überraschend an und würgte ihn, bis er leblos in seinen Armen hing. Gleichgültig sah er in das junge, bartlose Gesicht.
„Du wusstest zu viel, mein Lieber, nimm’s nicht persönlich“, sagte er leichthin und trug die Leiche des Übersetzers zwischen die Kiefern, scharrte noch etwas Schnee über ihn und stieg dann die Hügelkuppe hinauf. Von dort aus konnte man das Lager sehen, und Setna ging direkt in die Richtung, in der das Zelt des Königs lag.
Als er den Eingang zurückschlug, sah er seinen Stiefvater schon am Tisch sitzen und geräuschvoll sein Morgenmahl verspeisen.
„Oh, Setna, komm herein und berichte mir, was der Überläufer Neues hat.“ Katthike wischte sich mit dem Ärmel über den Mund und winkte ihn herbei.
Grimmig trat Setna näher und dachte: ‚Wenn ich dir das erzählen würde, würdest du mir endlich glauben, dass dein sauberer Maestro eine niederträchtige Verräterseele ist, wie ich es schon immer gesagt habe. Aber du wolltest ja nie auf mich hören!’ Er baute sich vor dem Tisch auf, verschränkte seine Hände vorm Körper und begann sein ehrgeiziges Werk: „Der Überläufer ist zusammen mit dem Setna dort draußen im Wald. Die Hy wollen verhandeln, um den Maestro!“
„Das ist ja prächtig, dann mal los, du hast meine Ermächtigung!“
„Der Setna sagt, er spricht nur mit Euch! Sozusagen von König zu König! Nur mit Euch und sonst mit niemandem und zwar allein.“
„Was denkt der sich! Ich verlasse das Lager nicht auch nur um einen Fußbreit ohne meine Leibwache!“ Katthike lachte amüsiert.
„Er hat zugesichert, dass absoluter Waffenstillstand herrscht, außerdem ist das Gelände von unseren Spähposten abgesichert. Ihr könnt Eure Leibwache ja im Abstand von fünfzig Schritt folgen lassen, das wird der Setna bestimmt nicht als Bedrohung ansehen, sondern als die legitime Vorsichtsmaßnahme eines Königs.“
„Hmm.“ Katthike strich sich mit einer Hand über seinen Bart. „Und er ist jetzt in diesem Moment dort draußen?“
„Ja, und er wartet nicht mehr lange, hat er gesagt. Wenn Euch das Leben des Maestros lieb ist, dann solltet Ihr schnell handeln!“
„Wie sprichst du denn mit mir?“, fuhr Katthike auf.
Setna unterdrückte ein Augenrollen. Die Begriffsstutzigkeit seines Stiefvaters war wirklich legendär. Aber dass sie ausgerechnet jetzt in ihrer besten Manier hervorbrach, brachte ihn beinahe zum Schreien. „Ich betone nur die Dringlichkeit der Worte des Setna, mehr nicht“, entgegnete er beherrscht.
„Wenn das so ist, dann will ich mich mal ankleiden lassen. Was ist denn für solch ein Treffen mit einem Bauernführer angemessen? Ist noch Zeit, meine Rüstung anzulegen?“, fragte der König mit hochgezogenen Brauen.
Setna entfuhr ein Seufzer. „Es geht um das Leben des Maestros! Ihr könnt selbst entscheiden, ob Ihr das Anlegen einer Rüstung vorzieht!“
„Schon gut, ich habe verstanden!“ Katthike erhob sich schwerfällig und rief volltönend nach der Ordonnanz, die direkt neben ihm stand. Der Bursche verneigte sich und lief dienstbeflissen in den hinteren, mit Leinwänden abgehängten Teil des Zeltes. Von dort kam er kurz darauf schwer bepackt und zusammen mit einem zweiten Burschen herbei, und begann mit fliegenden Händen, den König in sein leichtes Rüstzeug zu kleiden.
„Geschwind! Geschwind!“, rief Katthike und wackelte ungeduldig mit den Armen, die er wie ein Artist von sich gestreckt hielt, damit die Burschen ihm den goldenen Schuppenharnisch mit dem Schlangenwappen auf der Brust unter der linken Achsel schließen konnten. Danach legten sie ihm Arm- und Beinscheinen an und seinen Schwertgurt mit der edelsteinbesetzten Scheide. Als sie fertig waren, senkten sie ihre Häupter und reichten dem König seinen Helm, den er mit generöser Miene entgegennahm.
„Gut, gemacht, meine Jungen, und jetzt aus dem Weg!“ Erhobenen Hauptes und in blinkender Rüstung schob er sich an den beiden Burschen vorbei aus dem Zelt.
Setna hatte derweil schon sein Pferd satteln lassen und die Leibwache in Bereitschaft gerufen. Er hielt seinem König den Steigbügel und hievte ihn auf sein Pferd.
„Wo ist der General?“, fragte Katthike. „Ich will, dass er mit der Leibwache reitet.“
Setna schickte einen Soldaten der grauen Garde nach General Bhuras. Und als dieser in voller Rüstung, die er kaum noch ablegte, hoch zu Ross erschien, sah Setna den König auffordernd an. Er konnte das Zeichen zum Abmarsch geben! Doch Katthike wandte sich erneut an seinen Zögling: „Und was ist mit dir?“
„Ich gehe zu Fuß neben Euch her, und zeige Euch den Weg, wenn Ihr erlaubt.“
„Natürlich! Worauf warten wir noch, das Leben des Maestros steht auf dem Spiel!“, rief der König und trat seinem Gaul unnötig hart in die Flanken, dass dieser unwillig auf seinem Gebiss herum mahlte.
Im Schrittempo setzten sie sich in Gang; Setna und der König vorweg und die Leibwache angeführt durch General Bhuras wie angeordnet fünfzig Schritte hinter ihnen her.
Während sie durch den Schnee auf die Hügelkuppe zu stapften, blickte Setna mehrmals zurück, um sich zu vergewissern, ob der Abstand auch eingehalten wurde. Bis jetzt klappte alles wie am Schnürchen.
Als sie sich schließlich dem Kamm der Kuppe näherten, packte Setna unvermittelt die Nervosität. Was, wenn es schiefging?
‚Ach, was es wird nicht schiefgehen!’, schalt er sich. ‚Reiß dich zusammen, du bist nur noch wenige Schritte vom Thron entfernt!’ Wieder sah er sich um. Die Leibwache war entfernt genug und würde nichts sehen können.
„Wie weit müssen wir noch?“, fragte Katthike ungehalten. Seine Stimme klang durch das geschlossene Visier seines Helmes gedämpft.
