Meine beiden Leben
Die Traumbücher
Über das Buch
Nach ihrer dramatischen Rettung aus der Gegenwelt muss Jess gegen das Trauma ankämpfen, das die fingierte Ermordung von Christoph und Raphael in ihr ausgelöst hat – immer wieder wird sie in die Erinnerung zurückgezogen, die sie für die Wirklichkeit hält. Ihre Familie und Freunde tun ihr Bestes, sie dabei zu unterstützen, doch darüber hinaus quälen sich alle noch mit einem weiteren Problem: Wo ist das verhängnisvolle Medaillon des Herrn geblieben – und wer ist der „Henker“, der mittlerweile ein hohes Kopfgeld auf Jess ausgesetzt hat?
So schwebt Jess beständig weiter in höchster Gefahr, und als sie und Christoph ihre Hochzeitsreise nachholen wollen, müssen beide erkennen, dass es keinen Ort gibt, an dem die Kronprinzessin wirklich in Sicherheit wäre. Zwar gewinnen die Vincenzes neue Freunde und Verbündete, aber überall lauern auch heimliche Feinde und gewissenlose Schergen des „Henkers“.
Als schließlich unerwartet noch eine weitere Macht mit einem raffinierten Zug ihr eigenes Spiel beginnt, überschlagen sich die Ereignisse …
Über die Autorin
Jessica Johanna Winter wurde 1969 in Kufstein im Tiroler Unterland geboren, wo sie noch heute mit Mann und Kindern lebt.
Bei Tag arbeitet sie mit Zahlen, in den Nächten widmet sie sich dem geschriebenen Wort. Neben kleinen Kurzgeschichten und Drabbles gehört ihre große Leidenschaft dem Schreiben von Fantasy-Romanen, gespickt mit Spannung, Romantik und der ganz großen Liebe.
Meine beiden Leben
Die Traumbücher
Jessica Johanna Winter
Impressum
Titel: Meine beiden Leben – Die Traumbücher (1. Auflage 2016)
Autor: Jessica Johanna Winter
Lektorat: Iris Bachmeier
Covergestaltung: Caroline Kretschmann
Bild: © Abgründe der Grafik
Copyright © 2016
Fantasy Verlag
207 Taaffe Place, Office 3 A
Brooklyn, NY 11205, USA
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Trotz sorgfältigem Lektorat können sich Fehler einschleichen. Autor und Verlag sind deshalb dankbar für diesbezügliche Hinweise. Jegliche Haftung ist ausgeschlossen, alle Rechte bleiben vorbehalten.
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1 – Zeit des Wartens 1
Kapitel 5 – Die Vermählung. 179
Kapitel 6 – Neue Bündnisse. 219
Kapitel 9 – Tausendundeine Nacht 344
Kapitel 10 – Böses Erwachen. 379
Kapitel 11 – Familienbande. 419
Kapitel 12 – Der Ursprung. 478
Kapitel 1 – Zeit des Wartens
Während Raphael noch versuchte, seine Verlegenheit in den Griff zu bekommen, machte sich Christoph daran, Jess das verdreckte, kratzige Kleid auszuziehen. Er öffnete sein Handgelenk und verschloss die Wunde in ihrem Gesicht. Danach drehte er sie auf den Bauch und versiegelte einen der Striemen auf ihrem Rücken, die durch die Bewegung immer wieder aufgerissen waren.
Raphael trat neben ihn. Er war wieder völlig besonnen und auf das Wesentliche konzentriert. „Hör damit auf, Christoph.“ Der Blick, den er für diese Anweisung erntete, hätte jeden anderen in die Knie gezwungen. Nicht so Raphael. „Lass Estephan das machen. Dein Blut wird noch anderweitig benötigt. Jess muss alle vier Stunden genährt werden, und ich glaube nicht, dass sie in ihrem jetzigen Zustand bereit ist, von einem anderen etwas anzunehmen. Wir können schon froh sein, wenn sie deines nicht ablehnt.“
Christophs Blick wurde weicher. Der Todesengel hatte recht. Jess brauchte ausreichend Nahrung, um wieder zu Kräften zu kommen. Wenn er zu viel für ihre Heilung verwendete, war sein Lebenssaft nicht mehr nahrhaft genug. Mit einem kurzen Nicken gab er sein Einverständnis. „Vater, würde es dir etwas ausmachen?“
Ohne zu zögern trat Estephan an das große Himmelbett und setzte sich neben Jess. Nach einem prüfenden Blick auf die schweren Misshandlungen begann er mit seiner Arbeit. Es dauerte über eine Stunde, bis alle Wunden verschlossen waren. Nur Brust, Bauch und Oberschenkel zeugten nun noch von den Qualen, die sie hatte erleiden müssen. An diese Stellen wagte sich Estephan nicht. Christoph hatte beschlossen, sie selbst zu heilen. Der ließ ihn währenddessen keine Sekunde aus den Augen.
Während der gesamten Zeit sprach niemand ein Wort. Christoph schickte sich an, Jess ins Badezimmer zu tragen, um die letzten Wunden zu versorgen und ihren Körper in der Wanne von Schmutz und Blut zu säubern.
Verlegen räusperte sich Alessandro. „Vielleicht sollten wir derweil unten warten, um den beiden die Intimität zwischen Ehegatten zu gewähren.“
Binnen fünf Sekunden war das Schlafzimmer leer. Alle hatten den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden.
***
Orario trat als Erster freudestrahlend auf die Veranda, und sofort stürmte das versammelte Rudel auf ihn zu. Alessandro trat vor. „Wir haben es geschafft. Jess ist zurück und ruht jetzt in der Engelsgleiche, um zu heilen.“
Weiter kam er nicht. Heftiger Jubel brach unter seinen Gefährten aus. Allein schon die Tatsache, dass Jess hatte zurückgebracht werden können, reichte den Wölfen, um in Euphorie zu verfallen. Sie war wieder da, alles andere würde sich schon ergeben.
„Es ist allerdings noch zu früh, um mit Sicherheit zu sagen, ob sie wieder ganz die Alte wird“, verkündete Alessandro weiter, nachdem wieder ein wenig Ruhe eingekehrt war. „Außerdem ist die Gefahr noch nicht gebannt. Wir haben den Auftraggeber des Dämons nicht ausfindig machen können. Und Jess erzählte uns auf dem Rückweg, dass Wandler in der Gestalt von Raphael und Christoph in Bezirk sechs aufgetaucht sind, um sie von dort wegzulocken. Die Bedrohung ist also immer noch gegenwärtig. Heute ist allerdings mit keinem Angriff mehr zu rechnen und es ist an der Zeit, einen ersten Erfolg zu feiern. Haltet aber trotzdem weiterhin die Augen offen.“
Rodriguez, Carla und Santos machten sich daran, Getränke und Speisen auf die Veranda zu schaffen und Bänke und Tische auf dem Rasen aufzustellen. Die Vampire mischten sich unter die Wölfe und genossen die Freude, die jedem einzelnen Gesicht anzusehen war.
Selbst Orario konnte sich dem nicht entziehen. Das Rudel freute sich tatsächlich darüber, eine Vampirin gerettet zu haben. Dieses Mädchen – diese Urreine – war einfach unbezahlbar, und sie war sein. Sie stand unter dem Schutz seines Clans, und er war ihr Meister. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht wandte er sich an den Todesengel: „Ein neues Zeitalter bricht an und du bist Zeuge davon. Vampire, Werwölfe und ein Todesengel. Alle ziehen gemeinsam an einem Strang, um ein Wesen zu beschützen. Eines von unglaublichem Wert. Eine Urreine!“ Stolz ergriff ihn bei diesen Worten.
