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alle "meine" Menschen, die ich kennen lernen durfte und mich ein kleines Stück meines Weges begleiten konnten:
A. (Die Frau mit den langen braunen Haaren und dem kleinen braunen Hund)
F. (Der blinde Mann auf der Landstraße, meinem Weg zur Arbeit)
F. (Die lesende Frau im Zug)
A. (Die Fotografin im Café)
M. (Der Kriminalpolizist, der meine Joggingkünste kennen lernen durfte - Stichwort: Kreislaufzusammenbruch)
u. v. m.
Aber vor allem für alle Menschen, die immer an mich geglaubt haben.
Prolog
Liebe Leyla,
ich glaube, ich wurde…… nein, nennt man das so?
Ich habe dir immer alles anvertrauen können! Warum jetzt nicht? Warum kann ich dir davon nicht erzählen. Von den Bildern, die ich jeden Tag sehe, von der Angst, von dem, was passiert ist! Nein, stattdessen sitze ich hier und weine das Blatt feucht und feuchter – pitschnass.
Vergewaltigung.
So nennt man es doch. Oder?
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April 2016
Bloß der Schatten steht über ihr. Ihrem Kopf, ihrem Leben. Das Herz in der Hand, im Mund. Aber Angst, zu sprechen. Mit dem Herz auf der Zunge. Es könnte ja verschluckt werden.
Traurig, dass das Herz auf der Zunge so viel mehr Mühe kostet, als das triefende Gift im Kopf. Das Gift, das den Hass in flüssiges Schwarz verwandelt und durch die Blutgefäße schießt, wie kein einziger Pfeil Amors. Jola hat das Herz auf dem rechten Fleck – auf der Zunge, eben.
Wie soll man einem Leben entkommen, einer Trostlosigkeit? Einfach so tun, als wäre nie etwas gewesen? Welten erfinden! Im Kopf! Augen zu und weg-beamen.
„Jola! Mann, schau doch!“ Tessa riss sie an ihrem Arm von der Bar weg. Jola erwachte aus ihrem Gedankengut und wurde wieder in den dröhnenden Partylärm gezogen. Ihre Freundin deutete über die tanzenden und verschwitzten Köpfe hinweg zur kleineren Bar in einer Ecke.
„Was soll da sein?“, rief Jola über die Musik hinweg. Ihre Stimme vermischte sich mit der Melodie. Der Bass vibrierte unter ihren Füßen und es war ihr schon mindestens 5 Mal jemand auf die Zehen getreten. Sie hatte die Schnauze voll von dieser Party. Es war die schlechteste Idee der Weltgeschichte gewesen, sich von Tessa dazu überreden zu lassen. Aber Jola hatte gewusst, wie sie dieser Trostlosigkeit entkommen konnte. Es war die einzige Möglichkeit gewesen, nicht wieder einsam in ihren eigenen vier Wänden zu bleiben und sentimental zu werden. Also war sie nach übereifrigen Überredens-Versuchen von Tessa doch weich geworden, hatte sich hergerichtet und war mit in die Disco gegangen.
„Siehst du diesen schnuckeligen Typen?“
„Nein.“
„Komm mit!“
„Spinnst du?“ Jola versuchte nach einer Säule zu greifen, die gerade noch neben ihr in die Decke ragte, erwischte sie aber nicht, und wurde gnadenlos von Tessa quer über die Tanzfläche zur anderen Bar gezogen. Tessa hatte keine Manieren. Jedenfalls nicht die, die man von jemandem wie ihr erwartete. Vater erfolgreicher Immobilienmakler, Mutter Chefärztin in einer ziemlich begehrten Klinik, Schwester Jura-Studentin. Tessa fiel komplett aus dem Rahmen. Sie war Schulabbrecherin und Rebellin, ambivalent und suspekt sowohl im Denken wie im Ausführen und absolut anti-diametrisch – ihre Worte! Provokant, extrovertiert, ein Energiebündel und so ungefähr das komplette Gegenteil von Jola. Aber genau das liebte Jola an Tessa.
