Alle Personen und Handlungen sowie ein Teil der Schauplätze sind frei erfunden, eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Orten sind purer Zufall und keineswegs beabschtigt.
Muschackowa Marja / Maria Muschack
hat sich in alten Traditionen verfangen
Muschackowa Rejzka / Therese Muschack
findet keinen Ausweg mehr
Leberecht Wollgam
sucht mit Marja einen Weg in die Zukunft
Kollasche Mato
sucht bei Marja ganz andere Sachen
Axel Döring
erfährt eine überraschende Neuigkeit
Sven Richter
fühlt späte Reue und Schmerzen
Peter Pommersberg
will nur noch weg
Werner Metag
freut sich zu früh, dass er nicht in die Kälte muß
Fred Bittner
leitet die Ermittlungen und leidet an Erinnerungen
Sabine Grünfeld
will dem Kind einen Namen geben
Janina Borrasch
hat einen exquisiten Geschmack und trägt an einem Rucksack
Volker Trommer
probiert auf dem Weg zum Erfolg so manches Fettnäpfchen aus
Rejzka summte vergnügt die alte sorbische Weise vom Mädchen, das zum Tanze ging, vor sich hin, als sie im vollen Mondlicht über die große Wiese lief. Der Weg schlängelte sich vom Hinterausgang des Schullandheims über eine große Wiese bis zum Schlossberg. So wurde der eisenzeitliche Burgwall genannt. In der Schule hatte sie in Heimatkunde gelernt, dass sich hier die größte Burganlage der Lausitzer Kultur befunden hatte. Die sollte auch den Namen für den Ort, nämlich Burg gegeben haben. In den Märchen, die Mutter ihr in sorbisch erzählte, war der Schlossberg der Wohnsitz des Wendenkönigs. Am Fuß des Schlossberges wohnten die Lutki, die Leutchen oder Menschlein. In den Sagen waren die Lutki meist freundlich und halfen den Bauern. Früher sollen sie sogar mit den Menschen zusammengewohnt haben. Dann hatte sie aber der Klang der Kirchenglocken unter die Erde vertrieben. Sie zeigten sich den Menschen nur noch selten. Vielleicht traf sie ja im Mondschein welche. Einem verliebten jungen Mädchen brachten sie bestimmt Glück. Mit den Händen streifte sie über die schlafenden Blütenköpfe von Schafgarbe und Johanniskraut, Frauenkräuter, wie die Mutter sie nannte. Sie fühlte sich jetzt so recht als Frau, die sie nach altem Brauch schon wäre, wenn auch das Gesetz der Meinung war, das es erst in einem Jahr soweit sei. Aber, was scherte sie das Gesetz in dieser herrlichen warmen Vollmondnacht, in der ihr Blut vom Frausein kündete. Das Herz klopfte stürmisch gegen die Rippen, wenn sie daran dachte, dass sie nun zu ihm ging, sich mit ihm treffen wollte, mit Axel, dem großen schlanken jungen Mann aus der Stadt. Zwei Wochen lang schon beschleunigte er ihren Herzschlag. Er war einer der Trainer und Gruppenleiter, beim Trainingslager Judo vom Polizeisportverein Dynamo Cottbus. Es war der letzte Durchgang dieser Sommerferien im Schullandheim Burg, in dem sie sich als Küchenhilfe etwas Geld verdiente, ehe in zwei Wochen ihre Lehrausbildung als Schneiderin in Berlin anfangen würde.
Seit Axel das erste mal am Ausgabefenster stand und sie ihm in die Augen gesehen hatte, ging er ihr nicht aus dem Kopf. Dreimal täglich stand er da an der Essenausgabe im Schullandheim und nahm die Teller und Tassen für seine Gruppe von ihr entgegen und stets war ihr dabei, als hätte sie ihm ihr Herz mit in die Hand gegeben. Er lächelte sie immer an und sie glaubte, dass auch er genauso fühlte wie sie. Wenn sie sich einmal im Gang oder auf dem Hof trafen, waren immer seine beiden Freunde Sven und Peter, die anderen Gruppenleiter, dabei und sie wagte kaum mehr als einen Gruß zu sprechen, aus Angst, die anderen könnten ihre Gefühle erraten. Die wollte sie vor niemanden Preis geben.
Die Mutter ahnte wohl etwas von ihrem Gefühlszustand. Sie hatte sie heute früh, als sie ihr schickes neues T-Shirt angezogen hatte, seltsam beunruhigt angesehen. „Machst dich ja so hübsch, Mila“, so nannte Mutter sie immer, „triffst du dich mit jemanden?“ Zu Hause wurde ganz selbstverständlich nur in der Muttersprache gesprochen, keiner der beiden Frauen wäre je etwas anderes in den Sinn gekommen, nur in der Öffentlichkeit, wenn Deutsche dabei waren oder auf dem Amt etwa, da sprachen sie natürlich deutsch. Bei der Mutter hörte man zuweilen in der Sprachmelodie und manchmal im Satzbau, dass es nicht die Muttersprache war.
