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Winterfalle

Himmel, jetzt stand ich doch tatsächlich schon seit geschlagenen vierundzwanzig Minuten vor der Tür zu meinem Elternhaus. Die Fassade des Hauses war offenbar neu gestrichen worden, denn das sonnige Gelb leuchtete mit dem strahlend blauen Himmel um die Wette. Vom Garten war nicht viel zu sehen, da es der Winter dieses Jahr wohl besonders gut mit uns meinte und alles in eine dicke Schneedecke gehüllt hatte.

Ich war Ewigkeiten nicht mehr hier gewesen. Um genau zu sein, schon seit fast fünf Jahren nicht mehr. Selbst um die Feiertage bin ich irgendwie herumgekommen. Ich hatte wirklich sämtliche Register gezogen. Meine Ausreden waren in die Massenproduktion gegangen. Doch jetzt hatte ich keine Wahl mehr gehabt. Deswegen stand ich – mit meinen siebenundzwanzig Jahren – wie der letzte Trottel vor dieser verdammten Tür und traute mich nicht hinein. Dabei war ich früher so gerne hier gewesen.

Hatte mit meinen Freunden im Garten gespielt, in der Laube, die nun etwas kahl aussah, meinen ersten Kuss bekommen und unter der großen Eiche meinen ersten Rausch ausgeschlafen. Ich hatte jeden Bewohner dieses kleinen Dorfes mit Namen gekannt und wurde ebenso mit Namen auf der Straße gegrüßt. Jetzt fühlte ich mich fremd.

Und ich konnte niemandem die Schuld geben außer mir selbst. Ich hatte diesen Schritt ganz bewusst getan. Hatte während meines Germanistikstudiums die Uni gewechselt, war in eine fremde Stadt gezogen und hatte sämtliche Zelte hinter mir abgebrochen. Meine Familie sprach ich nur noch am Telefon, meine Eltern hatte ich nur ab und zu mal in der Stadt getroffen, wenn sie mich unbedingt besuchen wollten, obwohl ich alles getan hatte, um dies zu verhindern. Einzig und allein meine Großmutter hatte ich regelmäßig in ihrem kleinen Häuschen in der Nachbarstadt besucht. Hatte mit ihr Tee getrunken, Fotos angeschaut und alten Geschichten gelauscht. Hatte mich ihr anvertraut und sie hatte mir geduldig und verständnisvoll zugehört, ohne mich zu verurteilen oder mir Ratschläge zu erteilen. Sie hatte mir nur den Kopf getätschelt und Tee nachgeschenkt, bevor sie mir von ihren Freundinnen und deren alltäglichen Problemen berichtet hatte.

Und ausgerechnet sie war der Grund, weswegen es mich Weihnachten nach Hause verschlug. Weswegen ich – inzwischen wohl festgefroren – noch immer keinen Finger gerührt hatte, um die vermaledeite Klingel zu betätigen. Vielleicht sollte ich einfach wieder verschwinden. Oma würde es verstehen. Sie würde mir verzeihen. Das Problem war, dass ich es mir nicht verzeihen könnte, wenn ich jetzt kniff.

Gestern hatte ich den Anruf meiner Mutter bekommen, dass Oma schwer erkrankt war und sie sie zu sich geholt hatten, damit sie sich um sie kümmern konnten. Oma war dazu anscheinend nicht mehr in der Lage.

Ich war die ganze Nacht gefahren und logischerweise fix und fertig, müde und hungrig. Ich umfasste den Griff meiner Tasche etwas fester und tat entschlossen den letzten Schritt. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, hatte ich bereits die Klingel gedrückt und unterdrückte heldenhaft jeglichen Fluchtreflex.

Trotzdem konnte ich ein Zusammenzucken nicht verhindern, als die Tür aufgerissen wurde und ich einer jungen Frau gegenüberstand. Ihre Haare waren ebenso straßenköterblond wie meine und ihre Augen wiesen den gleichen bitterschokoladenen Farbton auf.

„Simon!“ Ihre Augen weiteten sich und ich dachte schon, sie würde mir eine knallen, doch stattdessen breitete sich ein strahlendes Lächeln auf ihren Lippen aus und sie sprang mir jauchzend in die Arme.

„Du kommst endlich nach Hause!“, quiekte sie nahe an meinem Ohr, Beine und Arme fest um mich geschlungen und

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Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Images: www.pixabay.de
Publication Date: 01-02-2015
ISBN: 978-3-7368-7720-7

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