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Mystical-Short-Story

 

 

 

 

 

 

 

von

 

Dana Müller

Ein letzter Blick


Die Morgendämmerung erstrahlte in den wundervollsten Purpurtönen, sodass der Himmel wirkte, als hätte das Universum einen Farbeimer umgeworfen. Nichts deutete auf das nahende Ende hin.

Sandra stand am Fenster und betrachtete die Miniaturen der Leute, die sich im Hof versammelt hatten. Wie Ameisen krochen sie über den betonierten Platz. Wehmütig dachte sie an die letzten dreißig Jahre zurück, in denen sie mit ihnen gelebt hatte. Es waren gute Zeiten, aber auch schlechte. Hier hatte sie die Liebe ihres Lebens gefunden und geheiratet. Und dann war Norman schwer erkrankt. Nein, daran wollte sie nicht zurückdenken, denn das hatte alles verändert. Dieses furchtbare Jahr hatte Sandras Freude am Leben vernichtet. Seit dem Tag der Beerdigung war sie in eine Abwärtsspirale geraten.

Sie wechselte das Zimmer und trat auf den Balkon hinaus. Die Abrissbagger standen schon in Stellung. Das Haus Nummer achtzehn war ihnen bereits letzte Woche zum Opfer gefallen. Der Staub hing noch immer in der Luft und war einfach in jede Ritze eingedrungen. Sie fuhr mit der Hand über das Balkongeländer und betrachtete ihre Handfläche. Das war alles, was von der Achtzehn übrig geblieben war. Staub und Erinnerung. Damals hatte sie mit ihren Eltern in diesem Haus gewohnt und nun war es fort.

Als wäre es gestern gewesen, wusste sie noch genau, wie sie mit Norman hier eingezogen war. Sie hatten sich hier ein warmes Nest gebaut, in dem sie ihre beiden Kinder großzogen. Sie wusste noch genau, wie schwer es anderen gefallen war, sich in dieser Siedlung zurechtzufinden. Manche der Bewohner hatten es nicht lange ausgehalten und waren kurz nach ihrem Einzug wieder ausgezogen. Man musste schon eine gewisse Abhärtung mitbringen, wollte man sich hier niederlassen. Nicht jeder Nachbar war freundlich gewesen. Manch einer barg ein gewisses Gefahrenpotenzial in sich. Andere wiederum waren zu guten und langjährigen Freunden geworden, mit denen Sandra kleine Rituale verband. So gab es Martha aus dem vierten Stock. Jeden Samstagnachmittag war sie mit Sandra auf ein Stück Kuchen und einen ordentlichen Kaffee verabredet gewesen. Nun, da Martha an das andere Ende der Stadt zog, würden diese Treffen zu einer ungewollten Seltenheit werden.

Es war der letzte Morgen, ein letzter Blick aus dem 12. Stock des Plattenbaus. Ihr würde auch Johanna fehlen, die mit ihren Handarbeiten das halbe Viertel versorgt hatte. Mit ihr war Sandra zu einer strickenden Halbgöttin mutiert, weil Johanna jedes neue Muster kannte. Sie war die Königin der Strickmuster. Letzte Woche war Johanna zu ihrer Tochter nach Regensburg gezogen. Auch sie würde Sandra nicht so schnell wiedersehen, vielleicht nie.

Das alles fühlte sich nicht richtig an. Manchmal dachte Sandra, ein dunkler Fluch würde auf ihr lasten, denn ihr Leben war voller Verstrickungen. Menschen, die sie verlassen hatten, Ereignisse, die Sandra oft den Boden unter den Füßen wegzogen. Genau wie dieses hier. Als die Leute von der Hausverwaltung im letzten Jahr anfingen, Spezialisten in die Wohnungen zu schicken, wusste Sandra gleich, dass das ein böses Ende nehmen würde. Spätestens, als diese dann Bohrproben aus dem Bodenbelag genommen und Messungen mit allerlei Geräten durchgeführt hatten, war das Ende der Siedlung bereits beschlossen worden. Asbest lautete die Diagnose.

Jetzt musste Sandra Abschied nehmen.