„Nein, nein“ wehrte das Mädchen errötend ab, „heut ist doch Abschiedsabend für den letzten Feriendurchgang. Wir sind alle eingeladen, das ganze Personal. Und nach dem Abendabwasch schaffe ich es nicht noch mal nach Hause.“
Sie sah die drei jungen Männer auf den Stufen des Jugendturmes, oder genauer des Turmes der Jugend, wie der alte Bismarckturm offiziell seit 1951 hieß, im hellen Mondlicht schon vom Weg aus und war enttäuscht. Sie wollte sich mit Axel treffen, nicht mit allen dreien, aber die hingen ja immer zusammen wie die Kletten. ‚Hoffentlich schickt Axel sie bald fort,’ wünschte sich das Mädchen ‚oder wir gehen nur zu zweit im Mondschein spazieren. Es wär so schön, einfach mit ihm Arm in Arm durch die Wiese zu gehen.’ Als sie bei den Männern angekommen war, sah sie, dass neben der Bank ein Bierkasten stand, mit einigen geleerten Flaschen und drei großen Flaschen Cottbusser Korn, von denen eine auch schon fast leer war. Die drei Männer rochen auch kräftig nach Bier und dem „blauen Würger“, wie alle den Kornbrand von Melde nannten.
In Rejzka machte sich ein unangenehmes Gefühl breit, stieg aus dem Magen in die Brust und drängte alle Freude heraus.
Alkohol und Männer waren die Geißeln der Frauen, hatte die Großmutter gesagt, als die Mutter eines morgens weinend an der Waschschüssel stand und sich Blut aus dem Gesicht wusch. Der Herr habe den Männern diese Macht über die Frauen gegeben, wegen der Erbsünde Evas, und nun müssten die Frauen sich fügen. Damals war Rejzka erst zehn und verstand noch nicht genau, was die Großmutter damit meinte. Aber sie wußte, dass der Vater oft trank und dann grob und gemein wurde, die Mutter beschimpfte und schlug. Rejzka hatte sich dann immer versteckt und sich die Ohren zugehalten. Schon zwei Jahre später erfuhr sie wirklich, was Großmutter gemeint hatte, als sie sagte, die Männer seien die Geißeln der Frauen. Daran wollte sie jetzt nicht mehr denken. Es konnten ja nicht alle Männer so wie der Vater sein. Axel war da ganz anders. Er sprach sanft und ruhig und machte ihr Komplimente.
Axel stand von der Bank auf und kam ihr einige Schritte entgegen: „Komm, Kleine, lass uns ein Stück spazieren gehen. Die beiden sind gut versorgt und kommen ohne uns aus.“ Er legte fürsorglich den Arm um ihre schmalen Schultern und wandte noch einmal den Kopf zu seinen Freunden: „Ihr entschuldigt uns doch eine Weile?“ Sein Augenzwinkern und das süffisante Grinsen zu diesen mit großem Ernst gesprochenen Worten, konnte das Mädchen nicht sehen. So fasste sie wieder Vertrauen und kuschelte sich an seine Seite.
Eng aneinander geschmiegt gingen sie den Weg den Schlossberg hinunter. Er erzählte ihr, wie sehr er sie mochte, ihre Zurückhaltung schätzte. Dass sie nicht wie die Mädchen in der Stadt jedem Kerl schöne Augen machte. Er verglich ihre Schönheit mit den Wildblumen und zitierte einen Vers, den sie aus den Poesiealben ihrer Klassenkameradinnen in der sechsten Klasse kannte : „Sei wie das Veilchen im Moose, still, bescheiden und rein und nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein“. Sie wunderte sich, dass ein junger Mann etwas sagte, das ihrer Großmutter sehr gefallen hätte.
Als Axel meinte, nun genug Süßholz geraspelt zu haben, wurden seine Zärtlichkeiten drängender und er zog sie ins warme Gras. Rejzka wehrte sich halbherzig: „Nein, lass mich, ich will das nicht!“ Seine Zärtlichkeiten hatten ihr so gut getan, aber sie spürte seine Erregung und wollte nicht, was nun kommen sollte.
