Helmuth Zimmermann
Leben oder Tod
im Orient
Roman
Impressum
© Helmuth Zimmermann
Leben oder Tod im Orient
Avsallar, Alanya, Türkei 2001
helmuthzi@hotmail.com
Covergestaltung:
Helmuth Zimmermann
Printed in Germany
ISBN 3-8311-2665-8
Einsamkeit
Ein duftender Jasminzweig auf dem leeren Kopfkissen. Er wird bleiben, mich betören und in den Schlaf bringen.
Viele fröhliche Menschen überall geben keine Antwort.
Viele Traurige können keine geben.
Kaum hört einer zu, noch stellt er Fragen.
Viele Menschen machen einsam.
Heute war ich am Strand und man fragte mich:
... wie spät ist es?
Leid
Die nicht vergehende Liebe ohne Halt, will sterben und leben zugleich.
Vergehendes Leben macht hilflos und ohnmächtig bis zur Erbärmlichkeit meiner selbst.
Die Qual noch zu leben, zerreißt Herz und Verstand.
Unglückliche Liebe und Sterben zerstören.
Selbstmitleid bleibt, ist Rest und Kern.
Tränen antworten der Erinnerung und lindern die Pein.
Man sagte mir, ich kann dich gut leiden.
Freude
Lachen im Moment des Glücks.
Gute Nachricht, überrascht mich im Dilemma unverhofft.
Ersehnte Belohnung für Leistung und Fleiß.
Gewissheit kommender guter Zeiten und Dinge.
Wiedersehen geliebter Wesen.
Erfahren angenehmer Gefühle.
Zu wissen wir lieben uns.
Leben
Es gibt keinen Sinn, alles ist Zufall ohne Richtung und Ziel.
Es hat einen Anfang und ein Ende, im Gegensatz zur unendlichen, abstrakten Zeit.
Eine Zufälligkeit der vergehenden Einmaligkeit in unendlicher Zeit.
Begreifen des Gesamten und des Kleinsten ist sinnvolle Neugier und doch letztlich sinnlos zugleich.
Machen wir das Beste aus der einmaligen Chance heute zu sein.
Hurra ich lebe und es ist schön zu sein.
Leben bedeutet Sein.
Türkeiurlaub
„... wir wünschen Ihnen einen angenehmen Urlaub”, tönt die nette Stimme der Stewardess aus dem Lautsprecher über ihnen.
Up and away, raus und nix wie weg ... Urlaub, Sonne, Meer, Strand, warme Sommernächte, Tanz, abschalten, relaxen, auftanken ... Ja, endlich Urlaub.
„Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich rauche?“, fragt die ältere Dame und steckt sich ihre Zigarette an.
Karl guckt ganz entnervt und sagt: „Wollen Sie mich verarschen oder was? ... Sie blöde Kuh.“
„Aber Karl, lass doch die Frau in Ruhe“, beschwichtigt ihn seine Gattin Gisela.
„Karl meint das nicht so, er ist manchmal so grob, rauchen Sie nur“, sagt sie der Dame zugewandt.
Sie lächelt dabei etwas verlegen. Sie möchte die Situation retten. Die Dame lächelt gequält zurück und saugt sich dabei fast an der Zigarette fest. Sie wirkt verunsichert, verlegen, Schweiß steht ihr auf der Stirn, sie hat Angst, Angst vor dem Fliegen. Insbesondere diese scheiß Start- und Landemanöver lassen sie jedes Mal aufs Neue in Panik geraten. Alles überstanden, Gott sei Dank, so und jetzt eine rauchen und nun so etwas.
„Sie sollen an Ihrem Qualm ersticken, ich jedenfalls nicht, lassen Sie mich durch, ich muss aufs Klo, die Sache ist mir auf den Magen geschlagen. Übrigens wünsche ich Ihnen, dass Sie gleich nach mir auf dieselbe Toilette müssen: dann kräftig durchatmen, das reinigt die Lungen... Blöde Kuh“, stichelt Karl.