Sie atmete tief durch und ging in den Flur, wo ihr Koffer mit den wichtigen Unterlagen und ihren persönlichsten Sachen auf sie wartete. Mit bebendem Herzen nahm sie diesen an sich und stellte ihn wieder ab, denn der Gedanke an den zerknüllten Brief, der seit vier Jahren ungeöffnet darin lag, raubte Sandra den Mut. Oft schon hätte sie ihn beinahe geöffnet. Aber nach dem Bruch mit Josefina hatte sie Angst davor, was darin stehen könnte. Für eine Mutter gibt es nichts Schlimmeres als den Kontaktabbruch mit ihrem Kind. Diese Situation besaß die Macht, den Sinn des Lebens zu hinterfragen. Eines Tages würde sie vielleicht die Kraft haben, ihn zu lesen. Heute jedoch nicht.

So öffnete Sandra die Tür, trat hinaus und zog diese hinter sich zu. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend hielt sie auf den Fahrstuhl zu.

Plötzlich erreichten sie Stimmen, die Sandras Seele in Ketten legten.

»Du bist schuld, Mama!«

Das war eindeutig Josefinas Stimme. Eine eiserne Klaue legte sich um Sandras Herz und drohte, es zu zerquetschen.

»Bitte, Kleines. Du hast keine Vorstellung davon, wie es ist, einen Menschen sterben zu sehen und nichts tun zu können!«

Das war nicht möglich. Niemand war in der Wohnung. Das bildete sie sich nur ein. Sandra erinnerte sich, dass dieses Gespräch stattgefunden hatte. An diesen Tag wollte sie aber nie wieder zurückdenken. Und nun kamen diese Stimmen aus ihrer leeren Wohnung.

Etwas in ihr drängte sie, nachzusehen. Vielleicht spielte man ihr einen gemeinen Streich? Und wenn nicht, dann wurde sie einfach verrückt. Mit zitternder Hand nahm sie den Schlüssel in die Hand und entriegelte das Schloss.

Vorsichtig schob sie die Tür auf und erstarrte. Der Flur war eingerichtet und es roch nach frisch gebrühtem Kaffee. Nein, das konnte nicht echt sein.

»Mama, ich sage dir eins! Jede Frau, die ihren Mann liebt, findet eine Lösung. Du wolltest nur nicht! Du hast ihn auf dem Gewissen!«

Josefinas Worte trafen Sandra direkt ins Herz. Sie schluckte, stellte den Koffer ab und schlich vorsichtig zum Wohnzimmer. Und da traf sie der Schlag. Sie sah ihre Tochter, die wütend am Fenster stand, und als Sandra den Kopf nach rechts drehte, erkannte sie sich selbst auf der Couch sitzend und weinend.

In ihrer Erinnerung war diese Szene nur bruchstückhaft gewesen. Aber nun, da sie mittendrin stand und das alles noch einmal erlebte, spürte sie ihr Herz leise reißen.

»Warum hast du ihm nicht geholfen?«, wimmerte Josefina.

»Das habe ich die ganze Zeit über. Egal, welche Behandlung er gebraucht hat. Ich habe alles getan, um ihm zu helfen. Ich war immer an seiner Seite«, verteidigte sich die sitzende Sandra.

»Hört auf! Hört bitte auf zu streiten. Josefina, dein Papa war schwer krank. Und du, Sandra? Deine Tochter braucht eine Mutter, die sie tröstet und nicht in Selbstmitleid verfällt«, platzte es aus Sandra heraus.

Doch keine von beiden schien sie gehört zu haben, denn sie reagierten nicht. Stattdessen stritten sie weiter.

»Wo warst du denn, als dein Vater im Sterben lag?«, warf die surreale Sandra ihrer Tochter vor.

Hatte sie das tatsächlich gesagt? War das eine Art Echo dessen, was hier geschehen war? Oder stand Sandra in ihrer eigenen Vergangenheit, um sie zu ändern? Wenn sie jetzt noch diesen einen Satz sagte, dann würde sie Josefina verlieren. Das musste Sandra verhindern!

Also eilte sie zu sich selbst auf die Couch und drückte die Hand auf den Mund ihres Gegenübers.