Raphael neigte nur das Haupt und zog sich in seine eigenen Gedanken zurück. Beinahe hätte er sie verloren, und sie dachte die ganze Zeit, ihn verloren zu haben. Und nun, da er sie gefunden hatte, wollte sie ihn nicht bei sich haben. Tief in seinem Inneren durchzuckte ihn Schmerz, unvorstellbare Höllenqual. Sie hatte sich in der Nacht vor ihrer Vermählung von ihm verabschiedet. Ihn freigegeben. Aber wollte er diese Freiheit?
Nein, will ich nicht! Ich will Evangeline, und ich werde nicht ruhen, bis ich einen Weg gefunden habe, sie zurückzuholen. Sie war schon immer mein, und sie wird auch mein bleiben!
Ein heftiges Knurren entglitt seiner Kehle und zig Augenpaare richteten sich auf ihn. Ohne darauf zu achten, suchte er sich einen Platz etwas abseits von dem Trubel und setzte sich.
***
Valerie, die sich in den letzten beiden Stunden ihren Träumen hingegeben hatte, wurde durch den Jubel aufgescheucht und stürmte in die große Halle. Dort vernahm sie Alessandros Ansprache an das Rudel. Die Nachricht von Jess‘ Rückkehr und die Tatsache, dass sie wahrscheinlich überleben würde, versetzten ihr einen tiefen Schock.
In den Stunden, in denen die Wölfe damit beschäftigt gewesen waren, die Überreste der Dämonen zu beseitigen, war sie nicht untätig geblieben. Geschickt hatte sie Lorenzo dazu gebracht, sie über die Ereignisse der letzten Nächte in Kenntnis zu setzen.
So erfuhr sie alles über Jess‘ – in ihren Augen höchst peinlichen – Auftritt vor dem Hohen Rat und ihren Zusammenbruch, der sich als Entführung in die Gegenwelt entpuppt hatte. Ihre Hoffnung stieg weiter, als er ihr anvertraute, dass Jess schon seit sechs Tagen keine Nahrung zu sich genommen hatte. Die ersten Anzeichen ihres bevorstehenden Todes würden sich bereits abzeichnen. Die Zeit drängte. Sollte es dem Suchtrupp nicht gelingen, sie noch heute zu befreien und in Erfahrung zu bringen, was sie an der Rückkehr hinderte, würden ihr selbst die Vampire nicht mehr helfen können. Außerdem müsse man sie dazu bringen, zu trinken, und das könnte ein beinahe noch größeres Problem werden.
Nachdem sich die Ursprünglichen mit Carla und Rodriguez in Christophs Schlafzimmer zurückgezogen hatten, um dort auf die Rückkehr derer zu warten, die zu Jess‘ Rettung aufgebrochen waren, nutzte Valerie einen unbeobachteten Moment, um unbemerkt in die Küche zu schleichen und Samuel anzurufen. Es gab noch einiges, was sie in Erfahrung bringen wollte, und er war der Einzige, der ihr die Antworten auf ihre Fragen liefern konnte.
Hocherfreut über die Gesamtsituation und die Möglichkeit, selbst an neue Informationen zu kommen, war Samuel nur allzu gerne bereit, sein Wissen über den Tod durch Nahrungsentzug mit Valerie zu teilen. Nach zwanzig Minuten beendete die Haushälterin zufrieden das Gespräch. Seither schwebte sie auf Wolke sieben. Nicht mehr lange, und sie wäre endlich am Ziel ihrer Träume angekommen. In den schillerndsten Farben stellte sich Valerie ihre gemeinsame Zukunft mit Christoph vor.
Am Boden zerstört würde er zurückkommen und den Verlust seiner kleinen Hure betrauern. Und sie würde da sein. Für ihn sorgen, ihm zuhören, jeden Wunsch von seinen Augen ablesen und so die Erinnerung an das Flittchen Stück für Stück verdrängen. Es würde wohl nicht allzu lange dauern, bis er feststellte, wie wichtig sie in dieser schweren Zeit für ihn geworden war.
Leidenschaftlich würde er sie endlich in seine Arme ziehen und mit einem innigen Kuss ihre Lippen versiegeln, bevor er … Plötzlich brach im Garten lautes Freudengeschrei aus und all ihre Wünsche und Hoffnungen zerplatzten mit einem ohrenbetäubenden Knall.
***
Nach ein paar Minuten angestrengten Überlegens stand Valeries Entschluss fest. Leise, um nicht entdeckt zu werden, schlich sie über die Personaltreppe im hinteren Bereich in den ersten Stock hinauf und öffnete vorsichtig die Tür zu Christophs Schlafzimmer. Es war leer. Niemand da.
Das ist nicht möglich, dachte Valerie. Im Garten habe ich ihn nicht gesehen. Und das Miststück ist auch nirgendwo. Wenn ich die beiden aber nicht finde, kann ich ihn nicht weglocken, und wenn es mir nicht gelingt, die beiden zu trennen, kann ich diese Schlampe nicht vernichten.
Langsam wanderte ihre Hand zu ihrer Gesäßtasche und fühlte nach dem Stück Holz, das sie aus der Küche mitgenommen hatte. Es war noch da. Gut. Valerie hatte bereits gewusst, was dies für ein Haushalt war, als sie seinerzeit in Christophs Dienste getreten war. Sie tat es aus gutem Grund, aber nicht unvorbereitet. Daher auch der Pflock. Wie man ihn einsetzen musste, wusste sie genau. In der Kunst des Pfählens war sie mehr als gut unterwiesen worden.
Die Badezimmertür stand einen winzigen Spaltbreit offen, und Valerie blinzelte hindurch. Christoph kniete mit nacktem Oberkörper vor dem großen Whirlpool und wusch etwas. Leise näherte sie sich. Er war so in Gedanken versunken, dass er ihr Eindringen noch nicht einmal spürte.
Seltsam, dachte Valerie. Das ist gar nicht seine Art. Eigentlich müsste er mich schon längst bemerkt oder wenigstens gerochen haben.
Direkt hinter ihm blieb sie stehen. Ihr Plan sah vor, ihn mit einer List aus dem Zimmer zu locken, um dann das Weibsbild in Ruhe zu vernichten. Sicher, eine Weile würde er sauer sein, dennoch … Niemals könnte er einen Menschen töten. Und sie schon gar nicht. Davon war Valerie felsenfest überzeugt. Irgendwann würde er schon einsehen, dass er mit ihr sowieso besser dran war als mit seiner Verblichenen. Valerie hatte nämlich auch ein kleines Geheimnis, von dem Christoph nichts wusste. Wenn er dann aber davon erfahren würde, würde er mit Sicherheit begeistert sein.
Mit gierigen Augen betrachtete Valerie den makellosen Körper, der ihr all die Jahre verwehrt geblieben war. Nur einmal diese samtweiche Haut berühren. Mit den Lippen die unzähligen Wassertropfen wegküssen, die ihn noch verführerischer wirken lassen. Nur ganz kurz …
Mit zittrigen Händen näherte sich Valerie langsam die letzten Zentimeter. Die Versuchung war zu groß, um die Gelegenheit einfach verstreichen zu lassen. Zu viele Jahre hatte sie sich schon nach ihm verzehrt.
Von der Berührung aufgeschreckt schnellte Christoph herum und warf sich auf seinen Angreifer. Es dauerte eine Sekunde, bevor er begriff, wer ihn da berührt hatte. Ein Aufschrei entfuhr Valeries Kehle, als sie von dem Wesen, das sie liebte, so unvermittelt zu Boden gerissen und mit ihm auf die andere Seite des Badezimmers geschleudert wurde.