Dabei macht er am Anfang ein knurriges Gesicht, aber am Ende ein grinsendes. Er freut sich über seinen Witz. „Ha, der hast du es aber gegeben,“ denkt er und dackelt den Gang entlang, der Toilette entgegen.
Dreieinhalb Stunden später, das Flugzeug setzt zur Landung an. Die Dame ist ganz grün im Gesicht als mitgeteilt wird: „ ... bitte stellen Sie das Rauchen ein, schnallen Sie sich an und stellen Sie Ihre Rückenlehne in die senkrechte Position. Wir werden in wenigen Minuten in Antalya landen.“ Karl beobachtet sie. Er sieht, wie ihre Wangen anschwellen, zum Platzen prall sind, wie sie herunterschluckt. Dann das ganze noch einmal, nur diesmal hat sie Tränen in den Augen. Karl spät sie aus engen Augen an, klatscht in die Hände und sagt zu seiner Frau: „Ist das nicht schön, guck doch wie sie die Klappe voll hat.“ Er lacht und freut sich. Manchmal ist das Leben doch gerecht.
Am Flugplatz werden sie von ihrem türkischem Freund abgeholt. Sie sind bereits das sechste Mal in der Türkei. Es gefällt ihnen hier sehr gut. Die Menschen sind freundlich, hilfsbereit und gastfreundlich. Sie sind aufmerksam, fröhlich, sorgenfrei und nett zu jedermann. Die Landschaft ist einmalig schön. Es gibt unendlich viele wilde Blumen zu bewundern. Es ist unbeschreiblich grün, wo das Auge auch hinsieht. Hier gibt es Laubbäume, große, riesige Bäume obwohl es doch in den heißen Sommermonaten gar nicht regnet. Es scheint ein Wunder zu sein. Im Hintergrund sieht man die schneebedeckten Berge, zu ihren Füßen liegt das Mittelmeer. Die Berge scheinen des Rätsels Lösung zu sein: sie halten das schlechte Wetter ab, z.B. Regen und Kaltluftfronten, andererseits liefern sie unendliche Wassermassen für die Vegetation. Es ist einfach atemberaubend, herrlich, wunderschön hier zu sein und immer scheint die Sonne. Karl und Gisela lieben die Türkei. Am liebsten würden sie hier leben, aber das liebe Geld, die Arbeit..., was soll man machen? Ja später, wenn sie Rentner sind, dann wollen sie hier bleiben, zumindest in der Zeit wenn es in Deutschland kalt, ungemütlich und regnerisch ist. Sie fahren nach Avsallar. Hier haben sie sich im letzten Jahr eine Eigentumswohnung gekauft. Die Wohnung besteht aus zwei Schlafzimmern, einem schönen großen Wohnzimmer mit Meerblick, einer voll eingerichteten Küche sowie drei herrlichen Balkonen. Avsallar liegt an der türkischen Riviera, zwischen den bekannten Urlaubsorten Antalya und Alanya.
Dieses Mal sind sie im Frühling hier. Die Saison hat noch nicht begonnen, der Ort ist noch leer und ab und zu sieht man den einen oder anderen Touristen. Das Wetter ist um diese Jahreszeit sehr angenehm. Es ist um die zwanzig Grad im Schatten, es regnet kaum, die Sonne scheint und die Pflanzen beginnen sich aufs Neue zu entfalten.
Gisela und Karl sitzen auf dem Südbalkon. Es ist Zeit, den Sonnenuntergang zu beobachten. Dies machen sie immer, wenn sie um diese Zeit zu Hause sind. Heute ist er besonders schön, weil ein ganz dünner Wolkenschleier zu erkennen ist. Es sind nur Andeutungen von Wolken, man kann stellenweise durch sie hindurch sehen. Langsam färben sich die Wolken zu einer leicht hellroten mit weißen Flächen gezeichneten Farbe. Der Horizont wird ebenfalls rötlich, besonders an der Stelle, wo die Sonne ins Meer eintauchen wird. Jetzt nähert sie sich der Wasseroberfläche. Es wird nun nur noch ca. drei Minuten dauern, bis die Sonne völlig unter gegangen ist. Karl hat die Zeit einmal gestoppt. Ihn interessieren solche Dinge.
