Wahrheit, Glück und andere Illusionen
Erzählungen und Märchen (für Erwachsene)
von
Dietmar Langberg
Inhalt
Harlekins dunkle Arbeit
Bernd und Sarah
Aus den Protokollen des Instituts für Lebensplanung
Kein Abend wie sonst
Ein Missverständnis
Warten auf
Warum?
Philippa Marlow
Auf das Ende zu
Soll man mich auf den Mist werfen
Eine Nacht im Dezember
Napfkuchen, Rotwein und Theater
Hoffnung, Liebe, Hass
Manchmal geht die Wahrheit unter, sie ertrinkt aber nie
Der Garten der Tiere
Das schlafende Glück
Ein kleiner Nachtrag
Über mich
Abbildungsnachweis
Harlekins dunkle Arbeit
Nur ein Traum
Ich heiße Konrad Heiden und bin Journalist. Geboren wurde ich in München, doch 1933 musste ich aus Deutschland fliehen. Ich stand ganz oben auf der Todesliste der neuen Machthaber. Seither lebe ich in New York, doch Deutschland lässt mich nicht los. Immer wieder träume ich den gleichen Traum:
In einen Saal mit Fahnen und Fackeln marschiert zu zackiger Blasmusik A. H. Er trägt ein Harlekin-Kostüm, wirft sich in Pose und beginnt zu reden: „Partei- und Volksgenossen! Schon lange Jahre führe ich einen erbarmungslosen Kampf gegen die Novemberverbrecher.“
Doch weiter kommt er nicht, ein Zwischenrufer fragt: „Warum bist du dann als erster, du Kämpfer, weggelaufen, als es an der Feldherren-Halle darauf ankam?“
Kreidebleich schreit A.H.: „Ruhe! Ich rede! Ich werde jede Verleumdung mit aller gebotenen Härte verfolgen.“ - „Huch, jetzt haben wir aber Angst“, kommt es aus der Menge zurück. - A. H. wird hysterisch: „Der nächste Zwischenrufer wird erschossen!“
Damit ging er zu weit, jemand fragt: „Du drohst uns, du Bettler?“ - A. H. weiß keine bessere Erwiderung als „Ich war nie ein Bettler.“ -„Weil du zu blöd zum Betteln warst“, wird er ausgelacht. Gegen das Lachen versucht sich A. H. ein letztes Mal zu verteidigen:
„Bald wird vielen das Lachen vergehen, darauf gebe ich mein Wort.“
„Das Wort eines Denunzianten und Kameradenhenkers“, schallt es zurück. „Halt endlich dein Maul, du Schulversager, Narr, Phantast, Obdachloser, Bettler, Faulenzer, Schmarotzer, Harlekin, Bohemien, Vagabund, Bandenführer.“ - A. H. stottert: „Ich … ich … ich...“ Er bricht ab, sieht hilfesuchend Columbine an, die nur die Schultern zuckt.
Es ist still geworden. Die schöne Germania schwebt herein. A. H. will die Stille für sich nutzen und ihr einen Papierblumenstrauß, den er aus seinem Kostüm zerrt, schenken, doch sie jagt ihn mit einer Nilpferdpeitsche unter großem Jubel aller Anwesenden aus dem Saal.
Dann wache ich auf und bin in unserer Wohnung in New York. Ich schaue in die Augen meiner besorgten Frau Erika, die mich fragt, ob ich wieder geträumt habe. Ich nicke bejahend. Sie will mir das Buch, das ich in der Hand halte, wegnehmen, da fällt mir ein, ich sollte doch etwas vorlesen wie jeden Mittwoch, wenn wir uns mit Gedichten, Liedern und Geschichten an die alte Heimat erinnern. Heute habe ich einen Band mit Gedichten von Mörike aus dem Regal genommen. Ich lese:
In der Frühe
Kein Schlaf noch kühlt das Auge mir,
Dort gehet schon der Tag herfür
An meinem Kammerfenster.
Erika unterbricht mich, sie will das Gedicht aus dem Gedächtnis zitieren:
Es wühlet mein verstörter Sinn
Noch zwischen Zweifeln her und hin
Und schaffet Nachtgespenster.
Dann hakt es, ich souffliere: „Ängste, quäle.“ Jetzt weiß Erika weiter:
Ängste, quäle
Dich nicht länger, meine Seele!
Freu dich! Schon sind da und dorten
Morgenglocken wach geworden.
Ich konnte Gedichte nie gut auswendig lernen, wenn ich nur an Schillers Glocke oder den Osterspaziergang von Goethe denke. - „Mörike – das war Deutschland“, seufzt Erika.
Wir sind davongekommen, unsere Geschichte hat ein happy end. Es war ein glücklicher Zufall, dass wir uns im Zug trafen. Lange saßen wir uns schweigend gegenüber, ehe mir Erika eine Zigarette anbot. Wir redeten, bis wir in Saarbrücken aus dem Zug stiegen. Das Saarland war damals noch frei. Erika war für mich keine Unbekannte, ich hatte mehrere ihrer Auftritte erlebt, doch persönlich kennengelernt hatten wir uns zuvor nicht.
„Spielst du mir was vor?“ fragt sie mich und reißt mich aus meinen Erinnerungen.
- „Wie wär's mit Schumann?“ - „Ich liebe Schumann.“
Wir fühlen eine große Sehnsucht, nicht nach Deutschland, aber uns fehlt die Sprache, die Dichtung, die Musik. Ich will nicht klagen, sondern meine Geschichte erzählen. Sie begann im Herbst 1930. Bei der Wahl zum Reichstag hatte die NSDAP 6,4 Millionen Stimmen und damit 107 Sitze gewonnen. Es war ein politisches Erdbeben, das auch in der Redaktion der „Frankfurter Zeitung“, für die ich arbeitete, zu spüren war,
Der Aufbruch
Heinrich Simon, er war damals um die 50 Jahre alt und Prokurist sowie Vorsitzender unserer Redaktionskonferenz, saß wie jeden Morgen in seinem Büro und las, was die Konkurenzblätter brachten. Eine Veröffentlichung elektrisierte ihn, er sprang auf und lief ins Vorzimmer, in dem seine Sekretärin Luise Mannig arbeitete. Er rief:
„Der junge Mann legt sich mit Stefan Zweig an. Aber er hat Recht. Man darf für diese Radikalen nicht zu viel Verständnis aufbringen.“
Die Mannig wusste zwar nicht, was ihr Chef meinte, aber sie war seine spontanen Ausbrüche gewöhnt. In diesem Moment kam ich herein. Ich wollte mit Heinrich Simon über eine Erhöhung meines Gehalts reden, doch ich kam nicht dazu. Er fragte mich, ob ich den Artikel in der „Vossischen“ schon gelesen hätte. Wie sollte ich? Ich war noch nicht einmal dazu gekommen, einen Kaffee zu trinken. Er zog mich in sein Büro und begann mir aus dem offenen Brief, denn das war der Artikel, vorzulesen:
„Zu viel Verständnis ist gefährlich. Wie kommen Sie dazu, das letzte Wahlergebnis als eine begrüßenswerte Revolte der Jugend zu bezeichnen? Die Nationalsozialisten radikalisieren sich. Aber in welche Richtung? Radikalismus an sich ist noch nichts Positives. Zwischen den Rittern vom Hakenkreuz und den meisten meiner Generation gibt es keine Verbindung. Die wären übrigens die ersten, die irgendeine Verbindung mit Knüppeln zerschlagen würden. Ich hoffe, dass sich die Mehrheit meines Jahrganges nicht für diesen hysterischen Nationalismus interessiert. Wäre es anders, wir müssten uns bis ins Innerste schämen.“'
'Gut gebrüllt Löwe', dachte ich, 'du kannst es wie Vater und Onkel'. Ich nutzte die Gelegenheit und schlug eine Artikelserie über A. H. vor. Zunächst war Heinrich Simon nicht sonderlich begeistert, hatte ich doch schon etliche Artikel über diese Radikalen geschrieben, aber jetzt wollte ich herausfinden, was ihr famoser Führer für einen familiären Hintergrund besaß, was er bis 1918 gelernt und gearbeitet hatte. Das überzeugte Simon, er schlug ein Interview vor. Darauf war ich selbst schon gekommen, aber bisher lehnte A. H. ein Interview ab. Mit einem Vertreter der „Lügenpresse“ rede er nicht und schon gar nicht über seinen Lebenslauf. Auf meine Bemerkung, der sei garantiert getürkt, wollte Simon mehr wissen und ich erzählte ihm vom Eisernen Kreuz, dem EK I. A. H. schwadronierte immer, er habe zusammen mit einem Soldaten namens Weiß im Herbst 1915 21 Franzosen gefangen genommen, und zwar mit einer List. Er sei so schlau gewesen zu behaupten, hinter ihm stünde eine ganze Kompanie mit schussbereiten Gewehren. Daraufhin hätten sich die Franzosen ergeben. Auch als sie merkten, dass nur zwei Gewehre auf sie gerichtet waren, dachten sie nicht an Widerstand. Für diese angebliche Heldentat zeichnete man ihn am 4. August 1918, also drei Jahre später, mit dem EK I aus. Was der Weiß bekam oder ob der 1918 überhaupt noch lebte, darüber schwieg sich unser Held aus.
- „Er war doch Meldegänger. Die bekamen nie das EK I“, wandte Simon ein, worauf ich antwortete: „Es kommt noch besser. Ein gewisser Hans Mend, Meldereiter beim 16. Bayerischen Reserveinfantrie-Regiment, verbeitet die Version, unser Held habe seine Tat 1918 vollbracht. Er sei in einem Schützengraben auf Franzosen gestoßen, die sich ihm ergeben hätten, weil hinter ihm eine deutsche Kompanie läge, eine Flucht sei aussichtslos. Diesmal sollen es zwölf Franzosen gewesen sein. Eine Geschichte, zwei Versionen.“
- „Welche soll nun Hanns Johst dramatisieren, welche Hanns Heinz Ewers für seinen nächsten Roman verwenden? Er macht es selbst seinen Leuten schwer“, spottete Heinrich Simon. Und er fragte: „Was ist an dem Gerücht dran, unser Superarier hat jüdische Vorfahren?“
Bis jetzt sei es nur ein Gerücht, antwortete ich, würde es sich bestätigen, wäre es wieder einmal der Beweis, dass der Wolfshund der ärgste Feind des Wolfes ist.
- „Etwas Hündisches hat der Kerl an sich“, sinnierte Simon, „er bellt seine Sätze heraus, geifert immer wieder die gleiche Rede: Hass, Hass, Hass.“
Damit gab er mir grünes Licht und 500 Mark für die Recherche frei. Bevor ich ging, wollte er noch das Ende von der Geschichte mit dem EK wissen. Wahrscheinlich hat er sich das Ding im nächsten Laden gekauft, vermutete ich, in der Chronik seines Regiments sei die angebliche Heldentat jedenfalls nicht vermerkt.
