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Kapitel 1

 

Ich torkelte die Straße entlang. Unterdrückte den Reiz, zu würgen. Dieses Mal hätte ich wirklich weniger trinken können.

Als ich über einen leicht erhobenen Pflasterstein stolperte, fluchte ich und zog mir meine High Heels aus. Zwar hüpfte ich am Anfang noch etwas unbeholfen auf einem Bein herum, doch am Ende schaffte ich es, die drückenden Schuhe auszuziehen. Die spitzen Steinchen auf dem Gehweg bohrten sich mir in die Fußsohlen.

Das Straßenlicht war gedimmt und beschien kaum die leeren Straßen der Stadt. Schmale Lichkegel beleuchteten in viel zu großen Abständen den Fusgängerweg, der zwischen den Läden führte. Tagsüber waren sie überfüllt, nachts jedoch tummelten nur selten Personen über diese Straße. Meist nur Clubbesucher – wie ich.

Der Mond erhellte die dunkelsten Ecken grade noch genug, dass man sehen konnte, welche Ungeziefer dort rumschlichen. Ich war beinahe allein, nur eine Sauftruppe lief gröllend und lüsternde Blicke zuwerfend an mir vorbei.

Dann stolperte ich wieder allein weiter.

Durch einen kühlen Luftzug fröstelten meine Beine, die in einem kurzen Rock steckten. Meine Arme schlangen sich wie von selbst um mich und ich fluchte erneut, als mir einer der Schuhe aus der Hand fiel. Das heute war eindeutig zu viel gewesen. Doch wer hätte gedacht, dass der Abend so enden würde.

Eigentlich hatten wir zu fünft vorgehabt, ins „Cream“ zu gehen und unseren Abschluss zu feiern. Meine zwei Kumpels, meine beste Freundin, mein fester Freund und ich. Immerhin beendet man nicht jeden Tag das College. Der Club war glücklicherweise nicht so voll gewesen, wie wir es erwartet hatten. Die meisten, die ebenfalls ihren Abschluss in der Tasche hatten (oder auch nicht), gingen normalerweise ins „Club 97“. Wir allerdings hatten besser nachgedacht und vorgesorgt und sind in einen eher nobleren Club gegangen, der, wie erhofft, nicht von zu vielen tanzenden Beinen gefüllt war. Trotzdem war es da voller gewesen als sonst auch.

Doch so nobel wie der Club war, war der heutige Abend aber ganz und gar nicht verlaufen.

Es gibt viele Dinge, die einen enttäuschen und ekeln können, aber so angewidert vor Entsetzen wie an diesem Abend, war ich in meinem ganzen Leben noch nie gewesen. Und zweiundzwanzig Jahre waren nicht gerade eine kurze Zeit.

Ich hatte es niemals geahnt, hätte es niemals ahnen können, doch Brad hatte es bestätigt. Zoe und Nick hatten schon seit Längerem eine Affäre und ich musste es ausgerechnet so rauskriegen. Seine beste Freundin und seinen festen Freund knutschend und über einander herfallend auf dem Mädchenklo zu finden, war nicht gerade die schonendste Art, jemanden zu zeigen, wie egal einem die persönlichen Gefühle waren.

Dafür, dass Brad es mir nicht früher verraten hatte, bekam er eine Schelle. Zoe und Nick hatten es jedoch nicht einmal verdient, dass ich sie anfasste. Ich konnte ihnen nicht mal mehr ins Gesicht sehen.

Verräterische Tränen stahlen sich aus meinen Augenwinkel. Wütend wischte ich sie weg und stampfte weiter.

Vielleicht hätte ich mir ein Taxi besorgen sollen. Wäre schneller gewesen als diese halbe Stunde barfuß zu der WG zu laufen, die mich sowieso nur an die zwei Verräter erinnern würde, da wir alle in der selben Wohnung lebten.

Ich fühlte mich total armsehlig. Ich fragte mich, ob sie es mir überhaupt irgendwann hätten erzählen wollen, irgendwie beibringen, dass da so etwas wie eine Dreiecksbezuehung lief.

So etwas nannte man Freunde, zog sie in sein Leben und vertraute ihnen. Wenn ich erstmal zu Hause ankam, würde ich meine Sachen packen und am nächsten Tag davongehen. Keine Ahnung, wohin, nur weg von ihnen. Weg von diesen hirnlosen Idioten.