Josefina näherte sich kopfschüttelnd und mit tränenbenetzten Wangen. »Das ist es, wie du über mich denkst? Jetzt kommt gleich, wie toll Raffael ist, der seinem Vater die Hand beim Sterben gehalten hat. Hab ich recht? Ganz ehrlich? Hast du dich mal gefragt, wieso ich nicht da war? Ist dir einmal in den Sinn gekommen, dass Rafael nicht der ach so tolle Bruder ist, für den ihr ihn immer gehalten habt? Ihr habt ihn immer verteidigt, aber ich bin auf der Strecke geblieben.«

Alles in Sandra versteinerte in dem Moment. Wie ein Tsunami überrollten sie die Gefühle dieses vergangenen Augenblicks. Sie saß wie versteinert auf der Couch und versuchte, sich zu erinnern, warum sie Josefina damals nicht einfach in den Arm genommen und ihr gesagt hatte, dass sie eine wundervolle Tochter sei.

Bevor Sandra die losen Fäden in ihrem Kopf zusammentragen konnte, stand ihr jüngeres Ich auf und stellte sich Josefina entgegen. »Ich habe dich niemals für so undankbar gehalten. Wann bist du so geworden? Warum kannst du nicht ein bisschen mehr wie dein Bruder sein?«

Entsetzen spiegelte sich im Gesicht ihrer Tochter wider. Tränen rannen über ihre Wangen. Kopfschüttelnd setzte sie an, etwas zu sagen, schluckte es aber offensichtlich hinunter. Dann nahm sie ihre Tasche, hielt inne, um sich Sandra ein letztes Mal zuzuwenden, und sagte: »Du warst die längste Zeit über meine Mutter. Du bist für mich gestorben!«

Sandra hielt es nicht mehr aus. Sie sprang auf, um ihrer Tochter hinterherzurennen. Doch bereits, als sie aus der Wohnung trat, war Josefina verschwunden. Sie drehte sich um und erkannte, dass auch die ganze Einrichtung nicht mehr da war. Nichts davon war echt, und doch hatte die Begegnung all die Erinnerungen und Gefühle aus der Verdrängung wieder hervorgeholt.

Vollkommen verwirrt packte sie ihren Koffer, zog die Tür hinter sich zu und eilte zum Fahrstuhl.

Dieser wartete bereits, sodass die Türen aufglitten, sowie sie den Knopf gedrückt hatte. Sie stieg ein und betrachtete sich einen Moment in der verspiegelten Kabine. Alt war sie geworden. Sie steuerte auf die Fünfzig zu. Den grauen Haaransatz färbte sie nur sporadisch und die Falten in ihrem Gesicht ließen sich auch mit den besten Cremes nicht mehr verhindern. Eigentlich gehörte sie nun zu jenen alten Bäumen, die nicht verpflanzt werden konnten. Und doch musste sie sich auf eine neue Umgebung einstellen.

Sandra drehte sich zu der Schalttafel um und drückte den Knopf, der sie nach unten ins Erdgeschoss bringen würde. Dieses Haus war mit ihr gealtert. Und das zeigte es mit dem Flackern der Kabinenbeleuchtung. Diese fiel plötzlich aus. Sandra hasste die Dunkelheit. Jetzt stand sie mittendrin, umgeben von Spiegeln. Und plötzlich fing sich das Licht wieder, aber es wirkte gedimmt. Im Spiegel sah sie sich selbst. Und doch zweifelte Sandra an dem Anblick, denn all die Falten und grauen Haare waren verschwunden.

»Was ist hier los?«

Unvermittelt hielt der Fahrstuhl im sechsten Stockwerk an. Die Türen glitten auf und Sandra trat nicht etwa vor. Nein, sie zog sich so weit zurück, dass sie die Wand im Rücken spürte. Nach dem Erlebnis in ihrer Wohnung wollte sie nur noch raus.

»Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr.« Waberte eine leise flüsternde Stimme um sie herum. Mal klang sie näher, mal weiter entfernt.

Das Herz drohte ihr aus der Brust zu springen. Es trommelte so wild, dass sie genau spürte, wie es gegen den Brustkorb hämmerte. Ohne ihr Zutun schritt sie ungewollt in den Hausflur, als würde sie jemand aus der Kabine schieben. Im sechsten Stock hatte sie mit Norman gewohnt, bevor sie mit Josefina schwanger geworden war. Ihr Blick glitt automatisch zu der Tür, hinter der sie vier Jahre mit ihrem geliebten Mann verbracht hatte. Und dann geschah etwas, das sie sich nicht erklären konnte. Die Tür öffnete sich wie von Geisterhand. Gänsehaut überrollte Sandra wie eine Schneelawine. Wieder hörte sie Stimmen. Ein Lachen, Glück und Freude, die sie längst verlernt hatte. Sie stellte den Koffer ab und schlich auf Zehenspitzen näher heran, um nachzusehen, wer so vergnügt war.

