Cover

Die entschwundene Erinnerung – mit echtem Blitzding

Da sass ich nun, auf einer Bank an der südlichen Spitze von Manhattan – und hatte keine Ahnung, wie ich dorthin gelangt war. Es war die sogenannte Small Hour: Der Himmel wurde langsam heller, die Sonne schaute noch nicht über den Horizont. Was hatte ich um diese gottverdammte Zeit im Battery Park zu suchen? Wollte ich nach Staten Island? Mit der Fähre? Die erste musste bald abgehen. Doch was sollte ich dort?

Das letzte, an was ich mich erinnern konnte, war, dass mich Susan mal wieder zum Essen eingeladen hatte, am Korean Way. Von da ab fehlte mir die gesamte Erinnerung. Filmriss? So viel hatte ich doch nicht getrunken. Oder hatte mir einer underer jungen Kollegen eine der neuartigen Drogen in den Drink gemixt? So was hatte die bei anderen bereits versucht, nur noch nicht bei mir. War ich ihr jüngstes Opfer? Doch dafür war die Wirkung verdammt spät eingetreten. Normalerweise traten diese umgehend ein, und sie endeten nicht mit einem kompletten Blackout. Die Opfer konnten sich an den Rausch wenigstens bruchstückhaft erinnern, wie bei einem Filmriss. Das hier war etwas anderes, mir fehlte jede Erinnerung an das, was auf Susans Einladung folgte. War ich mit ihr mitgegangen? Beim Aufstossen vorhin war jedoch ein exotischer Essensgeschmack mit nach oben gedrungen. Es könnte ein koreanischer gewesen sein. An ein gemeinsames Essen erinnerte ich mich jedenfalls nicht. Hatten meine Erinnerungen noch eine Zukunft? Oder schlich sich bereits Herr Alzheimer an meine Hintertür? Das musste ich für mich erkunden.

Ich griff in meine Jackettasche, um an meinen Flachmann zu nuckeln. Er war ebenfalls nicht da, aber ein Zettel, an den ich mich nicht erinnerte: ‚Mein Auto stet in de Wallstree!‘ Mysteriös an diesem war, ich hatte ihn nicht geschrieben, auch Susan nicht. Dieser Text war in einer mir fremden Klaue niedergepinselt worden, und meine Rechtschreibung war normalerweise perfekt. Auf der Rückseite fand ich nur ein grosses ‚K‘. Rätselhaft!

Ich stand auf, um mir mein Auto zu schnappen. Auch seltsam: In der City verzichte ich weitesgehend auf diese Krücke. Viel zu gross, die Parkplatzsuche war immer ein Verzweiflungsakt. Und nun sollte es ausgerechnet in der Wallstreet stehen, dort war doch immer alles zugeparkt. Egal, ich fand vorher einen der 24/7-Deli-Shops und deckte mich mit meinen Grundnahrungsmitteln ein: einer Flasche Bourbon, eine Stange Marlboro, einem starken Kaffee und ein XL-Truthahnsandwich ohne Grünzeug und Mayo – die war eh nicht echt, wie mir Susan einmal erklärt hatte. Noch an der Kasse nahm ich einen tiefen Zug aus der Flasche und goss mir einen Schuss in den Kaffee. Ganz nebenbei fand ich in meiner Brieftasche einen Pfandschein für mein goldenes Feuerzeug. Laut Datum auf diesem hatte ich es wohl während der Nacht irgendwo im Village versetzt. Wozu? War doch noch all mein Plastikgeld in der Brieftasche. Hatte ich etwa während der letzten Nacht Cash gebraucht? Und dann noch soviel. Hatte wohl 200 Bucks für das gute Stück bekommen. Und vor allem: Womit sollte ich mir meine Verdauungszigarette anzünden? Mein Anzünder im Auto funktionierte nicht. Und von dem vielen Geld war nichts mehr in meinen Taschen.

Ich ging zu meinem Auto und befreite erst einmal meine Hände von all diesem Müll. Ich durchsuchte meine Taschen genauer. Fand sogar den Autoschlüssel und einige interessante Dinge, wie etwa ein Streichholzbriefchen von einem Cafe im East Village, welches laut Aufschrift den besten Apfelkuchen der Stadt anbot. Wo hatte ich mich überall rumgetrieben? Ich entschloss mich, in die Agentur zu fahren. Das musste ich mir alles in Ruhe durch den Kopf gehen lassen, und mein Auto musste eh auf seinen angestammten Platz zurück.

