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Prolog

 

Sein Atem ging schnell und unkontrolliert. Seit Stunden rannte er verzweifelt durch den verfluchten Wald, immer wieder hörte er etwas hinter sich, das ihn zusammenzucken lies.

Ein Heulen zerriss die Stille, die einzig und allein vom Stampfen seiner Füße unterbrochen wurde. Das sechste Heulen in den letzten zehn Minuten. Sie mussten schon ziemlich nah sein. Vielleicht wenige Meilen entfernt.

Seine Lungen zogen sich bei jedem Atemzug schmerzhaft zusammen.

Ich darf nicht stehen bleiben.

Ich muss weiter laufen.

Ich muss das Ende dieses Waldes finden.

Ein weiteres Heulen. Sie mussten noch näher sein, als er es vermutet hatte.

Sie.

Die Ungeheuer.

Man hatte ihm gesagt, er durfte nicht all zu tief in diese Wälder. Immer und immer wieder. Der Rugged Ept Forest war verflucht. Er schien vielleicht nicht sehr gefährlich zu sein mit seinen zerklüfteten Felsen, die immer mal wieder zwischen den Kiefern und Birken auftauchten, den moosigen Erdboden aufrissen. Aber diese Wälder waren gefährlich.

Jedem Kind hatte man in seinem Dorf die Geschichte der bösen Ungeheuer darin erzählt. Sobald die Kinder größer wurden, glaubten sie nicht mehr daran. Nur mit zunehmendem Alter erfuhren die Leute, dass das keine erfundenen Geschichten waren. Sie waren wahr. Allesamt. Vor allem die Geschichte, das bisher keiner, der tief genug eingedrungen in die Wälder war, je wieder zurückgekommen ist.

Wieder ein Heulen. Gleich darauf folgte das nächste. Sie hatten ihn bereits umzingelt. Er beschleunigte seinen Schritt, der Schnee unter seinen Füßen flog, während er den Bäumen auswich.

Er hatte die Leichen gesehen. Und das Blut. Die meisten Leichen waren beinahe verrottet, nur die Kälte hatte sie noch einigermaßen frisch gehalten.

Schneller.

Es war, als ob er sie bereits hören würde. Es waren mehrere. Sie hatten ihn umkreist.

Als er stolperte und mit dem Gesicht in die matschige, kalte Erde fiel, merkte er, dass es zu spät war. Er würde es nie schaffen.

Mühsam richtete er sich auf.

"Na kommt schon!", brüllte er. "Holt mich!"

Seine Brust hob sich in einem schnellen, unkontrollierten Rhythmus.

Da. Es raschelte hinter ihm. Schnell drehte er sich um. Er sah aber nichts und niemanden.

Nochmal ein Rascheln. Wieder drehte er sich und sah hinter ein paar dunklen Bäumen einen Schatten vorbeihuschen.

Es knurrte von rechts und er zuckte zusammen. Dieser Laut war näher gewesen als der vorherige.

Wieder ein Knurren direkt vor ihm aus einem Gebüsch. Rote, lauernde Augen blickten hindurch.

Plötzlich fing er an, verzweifelt mit den Armen zu fuchteln. Er wollte jetzt doch lieber weiter davonrennen. Und das versuchte er auch.

Es erschienen immer mehr Augenpaare, aus jeder Richtung.

Erneut knurrte es von rechts. Er rannte links weiter.

Und auf einmal schoss etwas aus dem Gebüsch hervor.

Er schrie.

Kapitel 1

 

Ich schreckte aus dem Schlaf hoch, als ein markerschütternder Schrei die nächtliche Stille zerriss. Und ich richtete mich auch nur deswegen sofort auf und polterte in meinem kurzen Nachthemd aus dem Bett, weil ich die Stimme erkannte, die hinter dieser Person steckte.

Granny.

Mit einem Schlag war ich hellwach und riss die Tür ins Wohnzimmer auf. Im Bett meiner Großmutter lag keiner mehr drin, stattdessen lag ihre Decke auf dem Boden. Die Tür war sperrangelweit geöffnet. Kalte Nachtluft strömte von draußen ins Haus.