Jess, die Christoph in die Wanne gelegt und sorgsam gestützt hatte, ging derweil unter. Der Vampir erkannte seinen Fehler, ebenso die geringe Gefahr, die seiner Meinung nach von Valerie ausging, und stürmte zur Wanne zurück, um seinen geliebten Engel aus dem Wasser zu ziehen.
Den Vampiren auf der Veranda war der Schrei nicht entgangen und sie stoben nach oben, allen voran Raphael. Angriffsbereit erstürmten sie das Badezimmer.
Valerie lag neben der Dusche auf dem Boden. Vor der Wanne stand Christoph und drückte unter lautem Knurren Jess‘ Körper schützend an sich. Keiner der Eintreffenden wusste, was vorgefallen war, aber Christophs bedrohliche Haltung legte die Vermutung nahe, dass Valerie die Quelle allen Übels war.
Eric kniete vor ihr nieder und reichte ihr die Hand. „Was hast du denn jetzt wieder angestellt? Ich habe dir schon vor Jahren zu verstehen gegeben, dass ich dir einen kleinen Besuch abstatten werde, wenn du dich noch einmal zwischen Jess und Christoph stellen solltest!“ Er wusste über Valeries Gefühle Bescheid, ebenso über ihre permanenten Versuche, eine Barriere zwischen dem Kronprinzen und seiner Auserwählten aufzubauen.
Mit irrem Blick schlug Valerie die dargebotene Hand aus und rappelte sich umständlich von dem nassen Boden auf. Mit zu Fäusten geballten Händen wandte sie sich an Christoph, der unverändert dastand und Jess‘ leblosen Körper an sich presste. Inzwischen eilte Raphael herbei und breitete ein großes Badetuch über Jess.
„Das wirst du noch bereuen“, flüsterte Valerie mit wutverzerrtem Gesicht. Etwas lauter fügte sie hinzu: „All die Jahre habe ich dir die Treue gehalten, und du dankst es mir, indem du dir diese Schlampe ins Haus holst. Aber jetzt ist es endgültig vorbei. Du siehst mich nie wieder!“ Den letzten Satz schrie sie aus Leibeskräften.
Ungerührt erwiderte Christoph: „Ich hoffe, das ist ein Versprechen, von dem du ausnahmsweise einmal vorhast, es zu halten.“
Das war zu viel für die gedemütigte Frau. Mit einem jähen Aufschrei stürmte sie Richtung Wanne und zog dabei den Pfahl aus der hinteren Hosentasche. Noch ehe sie Gelegenheit bekam, damit auszuholen, wurde ihr Arm gepackt, und schon baumelte sie zehn Zentimeter über dem Boden. Estephans Augen funkelten wild, als seine Fangzähne ausfuhren. Diese widerliche Person hatte die Grenze des Erträglichen überschritten. Hier und jetzt sollte sie ihr Ende finden, sonst würden Jess und Christoph niemals Ruhe vor ihr haben.
Sanft legte Alessandro, der einfach der Menge nachgeeilt war, eine Hand auf seine Schulter und gebot dem Vampir damit Einhalt. „Tut das nicht, Großmeister. Sie ist immerhin ein Mensch. Sie verabscheut Jess aus tiefstem Herzen und hat ihr das Leben in den vergangenen zwanzig Jahren wirklich nicht leicht gemacht. Dennoch würde unsere Kleine niemals wollen, dass ihretwegen jemand anderem Leid zugefügt wird. Jess hat sehr großen Respekt vor dir. Sie schätzt deine Entscheidungen und bewundert deine Feinfühligkeit. Nimm ihr das nicht, indem du deine Hände mit Valeries Blut besudelst.“
Die Worte des Wolfes verfehlten ihre Wirkung nicht. Estephans Blick fiel auf die Gestalt in den Armen seines Sohnes. Langsam setzte er die zappelnde Haushälterin ab und entriss ihr mit der freien Hand den Pfahl.
Valerie nutzte die Gelegenheit augenblicklich, machte auf dem Absatz kehrt und schoss aus dem Raum wie der sprichwörtliche geölte Blitz. Die Vampire sahen auf den Wolf. Seine Ansprache und sein Mut, sich für ein Wesen einzusetzen, das auch ihm alles andere als wohlgesonnen war, beeindruckten sie.
Lautes Gepolter drang von der Diele ins Badezimmer, ein kurzer Schrei, dann Stille. In den Gesichtern der Vampire spiegelten sich die unterschiedlichsten Empfindungen. Überraschung, Freude, Genugtuung und Schreck in Alessandros Zügen. Nur Raphaels Gesicht wirkte ausdruckslos. Vermutlich hatte er bereits gewusst, was passieren würde.
Gemeinsam begaben sie sich nach draußen und spähten über die Brüstung, zum Ende der großen Treppe. Valerie lag unnatürlich verrenkt am Fuß eines der Aufgänge. Unter ihrem Gesicht bildete sich eine Lache, und der Geruch von Blut durchströmte den Raum.
Als Raphael sich aus der Gruppe löste, um sich Valeries anzunehmen, damit sie auch sicher den Weg ins Licht fand, kam eine frische Bö auf und Rauch drang durch die Halle, bis hin zu der leblosen Gestalt. Ein Todesengel manifestierte sich und blickte auf die im Sterben liegende Frau. Ohne nach oben zu sehen, sprach er: „Dafür bist du nicht zuständig, Raphael. Sie steht auf meiner Liste.“
Raphael verneigte sich leicht. „Sei gegrüßt, Jonathan.“
In der Zwischenzeit hatte sich auch das Rudel in der Eingangshalle versammelt und starrte ehrfürchtig auf den Todesengel. Das Läuten der Türklingel schreckte alle auf. Giovanni, der am nächsten stand, öffnete.
Grinsend trat Samuel ein. Ob der Menge an Wölfen, die ihn interessiert, aber auch alarmiert musterten, stockte er und sah sich verhalten um. Endlich erkannte er Jonathan, und er fand seine Sicherheit wieder.
Ohne ein Wort des Grußes an Orario, Eric und Santiago, wie es sich eigentlich für einen untergereihten Vampir gehörte, eilte er zu dem Todesengel und der Gestalt am Boden. In einer augenscheinlich heuchlerischen Geste griff er nach ihrem Arm, führte ihn zum Mund und küsste die schlaffe Hand.
„Ich bin da, mein Liebling. Ich halte mein Versprechen, das ich dir vor vielen Jahren gegeben habe.“ Mit einem überheblichen Seitenblick auf Christoph öffnete er sein Handgelenk und näherte sich Valeries Mund.
„Was machst du da, Samuel?!“ Orarios Stimme hallte bedrohlich durch die Stille. Jonathan erhob sich und blickte in Richtung des Ursprünglichen, während Samuel ungeachtet dessen sein Blut in Valeries Mund fließen ließ.
