„Wieso geht das denn nicht?“ Sarah war wütend. „Bei Roman habe ich es doch gesehen.“ Nach dessen Vorbild hatte sie sich nach einigen Schritten umgedreht, um ihren Pfad wieder zu schließen. Aber die Büsche dachten nicht daran, sich wieder zusammen zu schieben. Der Pfad blieb sichtbar.
„Das darf nicht sein, Veik“, jammerte sie. „So kann uns jeder folgen. Was mach ich nur falsch?“
Der Elf flog heran. „Ruhig bleiben! Du musst die Arme ausstrecken. So.“ Er zeigte es. „Und dann über Kreuz nehmen. Versuch es mal!“
Zögernd gehorchte Sarah. Und es funktionierte. Hinter ihnen wurde das Dickicht wieder undurchdringlich.
„Das ist anstrengend“, keuchte sie. „Wenn das den ganzen Weg über so weitergeht, komme ich nie bei den Höhlen an.“
„Nur bis zur Lichtung“, tröstete Veik. „Danach kannst du die Zwergenwege benutzen. Dann wird es leichter.“
Auf der Lichtung spürten sie erstmals wieder die Nachmittagshitze. Die Blumen hoben verblühte Köpfe kaum aus dem braun verfärbten Gras. Veik setzte sich auf den umgestürzten Baumstamm. Er sah erschöpft aus.
„Oh, Veik, ich habe vor lauter Aufregung nicht mehr daran gedacht, dass du einen neuen Baum brauchst.“
Sarah bemerkte erst jetzt die tiefen Schatten um seine Augen. Wenn sie nicht alles täuschte, war auch das Bäuchlein geschrumpft. Entschlossen reckte sie sich.
„Wir werden jetzt zuerst für dich sorgen.“
Der Elf strahlte auf, aber die Flügel hingen traurig herab.
„Bert muss doch hier irgendwo sein. Ihn bitten wir um Hilfe.“
„Bert hat ein anderes Revier zugeteilt bekommen. Hier wacht jetzt Roman.“
„Ach, du lieber Himmel, das auch noch.“
„Magst du Roman nicht?“
„Das ist stark untertrieben.“ Die Erinnerung an Romans kalte Augen war nicht angenehm. Hastig sah sie sich um. Sie wollte ihm nicht begegnen.
„Wer hat Bert in ein anderes Revier versetzt?“
„Natürlich Roman, der ist doch in diesem Jahr dafür zuständig.“ „Müssen das nicht die Kuryn bestimmen?“
„Die mischen sich nicht ein“, meinte Veik. Dann sagte er: „Nenne sie nicht immer ‚Kuryn’. Das hören sie nicht gern.“
Sie war erstaunt. „Aber so heißen sie doch in ihrer eigenen Sprache.“
„Wer sagt das?“
„Ich hab es irgendwo gehört.“ Das Buch über den Alten Wald wollte Sarah nicht erwähnen.
„Die dir das erzählten, haben unrecht. Sie nennen sich einfach nur ‚Silberne’, und so heißen sie für alle im Wald.“
„Woher kommt dieser Name?“
„Das weiß man nicht. Vielleicht, weil sie nicht von hier stammen, wenig Menschliches haben. Sie wirken eben – silbern, um zu beschreiben, wie sie aussehen.“
Sarah schauderte trotz der Hitze. Was waren sie denn, diese Kuryn? Etwa Außerirdische?
Veik fuhr ungerührt fort:
„Wenn du sie ansprichst, sagst du Herr oder Herrin. Einige Männliche wollen auch mit ‚Hoher Herr’ angeredet werden, obwohl dieser Titel nur dem jeweiligen König oder der Königin gebührt.“ Damit hatte Veik begonnen, sein Versprechen wahrzumachen und Sarah von den Kuryn zu erzählen.
„Sie besitzen große Macht. Sie können deine Stimme über weite Entfernungen wahrnehmen, aus der Nähe sogar deine Gedanken lesen.“
Sarah dachte an die Stimmen in ihrem Kopf, die ihr – wenn auch nur im Traum – große Angst eingejagt hatten. Und Bleser! An dem waren sie in nächster Nähe vorbei geritten. Seine Gedanken hatten sie bestimmt gelesen und sich für sein Spionieren bitter gerächt. Wollte sie es wirklich mit diesen Wesen aufnehmen?
„Du musst komplett verrückt sein, Sarah“, spottete die innere Stimme. Um die zum Schweigen zu bringen, streckte sie energisch das Kinn vor. Diese Teufel hatten Zellina entführt, und sie würde ihnen die Freundin wieder abnehmen. Punkt! Auch wenn sie noch nicht wusste, wie.
Sie erhob sich vom Baumstamm. „Wir müssen weiter, Veik. Wenn du willst, kannst du dich oben auf meinen Rucksack setzen. Das strengt dich nicht so an wie fliegen. Auf dem Weg können wir weiterreden.“
Nach schwachem Protest nahm Veik das Angebot an. Nun war ihr Gepäck noch um vieles schwerer. Sarah keuchte.
Nicht weit hinter der Lichtung tauchten die Wege der Zwerge auf, und die waren nicht für Menschen gedacht. Das Buschwerk über ihnen ließ die Wanderin öfter den Kopf einziehen. Unter den Bäumen nahm das Licht allmählich ab. Der Nachmittag verstrich, die drückende Hitze blieb und ließ Sarah schwitzen. Dicke Tropfen perlten von ihrer Stirn. Erschöpft hielt sie an.
„Veik!“, begann sie und drehte den Kopf nach hinten. Der Elf war eingeschlafen, das Köpfchen an Sarahs Schulter gelehnt. Sie erschrak. Es musste schlimmer um ihn stehen, als sie gedacht hatte. Sie musste ihm helfen, und zwar schnell.
Ein unheilvolles Summen ließ sie aufschauen. Angelockt von ihrem Schweiß tanzte ein Mückenschwarm über ihr. Riesenbiester waren das, richtige Moskitos. Hastig stiefelte sie weiter, konnte den Blutsaugern jedoch nicht entkommen. Die ersten ließen sich auf Hals und Händen nieder. Sarah begann um sich zu schlagen.
Veik ruckte hoch. „Summser“, verkündete er und flog auf.
Sarah jammerte: „Jetzt weiß ich, was ich vergessen habe - Mückenspray.“
„Warte!“ Eilfertig sauste Veik davon. Sie wedelte mit den Armen. Die Mücken blieben unbeeindruckt. Wenigstens hatte ihr Shirt lange Ärmel. Sie hatte es trotz der Temperatur angezogen, um sich vor Dornen und spitzen Zweigen zu schützen. Der Elf kam zurück, seine mit Blättern vollgestopfte Kappe in den Händen.