Axel hatte sie völlig in seiner Gewalt und trotz seiner in ihr Haar geflüsterten Beteuerung, er wolle ihr nicht weh tun und er würde sich vorsehen und ihr erstes mal sollte schön sein, ging er zielstrebig und grob mit ihr um. Aus seinem sehnsuchtsvollen Stöhnen, als er in sie drang, wurde ein frustrierter Aufschrei: “Du Schlampe, du wendisches Miststück, du hast dich wohl schon mit jedem Dorftrottel rumgesielt, na warte, ich zeige dir, was ein richtiger Mann ist, du kleine Fotze...“ Mit jedem seiner Worte stieß er hart und tief in sie, mit der linken Hand drückte er ihren Brustkorb fest auf die Erde und mit der rechten schlug er ihr hart ins Gesicht. Nach dem ersten entsetzten Aufschrei wimmerte sie nur noch leise: „Nein, nein, nein“. Blut lief ihr aus der Nase und aus den Mundwinkeln, dann wurde sie schlaff und still. Sie zog sich in ihr Innerstes zurück und nahm nicht mehr wahr, was ihrem Körper geschah. ‚Nein, nicht schon wieder, nicht mehr, nicht mehr, nicht mehr...’ waren ihre einzigen Gedanken.
Axel erhob sich und wischte seine blutverschmierte Hand angewidert an ihrem T-Shirt ab. Er sagte zu seinen Begleitern, die ihnen gefolgt waren: „Bedient euch, das Weib ist für alle zu haben, was soll man auch von so ’ner Dorfschlampe erwarten.“ Damit nahm er Peter die Schnapsflasche aus der Hand und trank gierig, während er sich an einen Baumstamm lehnte und mit schiefem Grinsen zusah, wie sich Peter auf das Mädchen legte. Sehr bald erhob Peter sich wieder und torkelte zu den Büschen, wo er sich würgend übergab.
‚Verträgt ja wirklich nichts, dieser Kerl. Der kommt nun aus Drebkau,’ grinste Axel in sich rein ‚von wegen Saufdrauke, wie die Drebkauer von ihrem Ort behaupteten.’ Inzwischen machte sich Sven, der auch schon ordentlich Schlagseite hatte, an dem Mädchen zu schaffen, das wie leblos im Gras lag und nur zuweilen stöhnte. „Scheint der zu gefallen,“ lallte Sven nach einem solchen schmerzhaften Aufstöhnen des Mädchens, „eh, komm Axel, wollen wir nen Dreier?“. Mit verkniffenem Mund und gierigem Blick auf das Paar stieß sich Axel vom Baum ab, nahm noch einen tiefen Zug aus der Flaschen und meinte: „Klar, zeigen wir der Nutte mal, wie’s richtig abgeht.“
Peter torkelte durch das Gebüsch zum Weg. Immer wieder schluckend und hicksend taumelte er zurück zum Schullandheim. Ihn trieb nur ein Gedanke: „Abhauen, weit weg“. Mit alldem wollte er nichts zu tun haben, das konnte nur Ärger geben.
Marja sah fassungslos auf ihre blutigen Hände, in denen sie das kleine schreiende Wesen hielt, ihre Enkeltochter, verschmiert und schrumplig, winzig war das kleine Wesen und doch so voller Lebenswillen. Hastig wickelte Marja das Neugeborene in warme Tücher und legte es in den ausgepolsterten Karton, der die Wiege ersetzen mußte. Sie wandte sich wieder ihrer Tochter zu, die bleich und wie ausgeleert in der großen Blutlache auf dem Bett in ihrem sicheren Versteck, in das sich Maria sonst immer vor ihrem betrunkenen Mann zurück zog, lag. Kaum merklich hob und senkte sich die Brust der jungen Frau. Erleichtert stöhnte Marja auf, Rejzka lebte, Gott sei Dank. Die Geburt hatte die beiden Frauen überrascht, es war zwei Monate zu früh, nach Marjas Berechnung.
‚Im Mai wäre der richtige Termin gewesen,’ dachte sie gerade noch, als ein Aufstöhnen von Rejzka alle anderen Gedanke vertrieb. Lange mühte sie sich, die Blutung zu stillen und die Tochter warm zu halten. Es war erst der 18. März 1990 und nachts noch empfindlich kühl. ‚Nur gut,’ dachte Marja ,dass heute alle damit beschäftigt sind, die Wahlergebnisse im Fernsehen abzuwarten. Keiner wird nach uns sehen.’
Jurij, ihr Mann saß bestimmt in der Kneipe und schwadronierte mit seinen Kumpanen, Jurk und Kollasche, von der Neuen Wendenpartei, zu deren Ortsvorsitzendem er sich gemacht hatte, über die neue Freiheit. ‚Und natürlich wird er wieder saufen,’ dachte Marja, aber das störte sie nicht mehr.