„Valerie wurde vor mehr als vierundzwanzig Jahren von Samuel gezeichnet. Sie ist ihm versprochen. Ich habe ihn vor zwei Tagen über ihr bevorstehendes Ableben informiert und nun ist er gekommen, um einzufordern, was ihm zusteht. Ihre Seele.“
Mit friedlichem Lächeln beugte er sich wieder über Valerie und flüsterte: „Nein, mein Kind. Wenn du weiterexistieren möchtest, darfst du nicht in das Licht gehen. Du musst die Dunkelheit wählen. In fünf Tagen beginnt für dich die Ewigkeit.“
Mit seiner Rechten zeichnete der Todesengel einen Halbkreis über ihrem Gesicht und Valerie schloss die Augen. Mit eisigem Blick richtete Samuel das Wort an Christoph: „Sie gehört mir, tat sie schon immer. Ich nehme sie jetzt mit, du brauchst sie ja nicht mehr. Du hast ja ein neues Spielzeug gefunden.“ Abschätzig deutete er mit dem Kopf auf den leblosen Körper in Christophs Armen. „Ich an deiner Stelle würde aber künftig ein wenig mehr darauf achtgeben. Es scheint mir äußerst zerbrechlich“, fügte er hämisch grinsend hinzu. Dank Valerie war er ja über die Vorfälle der letzten Tage genauestens informiert. Ebenso wie über alles andere, was in diesem Haus vor sich gegangen war. Schade, dass das nun vorbei war. Allerdings war er recht zuversichtlich, bald eine Möglichkeit zu finden, einen neuen Informanten einzuschleusen. Zwei Mal war ihm das bisher schon gelungen, er würde auch ein drittes Mal erfolgreich sein.
Die Ironie in Samuels herausfordernder Stimme wurde von den umstehenden Wölfen mit bedrohlichem Knurren quittiert. Angesichts der Reaktion des Rudels war es nun an Christoph, überlegen zu lächeln, was Samuel leicht verstörte.
Schnell hob er Valerie hoch, verließ unter dem Schutz des Todesengels das Haus und eilte nach Impruneta in die Residenz des Hohen Rates. Bis zu ihrer Wandlung in seinem Haus in Siena zu bleiben schien ihm zu unsicher. Dazu hatten sich Valerie und auch er selbst viel zu viele Feinde geschaffen.
***
Nachdem Samuel das Anwesen verlassen und die Wölfe sich wieder auf die Veranda verzogen hatten, um weiterzufeiern, trat Jonathan neben Raphael. „Es tut mir leid, mein Bruder. Du kennst unsere Gesetze. Mir waren die Hände gebunden.“ Eine leichte Verbeugung verlieh seinen Worten den entsprechenden Nachdruck. „Auch ich verfolge das Leben meine Schützlinge und weiß sehr gut, wie übel deiner Kleinen mitgespielt wurde. Dennoch bin ich verpflichtet, auch dem schwärzesten Schäfchen den richtigen Weg zu weisen. So sind nun mal die Regeln.“
Er warf einen Blick auf Jess‘ bleiches, von Erschöpfung gezeichnetes Gesicht. „Wirklich ein außergewöhnliches Wesen. Stärker, als man bei ihrem Anblick vermutet. Ungeheure Kraft schlummert in ihr und wartet nur darauf, freigelassen zu werden. Ich fühle es trotz ihrer Abwesenheit. Selbst in der Engelsgleiche ist ihre Gegenwart für uns alle spürbar. Sie hält noch einige Überraschungen für euch bereit.“ Und an Christoph gerichtet: „Gib acht, Kronprinz, es ist noch nicht vorbei!“ Damit löste er sich in Rauch auf und verschwand. Für einen Augenblick blieb es ganz still.
„Wer war das? Warum weiß er Dinge über Jess, die du noch mit keinem Wort erwähnt hast?“ Christoph fixierte Raphael mit eisigem Blick. Orario antwortete an seiner Stelle: „Das war Jonathan, ein Mitglied der Ältesten. Sie verfügen über ein Wissen, das keinem gewöhnlichen Todesengel zur Verfügung steht. Du solltest seine Worte ernst nehmen.“
Ohne weitere Umschweife erinnerte Raphael daran, dass bereits vier Stunden vergangen waren, seit sie mit Jess hier eingetroffen waren. Es wurde Zeit, sie zu nähren.
***
Christoph legte Jess vorsichtig aufs Bett, und Raphael tauchte ab.
„Hey Kleines, kennst du mich noch?“ In freudiger Erwartung ihrer Antwort lächelte er bereits. Doch Jess reagierte nicht. Nachdrücklich wiederholte er seine Frage direkt an ihrem Ohr.
„Geh weg, du bist nicht echt. Ich will nur schlafen und sterben“, murmelte sie schwach und kaum verständlich. Raphaels Lächeln gefror.
Sofort war Christoph alarmiert. „Was ist los?“ Mit einer Kopfbewegung signalisierte ihm der Todesengel, dass er sich zu gedulden habe.
„Jess, Kleines, wach auf!“ Unsanft rüttelte Raphael die friedlich im hohen Gras schlummernde Gestalt.
„Halte dich bereit“, wandte er sich an Christoph. „Sobald sie die Augen aufschlägt, drückst du ihr dein Handgelenk auf den Mund. Lass dich nicht abwehren, dafür ist keine Zeit.“ Eindringlich kamen die Worte aus seinem Mund. Christoph lehnte sich entschlossen ans Kopfende des Bettes und nahm Jess in einer fließenden Bewegung mit.
„Kleines, hör mir jetzt genau zu. Wir sind nicht mehr in der Gegenwelt. Du bist in Sicherheit, und ich bin echt. Das weißt du genauso gut wie ich. Auch Christoph ist real und wartet auf der anderen Seite, um dich zu nähren. Ich bring‘ dich jetzt zurück, und du wirst trinken!“ Etwas versöhnlicher fügte er hinzu: „Tut mir leid, Kleines, ob du es nun glaubst oder nicht. Wir tun das nur für dich.“
Kräftig blies er in Jess‘ rechtes Ohr. Im Bruchteil einer Sekunde schlug sie die Augen auf und Christoph presste sein Handgelenk fest auf ihren Mund. Mit weit aufgerissenen Augen blickte Jess in die Runde, ohne tatsächlich jemanden wahrzunehmen, und versuchte sich mit aller Kraft zu befreien.
Ein ängstlicher, hilfloser Laut drang durch das Schlafzimmer, als ihr klar wurde, dass sie das nicht schaffen würde. Ihr Mund füllte sich mit Flüssigkeit und die begann langsam ihre Kehle hinunterzulaufen. In Christoph zog sich alles zusammen. Beinahe konnte er den Schmerz selbst fühlen, den Jess empfand, als der erste Blutstropfen ihren Magen erreichte.
Aufgewühlt und verängstigt verfolgten die Vampire und Alessandro den einsamen Kampf. Jess‘ Augen füllten sich mit Tränen. Gerade als sich die erste löste, driftete sie ab und ihre Lider schlossen sich.
Raphael fing sie behutsam auf und brachte sie in die Engelsgleiche zurück. Sorgsam trug er seine süße Last an jenen Platz am Wasserfall, von dem er sie vor einer Minute gewaltsam weggeholt hatte.
***
Mit nachdenklichen Gesichtern kehrten die Vampire auf die Veranda zurück und verfolgten einige Minuten lang still das ausgelassene Treiben der jungen Wölfe. Die Ursprünglichen waren peinlich berührt ob der Gefühle, die sie in der letzten Minute empfunden hatten. Angst zu haben war ihnen fremd. Da aber keiner von ihnen preisgeben wollte, was er gerade verspürt hatte, schwiegen sie darüber.
Nach einer Stunde klopfte es an der Tür und Estephan unterrichtete seinen Sohn, dass Orario ihn zu sprechen verlangte. Er solle zu ihnen auf die Veranda kommen.
Widerwillig packte Christoph seinen Engel in ein paar Decken, trotz des warmen Jogginganzugs, den er ihr übergezogen hatte. Kurz nachdem Jess abgedriftet war, hatte sie wieder begonnen, unkontrolliert zu zittern. Ihr Kampf war also noch nicht vorüber.