„Nuss“, erklärte er. „Du musst sie zerreiben und auf die Haut geben. Summser mögen das nicht.“
Der Tipp war gut. Zwar färbte der Blättersaft rostbraun. Sarah wollte lieber nicht daran denken, wie ihr Gesicht jetzt aussehen mochte. Aber die Mücken hielten gleich respektvollen Abstand.
„Du nicht?“, fragte sie ihren fliegenden Begleiter.
„Anderes Blut“, grinste der und schüttelte seine Kappe aus. Sarah entdeckte, dass sein Kopf bis auf einen kleinen Haarkranz völlig kahl war.
„Bist du schon alt, Veik?“, fragte sie neugierig.
Er schmunzelte. „Viele Sommer alt“, bestätigte er. „Zwerge werden älter.“
„Und die Kuryn, ich meine, die Hohen Herrschaften?“
„Noch viel älter.“ Mehr schien er darüber nicht sagen zu wollen. Das brachte Sarah auf einen neuen Gedanken. „Sag mal, Veik, es gibt doch sehr wenige Kinder im Wald, ich meine, Nachwuchs von den Waldvölkern.“
Er nickte und hockte sich auf den Boden. Das Fliegen schien ihn anzustrengen.
„Hast du davon gehört, dass Kuryn-Mütter bei der Geburt ihrer Kinder sterben können? Ist so etwas im Wald bekannt?“
„Nein, dass ihre Frauen vorzeitig durch etwas so Natürliches wie eine Geburt sterben könnten, hab ich nie gehört.“
„Vielleicht weißt du nur nichts darüber“, sagte sie hastig. Eine irre Vermutung drängte sich ihr auf.
Der Elf wiegte den Kopf. „Der Wald weiß alles“, verkündete er feierlich. „Nie ist eine Weibliche der Silbernen verschieden, solange Veik hier ist.“
Sarah glaubte ihm bedingungslos. Er hatte sie noch nie belogen, wusste wahrscheinlich nicht einmal, was eine Lüge war. Das ließ nur zwei Schlüsse zu: Entweder war Sarah gar kein Blendling, ihre Mutter keine Kuryn und Bert hatte gesponnen. Oder – und kaltes Grauen stieg in ihr hoch – ihre Mutter lebte. Lebte noch irgendwo bei diesem Waldvolk, und Sarah, die Tochter, war auf dem Weg zu ihr. Das konnte, durfte einfach nicht möglich sein. Wie blind ging sie weiter.
Veik hatte wieder seinen Platz auf dem Rucksack eingenommen und störte ihr Grübeln nicht. Sarahs Gedanken kreisten wie wild um dieses neue Rätsel, kamen jedoch zu keiner Lösung.
Schließlich gab sie es auf. Sie sollte sich davon jetzt auf keinen Fall verrückt machen lassen. Alles das würde sich klären, wenn sie erst ihr Ziel, die Kurynhöhlen, erreicht hatte. Bis dahin galt die bewährte Methode: Ab in die Gedankenschublade! Beim Verschließen hörte Sarah es in ihrem Kopf ordentlich rumsen. Da konnte sie schon wieder grinsen.
Eine Weile später beschlossen sie, zu rasten. Sarah schien es, als wären sie überhaupt nicht von der Stelle gekommen, doch die Gegend war ihr unbekannt. Hier stand dichter Tannenwald. Der Platz, wo sie damals mit Bert zusammen die aufgebrachte Zwergenschar getroffen hatten, lag längst hinter ihnen. Wieder fand sich ein umgestürzter Baum zum Sitzen. Sie aß von ihren Vorräten, bot Veik davon an. Der schüttelte den Kopf.
„Das ist keine Nahrung für Baumelfen. Veik braucht Saft und Blätter und nur von Eichen, wie alle Wandras.“
Sarah erinnerte sich, dass seine Familie so hieß.
„Was machst du denn, wenn du keinen passenden Baum findest?“, fragte sie besorgt.
Veiks Flügel sanken wieder auf Halbmast. „Muss bald sein“, murmelte er, „sonst sehr schwach.“ Er schaute sich um. „Falsche Gegend hier, Eichen stehen näher am Wasser.“
Sarah entschloss sich sofort. „Morgen gehen wir zum Bach. Ich muss sowieso ihm nah bleiben, sonst hab ich nichts zu trinken.“
„Dein Olefreund hat aber gesagt, du sollst nach Süden gehen.“
„Es hilft alles nichts, zuerst müssen wir für dich sorgen. Und jetzt sollten wir uns ein Nachtlager machen.“
Diesen Gedanken hatte sie bisher verdrängt. Vor der ersten Nacht im Alten Wald fürchtete sie sich. Noch nie hatte sie nachts im Freien geschlafen ohne ein schützendes Dach über dem Kopf, in einer vielleicht feindlichen Umgebung. Es gab hier wilde Tiere, die meisten bestimmt nachtaktiv. Zwar war Veik bei ihr. Aber konnte der ihr im Notfall helfen?
Während Sarah auf dessen Rat dürre Zweige und Tannenwedel abbrach, unterstützt von Oles Messer, tröstete sie sich, dass sie wenigstens nicht allein sein würde.
Veik zerstörte diese Hoffnung. „Ich werde in einem Baum schlafen, suche einen Bruder aus meiner Familie. Der hilft mir vielleicht mit Nahrung aus.“
„Dazu musst du weit fliegen“, widersprach Sarah.
„Geht nicht anders. Dann bis zum bei Sonnenaufgang.“
Er war fort.
„Warte doch, findest du mich denn überhaupt wieder?“
Ihre klägliche Frage hörte er schon nicht mehr.
Sarah ließ sich auf dem Stapel aus Zweigen nieder, über den sie ihre Decke gebreitet hatte. Mit dem Schlafsack obendrauf müsste das eigentlich ein ganz passables Bett abgeben. Doch das interessierte sie jetzt nicht. Mit voller Wucht schlug die Einsamkeit zu, kaum, dass Veik weg war. Und die Angst kam angeschlichen.