„Hey!“ Sie winkte den Barkeeper heran. Er nickte ihnen kurz zu, wobei er Jola ansah. Ihr war aufgefallen, dass er ihr eine Sekunde zu lange ins Gesicht sah. Dann schenkte er den zwei Mädchen Wodka-Bull ein und kam zu Jola und Tessa.
Er sah gut aus, fand Jola. Ein markantes Gesicht, trainierter Körper, blonde, gestylte Haare. Seine Augen waren stechend blau. So, wie er vor ihr stand, sah er etwas älter aus, als von der Entfernung. Er beugte sich leicht über die Theke und hielt den Mädels ein Ohr hin.
„Für mich ein Malibu-Kirsch!“
Er nickte ihr zu, dass er verstanden hatte, dann wartete er auf Jola. Er sah sie abwartend an.
„Ähm… Cola.“
Sie bemerkte seinen kurzen, forschenden Blick, dann nickte er auch ihr zu.
„Den müssen wir uns krallen!“
„Wir müssen überhaupt nichts“, widersprach Jola ihrer Freundin über den Lärm hinweg. Der Barkeeper stellte Jola eine Colaflasche vor die Nase und öffnete sie ihr. In den Kirschsaft, der in einem Plastikbecher war, schenkte er noch Malibu dazu.
„Du musst auch etwas trinken“, schmollte Tessa, dann wandte sie sich an den Barkeeper, „Hey! Geb‘ meiner Freundin doch mal irgendwas aus. Sie ist so verklemmt, das hält ja kein Schwein aus!“
Jola hätte Tessa den Vogel gezeigt, hätte der Typ sie nicht nachdenklich gemustert und dann die Schultern gezuckt. Er drehte sich um, mischte irgendwas an der Bar und stellte es Jola vor die Nase.
„Darf ich wenigstens wissen, wie du heißt, wenn ich dir schon etwas ausschenke?“, rief er ihr zu und stützte sich mit seinen starken Armen an der Theke ab. Jola rührte mit dem Strohhalm skeptisch in der roten Flüssigkeit herum und sah dann in sein Gesicht.
„Ich bin Jola.“
„Jola? Schöner Name. Ich heiße Jake!“ Er reichte ihr die Hand. Jola kannte diese Partywelt nicht. Und sie kannte Alkohol nicht. Sie war nicht sicher, ob sie das Zeug in dem Becher wirklich trinken wollte. Es roch stark.
„Und ich bin Tessa. Nenn mich aber bitte Tess. Das machen alle meine Freunde.“ Sie legte Jola vielsagend einen Arm um die Schulter. Jake sah kurz aus, als würde er einen sarkastischen Spruch ablassen wollen. Dann sah er aber zu Jola und die Worte schienen ihm im Hals stecken zu bleiben. Er reichte ihr deshalb ebenfalls nur die Hand und lächelte sie an.
„Sag mal, wie lange musst du hier hinten Stellung halten?“, fragte Tessa, während Jola am Strohhalm zog und glücklich war, dass Jakes Aufmerksamkeit gerade nur ihrer Freundin galt. So konnte sie kurz das Gesicht verziehen. Der Alkohol brannte in ihrem Rachen und sie spürte eine Hitze in ihrem Magen ausbreiten. Nachdem sich das Brennen legte, fand sie den Geschmack eigentlich ganz gut.
„Ist da Erdbeere mit drinnen?“, fragte Jola und ließ Jake damit nicht zur Antwort auf Tessas Frage kommen. Er riss seinen Blick von Tessa und sah Jola an.
„Klar. Erdbeer-Caipi!“ Er sah sie mit einem Blick an, als sei sie vom anderen Stern. Darauf lachte Tessa und legte Jola eine Hand auf die Schulter.
„Das ist ihr erstes Mal. Bitte verurteile sie nicht.“
Jakes Brauen fuhren in die Höhe und er sah Jola ungläubig an. Diese zuckte nur mit den Schultern und nahm noch einen tiefen Zug vom Strohhalm.
„Mann, das hättet ihr mir sagen sollen. Sie ist doch hackedicht nach der Menge!“ Rief er und kratzte sich mit gerunzelter Stirn am Kopf.