Augenblicklich kehrte im Garten Ruhe ein, als der Kronprinz mit Jess im Arm zu den Anwesenden trat. Die Wölfe hatten sich vor einer Viertelstunde glücklich und zufrieden verabschiedet. Nur Alessandro und Fabrizio waren noch geblieben.
Orario nahm am Kopf der großen Tafel Platz und Estephan ihm gegenüber am Fuß, Christoph mit Jess neben ihm. Carla hatte im Vorfeld ein paar Flaschen Champagner und Wasser auf den Tisch gestellt, damit sich alle selbst bedienen konnten. Haushälterin gab es ja nun keine mehr. Eric ließ sich nicht lange bitten. Er liebte dieses „Sprudelwasser“, Champagner war seine ganz persönliche Droge. Ohne weitere Verzögerung eröffnete Orario das Verhör.
„Nun, was habt ihr herausgefunden?“, wollte er wissen.
„Leider nicht sehr viel“, antwortete Estephan frustriert. Kurz schilderte er den Zustand, in dem er Jess vorgefunden hatte, als er am Haus des Verwalters von Bezirk sechs eingetroffen war. Auch ihre Weigerung, von ihm zu trinken, und die anschließende Misshandlung durch den Herrn. Ebenso, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits in einem Stadium gewesen war, in dem ihr Geist jede Form von Überlebenswillen aufgegeben hatte. Sie hatte ihn noch nicht einmal erkannt.
Santos berichtete, wie er ihren bewusstlosen Körper ins Schlafzimmer gebracht und dem Küchenmädchen ans Herz gelegt hatte, das Haus zu verlassen, als er erkannte, wie viel Mitgefühl es Jess entgegenbrachte.
„Bist du absolut sicher, dass sie nichts mit den Vorfällen zu tun hatte?“
„Absolut. Sie wies ebenfalls Spuren von Misshandlung auf und wusste nicht einmal, zu welcher Art von Wesen Jess oder ich gehören.“
Santos war sehr gut darin, zu unterscheiden, wer unschuldig war und wer nicht. Außerdem hatte ihm die Kleine gefallen, und er wartete auf die passende Gelegenheit, in die Gegenwelt zurückzukehren, um das süße Ding auf die Seite der Vampire zu holen. Er war es leid, sein Dasein allein zu fristen.
Estephan erzählte von dem Gespräch mit dem Herrn. Dass dieser im Auftrag eines hochrangigen Vampirs gehandelt hatte, dessen Namen er aber nicht kannte. Kontakt hielten die beiden nur über einen Mittelsmann, der sich selbst der „Henker“ nannte. Der Lohn für die Mühen des Herrn sollte darin bestehen, ihn zum Verwalter von Bezirk eins zu machen. Es musste sich also um einen wahrlich einflussreichen Vampir handeln, wenn er in der Lage war, derart auf die Machtverhältnisse in der Gegenwelt einzuwirken.
„Konntest du in Erfahrung bringen, wer der Henker sein könnte oder wo wir ihn finden?“ Erics Jagdinstinkt war geweckt. Der „Henker“ war ihm nicht unbekannt. Er stand unter dem Verdacht, der Ermordung eines Großmeisters schuldig zu sein, der dem Clan des Ursprünglichen Marcus vorgestanden hatte.
Estephan verneinte frustriert. Santos meldete sich zu Wort: „Der Herr erwähnte aber, dass sein Auftraggeber in zwei Tagen kommen würde, um die Kronprinzessin abzuholen. Vielleicht sollten wir in die Gegenwelt zurückkehren und auf ihn warten?“ Ein Hoffnungsschimmer tauchte am Horizont auf. Vielleicht war genau das die Möglichkeit, an die kleine Hausangestellte heranzukommen.
Orarios Augenbrauen hoben sich und ein feines Grinsen legte sich auf seine Lippen. Diese Gelegenheit würde nicht einmal er selbst sich entgehen lassen. „Todesengel, wärst du bereit, uns in die Gegenwelt zu begleiten, um den Verursacher dieses ganzen Schlamassels auszuschalten?“ Eigentlich rechnete Orario mit keinerlei Protest. Er ging davon aus, dass auch Raphael stark daran interessiert war, Rache zu nehmen.
„Es tut mir leid, deine Bitte abschlagen zu müssen.“
Finster blickte Orario auf den Todesengel nieder. Mitten in Raphaels Satz war er aufgesprungen.
„Ich würde alles dafür tun, Jess‘ Peiniger zu finden, aber …“
Für einen Sekundenbruchteil schwebte das Unheil wie das Schwert des Damokles über dem Todesmutigen, der es wagte, dem Mächtigsten der Mächtigen zu widersprechen.
„Aber Jess‘ Genesung hat zurzeit absolute Priorität. Deine Leute werden dir bestätigen, dass der Weg bis zum Haus des Verwalters mehr als vier Stunden dauert. Niemand kann sagen, wie lange wir dort warten müssen, bis jemand kommt. Dann der Rückweg. Während dieser gesamten Zeit müsste eure Urreine ohne Nahrung auskommen. In ihrem geschwächten Zustand wäre das ihr sicheres Ende. Du wirst verstehen, dass ich das nicht zulassen kann. Nicht nach alldem, was sie schon erleiden musste.“
Christoph straffte sich. Er selbst würde sich, wenn nötig, mit Orario anlegen, sollte der an seinem Vorhaben festhalten wollen.
Mit einem tiefen Seufzer setzte sich der Adlige wieder. „Du hast recht, Todesengel. Verzeih meinen voreiligen Entschluss. Die Existenz der Urreinen hat natürlich absoluten Vorrang.“ Seine Stimmung veränderte sich abrupt. „Aber wäre es möglich, dass du uns zum Eingang der Gegenwelt geleitest und später wieder abholst?“
Raphael nickte.
„Dann ist das geklärt. Wir brechen übermorgen Abend in die Gegenwelt auf. Eric, Santiago und die vier Bastarde begleiten uns.“ Zustimmendes Nicken am Tisch.
„Nächster Punkt. Wie haben sie es geschafft, sie davon abzuhalten, einfach fortzulaufen, nachdem Santos seinen Einfluss von den Kindern genommen hatte?“
Bei der Erinnerung an das Wiedersehen mit seinem Engel schluckte Christoph schwer. Estephan spürte den Kummer in seinem Herzen und übernahm das Gespräch. „Sie schickten des Nachts zwei Wandler in Gestalt meines Sohnes und des Todesengels in ihre Kammer und täuschten ihre Rettung vor. Im Garten haben sie auf die fünf gewartet und sie überwältigt.“
Estephan kam etwas in den Sinn. „Erinnert ihr euch noch, wie sich ihr Hals verfärbte und wir davon ausgingen, dass sie Jess zwangen, sich etwas anzusehen?“
Eric nickte. Das Entsetzen in Jess‘ Augen, als sie für einen Augenblick in die Realität zurückgekehrt war, hatte sich tief in seine Erinnerung eingebrannt.
„Sie zwangen sie, dabei zuzusehen, wie sie den Wandlern – von denen Jess annahm, dass es sich dabei tatsächlich um Christoph und Raphael handelte – die Kehlen durchschnitten und ihnen die Herzen aus den Leibern rissen. Sie überreichten sie ihr auf einem Silbertablett als Geschenk.“
Erbost schlug Orario mit der Faust auf den Glastisch. Rodriguez stöhnte. Nun musste er zum zweiten Mal in diesem Monat in die Stadt fahren und eine neue Glasplatte besorgen.