„Eigentlich sollten wir für immer hier leben“, sagt Karl.
„Wie könnte man es anstellen, dass wir so schnell wie möglich dieses Ziel erreichen? Weißt du, ich habe mir so meine Gedanken gemacht. Ich habe doch die Lebensversicherung. Wie wäre es, wenn ich plötzlich sterben würde. Nein, nein keine Angst; ich meine nur so zum Schein. Die müssen doch bezahlen.“
„Oh Karl, das ist doch nicht so einfach. Du immer mit deinen Ideen. Und was ist, wenn das raus kommt, oh nein bitte, nicht auszudenken“, stöhnt Gisela.
„Wieso, das ist doch ganz einfach. Für die bin ich tot, die zahlen und klatsch fertig. Pass auf: Ich sterbe hier in der Türkei, bin beim Angeln, es kommt Sturm auf, ich fall über Bord, der Ali ist mit dabei und erzählt später, dass er mich nicht mehr retten konnte, fertig aus. Du fährst nach Hause und erzählst die ganze Geschichte der Versicherung. Du brauchst eigentlich nicht einmal einen Polizeibericht, die überprüfen sowieso alles. Glaub mir, das ist ganz einfach. Ach wär das schön! Ich lach mich tot. Hä, hä“, lacht Karl und klatscht in die Hände.
„Karl, ich kann das nicht, ich lauf blau dann grün und danach rot an, ich würde das auch nervlich nicht durchstehen. Oh Gott, oh Gott was denkst du dir bloß immer aus“, jammert Gisela.
„Hä, hä, du meinst wie die blöde Alte im Flugzeug, die hatte auch alle Farben angenommen, die war doch nicht ganz dicht. Wir reden später noch mal darüber, das geht, glaub es mir, das ist ganz einfach“, sagt Karl und trinkt genüsslich seine Cola.
Früher hatte er viel getrunken, manchmal ein bis zwei Flaschen Cognac oder was gerade da war. Seit fast zwei Jahren ist er nun schon trocken, trinkt nur noch Cola und nimmt dadurch natürlich immer mehr zu.
Einige Tage sind vergangen. Das Wetter ist wie immer phantastisch, jeden Tag sind sie am wunderschönen Sandstrand, liegen faul in der Sonne, und genießen es in vollen Zügen. Im glasklaren blauen Mittelmeer zu baden ist für Gisela der Himmel auf Erden. Für Karl kommt ein kühles Bad vielleicht einmal im Urlaub vor und das nur, wenn er von anderen hartnäckig dazu bedrängt wird. Karl will seine Idee nicht aus dem Kopf gehen.
„Hast du eigentlich über das Ding mit der Versicherung noch mal nachgedacht?“, fragt er und wälzt sich auf seiner Badematte.
„Ja, weißt du, ich denke, wir sollten es versuchen, aber kläre mich bitte genauestens auf, damit ich keine Fehler mache“, erwidert sie.
Ihr Sinneswandel kommt nicht von ungefähr. Sie hat nämlich den jungen, gut aussehenden Kellner im Kopf. Falls der Plan gelingt, würde sie ihn jeden Tag sehen können. Sie hatte mit ihm einen Seitensprung im letzten Urlaub und es war unglaublich schön, völlig anders, wie neu geboren, wie damals als sie noch jung war. Dieses kribbeln im Bauch, dieses Gefühl nach Sex, das Verlangen danach, begehrt zu sein, zu schweben, das alles hatte sie lange nicht mehr gespürt. Sie fühlt sich wie unter Drogen und will das Gefühl wieder haben. Dass mir so etwas passieren kann, hat sie oft gedacht. Normalerweise ist sie eine treue Ehefrau, eher konservativ erzogen, gutbürgerlich, hausbacken und leicht schwatzhaft. Eigentlich entspricht sie völlig der Norm und unterscheidet sich überhaupt nicht von den normal moralisch denkenden Menschen. „Vielleicht ist es eine Torschlusspanik, vielleicht die Wechseljahre oder Karl?
