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Hannah - Im Nebel sieht man keine Tränen

Dichter Nebel liegt über der Stadt. Jedes Geräusch wird förmlich aufgesogen, selbst das Mitternachtsläuten vom nahe gelegenen Glockenturm ist kaum zu hören und wird von der beinahe undurchsichtigen Wattewand verschluckt. Die Welt scheint wie ein unfertiges Bild – als hätte ein Maler einfach keine Lust mehr gehabt und alles bis auf den Mittelpunkt weiß gelassen.

 

Aus der grauen Undurchdringlichkeit schält sich eine zart wirkende Gestalt. Mühselig schleppt sie sich die schmale Brücke hinauf, die hier in einem sanften Bogen den schmalen Strom überspannt und die beiden Stadtteile miteinander verbindet. Bei jedem Schritt schiebt sie ihre Hand auf der Brüstung weiter und streift zwischendurch über jede einzelne der Streben, die das Geländer halten. Tonlos formen ihre Lippen Worte, fast mechanisch zählt sie mit.

 

Dreizehn, vierzehn, fünfzehn.“

 

Neunundzwanzig dieser Verankerungen hat die Brücke, die fünfzehnte ist somit genau die Mitte und zugleich die Höchste. Mehrere Meter unter dem Punkt, an dem Hannah jetzt steht, murmelt der Fluss leise sein niemals endendes Lied. Heute klingt selbst das sonst laute Gurgeln eher dumpf, als ob die Stille dieser grauen Nacht durch nichts durchbrochen werden soll.

 

Sinnend blickt sie nach unten. Irgendwo dort in der Tiefe muss er liegen – ihr Ehering, den sie vor ziemlich genau drei Jahren voller Wut vom Finger gezogen und in hohem Bogen in das ewig strömende Wasser geschleudert hat.

 

Ein bitteres Lachen steigt in ihrer Kehle hoch und sucht sich seinen Weg nach außen. Töne, die an das gequälte Jaulen eines getretenen Tieres erinnern, werden hörbar und doch von der Nebelwand ebenso verschluckt wie der Rest der Welt.

 

Resigniert zuckt Hannah die Schultern. Wie oft hat sie sich früher die Freiheit gewünscht und jetzt, wo sie diese endlich hat, weiß sie nicht wirklich, was sie damit anfangen soll. Seit drei Jahren ist nichts mehr so, wie es einmal war, und die Erinnerungen an ihr verpfuschtes Leben lassen sie keine einzige Nacht mehr schlafen. Sämtliche Therapien haben bis jetzt versagt, Medikamente helfen nur kurzfristig, wenn überhaupt. Was würde ihr Arzt jetzt sagen?

 

Schreiben Sie es auf, Hannah, ohne dass es irgendwelche Preise für Stil oder sonst etwas gewinnt. Reden Sie sich den ganzen Mist schriftlich von der Seele, das hilft.“

 

Und genau das ist es eben. Sie kann es nicht zu Papier bringen, sie ist ja kaum in der Lage, darüber zu reden. Nur das Gedankenkarussell dreht sich – jeden Tag und jede Nacht. Vierundzwanzig Stunden, eintausendvierhundertundvierzig Minuten oder eben sechsundachtzigtausendvierhundert Sekunden. Jeden Tag! Immer! Ohne Pause!

 

Hannah umklammert das Geländer der Brücke derart fest, dass ihre Knöchel weiß hervortreten. Am liebsten würde sie mit dem Kopf auf Selbiges schlagen, doch selbst dazu fehlt ihr im Moment der Antrieb. Stattdessen starrt sie in die Ferne, in dieses undurchdringliche, alles verhüllende Grau. Die Erinnerungen kommen mit Macht hoch und ihre Gedanken wandern zurück. Überall hin in ihre Vergangenheit. Es ist, als würde dieses unvollendete Bild, das der Nebel malt, die perfekte Leinwand für einen Film bieten, den Film eines Lebens – ihres Lebens.

 

***

 

„Haaannaaah! Verdammt, wo steckst du bloß wieder? Wenn du nicht gleich hier bist, dann …!“

 

Hannahs Mutter vollendete den Satz nicht und die Gerufene zog sich die Wolldecke über die Ohren. Sie versuchte, die Stimme einfach zu ignorieren. In der Abseite neben ihrem Zimmer fühlte sie sich sicher. Hier hatte sie einen Rückzugsort gefunden, den keiner kannte. Lauter alte Tücher und sonstige ausrangierte Sachen lagerten dort und es war staubig, doch Hannah hatte bereits vor mehr als einem Jahr entdeckt, dass man es sich zwischen all dem Kram richtig gemütlich machen konnte, vor allem, wenn man seine Ruhe haben wollte.

 

Hannahs Gesicht verzog sich resigniert. Trotz ihrer erst acht Jahre hatte sie die Mutter schon viel zu oft in der Art erlebt wie heute. Sie wusste zwar nicht, was ihr genau fehlte, doch sie merkte mittlerweile bereits bei der Begrüßung am Morgen, ob es ein guter oder ein schlechter Tag werden würde. Heute war es eher ein ziemlich mieser, und eben deshalb hatte sie sich so schnell wie möglich in ihr Geheimversteck zurückgezogen. Mochte die Mama ruhig rufen, sie würde erst zu ihr gehen, wenn jene sich eine Weile hingelegt und ausgeruht hatte. Danach ging es ihr meistens sehr viel besser und manchmal, aber wirklich nur ganz selten, spielte sie hinterher ein wenig mit Hannah.

 

„Zum Kuckuck, Hannah, komm endlich her! Soll ich deinem Vater verraten, dass du dauernd verschwindest und mir nie gehorchst? Was glaubst du, was der wohl mit dir macht? Also los, komm jetzt, ich zähle bis drei!“

 

Die Stimme der Rufenden klang plötzlich schriller und über Hannahs Arme flog trotz der drückenden Schwüle unterm Dach eine deutliche Gänsehaut. Der Papa. Er würde sie bestimmt schlagen, wenn die Mama ihm das wirklich erzählte.

 

„Eins!“, schallte es von unten herauf.

 

Es klang zwar mühsam

Imprint

Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Text: Sämtliche Rechte liegen bei der Autorin
Images: www.pixabay.com
Publication Date: 08-13-2016
ISBN: 978-3-7396-6893-2

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Sämtliche Personen und Handlungen in diesem Buch sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind somit rein zufällig und nicht beabsichtigt. Dieses Buch, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung der Autorin nicht vervielfältigt oder weiterverbreitet werden.

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