Doch es war nicht nur die Kälte, durch den Wind zu mir herübergetragen, die mich erzittern ließ. Trotz der Dunkelheit, die nur durch das einstrahlende Licht des Vollmond durchbrochen wurde, konnte ich ganz deutlich das Blut auf der Decke sehen – und wenig später auch riechen.

Entsetzt schlug ich mir die Hände vor den Mund, um nicht loszuschreien. Wie erstarrt blickte ich auf das Bett mit meiner fehlenden Granny. Erst ein weiterer kühler Luftzug holte mich aus dieser Starre. Mein Blick fiel wieder auf die Tür.

Ohne mich noch länger aufzuhalten, rannte ich hinaus. Meine nackten Füße polterten über die Holzdielen. Sobald sie die kahle, nackte Erde erreichten, stolperte ich bereits über die ersten kleinen Steinchen, die sich mir in die Fußsohle bohrten. Schwankend richtete ich mich auf, fuhr mit meinen Händen durchs Gesicht und strich mir meine wirren, weißen Haare nach hinten.

Ich war nicht die Einzige, die von dem Schrei mitten in der Nacht aus dem Bett gezerrt wurde. Einige unserer Nachbarn standen genauso verwirrt vor ihrem Haus wie ich. Wild gestikulierend zeigten sie sich, was sie gesehen oder gehört hatten, ihre Stimmen verschwommen in ein einziges Durcheinander. Doch ich suchte nur Granny unter ihnen.

„Granny!“, rief ich und schaute mich entsetzt um. „Granny?“

Joe Johnson, ein vergreister Mann aus meiner Nachbarschaft, humpelte auf mich zu. „Was hast du gesehen?“, fragte er mich mit krächzender Stimme, schaute aber an mir vorbei in das weite Feld und die wenigen Büsche hinter dem letzten Haus unserer Stadt – meinem Haus.

Ich schüttelte nur den Kopf. „Gar nichts“, sagte ich. „Gar nichts!“

Eigentlich war Joe Johnson ein Mann, der zu jedem tröstende Worte zu sagen hatte, aber dieses Mal blieb er stumm.

„Ich habe nur Blut auf ihrer Decke gesehen … da war nicht sehr viel … aber es war da!“

Noch immer schüttelte ich meinen Kopf, verzweifelt wollte ich mit der Bewegung auch gar nicht mehr aufhören. Mein Atem ging schnell und unregelmäßig, sodass ich schon bald Seitenstechen spürte.

Ich lief einige Schritte in die Richtung, in die alle sahen, auf die große Wiese und dahinter der Wald, vor dem sich alle fürchteten, während immer mehr Menschen das Licht anmachten und sich aus ihren Häusern schlichen. Meine Füße bewegten sich wie von alleine diesen Weg entlang.

„Warte“, sagte Joe Johnson. „Geh nicht.“

In genau demselben Moment trat ich schon auf einen weiteren spitzen Stein und knickste beinahe um.

„Bleib da. Mein Enkel Dan ist schon hinterher gerannt.“

Ich drehte mich wieder langsam um. Kalter Wind peitschte mir ins Gesicht und ich schlang fröstelnd die Arme um mich. Zitternd trat ich von einem Bein aufs andere, während kalte Tränen meine Wangen hinunterliefen und sofort eine eisige Spur hinterließen.

„Wie konnte er Granny so schnell hinterher rennen? Habt ihr etwa gesehen, wie sie entführt wurde?“

Mit einem bemitleidendem Blick zog er seine ohnehin schon faltigen Brauen zusammen. „Hier, mein Kind, du frierst.“ Er zog seine braune Lederjacke aus, die genauso alt aussah wie Joe Johnsons Haut. „Du frierst.“

„Was habt ihr gesehen?“, rief ich hysterisch.

„Sachte, mein Kind. Zieh zuerst diese Jacke an, dann erzähl ich es dir.“ Er legte die Jacke einfach über meine Schultern und ich ließ ihn, einfach weil mir kalt war – oder lag es daran, dass ich vor Sorge über Granny erstarrt war?

Die Lederjacke hatte über all die Jahre, die Joe Johnson sie bereits trug, den Geruch von Schweiß, Wald und Zigarrenrauch in sich aufgenommen. Und als ich sie fester um meinen Körper zog und diesen Duft einatmete, fühlte ich mich sogleich Granny näher.