Was hat mich dazu bewegt, so etwas zu machen, grübelt sie oft. Sie denkt nicht leichtfertig darüber nach. Sie kann es nicht verstehen, warum sie es nicht bereut. Sie will es wieder haben, dieses irre Gefühl, wenn sie es machen, die Zeit davor, die Explosion, die Zeit danach, jede Sekunde hatte sie genossen.
Der Betrug
„Das ist ja ein dickes Ei, wieso bist du plötzlich damit einverstanden“, räuspert sich Karl.
„Hast du was, ich begreife das nicht; vorher dagegen, jetzt ganz anders, versteh einer die Frauen. Egal, du bist dafür und fertig, aus. Wir machen es sofort, schon morgen, bevor du es dir anders überlegst.“
Am Tag darauf sitzt Gisela im Flugzeug auf dem Weg nach Deutschland zur Versicherungsgesellschaft. Sie träumt von ihrem Liebhaber. Sie denkt an das letzte Mal, das Mal davor, die Höhepunkte, ihre Phantasie lässt sie weiter gleiten in eine neue Zeit, in unendliche Erfüllung ihrer Träume.
„Liebe Frau Maus, mein aufrichtiges Beileid. Sie haben uns hier den Vorgang geschildert, wie Ihr Mann ums Leben gekommen ist. Bitte empfinden Sie es nicht als geschmacklos, wenn ich Ihnen erkläre, dass die Bearbeitung etwas dauert. Wir werden Sie unverzüglich informieren, sobald wir alle Ergebnisse vorliegen haben. Einige Wochen werden wohl vergehen, bis wir einen endgültigen Bescheid haben. Sie bekommen dann umgehend die Versicherungssumme ausbezahlt. Noch mal mein Beileid. Auf Wiedersehen, Frau Maus“, quält der Versicherungssachbearbeiter seine Worte aus sich heraus.
Gisela ist happy. Ja, Karl hatte doch Recht, war doch ganz einfach. Sie eilt ins nächste Restaurant, bestellt einen Kaffee und ruft Karl per Handy an. Dies dauert etwas länger, weil sie die Technik immer noch nicht beherrscht, obwohl ihr Karl alles immer wieder neu erklärt. Seine Erklärungen sind im Laufe der Zeit allerdings kürzer geworden. Warum verstehst du das nicht, ist doch ganz einfach, eröffnet er jedes Mal.
„Karl, es hat geklappt, du hattest Recht und ich bin auch nicht in allen Farben angelaufen“, freut sie sich überschwenglich.
„Was hab ich dir gesagt. Diese Versicherungsfritzen sind doch alle blöde. Die merken doch nichts. Wann ist Zahltag und wann kommst du zurück?“, fragt Karl und reibt sich seinen dicken Bauch.
„In einigen Wochen hat man mir gesagt. Sie werden den Fall formal überprüfen müssen, aber es gibt anscheinend keine großen Probleme. Ich werde, wenn alles klar ist, sofort ein Ticket kaufen und dann runter kommen. Pass schön auf dich auf und iss nicht soviel, du weißt doch wie schädlich das für dich ist., Tschüs und mach’s gut.“
Karl erwidert, wie immer: „Hör bloß auf, mir die Ohren voll zu singen, Ich ess’ soviel, wie es mir passt und fertig, Tschüs, mach’s besser.“
Gisela trinkt mit voller Vorfreude ihren Kaffee, merkt jedoch nicht, dass sie von einem Mann beobachtet wird. Er sitzt in einiger Entfernung in der äußersten Ecke des Cafés und raucht eine Zigarette. Aus engen Augenschlitzen beobachtet er Gisela.