„Nicht weit, dort hinter der Kuppe wartet er.“
Sie überquerten den Scheitelpunkt des Hügels, und Setna führte den König auf der anderen Seite wieder bergab. Nach wenigen Schritten hielt dieser sein Pferd jedoch an.
„Wo ist er jetzt? Ich dachte, er wartet hier!“, tönte es dumpf aus dem Helm.
„Da hinten in dem Kieferndickicht!“, wies Setna, und wie vermutet klappte Katthike daraufhin sein Visier auf und sah angestrengt zu dem besagten Punkt hinüber.
Es war eine blitzschnelle Bewegung, mit der der König nicht gerechten hatte ... und nicht im Traum auch nur hatte rechnen können!
Setna zückte sein Schwert und stach ihm geradewegs von unten durch das Kinn in den Kopf. Katthike riss die Augen auf, sein Mund aber konnte nicht schreien, denn der Stahl heftete seine Kiefer zusammen.
Einen kurzen Moment gönnte sich Setna diesen hilflosen Anblick seines Stiefvaters; wie seine Hände an die durchstoßene Kehle griffen, und das Blut in dünnen Bahnen die Klinge hinab lief. Doch dann drängte die Zeit, und er zog sein hyaunisches Schwert mit einem Ruck wieder heraus. Ein Schwall Blut kam ihm entgegen, und er duckte sich gerade noch rechtzeitig, um nicht von davon getroffen zu werden. Es lief am Pferdehals hinab und troff hellrot in den Schnee. Fast gleichzeitig holte Setna tief Luft und begann, in einem fassungslosen Diskant zu schreien: „Du Assassino! Dreckiger hyaunischer Überläufer! Mörder! Helft, der König ist getroffen! So helft doch!“ Setna hockte sich hin und wischte mit dem Schnee die Klinge sauber. Dabei lauschte er, und als er das Hufgetrappel und die besorgten Rufe der herbeieilenden Leibwachen hörte, setzte er noch einen Entsetzensschrei nach und ließ dabei bewusst seine Stimme überschlagen: „VATER! Oh, ihr Götter, warum? Wo bleibt die Leibwache des Königs? Verruchter Verräter! Ich gehe hinterher. Ich kriege ihn. Ich werde den König rächen!“ Dann stürmte er mit gezücktem Schwert in den verschneiten Wald hinein, gerade in dem Augenblick, als die Leibwache die Kuppe erreichte und den blutüberströmten König aus dem Sattel rutschen sah.
Resa hörte den lauten Trubel, der sich in seinem Rücken abspielte, aber er konnte sich nicht dorthin wenden, um nachzusehen, was vor sich ging. Er war wie erstarrt und alles, was er fühlte, war die Kälte, die allmählich durch seine Beine hinaufgekrochen kam ... und den harten Blick seines Bruders, der ihn regelrecht an Ort und Stelle festgenagelt hielt. Raen musste sich unbemerkt an seine Fersen geheftet haben. Er hatte sein Treffen mit dem askharischen Prinzen seelenruhig beobachtet und war danach aus seiner Deckung getreten, um ihn zu stellen. Nur wenige Schritte standen sie voneinander entfernt.
‚Er hat alles gehört!’, schoss es Resa durch den Kopf. ‚Er weiß alles!’ Panik gesellte sich zu der Kälte und lähmte ihn zusätzlich. ‚Er wird keine Gnade walten lassen, dafür wiegt mein Verrat zu schwer.’ Die Frage war nur, ob Raen gedachte, das Urteil gleich zu vollstrecken, oder ob er ihn erst vor die anderen schleifen wollte, um ihn der Schande preiszugeben? Resa beschloss, es nicht darauf ankommen zu lassen und zog ungelenk sein Schwert. Die Kälte begann bereits auch seinen Oberkörper steif werden zu lassen, trotz allem verlagerte er sich in eine entschlossene Haltung. Wenn er hier und jetzt den letzten Kampf ausfechten musste, dann sollte das so sein!
‚Zaizura, komm und steh mir bei!’, flehte er in Gedanken und sah in das brennende Grün, das ihn gnadenlos fixierte. Ein paar Schneeflocken fielen lautlos von Himmel herab, und schon nach wenigen Atemzügen wurden es immer mehr. Dicke Wolken hatten sich über ihren Köpfen zusammengebraut und gaben nun ihre federleichte weiße Fracht frei.
Resa bemerkte, wie Raen seine Fäuste ballte, und gewahrte erst jetzt in dessen Linker die goldene Pfeilspitze.
‚Zaizura, wenn ich dir die Spitze bringen soll, dann lass mich siegen! Ich bin dein Krieger!’ Soweit seine gefrorenen Beine es zuließen, spannte Resa seine Muskeln zum Sprung an. Sein Bruder hatte noch nicht gezogen, noch konnte er ihn überrumpeln, wenn er schneller war. Doch gerade als er sich auf ihn stürzen wollte und den Namen Zaizuras als Kampfruf schon auf den Lippen hatte, tauchte hinter ihm Prinz Setna auf.
„He, was ist das denn für eine hübsche Versammlung!“, rief dieser erfreut aus und kam lässigen Schrittes herbei.
Resa brach seinen Angriff ab, und auf seinem Gesicht breitete sich ein triumphales Lächeln aus. Zaizura hatte ihn erhört! Nun hatte das Blatt sich gewendet. Zusammen mit dem Prinzen würde er den Setna besiegen können. Raen war angeschlagen und gegen zwei Gegner würde er nicht durchhalten. Resa sah, wie sich die Augen seines Bruders ungläubig weiteten. Er lachte und sah sich nach dem Askharer um.
Raens Gedanken rasten, versenkten sich immer tiefer in einen Sog aus finsterer Verzweiflung. Es war genau, wie seine Vision es ihm gezeigt hatte! Resa stand dort vor ihm und hatte die Zunge des Verräters. Warum nur hatte er dieses Bild nicht früher deuten können? Warum, war er so blind gewesen?
‚Oh, Al Nor! Oh, Hyaun, ich bin ein Narr, ich habe eure Botschaft nicht verstanden, weil ich nicht glauben konnte, dass mein eigener Bruder so etwas tut! Bitte, helft mir, ich kann ihn doch nicht töten, meinen kleinen Bruder!’ Plötzlich stockte ihm der Atem, und er blickte auf die Bäume hinter Resa. Sie bewegten ihre Wipfel und knarrten protestierend gegen das, was sich da steifschenklig seinen Weg durch sie hindurch bahnte.
Zuerst erschienen die Stelzenbeine der Spinnengöttin inmitten der schneebeladenen Bäume, überall stob die weiße Pracht auf und rieselte geräuschvoll von den Ästen. Dann ertönte ein dröhnendes Lachen aus den Baumkronen, und die schwarzen Augen trafen zielgenau auf Raen hinab und direkt in sein Herz.