„Ach was! Ich bin ja bei ihr. Und so viel wird sie ja wohl vertragen.“
„Das würde ich ja auch behaupten, wenn sie Fleisch an den Knochen hätte“, murmelte er, wurde dann aber von zwei anderen Mädels wieder angesprochen und er entschuldigte sich bei Tessa und Jola.
„Was soll das werden?“, fragte Jola, die nach dem dritten Zug am Caipirinha schon den Alkohol im Kopf spürte. In ihrem Magen hatte sich eine wohlige Wärme ausgebreitet und sie hatte das Gefühl, ihre Glieder würden maßlos entspannen.
Tessa schielte dem Barkeeper noch hinterher, dann lächelte sie Jola verschmitzt an.
„Wäre das nicht der Hammer, wenn wir ihn mit nach Hause nehmen?“
„Wir? Mit nach Hause? Du spinnst doch! Wir nehmen doch nicht irgendwelche Typen mit in die Wohnung!“
Jola hatte sich das WG-Leben mit Tessa und einem weiteren Mädchen, das sie fast nie zu Gesicht bekam, viel einfacher vorgestellt. Sie hatte natürlich dabei nicht bedacht, dass sie dann über die Wohnung nicht alleine das Sagen hatte und wenn jemand zu Besuch war, lief man ihm eben über den Weg – ob man wollte, oder nicht.
„Er ist doch nicht irgendein Typ“, säuselte Tessa und lehnte sich an die Theke. Es hätte nur noch ein „Pah“, vor ihrem Satz gefehlt und dass sie mit den Augenbrauen wackelt. Aber sie grinste Jola nur offenherzig an.
„Es ist Jake!“
„Ja. Und?“
„Und er sieht gut aus. Und hat dir einen Erdbeer-Caipi ausgegeben!“
Ja, das hatte er. Und inzwischen war Jola sogar ganz froh darum. Sie merkte nämlich, wie der aufkeimende Ärger, der eigentlich schon längst aus ihr herausgebrochen wäre, in ihrem warmen Magen gefangen blieb. Aus irgendeinem Grund konnte sie sich nicht ärgern. Es war ein seltsames Gefühl der Gleichgültigkeit. Außerdem hatte sie keine Kontrolle über ihre Mimik. Sie musste grinsen. Und dann musste sie noch mehr grinsen, weil sie nichts dagegen tun konnte, dass sie es lustig fand. Alkohol ist der Teufel!
„Naaa?“ Jetzt wackelte Tessa tatsächlich mit den Augenbrauen und stupste Jola mit dem Ellenbogen in die Seite, „Du gibst mir doch Recht, oder?“
Jola zwang sich, die Fassung zu bewahren, trank aber im Kontrastprogramm dazu noch einmal einen großen Schluck von ihrem Getränk, das jetzt fast schon leer war. Dann zuckte sie die Schultern und meinte nur: „Vielleicht.“
„Kriege ich die Einladung noch schriftlich?“ Jola riss ihren Kopf zur Seite und lief rot an. Um Tessas Mundwinkel spielte ein schelmisches Grinsen. Sie lehnte sich neben Jola an die Theke. Im selben Moment fragte sich Jola, ob Tessa gesehen hatte, dass er hinter ihr stand.
„Würdest du sie denn annehmen?“, ging Tessa auf den Witz drauf ein.
Jola konnte diesen Barkeeper nicht einschätzen. Was sicher auch zum Teil am Alkohol lag. Jake sah gut aus. Wirklich verdammt gut. Seine blauen Augen waren warm. Sahen aus wie das Blau eines wolkenlosen Himmels. Um seine Mundwinkel klebte eine kleine Falte, genauso wie um seine Augen. Sie deuteten auf häufiges Lachen hin. Und genau diese Falten ließen eben erkennen, dass Jake gar nicht so jung war, wie er im ersten Augenblick schien. Es interessierte Jola schon ein wenig, wie alt er war. Zumal sie ihn optisch ziemlich klasse fand. Das hieß nun nichts weiter. Jola könnte niemals über einen Mann herfallen, nur weil er gut aussah. Das war bei Frauen wiederum anders. Aber nach ihrer Vergangenheit verlangte es schon viel Feingefühl und Schwärmerei, um mit einem Typen im Bett zu landen. Falls das überhaupt jemals so einfach gehen würde.