Aber sie war weg. Entführt. Und vielleicht sogar nicht mehr am Leben.

„Sachte.“ Er strich mir beruhigend über den Rücken. Diese Berührungen waren mir so vertraut. Er fühlte sich genauso an wie Granny. Auch er war Urgestein, war hier mit ihr aufgewachsen und hatte sogar erwachsene Urenkel. Wie Granny.

„Dan, Matthew und ich saßen hier, du weißt schon, wie jeden Abend, nur ist es diesmal länger geworden. Schau, in wenigen Stunden geht sogar schon die Sonne auf.“

Er streckte seine Hand nach seiner Jacke auf mir aus, griff mit seinen faltigen, sonnengebräunten Händen in die Jackentasche und holte eine Zigarre und Streichhölzer heraus.

„Bitte, Joe Johnson! Was ist dann passiert?“ Auf den Zehen hin und her wippend, flehte ich ihn an, meine Stimme war ein leises Wimmern. „Sag schon!“

„Psst!“ Er steckte sich seine Zigarre in den Mund. „Lass mich erst diese hier anmachen.“

Verzweifelt und hoffnungslos hüpfte ich auf der Stelle. Meine Zehen spürte ich vor Kälte schon gar nicht mehr, dafür brannten aber meine Wangen und die salzigen, eisigen Spuren darauf.

Joe Johnson hatte es endlich geschafft, seine Zigarre anzuzünden und er nahm einen tiefen Zug. Erst als er seufzend den Rauch wieder hinaus blies, wagte er es, zu sprechen.

„Wir haben nicht gesehen, wie jemand zu euch reingekommen ist. Wer weiß, vielleicht haben wir zu viel geraucht. Aber als Laurena, deine Großmutter, geschrien hat, ist einen Moment später auch jemand mit ihr über der Schulter los gerannt. Sie hat sich da nicht mehr bewegt.“

Wieder nahm Joe Johnson einen tiefen Zug und blies dann unabsichtlich den Rauch zu mir rüber. Ich hüstelte etwas, aber doch erinnerte mich dies an Granny und ich musste kaum merklich lächeln, obwohl abermals die Tränen liefen.

„Keine Ahnung, wer das war. Ich kenne diese Person nicht. Aber sie war männlich und sehr groß und sehr muskulös. Er hat sie weggetragen und ist dabei gerannt, als ob der Teufel hinter ihm her wäre – was auch fast so war, denn Dan hatte die Jagd hinter ihm aufgenommen.“

Ich schluchzte. „Granny.“

Wieder zog Joe Johnson an seiner Zigarre. „Hoffentlich kommt Dan noch heil zurück.“

Mir die Tränen aus dem Gesicht streifend fragte ich: „Was soll das heißen? Du glaubst also nicht mehr, dass Granny lebt?“

Verurteilend sah ich ihn aus zusammengekniffenen, tränenden Augen an, aber er sagte nichts, sondern schien nur an mir vorbei in die Ferne zu blicken.

Ein weiterer Schluchzer entwich mir und fast brach ich auf dem Boden zusammen.

Matthews Stimme hörte ich kaum, als er den immer mehr werdenden Leuten erzählte, was er gesehen hatte. Einige wollten zu mir rüber laufen, doch Matthew hielt sie alle zurück.

Plötzlich erhellte sich das Gesicht von Joe Johnson und auch alle anderen verstummten plötzlich, als sie alle in eine Richtung sahen.

„Granny!“

Erwartungsvoll drehte ich mich um.

Dan kam völlig verschwitzt und ausgelaugt hinter unserer Hausecke hervor.

„Granny?“

Er war völlig außer Atem, aber er signalisierte mir, dass es hier keine Granny gab, indem er den Kopf schüttelte. Langsam kam er auf uns zu getrottet. Menschen, die ich in der Dunkelheit kaum erkannte, kamen auf ihn zugeströmt, selbst Joe Johnson ließ mich allein.

Eine Welt brach für mich zusammen. Granny war weg. Die einzige Familie, die ich besessen hatte, war mir entrissen worden. Und jetzt war ich vollkommen alleine.

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Publication Date: 10-07-2015

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