Heute war ich mal der Erste in der Agentur, wow! Doch ich hatte es mir kaum an meinem Tisch bequem gemacht, um endlich das Sandwich zu essen, da hörte ich einen weiteren Schlüssel im Eingangsschloss. Der Chef trat ein, mit Susan: ‚Was macht ihr denn schon hier?‘

‚Keine Ahnung!‘, entgegnete mir der Chef. ‚Wir sind in einem East Village-Cafe zu uns gekommen und die Kellnerin richtete uns aus, wir sollten unbedingt schnellstmöglich ins Büro kommen... Was treibst du schon hier?‘

‚Keine Ahnung! Bin im Battery Park zu mir gekommen und wusste nichts. Weder wie ich dahin gekommen bin, noch warum ich dort war.‘

‚Naja, du warst wenigstens so klug, dir schon was zum Essen zu holen‘, entgegnete mir Susan. ‚Gibst du mir was ab? Kaffee kommt gleich...‘ Und sie ging nach vorne, um die Kaffeemaschine anzuschmeissen. Der Chef setzte sich auf den Nachbarschreibtisch und begann etwas zu philosophieren. Von wegen, eine Amnäsie könne nicht gleichzeitig bei drei Personen vorkommen, vor allem, wenn sie sich an verschiedenen Orten aufgehalten haben. Da fiel mir das Steichholzbriefchen ein und ich fragte ihn, in welchem Cafe ihre Erinnerungen wieder eingesetzt hatten. Es war genau das Cafe, aus welchem ich die Papphölzer hatte. Ich war also ebenfalls wenigstens kurzzeitig dort gewesen. Da kam Susan mit dem Kaffee an.

‚Schau mir in die Augen, Kleines!‘, ich gab ihr die Hälfte von meinem Sandwich: ‚Was ist das Letzte, an was du dich erinnern kannst?‘

‚Deutlich erinnere ich mich noch, dass ich dich zum Essen einlud. Danach reisst der Film. Nur ein einzelnes weiteres Bild ist da – du und ich auf meinem Sofa. Was hat das zu bedeuten?‘

‚Erinnere mich ebenfalls an das Sofa, so wie an eine Art Traumbild. Doch was das alles bedeutet, genau das will ich ja herausfinden‘, und an den Chef gewandt: ‚Was ist mit dir? Was ist deine letzte Erinnerung?‘

‚Naja, ich bin kurz nach euch hier raus und hoffe inzwischen, dass ich alles abgeschlossen hatte. Diese Erinnerung fehlt mir bereits. Und dann sehe ich euch beide vor mir, wie Susan dich vor ihrer Haustür küsst. Und dann sitze ich wieder mit Susan alleine in diesem Cafe und die Kellnerin richtete uns aus, dass wir ins Büro gehen sollten.‘

‚Habt ihr sie gefragt, von wem sie dies ausrichten sollte?‘

‚Ja! Aber sie hat dich beschrieben und nur gesagt, du wärest die gesamte Zeit mit uns dort gewesen, erst eine halbe Stunde vorher mit zwei anderen Herren im schwarzen Anzug verschwunden. Und dann wollte sie noch vierzig Bucks für den Kuchen und Kaffee. Lange können wir zu fünft also nicht dort gewesen sein.‘

Das waren doch bereits eine Menge Infos, die ich zusammenfassen konnte. Uns fehlten etwa zehn oder elf Stunden Film, Susan und ich waren sicher gemeinsam essen gewesen und ich habe sie noch nach Hause gebracht, was wahrscheinlich drei, vier Stunden Zeit in Anspruch genommen hatte. Danach müssen wir gemeinsam, eventuell mit diesen geheimnisvollen Männern, zu meinem Auto gegangen sein. Irgendwann danach war mindestens ich bei diesem Pfandleiher in der Bleeker gewesen, um Cash für was auch immer zu beschaffen. Zumindest zu fünft waren wir in diesem Cafe im ABC-Viertel gelandet und hatten miteinander Apfelkuchen geschlemmt. Gegen viere, fünfe hatte ich mich von den Beiden verabschiedet und war mit den anderen Beiden Richtung Battery Park entschwunden. Was war in der Zwischenzeit wirklich passiert?