Als im letzten Sommer die Ausreisewelle begann die Wende einzuleiten, hatte er zusammen mit seiner neuesten Geliebten versucht Mitte August über Ungarn in den Westen zu kommen. An der österreichischen Grenze war das Pärchen aber zurückgewiesen worden. Nach seiner Rückkehr war er keine Nacht mehr zu Hause gewesen und hatte sich nicht weiter um Frau und Tochter oder den Hof gekümmert. Er kam nur noch kurz vorbei, wenn er etwas brauchte, Geld oder Eier. Inzwischen organisierte er seine politische Karriere in der Wendenpartei, die er im Januar mitgegründet hatte und die seinen Ehrgeiz, endlich groß raus zu kommen, befriedigen sollte. Er wollte weg vom Dorf, am besten als Abgeordneter ganz nach oben.
Diesmal hatte er keine Chance gehabt, in die Volkskammer zu kommen. Seine Partei war noch zu klein. Aber er war sicher, seine Zeit würde noch kommen. Bei der Karriere, die er vor Augen hatte, war kein Platz für die schüchterne abgearbeitete Maria. So mitten im Wahlkampf hatte er sich nicht scheiden lassen können, aber das hieß ja nicht, dass er sich noch mit ihr abgeben mußte oder mit seiner ebenso stillen Tochter Therese. Die Therese war nicht mehr Pappis süße kleine Prinzessin sondern eine zickige Jugendliche, die mit ihm sowieso nicht mehr sprach und die ihm schon seit zwei Jahren wo sie nur konnte aus dem Weg gegangen war, bis sie im September 89 nach Berlin zur Ausbildung gezogen war. Einmal hatte sie ihn noch im Februar angerufen, weil sie die Ausbildung als Schneiderin geschmissen hatte und in den Westen wollte, in einem Hotel arbeiten. Sie hatten sich angeschrieen, weil er kein Geld schicken wollte. Danach hatte er nie mehr was von ihr gehört und Maria, die dumme Pute, hatte zu ihrem verzogenen Gör, zu ihrer Rejzka, gehalten und sprach auch nicht mehr mit ihm. Aber das war ihm egal. Seit der Rückkehr aus Ungarn war er ganz zu seiner neuen Flamme, der Sekretärin vom LPG-Büro gezogen. Die Brigitte hatte ein ganz anderes Format, mit der konnte sich ein Mann auch öffentlich sehen lassen, dachte er. Sollten sich die beiden Muschack-Weiber doch um ihr Viehzeug und ihren Ziegenbock und den gottverdammten Hof kümmern, der interessierte ihn nicht mehr.
Jetzt wehte endlich ein anderer Wind, der Wind der Freiheit, jawohl. Und dieser Wind würde ihn, Jurij Muschack, tragen, erst an die Fraktionsspitze der Neuen Wendenpartei, die jetzt noch nicht in der Volkskammer vertreten war und dann vielleicht bis in die Regierung. Mit jedem Schnaps wurde die Zukunft großartiger und seine eigene Rolle bedeutender. Seine beiden Partei- und Saufgefährten ermutigten ihn durch ständiges Bestätigen seiner immer undeutlicher gelallten Prahlereien. Wenn er bei Laune war, bezahlte er schließlich alles und dass es aus der Parteikasse war, scherte sie überhaupt nicht. Hier in Burg waren sie drei die eigentliche Partei. Sie waren diejenigen, die sich für das Wohl der Wenden aufopferten und nicht diese SED-Speichellecker von der Domowina. Da konnten sie sich auf ihrer Wahlfeier der ersten freien Wahlen in der DDR, die nicht mehr von SED und den Blockflöten der Nationalen Front bestimmt wurden, auch was gönnen. Bei den nächsten Wahlen würden sie schon ganz anders da stehen.