- „Und selbst wem das EK I oder der Pour le mérite verliehen wurde, kann ein Feigling sein“, bemerkte Simon dazu.
- „Der ist ein Feigling, der Mordwut gegen Wehrlose entfesselt“, bestätigte ich und ging ins Vorzimmer zu Fräulein Mannig.
Groß und schlank gewachsen, mit diesem verführerischen Schlafzimmerblick die Männer ansehend und mit einem hellen Verstand ausgestattet, arbeitete Luise seit einigen Wochen in unserer Redaktion als Sekretärin. Außerdem half sie manchmal als Fotografin aus. Muss ich erwähnen, dass sie mir außerordentlich gefiel? Während sie mir 500 Mark in kleinen Scheinen auszahlte, klingelte das Telefon. Sie nahm den Hörer ab und meldete sich: „Redaktionssekretariat der Frankfurter Zeitung. Mannig ist mein Name. Was wünschen Sie? Ja, der steht zufällig neben mir. Soll ich, verstehe, ich soll ihm nur etwas ausrichten. Ich notiere: morgen Nachmittag vier Uhr im Hofbräuhaus. Sie können sich darauf verlassen. Auf... Legt einfach auf.“ - „Das war für mich?“ fragte ich.
Sie bejahte und überraschte mich mit der Mitteilung, dass A. H. am nächsten Tag um vier Uhr nachmittags im Hofbräuhaus zu einem Interview zur Verfügung stehe. Ich wunderte mich nur kurz über seinen plötzlichen Sinneswandel. Die Mannig bot mir an, als Fotografin mitzukommen. Ihr Angebot nahm ich nur zu gern an. Sie besorgte die Karten für den Eilzug nach München, während ich noch einmal alles durchlas, was ich bisher über ihn recherchiert hatte.
Aug in Aug
Am nächsten Tag betraten wir Punkt vier Uhr das Hofbräuhaus. Er saß in einer Ecke zusammen mit einer Frau, die uns den Rücken zuwandte. Beide waren für einen Opernabend gekleidet. Luise wollte fotografieren, aber ein SA-Mann in Zivil verhinderte das. Er durchsuchte uns, ehe er uns weitergehen ließ. A. H. kam uns entgegen und entschuldigte sich für die Unannehmlichkeit der Durchsuchung, aber er müsse vorsichtig sein. Auf meine Frage, von wem er sich bedroht fühle, antwortete er nicht. Er sah mich starr an, offensichtlich wollte er mich einschüchtern, aber ich hielt seinem Blick stand, schließlich senkte er die Augen. Er sei schon sehr gespannt, den Mann kennenzulernen, der bereits so oft auf seinen Versammlungen gewesen sei, wenn ich auch noch nicht verstanden habe, was seine Mission sei. Darauf ging ich nicht weiter ein, sondern stellte Luise Mannig vor. Er begrüßte sie mit Handkuss und erwähnte seinen Leibfotografen Heinrich Hoffmann, von dem er sich nur fotografieren lasse, aber für eine reizende Dame mache er gern eine Ausnahme. Luise blieb kühl, machte einige Aufnahmen und setzte sich dann an den Nebentisch zu dem SA-Mann, der Kaffee für alle bestellt hatte. Das Interview, das Luise protokollierte, konnte beginnen.
Ich versuchte es gleich mit einer Frage nach seiner Familie und welchen Beruf er gelernt habe. - „Woher ich komme und aus welcher Familie ich stamme, hat niemanden zu interessieren. Ich beantworte keine diesbezüglichen Fragen. Halten Sie sich daran, sonst breche ich sofort ab.“
Das ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Ich war mir sicher, von anderen Menschen, die ihn vor 1918 kannten, die notwendigen Informationen zu bekommen. Ich wurde politisch: „Viele Kritiker werfen Ihnen vor, ein hysterischer Nationalist zu sein.“
Er lächelte betont müde, ehe er antwortete: „Hysterisch sind nur meine Gegner. Ich glaube einfach nicht an fremde Hilfe, die außerhalb unserer eignen Nation, unseres eignen Volkes liegt. In uns selbst allein liegt die Zukunft des deutschen Volkes. Nur durch eigene Arbeit, eigene Entschlossenheit und eigenen Fleiß werden wir als Nation wieder emporsteigen, genau wie die Väter einst Deutschland nicht geschenkt erhielten, sondern selbst sich erschaffen mussten.“
Das war für mich nichts Neues, so oder so ähnlich redete er oft in Veranstaltungen. - „Ihre politischen Gegner bezeichnen Sie und Ihre Partei als extremistisch und die ganze Bewegung sei unvereinbar mit der Demokratie“, machte ich weiter.
Seine lakonische Antwort: „Die Herren haben ganz Recht. Ich habe mir ein Ziel gestellt: nämlich die 30 Parteien aus Deutschland hinaus zu fegen.“
Bis jetzt ließ er sich nicht aus der Reserve locken, aber ich wusste, wie ich es machen musste. - „Ein Kernpunkt Ihres Programms ist ein radikaler Antisemitismus.“
Weiter kam ich nicht, denn er hakte sofort ein: „Ich bekämpfe das internationale Großkapital. Die Juden sind die Träger dieses Großkapitals, das uns Deutsche zu Knechten macht, uns die Schlinge um den Hals legt. Antisemitismus ist die natürliche Gegenwehr und unser Volk besitzt ihn, seitdem der Jude in Erscheinung trat und die Seele unseres Volkes vergiftete. Selbst das friderizianische Berlin ist durch die Juden zum Saustall geworden.“
Ich hatte ihn, wo ich ihn haben wollte: „Was würden Sie denn unternehmen, wenn Sie erst einmal an der Macht wären und die volle Aktionsfreiheit gegen die Juden besäßen?“
Er gab jede Zurückhaltung auf: „So bald ich die Macht dazu habe, werde ich zum Beispiel in München auf dem Marienplatz Galgen neben Galgen aufstellen lassen. Dann werden die Juden gehängt und sie bleiben hängen, bis sie stinken. So lange wie es nach den Gesetzen der Hygiene möglich ist, sobald man sie abgeknüpft hat, kommen die nächsten dran, und das geschieht so lange, bis der letzte Jude in München ausgetilgt ist. Genau so wird in anderen Städten verfahren, bis Deutschland vom letzten Juden gereinigt ist.“ Während er sprach, steigerte er sich hysterisch, beruhigte sich aber rasch. Ich beobachtete ihn wie ein Verhaltensforscher, was er natürlich merkte und was zu seiner schnellen Beruhigung beitrug. Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube, er ärgerte sich über sich selbst, schließlich sprach er nicht vor einer Masse, sondern wollte staatsmännisch erscheinen.
- „Sie sprechen oft davon, das deutsche Volk brauche mehr Lebensraum und der liege im Osten. Ist das nicht eine Kriegserklärung an die dortigen Staaten, vor allem an Polen und Sowjet-Russland?“ wollte ich dann von ihm wissen.
- „Diese Länder können nicht geschont werden“, führte er aus, jetzt den fürsorglichen Nationalökonomen gebend, „bei der notwendigen Arrondierung des Lebensraums im Osten. Wir haben einen Bedarf von 23 Millionen Tonnen Getreide pro Jahr. Eine Missernte von nur zehn Prozent macht also die Ernährung unseres Volkes schon für die Dauer eines Monats unsicher. Es ist nicht möglich, auf die Dauer unsere Nation auf 470.000 oder 570.000 Quadratkilometern ernähren zu können.“
Ehe ich eine weitere Frage stellen konnte, fügte er hinzu: „Die jetzt noch lachen, werden in einiger Zeit nicht mehr lachen. Ich werde als Phantast, als Narr verlacht. Allen diesen Idioten sage ich nur, ich behalte Recht mit meinem Glauben an eine deutsche Zukunft, an die Auferstehung des Deutschen Reiches und an die Beseitigung der Wirtschaftsnot. Ich habe Recht gehabt und ich werde auch für die Zukunft Recht behalten.“
- „Stichwort Zukunft. Die gehört der Jugend“, nahm ich den Faden auf.
- „Ich will keine intellektuelle Erziehung. Wissen verdirbt die Jugend. Aber Beherrschung muss sie lernen, Gehorsam. Die Zeit ist um. Keine weiteren Fragen mehr. Ich hoffe, Sie verdrehen mir nicht meine Aussagen.“
Er wirkte erschöpft, dabei hatten wir kaum mehr als eine halbe Stunde miteinander gesprochen. - „Ich habe noch eine Frage zu Ihrem Eisernen Kreuz“, aber er winkte ab, stand auf, verabschiedete sich von mir mit einem knappen Kopfnicken und von Luise mit einem Handkuss. Er ging zurück zum Tisch mit der Frau, die sich in der ganzen Zeit nicht einmal umgedreht hatte. Ihre Identität blieb mir aber nicht lange verborgen. Ich brauchte frische Luft und landete in einem verräucherten Kabarett.
Die Nacht war bunt
Luise und ich gingen vier Stufen hinab und betraten einen großen Raum, in dessen Mitte sich eine Bühne befand. Rund um die Bühnen standen Tische mit zwei oder vier Stühlen. Wir setzten uns an einen Zweiertisch links neben der Bühne. Luise frotzelte: „Sie und ein Nachtschwärmer, das überrascht mich.“ Auf meine Frage, ob ich denn so bieder auf sie wirke, lächelte sie nur. Ich bestellte uns eine Flasche Sekt. - „Bezahlen Sie oder geht das auf Spesen?“ wollte sie von mir wissen. Das gab mir die Möglichkeit zu einer Replik: „Privates und Berufliches vermische ich nie, da bin ich bieder.“
Wir konnten nicht weiterreden, Erika und ihr junger Pianist, offensichtlich ein Musikstudent, betraten die Bühne. Das war das erste Mal, dass ich meine spätere Frau sah. Nach ein paar Klavierakkorden begrüßte sie das Publikum:
„Guten Abend! Bon soir! Hallo! Ich danke Ihnen für Ihr zahlreiches Erscheinen. Sie werden es nicht bereuen. Heute werde ich wie immer von Max am Klavier begleitet. Sie wissen doch, wer Klavier spielt hat Glück bei den Frauen. Bei seinem Aussehen hätte es Max auch ohne Klavierspiel. Und wie immer beginne ich mit ein paar Lockerungsübungen für den Geist, für meinen und den Ihrigen, soweit vorhanden. Sie rufen mir einen Begriff zu und ich improvisiere einen Vers, ein Epigramm oder was mir sonst einfällt.“
Und schon rief Luise: „Journalist!“
- „Konnten Sie keinen anständigen Beruf ergreifen?“ fragte Erika und reimte, wofür sie viel Beifall erhielt:
„Die Zeitung ein Mittel,
um die Wahrheit zu künden?