In den Bäumen verstummte das Vogelgezwitscher nach und nach, kein Lüftchen regte sich. Stille! Sarah hörte nur ihren eigenen hastigen Atem. Es wurde immer dunkler. Draußen – vor dem Wald – war es sicher noch taghell, doch hier …
Sie machte sich plötzlich bittere Vorwürfe. Was tat sie eigentlich hier? Was glaubte sie ausrichten zu können? Sie war nur ein dreizehnjähriges Mädchen. Und die ‚Anderen’, ihre Feinde, waren mächtig. Das hatte Veik nur allzu deutlich gemacht. Vielleicht kam sie gar nicht bis zu diesen Höhlen. Es gab große Katzen und Wölfe, vielleicht sogar Bären. Die lebhafte Fantasie gaukelte ihr immer gefährlichere Bilder vor.
„Du bist ganz allein. Im Dorf weiß niemand, wo du steckst. Ole darf und wird nichts sagen. Du Dummkopf hast ihm ja das Versprechen abgenommen. Also kann dich auch keiner suchen. Sicher, Molly wird dich vermissen. Sie wird stinksauer sein, dass sie dich nicht mehr erwischt hat, da am Waldrand. Aber was kann sie heute Abend noch unternehmen? Wenn sie überhaupt etwas unternehmen wird. Vielleicht ist sie froh, dich endlich loszusein. Du hättest Lilo einweihen sollen.“
Hilflos schaute Sarah sich um. Ein Feuer wäre tröstlich. Doch das traute sie sich nicht. Es würde unweigerlich einen Wächter herbeirufen. Das konnte in diesem Teil des Waldes nur Roman sein. Nein, danke! Und bei der herrschenden Trockenheit wäre ein offenes Feuer viel zu riskant. Die Taschenlampe musste sie schonen, sonst reichten die Batterien nicht. Leuchtkäfer waren nicht in Sicht. Sarah hätte auch nicht gewusst, wie sie eines der unheimlichen Insekten fangen sollte.
„Absolut untauglich für Abenteuer“, stellte sie fest, fand ihren Ausspruch sofort komisch und lachte laut auf. Da saß sie hier wie ein Häufchen Elend, dabei war sie an ihrer Situation selbst schuld. Jetzt hieß es: Augen zu und durch!
Doch das mulmige Gefühl blieb, bis ihr das Geschenk der Zwergin einfiel: Grudis Pfeife, die säuberlich um ihren Hals hing. Im letzten Moment hatte sie daran gedacht, die Pfeife mitzunehmen. Der Gedanke beruhigte sie. Sollte sie Hilfe brauchen, konnte sie das Ding benutzen. Sie hatte Freunde im Wald. Und Bert würde sich auch finden lassen.
Sie gähnte herzhaft. Jetzt wollte sie erst einmal schlafen. Sie würde in den nächsten Tagen ihre Kräfte brauchen. Zuerst stach und zwickte es in ihrem Rücken. Dann senkten sich die Zweige und bereiteten Sarah ein beinahe bequemes Bett. Noch einmal überkam sie der große Jammer. Heute war ihr Geburtstag. Sie könnte jetzt zuhause ihre Party feiern oder mit Paps schick ausgehen. Sogar bei Molly und ihrem besonders guten Abendessen könnte sie sitzen.
Wer konnte wissen, was sie hier noch erwartete? Ganz zu schweigen von der Vermutung, dass ihre Mutter vielleicht noch lebte. Und – das fiel ihr dazu ein - Zellinas Mutter könnte auch dort sein, in den geheimnisvollen Höhlen der Kuryn. Weggelaufen, als das Kind noch klein war? Pah! Wer’s glaubte. Sie jedenfalls nicht. Sie würde jetzt nichts mehr glauben, bis sie sich mit eigenen Augen davon überzeugt hatte.
All diese Gedankenwirbel waren zuviel. Resigniert gab sie auf. Die Anstrengungen des Tages machten sich bemerkbar. Ihre Augenlider wurden schwer.
Sie hörte nicht mehr die vielen kleinen Tiere, die neugierig Halt machten und schnupperten, nicht die zarten Stimmchen der Blumenelfen, die flüsternd Vermutungen anstellten über diesen Menschen, der nachts hier mitten in ihrem Revier herumlag. Gelbe Wolfsaugen vermerkten achtsam ihr Dasein. Nachrichten ohne Worte liefen durch den Wald. Man wusste, dass sie da war.
Als der Mond unterging, glitt ein pelziges Etwas dicht neben ihr Lager und schmiegte sich an das Mädchen. Getröstet legte Sarah eine Hand auf warmes Fell und schlief ohne Träume.
Sie erwachte mit der ersten Helligkeit, die durch die Baumwipfel drang. Gähnend schätzte sie die Uhrzeit: ungefähr vier, halb fünf. Die Armbanduhr hatte sie natürlich vergessen. Wer brauchte hier schon eine Uhr? Vögel lärmten ihr Morgenkonzert.
Nach einem schnellen Blick in die Runde – kein Mensch, kein Tier oder sonst was war in Sicht – kroch Sarah von ihrem Behelfslager. Sie fühlte sich zerschlagen. Jeder Knochen im Leib tat weh. Und der Rücken erst - !
Nach einigen Dehn- und Streckübungen konnte sie sich wieder bewegen. Für das, was sie sonst im Badezimmer erledigte, ging sie noch tiefer in die Büsche hinein und schalt sich dabei albern. Wer sollte sie denn beobachten? Und wenn schon, empfindlich durfte sie hier nicht sein.
Sie kaute auf einem Brot von Oles Mutter herum. Mittlerweile war es zäh und schmeckte trocken. Das Wasser aus der Flasche war schal. Sarah verbot es sich, an heißen Kakao zu denken und begann, ihre Sachen zu packen. Den Schlafsack bekam sie nicht so exakt gefaltet wie Ole. Kurzerhand machte sie eine dicke Rolle daraus und schnallte ihn oben auf dem Rucksack fest.
Was nun? Sollte sie auf Veik warten oder ihm entgegengehen? Der Bach müsste westlich sein. Und dahin musste sie unbedingt, um frisches Wasser zu holen. Außerdem wollte sie sich waschen. Während sie losging, überlegte sie, wie viele Shirts im Rucksack waren. Sie hatte in ihren Kleidern geschlafen. Die stanken jetzt schon, fand sie. Ein weiterer heißer Tag, und man würde sie von weitem riechen können.
„Stell dich nicht so an, Sarah!“, schimpfte sie vor sich hin. „Das ist keine Luxusreise. Zur Not musst du deine Sachen eben im Bach waschen und auf irgendeiner Lichtung trocknen. Warm genug ist es ja.“
Wenn ihr das einer vor ein paar Wochen gesagt hätte.