„Zu dumm, dass man nicht mithören konnte, was am Telefon gesprochen wurde. Egal, denkt er. Die kriege ich sowieso noch. Er lächelt dabei und spürt, dass er dieses Mal einem Versicherungsbetrug auf der Spur ist. Wieso freut sich jemand, der eigentlich trauern müsste? Passt doch nicht zusammen. Die Tante guck ich mir später etwas genauer an, die dreht doch ein linkes Ei?“, sinniert er und saugt dermaßen an der Gitanes, so dass sie fast überall zu glühen beginnt.
Er raucht diese französischen Packungen, weil sie richtig fetzen. Dem Chef wird er vorerst nichts von seiner Vermutung erzählen, weil er im letzten Fall mit seinen voreiligen Annahmen daneben lag und sie ihn in große Schwierigkeiten gebracht hatten. Sie werden ohnehin jemanden beauftragen und eigene Nachforschungen anstellen, weil keine Leiche vorhanden ist, und den Berichten aus der Türkei kaum Glauben geschenkt wird.
Drei Wochen später. Gisela ist in Gedanken wieder bei ihrem Ali, dem Lover, während die nette türkische Stewardess höflich fragt: „Was möchten Sie trinken, Tee oder Kaffee?“
Sie ist ganz erregt durch ihre Gedanken und stöhnt leise: „Am, am, am... “.
Ali sagt das immer wenn er sie nimmt. Sie hatte ihn gefragt was das bedeutet, woraufhin er ihr erklärte, dass es: gut, gut, gut... , bedeutet. Jetzt lacht natürlich jeder Türke, denn es bedeutet natürlich etwas völlig anderes. Sie ist in ihren Rückblenden oft bei Worten, die er zu ihr sagt, dies macht sie voll an, sie wird heiß und kommt dabei fast an den sexuellen Höhepunkt. Sie erreicht ihr Ziel durch die gestöhnten Worte, weil dadurch die phantastischen Augenblicke plastischer werden. Sie hat die Bilder vor Augen, spürt den heißen Atem wenn er es aus sich herauspresst und sie vor brutaler Geilheit fast erlegt. Sie glaubt jedoch, dass es Liebe ist wenn er: Göt, Göt, Göt, stöhnt und seine Grobheit findet sie einfach männlich. Oft sagt er auch Nutte auf türkisch zu ihr und übersetzt es mit: mein Schatz.
„Hallo Madame, Kaffee oder Tee?“, fragt die Stewardess jetzt leicht genervt.
„Ach, äh, Kaffee bitte“, erwidert sie erschreckt.
Am Flughafen in Antalya erwartet Karl sie mit einer Flasche Sekt. Sie sind auf der Fahrt nach Avsallar und Gisela erzählt, wie einfach und gefahrlos alles war. Der Totenschein, der in der Türkei ausgestellt wurde sowie der Polizeibericht, alles wurde von der Versicherung akzeptiert. Sie hat Nachricht erhalten, dass das Geld in Kürze auf ihrem Konto eintreffen würde. Sie braucht nicht mehr zur Verfügung zu stehen, der Fall ist abgeschlossen. Karl ist so erheitert, dass er sich vor Freude auf die Schenkel schlägt und dabei fast einen Verkehrsunfall verursacht. Mit dröhnender Hupe zieht der entgegenkommende Lastwagen an ihnen vorbei. Der Fahrer wirft gestikulierend die Arme in die Luft und spukt aus dem Fenster. Karl betätigt den Scheibenwischer und lacht schallend: “Beinahe wäre ich tatsächlich gestorben und du hättest vielleicht nix kassiert, wie komisch“. Gisela sitzt kreidebleich daneben und herrscht ihn an, er möge doch in Zukunft etwas vorsichtiger fahren. Sie denkt natürlich auch an Ali, ihn möchte sie natürlich so schnell wie möglich wiedersehen und das bei bester Gesundheit.