Mit dem Parteivorsitzenden der Neuen Wendenpartei hatten sie eine Strategie für diese strahlende Zukunft entwickelt. Dr. Kito Balkow würde der Parteivorsitzende und Geschäftsführer des „Verlages für wendisches Schrifttum“, der als GmbH der Neuen Wendenpartei gehörte, bleiben. Jurij Muschack sollte Fraktionsführer der Abgeordneten der Neuen Wendenpartei im Parlament werden, wenn sie ihre Partei erst einmal richtig in Schwung gebracht haben würden und endlich die Vertretung der wendischen Minderheit durchgesetzt wäre. Sie wollten für die Wenden den selben Status erreichen, wie die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein. Für Jurk und Kollasche würden sich dann auch nette Pöstchen finden. Leider konnten die beiden nicht besonders öffentlich in Erscheinung treten, dafür waren ihre Westen nicht weiß genug. Aber die beiden wussten so einige Sachen, die noch recht nützlich werden könnten, nebelten die Vorstellungen von künftigem Glanz durch Muschacks von Bier und Spreewaldbitter geflutetem Gehirn. Die würden sich noch alle wundern, alle und vor allem Maria, die olle Ziege, denn nun brauchte er auch deren Geld nicht mehr, nun nicht mehr. Bei diesem wohligen Gedanken fiel sein Kopf auf die Tischplatte. Jurk und Kollasche grinsten sich trunken zu, da würden sie ihren Parteichef nachher zu seiner üppigen Brigitte schleifen und die würde ihnen dafür ordentlich was in die Taschen stecken, richtiges Geld, nicht bloß das RGW-Spielgeld, das es nicht mehr lange geben wird. Der Dicke hatte versprochen, dass die D-Mark in den Osten kommen würde, noch in diesem Jahr, sonst hätte die CDU auch nicht die Wahlen gewinnen können. Darüber machten sich die Männer von der Neuen Wendenpartei die wenigsten Sorgen. Sie hatten mit ihren eigenen Parteisachen genug zu tun, was kümmerten sie da andere Parteien. Zumindest hatten sie sicher stellen können, dass das mit dem Geld alles geklappt hatte, und dafür konnten sie sich jetzt eben auch was davon gönnen.
Werner Metag schaute versonnen aus dem Fenster seines Dienstzimmers auf die in weiß gehüllten Baumkronen des kleinen Parks am Bonnaskenplatz. Es war Mitte Dezember 2010 und die Lausitz war gleichmäßig schneebedeckt. ‚Vielleicht kriegen wir ja wirklich mal weiße Weihnachten’, dachte der Leiter der Kriminalpolizei beim Blick auf den anhaltenden sanften Schneefall. Selten genug kam das vor. Er erinnerte sich noch an seine Kindheit, als sie zum Kindergarten mit den Schlitten gebracht wurden. Erinnerte er sich wirklich noch an seinen Kindergarten, oder waren es Großmutters Erzählungen, die im Gedächtnis ihr Eigenleben führten? Metag wandte sich mit einem leisen Lächeln vom Fenster ab. Er hatte hier zu arbeiten und nicht in seiner Kindheitserinnerung zu schwelgen. Solche Abschweifungen kannte er als sicheres Zeichen, dass die vor ihm liegende Arbeit schlicht langweilig war. Statistiken erarbeiten oder kontrollieren, zählte weiß Gott nicht zu seinen bevorzugten Beschäftigungen. Heute allerdings hatte er sich die wenig geliebte Arbeit sogar mit einer gewissen Freude vorgenommen.
‚Ich muß nicht raus,’ dachte er ,mal ein angenehmer Aspekt der Leitertätigkeit.’ Als vor einer Stunde die Leitstelle den Anruf des Revierleiters aus Burg durchstellte, dass im Kaupen Nr. 19 eine tote Frau aufgefunden worden war, Tod durch Gewalteinwirkung, da mußte sein 13 Jahre jüngerer Stellvertreter und Leiter der Mordkommission Fred Bittner raus in die Winterwelt.
Die Kaupen in Burg, diese seltsamen Sandinseln im Gewirr der Spreewaldfließe, die gerade mal bis zu einem Meter über das umgebende Gelände reichen, hatte er noch aus einem alten Fall in Erinnerung. Die Kaupen waren von alters her isolierte Einzelgehöfte, von beachtlicher Größe aber schlechter Bodenqualität, zu denen erst seit dem letzten Jahrhundert Landwege führten, davor waren sie nur mit dem Kahn zu erreichen gewesen. Bevor die Talsperre in Spremberg seit Mitte der 1960er Jahre den Wasserlauf der Spree regulierte, standen die Kaupen mindestens einmal, aber in schlimmen Jahren auch mehrmals unter Wasser. Nur die Wohnhäuser, die immer an der höchsten Stelle gebaut waren blieben verschont und zuweilen nicht einmal die.
Selbst im Sommer war der Landweg zu den Kaupen ein Belastungstest für die Bandscheiben. Bei diesem Wetter wollte sich Bittner das nicht einmal genauer vorstellen. Ab der Ringchaussee war sicher nichts geräumt. In den Fahrrinnen, die sich dann auf den Wegen bildeten und die nachts überfroren, wurde man durchgeschüttelt, dass einem sämtliche Knochen weh taten.