»Sandra, Liebe meines Lebens. Du bist der Honig auf meinem goldgerösteten Toast.«

Das war eindeutig Normans Stimme. Und das darauf folgende glucksende Lachen war ihr Eigenes. Tränen sammelten sich auf ihrer Wasserlinie. Sie wischte sie fort und betrat ihre ehemalige Wohnung. Es duftete nach frischem Flieder. Den hatte Norman ihr immer mitgebracht. Heimlich hatte er ihn am Wegesrand gepflückt, nur weil er wusste, dass sie Flieder liebte.

Und dann sah sie die spärliche Einrichtung. Sie hatten nicht viel, aber sie hatten einander und das war mehr wert als alles andere. Je näher Sandra ihnen kam, umso unschärfer wurde das Bild. Plötzlich sah sie, wie Norman Josefina wickelte, wie er sich am Essen erfreute, das Sandra ihm gekocht hatte, und dann verfinsterte sich das Glück. Sie sah, wie die Krankheit ihn gepackt und ausgemergelt hatte. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Er lag im Krankenbett, eine Schwester huschte durch das Bild. Ihr jüngeres Ich saß auf einem Stuhl neben ihrem Mann und hielt seine Hand. Raffael war da. Und dann sah sie Josefina. Nur kurz, aber sie war an jenem schicksalhaften Tag im Krankenhaus gewesen.

Warum hatte sie diese Erinnerung verdrängt?

Raffael nahm die andere Hand seines Vaters, und während er an Maschinen angeschlossen röchelnd seinen Kopf zu Sandra drehte, die wie ein Häufchen Elend an seiner Seite blieb, komme was wolle, hörte sie sich unter Tränen sagen: »Ich kann nicht mehr.«

Als hätte Norman nur darauf gewartet, dass sie diese Worte aussprach, drehte er den Kopf wieder zurück, sodass er an die Decke blickte, und schloss die Augen. In dieser Sekunde war er gegangen, aber noch jemand ging auf eine andere Art. Es war Josefina, die ihre Mutter mit Entsetzen ansah. Ihre Augen waren weit geöffnet und die Mundwinkel zuckten, als wolle sie etwas sagen. Doch sie schwieg und ging. Mit ihr verschwand auch das Bild, das Sandra umgab, und einzig kalte, weiße Wände blieben zurück.

Sandra stockte der Atem. Sie durfte nicht daran zurückdenken, und doch war diese schmerzhafte Erinnerung aufschlussreich, denn nun ahnte sie, warum Josefina ihr die Schuld an Normans Tod gab. Sie hatte ihn unbewusst freigegeben und ihre Tochter hatte nur diesen einzigen Augenblick miterlebt.

Ihr Herz pumpte das Blut so schnell durch den Körper, dass sie es in den Ohren rauschen hörte. Wankend stützte sie sich an der Wand ab. Mit größter Vorsicht ging sie leicht in die Knie, um ihren Koffer zu erreichen. Am liebsten hätte sie dem Gefühl der Ohnmacht einfach nachgegeben und sich dem Schicksal des Hauses angeschlossen. Doch da waren Raffael und ihr kleiner Enkel Finn, der sich darauf freute, mit seiner Oma zu spielen, wann immer er wollte. Sie durfte nicht aufgeben. So mobilisierte sie die ihr verbliebene Kraft, um die Schritte zum Fahrstuhl zu bewältigen. Mit angehaltenem Atem tat sie einen Schritt nach dem anderen, stützte sich an der Wand ab und erlaubte sich erst wieder zu atmen, als sie in der Fahrstuhlkabine stand. Sandra betätigte erneut den Knopf für das Erdgeschoss, hielt den Koffer mit beiden Händen fest und betete, dass die Tür erst an ihrem Zielort aufgehen würde.

Die Sekunden zogen sich wie Kaugummi. Stockwerk um Stockwerk banger Momente geißelten Sandra. Sie wollte nur noch hier raus, das Haus und all seine Echos hinter sich lassen und in ein neues Leben treten.

Und schließlich näherte sich der Aufzug dem untersten Stockwerk. Die Türen glitten auf und sie stieg aus. Frische Oktoberluft schlug Sanda entgegen, als sie die große Glastür aufzog, um hinauszutreten.