„Da bist du ja, kleiner Wurm!“, sagte Sie und ließ belustigt ihre Kiefer schnappen. „Wollen wir es jetzt ein für alle Mal zu Ende bringen?“
„Ja, du unersättliches Ungeheuer! Lass es uns zu Ende bringen!“, schrie Raen ihr entgegen und umfasste die Pfeilspitze fester.
„Nun gut, pass schön auf, kleiner, ungestümer Krieger deiner falschen Gottheiten. Ich werde dir zeigen, dass du ohne jede Chance bist. Niemand bezwingt das Schicksal! Ja, ruf ruhig deine Freunde um Hilfe an, es wird dir jedoch nichts nützen! Auch sie sind machtlos. Sieh her, wie einfach ich Leben vernichten kann, wenn es mir gefällt!“ Sie hob eines ihrer vorderen Beine, das mit einem gefährlichen Dorn bewährt war, und stieß ihn Resa von hinten so gewaltvoll durch den Leib, dass er vorn zur Brust wieder heraustrat.
Überrascht starrte sein Bruder auf das merkwürdig metallisch glänzende Ding, das ihn durchbohrt hatte. Zaizura hob ihn hoch und rüttelte ihn lachend hin und her wie eine kleine Puppe. Resas Kopf ruckte verzweifelt, doch sein Mund war wie zugeklebt. Sein Blick suchte den von Raen.
‚Hilf mir! Hilf mir!’, schrie er stumm und versuchte, seine Arme zu bewegen. ‚Sie war es, die mich verführt hat. Sie! Ich war von Anbeginn euer aller Unstern! Bitte, verzeih mir, Raen! Das habe ich nicht gewollt.’ Doch dann wich alle Kraft aus Resa, und sein Kinn sackte auf die von dem monströsen Dorn aufgebohrte Brust. Seine rechte Hand öffnete sich, und das Schwert fiel herab. Es blieb mit der Spitze im Schnee stecken.
Neugierig hob Zaizura den Körper Resas vor ihre Augen, um zu sehen, ob er auch wirklich tot war. Mit einem vergnügten Zischen ließ sie ihn schließlich von dem Dorn gleiten. Er fiel aus beinahe zehn Schritt Höhe und landete mit dem Gesicht nach unten hart im Schnee. Mit verdrehten Gliedern blieb er dort liegen. Das Loch in seinem Rücken klaffte rot, und bald färbte sich der Schnee um ihn herum mit seinem Blut.
Raen schrie.
Setna sah von seinem Schwert, das er soeben aus dem Toten gezogen hatte, auf dessen älteren Bruder. Verwundert schürzte er die Lippen. Nie hätte er solch eine wütende Reaktion von ihm erwartet, angesichts dessen, dass der Jüngere ihn verraten hatte. Aber da hatte man einmal wieder den Beweis dafür, dass Blut dicker war als Wasser!
Mit einem wilden Schrei zog der bis dahin regungslos vor sich hinstarrende Raen sein Schwert und kam auf ihn zugestürzt.
„Nun gut, wie du wünschst! Ich habe heute schon das Leben eines Königs beendet, dann werde ich mir deines auch noch nehmen, Assassino!“, knurrte Setna und wehrte den ersten gewaltsamen Schlag ab, der ihm die Handgelenke erbeben ließ. Das Geräusch der aufeinanderprallenden Klingen verhallte dumpf an den schneebedeckten Zweigen rings um sie herum, während Setna die Wucht des Schlages mit einem Ausfallschritt abfing und bereits dem nächsten Angriff entgegensah. Der Assassino kämpfte einhändig, scheinbar konnte er seinen linken Arm wegen der Pfeilwunde, die er ihm zugefügt hatte, nicht richtig bewegen. Trotzdem war er beinahe übermenschlich schnell und deckte ihn mit einem wahren Stakkato von Hieben ein. Die ersten Kerben zeigten sich bereits auf seiner Klinge, die, so schoss es dem Askharer durch den Kopf, einmal dem anderen gehört hatte.
‚Welch wunderbarer Zufall. Wenn ich dich schon nicht mit deinem Pfeil töten konnte, so wird es jetzt deine eigene Klinge tun, Assassino!’ Setna schnellte im zerstampften Schnee vor, drehte seinen Oberkörper in einer Finte und hieb nach Raens Kniesehne, doch der wich geschickt aus und antwortete mit einem mächtigen Streich gegen Setnas Rücken. Der askharische Prinz entging einer tödlichen Wunde nur um Haaresbreite, weil er sich zur Seite fallen ließ, sich auf seinem rechten Arm abstützte und gehockt durch den Schnee pflügte. Dabei blieb er an irgendeinem versteckten Hindernis hängen und flog langgestreckt in eine Stelle mit noch frischem Schnee. Blitzschnell rollte er sich herum und fühlte den Lufthauch der neben sich einschlagenden Klinge des Hy. Mit einem Schrei kam er wieder auf die Füße und versetzte seinem Gegner einen Tritt, dass dieser nach vorn stolperte. Sofort setzte Setna ihm nach, doch Schnee spritzte auf und traf in seine Augen. Einen gefährlichen Moment lang war ihm jede Sicht genommen und er fuchtelte blindlings in der Luft herum. Die Attacke des Hy sah er nur deshalb kommen, weil er sich hastig mit seiner freien Hand über die Augen fuhr. Er parierte den Schlag, und Raen glitt schwungvoll an ihm vorbei. Keuchend fing der Assassino sich und blieb auf zitternden Beinen stehen. Mehrere Herzschläge lang sah er Setna an, als müsse er erst darüber nachsinnen, wie er als nächstes vorgehen wollte.
Auch Setna pumpte heftig Luft in seine Lungen und ließ den Hy nicht aus den Augen. Lautlos rieselte Schnee auf sie hinab und legte sich in ihre Fußspuren.
Der Hy bewegte sich schließlich als erster, er breitete die Arme aus und lächelte.
Raen wusste, dass er niemals gegen Zaizura gewinnen konnte, wenn er nicht endlich zu ihrem Kopf hinaufkäme. Sie hatte ihm mit ihren Beinen heftig zugesetzt, und sein Körper schrie nach einer Unterbrechung, die er niemals bekommen würde, denn wieder raste eines der baumstammgleichen Beine auf ihn zu und versuchte, ihn zu zerquetschen. Raen machte einen Satz zur Seite und schlug mit seinem Schwert danach, obwohl der Stahl gegen den Panzer der Spinne nicht viel ausrichten konnte. Wirkungslos glitt er ab, und Raen taumelte seinem Schwung hinterher durch den Schnee. Seine Lungen brannten und bald würden sie einfach kollabieren, wenn ihm nicht endlich etwas einfiel.