‚Da soll sich mal die Jugend beweisen’, grinste er in sich hinein. ‚Wobei ja 35 Jahre nur im alten FDJ-Zentralrat als jugendlich galten,’ spann er den Gedanken weiter. Zu beweisen brauchte Fred Bittner sich und anderen bestimmt nichts, weder was seine fachlichen Fähigkeiten noch seine Persönlichkeit anbelangte, gab es jemanden, der ihm die Eignung für seinen Beruf absprechen würde. Lediglich mit seiner ziemlich aufbrausenden Art, wenn er das Gefühl hatte, dass man ihn nicht ernst nahm, kamen einige Kollegen und vor allem Vorgesetzte nicht gut zurecht. Bei den Verwaltungsleuten von der Direktion im Polizeischutzbereich Cottbus bis hoch ins Landesministerium galt er darüber hinaus als überheblich. ‚Was von mir ja auch manche dieser Sesselfurzer denken’, beendete Werner Metag die nächste Abschweifung von der Statistik.
Mit diesem ganzen Verwaltungskram tat er sich auch nach zwanzig Jahren als Leiter der Kriminalpolizei in Cottbus schwer.
Er hatte gerade die Vorlage „Grenzüberschreitende Kriminalitätsentwicklung im Vergleich zum Vorjahr“ auf dem neuesten Stand hinter sich gebracht, als sein privates Handy quiekte. Der Klingelton, der an Schwein beim Schlachten erinnerte, war ihm von seinem Sohn in dessen letzten Heimaturlaub eingestellt worden. Werner zuckte jedes mal zusammen, wenn es aus seiner Tasche quiekte. Da seine Privatnummer nur sehr wenige kannten, passierte es nicht allzu oft und erst recht nicht während der Dienstzeit. Wieder nahm er sich vor, diesen unmöglichen Klingelton auszuschalten und wußte im selben Moment, daß er es wieder vergessen würde.
Das Display zeigte einen Anruf von Fred. Das war ungewöhnlich. Üblicher Weise benutzten sie im Dienst nur die Diensthandys. Wenige wussten überhaupt, dass Metag und sein Stellvertreter auch Freunde waren. Im Dienst verhielten sie sich kollegial wie alle anderen und waren wie alle Männer bei der Kriminalpolizei der Direktion Süd beim Du. Lediglich den Frauen gegenüber gestattete Metag sich keine Vertraulichkeiten und auch kein kollegiales Du. Bittner war da unbekümmerter und duzte alle, auch mal ganz hohe Vorgesetzte, die vor allem, wenn er in Rage war.
Jetzt klang Bittners Stimme sehr gepresst, als er kurz und abgehackt sagte: „Werner, du musst her kommen, sofort. Der Rettungshubschrauber nimmt dich mit, ich hab das geklärt. Sonst kommt hier keiner mehr durch.“ Damit hatte er schon abgeschaltet. Metag runzelte die Stirn. Das war mehr als ungewöhnlich. Er mummelte sich mit allen warmen Sachen ein, die er vorfand.
Seine Lederstiefel und irgendwelche Reservesachen hatte er immer im Dienstzimmer. Er hatte sich schon manchmal seine Kleidung mit Blut oder Erbrochenem verdreckt, wenn er mit im operativen Einsatz war.
Im Dezember 1990 war er vom Leiter der Mordkommission Cottbus zum Leiter der gesamten Kriminalpolizei im Bezirk Cottbus berufen worden, da sein Vorgänger wegen zu großer Aktivitäten als Mitglied der SED nicht mehr tragbar erschien. In der Wendezeit hatte der Runde Tisch im Bezirk Cottbus durchgesetzt, dass alle Führungskräfte, die aktiv in der SED gewirkt hatten von ihren Funktionen entbunden werden mußten. Metag, der als Sorbe in der Domowina organisiert und dadurch nicht Mitglied der SED und somit politisch unbelastet war, galt für diesen Posten als Glücksfall. Dadurch kam es allerdings nicht mehr so oft vor, dass er zu operativen Einsätzen nach einer Meldung raus mußte. Es mußten schon außergewöhnliche Situationen sein, die seinen direkten Einsatz an einem Tatort erforderten oder es waren, wie derzeit durch den Wintereinbruch, schlicht zuwenig Leute verfügbar.
Bei dem Gedanken an den Wintereinbruch mußte Werner schmunzeln, er hatte schon manchmal gelästert, welch Glück sie als Kriminalpolizei doch hatten, dass noch keiner auf die Idee gekommen sei, den Wintereinbruch wörtlich zu nehmen und deshalb bei ihnen Anzeige zu erstatten, wo doch alle nach Schuldigen für die damit verbundenen Pannen suchten.
Der Flug über die frostklare und mit hohem Neuschnee bedeckte Landschaft war traumhaft, zumal der Pilot von Christoph 33 vor dem hohen Polizeifritzen, der ihm da in den Helikopter befohlen worden war, mit seinem Können Eindruck machen wollte. Werner Metag wunderte sich, warum Fred den Rettungshubschrauber angefordert hatte. Von der Leitstelle war doch ein Todesfall gemeldet worden. Von Verletzten hatte niemand etwas gesagt, dabei hatte Lebensrettung in jeder Meldung Vorrang vor Toten. ‚Tote können warten,’ meinte Metag in Gedanken ,zumal bei der Kälte.’