Die Sonne ging auf, schickte ihre Strahlen herunter. Noch war es angenehm kühl. Sarah kam gut voran, bis die Zwergenwege aufhörten. Sicher endete hier deren Gebiet. Nun hieß es wieder langsam den Pfad öffnen und schließen. Sie machte das gewissenhaft, obwohl Bert gesagt hatte, das wäre nur am Waldrand unbedingt wichtig.
Egal! Ein möglicher Verfolger sollte die gleiche Arbeit wie sie haben. Sie wollte es ihm so schwer wie möglich machen. Und diese Verfolger konnten nur Molly und Grindo sein. Wenn sie nicht selbst in den Wald konnten, würden sie andere schicken. Davon war Sarah überzeugt. Lieber mit allem rechnen!
Die Baumlandschaft veränderte sich. War sie gestern durch dichten Tannenwald gelaufen, herrschten jetzt Birken, erkennbar an der weißen Rinde, und Kiefern vor. Der Boden wurde sandig. Kleine Sträucher mit spitzen glatten Blättern und Beeren wucherten vor den Stämmen. Das könnten Blaubeeren sein. Ob die schon reif waren? Sarah betrachtete die Beeren und spürte sofort den Geschmack auf der Zunge: Ein Teller mit frischer Milch und Blaubeeren – eines der höchsten Genüsse ihrer Kindheit. Das hatte es im Sommer bei Oma gegeben. Doch lieber erst Veik fragen. Nicht, dass sie irgendein giftiges Zeug pflückte. So weit reichten ihre botanischen Kenntnisse nicht, obwohl sie stolz darauf war, als Stadtkind verschiedene Baumarten überhaupt auseinander halten zu können.
Etwas später hörte sie es murmeln und plätschern, Wasser rauschen. Der Bach musste in der Nähe sein. Auf das, was sie erwartete, war sie nicht vorbereitet.
Der Wald tat sich auf. Sie betrat einen kleinen Strand, und vor ihr lag er, der Seerosenteich. Fest umschlossen von Buschwerk und Bäumen, konnte man das Wasser nur von hier aus erreichen. Kein Weg führte am Ufer entlang.
Eine große und dunkle Wasserfläche, in der sich der Himmel spiegelte. Am Ufer Schilf und die flächigen Blätter der Seerosen. Die Blüten geschlossene Kelche, groß wie Glühbirnen. Sie würden sich in der Sonne öffnen.
Sarah dachte nicht lange nach. Der Rucksack landete vor einem Baumstamm, die Kleider daneben. Schon berührte ein Fuß das Wasser. Es war kalt, sehr kalt sogar. Der Bach, der den Teich speiste, kam aus den Bergen.
Zitternd, mit Gänsehaut am ganzen Körper, tauchte sie ein. Das Wasser floss wie Seide an ihr entlang. Nach wenigen Schwimmstößen verschwand das taube Gefühl. Wohlbehagen machte sich breit. Dieses Wasser entschädigte für alles.
Der See war nicht breit. Schnell befand sich Sarah in der Mitte. Am hinteren Ende waren Holzstämme aufgetürmt, die wahrscheinlich die Stauung zu einem Teich bewirkten. Dort waren bestimmt die Bauten der Biber. Wo der Bach einfloss, war nicht zu erkennen. Nun, sie musste einen Weg finden, um in seiner Nähe zu bleiben. Aber nicht jetzt! Das Wasser war einfach zu herrlich für praktische Gedanken. Sie drehte sich auf den Rücken, ließ sich treiben. Die Sonnenstrahlen wärmten ihren Bauch.
Jetzt hatte sie endlich Ferien. Vergessen ihre Mission, der kranke Veik, die Gefahren, die noch vor ihr liegen mochten -, wo konnte es schöner sein? Sommer und ein Badesee ganz für sie allein. Kein überfüllter Strand mit tausenden von Menschen, Ungestörtheit, Stille -! Es war wie ein Traum.
Da hörte sie ein Geräusch: knackende Äste, Schritte. Jemand war in der Nähe. So schnell sie konnte, schwamm Sarah auf das Schilf zu und verbarg sich dahinter. Nur ihr Kopf schaute aus dem Wasser. Den würde man vom Ufer aus kaum sehen können. Der Jemand musste auf dem kleinen Strandfleck stehen und Ausschau halten.
Jetzt war kein Laut mehr zu hören. Sarah trat vorsichtig Wasser. Nur kein Plätschern, das sie verriet. Wer war der Unbekannte? War er ihr gefolgt, hatte er sie gar beobachtet? Sie merkte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg. Trotzig schüttelte sie ihn. Na und? Sie badete eben nackt. Sollten ihm die Augen aus dem Kopf fallen.
Doch sie hatte Angst. Ihr Gepäck lag deutlich sichtbar an der Baumreihe mitsamt den Kleidern. Wenn der Fremde die Sachen wegnahm, war sie verloren. Sie sah sich schon nackt durch den Wald irren.
Bevor Panik sie überwältigen konnte, rief eine bekannte Stimme: „Sarah, wenn du da irgendwo bist, melde dich!“ Bert!
Sofort wurde sie wütend. Wie kam er dazu, sie zu bespitzeln? „Ich bin hier“, schrie sie. Ihre Stimme klang so, wie sie sich fühlte. „Ich komm jetzt raus. Du drehst dich gefälligst um oder verschwindest im Wald! Glaub mir“, damit machte sie schon die ersten Schwimmzüge, „das wirst du bereuen.“
Vorsichtig streckte sie den Kopf um das letzte Schilfbündel. Niemand zu sehen! Ihr großes Handtuch nebst Decke lag unmittelbar am Wasserrand. Die hatte Bert dort hingelegt.
„Soll ich ihm dafür vielleicht noch dankbar sein?“, knurrte sie, huschte aber so schnell sie konnte ans Ufer, um sich einzuhüllen. Einige Minuten rubbelte sie sich kräftig ab, um ihre Fassung wiederzugewinnen. Bis zu ihren Kleidern waren noch ein paar Meter zurückzulegen, und sie wusste nicht, wo der Kerl streckte. Also drapierte sie die Decke so würdevoll wie möglich um sich und ging los.
„Darf ich wieder erscheinen?“ Das klang nach mühsam unterdrückter Heiterkeit.
„Untersteh dich!“ Die Wut kam zurück. „Wenn ich nur eine Haarspitze von dir sehe …“ In Windeseile schlüpfte sie in Unterhose und Jeans. Es gelang ihr sogar, ein frisches Shirt aus dem Rucksack zu zerren.