Es gilt nur, zum knalligen Titel
eine Geschichte zu finden.“
So ging es eine Weile weiter, ich kann mich nicht mehr an alle Texte erinnern, nur der über das Vaterland blieb mir im Gedächtnis:
„Aus zwei Welten besteht das Vaterland,
die noch nie etwas miteinander verband,
und nie wird sie je was miteinander verbinden:
Wer hinten steht, wird nur den Nachteil finden.“
Ich war von Erikas Schlagfertigkeit fasziniert, wie sie alles auf den Punkt brachte. Luise stupste mich an, sie müsse mal für kleine Mädchen. Erika begann ein Chanson aus Offenbachs „Seufzerbrücke“ zu singen, in dem es um die Doppelmoral des Bürgertums ging, dem nur das Geld heilig ist, für das es stiehlt und mordet. Vom Eingang her war auf einmal Lärm zu hören. SA-Männer stürmten das Kabarett. Sie griffen die Gäste an, auch mich, zerstörten die Einrichtung und verschwanden. Ich hatte ganz schön was abgekommen und blutete aus einer Kopfwunde. Luise kam zurück. Mit dem Tuch aus dem Sektkübel tupfte sie mir das Blut ab. Wir gingen in unser Hotel. Ich erinnere mich erst an den nächsten Morgen. Wir lagen zusammen im Bett, doch passiert war nichts, glaube ich zumindest. Sie schlief noch. Ich hatte mich in sie verliebt. Mit fiel ein Gedicht ein, das ich ihr ins Ohr flüsterte:
„Sie schläft mit ihm“ ist ein gutes Wort.
Im Schlaf fließt das Dunkle zusammen.
Zwei sind eins. Es knistern die kleinen Flammen-
aber dein Atem fächelt immerfort.
Ich bin aus der Welt. Ich will nie wieder in sie zurück -
jetzt, wo du nicht bist, bist du ganz mein.
Morgens, im letzten Schlummer ein Stück,
kann ich dein Gefährte sein.“
Luise wachte auf und fragte mich: „Ist das von dir?“
- „Leider nicht. Ich entschuldige mich, dass ich.“ Sie legte mir ihre linke Hand auf den Mund. Ich strich ihr die Haare zur Seite, wir küssten und liebten uns. Dabei übernahm sie die Initiative. Sie saß auf mir und als sie sich erregte, keuchte sie immer wieder: „Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben?“. Schließlich beantwortete sie selbst ihre Frage und rief glücklich: „Ja, sie soll eins haben.“
Erst jetzt kam ich und stöhnte erleichtert: „So schön war es noch nie.“
- „Und deshalb verziehst du dein Gesicht?“ - „Nur wegen der blöden Kopfschmerzen.“
- „Du hättest mir jetzt nicht unbedingt deine Männlichkeit beweisen müssen, obwohl es war nicht übel.“ - „Mehr nicht?“ fragte ich enttäuscht. - „Pst. Willst du auch eine?“ Sie bot mir eine Zigarette an, aber ich lehnte ab. Seit drei Wochen versuchte ich mich als Nichtraucher. Sie zündete sich eine an, wir schwiegen eine Weile.
Mit der Frage, wann ihr Zug fahre, wurde ich dienstlich. Sie war sauer, als ich ihr sagte, dass sie allein nach Frankfurt zurückfahren müsse, ich bliebe noch in München, wo ich mit Geli Raubal verabredet war. Sie schien eifersüchtig zu sein, der Raubal wurde ein flotter Lebenswandel nachgesagt. Aber Luise störte es vor allem, dass sie an ihre Schreibmaschine zurückmusste. Ich erklärte ihr, dass meine Recherchen gefährlich werden könnten, der Überfall auf das Kabarett sei sicher kein Zufall gewesen. Die wussten sicher, dass ich dort war. Ich solle keine Gespenster sehen, wir seien nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Damit stand sie auf und wollte ins Bad gehen. Ich versuchte es mit einem Witz. - „Hitler hat Glück, dass er nicht Kräuter heißt, sonst müsste man ihn mit „Heil Kräuter!“ grüßen.“ Sie lachte nur kurz und ging ins Bad, um Wasser in die Wanne einzulassen. Ich wollte mit ihr zusammen baden, aber das war ihr zu intim.
Im goldenen Käfig
Ich klingelte drei Stunden später an der Wohnungstür mit dem Namensschild „Hoffmann“. Die Tür wurde nur einen Spalt geöffnet und die junge Frau dahinter fragte mich, ob ich Herr Heiden sei. Sie ließ sich auch meinen Ausweis zeigen, ehe sie mich herein bat. Sie entschuldigte sich für ihr Misstrauen und lud mich zu einem Tee ein, zu dem sie Kekse reichte. Das war also Geli Raubal, die Nichte von A. H., bei dem sie auch wohnte. Wir trafen uns in der Wohnung ihrer Freundin Henriette, der Tochter des Fotografen Heinrich Hoffmann. Scheinbar konnte sie ihrer Freundin vertrauen, denn das Treffen mit mir war für Geli nicht ohne Risiko. - „Eine schöne Wohnung“, begann ich das Gespräch.
- „Etwas klein, aber gemütlich“, entgegnete sie und lächelte mich an. - „Möchten Sie noch eine Tasse?“ Ich trank eine zweite Tasse, obwohl ich statt der Sahne lieber Zitrone hinein geträufelt hätte. Unvermittelt sagte sie: „Ich riskiere viel, dass ich mich mit Ihnen treffe. Mein Onkel darf davon nie etwas erfahren. Er hasst Journalisten wie Sie.“
Ich sicherte ihr meine Diskretion zu und wollte eine Frage stellen, doch schon redete sie weiter: „Bis vor einem Jahr war er mein Vormund. Jetzt bin ich zwar volljährig, aber er ist das Familienoberhaupt. Selbst meine Mutter, die sich sonst nicht die Butter vom Brot nehmen lässt, kuscht vor ihm.“ - „Das hört sich an, als seien Sie unfrei“, warf ich ein.
- „Auf Schritt und Tritt überwacht er mich. Ich lebe in seiner großen Wohnung wie in einem goldenen Käfig. Nur gut, dass er jetzt oft unterwegs ist zu irgendwelchen Kundgebungen.“ Sie atmete tief durch, offensichtlich wollte sie sich erst einmal etwas von der Seele reden. „Was verbindet Sie beide über Ihre Verwandtschaft hinaus?“ fragte ich sie schließlich.
- „Die Musik. Ich studiere Gesang bei Kapellmeister Adolf Vogl, werde aber demnächst zu Hans Streck wechseln. Übrigens hatte ich mal angefangen, Medizin zu studieren, war mir aber zu blutig.“ - „Das heißt ja, Sie haben Abitur gemacht“, war ich überrascht.
- „Matura heißt das bei uns. Ich war eines der ersten Mädchen in Österreich.“
Ich war beeindruckt und fragte weiter: „Zurück zur Musik. Lieben Sie wie Ihr Onkel Wagner und seine Musikdramen?“ - „Ich bin keine Wagnerianerin. Wagner, schön und gut, andere komponierten auch Musik, zum Beispiel Weber, Verdi oder Puccini. Die Italiener verachtet mein Onkel, er lässt nur deutsche Musik gelten, die moderne natürlich nicht.“ Sie machte eine kleine Pause und fügte hinzu: „Soll ich Ihnen etwas verraten? Mein Onkel liebt Wagner nur, weil seine Musik so laut ist.“ Sie schüttete sich vor Lachen aus.
- „Sie teilen also seine musikalischen Vorlieben nicht völlig. Und wie ist das mit seinen politischen Überzeugungen?“ Sie hatte sich ausgelacht und war wieder sehr ernsthaft.- „Ich interessiere mich nicht für Politik. Im August vor drei Jahren war ich mit meiner Mutter bei einem Parteitag in Nürnberg. Diese vielen Männer und dieser fürchterliche Lärm – von mir aus wäre ich nie dahin gefahren, aber er hatte uns eingeladen. Nur als er redete, empfand ich Stolz. Er kann wirklich die Massen begeistern. Wenn er sich doch nicht immer wieder in mein Leben einmischen würde.“
Was mache er denn, wollte ich wissen. Er spiele sich auf, als sei er ihr Vater. Keiner ihrer Freunde sei gut genug. Einen habe er sogar wegen ihr entlassen. Sie überlegte einen Moment, ob sie mir mehr erzählen sollte ehe sie sich dazu entschloss. - „Er heißt Emil Maurice und war sein Chauffeur. Ein schneidiger Mann in seiner schwarzen Uniform. Er gefiel mir sofort. Und dann machte er diesen Riesenfehler und erzählt dem Onkel, dass er mich heiraten will. Der war außer sich vor Wut und kündigte Emil fristlos.“
Sie schien sehr traurig zu sein, doch dann wischte sie alle Traurigkeit mit der Bemerkung weg, wer weiß wozu die Entlassung gut gewesen sei, immerhin habe sie sich nicht zu früh gebunden. Sicher werde sie noch manch interessanten Mann kennenlernen. Dabei sah sie mich herausfordernd an.
'Die hat es faustdick hinter den Ohren', dachte ich bei mir und stellte ihr die heikle Frage, ob ihr Onkel mehr als nur verwandtschaftliche Gefühle für sie empfinde. Sie schien sich die Frage auch schon gestellt zu haben, sie war nicht überrascht oder peinlich berührt.
- „Er betont zwar immer den Altersunterschied, doch wenn... Sie verstehen schon.“ Mehr wollte sie nicht dazu sagen, was ich akzeptierte. Sie drehte den Spieß um und fragte mich, ob ich A. H. schon persönlich begegnet sei. Ich erzählte ihr, dass er mir vor kurzem ein Interview gab. Sie wollte wissen, ob er von ihr erzählt habe, was ich verneinte.
- „Deshalb fragen Sie mich aus“, folgerte sie nicht zu Unrecht. Trotzdem beteuerte ich, dass mich in erster Linie der Homo politicus interessiere, private Facetten nur das Bild seiner Persönlichkeit ergänzten.