‚Al Nor! Bring mich zu ihrer hässlichen Fratze hinauf! Lass mich fliegen. Al Nor? Wo, zum Teufel bleibst du nur? Du hast doch versprochen, noch ein letztes Mal zu mir zu kommen!’ Er hustete und rang weiter nach Atem, doch Al Nor tauchte nicht auf. Langsam sah Raen durch die fallenden Schneeflocken zu seiner Gegnerin hinauf. Ihre schwarzen Augen bohrten sich noch immer brutal suchend in sein Herz, und ihre Kiefer schnappten erwartungsvoll. In diesem Augenblick war es ihm plötzlich klar, wie er zu ihr hinaufgelangen konnte. Sie hatte es ihm zuvor freiwillig gezeigt!
Entschlossen trat Raen ihr entgegen und breitete seine Arme aus. Ein seliges Lächeln legte sich auf seine Züge. Und als der Schmerz seine Brust sprengte, fühlte er, wie er endlich abhob.
Beinahe ergriffen schaute Setna auf das, was geschehen war. Und er war sich nicht sicher, ob er es nun gewesen war oder der Hy, so schnell war alles gegangen. Das Resultat jedenfalls war das gleiche. Setnas Schwertspitze war tief in die Brust seines Gegenübers gedrungen. Mit blassem Gesicht und starren Lippen blickte Raen ihn an, als könne er nicht glauben, dass er der Unterlegene in diesem Kampf war. Er hatte sein Schwert fallen lassen und stand zur Regungslosigkeit verdammt da. Zufrieden verzog Setna den Mund. Der Triumph war ihm nun sicher! In seinen kohlenschwarzen Augen funkelte die Genugtuung über den Verlauf dieses wahrhaft denkwürdigen Tages. Er hatte den Assassino auf seinem Spieß wie ein Spanferkel und Kasais Tod gerächt ... und er war König von Askhar!
Ungezügelte Freude bahnte sich in Form eines Lachens ihren Weg durch seine Brust. Er öffnete seinen Mund um dieses Siegerlachen in die Welt zu entlassen, doch dabei entging ihm ein winziges, blankpoliertes Detail.
Der zuvor scheinbar kraftlose, linke Arm des Assassino hob sich so schnell, dass Setna nicht rechtzeitig reagieren konnte. Sein Schwert steckte noch immer in der Brust des Hy, und es gelang ihm nicht, es schnell genug herauszuziehen.
Das Letzte, was er sah, war ein goldener Schimmer in der Hand des Hy, der auf sein Auge zu sauste.
Zaizura schrie mit ohrenbetäubender, schriller Stimme. Ihre Kiefer klackten unkontrolliert ins Leere. Raen biss die Zähne zusammen und trieb die Pfeilspitze noch tiefer in ihren Schädel. Ein anderes Bein der Spinne kam herbeigefahren und versuchte, den Angreifer von ihrem Kopf zu wischen, doch es verfehlte ihn.
Nachdem sie ihn an ihrem Dorn zu sich hochgehoben hatte, hatte Raen sich tot gestellt, und sie hatte ihn ganz nah an sich herangeholt, um ihn zu betrachten. Im gleichen Moment war er vorgeschnellt und hatte ihr die Spitze mit aller Kraft in eines ihrer sechs handtellergroßen Augen gestoßen. Nun rammte er seine Faust hinterher in die gallertartige Masse und schrie zusammen mit der tödlich verwundeten Spinne, die panisch versuchte, ihn von ihrem Dorn zu schütteln.
Der Schmerz war überwältigend, und Kälte breitete sich immer rascher von der Wunde in seine Glieder aus, aber noch kämpfte Raen dagegen an. Noch war Sie nicht besiegt!
Zaizura strauchelte blind umher, und ihr ganzer gemusterter Leib bebte. Bäume schwankten und Stämme zerbarsten. Ihre Beine knickten ein, und sie sackte mit dem Körper auf den Boden. Die Wucht des Aufpralls ließ Raen vom Dorn rutschen, und er fiel in den Schnee, der wärmer war als seine Hände, die sich in ihm abstützten und ihn zurück auf die Knie brachten. Er wollte sehen, wie Sie starb! Wollte sehen, wie Ihre grausame Herrschaft zu Ende ging!
Zaizura versuchte, noch einmal auf die Beine zu kommen, doch sie versagten ihr den Dienst. Dumpf schlug ihr Leib in den Schnee. Auch wurde ihr Schreien endlich schwächer und verkümmerte schließlich zu einem jämmerlichen Quieken. Eine Weile lang zuckten ihre Gliedmaßen noch, und dann verklang auch das Quieken. Leblos und mit gekrümmten Beinen lag sie da wie eine dicke Kellerspinne, die man mit einem Besen erledigt hatte. Raen reckte seinen Hals, um ihren massigen Kopf sehen zu können. Ihre Augen waren milchig weiß getrübt.
Mit einer Hand gegen seine Wunde gedrückt beobachtete er, wie die besiegte Spinnengöttin nach und nach zu glitzerndem Staub zerfiel, der anschließend vom Wind mit fortgenommen wurde und sich mit den wirbelnden Schneeflocken in der Luft vermischte. Erleichtert sank Raen zur Seite in den Schnee.
Es war vollbracht! Zaizura war nicht mehr.
Als er die Augen aufschlug, war die Kälte in seinem Körper bereits in jede Faser vorgedrungen, und er wusste, dass ihn nichts und niemand mehr würde wärmen können. Sein menschlicher Körper war nur noch eine Hülle, eine kalte Wohnstätte, die ausgedient hatte und die seine Seele bald verlassen würde ... Ein dunkler Schatten schob sich in sein helles Blickfeld - ein Gesicht. Raen erkannte, dass es Manoen war, und wollte seinen Protest kundtun, denn er hatte ihm zuvor befohlen, ihm auf keinen Fall zu folgen! Aber Manoen legte einen Finger an seine Lippen und bedeutete ihm, zu schweigen. Raen gewahrte, dass der Rotschopf mit einer Hand Schnee auf seine Wunde gepresst hielt, und lächelte müde. Wenn sein Freund gewusst hätte, dass sein Köper längst kälter war als der Schnee, dann hätte er es gelassen.
Plötzlich entstand Tumult, weil eine Schar grau gekleideter Soldaten durch das niedrige Kieferngehölz brach. Mit gezogenen Schwertern und gesenkten Visieren trabten sie schneebestäubt auf die kleine Gruppe zu, die sich um einen liegenden Körper im blutgesprenkelten Schnee versammelt hatte. Doch schnell erhob sich ein Mann und ging ihnen mit erhobener Hand entgegen.