„Du Biest“, überfiel sie Bert, als er unter den Bäumen hervorkam. „Was bildest du dir ein? Mich hier einfach zu belauschen, sich anzuschleichen. Einen Spanner nennt man so jemanden, weißt du das?“
„Gemach, gemach!“ Er hielt mit ausgestreckten Händen ihre geballten Fäuste zurück. „Was regst du dich so auf? Ich habe nichts gesehen, wenn dich das beruhigt. Da waren deine Sachen, ich habe sofort gerufen. Und was steht hier vor mir?“ Die Stimme wurde höhnisch. „Ein kleines Mädchen, das Safari spielt und Angst hat, sobald jemand kommt.“
Ihrem Protestgeschrei kam er zuvor, indem er ihr einfach den Mund zuhielt. Sarah wand sich unter seinem Griff, musste sich aber anhören, was er sagen wollte.
„Bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen, hier ganz allein herumzulaufen? Was habe ich dir gesagt über die Waldbewohner, über die Tiere? Bist du blöd oder nur naiv?“ Sarah – ihr Mund war wieder frei – ließ eine Schimpfkanonade auf ihn los, die jedem Marktweib Ehre gemacht hätte. Bert grinste nur.
„Jetzt bist du nun einmal hier. Und was du hier willst, wirst du sicher noch ausspucken. Später! Jetzt halt endlich mal die Luft an. Wir müssen uns um Veik kümmern.“
„Veik“, schrie Sarah und sammelte hastig ihre Habseligkeiten ein. „Was ist mit ihm?“
„Gut, dass du auch mal an ihn denkst.“ Während Bert redete, half er ihr, den Rucksack überzustülpen.
„Ich habe an ihn gedacht“, fauchte Sarah. „Ich war auf dem Weg zu ihm. Wir wollten uns hier treffen.“
Das stimmte zwar nicht ganz, doch was ging das diesen aufgeblasenen Typen an.
Bert sagte ernst: „Er ist sehr krank. Seine Haut fühlt sich nicht gut an.“
„Seine Haut?“ Keuchend trabte Sarah hinter ihm her. Er ging schnell und machte sich nicht die Mühe, seinen Pfad zu schließen. „Nur noch ein kleines Stück.“
Was sie hinter den nächsten Bäumen sahen, ließ Sarah gerade noch einen entsetzten Aufschrei unterdrücken. Auf dem Moosboden lag der Baumelf wie ein Häufchen Elend, aschfahl im Gesicht, die Augen entsetzt aufgerissen. Wenige Meter vor ihm kauerte eine riesige Katze. Der kurze Schweif wehte eifrig hin und her. Sarah kannte das von ihrem Kater Dracula. Das Tier wollte angreifen. Veik hatte gerade die richtige Beutegröße.
Bert zog Sarah zurück. „Ein Luchs“, raunte er. „Und sie hat Junge.“ Er deutete auf drei wollige Bündel in einiger Entfernung, jedes schon größer als Dracula. Sarah hätte nie gedacht, dass Luchse so groß sein könnten. Sie hatte sich immer eine etwas massigere Katze vorgestellt. Dies hier war ein Raubtier, einem Leoparden ähnlich, den sie aus dem Zoo kannte. Die langen Haarbüschel auf den Ohren sollten ja typisch sein. Das Ungeheuer wollte ihren Veik fressen. Und die Jungtiere lauerten mit auf die Beute ihrer Mutter.
Ohne zu überlegen, riss Sarah die Schlafsackrolle von ihrem Rucksack herunter und stürmte damit voran. Der Luchs mit seinem feinen Gehör musste sie längst gehört haben, stufte sie aber wahrscheinlich nicht als Feind ein. Tiere im Alten Wald fürchteten den Menschen nicht. So drehte er sich nur um. Der Gesichtsausdruck der Großkatze, als ihr ein schweres Stoffbündel rechts und links um die Ohren gehauen wurde, war denkwürdig. So schnell war sie bestimmt selten verschwunden, die fiependen Jungtiere hinterher.
Schwer atmend ließ Sarah den Schlafsack fallen.
Bert dröhnte: „Mann, das war ein Ding. Du bist vollkommen verrückt. Das war große Klasse!“
Sarah kniete schon neben Veik. Er atmete schwer.
„Mallinora, du bist gekommen und hast mich gerettet.“
„Was machst du nur für Sachen?“, murmelte sie. Dabei strich sie über seine schweißnasse Stirn. Verzweifelt blickte sie hoch, sah erst jetzt, wie unordentlich Bert ausschaute. Er zog auf ihren Blick hin verlegen sein verknuddeltes Hemd glatt.
„Veiks Rufen hat mich aus dem Schlaf gerissen. Ich dachte gleich, das ist ein Notfall.“
Sarah stand hastig auf. „Die Zwerge müssen helfen.“
Damit nestelte sie die Kette mit der Pfeife von ihrem Hals. Die hatte sie sogar im Wasser anbehalten.
Bert wehrte ab. „Keine gute Idee! Zwerge mögen keine Elfen.“
Gereizt fragte sie: „Wen mögen die eigentlich? Ist mir egal, die schulden mir einen Gefallen. Dafür habe ich das Ding ja bekommen. Also werde ich sie rufen.“
„Warte noch!“ Er hielt ihren Arm fest. Sie runzelte unwillig die Stirn.
„Du wirst nur den einen Wunsch freihaben bei den Kerlen. Danach ist die Pfeife wertlos.“
„Na und? Du hast selbst gesagt, das hier ist ein Notfall. Wen könnten wir sonst rufen?“
Als Bert die Schultern zuckte, blies Sarah in die Pfeife. Ein dumpfer, lauter Ton erklang, lang anhaltend, selbst als sie das Instrument schon abgesetzt hatte. Er trug den Klang voraus durch den Wald, ein Echo kam zurück. Jeder im Umkreis von Meilen musste das hören.
Besorgt kniete sie sich wieder neben den Elf.
„Wie lange wird es dauern, bis jemand kommt?“
Veik schnaufte, hatte die Augen jetzt geschlossen. Bert ging aufgeregt hin und her.
„Ich weiß es nicht. Sie können überall sein. Wenn …“
Er unterbrach sich, denn in diesem Moment trat hinter einem Baum ein Zwerg hervor. Sarah kannte ihn nicht.
„Jemand hat gerufen. Wir hören.“ Er verneigte sich.