- „War es das jetzt?“ Sie wollte das Gespräch beenden. Ich dankte für ihre Offenheit und wollte gehen, als sie mich fragte: „Können Sie das spielen?“ Sie zeigte mir die Noten des Couplets „Mein Herr Marquis“ aus der „Fledermaus“ von Johann Strauß. Leichte Musik, die schwer zu spielen ist, aber ich packte es. Geli hatte einen leichten Sopran, der für Strauß geeigneter war als für Wagner, wie es sich ihr Onkel wünschte, der aus ihr unbedingt eine Wagner-Heroine machen wollte. Sie war zufrieden: „Immerhin klappte die erste Strophe schon ganz gut, der Text von der zweiten sitzt noch nicht hundertprozentig. Aber Sie waren richtig gut.“
Ich freute mich über ihr Lob und wünschte ihr für Ihre Karriere Glück. Ich ging und war mir sicher, dass wir uns bald wiedersehen würden. Ich fand sie sympathisch, aber von Gefühlen durfte ich mich nicht beeinflussen lassen. Meine nächste Station war Wien, und zwar das Männerwohnheim in der Meldemannstraße. In einem der großen Schlafsäle hatte ich mich mit Josef Greiner und Reinhhold Hanisch verabredet, zwei Kumpanen aus A. H.'s Zeit in Wien vor dem Krieg.
An der schönen blauen Donau
Ich betrat einen der großen Schlafsäle des Männerwohnheims, das seinerzeit als eines der modernsten galt. Ich hatte diesen Ort gewählt, um die damalige Lebenssituation von A. H. auch atmosphärisch zu begreifen. Josef Greiner stand an einem der Fenster und fragte mich, ob ich der Journalist sei, der ihm geschrieben hatte. Ich stellte mich vor und dankte ihm für sein Kommen. Der einstige Gelegenheitsarbeiter und nunmehrige Schriftsteller hatte sich für mich erkundigt und herausgefunden, dass A. H. mehr als drei Jahre im Männerwohnheim zubringen musste, und zwar vom 9. Februar 1910 bis zum 24. Mai 1913. Greiner war damals sein Mitbewohner und froh, dass diese Zeit lange zurück lag. - „Dass der jetzt eine große Nummer in Deutschland geworden ist“, fing er an zu erzählen, „kapiere ich nicht. Hier war er nur eine verkrachte Existenz und eine Witzfigur. Kennen Sie den? Geht der Hitler zum Wahrsager, der ihm prophezeit, er werde an einem jüdischen Feiertag sterben. 'An welchem denn?', will der wissen. Antwortet der Wahrsager: 'Jeder Tag, an dem du stirbst, wird ein jüdischer Feiertag sein.'“
Den Witz kannte ich noch nicht. Ich bat Greiner zu erzählen, was er damals gemacht habe. Sie seien Partner bei kleinen Geschäften gewesen, aber A. H. wollte lieber für eine ostjüdische Trödlerin arbeiten. Überhaupt hatte er es damals mit den Juden. Ich war überrascht, wenn jemand ein fanatischer Antisemit sei, dann er. Schon, meinte Greiner, aber das habe ihn nicht daran gehindert, mit dem Kupferputzer Neumann herum zu ziehen. Und um den Simon Robinsohn scharwenzelte er herum. Der hatte was in der Birne, von dem konnte er was lernen. Er sprach nicht weiter, denn auf einmal fiel ihm ein wichtiger Termin ein. Nehme er den nicht wahr, drohe ein geschäftlicher Verlust. Ich hatte verstanden und glich seinen „Verlust“ mit zwanzig Mark aus. Und schon sprudelte die Quelle wieder: „Einmal schenkte der Kerl arischen Kindern Schokolade. Die sollten dafür ihre jüdischen Spielkameraden als Saujuden beschimpfen, aber die waren schlauer und teilten die Schokolade mit den Judenbälgern.“
Mir wurde klar, dass ich außer Anekdoten nichts Substantielles von Greiner erfahren würde. Vielleicht war Reinhold Hanisch, der hinzu kam, als Zeitzeuge ergiebiger, aber Greiner war nicht zu stoppen und erzählte einen anderen Streich von A. H., der allerdings das Böse und zugleich Infantile dieses Mannes offenbarte. - „Einer aufgetakelten Jüdin schob er eine mit roter Tinte gefüllte Fischblase unter den Arsch, pardon, unter das Gesäß“, erinnerte sich Greiner. „Ganz schön fies. Mit Frauen hatte er es überhaupt. Ich glaube, es lag daran, dass er sich bei einem süßen Madl mit Syphilis infizierte.“
Als ich nachfragte, ob die Geschichte stimme, mischte sich Reinhold Hanisch ein, dessen Hinzukommen dem Greiner offensichtlich nicht gefiel.
- „Du verbreitest wie ein altes Waschweib Gerüchte“, raunzte Hanisch. - „Dann kann ich ja gehen“, war Greiner beleidigt. Ich bat ihn zu bleiben, doch er ging, um in einem Aufenthaltsraum einen Braunen zu trinken. Hanisch warnte mich vor Greiner, der würde für ein paar Schillinge das Blaue vom Himmel lügen. Die beiden mochten sich offenbar nicht. - „Dann schießen Sie mal los“, forderte ich Hanisch auf.
Der ließ sich nicht lange bitten: „Mir fiel an dem sofort auf, dass er keine Lust zu irgendeiner ehrlichen Arbeit verspürte. Ich habe ihn nie eine schwere Arbeit tun sehen. Halt, das stimmt nicht ganz. Einmal mussten wir Schnee schaufeln. Er konnte nach einer halben Stunde die Schaufel nicht mehr anheben, er war völlig erschöpft.“
Das wird die von ihm umworbenen Arbeiter interessieren, dachte ich mir. Hanisch erzählte dann als Beweis für seine Aussage von der vergeblichen Bewerbung von A. H. bei einer Baufirma, wo man ihn ausgelacht und ihn weggeschickt habe mit der Begründung, man stelle nur kräftige Leute ein, nicht solche schmalbrüstigen Großmäuler wie ihn. Nur bei einer Sache bewies er laut Hanisch Ausdauer: Er hielt langschweifige Reden über die Politik, die Notwendigkeit von Lebensraum im Osten und hetzte gegen die Juden. Obwohl er mit Juden befreundet war, fragte ich.
- „Die nutzte er nur aus und die ließen es sich gefallen, selbst schuld“, war seine Antwort. Mit dem Greiner, fuhr er fort, habe sich A.H. als Händler versucht. Sie hätten alte Blechdosen mit einer Paste gefüllt, wollten sie als Frostschutzmittel für Fenster verticken und das im Sommer! Er lachte laut und wurde rasch wieder ernst.
Etwas kleinlaut gab er zu, sich auch mit A.H. eingelassen zu haben. Der malte Postkarten, meist Aquarelle, und er, Hanisch, brachte sie an den Mann oder die Frau. Doch die Bilder hätten nichts getaugt, weshalb er selbst angefangen habe zu malen. Und weil er besser und erfolgreicher war, zeigte ihn A. H. an. Ich wollte genaueres wissen. Er druckste ein wenig herum, ehe er mit der Geschichte heraus kam:
„A.H. hatte das Parlamentsgebäude gezeichnet und bildete sich ein, die Zeichnung sei mindestens 100 Kronen wert. Ich konnte sie für gerade mal zehn Kronen verkaufen. Er tobte und zeigte mich wegen Unterschlagung an. Der Richter glaubte ihm. Er wusste auch, der Kerl hatte es ihm ungefragt gesteckt, dass ich hier unter dem Namen Walter Fritz lebte. Ich kam für sieben Tage ins Gefängnis. Ich zahlte es ihm heim und steckte der Polizei, dass er sich den Titel eines akademischen Malers anmaßte. Er wurde nur verwarnt. Es gibt keine Gerechtigkeit.“
Inzwischen war der Greiner zurückgekommen und hörte sich die Geschichte von Hanisch mit an. Er fügte hinzu: „Ohne dich hätte er nie etwas zustande gebracht. Anstatt seine Aufträge zu erledigen, saß er rum und las Zeitungen. Du warst manchmal ganz schön sauer und hast ihn angebrüllt: 'Arbeite endlich!' Die anderen riefen: 'Arbeiten, Hitler, dein Chef befiehlt es dir!' Und wie der immer rumlief. Der Neumann hatte ihm einen alten Anzug geschenkt, dazu trug er eine speckige Melone, unter der seine Haarzotteln hervorquollen. Er sah eher wie ein Ostjude aus als ein Christ.“
Ich merkte, dass ich außer Klatsch nichts mehr erfahren würde. Ich bedankte mich bei den beiden und gab ihnen meine Visitenkarte. Falls ihnen noch etwas einfallen würde. Bevor ich gehen konnte, bat mich der Hanisch um eine kleine Entschädigung. Ich gab ihm auch 20 Mark, forderte von ihm und Greiner, über das Geld zu schweigen. Wenn es auch keine großen Summen waren, es konnte gegen mich ausgelegt werden. Sie versprachen mir ihr Stillschweigen. Nun ja. Hanisch verabschiedete sich mit einem Witz von mir: „Kommt der Adolf während des Wahlkampfes in eine Stadt im Rheinland. Ein kleines Mädchen schenkt ihm zur Begrüßung ein Grasbüschel. 'Was zum Teufel soll ich damit?', fragt er unwirsch. 'Die Leute sagen', antwortet die Kleine schüchtern, 'wenn der Hitler ins Gras beißt, ist es besser für Deutschland.'“
Lachend machte ich mich auf den Weg, der mich ins Café des Hotels Sacher führte. Dort war ich mit Leopold Pötsch verabredet, A. H.'s ehemaligem Lehrer, der trotz seines Alters von 78 Jahren noch politisch aktiv war. Ich bestellte mir ein Stück Sachertorte und einen Braunen, wie der Kaffee in Wien genannt wird. Ich wartete. Leopold Pötsch verspätete sich. Als er kam, entschuldigte er sich wortreich. Die Termine des Wahlkampfes ließen ihm kaum Luft. Ich fragte ihn, welche Strafe er einem Schüler für eine Verspätung aufbrummen würde. - „30 Mal zu schreiben: Ich darf nicht zu spät zu einer Verabredung kommen“, antwortete er ohne zu zögern. Ich verzichtete natürlich auf eine Strafe und lud ihn stattdessen zu Torte und Kaffee, pardon, zu einem Braunen ein. Er nahm gerne an, wollte aber keine Sachertorte, die sei ihm zu süß und er wundere sich, wie die zu ihrem guten Ruf gekommen sei. Dann sagte er unvermittelt: „Ich wollte unsere Verabredung absagen.“ - „Warum denn das?“ fragte ich erstaunt.