„Ähm“, stotterte Jola, „Ja… also…“, sie drehte sich hilfesuchend zu Tessa, die Jola einen Arm um die Taille gelegt hatte.
„Die kannst du gerne schriftlich haben“, flirtete Tessa, „Dafür musst du mir nur deine Nummer geben.“ Tessa zog ihr Handy aus der Hosentasche und reichte es Jake.
„Das hätte nicht sein müssen“, brummte Jola drei Stunden später in ihrem Bett. Es war erst zwei Uhr morgens, aber Jola war so geplättet vom Alkohol gewesen, dass Tessa kurzerhand beschloss, mit ihr nach Hause zu fahren. Noch eine Eigenschaft, die Jola sehr an ihr schätzte. Tessa war jemand, der seine Freunde niemals im Regen stehen lassen würde. Jola wusste, dass Tessa locker noch bis in das Morgengrauen mit Jake an der Bar geflirtet hätte, aber Jola war ihr wichtiger, als irgendein schneller Flirt.
„Doch, doch“, winkte Tessa ab und kämmte sich noch die blonde Mähne, die ihr fast bis zu den Arschbacken reichte. Sie saß neben Jola auf dem Bett im Schneidersitz und musterte ihre blasse Freundin.
„Du siehst krank aus.“
„Wow, danke. So fühl ich mich auch.“ Jola band sich die Haare ungeschickt zu einem Pferdeschwanz. Ihre Finger machten immer noch nicht so ganz, was sie wollte. Der Alkohol lag noch tief im Magen. So richtig klar konnte sie auch noch nicht sehen und ihr war ein wenig übel.
„Zwei Caipi’s sind schon eine Leistung. Dafür, dass du heute entjungfert wurdest.“ Tessa zuckte die Schultern und legte die Haarbürste weg. Auf Jolas entsetzten Blick musste sie lachen und tätschelte ihr Knie.
„Entjungfert im Sinne von Alkohol.“
Jola verstand und schüttelte mit einem lautlosen Lachen den Kopf.
„Und jetzt…“, Tessa griff über Jola hinweg nach ihrem Handy auf dem Nachttisch, „Schreibe ich Mr. Right an. Dann hat er seine schriftliche Einladung.“
„Du willst ihn echt einladen?“ Jola konnte es nicht fassen. Obwohl der Alkohol ihr Denkvermögen ziemlich einschränkte, war ihr ein fremder Typ in der WG doch nicht ganz so geheuer.
„Klar. Also bitte! Wir haben mit ihm geflirtet und-“
„Wir haben gar nichts!“
„Jaja, okay. ICH habe mit ihm geflirtet und er ist drauf eingegangen. Ich will mir diese Chance nicht entgehen lassen.“
„Du lässt dir doch keine Chance entgehen“, verdrehte Jola die Augen. Tessa hatte ungefähr alle zwei Wochen einen neuen Mann in ihrem Zimmer zu Besuch. Natürlich nur über Nacht. Jola zog sich der Magen zusammen, wenn sie nur daran dachte, was in dieser Nacht geschah. Und wie oft es in Tessas Zimmer nach Sex roch! Urgh.
„Ich weiß. Du stehst nicht so auf Schwänze“, seufzte Tessa, „Echt schade. Mit dir kann man nicht über Männer reden, weil du Frauen geil findest und Ms. Stranger da drüben hat bestimmt eine komplett eingestaubte Vagina. Da brauch ich gar nicht erst anfangen, sie auf Männer anzusprechen. Vermutlich weiß sie nicht einmal, was das ist. Ein Schwanz.“ Das sagte Tessa alles so nebenbei, während sie Jake eine SMS schrieb. Eine Fähigkeit, die Jola gerne besitzen würde. Aber gleichzeitig zu schreiben und zu reden war eine Sache der Unmöglichkeit. Mit Ms. Stranger meinte Tessa ihre Mitbewohnerin Samantha. Ein verdammt trübes Mauerblümchen. Jeden Tag saß sie irgendwo in einem Kaffee und las oder schrieb irgendwelche düsteren Gedichte. Manchmal blieb sie über Nacht weg. Weder Tessa noch Jola wussten, wo sie sich in solchen Nächten herum trieb.