So viel Zeit meines Lebens hatte ich mit ihnen verbracht und sie hatten mich von Anfang an betrogen. Eigentlich hätte ich es wissen müssen, als mir beide, angeblich spaßhalber, vorschlugen, zusammen einen Dreier zu machen. Ich machte es damals als Spaß ab und kam nicht mal auf den Gedanken, dass da etwas zwischen beiden laufen könnte. Kaum dass Nick und ich, nach nur zwei Wochen Bekanntschaft, zusammen kamen.

Nur: Wo sollte ich hin? Zu meinen Eltern? Den Stiefpenner interessierte eh nur sein eigenes Kind, nicht sein Stiefkind.

Bleiben wollte ich nicht mehr, also blieb mir als einzige Möglichkeit, in einem Restaurant zu arbeiten als erste Abhilfe und in der Zwischenzeit eine richtige Arbeit zu suchen.

Doch wer würde mich auf eine qualifizierte Arbeit nehmen mit meinem Zeugnis? Es gab sicher Bessere als meine. Während des College hätte ich mich doch etwas mehr aufs Lernen konzentrieren müssen. Hätte mir eindeutig mehr gebracht als die verschwendete Zeit mit Nick und Zoe.

Noch in Gedanken versunken, huschte plötzlich eine kleine Frau an mir vorbei. Ganz verwirrt von ihrer Hektik schaute ich auf und verzog mein Gesicht, als mein rechter Fuß auf einen spitzen Stein trat. Ich drehte mich mit ihr um, da die dunkelblonde Frau zu humpeln schien. Sie wirkte verwirrt, ängstlich und eindeutig verletzt. Ich lief ihr hinterher.

„Brauchen Sie Hilfe?“, rief ich, während sie weiterhin versuchte, vor etwas davonzulaufen. Wenigstens konnte ich jetzt somit meine langen, qualvollen Medizinstunden vom College ausnutzen.

Doch die Frau ignorierte mich und lief weiter.

„Hallo?“, fragte ich und holte sie – dadurch, dass ich barfuß war, ebenfalls humpelnd – ein. „Kann ich Ihnen behilflich sein? Sie scheinen...“

Mit einer erstaunlichen Kraft, die ich bei einer so dünnen und verletzten Frau nicht erwartet hätte, zog sie mich energisch in eine schmale Lücke zwischen den Gebäuden und unterbrach mich somit.

„Kannst du nicht leise sein?“, fragte sie. Ihr Gesicht war vor Wut verzerrt und ihre Augen starrten mich unnatürlichen golden an. Mein Blick fiel auf ihr restliches Aussehen. Ihr hängendes weißes Top war voll mit Löchern, um die sich jeweils ein roter verkrusteter Ring gebildet hatte und durch ihre knielange Hose sah ich ihre aufgeschürften, blau gefleckten Beine.

Mir stockte der Atem. Was war mit ihr passiert?

„Wieso musst du denn so laut rumschreien?“, fuhr sie mich erneut an.

Ich zuckte zurück und ich bekam aufgrund ihrer schneidenden Stimme und ihren goldleuchtenden Augen eine Gänsehaut.

„Ich... Ich wollte nur behilflich sein“, stammelte ich und wich zu einer Hauswand zurück.

„Du ahnst nicht, wie behilflich du damit den Torres bist und nicht mir.“

Sie lief den schmalen Gang zwischen den Gebäuden hin und her.

„Es ist besser, wenn du einfach nur verschwindest“, murmelte sie.

Ich nickte, auch wenn ich wusste, dass sie es nicht sehen konnte, da sie mir den Rücken zugewandt hatte. Langsam bewegte ich meine starren Beine zurück auf den Fußgängerweg.

„Warte!“ Sie hielt mich mit einer Hand an meiner Schulter auf. „Vielleicht...“ Sie fing an, wieder etwas zu murmeln und ihr Blick fiel über mich.

„Zieh dich aus!“, befahl sie plötzlich.