Er könnte mir jetzt etwas von Zeitnot wegen seiner politischen Arbeit vorschwatzen, begann er, aber das wäre nur die halbe Wahrheit, auch wenn er im Moment von Termin zu Termin hetze. Die Wahrheit sei, er wolle nicht mit ihm in Verbindung gebracht werden. Als Mitglied der Christsozialen Partei bekämpfe er die NSDAP und ihre Vasallen in Österreich. Und wörtlich: „Es ist schon schlimm genug, dass er sich auf mich beruft. Mein Unterricht sei bestimmend für sein Leben gewesen. Lesen Sie, diesen Brief schickte er mir vor wenigen Wochen.“
Er reichte mir ein dreiseitiges Schreiben. Ich las: „Ich verdanke Ihnen unendlich viel, Sie gaben mir zum Teil die Grundlage für den Weg, den ich inzwischen zurücklegte.“
Ein Irrweg sei das, ereiferte sich Pötsch. Nichts kapiere A. H., gar nichts. Er gab zu, von der Überlegenheit der deutschen Kultur überzeugt und begeisterter Anhänger des deutschen Kaiserreichs gewesen zu sein. Der fürchterliche Krieg, dieser mechanisierte Massenmord, veränderte alles für ihn. Und der kapiere das nicht. Wie könne er da dreist behaupten, er habe von ihm gelernt? Aber was wundere er sich. A. H. war als Schüler bestenfalls unteres Mittelmaß, versagte in manchen Fächern völlig. Konkreter konnte er auf meine Nachfrage nicht werden, es sei zu lange her und bei der großen Anzahl der Schüler, die er unterrichtet habe, beim besten Willen, nein.
- „Ich erinnere mich nur“, wurde er dann doch etwas konkreter, „dass er sich für leicht fassliche Fächer interessierte und die anstrengenden vernachlässigte. Ohne regulären Abschluss verließ er schließlich die Schule.“
Das war schon eine Menge, mit der ich etwas anfangen konnte. - „In dem Brief bittet er Sie um eine Fotografie.“ - „Ich werde ihm keine schicken“, erregte sich Pötsch, „er ist ein Feind Österreichs, ein Vaterlandsverräter. Ich habe einen Eid als Beamter geschworen, Österreich die Treue zu halten.“ Da sprach ein Konservativer mit Haltung. Er musste sich verabschieden, der nächste Wahlkampftermin stand an. Auf meine Frage, ob ihn der Wahlkampf in seinem Alter nicht zu sehr anstrenge, antwortete er:
„Ich würde in meinem fortgeschrittenen Alter gern im Hintergrund bleiben, aber es gibt unter den jungen Konservativen immer mehr, die sich radikalisieren, die auf die falsche Seite wechseln. Da muss ein altes Politschlachtross wie ich seinen Stall verlassen.“ Und dann kam eine Äußerung, mit der ich bei ihm nicht gerechnet hatte: „Es steht schlimm um ein Land, wenn Scheiße oben schwimmt!“ Mit der Bemerkung, so etwas dürfte er nie vor Schülern sagen, verließ er das Café und stieg in ein davor wartendes Auto.
Berlin ist ja so groß
Von Wien ging's zurück ins Reich, aus einem Café in ein Nachtlokal. An der Bar saß Geli Raubal, sie machte mich mit Ernst Hanfstaengl und Emil Maurice, dem Barmann und einstigen Chauffeur von A.H., bekannt. Während ich mich setzte, trat Erika auf. Es war das zweite Mal in kurzer Zeit, dass ich ihr zuhörte. Sie sang ein Lied von Otto Reutter, das auch in München gut ankam. Darin wurde das immer größer werdende Berlin satirisch besungen. Ich erinnere mich noch an eine Strophe:
„Ein Herr steigt mit 'ner Dame
Des Nachts ins Auto rein.
Er sagt: „Wir wolln Berlin sehn,
Des Nachts beim Mondenschein.
Die Tour ist hoffentlich sehr weit?“
„Ja“, sagt der Chauffeur sehr erfreut.
„Berlin ist ja so groß – so groß – so groß -
Sie haben 'ne Menge Zeit,
Es langt – bis ich soweit bin,
Da sind Sie och so weit.“
Erika verbeugte sich, nahm den begeisterten Beifall des Publikums entgegen und ging von der kleinen Bühne ab. - „Jetzt können wir uns besser unterhalten“, wandte sich Ernst Hanfstaengl an mich, was Geli Raubal mit dem Busch-Zitat kommentierte, Musik werde oft als störend empfunden, weil sie stets mit Lärm verbunden. Humor hatte sie also auch. Ernst Hanfstaengl war ein bemerkenswerter Mann. Der Sohn des bekannten Verlegers von Kunstbüchern hatte Kunstwissenschaften studiert, beherrschte fünf oder sechs Sprachen und hatte viel von der Welt auf Reisen gesehen. Und trotzdem war er mit A. H. befreundet. Warum ich mich darüber wundere, fragte er mich. A. H. sei zwar etwas ungeschliffen, etwas proletarisch, aber das werde man ihm schon noch abgewöhnen. Ich kam nicht mehr dazu zu fragen, wer man sei, denn es brach ein Streit los. Der SA-Mann in Zivil, der uns vor dem Interview mit A. H. kontrolliert hatte, wollte Geli Raubal aus der Bar wegführen. Hanfstaengel beruhigte ihn, Geli sei in seiner Begleitung, er übernehme die Verantwortung. Daraufhin wollte der SA-Mann mit der Bemerkung gehen, er wasche seine Hände in Unschuld, worüber Emil Maurice spottete, da brauche er aber viel Seife.
- „Halt dein Maul!“ blaffte der SA-Mann Maurice an, „wenn er mitkriegt, dass du hier arbeitest und Fräulein Raubal ganz zufällig, dann...“ - „Mach dir nicht gleich in die Hose“, konterte Maurice, dem ich zutraute, über den Bartresen zu springen, um sich auf den SA-Mann in Zivil zu stürzen. Um den Streit nicht eskalieren zu lassen, spendierte Hanfstaengl dem SA-Mann ein Bier. Dem sah ich die Erleichterung an, dass es nicht zu einer Prügelei gekommen war, er hätte den Kürzeren gezogen.
Ich hatte meine Frage nicht vergessen. Wer ist man? Das sei ein Kreis von Freunden in München, zum dem auch die Familie Wagner zähle, erklärte mir Hanfstaengl. Und er fragte mich, was mich an dem Mann denn störe.
- „Vor allem sein Judenhass“, antwortete ich. - „Ich vermute, Sie sind persönlich betroffen.“
Ich bestätigte Hanfstaengls Vermutung, worauf er zu einer längeren Erklärung ausholte, an die ich mich noch fast wortwörtlich erinnere, weil ich sie so oder so ähnlich des Öfteren von Intellektuellen hörte. - „Obwohl ich Sie noch nicht näher kenne“, begann er, „halte ich Sie für einen anständigen Mann. Nicht der einzelne Jude ist das Problem, sondern das Weltjudentum. Es gibt für mich einen Unterschied zwischen Jude und Judentum.“
Er machte eine Pause, als erwarte er Widerspruch von mir, aber ich schwieg und ließ ihn reden. - „Sehen Sie“, führte er weiter aus, „ich ziehe nicht die Grenze zwischen Juden und Nichtjuden, sondern zwischen deutsch-national und international empfindend. Ich kenne eine ganze Anzahl Juden und weiß, dass sie deutsch-national und ehrenhaft denken, ihre Pflicht im Krieg erfüllten und jetzt zu Hause erfüllen. Umgekehrt weiß ich von leider allzu vielen Deutschen, die gegenüber ihrem Vaterland internationaler, ja antinationaler empfinden als selbst Fremde und Feinde.“
War seine „Differenzierung“ besser als A. H.'s Haltung eines Kammerjägers, der die Juden wie Insekten vertilgen wollte?
- „Genug politisiert“, mischte sich Geli Raubal ein. „Tanzen Sie so gut wie Sie Klavier spielen?“ forderte sie mich heraus. - „Ich tanze gern, ob gut, das müssen Sie beurteilen. Sind Sie eine strenge Richterin?“ - „Ich bin nicht streng, nur direkt, zu direkt, wie manche meinen.“ Sie lachte und hakte sich bei mir ein.
Den Rest des Abends tanzten wir. Zwischendurch konnte ich kurz mit Emil Maurice reden. Er interessierte mich. Als ehemaliger Chauffeur und Vertrauter konnte er mir sicher einiges erzählen. Und dazu schien er bereit zu sein. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag um zwölf Uhr mittags. Ich sollte nicht früher kommen und unbedingt Semmeln mitbringen. Geli zog mich wieder zur Tanzfläche, doch ich blieb kurz stehen und bekam noch mit, wie Hanfstaengl Maurice warnte, nicht zu viel zu reden. - „Wir wissen, wo du wohnst“, drohte der SA-Mann. - „Da müssen aber ganz andere kommen, damit ich Schiss kriege“, ließ sich Maurice nicht einschüchtern. Mehr konnte ich nicht hören, Geli wollte tanzen.
Blut ist ein eigner Saft
Kurz nach zwölf Uhr am nächsten Tag stand ich vor der Wohnung von Emil Maurice und klingelte. Keine Reaktion. Ich klopfte kräftig gegen die Tür, vielleicht schlief er ja noch. Die Tür war nicht verschlossen, sie öffnet sich ein wenig. Ich sah mich um, ich hatte ein mulmiges Gefühlt und drückte die Tür trotzdem vorsichtig weiter auf. Leise rief ich: „Herr Maurice, sind Sie da?“ Obwohl er nicht antwortete, ging ich in die Wohnung hinein und sagte etwas lauter: „Ich bin es, Heiden. Wir sind verabredet.“ Wieder keine Antwort. In seinem kleinen Schlafzimmer fand ich ihn. Er lag in seinem Schlafanzug erdrosselt vor seinem Bett. Offensichtlich war er im Schlaf überrascht worden. Er schien bereits einige Stunden tot zu sein. Obwohl ich damit rechnen musste, dass das eine Falle war, schloss ich die Wohnungstür vorsichtig, überzeugte mich vorher, ob jemand im Hausflur war. Hastig schaute ich mich in der Wohnung um, wollte dann rasch gehen, aber es war zu spät. Ich lief dem Kommissar und zwei Uniformierten in die Arme.
- „Wohin denn so eilig? Drehen Sie sich zur Wand, Hände auf den Rücken und keine hastigen Bewegungen“, befahl mir der Kommissar. - „Das ist ein Missverständnis“, versuchte ich zu erklären, „ich habe mit dem Tod von Herrn Maurice nichts zu tun.“ - „Das können Sie mir alles auf dem Präsidium erzählen. Abführen!“
Im Polizeipräsidium wartete ich unbewacht eine Stunde, fühlte mich aber die ganze Zeit über beobachtet. Ich hätte gehen können, doch das hätte wie ein Geständnis ausgesehen. Endlich holte mich der Kommissar ab. Er bat mich höflich in einen Verhörraum. Wir blieben allein, kein Protokollant kam hinzu. Als ich meine Verwunderung darüber äußerte, meinte er nur, die Formalitäten solle ich ihm getrost überlassen.
- „Ihr vollständiger Name“, begann er das Verhör. - „Konrad Heiden.