Tessas Handy vibrierte und Jola rutschte an Tessas Seite, um in das Display zu schauen. Der helle Bildschirm leuchtete in das müde Gesicht der beiden Freundinnen und Tessa griff euphorisch in Jolas Arm.
„Siehst du! Morgen um 18 Uhr haben wir ein Date, Schätzchen! Putz dich bitte ordentlich heraus. Und lauf ja nicht in Jogginghose herum.“
„Wer die Frau in Jogginghose nicht ehrt, ist sie in Spitzenunterwäsche nicht wert“, murmelte Jola.
„Ach, lass doch deine Mitläufer Facebook-Sprüche stecken“, lachte Tessa und knuffte Jola in die Seite.
„Wieso?“, zuckte Jola die Schultern, „Ich habe nicht das Bedürfnis nach nem Schwanz zwischen meinen Beinen.“
Jola sah am nächsten Tag am Abend auf die Uhr. Sie hatte noch 5 Minuten, aber das reichte ihr. Sie hatte sich nicht nach Tessas Wünschen schick gemacht. Sie hatte lediglich eine rote Bluse und einen rötlichen Labello aufgetragen. Ihre Haare zur Abwechslung mal zu einem Dutt gebunden und die Augen ein wenig geschminkt. Sie wollte sich nicht die Mühe machen, Jake zu gefallen. Außerdem fand sie den Gedanken an ein Triple-Date so schon seltsam genug. Ich muss nicht auch noch einen Dreier herausfordern, dachte sie ironisch, wie sie sich so im Spiegel betrachtete. Jetzt, mit 19 Jahren, stellte sie sich häufig das 15-jährige Mädchen von damals vor. Den seltsamen Klamotten-Geschmack, den sie damals noch als modisch empfand. Die Pausbacken, die Speckfalten am Bauch. Sie war heute keine 90-60-90-Puppe, aber sie hatte deutlich abgenommen und das reichte ihr vollkommen. Schlank war sie. Mehr brauchte es nicht, auch wenn sie sich das manchmal einredete. Dadurch, dass sie abgenommen hatte, konnte man nun ihren schlanken Hals erkennen und die dünne Haut, die einige Sehnen und Muskeln dezent andeuteten. Ihre hüftlangen Haare verdeckten meistens ihren Hals. Sie fühlte sich einfach nackt, wenn sie die Haare zusammengebunden hatte. Seltsam, aber tatsächlich. Es gab selten Anlässe, an denen sie die Haare hoch band. Sie mochte es nicht, herauszustechen. Sie wollte zwar nicht wie Samantha enden – eine unsichtbare Gestalt –, aber sie wollte auch nicht besonders auffallen. Zum Durchschnitt zählen, eben. Das war das, was sie schon immer tat und wie sie sich wohl fühlte. Eine Art inneres Zuhause. So bin ich. Der Durchschnitt.
Es klopfte an der Bad-Tür.
„Jola- wow!“ Tessa schloss mit einem begeisterten Gesicht die Tür hinter sich, packte Jola an den Schultern und drehte sie einmal um 360 Grad.
„Wie war das? Du willst keinen Schwanz zwischen deinen Beinen? Tja…“
„Lass stecken“, unterbrach Jola. Sie wusste sowieso, was für ein Kommentar kommen würde.
„Du siehst mit hochgesteckten Haaren so klasse aus. Hach…“, Tessa schmachtete Jola an und seufzte übertrieben, „Wäre ich keine Hete… glaub mir, ich würd dich mir sofort angeln.“
„Hör auf zu spinnen“, winkte Jola ab und strich sich verlegen eine Strähne hinter das Ohr, die sich aus ihrem Dutt gelöst hatte.
„Eine Kleinigkeit fehlt noch“, bemerkte Tessa, nachdem sie Jola einige Sekunden musterte. Sie wandte sich an das Regal neben dem Waschbecken und zog eine kleine Truhe mit Schmuck hervor.
„Oh nein!“, wehrte sich Jola und machte einen Schritt zurück.