Hastig sprang Sarah auf. „Gut, dass du so schnell kommen konntest. Veik hier braucht dringend Hilfe. Hol bitte Grudi.“
Das Zwergengesicht war eine einzige Missbilligung. „Du rufst wegen eines gemeinen Baumelfen? Du rufst GRUDI?“
Sarah hatte soeben einen ausgewachsenen Luchs in die Flucht geschlagen. Vor einem Zwerg würde sie bestimmt nicht kuschen. Sie warf sich in die Brust und fragte mit Eisstimme: „Halten die Zwerge so ihre Versprechen?“
Die kleinen Augen funkelten böse. „Wir halten! Dein Wunsch wird erfüllt. Gib den Rufer zurück. Er hat seine Macht verloren.“
Schützend umklammerte Sarah das Pfeifchen.
„Grudi hat mir den, äh, Rufer gegeben. Nur sie erhält ihn von mir zurück.“ Und als der Zwerg zögerte, fauchte sie los, so dass er sich ein Stück zurückzog: „Ich bin Sarah Mallinora.“ Zum ersten Mal nannte sie sich selbst so und fand es richtig.
„Du holst jetzt deine Herrin! Es wird dir schlecht ergehen, wenn sie erfährt, wie du mich behandelst.“
Das war nur eine Vermutung, denn vielleicht erinnerte sich Grudi überhaupt nicht mehr an das Menschenmädchen. Doch die Drohung half. Nach einer raschen Verbeugung verschwand der Zwerg. Sein hasserfüllter Blick ließ Sarah unbeeindruckt.
„Meine Güte, du verstehst es, dir Freunde zu machen.“
Bert versuchte, Veiks Kopf höher zu betten, indem er Sarahs Rucksack unterschob.
„Sollte ich ihm die Pfeife etwa geben? Er wäre nicht mehr zurückgekommen, das kannst du glauben. Zu wem hältst du eigentlich?“ Die Aufregung der letzten Minuten ließ Sarahs Stimme überkippen.
„Hör auf zu zanken!“ Bert war der Auseinandersetzungen müde, und Sarah gab nach. Plötzlich begann sie zu zittern. Sie sank auf den Moosboden. Alles drehte sich.
„He!“ Bert rüttelte ihre Schulter. „Kipp mir jetzt bloß nicht um. Soll ich dir etwas Wasser holen?“ Das klang besorgt.
Geräusche nicht weit entfernt lenkten sie ab.
„Wie können die so schnell hier sein?“
Der Junge lächelte grimmig. „Die haben ihre Abkürzungen.“ Grudi, die Frau des Anführers, erschien natürlich nicht allein. Als sie in Begleitung mehrerer Zwerge auf den Weg trat, stand Sarah schon wieder auf den Beinen und hoffte, würdevoll auszusehen. Sie würde um die Hilfe für Veik kämpfen. Doch das schien nicht nötig zu sein. Grudi war informiert. Sie nickte Sarah kurz zu, drängte sie zur Seite und kniete neben dem apathischen Baumelfen nieder.
„Ein Wandra, nicht wahr?“
Als Sarah das bestätigte, holte sie eine kleine Holzflasche hervor. „Ich habe nur eine Essenz aus Rindensaft. Ob Eiche dabei ist, weiß ich nicht. Zunächst muss das hier helfen.“
Vorsichtig begann sie, Veik von der Flüssigkeit etwas einzuflößen. Er schluckte langsam.
Ohne von ihrer Tätigkeit abzulassen, befahl Grudi: „Hassil, suche sofort die nächste Eiche! Es ist dringend. Wo …?“
Damit blickte sie zu Bert hoch. Der verstand.
„In dieser Richtung müssen die nächsten sein, zum Wasser hin, vielleicht zehn Minuten.“ Er zeigte mit einer Hand.
„Hassil“, wiederholte Grudi. Der Zwerg von eben trat vor, sichtlich widerwillig. Grudi wechselte in ihre Sprache über und überschüttete Hassil mit Anweisungen, die er wortlos entgegennahm, um dann mit einem seiner Brüder zu verschwinden. Grudi ließ Veiks Kopf sinken. Sarah meinte, in seinen Wangen wieder etwas Farbe zu erkennen.
„Oh Grudi, ich bin so froh, dass du gekommen bist. Ich wusste mir keinen Rat mehr.“
Die Zwergin beachtete sie nicht. „Wächterjunge, du nimmst ihn und folgst meinen Brüdern. Sie werden eine Eiche finden. Er wird genesen.“
Bert schien zu wissen, wann ein Befehl befolgt werden musste. Er bückte sich und hob Veik vorsichtig hoch, balancierte ihn dann auf beiden ausgestreckten Armen. So ging er los.
„Aber seine Flügel“, rief Sarah verzweifelt. „Wo sind sie?“
Zum ersten Mal schaute Grudi sie direkt an.
„Dummes Kind, er kann sie doch falten und einziehen. Weißt du das denn nicht?“ Sarah errötete vor der kleinen Frau. Nein, das hatte sie nicht gewusst.
Grudi stand auf und klopfte ihren langen Rock glatt.
Ernst sagte sie: „Ich habe deinen Wunsch erfüllt. Der Elf bekommt Hilfe. Das ist mein Dank für deine Tat.“
Hastig zog Sarah die Kette von ihrem Hals. „Ich weiß, wir sind quitt. Hier hast du deinen Rufer zurück.“
Bei Grudis Lächeln erschienen Falten um die Augen. Jung konnte sie nicht mehr sein.
„Mallinora!“ Also auch sie kannte den Namen. „Du hast nicht für dich gebeten, sondern für ein anderes Wesen, ein Wesen aus dem Alten Wald. Das ehrt dich. Behalte den Rufer für ein nächstes Mal. Dann nutze ihn nur für dich. Das musst du mir versprechen.“
„Ich verspreche es.“ Sarah war feierlich zumute. Das Lob der Zwergin war wie ein Ritterschlag.
„Einen Moment“, bat sie und wühlte in ihrem Rucksack. In einer kleinen Dose befand sich der Silberschmuck vom Markt. Sie hielt Grudi ein Armband aus hübschen Münzen entgegen. Deren Gesicht versteinerte.
„Du bietest mir Bezahlung an?“ Die Worte klirrten wie Eistropfen. Drei Zwerge hinter ihr nahmen eine drohende Haltung an. Sarah fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Mit voller Wucht war sie ins Fettnäpfchen getreten, hatte die Zwergenfrau beleidigt.