„Halt!“, rief Kanaima. „Haltet ein! Ich bin es! Senkt eure Waffen.“
Die Soldaten der Königlichen Leibwache zügelten ihre Pferde und schoben verwundert ihre Visiere hoch. Einer von ihnen war General Bhuras. Und nachdem der seinen verschollenen Maestro mit ernster, aber auch erleichterter Miene gegrüßt hatte, fiel seine Aufmerksamkeit auf zwei weitere leblos daliegende Männer. Als er einen von ihnen als Prinz Setna erkannte, huschte ein undefinierbarer Ausdruck über sein Gesicht, und nach einem langen Blick in das Antlitz Kanaimas reckte er einen gepanzerten Arm empor und rief: „Lang lebe König Kanaima von Askhar! Heil dem neuen Herrscher auf dem Schlangenthron!“
Die Soldaten erwiderten den Ruf und hoben ihre Schwerter. Kanaima nickte dem General dankbar entgegen und wandte sich wieder der kleinen Gruppe zu.
Raen, der die Rufe gehört und verstanden hatte, lächelte. „Nun kommt alles zum Rechten!“, bekräftigte er leise. Manoen hielt seinen Kopf auf seinen Knien und sah ihn bekümmert an. Eine Träne stahl sich aus einem Augenwinkel des Hünen.
Raen hob eine Hand. „Verzage nicht, mein Freund, auch wenn ich nun einen anderen Weg gehen muss, so bleibe ich doch immer bei euch.“
„Ist es das, was du gemeint hast?“, fragte Manoen gepresst.
„Ja, ich denke, das ist es jetzt. Sag, wo ist mein Vater? Ich muss auch ihm noch etwas mitteilen.“
„Er ist gleich hier, ich habe Kaera nach ihm geschickt.“
Raen nickte und schloss kurz die Augen. „Mein Freund, verrate mir, was dein Herz dir sagt?“, fragte er mit noch immer gesenkten Lidern.
Manoen holte gequält Luft. Mit seiner Beherrschung war es nicht mehr weit her. „Ich ... “ Seine Lippen bebten. „Nun, es sagt mir, dass ich mir eine vernünftige Frau nehmen und mich hier niederlassen soll.“
Raen lachte auf, besann sich aber wegen des aufflammenden Schmerzes in seiner Brust eines Besseren und lächelte lediglich. Er blickte seinem Freund in die Augen. „Gut so. Der Frieden braucht neue Kinder. Kinder, die die Freundschaft in ihren Herzen tragen.“ Raen wollte noch etwas sagen, aber das Eintreffen Romans brachte ihn davon ab.
Der Vater der beiden Söhne, die das Schicksal gegeneinander ausgespielt hatte, sank zuerst neben der Leiche Resas nieder, die jemand mittlerweile auf den Rücken gedreht hatte. Er berührte seinen jüngsten Sohn an der Wange und warf dann beide Hände vor sein Gesicht. Ein erstickter Laut drang aus seiner Kehle und mündete schließlich in einem leisen Gebet. Raen wandte den Kopf, um ihn sehen zu können. Er schluckte schwer, doch der Blutgeschmack war schon lange nicht mehr von seiner Zunge zu bekommen.
Als Roman sich wieder etwas gefangen hatte, kam er zu Raen und Manoen herüber. Um seine Augen lagen tiefe Schatten, aber er weinte nicht.
‚Sei tapfer, Vater, es nicht deine Schuld’, dachte Raen und streckte eine Hand nach ihm aus, der in die Knie ging und sie ergriff. Roman tat so, als spüre er die Kälte unter Raens Haut nicht und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln.
„Vater, ich weiß jetzt, dass du am schwersten und am längsten von uns allem an deinem Geheimnis getragen hast. Du bist nun davon befreit. Doch eine neue Aufgabe wartet auf dich. Erzähle den Kindern der Tonan von unseren mutigen Taten, lass sie darüber aber nicht vergessen, woher sie stammen, und wer ihre Väter und Mütter waren!“ Raen drückte die Hand seines Vaters.
Romans Blick glänzte, aber er blieb gefasst.
„Sobald es Frühling wird, werden wir die Grenzen öffnen“, fuhr Raen fort und atmete so tief durch, wie der Schmerz es zuließ. „Überall werden wir ausrufen, dass der freie Geist aller Völker eingeladen ist, in unsere Häuser einzukehren und zu verweilen. Hy wird neu erblühen und mit ihm seine Freunde.“ Er drehte den Kopf. „König Kanaima?“
„Ja?“ Der Gerufene trat zu Raen, so dass er ihn sehen konnte.
„Zeigt meinem Volk, dass Ihr freundliche Absichten hegt. Askhar soll mit uns zusammen leuchten.“
„Darauf habt Ihr mein Wort, Raen, Setna von Hy.“ Kanaima hob eine Hand vor die Stirn wie es ein Hy tun würde.
„Gut.“ Raen blinzelte mit einem Mal und merkte auf. „Ah, da ist er ja! Endlich“, flüsterte er freudig und machte Anstalten, sich zu erheben.
„Moment mal, was ...?“ Manoen wollte ihn davon abhalten, da klang eine ihnen unbekannte Stimme von den verschneiten Bäumen herüber: „Lasst ihn gehen, Krieger Hyauns! Es ist an der Zeit, dass er zu uns kommt!“
Ruckartig wandten alle den Kopf in die Richtung, aus der die Worte gekommen waren. Zunächst sahen sie nichts, nur tanzende Schneeflocken und weiße Schemen, doch dann erschienen zwischen den dunklen Stämmen zwei weißgewandete Gestalten, deren Haut so fahl war, dass sie wie zwei aus Schnee geformte Menschen aussahen. Auf der Schulter des einen saß ein großer Rabe.
Roman erkannte sie als erster. „Das große Orakel von Tulga!“, sprach er ehrfürchtig und neigte sein Haupt. Die anderen taten es ihm nach, und auch der neue König von Askhar verbeugte sich respektvoll.
Indes erhob sich Raen, als sei nicht gewesen, als trüge er nicht eine tödliche Wunde in seiner Brust!
„Endlich seid ihr gekommen!“, hieß er die Eintreffenden mit ausgebreiteten Armen willkommen wie alte Freunde. Einen von ihnen konnte allerdings nur er sehen. Al Nor stand neben Soghul, dem Orakel, und dessen Novizen. Der Hüter der Zukunft hob eine Hand zum Gruß und lächelte verschmitzt. Der Rabe auf der Schulter Sorghas kollerte rau.