„Doch. Komm her!“ Tessa nahm zwei Ohrringe aus der Truhe und machte einen Schritt auf Jola zu, die die Tür aufriss und lachend davon rannte.
„Träum weiter!“
„Mit Vergnügen!“ Tessa rannte Jola hinterher, packte sie in ihrem Zimmer am Arm und schmiss sich mit ihr auf das Bett. Lachend kugelten sich die Mädchen. Als Jola unten lag, setzte sich Tessa auf ihre Beine, nahm die Ohrringe zwischen die Lippen und hielt Jolas Hände über ihrem Kopf fest, so dass sie sich nicht mehr wehren konnte. Nach einer kurzen Lachpause legte Tessa den Kopf schief und drehte sich von Jola herunter, die sich wieder hinsetzte und versuchte sich die Haare zu richten. Tessa nahm die Ohrringer wieder in die Hand und reichte sie ihrer Freundin. Jola schüttelte stur den Kopf.
„Du siehst gerade ziemlich durchgevögelt aus. Aber das steht dir.“
Jola verdrehte leise lachend die Augen und zupfte ihre Bluse zurecht.
„Ändert trotzdem nichts daran, dass ich keine Ohrringe tragen werde.“
„Ach, komm!“
Es klingelte.
Beide Mädchen rissen die Köpfe hoch und schauten zur Tür. Unschlüssig, was sie tun sollten.
„Es ist dein Date“, erinnerte sie Jola und schenkte Tessa noch ein siegessicheres Grinsen, die seufzend die Ohrringe aus der Hand legte und vom Bett aufstand.
„Du siehst übrigens auch ziemlich verrucht aus“, bemerkte Jola.
„Na toll“, grinste Tessa und kämmte sich mit der Hand kurz durch die Haare, bevor sie aus Jolas Zimmer eilte und zur Haustür lief.
Hätte Jola gewusst, worauf dieser Abend hinausläuft, hätte sie den Sprung aus dem Fenster gewählt.
Juli 2012
Die Hitze war so unerträglich, wie die drei Tage zuvor schon. Jola, Jenna und Sarah lagen wie tote Tiere auf ihren Betten und versuchten zu überleben. Jola hatte von Anfang an gewusst, dass sie die Abschlussfahrt in Kroatien verfluchen würde. Sie hasste die Hitze. Sie mochte es nicht, wenn man das Haus verließ und gegen eine Wand lief, weil einem die Hitze nur so entgegenschlug. Genauso wenig konnte sie die schweiß-feuchten Körper leiden und den leichten Stoff an den Schultern, der anfing zu kleben. Selbst in einem Kleid schwitzte man.
„Ätzend. So richtig ätzend“, stöhnte Jola, während sie die staubtrockenen Blätter am Baum betrachtete, der vor ihrem Fenster stand.
„Weißt du, was ätzender ist, als dieses Wetter?“, warf Jenna ein und fächerte sich mit der Hand Luft zu, „Dass dieser Bunker hier keine Klima hat!“
Jola rieb sich müde die Augen, richtete sich auf und zupfte sich ihr Top zu Recht. Die Mädchen lagen bereits seit einer Stunde tatenlos auf ihren Betten und hofften, dass wenigstens noch ein kleiner Wind aufkam. 45° C und das seit sie hier angekommen waren. Unerträglich.
Jola hörte vor ihrer Hütte die Jungs aus ihrer Klasse herumtrampeln und lachen. Die Tür der Hütte führte direkt nach draußen. Links von ihnen standen noch 2 kleine Holzhütten, mit je 3 Betten. Unter ihnen wieder drei Hütten und darunter noch einmal welche. Sie lagen aufgereiht auf einem Berg, unter ihnen das Meer. Blau und blauer. Die Hälfte ihrer Klasse war dort unten. Die einen sonnten sich, die anderen machten Wettsprünge oder schwammen bis an die gegenüberliegende Insel. Eigentlich war Jola auch eine leidenschaftliche Schwimmerin. Sie konnte das auch ziemlich gut. Allerdings war sie schon seit langer Zeit nicht mehr im Wasser gewesen, was mehrere Gründe hatte.