Santos und Rodriguez machten sich daran, die Scherben zu beseitigen, und Raphael nutzte die Pause, um darauf hinzuweisen, dass Jess wieder genährt werden musste.
„Schon wieder?“ Christoph drückte sie enger an sich, während er mit den Adligen nach drinnen ging. Es schmerzte ihn, sie gewaltsam zu nähren. Auch machte er sich Sorgen, ob es ihr nicht schadete, wenn ihre dringend benötigte Ruhephase immer wieder auf dermaßen grobe Art und Weise unterbrochen wurde. Raphael näherte sich und ergriff Jess‘ Arm.
Wie zuvor verweigerte sie auch dieses Mal die Rückkehr. Die bisherige Blutaufnahme war zu gering gewesen, und sie wurde immer wieder in den Sog der Illusion von Christophs und Raphaels Tod zurückgezogen. Mit den Augen signalisierte er dem Vampir, sich bereitzuhalten. Kräftig blies er in Jess‘ Ohr und der gewaltsame Akt wiederholte sich. Jess wehrte sich unbändig, sofern man das bei dem bisschen Kraft, über das sie noch verfügte, so bezeichnen konnte.
Für Christoph war es ein Leichtes, sie daran zu hindern, sich aus seiner Umarmung zu befreien. Noch schneller als beim ersten Mal schloss sie die Augen und verschwand wieder in der Dunkelheit.
Resigniert schüttelte Raphael den Kopf. „Wenn das so weitergeht, weiß ich nicht, wie lange sie noch durchhält. Wir müssen einen Weg finden, ihr verständlich zu machen, dass dieses Erlebnis nicht wahr ist.“ Lange stand seine Verzweiflung im Raum.
Estephan, der während Jess‘ Nahrungsaufnahme in der hintersten Ecke gestanden hatte, trat einen Schritt vor. Um Verzeihung bittend sah er in Jess‘ Gesicht. Er hatte versprochen, dass ihr nichts geschehen würde, und nun lag sie da, schwach und ausgezehrt. Dem Tod näher als dem Leben, und er hatte es nicht verhindern können.
Christoph erahnte die Qualen seines Vaters, durchlebte er sie doch genauso. Er wusste aber auch, dass sie beide machtlos gegen den Angriff gewesen waren. Jess war stark, sie würde auch das überstehen. Und noch eins konnte er mit Sicherheit sagen: Sie würde ihn oder Estephan oder gar Raphael niemals für ihre Verletzungen verantwortlich machen oder sie auch nur eine Sekunde lang spüren lassen, dass sie die Schuld daran trugen. Nicht Jess, nicht sein Engel.
„Könntest du sie bitte eine Zeit lang übernehmen?“ Überrascht blickte Estephan seinen Sohn an.
„Ich glaube, Jess würde das auch so wollen.“ Rasch erhob er sich von seinem Platz und legte Jess vorsichtig in des Großmeisters Arme.
Raphael hatte zwischenzeitlich begonnen, unruhig hin und her zu laufen. „Das ist zu wenig, das ist viel zu wenig.“ Abrupt blieb er stehen. „Christoph, du musst sie dazu bringen, ordentlich zu trinken. Wenn sie nicht endlich mehr als nur ein paar Schlucke zu sich nimmt, kann es sein, dass sie noch tiefer versinkt und tatsächlich aufhört zu existieren.“
Christoph schluckte. „Verstehe.“ An Orario gewandt sprach er weiter: „Die Morgendämmerung bricht gleich herein. Vielleicht sollten wir für heute Schluss machen.“ Er musste nachdenken, und das konnte er in Gegenwart der Ursprünglichen nicht. Orario erklärte sich einverstanden und die Adligen zogen sich in ihr vorübergehendes Quartier im Keller der Villa zurück.
***
Tag eins
Auch der Rest gönnte sich eine Auszeit. Alessandro rief Giuseppe an und informierte ihn, dass sich in der Villa nun alle zur Ruhe begeben würden. Drei aus dem Rudel sollten zurückkehren und Wache halten. Er selbst würde wie die Vampire hier im Haus schlafen.
Nach einer Viertelstunde trafen Sergio, Angelo und Antonio ein, und Alessandro zog sich in das Zimmer zurück, das ihm Estephan fünf Tage zuvor zugewiesen hatte.
Auch Raphael bezog eines der Zimmer. Kurz nachdem er abgedriftet war, tauchte er in die Engelsgleiche ab und eilte zum Wasserfall. Jess lag friedlich schlummernd im hohen Gras. Leise legte er sich neben sie und zog ihren schwachen, abgemagerten Körper eng an seine Brust. So verharrte er die nächsten vier Stunden.
Am späten Vormittag klopfte er leise an Christophs Tür und trat ein.
„Ist es wieder so weit?“
„Ja.“ Es bereitete Raphael erhebliche Mühe, Jess dazu zu bringen, die Augen aufzuschlagen, aber wenigstens musste er sie nicht wieder mit Gewalt herschleppen. Doch die Menge Blut, die sie zu sich nahm, war nicht wirklich der Rede wert. Sie nochmals überrumpeln und zwingen wollte er dennoch nicht. Er hatte Angst, sie dadurch eher noch weiter von ihnen zu entfernen – war rohe Gewalt doch etwas, das sie mit Sicherheit mit der Gegenwelt in Zusammenhang bringen würde.
Still setzte er sich auf den Stuhl gegenüber Christophs Bett und driftete ab, um wieder dorthin zurückzukehren, wo er ihr nahe sein konnte.
Am späten Nachmittag versuchte er neuerlich, Jess dazu zu bewegen, mit ihm zurückzukommen. Ihr Widerstand war massiv. Energisch blies er in ihr Ohr und Christoph nährte sie gewaltsam, bevor sie wieder in die Stille und Abgeschiedenheit am Wasserfall abtauchen konnte.
Kurze Zeit später ereilte Raphael der Ruf.
In den letzten drei Tagen war es Jonathan gewesen, der seine Aufgaben übernommen hatte. Bei diesem Schützling handelte es sich allerdings um einen besonderen Menschen. Schon seit vielen Jahren begleitete ihn Raphael auf seinem schweren Weg. Nun war seine Zeit gekommen, der bittere Kampf gegen den Krebs verloren. Keinesfalls wollte er ihn den Schmerz bis zum Ende allein erleiden lassen. Auch brachte er es nicht übers Herz, ihn in den Armen eines anderen aus dieser Welt scheiden zu lassen. Schnell verabschiedete er sich, aber nicht ohne Christoph darauf hinzuweisen, dass er heute selbst noch nicht getrunken hatte. Der Vampir reagierte nicht sofort, also setzte Raphael nach: „Du musst bei Kräften bleiben, wenn du Jess helfen willst. Sonst nützt du ihr gar nichts.“
Das gab den Ausschlag, warum sich Christoph an Estephan wandte anstatt an Carla, wie sonst, wenn er nicht während des Liebesaktes von Jess trank.
***
Als es dunkel wurde, machte sich Christoph mit seinem Engel im Arm auf den Weg nach unten.
Die Ursprünglichen seien bereits erwacht und nährten sich gerade. Orario wolle das Gespräch im Anschluss weiterführen, teilte Rodriguez mit.