Raen ging auf Al Nor und die anderen zu, verfolgt von den ungläubigen Blicken seiner Begleiter, die verdutzt im Schnee hockten und abwechselnd von dem Blut auf ihren Händen zu dem plötzlich so mühelos wandelnden Todgeweihten hinüber starrten.
„Du hast es also geschafft!“, sagte Al Nor und legte Raen eine Hand auf die Schulter. „Ich bin stolz auf dich, mein junger Freund!“
Raen winkte beflissentlich ab. „Hatte ich überhaupt eine andere Wahl?“, fragte er zurück.
„Oh, du hättest auch scheitern können!“, mahnte Al Nor. Der Rabe krächzte und wippte mit dem Kopf.
Raen strich sich verlegen über das Kinn. „War es denn eine solch knappe Entscheidung?“
„Ja, das war es!“, betonte Soghul streng. „Aber nun wird das Licht sein und nicht Dunkelheit! Und ich frage dich, Raen Shari: Ist auch aus deiner Hoffnung Wahrheit geworden?“
„Ja, großes Orakel!“ Raen musterte das uralte Gesicht Soghuls, die knochigen, glatten Wangen und die beinahe durchscheinende Haut ohne jegliche Farbe. Er wirkte sehr schwach und gebrechlich und musste sich auf seinen treuen Novizen stützen. Es war ein Wunder, dass er den beschwerlichen Weg bis hierher überhaupt geschafft hatte. Raens Blick blieb fasziniert bei den weißen Pupillen hängen. Sie sahen weiter als bis nur in diese Zeit und hatten mehr gesehen als nur die Vorwelt. Soghul war ein Relikt, ein Felsen, der in seinem abgeschiedenen Reich alles überdauert hatte und jetzt, da er ans Tageslicht getreten war, so schnell zerfiel wie Schnee in der Sonne. Die schmalen Lippen des Orakels bewegten sich, und er sprach feierlich: „Dann wird sich dir die Ewigkeit öffnen. Möchtest du in sie eintreten?“
Raen zögerte. „Werde ich dort in der Ewigkeit auch Prinzessin Keï begegnen können?“
„Dort wirst du auf die Ahnen aller Menschen treffen! Al Nor und ich werden dich dorthin begleiten“, erklärte Soghul.
„Dann komme ich gerne mit euch!“ Raen blickte Al Nor an, der bekräftigend mit seinem Kopf ruckte. Der Rabe blinzelte und schüttelte erleichtert die Schneeflocken von seinem Gefieder.
Soghul faltete die Hände vor der Brust. „So sei es. Die Prophezeiungen haben sich erfüllt! Nun wollen wir gemeinsam aufbrechen. Mein treuer Sorgha wird zusammen mit Hyaun“, er deutete auf den Raben, der seinen Schnabel öffnete und wieder schloss, „hierbleiben und all die Menschen führen, die bereit sind, in die neue Zeit zu gehen. Sei unbesorgt, Raen, wir werden von unserem Sitz aus stets alles beobachten können, was die dort unten so treiben.“ Er verzog seinen Mund zu einem ersten Lächeln. „Wärest du so freundlich, mich an Sorghas statt zu stützen?“
„Natürlich“, Raen reichte dem Orakel seinen Arm, und Soghul umfasste ihn. Er spürte, wie durch die Hand des Weisen wieder Wärme in ihn hineinfloss. Es war soweit. Erwartungsfroh durchströmte es ihn. Raen warf einen letzten Blick zurück auf seine Begleiter, die immer noch gebannt zu ihnen herüberschauten. Er hob eine Hand zum Abschied und ging dann mit dem Orakel zu seiner Linken und Al Nor zu seiner Rechten in den verschneiten Wald hinaus. Nur wenige Augenblicke später waren sie zwischen den Stämmen verschwunden, und nur Sorgha und der Rabe waren noch da und der lebende Beweis dafür, dass das alles kein Trug gewesen war.
Lange konnten Roman und die anderen ihren Blick nicht von der Stelle lassen, an der sie Raen und das Orakel zum letzten Mal gesehen hatten - während leise flüsternd die Schneeflocken auf sie herabschwebten.
Für viele war es ein seltsamer und auch noch immer etwas beängstigender Anblick: Die Grenzmauer von Doban hatte zwei schöne offene Torbögen, genau an der Stelle, wo sie zerschossen worden war. Zwei ausgebaute Straßen führten vom Pass hinab durch sie hindurch. Die Menschen, die sich auf der Mauer versammelt hatten, konnten sehen, wie die Straßen sich auf der anderen Seite vereinten und als ein Strang zum Wald hinab weiterführten, von wo aus sich eine feierliche Prozession, bisher nur als bunte Punkte erkennbar, langsam auf die Mauer zu bewegte.
Es war ein sonniger Tag im beginnenden Blütenmond, in zwei Wochen würden in ganz Hy die Frühlingsfeste stattfinden, doch heute hatten sie sich hier versammelt, um ein ganz besonderes Fest zu feiern: Die Eröffnung der Grenze nach Askhar!
Die Torbögen waren mit Blumenranken und farbigen Bändern geschmückt, und das neue Banner Hys wehte in der leichten Brise, in der bereits der Duft des nahenden Sommers mitschwang. Das Banner hatten die Tonan entworfen und zeigte einen schwarzen Raben auf weißem Grund und zu dessen Füßen ein halbes Wagenrad mit vier Speichen. Es stand für das Schicksal, das ein jeder fortan selbst in die Hand nehmen konnte. Und unter dem halben Rad waren drei Punkte waagerecht angeordnet. Sie symbolisierten die drei heiligen Säulen Hyauns: Hrauna - Mutter Natur, Chorta - Heimat und anstatt Setna hieß die letzte Säule nun Tonansene - Freiheit.
Erwartungsvoll sahen auch diejenigen, die unmittelbar unter den Torbögen standen, auf die Straße vor ihnen und den sich nähernden Festzug der Askharer. Doch keiner getraute sich so recht, schon einmal einen Schritt auf die andere Seite zu wagen. Nervös scharrten sie mit den Füßen im Staub des frisch angelegten Weges.
Auch Roman sah auf die flatternden, roten Schlangenbanner in der Ferne. Sein Herz schlug heftig, und die unterschiedlichsten Gefühle ließen ihn abwechselnd mal überschwängliche Freude und mal wehmütige Trauer fühlen. Er stand mit vor dem Körper verschränkten Händen neben Manoen in der ersten Reihe, um die Delegation des askharischen Königs zu begrüßen.
Leider würde Kanaima nicht persönlich erscheinen, da er von Staatsgeschäften daran gehindert wurde, aber als Treuebeweis hatte er seine Schwester damit beauftragt, die Zeremonie zusammen mit den Hy zu vollführen, mit denen er ein paar Monate zuvor den Bund geschlossen hatte.