‚Ich war in der Zwischenzeit offensichtlich ebenfalls bei dem Pfandleiher‘, warf der Chef ein und legte eine entsprechende Quittung auf den Tisch. Er hatte für seine goldene Uhr immerhin zwei grosse Scheine bekommen. Das wurde immer interessanter. Wofür braucht man nach Mitternacht in New York über 2,000 Dollar in Cash? Vor allem, wer war dieser Pfandleiher, der so viel Bargeld in seiner Kasse hatte um diese Zeit? Wir entschieden uns, der Sache auf den Grund zu gehen und unsere Sachen zurückzukaufen. Susan holte das Geld aus unserem Tresor und los ging es per pedes, so weit war es ja nicht von uns bis zum West Village.

Der Typ in der Pfandleihe stöhnte sofort auf, als wir eintraten: ‚Nicht schon wieder! Was wollt ihr dieses Mal?‘

‚Wir wollten unsere Pfänder einlösen, und ein paar Fragen stellen‘, wir legten unsere Quittungen auf den Tresen und warteten erst einmal ab.

‚Euer Zeug könnt ihr wiederhaben, wenn ihr die Kohle habt‘, er griff hinter sich und nahm das Feuerzeug und die Uhr aus einer der Schubladen. ‚Aber lasst mich mit den anderen Zwei in Ruhe. Schon wenn ich nur an die denke, fängt mein Kopf an zu zwicken. Jede Auskunft kostet extra!‘

Seine Augen fingen echt an zu leuchten, als Susan das Geld auf den Tresen packte. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Wir steckten schnell unsere Teile ein. Der Chef nahm auch sofort das überschüssige Geld aus Susans Hand und steckte es weg. Dieser sich ziemlich gierig gebende Typ zählte seinen Teil bestimmt dreimal, schnupperte mit seinem Riesenzinken daran und steckte es in seinen linken Schuh: ‚Was wollt ihr wissen?‘

Ich wagte mich mit einigen leichten Fragen nach vorne: ‚Wann ungefähr waren wir hier? Und haben wir eventuell gesagt, wozu wir die Scheine brauchen? War noch jemand mit uns hier?‘

‚Das sind viele Fragen auf einmal!‘, und er hielt dem Chef seine ausgestreckte Hand entgegen. Der zählte ihm fünf Dollar in die Hand. ‚Gegen Mitternacht!‘ Und wieder schoss die Hand nach vorne. Nach weiteren fünf Scheinen: ‚Ihr wolltet eine meiner speziellen Waffen kaufen‘, und wieder wechselten ein paar Bills die Seiten, ‚Ihr wart nur zu dritt.‘

Das konnte ja teuer werden, wenn wir weiterhin auf die übliche Tour vorgingen. Unser Chef nickte mir zu, und ich schnappte mir den Typen über den Tresen hinweg und zog ihn zu mir herüber. Er war verdammte leicht für seine Grösse: ‚Hör mal Bursche, für diese Scheinchen erwarten wir etwas ausführlichere Antworten! Du hast für unser Zeug schon über zwei Riesen kassiert, und dafür sollen wir nur ein Schiesseisen gekauft haben? Das kannst du dem Weihnachtsmann erzählen, dass wir das freiwillig bezahlt haben. So was kriegen wir hier in der Stadt überall für weniger als einen halben Schein.‘

Er wurde noch nervöser als er eh schon war: ‚Naja! Es war eine toxianische Wasserpistole. Die kriegt man...‘

An dieser Stelle sprang der Chef aus seinem Anzug: ‚Zwei zwei für eine Wasserpistole? Du verarschst uns hier?‘

‚Aber wenn ich es sage! Eine T O X I A N I S C H E Wasserpistole! Eine der tödlichsten Waffen des Universums!‘

‚Und wo ist jetzt diese Wasserpistole? Wir haben sie nicht.‘

‚Das ist es ja! Ihr habt noch nicht danach gefragt. Diese zwei Typen von der Einwanderungsbehörde tauchten hier zufällig auf, während ich euch die Funktionsweise erklären wollte, und haben sie sofort konfisziert. Und der da‘, er zeigte auf den Chef, ‚ist den Typen an die Gurgel gegangen. Da haben die euch gleich mitgenommen. Weiss ich wohin? Wahrscheinlich wie üblich zum Appelkuchenfuttern, drüben im East Village - und zum abschliessenden Blitzdingsen als gesellschaftlicher Höhepunkt eines jeden Abends mit ihnen.‘

Jetzt wurde es mir zu bunt: ‚Du hast das ganze Geld von uns kassiert und nichts dafür geliefert! Wir wollen unser Geld zurück, oder diese vergoldete Wasserpistole!‘