Damit hatte Christoph schon gerechnet. Flüchtig musterte er seinen Bastard. Seit seinem Geständnis und der Erneuerung seines Gelöbnisses hatte Rodriguez eine unglaubliche Wandlung durchlebt. Sein Versprechen, ihm Anna zurückzugeben, kam Christoph wieder in den Sinn. In einer stillen Minute erinnerte er Estephan daran, worauf der sogleich sein Telefon zückte und in Matadepera anrief.
Eine halbe Stunde später waren alle auf der Veranda versammelt. Alessandro erteilte Antonio noch letzte Anweisungen für Lorenzo, Pietro und Giacomo, die sich bereit erklärt hatten, am nächsten Morgen die Tageswache zu übernehmen. Dann gesellte auch er sich zu den Wartenden an den Tisch. Nur Fabrizio war heute nicht dabei. Alessandro hatte ihn gezwungen, zu Hause zu bleiben, um sich einmal richtig auszuschlafen. Nur widerwillig war der Junge dem Befehl des Leitwolfes gefolgt. Erst als Alessandro ihm versprochen hatte, ihn sofort anzurufen, sollte Jess erwachen, gab er sich geschlagen.
Orario wollte mehr Einzelheiten über das Gespräch zwischen Estephan und dem Herrn erfahren. Bereitwillig teilte dieser sein Wissen. Dann kam die Frage nach der Befreiung von Jess auf den Tisch. An diesem Punkt tauchte Raphael auf und nahm seinen Platz an der Tafel ein. Noch einmal durchlebte er zusammen mit Christoph und dem Großmeister den Moment, in dem ihnen klar geworden war, dass Jess sie für tot hielt.
Bei Estephans Schilderung, wie sie mit bloßen Händen in der nach Verwesung stinkenden Erde gescharrt hatte, um herauszufinden, wer in welchem Grab lag, ballte Orario die Fäuste.
Flehentlich stieß Rodriguez hervor: „Bitte nicht wieder den Tisch. Das war die letzte Platte, die sie auf Lager hatten.“
Eines musste man an den Vampiren wirklich bewundern: Sie waren Meister darin, ihre Gesichtszüge im Zaum zu halten. Alessandro war leider nicht so geübt. Es dauerte eine volle Minute, bis er sich wieder im Griff hatte und einigermaßen gesittet an seinem Platz saß.
Raphael ergriff das Wort. „Wir haben ein Problem. Jess weigert sich vehement, zu trinken. Wenn sie nicht schnell ausreichend Nahrung zu sich nimmt, wird sie vermutlich nicht mehr erwachen.“
„Bring sie her. Ich möchte mit ihr reden.“ Anweisungen geben konnte Orario, das musste man ihm lassen. Eine leichte Berührung und schon war Raphael am Wasserfall.
„Hey Kleines, erinnerst du dich noch an mich?“ Begleitet von einem warmen Lächeln strich er sanft über ihr Gesicht.
„Du bist nicht echt. Geh weg!“ Schluchzend warf sie sich auf die andere Seite. „Lass mich doch endlich in Frieden sterben. Ich will nicht mehr!“
Raphael biss sich auf die Unterlippe und schloss die Augen. Noch nie hatte er sich in so einer Situation befunden. Er hatte keine Ahnung, was er noch tun konnte, um ihr den verlorenen Lebenswillen wieder einzuhauchen. Hilfesuchend wandte er sich an Christoph: „Es ist so weit. Ihr Geist ist zu schwach. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Wir können sie nicht noch einmal zum Trinken zwingen. Wenn wir das tun, überzeugen wir sie endgültig davon, dass wir die Bösen sind. Du würdest ihr keine Gewalt antun, das weiß sie.“
Verzweiflung stand in Christophs Augen ob Raphaels Hilflosigkeit. Bisher hatte der sich immer souverän und entschlossen gezeigt. Aufgeben stand bei den Todesengeln nicht gerade an erster Stelle. Selbst als sie Jess auf dem Grab gefunden hatten, war es Raphael gewesen, der einen kühlen Kopf bewahrt und sie aus ihrer Lethargie gerissen hatte.
Eric erhob sich und kniete neben den dreien. „Bring mich zu ihr. Mich hat sie nicht sterben sehen, vielleicht kann ich sie zum Kämpfen bewegen“
„Das könnte funktionieren. Sie hat deine Anwesenheit in der Gegenwelt nicht mitbekommen.“ Hoffnung keimte in Christoph auf.
Raphael fasste Eric an der Schulter. Ein Blitz und beide standen in der hellen Sonne an dem kleinen Wasserfall mitten im Wald. Zu ihren Füßen lag Jess zusammengekauert und weinte bitterlich. Eric nahm sich kurz Zeit, die Gegend zu betrachten. Noch nie war einem Ursprünglichen der Zutritt in die Engelsgleiche gewährt worden. Fasziniert von der Ruhe und Schönheit dieses Ortes besann er sich auf seine Aufgabe. Sanft berührte er Jess‘ Schulter.
Ohne ihn anzusehen schluchzte sie: „Verschwinde endlich, bitte. Du bist tot, tot, tot, tot!“
„Jess! Jessika Hauser, hast du denn gar nichts von dem behalten, was ich dich gelehrt habe? Warum liegst du schon wieder allein im Wald und versucht nicht einmal, dich zu wehren, wenn du von hinten angegriffen wirst?“ Eric legte eine Menge Verärgerung in seine Stimme, obwohl er lächelte. Irritiert hielt Jess mitten im Schluchzen inne und starrte in seine freundlichen, saphirblauen Augen.
Blitzartig kehrte die Erinnerung an ihre erste Begegnung mit Eric wieder. Für einen Moment schloss Jess die Augen und dachte daran zurück.
Sie saß weinend auf dem Boden, mitten im dunklen Wald, als sie angesprochen wurde. Uninteressiert richtete sie ihren Blick auf den Fremden und sah Eric zum ersten Mal.
Vor ihr kniete ein attraktiver, schätzungsweise vierzigjähriger Blonder mit schulterlangen Haaren, saphirblauen Augen und einem warmen Lächeln in einem makellosen Gesicht. Er wirkte so schon recht groß; wenn er stand, musste er sicher an die zwei Meter messen. Außerdem war er äußerst durchtrainiert und schick gekleidet. Zu schick für einen Spaziergänger, wie sie damals fand. Bei diesem Gedanken musste sie lächeln.
„Eric, bist du es wirklich?“ Unter größter Kraftanstrengung streckte sie die Arme nach ihm aus.
„Natürlich bin ich es, oder kennst du sonst noch jemanden, der in Bundfaltenhosen und edelsten italienischen Designerschuhen durch diese Gegend stapft?“ Beide lächelten. Christoph konnte Jess zwar nicht hören, aber die Vorstellung ihres herzlichen Lachens trieb ihm heiße Schauer über den Rücken.
„Ich bin echt, Jess, genauso wie du oder Raphael. Und wie Christoph, der in der realen Welt auf dich wartet, um dich zu nähren. Estephan hat uns erzählt, was dir widerfahren ist. Das waren Wandler, Jess, vertrau mir. Ich war zusammen mit Christoph und Raphael in der Gegenwelt, um dich zu suchen. Wir sahen dich auf dem Anwesen im Garten. Mit anzusehen, wie der Herr dich niedergeschlagen und an den Haaren ins Haus gezerrt hat, war verdammt schwer für uns. Christoph war zu diesem Zeitpunkt sehr lebendig, das kannst du mir glauben. Ich hatte größte Mühe, ihn zurückzuhalten.