- „Wann wurden Sie geboren?“ - „ Am 7. August 1901 in München.“
- „Welchen Beruf üben Sie aus?“ - „Ich bin Journalist und schreibe für die „Frankfurter“ und die „Vossische Zeitung“, manchmal auch für andere Blätter.
Seine Bemerkung, daher kenne er meinen Namen, überraschte mich. Ein Polizist, der eine liberale Zeitung liest, war mir noch nicht begegnet. Lange konnte ich mich nicht darüber wundern, denn er fragte weiter: „Weshalb trafen wir Sie in der Wohnung des Toten an?“ -
- „Ich war mit Emil Maurice verabredet. Als ich gegen zwölf Uhr seine Wohnung betrat, fand ich ihn tot in seinem Schlafzimmer. Ich bin zwar kein Arzt, aber er schien schon längere Zeit tot zu sein.“
Der Kommissar nickte. Glaubte er mir oder wollte er mich in trügerischer Sicherheit wiegen? Ich blieb konzentriert. - „Wie kamen Sie in die Wohnung hinein? Herr Maurice konnte Ihnen ja nicht mehr die Tür öffnen.“ Das sollte wohl ein Scherz sein. -
- „Die Tür war nur angelehnt. Bevor ich hinein ging, machte ich mich bemerkbar.“ -
- „Warum wollten Sie den Tatort verlassen, ohne uns zu verständigen?“
Ich überlegte kurz und antwortete dann: „Ich befürchtete eine Falle. Zur Zeit recherchiere ich den Lebenslauf von diesem A.H. Der will mit allen Mitteln verhindern, dass ich etwas über seine Herkunft und seinen Werdegang veröffentliche.“
Ob ich Beweise hätte, wollte der Kommissar wissen. - „Noch keine eindeutigen“, musste ich eingestehen, aber Emil Maurice sei sein Chauffeur und Vertrauter gewesen, da läge es doch nahe zu vermuten, dass man ihn zum Schweigen bringen wollte. Ich bewegte mich auf dünnem Eis, das wusste ich. - „Spekulationen bringen nichts“, wies er meine Vermutung zurück. - War er enttäuscht? Ich versuchte in seinem Gesicht zu lesen, vergeblich. Er konnte seine Emotionen verbergen, kein Wunder bei seinem Beruf.
- „Hätten Sie sich noch gemeldet?“ riss er mich aus meinen Gedanken. - „Nach Rücksprache mit unserem Anwalt hätte ich den Tod von Herrn Maurice gemeldet.“
- „Und dass soll ich Ihnen glauben?“ blieb er skeptisch. - „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.“
Er winkte ab, wer ihm hier schon alles sein Ehrenwort gegeben habe. - „Wollen Sie behaupten, dass ich lüge?“ regte ich mich auf. - „Beruhigen Sie sich. Es ist Selbstmord, alle Umstände sprechen dafür. Damit ist die Sache vorerst für Sie erledigt.“
An Selbstmord wollte ich nicht glauben und verwies nochmals auf mögliche Zusammenhänge. Die sehe er durchaus auch, ich sei doch Mitglied der SPD und die kämpfe wie alle Parteien mit allen Mitteln um die Macht. Ich wollte mich dagegen verwahren, denn ich sei Journalist und kein Propagandist, doch er beendete das Verhör. Falls er noch Fragen habe, würde er sich melden. Mit „Gott zum Gruß“ wurde ich entlassen. Verwundert verließ ich das Polizeipräsidium. Auf alle Fälle musste ich mit unserem Anwalt sprechen, und zwar so schnell wie möglich.
Was wird passieren?
Ich konnte mir keinen Reim auf das Verhalten des Kommissars machen. Was wollte er wirklich? Vielleicht war ja Luise schlauer, ich musste unbedingt mit ihr reden. Sie freute sich, als ich bei ihr klingelte. Geduldig hörte sie mir zu.
- „Er war schon tot, als du die Wohnung betreten hast?“ fragte sie dann. - „Ja. Wie oft soll ich dir das noch sagen? Du glaubst mir doch?“ - “Natürlich.“ Sie riet mir, die Sache auf sich beruhen zu lassen, die Polizei täte es ja offensichtlich auch.
- „Wenn aber“, wollte ich einwenden, doch sie unterbrach mich ein wenig unwirsch: „Wenn, wenn, wenn. Wenn man das Meer erhitzen würde, gäbe es viele gekochte Fische.“
Dass sie Witze reißen konnte. Der Hanfstaengel und der SA-Mann hatten mitbekommen, wie ich mich mit Emil Maurice verabredete und hatten versucht, ihn einzuschüchtern. Ich solle das Gerede nicht zu ernst nehmen, wollte Luise relativieren und überraschte mich mit der Information, dass Emil Maurice Mitbegründer der SS war und das, obwohl sein Großvater ein jüdischer Theaterdirektor gewesen war. - „Was du alles weißt“, staunte ich.
Das habe sie mir doch erzählt. Ich konnte mich nicht erinnern. - „Keine Ahnung, von wem ich das weiß, wahrscheinlich habe ich ein Gerücht aufgeschnappt“, erklärte sie.
Ich musste noch einmal in unser Münchner Büro. Luise kam mit. Kaum waren wir eingetreten, klingelte das Telefon. Hanfstaengl bat mich, in zwei Stunden in sein Büro zu kommen, er hätte eine wichtige Information für mich, die er mir nicht am Telefon sagen könne. Bis dahin diktierte ich Luise noch zwei Seiten. Sie spannte ein Blatt mit zwei Durchschlägen ein und ich begann: „Alois Hitler, Stiefbruder; Beruf: Kellner; Strafen: 1900 fünf Monate und 1902 acht Monate Gefängnis jeweils wegen Diebstahls; danach Weggang nach Deutschland; 1924 in Hamburg wegen Bigamie zu sechs Monaten verurteilt; lebt jetzt in England.“
Auf den könne A. H. aber mächtig stolz sein, merkte Luise ironisch an.
- „Du sagst es, aber jetzt kommt es ganz dicke: Betrifft Bewerbung an der Kunstakademie Wien. Eintrag in der Klassifikationsliste für das Schuljahr 1907/08: Kompositionsaufgaben für die Probezeichner. Erster Tag: Austreibung aus dem Paradies. Zweiter Tag: Episode aus der Sintflut. Die Probezeichnung machte mit ungenügendem Erfolg oder wurde nicht zur Probe zugelassen: Adolf Hitler, Braunau am Inn, 20. April 1889, deutsch, katholisch, Vater Oberoffizial. Probezeichnung ungenügend, zu wenige Menschen, wirken wie gestopfte Säcke.“
Was ein Oberoffizial sei, wollte Luise wissen. Das entspreche etwa dem deutschen Titel eines Direktors, erklärte ich ihr. Sein Vater hatte sich in der Zollverwaltung hochgedient.
Auf ihre Frage, ob das alles sei, holte ich eine Akte aus meiner Tasche heraus. Diese Akte hatte mir ein Unbekannter, wahrscheinlich ein Polizist, in die Hand gedrückt. Er war in der Nähe des Polizeipräsidiums hinter einer Litfaßsäule auf mich zugetreten, das Gesicht mit einem Schal verdeckt und hatte mir die Akte gegeben, dabei etwas von Sprengstoff murmelnd. Ehe ich noch etwas fragen konnte, war er verschwunden. Wie in einem Krimi, staunte Luise. - „Und was steht drin?“ wollte sie wissen.
- „Unser „großer“ Mann war ein mieser Spitzel. Wenn das stimmt, was hier vermerkt ist, hat er Soldaten, die für die Räterepublik gekämpft hatten, verraten. Sie wurden alle erschossen. Vorher hatte er mit ihnen wochenlang in der gleichen Kaserne gelebt und war gut mit ihnen ausgekommen.“ Dass A. H. ein Kameradenhenker war, wollte Luise zuerst nicht glauben. - „Dem traue ich durchaus zu, dass ihm Blut an den Händen klebt“, entgegnete ich, Dass Luise daran zweifelte, wunderte mich.
Sie ging nicht weiter darauf ein. Die Akte war brisant oder wie der Unbekannter gesagt hatte, sie war Sprengstoff. Luise schloss meine Aufzeichnungen in einen Schrank ein, dessen Stabilität sie misstraute . Für so was bräuchte man einen Tresor, aber auf dem Ohr sei Herr Simon taub. Ich versprach ihr, das bei der nächsten Redaktionskonferenz anzusprechen. Wir machten Schluss. Luise musste noch etwas aufräumen, weshalb ich unten auf sie warten wollte.
- „Moment mal, wohin so schnell?“ hielt sie mich auf. „Was haben die Zigaretten in deiner Jackettasche zu suchen?“ Nichts, beteuerte ich, ich wolle nur meine Standhaftigkeit testen. Und manchmal müsse ich Gesprächspartnern eine anbieten. Mit den Worten „Die sind bei mir besser aufgehoben“, nahm sie mir die Schachtel ab.
In der Höhle des Schakals
Wenig später traf ich Ernst Hanfstaengl in den Räumen des „Völkischen Beobachters“, von den dort arbeitenden Redakteuren argwöhnisch beobachtet. Einige kannten mich von Pressekonferenzen. Hanfstaengl ging mit mir in ein kleines Büro, dem ich ansah, dass es nur selten benutzt wurde. Er bot mir einen Stuhl an.
- „Ich wusste gar nicht, dass Sie auch zur Redaktion gehören“, wunderte ich mich.
- „Ich achte nur darauf, dass nicht zu viel Unsinn verzapft wird. Das macht Arbeit genug.“
Nach einigem Gesprächsgeplänkel verließen wir das Büro, überquerten den Hof und betraten die Druckerei. Ich mochte den Lärm der Druckmaschinen und den Geruch der Farben, aber für ein Gespräch war es hier sehr laut. Ihn schien der Lärm nicht zu stören. Er scherzte, die Druckerei sei feindliches Terrain, hier arbeiteten nur sozialdemokratisch gesinnte Drucker und Setzer. Fachkräfte aus den eignen Reihen hätten sie bisher nicht finden können. Und selbst wenn, wie lange die es aushalten würden, sei mehr als fraglich.
- „Warum sind wir dann hierher gegangen, wenn das vermintes Gelände für Sie ist?“ fragte ich meinerseits.
Er sah mich einen Moment an und antwortete dann, dass hier lange Ohren nichts hören könnten. Das war ja interessant. - „Wer hat denn die langen Ohren?“ fragte ich nach.