Er dachte nicht weiter über den Grund der Anforderung eines Rettungseinsatzes nach. Solche Grübeleien und Vermutungen über Ungewisses hatte er sich schon lange abgewöhnt. In der Studienzeit an der Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität Berlin hatten sie solche Ratespiele veranstaltet, um ihre Kombinationsfähigkeiten zu üben. So unwahrscheinlich manche ihrer damaligen Kombinationsketten auch waren, in den Jahren der praktischen Arbeit hatte er Fälle erlebt, die hätten sie damals als völlig unsinnig abgetan.
So widmete er sich lieber dem Anblick der tiefverschneiten Landschaft, die Frieden und Ruhe ausströmte. Wie immer erschien ihm der Anblick der weiten weißen Flächen der Felder eigenartig festlich. Die Stille, wie es sie nur an Schneetagen gab und die das Gefühl der Verzauberung sonst noch vertiefte, wurde durch das Geknatter der Rotoren zerrissen.
In der eisig klaren Luft und dem schwirrenden Licht der noch tief stehenden Wintersonne wirkten die Kaupen wie aus einem Märchen, wie vom Rest der Welt durch ein weißes Meer getrennte Inseln, jede davon eingefasst von einem Streifen Gehölz und Buschwerk. Auf einer dieser Insel standen zwei Männer vor einem vom Schnee verhüllten Grundstück, auf dem das fast im Weiß versunkene Häuschen kaum auffiel und sahen dem Heli entgegen, der Schneeschleier aufwirbelnd in ihrer Nähe herabsank.
Werner Metag stieg mit den Rettungskräften aus dem Hubschrauber und versank erst einmal knietief im Schnee. Hier war noch nicht geräumt worden. Nur einzelne Furchen zogen sich von den abgestellten Fahrzeugen zum Hoftor und von dort in langen Linien zum Haus und weiter zu Scheune und Stall.
„Wer weiß, wann die Kriminaltechnik bei dem Wetter hier rauskommt,“ begann Fred ohne Einleitung und Erklärung zu sprechen, „aber ich denke, hier musst du die Entscheidungen treffen.“ Damit wandte er sich abrupt zur Seite und stapfte durch eine der Furchen, die der Revierleiter von Burg erst vor kurzem gebahnt hatte, voran. Dem Rettungssanitäter, den er von früheren gemeinsamen Einsätzen kannte, winkte er nur knapp mit der Hand. Über die Schulter sagte er noch zu ihm: „Nimm Trage und Decken gleich mit, die Wege hier willst du nicht zweimal gehen, glaub mir.“
Der ältere Mann, der neben Fred gestanden hatte und bis jetzt mit angespanntem Blick zum Dach eines der entfernten Nebengebäude geschaut hatte, als ob er etwas Ungeheuerliches von dort erwarten würde, wandte sich nun den anderen zu. Er bewegte unbehaglich die Schultern, als ob er zusammenzucken oder etwas von sich schütteln wollte. Nach einem kurzen Räuspern begann er mit belegter Stimme zu sprechen: “Polizeiobermeister Jakubick, Revierleiter Burg, ich habe die Meldung erstattet und das hier alles gefunden.“, dabei wies er mit einer vagen Handbewegung zum Haus und weiter über das Grundstück.
„Nun kommt endlich“, drängte Fred Bittner die anderen.
Er ging mit Werner Metag voran, dabei die Spur durch den hohen Schnee verbreiternd, damit die Rettungskräfte besser hindurch kamen. Jakubick hatte ihnen geholfen die Trage mit Notfallkoffer und mehreren Decken bis zum Hoftor zu bugsieren. Auf dem Weg zum Haus gab Fred seinem Chef einen kurzen Bericht: „Wegen des Schneetreibens in der Nacht waren heute früh alle verfügbaren Einsatzkräfte von Polizei, Freiwilliger Feuerwehr, Mitarbeiter der Gemeinde und Mitglieder vom Verein der Kahnfährleute zu den entlegenen Gehöften unterwegs, von denen bekannt war, dass dort alleinstehende, ältere oder hilfsbedürftige Menschen leben, um nach dem Rechten zu sehen und Hilfe zu leisten, wo es Not tat. Die Gemeinde hat da extra einen Einsatzplan für solche Fälle und der funktioniert sogar. Hierher, zu den Kaupen war der Revierleiter Martin Jakubick eingeteilt, weil er den kürzesten Anfahrweg, von immer noch 6 Kilometern, hatte.“
Schon beim Abzweig vom Kaupenweg zum Gehöft der Muschacks, ahnte Martin Jakubick, dass etwas nicht in Ordnung war. Aus dem Schornstein stieg kein Rauch. War Muschackowa Marja, dem Muschack Seine, wie er Maria Muschack aus Tradition in sorbisch nannte, etwa nicht zu Hause? Aber wo sollte sie sonst sein?