Ich schüttelte verwirrt meinen Kopf. „Was?“

„Tausch mit mir die Kleidung!“ Sie fing an, sich ihr zerfetztes Top über den Kopf zu ziehen. Darunter erkannte ich einen ebenfalls zerfetzten, blutdurchtränkten BH. Von einer klaffenden Wunde war jedoch nichts zu sehen.

Ich konnte sie nur regungslos anstarren. Ich konnte nichts verstehen. Meine Gedanken spielten Buchstabensalat und ließen mich verzweifelt aussehen.

Mitten in der Bewegung hielt die Frau inne. „Oder...“ Sie schaute mich nachdenklich an und sah dabei so aus, als würde sie über eine lebensentscheidende Frage grübeln.

Dann murmelte sie: „Das ist es.“ Und dann immer lauter: „Das ist es!“ Jetzt drehte sie ihren rundlichen Kopf zu mir. Entschlossen schaute sie mich mit goldenen Augen an und ich fing an, ob durch den Alkohol oder durch ihren erschreckend aufdringlichen Blick, zu schwanken. Wenn das jetzt eine Entflohene aus der Psychatrie war frisch aus der Zwangsjacke, dann steckte ich in ernsthaften Schwierigkeiten.

Ich wollte mich bewegen, doch durch die Angst und durch den Schock war ich bewegungslos. Ich konnte nicht einmal meinen kleinen Finger bewegen.

„Versprich, dass du darauf aufpasst!“, sagte sie mir.

Ich starrte sie wie ein ängstliches Kaninchen weiterhin an.

„Versprich, dass du darauf aufpasst!“, wiederholte sie nun, diesmal eindringlicher.

Ich nickte mit Angst aufgerissenen Augen. Ich durfte bei dieser Verrückten mit den goldenen Augen nichts falsch machen, sonst würde das ein unschönes Ende nehmen.

„Es darf niemals in falsche Hände geraten! Und vor allem nicht den Torres!“

Ich nickte monoton, in der Hoffnung, sie würde mir glauben und gehen. Nach diesem Ereignis würde ich eindeutig die Polizei rufen, damit sie sie schnappten und zurück in ihre Zelle brachten.

„Ich vertraue es dir auch nur an, weil ich selbst keinen Ausweg mehr finde.“

Mein Mund war trocken und ich versuchte vergeblich, zu schlucken, um dem dicken Klos im Hals loszuwerden.

„Wenn du dein ganzes Leben Qualen gelitten hast und du weißt, es wird niemals aufhören: Dann ist es besser, aufzugeben.“

Plötzlich fing sie an, Wörter auf einer fremden Sprache zu murmeln. Ihr Kopf fiel nach hinten. Ich wollte nun gehen, doch meine Füße waren wie an den Boden festgeklebt.

Caeli et terrae, spiritu et cibum, unite. Hoc munus non tam mihi bonum, itaque hoc modo, ut permanere possint vivere in alio corpore, quod pretiosissimum donum immortalitatis et aurum de populo. Ut unquam in manibus erroneis.

Ich konnte jedes einzelne Wort hören, doch ich verstand kein einziges davon.

Und plötzlich, nach ihrem letzten Wort, fiel sie um. Ihre Augen rollten nach hinten, ihr Körper erschlaffte und sie fiel leblos zu Boden. Wie durch Reflex lösten sich mein Beinen vom Erdboden und ich sprang zu ihr rüber. Rüttelte an ihr.

Es hätte ein Hinterhalt gewesen sein könnte. Doch ich vergaß diesen Gedanken schnell. Denn so etwas konnte man nicht so echt spielen, einfach ohne Grund in Ohnmacht zu fallen.

Sie gab nicht das geringste Lebenszeichen von sich, als ich an ihr rüttelte. Ich öffnete ihre Augen etwas und schaute sie mir an, in der Hoffnung, vielleicht doch etwas Leben in ihnen zu sehen – und wich zurück. Sie waren nicht mehr gold. Sondern blau.

War dieses Gold davor etwa Einbildung gewesen? Von dem vielen Trinken?

Ich schüttelte meinen Kopf und suchte ihren Puls. Und suchte. Und suchte ihn wieder. Langsam fing ich an, durchzudrehen. Da war kein Puls! Weder am Handgelenk, noch am Hals!

Ich muss mich beruhigen. Ich bin eindeutig zu betrunken!