Ob ich mir das nicht denken könne, blieb er zunächst vage, ehe er sich entschloss, deutlicher zu werden. - „Röhm und seine SA-Leute lauern überall. Das sind Abenteurer und Verbrecher. Ich verabscheue diese Bande von Rassenerotomanen und schwulen Mordkumpanen. Für die sind wir anderen Reaktionäre.“
Ich hatte davon gehört, dass Röhm nach dem Krieg für den Geheimdienst der Armee gearbeitet hatte. Einer seiner Handlanger war A.H. gewesen. Das ging mir durch den Kopf, als ich Hanfstaengl fragte, warum sie Röhm und seine Leute nicht rauswerfen würden. Unumwunden gab er zu: “Die SA wird noch gebraucht. Außerdem ist Röhm ein Freund aus schwerer Zeit. Deshalb lässt sich der Führer auch so viel von ihm gefallen. 'Von dir schlappen Österreicher lass ich mir doch nicht imponieren.' Originalton Röhm.“ Der Besuch hatte sich schon jetzt gelohnt, doch ich musste vorsichtig sein und die Informationen überprüfen. - „Sie sind sehr offen“, klopfte ich auf den Busch.
Und prompt kam die Warnung: „Benutzen Sie diese Informationen, werde ich alles dementieren. Den Rest erledigen dann unsere Anwälte.“
- „Und warum erzählen Sie mir dann alles? Wollen Sie nur mal Dampf aus dem Kessel lassen?“ Sofort ärgerte ich mich, ich hätte ruhiger bleiben müssen, nur so bekommt man etwas heraus. Aber er schien nicht verärgert zu sein, im Gegenteil.
- „Ich finde Sie irgendwie sympathisch. Schade, dass ich Sie nicht für uns gewinnen kann. Die Gründe sind nicht nur politischer Art. Ich will Sie warnen. In der SA-Spitze kursiert eine Liste, auf der auch Sie stehen, zwar nicht an erster Stelle, aber sehr weit oben.“
Ich sah meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt und fragte ihn, ob das eine Warnung oder eine Drohung sei, um mich einzuschüchtern. Sein Gesicht spiegelte seine Wehmut, dass ich seine gute Absicht infrage stellte. - „Verstehen Sie es, wie Sie wollen. Auch er kennt die Liste und er billigt sie, da bin ich mir sicher“, erklärte er nach einer kurzen Pause.
- „Wer steht noch auf dieser Liste?“ wollte ich natürlich wissen.
Seine Antwort blieb allgemein: „Alle unsere wirklichen und vermeintlichen Feinde.“
Er habe fast schon zu viel gesagt, brach er unser Gespräch ab. Wir gingen über den Hof wieder zurück in die Redaktion, dabei wurden wir von jemand hinter dem mittleren Fenster im ersten Stock beobachtet. Ich verabschiedete mich, ich wollte möglichst rasch diesen Ort verlassen. 'Ein kluger und kultivierter Mann, dieser Hanfstaengl', dachte ich auf dem Heimweg. Und trotzdem hatte er sich den Barbaren angeschlossen, freiwillig, ohne auf Vorteile für sich zu spekulieren wie so viele andere. Er besaß alles, wonach die sich sehnen mochten.
Der Feigling
Einige Tage später hatte ich einen Termin, der für viele Menschen unangenehm ist. Ich saß bei dem Zahnarzt Dr. Gebhard Schulz auf dem Behandlungsstuhl. Er war wie ich Sozialdemokrat, eine ungewöhnliche politische Einstellung für einen ehemaligen Major des kaiserlichen Heeres. Er bezeichnete sich selbst als Vernunftdemokraten. Ich war ihm das eine oder andere Mal begegnet. Er wollte mir mit Informationen helfen, doch zunächst ging er seinem Beruf nach. Darauf war ich nicht gefasst gewesen, aber er meinte, wenn ich schon mal da sei, könne er gleich mal nachsehen. Ich fügte mich.
- „Öffnen Sie den Mund, soweit Sie können. Der dritte von hinten rechts hat eine kleine braune Stelle. Spülen Sie kräftig aus.“ - „Eigentlich wollte ich Ihnen auf den Zahn fühlen“, versuchte ich zu scherzen. - „Ich liebe witzige Patienten. Der Zahn muss behandelt werden. Also Mund auf und zugehört.“ - „Wird es schmerzen?“ rutschte es mir raus. Der muss mich ja für einen Feigling halten, ärgerte ich mich über mich selbst. Er versicherte mir, es sei nur eine Bagatelle, ich würde es sicher aushalten.
Dann wurde er sehr ernst. - „Ausgehalten hat er damals nicht. Als beim Marsch auf die Feldherrenhalle die Polizei auf uns geschossen hat, warfen sich alle zu Boden. Plötzlich fuhr ein gelbes Auto in die Menge. Der Fahrer rief: „Wo ist A. H.?“ Ich lag zufällig neben ihm und antwortete: „Hier ist er!“ Er sprang auf, warf sich ins Auto und fuhr davon. Es war noch nichts entschieden und er haute ab. Er kroch bei den Hanfstaengls unter, angeblich schwer verletzt. Später stellte sich heraus, er hatte sich nur die rechte Schulter verrenkt. Eine Lappalie für einen echten Soldaten.“
Ich hatte damals den kläglichen Putschversuch als Student beobachtet, aber der Bericht von Dr. Schulz war dennoch wichtig, schilderte er doch die Ereignisse aus der Sicht eines Beteiligten. A. H. war geflohen, ohne sich um seine Leute zu kümmern. Es gab 20 Tote und viele Verletzte. Ich dankte Dr. Schulz und wollte gehen, doch er hielt mich auf. Nur gut, dass er das tat, sonst hätte ich fast das Wichtigste nicht erfahren. Schulz fragte mich, ob ich wisse, dass er zeitweise A. H.'s Vorgesetzter war, bevor der sich die Maske des Führers aufgesetzt habe. Damals sei Hitler bereit gewesen, sich mit jedem einzulassen, der ihm entgegenkam. Er hätte genauso für einen jüdischen oder französischen Auftraggeber gearbeitet. Und wörtlich: „Als ich ihn das erste Mal getroffen habe, war er wie ein streunender Hund. Mit niemandem kam er klar. Am liebsten schloss er sich in einer fensterlosen Abstellkammer ein. Beim kleinsten Anlass tobte er. Nur Musik beruhigte ihn, so lange sie Krach machte. Musikalisch ist er nicht. Er liebt Wagners Musik nur, weil sie laut ist.“ Das hatte mir ja auch Geli Raubal gesagt, erinnerte er mich.
- „Die nächsten drei Stunden dürfen Sie nichts Festes essen.“ Damit war die Behandlung beendet. Ich zahlte bar die Behandlungskosten und wusste wieder mehr über diesen selbsternannten Führer.
Die Lesung
Ich hatte viele Informationen gesammelt. Es wurde Zeit, mit einem Teil von ihnen an die Öffentlichkeit zu gehen. Eine Lesung sollte auf die geplante Artikelserie aufmerksam machen. Das Theater am Park war bis auf den letzten Platz besetzt. Im Publikum saßen Heinrich Simon und fast alle Kollegen von der Zeitung, aber auch Ernst Hanfstaengl war zusammen mit einer Dame und zwei Herren gekommen. Wie ich später erfuhr, handelte es sich bei der Dame um Winifred Wagner, die Namen der beiden Herren vergaß ich. Die Spannung im Saal war fast körperlich zu spüren, was meine Nervosität noch steigerte. Immerhin las ich zum ersten Mal vor einem großen Publikum, von dem ich nicht wusste, wie es reagieren würde. Meinen Text hatte ich mit Heinrich Mann besprochen, dem ich etliche Formulierungstipps verdankte. Heinrich Simon stand von seinem Platz in der ersten Reihe auf und eröffnete den Abend:
„Sie kennen unser Prinzip: Jeder Artikel muss wahr sein und den Tatsachen entsprechen, er muss möglichst frei von persönlichen Auffassungen und Gefühlen des Schreibenden sein und sich auf wirkliche Vorgänge konzentrieren. Das ist ein Ideal, dem Konrad Heiden sehr nahe kommt. Genug der Vorrede, Sie haben das Wort.“
Auch ich begrüßte kurz das Publikum und begann zu lesen:
„In der Geschichtsschreibung gibt es den Begriff von der wertlosen Größe. Sie kann Spuren hinterlassen, aber es sind keine Furchen, aus denen eine Saat aufgeht.
Der „große“ Mann ist Österreicher, das zeichnet ihn für sein ganzes Leben. Dass er im Vielvölkergefängnis der Habsburger geboren wurde, verleiht ihm keine Nationalität, sondern ein Kainsmal, das er weder loswerden noch ableugnen kann. Umsonst beruft der „große“ Mann sich auf Friedrich den Großen und Bismarck. Weder der Preußenkönig noch der Reichskanzler würden ihn anerkennen.
Der „große“ Mann ist von Natur aus nicht arbeitsam. Er ist der geborene Faulenzer. Er liebt das Nichtstun, ohne deswegen auf Reichtum verzichten zu wollen. Seine Taten bestehen ausschließlich in Reden, die den einzigen Antrieb seiner Persönlichkeit offenbaren: den Hass.
Vor dem Krieg kam er mit dem bürgerlichen Leben nicht zurecht, ließ die Zeit nutzlos verstreichen. Erst im Blutnebel von 1919, als das Zeitalter der mörderischen Harlekine begann, erhielt er eine neuartige Chance als politischer Bandenführer.
Jeder, der ihn gehört hat, kennt die Masche des „großen“ Mannes: Er beginnt schleppend und drohend, steigert sich im Ton wie in einem schlechten Volksstück. Der pöbelhafte Klamauk erreicht seinen Höhepunkt, wenn er vor Wut schreit, schroff die dunkelsten Leidenschaften bei sich und seinem Publikum aufruft. Manche Zuhörer mögen sich besorgt fragen, warum denn niemand den Kranken abführt, ins Bett bringt und fixiert.
Der „große“ Mann leistet sich heftige Gefühle, die ihn aber zu nichts verpflichten. Er ist ein verkrachter Künstler, verfügt jedoch über eine Technik wie ein schlechter Schauspieler. Es entsteht die Frage, ob er sich für den richtigen Führer hält oder ihn nur spielt.
Der „große Mann“ hat das Glück, ein Hysteriker zu sein. Ein anderer Vorzug ist, dass ihm auf allen Gebieten die einfachsten Kenntnisse und Fähigkeiten fehlen, dass er nichts gearbeitet und geleistet hat. An der Kunstakademie Wien lehnte man ihn wegen mangelnden Talents ab, dennoch sieht er sich als Künstler. Und weiter kommt ihm sein höchst oberflächliches Verhältnis zu Deutschland zustatten. Er ist und bleibt Österreicher, mag er sich die deutsche Staatsbürgerschaft auch erschlichen haben.
Die großen Männer werden von den Völkern gemacht, getragen und auch wieder gestürzt. Vielleicht war es nur Glück oder eine Laune des Schicksals, dass Frankreich Napoleon fand oder von ihm gefunden wurde. Deutschland verfällt immer mehr auf einen Erwählten, der anders ist. Es ist der „große“ Mann.