‚Hab ich doch gesagt. Die Pistole haben Jay und Kay, nicht ich.‘

‚Sie haben sie dir jedoch abgenommen, nicht uns. Also Geld zurück, aber sofort‘, ich griff nach seinem linken Bein. ‚Nein! Nein! Ich geb’s dir freiwillig. Lass mich nur mal kurz runter, damit ich es rausholen kann.‘

Ich stellte ihn sanft hinter seinem Tresen ab, ohne ihn loszulassen. Er griff schnell nach unten und kam mit unseren Scheinchen wieder hoch. Susan nahm sie ihm ab und zählte sie kurz. Sie nickte, also stimmte es. Ich liess ihn los: ‚Wer sind Jay und Kay? Wie kommen die dazu, hier etwas zu konfiszieren? Und wo finden wir sie?‘

‚Das sind die Bullenbeisser von der Einwanderungsbehörde dieses Planeten hier. Die sind überall und nirgends, die finden euch – nicht umgedreht. Die ziehen alles ein, was nicht hierher gehört und schauen halt immer wieder bei mir rein, weil ich so’n Zeug im Angebot habe. Habe schon viel Geld verloren wegen den...‘

‚Aber wo finden wir sie? Wenn sie von einer Behörde sind müssen die dir doch alles bescheinigen.‘

‚Die bescheinigen nichts, nehmen mir nur die interessanten Sachen einfach weg. Und schiessen mir manchmal aus Spass die Birne weg‘, er zog seinen Kopf ein und schüttelte ihn.

‚Aber deren Behörde muss doch irgendwo ihren Sitz haben. Wo?‘

‚Ich glaube unten am Battery Park, so ein grosses graues Gebäude. Da steht, glaube ich, Wasserbehörde dran, oder so was.‘

Ich liess ihn schlussendlich los und glättete sein dreckiges Hemd ein wenig: ‚Naja, noch mal Glück gehabt!‘

Wir verliessen den Laden, und Susan schlug erstmal vor, in dieses Cafe zu gehen. Wäre ja nicht allzu weit, und eh auf dem halben Weg zum Battery Park. Wir waren damit einverstanden.

Als wir dort eintrafen, kam uns gerade dieses Mädel entgegen, die Susan und dem Chef am ganz frühen Morgen – oder späten Abend, ja nachdem – die Nachricht von mir ausgerichtet hatte. Der Chef hielt sie sofort fest und fragte sie nach den Beiden.

‚He! Lass mich los! Weiss ich doch nicht, die sind mit ihm‘, sie zeigte auf mich, ‚weg. Ich war nur der Bote.‘

‚Die kommen doch öfter her, habe ich gehört. Also wie erkennen wir sie?‘

‚Fragt Penny! Die hat jetzt die Morgenschicht. Die kennt sie auch. Fragt nach Jay und Kay! Und tschüss!‘ Sie riss sich los und weg war sie, in Richtung auf einen Typen mit Oberarmen wie ich keine Oberschenkel habe. Wir kümmerten uns lieber um diese Penny.

‚Die kommen fast jeden Morgen zwischen sieben und acht zum Frühstück her. Da müsst ihr halt warten. Apfelkuchen mit Sahne und Kaffee für jeden von euch?‘

Wir nickten uns zwar nur untereinander zum Einverständnis zu, doch sie verstand es als Order. Naja, wenn schon warten, dann konnten wir das auch geniessen mit einem guten Kuchen. In meiner Whiskey-Pulle war sogar noch mehr als ein Schuss für jeden drin...

Nach über einer Stunden betraten ein Schwarzer und ein Weisser das Cafe, beide hatten dunkle Sonnenbrillen auf ihren Näschens und waren im Partnerlook gekleidet wie Steuerbeamte, mit tiefschwarzen Anzügen. Penny sprach sie an und zeigte auf uns. Beide nickten und kamen zu unserem Tisch. Der Weisse holte unterwegs eine Art Kugelschreiberschraubenzieherdingsbums aus seiner Tasche. Ich griff sicherheitshalber nach meinem Schiesseisen im Jackett. Doch dann blitzte es aus der Spitze des Kugelschraubendingens...

Imprint

Text: 2018, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Images: 2018, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Cover: 2018, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Editing: 2018, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Publication Date: 09-02-2018

All Rights Reserved

Next Page
Page 1 /