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Leseprobe

Herman Melville

Jimmy Rose

Vor einiger Zeit – wie lange es her ist, darauf kommt es nicht genau an – zog ich als alter Mann vom Lande in die Stadt zurück, wo ich ganz überraschend ein großes altes Haus geerbt hatte. Es lag in einer engen Straße eines der unteren Stadtviertel, die einst der Mittelpunkt des eleganten, vornehmen Lebens gewesen waren, voll heiterer Salons und Brautgemächer; heute sind sie größtenteils in Lagerhäuser und Kontore verwandelt. Warenballen und Kassenschalter haben den Platz der Sofas eingenommen, Kassenbücher und Hauptbücher breiten sich aus, wo einst köstlicher Frühstückstoast gestrichen wurde. Vorüber sind in diesen alten Vierteln die glorreichen Tage der mürben Waffeln.

Als Denkmal vergangener Zeiten war seltsamerweise mein altes Haus trotz alledem erhalten geblieben. Auch war es nicht das einzige seiner Art. Mitten in den Lagerhausreihen standen auch noch ein paar andere Wohnhäuser. Die Verwandlung der Straße hatte sich noch nicht ganz vollzogen. Gleich jenen alten englischen Mönchen und Nonnen, die noch lange die Ruinen ihres zerstörten Zufluchtsorts bewohnten, verweilten noch einige wenige seltsame alte Herren und Damen in der Nachbarschaft, wollten nicht, konnten nicht, brachten es nicht fertig, sie zu verlassen. Und ich dachte, wenn eines Frühlings meine eigenen weißen Haare und mein Spazierstock mit dem weißen Elfenbeinknopf aus meinem weißblühenden Obstgarten auftauchten und ihre unsicheren Gemüter noch unsicherer machten, würden die armen, alten Seelen sich verrückterweise einbilden, das Viertel blühe wieder auf – die Flut des eleganten Lebens kehre zurück.

Seit vielen Jahren hatte keiner der Eigentümer mehr in dem alten Hause gewohnt. Von Zeit zu Zeit war es in andere Hände gekommen und sehr verschiedenen, wechselnden Mietern überlassen worden, heruntergekommenen alten Städtern, geheimnisvollen Einsiedlern oder umherziehenden, zweifelhaft aussehenden Fremden.

Das Äußere hatte man billig neu aufgeputzt. So war ein schöner alter, kanzelartiger, den Aufgang von sechs Steinstufen krönender Portikus entfernt und durch ein breitrandiges, das Ganze überschattendes Schalldach ersetzt worden, wie man auch an Stelle der ursprünglichen schweren Fensterladen (jeder in seinem oberen Teil von einem Halbmond durchbrochen, um an heißen Julimorgen in die sonst verschlossenen Räume ein orientalisches Licht wie Mondschimmer einzulassen) plundrige Jalousien angebracht hatte. Während daher die Hausfront einen uneinheitlichen Anblick gewährte, als vertrage sich das aufgepfropfte Neue nicht gut mit dem alten Stamm, hatte ich innen, was auch dem Äußeren geschehen sein mochte, wenig oder nichts geändert. Die Keller waren voll großer, finsterer, gewölbter Behälter aus geschwärzten Ziegeln, die wie alte Templerhäuser aussahen; darüber erblickte man die Balken des ersten Stockwerks, riesig, viereckig und massiv, ganz aus roter Eiche. Die

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Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Publication Date: 02-08-2015
ISBN: 978-3-7368-7663-7

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