„Rette und regiere uns!“, ruft ihm in verzweifelter Trägheit das Bürgertum zu. Es will die einstige Herrschaft und Zucht des Korporalstocks, unter dem es sich einst oft widerspenstig regte, gegen eine alle Lebensbereiche durchdringende Diktatur eintauschen. Aber noch besitzt der „große“ Mann nicht die Macht wie einst Napoleon.“
Die Mehrheit des Publikums applaudierte, es gab aber auch Buhrufe. Simon und andere Kollegen gratulierten mir, einen Kreis um mich bildend.
- „Ich gratuliere Ihnen nicht!“ sprengte Hanfstaengel den Kreis, wir standen uns gegenüber. - „Das hätte mich von seinem Freund auch überrascht“, erwiderte ich. - „Sie werfen ihm Hass vor und sind selbst ein Hassprediger“, schrie er mich an, jede Beherrschung wie sonst vergessend. - „Wer sind Sie, dass Sie sich hier aufspielen?“ mischte sich Heinrich Simon ein. Ich stellte Hanfstaengl vor. Auf Simons Bemerkung, er kenne Hanfstaengl senior, bekam er als eisige Antwort: „Im Gegensatz zu meinem Vater pflege ich keinen vertrauten Umgang mit Juden. Sie werden von uns hören.“ Das war eine Drohung.
Ich ließ mir meine gute Laune nicht vermiesen. Meine Recherche war wasserdicht. Sollten die uns doch vor Gericht zerren, eine bessere Reklame konnte ich mir kaum denken. Doch Simon warnte mich: „Unterschätzen Sie nicht diese Berserker, sie sind plump, aber gefährlich, allen voran ihr Anwalt Dr. Frank. Ich habe plötzlich ein ganz mieses Gefühl. Kommen Sie!“
Heinrich Simons Bauchgefühl sollte sich leider bewahrheiten. Wir fuhren in die Redaktion. Mein Büro war verwüstet, der Schrank, in dem sich alle meine Aufzeichnungen und Dokumente befunden hatten, war aufgebrochen und leer geräumt. Auf einmal tauchte auch Luise Mannig auf, sie war uns wohl gefolgt. Aber war sie überhaupt bei der Lesung gewesen? Gesehen hatte ich sie nicht. War alles umsonst? Zu allem Überfluss klagte Heinrich Simon über Druck in der Brust. Luise und ich brachten ihn mit dem Redaktionswagen in die Klinik. Zum Glück stellte es sich heraus, dass es nichts Lebensbedrohliches war. Luise verabschiedete sich, sie sei sehr müde und wolle schlafen, und zwar allein. Das bedauerte ich, ich hätte ihre Gesellschaft gebraucht. Ich blieb noch in der Klinik, unterhielt mich mit Heinrich Simon, dem der Einbruch in die Redaktion zu schaffen machte. Wir waren uns klar, von wem die Attacke ausging. - „Gehen Sie jetzt“, forderte mich Simon auf, „und feiern Sie trotzdem noch ein wenig. Sie haben es sich verdient.“ Ich folgte seiner Aufforderung und wollte mich in einem Nachtlokal amüsieren.
Wenn zwei auseinandergehen
Ich betrat die Bar, in der ich einst Geli Raubal kennengelernt und Emil Maurice Drinks gemixt hatte. Sie wiederzutreffen und mit ihr zu tanzen, das käme mir jetzt recht, dachte ich und erstarrte. Auf der Tanzfläche bewegten sich die angeblich so müde Luise und Ernst Hanfstaengl.
- „Das nenn ich eine nette Überraschung. Endlich finde ich einen guten Tänzer. Hallo, hier bin ich“, rief mir Geli Raubal zu, die tatsächlich da war, die ich aber nur am Rande wahrnahm.
Luise kannte den Hanfstaengl. Das hatte sie mir nie erzählt. Wie intim sie miteinander tanzten. Ich begriff, das mit mir gespielt wurde.
- „Ernst und Luise waren mal ein Paar“, hörte ich Geli sagen, „ wenn auch nur für kurze Zeit.“ - „Ein Paar“, sprach ich mechanisch nach.
- „Das ist lange vorbei“, wollte mich Geli besänftigen. - Hastig steckte ich mir eine Zigarette an. - „Sie müssen nicht eifersüchtig sein“, redete Geli munter weiter. „Tanzen wir?“
Das hätte mir jetzt noch gefehlt. Die Musik endete, die Paare verließen untergehakt die Tanzfläche. Ohne einen Anflug von Erschrecken fragte Luise: „Du hier? Was für eine Überraschung.“
Es verschlug mir beinahe die Sprache, aber ich brachte heraus, dass ich mich wundere, dass sie Herrn Hanfstaengl kenne. Es habe sich bisher nicht ergeben, es zu erzählen, wollte sie mir weismachen. Glaubte sie, mich für dumm verkaufen zu können?
- „Und ich soll dir das glauben. Der Freund und Presseberater der Partei tanzt ausgerechnet mit der Mitarbeiterin, die in meine Recherche eingeweiht ist.“
- „Du leidest unter Verfolgungswahn,“ provozierte sie mich auch noch.
Und zu allem Überfluss gab mir Hanfstaengl sein Ehrenwort, ihre Beziehung sei rein privater Natur und völlig harmlos.
- „Stecken Sie sich Ihr Ehrenwort sonst wohin“, brach es aus mir heraus. „Ich bin doch nicht blöd. Ich kann eins und eins zusammen zählen. Du bist für mich erledigt. Und eine neue Arbeit kannst du dir auch suchen.“ - Sie blieb kühl bis in die Zehenspitzen. - „Du schickst mich in die Wüste? Da kann ich nur lachen. Als wenn ich auf dich und dein Schmierenblatt angewiesen wäre.“ - „Deinen Judaslohn wirst du sicher bekommen.“
Die Musik setzte wieder ein. Sie ging mit Hanfstaengl zur Tanzfläche und drehte sich noch einmal zu mir um: „Reiss nur die Klappe weit auf, so lange du und deinesgleichen es noch können. Der Wind dreht sich.“ Sie ließ mich stehen und tanzte mit Hanfstaengl, als wenn nichts passiert wäre. - „Das war es wohl auch mit uns?“ fragte mich Geli. „Schade, Sie können gut Klavier spielen und tanzen.“ - Ich umarmte sie und wollte gehen, als Erika zu singen anfing. Fasziniert blieb ich hinter einer Säule stehen und hörte ihr zu:
„Einmal müssen zwei auseinandergehn;
einmal will einer den andern nicht mehr verstehn - -
einmal gabelt sich jeder Weg –
und jeder geht allein -
wer ist dran schuld?
Es gibt keine Schuld. Es gibt nur den Ablauf der Zeit.
Solche Straßen schneiden sich in der Unendlichkeit.
Jedes trägt den andern mit sich herum -
etwas bleibt immer zurück.“
Länger konnte ich Erika nicht zuhören.
Epilog
Ich musste von vorn anfangen, stieß aber oft auf eine Wand des Schweigens. Hans Frank, der spätere Polenschlächter und Kriegsverbrecher, schüchterte viele ein, die zuvor mit mir gesprochen hatten, oder erkaufte sich ihr Schweigen. Geli Raubal nahm sich das Leben. Dennoch gelang es mir, mit der Zeit wieder genügend Material zusammen zu tragen. Aber die politischen Entwicklungen überrollten mich. Erst in der Schweiz, wohin ich emigrieren musste, konnte ich eine Biographie schreiben und veröffentlichen. Einen großen Lichtschein gab es dennoch – bei meiner Flucht lernte ich Erika kennen. Ich saß in einem Abteil zweiter Klasse im Zug nach Saarbrücken, als sie etwas außer Atem herein kam. Ich hob ihre Koffer ins Gepäcknetz. Sie lächelt dankbar und bot mir eine Zigarette an. Ich gab ihr Feuer. Wir saßen uns am Fenster gegenüber und schwiegen. Der Zug setzte sich in Bewegung. Sie nahm ihre Hände vors Gesicht, um Tränen zu verbergen. Sie war also wie ich auf dem Weg in die Fremde. Mir fiel nichts Besseres ein, als aus einem Gedicht von Robert Gilbert zu rezitieren:
„Zollrevision, Devisen, Passkontrolle,
Ach, Man lässt mich durch.
Es ist gelungen.
Da murmelt noch der letzte deutsche Bach:
Es ist ein Ros' entsprungen.
Da, wo die galgenlangen Pappeln stehn,
Deutschland, ade:
Wer weiß, wer weiß, ob wir uns wiedersehn
Am grünen Strand der Spree.“
Wieder lächelte sie mich an und bat mich, auch wenn wir uns fremd seien, sie in die Arme zu nehmen. So begann es mit uns, als wir unser Leben in Deutschland aufgeben mussten, um unsere Leben zu retten. Noch heute höre ich die Geräusche des Zuges und das Pfeifen der Lok, das für mich wie ein schmerzlicher Abschiedston klang.
Bernd und Sarah
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Mitten auf dem platten Land, in weitem Umkreis von reetgedeckten Bauernhöfen umgeben, ragt ein Viergeschosser empor. Ende der Fünfziger als Hotel geplant und gebaut, gingen die Betreiber vier Jahre nach der Eröffnung pleite. Das vierstöckige Gebäude erinnert an einen Burgfried, doch er wird nicht von einem Ritter und dessen Gefolgschaft bewohnt, sondern von Menschen, die anderswo keine Bleibe fanden. Sie wurden vom Amt hierher verwiesen. Sie nehmen kaum Notiz voneinander, nur manchmal rotten sie sich zusammen, um sich die Widrigkeiten ihres Lebens wegzusaufen. Aber selbst ihnen fällt auf, dass die Tür einer Wohnung in der dritten Etage sich lange nicht mehr öffnete. Gestank dringt durch die Ritzen, seltsame Geräusche, die an Wolfsgeheul erinnern, sind zu hören. Darum soll sich das Amt kümmern.
Und es kümmert sich. Zwei Frauen und der Mitarbeiter eines Schlüsseldienstes rücken an. Die Tür wird geöffnet. Der Raum dahinter ist dunkel. Langsam gewöhnen sich die Augen der vorsichtig Eintretenden an das Dunkel. Zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge, hocken in der Mitte und umklammern sich. Vorsichtig nähern sich die zwei Frauen vom Amt den Kindern, sprechen beruhigend auf sie ein. Vergeblich. Die Kinder zittern vor Angst, heulen auf, als versucht wird, sie zu trennen. Eine der Frauen ruft über ihr Handy einen Krankenwagen, fordert zusätzlich einen Kinderpsychologen an. Nach einer knappen Viertelstunde
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Publication Date: 08-24-2020
ISBN: 978-3-7487-5482-4
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