„Nein, nein“, stammelte sie. Dann der Geistesblitz: „Das ist doch ein Geschenk für Gesine, dein Kind. Das habe ich ihr mitgebracht. Ich hatte gehofft, einen von Euch zu treffen, und da wollte ich …“
Sie verstummte. Auf ihrer ausgestreckten Hand lag das unschuldige Armband. Sarah wartete mit angehaltenem Atem. Sie ließ ihn zischend herausströmen, als Grudis Miene sich entspannte. Doch es vergingen einige Sekunden, ehe sie das Schmuckstück entgegennahm. Ein altes und stolzes Volk, die Zwerge. Mollys Worte.
„Für Gesine“, betonte Grudi, „Sie wird sich freuen.“
„Grüße sie von mir“, sagte Sarah schwach. Auch die Mienen der Begleiter wurden wieder freundlicher. Eine Katastrophe war abgewendet worden. Als wäre nichts gewesen, nahm die Zwergin Sarahs Arm und zog sie ein Stück zur Seite.
„Was tust du im Wald? Eine Frau allein, ohne ihren Clan, sollte nicht hier sein.“
Sarah zögerte. Wie viel konnte, durfte sie verraten? Dabei fühlte sie sich geschmeichelt, als Frau bezeichnet zu werden.
„Bert „, begann sie zögernd.
„Der Wächter hat seine Aufgabe“, unterbrach Grudi. „Er kann nicht mit dir gehen, wo immer du auch hin willst.“
Bert durfte nicht mitgehen. Daran hatte Sarah nicht gedacht. Für sie war selbstverständlich gewesen, dass er jetzt, wo sie ihn endlich gefunden hatte oder vielmehr er sie, mitkommen würde auf ihrer Mission: Die Kuryn finden und ihre Höhlen, Zellina da rausholen, flüchten! In Gedanken schien das alles ganz einfach zu sein. Doch vor ihr stand ein Wesen des Waldes, alt – und weise. Und die klugen Augen schauten, als wüssten sie alles, was in Sarahs Kopf vorging.
Wie konnte sie hoffen, ihr Vorhaben allein auszuführen? Dies hier war erst der Anfang. Wie sollte es weitergehen?
Eine kleine Hand legte sich auf Sarahs Arm.
„Du musst tun, was du tun musst. In dir ist eine mächtige Kraft. Du hast ein großes Herz, willst helfen, ausgleichen. Deshalb wirst du die Hindernisse überwinden und alle Gefahren bestehen. Vertraue deiner Kraft! Der Hilfe des Zwergenvolkes und der Elfen kannst du gewiss sein.“
Sarah bückte sich, weil Grudi zwei Finger ihrer rechten Hand ausstreckte und auf ihre Stirn deutete. Sanft wurde sie von diesen Fingern berührt. Die Welt löste sich auf, und Sarah sank bewusstlos auf den Waldboden.
Federleichte Schläge gegen ihre Wangen weckten sie abrupt. Sarah riss die Augen auf. Bert hockte vor ihr und schwenkte ein tropfnasses Tuch.
„Du hast mich geschlagen“, fuhr sie auf.
Er seufzte und ließ das Tuch fallen. „Und du bist wieder wach“, sagte er resigniert. „Ich habe dich nicht geschlagen. Das nennt man ‚aufwecken’. Hab ich bei den Sanitätern gelernt. Ganz kurz, so.“ Bert wollte es noch einmal demonstrieren, doch sie drehte den Kopf weg.
„Was ist passiert? Wie viel Zeit ist vergangen?“
„Keine Ahnung! Ich kam wieder, da lagst du schlafend da. Wieso schläfst du am hellen Morgen?“
Sarah stützte den Kopf in die Hände und zerstrubbelte ihr Haar. „Ich weiß nicht. Grudi machte irgendwas mit mir. Ich bin einfach umgefallen.“
Besorgt musterte Bert sie. „Grudi ist eine große Schamanin der Zwerge, eine Heilerin. Sie will dir bestimmt nichts Böses.“
„Das glaube ich ja auch nicht.“ Müde stand sie auf, schwankte ein wenig, denn ihr war schwindlig. Prüfend schaute sie an sich hinunter. Alles noch dran. Aber …
„Was ist das?“ Sarah hielt ihre rechte Hand hoch. Um den unteren Teil des Mittelfingers war ein weißes Tüchlein gewickelt. Es sah aus wie Mull, vielleicht etwas dicker, die dünnen Enden verknotet.
„Das hab ich nicht gemacht“, stellte sie fest, nestelte schon mit der anderen Hand an der Binde.
„Warte, lass mich helfen!“ Geschickt entwirrte der Junge die Fäden und zog das Tuch ab. Beide stießen erschrocken den Atem aus. Was Bert von Sarahs Finger abgezogen hatte, war ein Verband, und er war innen voller Blut. Eine graue Schnur wand sich wie ein Ring um den Finger herum. An den Rändern war Blut ausgetreten, das jetzt schon stockte.
„Wer hat das getan?“ Es konnte nur während ihrer Ohnmacht passiert sein.
„Die Zwerge? Grudi?“, rätselte Bert.
Sarah zuckte die Achseln. „Es muss einen Grund dafür geben. Aber ich finde es unmöglich, dass jemand an mir herumstichelt, wenn ich hilflos da liege.“
„Tut es weh?“ Bert tippte vorsichtig mit einem Finger auf das seltsame Band, zuckte im gleichen Moment zurück.
„Das Ding lebt ja. Es ist warm, und schau, es bewegt sich.“
Sie riss die Hand hoch und starrte darauf. Bert hatte Recht. Wie ein Wurm umklammerte das graue Ding den Mittelfinger, schwoll an, pulsierte. Panik stieg in ihr hoch.
„Nimm es weg!“, kreischte sie. „Bert, so hilf mir doch.“
Bert schien nicht wirklich zu wissen, was er tun sollte. Er nahm ihr Handgelenk hoch. „Zappele doch nicht so!“
„Du hast gut reden“, zischte Sarah. „Hab du mal so ein widerliches Vieh auf der Haut. Vielleicht ist es ein Blutegel.“
Davor hatte es ihr schon immer gegraust. Bevor Bert das Ding anfassen konnte, wurde es noch dicker und fiel ab, hinunter auf den Waldboden. Blitzschnell wurde der Wurmleib klein und flach, nicht größer als eine Raupe, grub sich in Windeseile in den Boden ein und verschwand.