Roman blickte sich immer wieder um. Nicht weit hinter ihm wartete seine gesamte Familie auf den großen Moment. Sie alle hatten die weite Reise gemacht, um zu sehen, was Raen vollbracht hatte. Auch Hanenka war mit ihren Kindern mitgekommen. Sie stand gleich neben Suneka, die Sosama und Roakyn an den Händen hielt. Osa umfing Andra mit einem seiner mächtigen Arme und lächelte. Andra hingegen wirkte blass, was ihre bunte Kleidung nur noch unterstrich. Ihr Gesicht verriet, wie tief sie in Gedanken war und dabei womöglich ähnlich empfand wie ihr Vater. Sie hatte beinahe mehr geweint als Suneka, nachdem Roman ihr die Nachricht von Tode Raens und Resas überbracht hatte. Heiser hatte sie vor Schmerz aufgeheult und ihre Stirn auf seine Schulter gedrückt, während Suneka still neben ihnen gestanden und mit halb gesenkten Liedern auf den Boden gestarrt hatte. Roman vermutete, dass Suneka sich bereits von Raen verabschiedet hatte, als er sie das zweite Mal verließ, und sie nun lediglich die letzte Gewissheit erhalten hatte, dass er tatsächlich nie wieder zu ihr zurückkommen würde. Alle gemeinsam hatten sie in Shari dem Totenfeuer beigewohnt, in dem Raen symbolisch zusammen mit Resa verbrannt worden war, und hinterher die Asche in die Winde gestreut, wo die Ahnen sich ihrer annehmen konnten. Aber ein wenig Wehmut war trotz allem geblieben. Nach dem rätselhaften Fortgang Raens mit dem ehrenwerten Orakel hatten einige Unverbesserliche immer wieder den Wald abgesucht, aber niemand hatte eine noch so winzige Spur von ihm finden können, geschweige denn seine Leiche. Die Fußstapfen hatten einfach irgendwo aufgehört. Roman lächelte versonnen, das sah Raen ähnlich, und er war sich sicher, dass es seinem Sohn dort, wo er jetzt war, gefiel.
Ein wunderschöner, vielstimmiger Ton von mehreren Hörnern, weckte ihn jäh aus seinen Erinnerungen und er wandte sich wieder der Straße zu, auf der die Prozession der Askharer nur noch hundert Schritte von ihnen entfernt war.
„Ein wahrhaft großer Augenblick steht uns bevor!“, sagte Manoen neben ihm und strich sich sichtlich aufgeregt mit beiden Händen über seine Brust, denn jetzt war es an ihm. Der letzte Setna von Hy war gegangen, und das Volk der Tonan hatte sich einen neuen Anführer gewählt. Manoen erfüllte seine Aufgabe gewissenhaft, und nachdem er von seiner letzten Reise nach Borgossa zurückgekehrt war, wo er gemeinsam mit einer Delegation der Askharer den Friedensvertrag der beiden Völker ausgerufen hatte, kümmerte er sich nun hautsächlich darum, den Tonan weiter auf den Weg zu verhelfen und das neue Gedankengut in ganz Hy zu verbreiten.
„Ja, ein großer Augenblick!“, bekräftigte Roman stolz und freudig zugleich, und dann lächelten beide der dunkelhaarigen Frau entgegen, die an der Spitze des askharischen Zuges ritt. Einer ihrer Begleiter hob die Hand und hielt die Prozession an, der sich offensichtlich nicht nur hohe Herrschaften, sondern auch einfaches Volk angeschlossen hatte.
Ein Diener half der Schwester des Königs aus ihrem Damensitz abzusteigen. Neben ihr sprang ganz ohne Hilfe ein älterer, sehr vornehm gekleideter Mann von seinem Pferd und trat dann zu der Vertreterin des Königs.
Mit einem offenherzigen Lächeln kam das Paar näher, gefolgt von ihrem Geleit. Vor Roman und Manoen blieben sie stehen, und beide Delegationen sahen einander einen Augenblick an, bevor der Herold der Askharer in graçenischer Sprache ausrief, wer sich hier eingefunden hatte.
„Ihre Erhabenheit, die Schwester des Königs von Askhar, Prinzessin Laika und ihr Ehegatte, Herzog Hana, der Friedliche von Ebida!“
Manoen hatte flüsternd für die anderen übersetzt, und das Begrüßungskomitee der Hy verneigte sich höflich. Danach stellte er sich und seine Begleiter vor und hieß die Askharer willkommen.
Laika nickte ihnen lächelnd zu und wirkte dabei weniger steif als ihr Gefolge. Roman mochte sie auf Anhieb.
„Ich danke Euch, ehrenwerter Manoen von Shajun und ehrenwerter Roman von Shari“, antwortete die Prinzessin in ausgezeichnetem Graçenisch. „Es ist eine große Ehre für mich, diesen wundervollen Akt des Friedens im Namen meines königlichen Bruders ausführen zu dürfen. Wenn Ihr erlaubt, so lasse ich jetzt eine Botschaft von ihm verlesen.“
„Bitte, wir freuen uns, seine Worte zu hören!“, bedeutete Manoen und stellte sich schräg zu seinen Landsleuten auf, um für sie zu übersetzen.
Die Prinzessin entrollte ein Pergament, das ein Diener ihr gereicht hatte, und begann mit gerührter Stimme vorzulesen: „Geehrter Generale Manoen, geehrter Roman Shari, geehrtes Volk von Hy, im Gedenken an unseren Vertragsschluss im außergewöhnlichen Winter des schwarzen Schnees entsende ich Euch meine Schwester Laika, die stets mit mir für das Recht und die Freiheit gekämpft hat und einen weit mutigeren und reineren Geist besitzt als ich. Es erfüllt mich mit außerordentlich starken Gefühlen, daran zu denken, dass Ihr Eure Hände mit ihr schütteln werdet. Möge der Frieden zwischen unseren Völkern längeren Bestand haben als zuvor die Jahre er Zwietracht, und möge der Name des tapferen Raen in die Geschichte beider Chroniken eingehen. Ich senke mein Haupt in Demut vor diesem Mann und sehe mit großer Freude einem baldigen Besuch meiner neuen Freunde jenseits des Junghal-Gebirges entgegen! Mit den allerbesten Grüßen und Wünschen, Kanaima Buthwal Renandi, König des befriedeten askharischen Reiches.“ Laika gab das Pergament wieder an den Diener. Tränen der Ergriffenheit standen in ihren Augen, aber ihr Gesicht strahlte glücklich. Und schließlich trat sie auf Manoen und Roman zu, streckte ihnen ihre Hand entgegen und sprach: „Im Sinne all derer, die für diesen Handschlag ihr Leben gelassen haben!“
Manoen ließ Roman als Vater des verstorbenen Friedensstifters den Vortritt, und der alte Krieger ergriff die zartgliedrige Hand der Prinzessin. Tief gerührt verneigten sie sich voreinander und ließen ihre Hände dann wieder los. Manoen wiederholte das feierliche Prozedere, und als er von der Hand der Prinzessin abließ, erklangen auf beiden Seiten die ersten Hochrufe, welche schnell zu lautem Jubel anschwollen. Blumen flogen den Askharern von Seiten der Hy entgegen, und die ersten wagten es, ihnen durch das Tor entgegenzugehen. Etwas schüchtern beäugten sich die Angehörigen der bis vor wenigen Monaten noch von einer unüberwindlichen Grenze getrennten Völker und dachten ängstlich an all ihre Vorurteile. Doch plötzlich war der Bann gebrochen, und askharische Bauern klopften hyaunischen Handwerkern auf die Schulter, als seien sie längst Freunde, während die Frauen einander in den Armen lagen und zwar nichts von den Freudensbekundungen der anderen verstanden, aber trotz allem gemeinsam lachten und weinten!