Ich trat den Rückzug an und lies sie dort liegen. Mit schnellen Schritten lief ich los und öffnete dann mir zittrigen Händen die Tür zur WG, die trotz später Stunde immer noch leer war. Das Zusammentreffen mit der Frau kam mir bereits jetzt schon vor wie ein schlechter Traum. Ich war mir nicht mehr sicher, ob es überhaupt echt gewesen war.

Schnell legte ich mich in mein Bett, lies die Nacht Nacht sein und versuchte so schnell wie möglich, einzuschlafen.

 

Als ich meine Augen aufschlug, kam mir alles ziemlich bizarr vor.

Die Ereignisse der letzten Nacht waren nur böse, durch den Alkohol ausgelöste Halluzinationen gewesen.

Das jedenfalls sagte ich mir, als ich plötzlich die vertraute Wärme neben mir spürte. Nick. Ich drehte mich schlaftrunken zu ihm um und beobachtete ihn beim Schlafen. Doch nach einer Weile, nachdem der Kater bei mir einschlug, realisierte ich, welchem Schwein ich gerade überhaupt ins Gesicht sah.

Ich nahm meine Kraft zusammen und drückte ihn aus meinem Bett. Mit einem dumpfen Aufschlag landete er auf dem Boden. Ein Stöhnen entwich sowohl ihm als auch mir, als die Kopfschmerzen sich durch diesen Kraftaufwand verschlimmerten.

„Was soll das?“, murmelte Nick, noch ganz verschlafen.

Ich hielt den Mund und fuhr mir mit meinen Händen durchs Gesicht.

Nur seltsame Halluzinationen, redete ich mir weiter ein.

Nick richtete sich auf und schaute mich mit seinem typischen Blick an, wenn er mal wieder nur so tat als sei er sauer. „Hey...“, fing er an.

Ich unterbrach ihn: „Halt den Rand und geh!“ Ich zog mir meine Decke über die Brust und hatte meine angeblichen Halluzinationen bereits wieder vergessen.

„Wieso? Ist was passiert?“, fragte er ahungslos und zog seine Stirn in Falten.

„Du und Zoe seid passiert!“, fuhr ich ihn wütend an. „Verschwinde, ich will dich nicht sehen!“

Zuerst wollte er etwas erwidern; dann schien er sich an gestern zu erinnern, wie ich sie auf dem Frauenklo erwischt hatte. War auch besonders schlau gewesen, ins Frauenklo zu gehen, wenn sie es auch im Männerklo hätten tun können, wo ich ihnen nie begegnet wäre.

Nicks Gesichtsausdruck änderte sich im Sekundentakt, bis er wohl die richtigen Worte gefunden hatte. Doch bevor er mir etwas sagen konnte, schaute ich ihm in die Schweinsaugen und wiederholte mein Gesagtes.

„Verschwinde!“

Er zuckte zusammen. Aber nicht bei meinen Worten, sondern als er mir in die Augen sah.

„Trägst du etwa Kontaktlinsen?“, fragte er schockiert.

„Rede keinen Scheiß, du Mistkerl, sondern verschwinde!“ Ich giftete ihn mit meinen Blicken an. „Sofort!“

Nick hielt sich die Hände vor den Körper, drehte sich um und sagte: „Schon gut, schon gut.“ Dann verschwand er in der Tür. Sie fiel in einem leisen Plumpsen zu.

Ich konnte Nick nicht ausstehen. Am liebsten würde ich die Tür hinter ihm zuknallen, damit es so richtig Krach machte. Und dann wieder und immer wieder.

Langsam stand ich auf und wollte mich auf den Weg zum Bad machen. Vielleicht konnte ich wenigstens da meine Ruhe genießen und mich reichlich ausheulen, dabei sogar meine Zimmertür und die des Badezimmers schön laut zuknallen lassen.

Auf dem Weg aus meinem Zimmer lief ich am Spiegel vorbei und sah aus dem Augenwinkel ein bekanntes, goldenes Leuchten. Ich lief zurück zum Spiegel, um mich nochmal anzuschauen.

Und schaute den goldenen Augen der Frau von gestern entgegen.

Kapitel 2

Fortsetzung folgt ... 

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Publication Date: 03-02-2016

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