Zwei weitere Wochen vergehen und Gisela erhält Nachricht von ihrer Bank, dass das Geld eingetroffen ist. Karl war sehr gut versichert. Die Auszahlungssumme bei Unfalltod ist doppelt so hoch, wie im normalen Todesfall, so dass eine schöne, dicke, runde Million ausgezahlt wurde. Das muss gefeiert werden. Sie gehen in das Lokal in das sie immer gehen, in dem Ali, ihr bester Arkadas (Freund), sie bedient und feiern ordentlich drauf los. Ali tanzt mit Gisela immer wieder Makarena und selbstverständlich alle ostanatolischen Heimatklänge, die aus der viel zu lauten Stereoanlage herausdröhnen und fast jeden normalen Menschen erschrecken würden. Um sie herum tanzen überwiegend Türken im traditionellem Stil. Einer knallt dabei zwei Holzlöffel rhythmisch auf einander, ein anderer trommelt auf einer nach unten geöffneten Trommel, die mal dumpfe mal helle Töne und schnelle Schlagfolgen monoton, wiederkehrend von sich gibt. Ein kleiner fast glatzköpfiger Türke rasselt unentwegt mit einem Schellenring. Zwei deutsche Damen scheinen das gleiche Liebesglück wie Gisela zu haben und versuchen sich unermüdlich am Bauchtanz. Die eine reichlich korpulente Frau tritt einem Türken dabei auf die Füße und schießt auf den Löffelknaller zu, der gerade seinen sturzflugartigen Tanzschritt nach vorne macht. Beide finden sich flach am Boden wieder. Die Dicke ist etwas benommen und schüttelt sich. Alles lacht, war wohl doch etwas zu viel Rakı.
Ein junger, schlanker, gut aussehender Türke, ca. zwanzig Jahre alt, reicht der Dicken die Hand und hilft ihr wieder auf die Beine.
Karl hat alles beobachtet und ist interessiert an dem jungen Mann.
„Komm doch bitte an unseren Tisch. Wir feiern heute und ich möchte dich einladen“, spricht er den jungen Mann an.
„Vielen Dank für Ihre Einladung. Ich komme gleich zu ihnen“, entgegnet er und setzt sich zu Karl an den Tisch. „Warum hast du das gemacht?“, fragt Karl den jungen Türken.
„Die fette Tante ist doch total besoffen. Die soll doch selber sehen wie sie wieder auf die Beine kommt. Weißt du, eine Kuh weiß wann sie genug gesoffen hat, diese hier anscheinend nicht, die ist noch blöder als ‘ne Kuh. Übrigens, ich heiße Karl und wie heißt du?“
„Osman ist mein Name. Ich habe der Frau geholfen, weil sie Hilfe benötigte. Auch wenn sie etwas falsch gemacht hat, so ist sie doch ein Mensch und wenn ich helfen kann, so helfe ich gerne. Es hat mich außerdem nichts gekostet. Ein wenig nett zu sein zu anderen Menschen, bereitet mir Freude. Das ist alles“, erklärt Osman und lächelt Karl dabei an.
„Was willst du trinken, Bier, Rakı? Was soll’s sein?“, fragt Karl neugierig.
„Oh bitte keinen Alkohol. Eine Cola ist o.k.,“ entgegnet Osman.
„So so, du bist also ein neuer Mohammed“, spottet Karl. Osman geht jedoch nicht auf die Anspielungen ein. Er ist neugierig auf Karl, der so komische Sachen sagt und so direkt ist.
„Eine Cola, das ist auch mein Getränk. Früher habe ich gesoffen wie ein Loch. Egal was gerade da war. Hauptsache es war Alkohol drin. Und du trinkst nicht wegen deiner Religion, ist das richtig? Eine feine Religion ist das, ja, ja, find ich gut, das mit dem Alkohol“, erzählt Karl. „Ich trinke keinen Alkohol aus Prinzip, weil ich davon überzeugt bin. Ich bin außerdem durch meine Religion so erzogen worden. Es ist vielleicht bei einer Feierlichkeit angebracht, z. B. zum neuen Jahr oder zur Hochzeit etwas zu trinken, aber ich hatte bisher nicht das Verlangen danach. Außerdem, wenn ich die Leute sehe, die betrunken sind und Dinge machen, die sie sonst nicht tun würden, finde ich sie so völlig fremd und verändert“, erklärt Osman.