Zu ihrem Erstaunen wurde sie von einem Feuerwehrmann in Empfang genommen, der sie in die Richtung des Parkplatzes geleitete.

»Warum waren Sie denn noch da drin? Sie wissen schon, dass das Gebäude abgerissen wird, oder?«

»Ich musste Abschied nehmen«, erwiderte sie.

»Verstehe. Das tut mir leid«, beteuerte er. »Sind Sie zufällig Frau Kruse aus dem zwölften Stock?«

Verdutzt blieb Sandra stehen. »Ja, kennen wir uns?«

»Sie waren mit meiner Mutter jeden Samstag verabredet«, erwiderte er und hielt sie an, weiterzugehen.

Tränen sammelten sich in ihren Augen. »Dann sind Sie Kevin, Marthas Junge?«

»Sie haben meiner Mutter wundervolle Jahre bereitet. Danke dafür. Ich weiß nicht, ob das noch zu toppen ist. Übrigens werden Sie erwartet.«

»Erwartet? Mein Sohn Raffael? Ich hatte ihm doch gesagt, dass ich ein Taxi nehme«, murmelte sie.

Er lächelte nur und nickte in die Richtung des Parkplatzes.

Als Sandra erkannte, wer dort stand, dachte sie erst, sie wäre im sechsten Stock doch ohnmächtig geworden und würde nun träumen. Niemand Geringeres als Josefina stand da und kam mit einem breiten Lächeln auf sie zu. Sandra schluchzte.

Kevin räusperte sich. »Sie hat sich große Sorgen gemacht, weil Sie nicht rauskamen. Und dann bat sie mich, nach Ihnen zu sehen.«

Sandra blendete alles aus. Die Menschen, die Siedlung, auch Kevin. Sie sah nur Josefina, die mit immer größeren Schritten und ausgebreiteten Armen weinend auf sie zuhielt.

»Mama«, rief sie mit unsicherer Stimme.

»Josi«, schluchzte Sandra ihr entgegen.

»Es tut mir leid«, begann sie. »Ich habe lange mit Raffael geredet. Du warst immer an Papas Seite und er musste gehen. Er hatte keine Wahl. Es tut mir so leid.«

Sandra verfiel in ein heftiges Schluchzen. »Mir auch. Ich hätte all die schlimmen Dinge nicht zu dir sagen dürfen.«

Josefina betrachtete ihre Mutter eingehend. Dann sagte sie: »Ich auch nicht. Raffael sagte, dass du meinen Brief nie gelesen hast.«

Der Brief. Ob es Feigheit war oder vielleicht Selbstschutz? »Ich habe mich nicht getraut.«

Josefinas Mundwinkel zuckte. »Das ist besser so. Bitte vernichte ihn. Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe.«

Nun hatten es Sandras Tränen sehr eilig. Sie rannen die Wangen hinunter und tropften auf ihre Brust. Noch während sie in ihrer Jackentasche nach einem Taschentuch suchte, wurde sie von Josefina so fest in den Arm genommen, dass Sandra beinahe der Atem wegblieb. Aber das war gut so. Sie konnte den Schmerz ihrer Tochter fühlen und den Mut, auf sie zuzugehen. Oft hatte sie sich vorgestellt, dass Josi genau das tun würde. Nie im Leben hatte sie aber damit gerechnet, dass dies eines Tages zur Realität werden würde.

»Ich liebe dich, mein Kind.«

»Ich dich auch, Mama.«

Während die beiden schluchzend dastanden, spürte Sandra, wie sich eine unsichtbare Last von ihrem Herzen löste. Tief in ihrer Seele verankerte sich dieses klitzekleine Gefühl namens Glück. Es trieb sofort Wurzeln und brachte all die Farbe, die sie verloren geglaubt hatte, zurück in ihren Geist. Jetzt war sie sich sicher, dass die Zukunft noch viele schöne Dinge für sie parat hielt.

Josefine nahm den Koffer an sich und reichte ihr den Arm, unter dem sich Sandra mit aller Liebe einhakte. Gemeinsam traten sie im Gleichschritt in ein neues Leben, frei von alten Lasten, denn diese würden mit dem Gebäude zu Staub werden.

 

ENDE

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Publication Date: 05-15-2025

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