In tiefer Befriedigung betrachteten diejenigen, die sich stellvertretend für die nun glücklich jubelnden Menschen die Hände geschüttelt hatten, das heitere Treiben und spürten die Kraft des Friedens warm und anmutig durch ihre Herzen fließen.
*
Kanaima stand an dem großen Tisch in seinem alten Arbeitsraum und strich andächtig über das glatte Holz. Das Gebäude der Akademie hatte kaum gelitten bei dem schweren Erdbeben, das im Winter auch Askhari-Kaise heimgesucht hatte. Aber zum Glück war die Stadt nicht so schlimm getroffen worden, wie zunächst befürchtet. Ein paar baufällige Häuser waren eingestürzt, die man sowieso längst hätte abreißen sollen, und einige Hütten in den Elendsvierteln. Ansonsten hatte Askhari-Kaise, die Königliche, das „Beben der Götter“ gut überstanden. Den Palast allerdings hatte es schwer erwischt. Auf seinem Fundament aus massivem Fels hatte er die Stöße nicht so gut abfangen können wie die Häuser auf dem zähen Lehmboden, auf dem die Stadt gegründet war. Der Westflügel war einfach in sich zusammengefallen, und auch der Rest der Palastanlage hatte nicht minder schwere Schäden genommen. Doch der Palast des Königs wurde bereits fleißig und nach den neuen Vorstellungen Kanaimas wieder aufgebaut. Und um dem Lärm und dem Schmutz der Baustelle zu entgehen, hatte er kurzerhand mit seinem Stab das Gebäude der Akademie bezogen und seine kleine Familie in dem Arbeitszimmer einquartiert. Wenn erst der Westflügel mit dem großen Königssaal wieder stand, würden sie dorthin umziehen und schließlich die Feierlichkeiten seiner Krönung abhalten ... und natürlich auch die seiner Hochzeit. Kanaima lächelte und blickte zu Isabylla hinüber, die auf einer Bank am offenen Fenster saß und verträumt hinaussah. Das Licht der Sonne ließ ihre roten Haare glühen und ihre helle Haut leuchten. Verzückt betrachtete er das liebliche Bild der Frau, die er bald zur Königin machen würde, und in seiner Brust floss das Gefühl des Glückes über.
„Vater!“, erklang unvermittelt eine helle Stimme, und holte Kanaima aus seiner Gefühlsseligkeit. Er wandte sich dem kleinen Jungen zu.
„Ja, was ist?“, fragte er freundlich.
Santir, oder besser gesagt, Santir-Raen, zupfte schüchtern am Saum seines schwarzen Wamses und sah mit großen, grünen Augen zu ihm auf. „Kann ich hinausgehen und spielen? Hier ist es langweilig.“
Kanaima strich seinem Adoptivsohn über den Schopf und sagte zu ihm: „Geh nur, aber nimm Milane mit, ja?“
„Ja!“, rief Santir-Raen glücklich und lief auf die Tür zu, natürlich ohne vorher die alte Amme aus ihrem Stuhl geholt zu haben. Kanaima gab ihr ein Zeichen und lächelte dem ungestümen Jungen hinterher, dem er den hyaunischen Zusatznamen gegeben hatte, damit er ihn immer an seinen wirklichen Vater erinnerte. Raen, der so beherzt vorausgegangen war, um für die Menschen seines Volkes zu erstreiten, was ihm am meisten am Herzen gelegen hatte, würde auch in diesem Kind weiterleben.
Kanaima dachte an die vergangenen Erlebnisse und freute sich auf die Reise nach Hy. Er würde ein ganz besonderes Geschenk an seine Freunde dabeihaben: Eine Wagenladung voll der Wörterbücher, die Raen verfasst hatte! Er hatte sie hundertfach kopieren lassen, damit nach den Grenzmauern auch bald die Barriere der Verständigung fallen würde.
Es klopfte an der Tür, und Kanaima dachte, dass es schon wieder Santir-Raen sei, dem es auch draußen zu langweilig geworden war. Aber nachdem er „Herein“ gerufen hatte, und die Tür sich öffnete, sah er, dass es ein ihm unbekannter Mann in staubiger Kleidung war, der um Audienz bat. Zuerst vermutete er, es sei einer von den Vorarbeitern der Baustelle und ließ ihn mit einem Wink eintreten. Der Mann verbeugte sich schwungvoll, aber in fremder Manier, und sprach ihn schließlich in Graçenisch an. Verwundert hob Kanaima die Brauen, und auch Isabylla hatte sich auf ihrem Platz interessiert zu dem ungewöhnlichen Besucher umgewandt.
„Ihr kommt aus Borgossa?“
„Ja, und ich habe eine Botschaft für Euch, Majestät!“
„Von wem?“
„Lest es bitte selbst, so wurde es mir aufgetragen“, erklärte der Bote höflich und hielt ihm ein gefaltetes und versiegeltes Papier entgegen.
„Wie geheimnisvoll!“, raunte Kanaima belustigt und nahm den Brief an sich. Er blickte den verstaubten Burschen noch einmal an und öffnete dann das schlichte Siegel. Er faltete das Papier auseinander und las. Seine Augen weiteten sich, als er den Namen des Verfassers erkannte, und sein Herz schlug erfreut schneller. Kopfschüttelnd musste er lachen. Der alte Patron sandte ihm eine Botschaft aus Borgossa und sie enthielt eine einzige Zeile:
„Gut gemacht!“
ENDE
Text: Anette Strohmeyer
Images: Anette Strohmeyer
Publication Date: 05-02-2012
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