Die zierliche Marja lebte ganz allein auf dem von ihren Eltern geerbten Hof und hielt ihn in Schuß, seit ihre Tochter, die Therese oder sorbisch Rejzka genannt, in der Wendezeit nach Berlin zur Ausbildung gegangen war. Bald darauf zog es Rejzka irgendwo weit in den Westen zum Arbeiten und der Kontakt zu ihr brach wegen eines Streites mit dem Vater ab. Marjas Mann, der Muschack Jurij lebte seit August 89 mit seiner damaligen Geliebten zusammen. Im Sommer 1990 waren die beiden in seinem protzigen nagelneuen BMW im Vollrausch in die Hauptspree gerast und ertrunken. Kaufangebote für das Grundstück, die es immer wieder mal gab, wies Muschackowa Marja stets entschieden zurück. Genauso wie sie das Angebot von diesem komischen Typen aus der Gegend um Berlin abwies, der seit ein paar Jahren jeden Sommer auftauchte, und mit der Marja (auf die er wohl auch ein Auge geworfen hatte) eine Ziegenzucht aufbauen wollte. Das wußten alle in Burg. Soviel auch im Dorf über alles getratscht wurde, über Muschackowa Marja gab es seit dem Tod ihres Mannes einfach nichts besonderes zu erzählen.
In der Marktsaison kam sie einmal in der Woche ins Dorf zum Wochenmarkt, um die Erzeugnisse ihres Gartens, meist Kräuter und Blumen, aber auch Eier, Gurken, Tomaten und was sie sonst noch über den eigenen Bedarf hinaus hatte, zu verkaufen. Den langen beschwerlichen Weg fuhr sie immer mit dem Fahrrad, mit dem schon ihre Mutter gefahren war. Auf dem Gepäckständer den hohen Weidenkorb mit dem Gemüse und am Lenker auf jeder Seite kleinere Körbe mit den Eiern und Blumen, balancierte sie wie eh und je die fast 10 Kilometer zum Markt. Meist trug sie die typische Burger Arbeitstracht, einen dunklen weiten Rock mit einer schlichten Borte am Saum über einigen Unterröcken, darüber eine Schürze in Blaudruck und eine Blaudruckbluse, dazu meist ein Kopftuch mit dem gleichen Muster. Der Blaudruck war heute ein seltenes Kunsthandwerk und die Stoffe waren entsprechend teuer. Muschackowas Sachen waren schon wenigstens eine Generation alt, solide aus Leinen und haltbar. ‚Das ist nur noch bei wenigen Burgern üblich,’ dachte Jakubick ‚dass sie in allem so traditionell sind wie Muschacks. Liegt vielleicht auch daran, dass sie als Katholiken besonders am Alten hängen.’
Auf dem Markt oder auch, wenn sie aufs Amt mußte, sprach die Muschackowa nur das mit den anderen Frauen, was die Höflichkeit gebot. Die Burger wußten ja, dass die Muschack-Frauen immer sehr still und scheu waren. Früher sprachen sie ausschließlich sorbisch, erst Marjas Mutter hatte in der Schule deutsch gelernt. Marja und Rejzka hatten natürlich in der Öffentlichkeit deutsch gesprochen, zu Hause blieb es beim Sorbischen.
Die Nachbarin Elfriede Bleschke, eine der aktivsten Frauen im Heimat- und Trachtenverein und ehemalige Vorsitzende der DFD-Ortsgruppe Burg, besuchte die einsame Marja regelmäßig, weil sie ein mütterliches Verantwortungsgefühl der nur fünf Jahre Jüngeren gegenüber entwickelt hatte. Zu den Veranstaltungen des Heimatvereins holt sie Marja meist ab, obwohl diese sich immer dagegen sträubte. Gegenüber der resoluten Elfriede konnte sich die einen Kopf kleinere und sicher nur halb so schwere Marja nie durchsetzen. So zog Marja stets still und zurückhaltend bei den Umzügen des Heimatvereins in ihrer sorbischen Festtagskleidung mit. Diese Festtracht, die schon ihre Großmutter zur Hochzeit getragen hatte, war ein besonders schönes und seltenes Exemplar. Der weite grüne Rock, den nur die verheirateten Frauen tragen durften, war mit einer
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Birgit Turski
Images: Birgit Turski
Publication Date: 12-17-2014
ISBN: 978-3-7368-6543-3
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