Sprachlos starrten die beiden hinterher. All das war in Sekunden passiert. Sie waren nicht zum Luftholen gekommen. Doch Sarah fühlte sich erleichtert und betrachtete ihren Mittelfinger, der von einem Ring aus getrocknetem Blut umschlossen war. Sie hob ihn gegen die Sonne.
„Das sieht aus wie ein Muster.“
Bert kniff die Augen zusammen, um die winzigen Verästelungen besser zu erkennen.
„Kann man noch nicht sagen. Zuerst muss der Schorf abfallen.“ Und fügte hinzu: „Hoffentlich bekommst du keine Blutvergiftung.“
Sarah erschrak. „Das fehlte noch. Du machst einem ja Mut.“
Ein Grinsen antwortete. Auch Bert hatte den Schreck überwunden. „Mit dir wird es jedenfalls nie langweilig.“
Sie schüttelte die verkrampfte Hand aus. „Ich werde die Wunde beobachten. Mehr kann ich nicht tun. Was das zu bedeuten hat, kriege ich schon noch raus. Ich werde Grudi fragen, da kannst du sicher sein. So lasse ich mich nicht behandeln.“
Sarah schaute zum Himmel. Ein herrlicher Sommertag, die Sonne kam wieder. Sie hatte plötzlich Hunger und Durst.
„Lass uns essen“, sagte sie resolut. Und sie marschierten los.
Berts Baumhaus im westlichen Waldteil war gemütlich.
Wohl weil der Baum älter war, wucherten große Kloben in den Raum hinein und unterteilten ihn in mehrere Bereiche. Das Bett, eine einfache Liege, hatte man aus dem Stamm herausgehauen.
„Wie kann man auf einem halbrunden Bett schlafen?“ kicherte Sarah, und Bert grinste. Sie aßen Sarahs restliche Vorräte und Brote mit einem Belag, der nach Wurst schmeckte. Das Bachwasser, Bert goss es aus einem schlauchähnlichen Gebilde ein, war kühl und erfrischend. Mit vollem Mund sprachen sie über ihre Erlebnisse, vor allem, dass Veik gerettet schien.
„Glaub bloß nicht, dass die beiden Zwerge das freiwillig getan haben. Sie mussten bei einer zickigen Baumelfe bitten und betteln, Veik nur ja aufzunehmen. Dann hat er Asyl erhalten. Du hättest ihre Gesichter sehen sollen, als sie abdampften.“
„Und du meinst, er wird sich erholen?“ Sarah sorgte sich noch.
Bert meinte: „Sie wird ihn mit Haut und Haaren verschlingen. Da kommt er nie wieder weg.“
Sarah lachte. Hauptsache, Veik wurde wieder gesund.
Dann kam, was sie befürchtet hatte. Bert legte die Hände auf die Knie, lehnte sich entspannt zurück und befahl:
„Und nun schieß los!“
Sie wollte abwehren. „Was meinst du damit?“
„Komm schon, Sarah, keine Ausflüchte mehr. - Was tust du hier im Wald? Ich meine, an dein unverhofftes Auftauchen und das Geschrei bin ich ja gewöhnt.“
„Bert“, warnte Sarah.
„Ja, ja! Doch einen besonderen Grund wirst du diesmal schon haben, wenn man dein umfangreiches Gepäck betrachtet.“
Ihr blieb keine Wahl. Schließlich hatte er ihr mit Veik und den Zwergen geholfen.
Also erzählte sie vom ersten Sommervollmond, vom Tag danach, dem belauschten Gespräch zwischen Molly und Marie, von Bleser, der plötzlich blind war und seinen geheimnisvollen Zeichnungen. Nur von Mollys Benehmen am Tag vor ihrem Geburtstag und dem Hausarrest, dass sie danach Altenbergen beinahe fluchtartig hatte verlassen müssen, davon sagte Sarah nichts. Sie wollte erst einmal hören, wie Bert zu Molly stand. Sehr viel wusste sie von ihm ja noch nicht. Und so erwähnte sie den hilfsbereiten Ole, was ihr ein Stirnrunzeln von Bert eintrug, und dann – widerwillig - auch Lilo und ihren Beruf. Die Reaktion war wie erwartet.
„Meine Güte, Sarah, die Frau ist Polizistin. Sie wird, ja, sie muss alles tun, um dich zu finden. Wie konntest du so einfach abhauen? Ist dir klar, was die hier im Wald veranstalten werden?“ Berts Stimme kippte beinahe über vor Entrüstung.
Sarah wehrte sich. „Hör bloß auf! Glaubst du, daran habe ich nicht gedacht? Deswegen wollte ich ja einen Vorsprung von einigen Tagen. Dann finden sie mich nicht so leicht.“
„Molly wird dich suchen. Weil sie dich an Zellinas Stelle sehen will und hofft, beim nächsten Vollmond mehr Erfolg zu haben, kann sie dich nicht gehen lassen. Kommt ganz auf ihre Verbündeten an.“
„Und sie will mich unbedingt kriegen, oh ja“, dachte Sarah, fragte dann: „Wen meinst du mit den Verbündeten?“
„An erster Stelle Grindo.“
Sarah erschrak. Zu genau erinnerte sie sich an hasserfüllte Zwergenaugen. „Der hat doch Streit mit seinem Volk und kommt nicht mehr in den Wald.“
„Verlass dich nicht darauf. Sie sind immer noch ein Volk. Für wen würden sie sich im Ernstfall entscheiden? Für ihren Bruder oder für ein Menschenmädchen?“
Sie wiegelte ab. „Mach es nicht so dramatisch. Bei Grudi habe ich immer noch einen Wunsch frei. Es muss allerdings dabei um mich persönlich gehen, sagt sie.“
Bert hörte nicht zu. „Roman“, grübelte er laut.
„Was ist mit ihm?“, fragte Sarah schnell und hellhörig.
„Er könnte damit drinstecken. Schon seit einiger Zeit kommt er mir komisch vor. Ständig hockt er mit Warloii zusammen. Das ist der Kuryn, dem wir neulich im Wald begegnet sind.“
Ja, Sarah erinnerte sich zu genau. Der hatte ihr nicht gefallen.
„Normalerweise geben sich die hochnäsigen Silbernen nicht mit einfachen Wächtern ab. Was also ist mit Roman los? Und dann sein Benehmen auf dem Fest …“
„Du denkst also, Molly könnte Roman auf mich angesetzt haben, und er
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Ruth Cantor
Publication Date: 10-12-2014
ISBN: 978-3-7368-4717-0
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