Es ist vorbei, Jess. Du bist in Sicherheit. Leider bist du noch nicht gerettet – dafür musst du trinken. Ständig und so viel du kannst. Sonst fällst du immer wieder in den Glauben zurück, dass die beiden tot sind.“
Sanft drückte er einen Kuss auf ihre Stirn, bevor er in seine Hosentasche griff. „Hier.“ In der Hand hielt er einen MP3-Player. „Das ist meiner. Ich möchte, dass du ihn behältst, bis du wieder zu Kräften gekommen bist. Und immer, wenn du spürst, dass du in die Vergangenheit zurückgezogen wirst, in die Illusion von Christophs Tod, holst du ihn hervor und erinnerst dich an dieses Gespräch. Dann wirst du wissen, dass er lebt. Einverstanden?“
Er schenkte ihr ein umwerfendes Lächeln und drückte sie noch einmal herzlich an seine Brust.
Raphael machte sich bemerkbar. „Komm, Kleines, es wird Zeit. Das Essen ist angerichtet.“
„Nur einen Augenblick. Ich muss etwas überprüfen.“ Irritiert blickten sich die beiden an, als Jess die Hand nach dem Todesengel ausstreckte und ihn über sich zog. Fest drückte sie ihr Ohr an seine Brust und horchte auf seinen ganz eigenen Herzschlag, den sie in- und auswendig kannte. Mit einem zufriedenen Lächeln flüsterte sie: „Ja, das ist dein Herzschlag. Ich würde ihn unter Tausenden wiedererkennen.“
Plötzlich fiel ihr etwas ein. „Ist noch jemand da außer dir?“
„Ja, Orario, Santiago, Tomasio, Vladimir und deine ganze Familie“, antwortete Eric, gespannt, was jetzt wieder kommen würde. Wenn er eines gelernt hatte, dann, dass man bei Jess mit allem rechnen musste.
„Habe ich etwas Vernünftiges an?“, richtete Jess ihre Frage an Raphael. Sie hatte bemerkt, dass sie noch in dem verschmutzten Kleid steckte. Da sie aber davon ausging, dass Christoph sie nicht so verdreckt ins Bett gelegt hätte, hatte er ihr in der realen Welt wahrscheinlich etwas anderes angezogen. Das würde sie allerdings erst zu sehen bekommen, wenn sie tatsächlich die Augen öffnete. Ihre Skepsis war also nicht ganz unbegründet.
„Christoph hat dich gebadet und angezogen, sei unbesorgt.“
„Christoph.“ Eher zerknirscht als erfreut klang sein Name. Sowohl Todesengel als auch Vampir betrachteten abwartend ihr Gesicht.
„Es ist aber kein Negligé?“, erkundigte sich Jess hoffnungsvoll, aber nicht ganz sicher. Raphael verstand, worauf sie anspielte, und lachte herzlich. „Nein, Kleines, kein Negligé.“
Die Vampire um Orario richteten ihren Blick fragend auf Christoph. Der schmunzelte. Ebenso wie Raphael wusste er sofort, worauf sich das Gespräch bezog, obwohl er nur Raphael und Eric hören konnte.
„Ich wollte nur sichergehen. Wir beide kennen ja Christophs Vorliebe für wenig Stoff.“
„Oh ja, die ist mir wohl bekannt, aber sei unbesorgt, dieses Mal hat er sich für einen warmen, vollkommen unspektakulären Jogginganzug entschieden. Kommst du jetzt mit?“
Erleichtert und mit einem feinen Lächeln im Gesicht öffnete Jess die Augen und blickte in die wunderbaren smaragdgrünen von Christoph, die für sie den Himmel auf Erden bedeuteten. Zart schnupperte sie an ihm. Ja, auch er war echt. Umgehend bot er ihr sein blutendes Handgelenk an. Trotz ihres geschwächten Zustandes verzog Jess angewidert den Mund.
Mit hochgezogenen Augenbrauen warf ihr Raphael hin: „Ich kann ja mal nachfragen, ob sich jemand anderer als Blutspender zur Verfügung stellt, wenn dir seine Blutgruppe nicht zusagt.“
„Du kannst von Glück sagen, dass ich keine Kraft habe, sonst würde ich dich für diese Bemerkung windelweich schlagen. Du weißt, dass ich das kann, Engelsgleiche hin oder her“, flüsterte sie schwach. Ein erster kleiner Funken trat in ihre Augen. Nur für den Bruchteil einer Hundertstelsekunde, aber ausreichend für Raphael, um zu wissen, dass ihre Lebensgeister im Begriff waren, wieder zu erwachen.
„Wenn es dir dabei hilft, zurückzukommen und zu trinken, kannst du mich schlagen, so lange und so oft du willst, Kleines.“ Das Lächeln, das seine Worte begleitete, hatte Jess vermisst. Es gab so einiges, das sie in den letzten Tagen hatte entbehren müssen. Sofort fasste sie einen Entschluss: Ich werde wieder aufwachen. Koste es, was es wolle. Versöhnlich legte sie ihre schmale, zittrige Hand auf Raphaels Arm und streichelte sanft darüber.
„Engel.“ Christoph fing ihren Blick ein, als sie sich ihm zuwandte.
Nun war ihre Welt in Ordnung. Noch vor einer Stunde hatte sie gedacht, nie wieder in diesen magischen Augen versinken zu können. Und nun waren sie direkt vor ihr. Wer brauchte schon etwas zu trinken, wenn er in diesen unberührten Bergsee eintauchen konnte? Nichts konnte sie jetzt noch daran hindern, bis zur letzten Sekunde in diesen Augen zu baden.
Christoph schon. Erneut bot er ihr sein Handgelenk und schob es zwischen ihrer beider Gesichter.
Jess‘ Ekel wurde noch größer und sie konnte nicht verhindern, dass auch wirklich jeder es bemerkte. Peinlich berührt senkte sie den Blick und betrachtete Christophs Brust.
Orario trat zu ihnen und strich sanft über ihre Stirn. „Es ist gut, mein Kind. Du hast keinen Grund, dich für deinen Ekel zu schämen. Das ist ganz natürlich. Durch den langen Entzug des Blutes, das insbesondere ein Jüngling so sehr braucht, ist dir das Innerste eines Vampirs vorübergehend abhandengekommen. Du musst dich nur überwinden, ein- oder zweimal Christophs Blut aufzunehmen, dann kehren deine ureigenen Instinkte zurück und du wirst wieder mit Freuden annehmen, was er dir gibt. Versprochen.“
Tapfer schluckte Jess und griff nach Christophs Handgelenk. Er spürte kaum, dass sie Druck darauf ausübte, um es näher an ihren Mund zu führen. Dennoch folgte er ihrer stillen Aufforderung und presste sein Handgelenk auf diese wunderbaren Lippen Seine ganze Haltung versteifte sich. Es war sehr schwer zu ertragen, sie so zu sehen. Schon zu oft war er Zeuge ihrer stummen Kämpfe um ihre Existenz geworden. Es schmerzte ihn zutiefst, nicht verhindern zu können, dass ihr Leben nun schon wieder auf Messers Schneide stand.
Nach einer für Jess doch beträchtlichen Menge suchte sie Erics Blick und fragte: „Darf ich jetzt aufhören? Sonst kommt es mir zu den Ohren wieder raus.“
Schallendes Gelächter machte sich breit.
Mit einem kurzen, aber innigen Kuss verabschiedete sich Christoph und nicht mehr ganz so verzagt wie noch vier Stunden zuvor ließ er seinen Engel mit Raphael in die Engelsgleiche abdriften.
***
ENDE DER LESEPROBE
Erhältlich auf Amazon
Text: J.J. Winter
Images: J.J. Winter
Publication Date: 03-04-2017
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LESEPROBE
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