„Wo hast du so gut Deutsch gelernt?“, fragt Karl interessiert.
„Zunächst auf der Straße und dann von einem Deutschen. Er war unser Nachbar. Wir haben jeden Tag oft stundenlang miteinander geredet. Er war sehr gut zu mir und wollte, dass ich unbedingt Deutsch lerne. Er sagte immer: wenn du nichts anderes zu tun hast, dann lerne eben Deutsch, vielleicht hilft es dir einmal. Es hat mir auch sehr viel Spaß gemacht und ich mochte den Deutschen sehr“, berichtet Osman.
„Du bist also ein ganz schlaues und fixes Kerlchen mein lieber Osman.“
Nach einer kurzen Weile fährt Karl fort: „Weißt du, wenn du so schlau bist werde ich dir ein wenig Geld geben. Mal sehen was dabei heraus kommt“, grübelt Karl und krault sich dabei seinen Bart.
Nach einer Pause sagt er: „ Ich denke ich werde dir zehnausend DM geben. Du verpflichtest dich, mir das Geld ohne Zinsen zurückzugeben, sobald du es kannst. Du musst mir versprechen, dass du es nicht verballerst. Alles klar, mein lieber Schlaumeier? Nimm das Geld und keine lange Sabbelei warum und wieso und so’n Scheiß, hörst du. Nimm die Kohle und halt die Schnauze, o.k.?“, redet Karl auf den verdatterten Osman ein.
Nach längerer Überlegung sagt Osman: „Ich denke, es hat nicht viel Sinn, dir deine seltsame Entscheidung auszureden. Ich werde also dein Angebot annehmen und sagen wir: Allah will es so. Es soll so sein. Ich nehme dein Geld an und verspreche dir, dass ich alles daran setzen werde, um es zu vermehren“, entgegnet Osman.
„Prima, ich freue mich, dass du es nimmst. Morgen kommst du zu mir nach Hause und bekommst richtig gutes deutsches Geld. Alles klar mein Junge? Also Prost und viel Glück, mein Mohammed“, freut sich Karl und fühlt sich sauwohl in der Rolle des Gönners.
Karl ist schon immer so spontan gewesen. Wenn er in einem Geschäft etwas sieht, was ihm gefällt, so kauft er es ohne lange zu überlegen. Auch wenn er eigentlich nur eine Tube Zahnpasta kaufen wollte. Jetzt, wo er ja soviel Geld hat, kann er auch spendabel sein, denkt er.
Am nächsten Morgen zum Frühstück erhält Osman das Geld von Karl. Osman kann sein Glück kaum fassen. Gisela ist es ziemlich egal. Sie denkt nur an Ali und wie sie es anstellen kann, ihn zu sehen, ohne das Karl etwas davon mitbekommt. Außerdem ist ihr schlechtes Gewissen etwas beruhigt, denn Karl ist in ihrer Schuld. Er hat sie vorher nicht in seinen gönnerhaften spontanen Einfall eingeweiht.
„So mein lieber Osman jetzt hast du richtiges Geld. Fang was Gescheites damit an und halt mich auf dem laufenden. Möchtest du etwas Schweinefleisch probieren oder verbietet deine feine Religion dir das?“, fragt Karl in heiterem Ton.
“Nein danke, der Koran verbietet es, Schweinefleisch zu essen. Einige Leute sagen, dass das Schwein alles frisst, sogar seinen eigenen Kot. Also ist das Fleisch auch nicht rein“, erwidert Osman und bedient sich beim Truthahnaufschnitt.
Diese Wurst wird hier hergestellt und schmeckt sehr lecker.
“So, so ein Schwein frisst also auch seine eigene Scheiße. Hör zu du Schlaumeier, du isst gerade Geflügel. Weißt du eigentlich, dass ein Huhn alles
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG Text: Helmuth Zimmermann All Rights ReservedImprint
Images: Helmuth Zimmermann
Editing: -
Translation: -
Publication Date: 08-19-2015
ISBN: 978-3-7396-1000-9