„Vielleicht sollten wir doch mal runter gehen“, meinte Sarah, nach einer längeren Schweigepause, in denen die Mädchen alle ihren eigenen Gedanken nachgegangen waren.
„Da ist es auch nicht besser“, stöhnte Jola.
„Hier drin‘ aber auch nicht“, konterte Sarah.
Jenna wollte gerade etwas einwerfen, da klopfte es an ihrer Tür und Edona kam in ihre Hütte. Sie ließ die Tür hinter sich offen.
„Was macht ihr denn hier?“, fragte sie mit einem offenen Grinsen im Gesicht, das alle ihre perlenweißen Zähne zeigte. Edona kam aus Afrika. Ihre Haare waren eine dicke Locken-Mähne, die jeder anfassen wollte. Auch Jola hatte schon mit Edonas Haaren gespielt. Sie hatte ein Bilderbuch-Gesicht. Alles passte auf das kleinste Detail genau hinein. Die Nase, die Augen, das Kinn, die Ohren. Wie gezeichnet, eben. Edona war eine Schülerin aus ihrer Parallelklasse. Es war eher ungewöhnlich, dass sie einfach mal so in ihrer Hütte vorbeischaute. Normalerweise hing sie immer mit Monika und Bella ab, die vermeintlich Coolen in der Klasse. Das waren Jola und ihre Freunde bei Gott nicht. Sie hatten schon immer zu den Außenseitern gezählt.
„Habt ihr eigentlich Körperöl oder so?“, fragte Edona, kaum, dass sie sich im Raum umgesehen hatte.
„Nö“, schoss es Jenna aus dem Mund.
„Monika benutzt Olivenöl. Sie stinkt bis hier hoch“, murmelte Edona und zog die Nase kraus. Das konnte sich Jola ohne Mühe vorstellen.
„Wir haben nichts hier. Außer Sonnencreme“, winkte Sarah ab, richtete sich auf und kämmte sich einmal kurz durch die Haare. Edona sah Sarah an und schien kurz zu überlegen. Dann sagte sie: „Hat dir eigentlich schon einmal jemand gesagt, dass du voll schöne Augen hast?“
Sarah wirkte überrascht, zog die Brauen in die Höhe.
„Nein, wirklich“, sagte Edona, „Voll schön blau. Ich liebe blaue Augen. Du hast ja auch blaue.“ Sie wandte sich an Jenna, dann griff sie nach einer Sonnencreme und drückte sie Jenna in die Hand, damit sie Edona einschmierte. Wie selbstverständlich.
„Du hast auch voll den geilen Körper. Voll lange Beine, voll den flachen Bauch. Machst du Sport?“
„…Nein.“
„Krass. Voll unfair. Kannst mir gerne was von deinen Genen abgeben.“ Edona zog die Haare nach vorne und hielt sie fest, damit Jenna sie eincremen konnte. Jola saß da und starrte die beiden an. Wie beste Freunde, wie sie da saßen. Sie hätte spontan kotzen können. Dann hob Edona den Blick und sah Jola direkt in die Augen.
„Du bist auch ganz hübsch“, sagte sie pflichtbewusst, als wäre ihr eingefallen, dass sie jedem hier ein Kompliment gemacht hatte, außer dem pummeligen, braunhaarigen Mädchen.
„Deine Haare hätte ich gerne.“ Edona streckte den Arm aus und griff kurz in Jolas Haare. Sie musste sich bemühen, nicht instinktiv zurück zu weichen.
„Danke“, murmelte Jola nur und senkte den Blick. Als sie auf ihre Beine sah, die sich wie ein einziger Fettberg auf dem Bett ausbreiteten, zog sie die Knie an. Sie war nie besonders schlank und auch noch nie besonders schön. Sie war einfach nur ein Mädchen. Durchschnittlich klug, durchschnittlich witzig. Eigentlich würde keiner trauern, wenn sie auf einmal nicht mehr da wäre.
Liebe Leyla,
heute war wieder ein Scheißtag. Eigentlich weiß ich gar nicht so genau, wieso ich überhaupt Tagebuch schreibe, wenn ich doch sowieso bloß melodramatische Klugscheißereien zu schreiben habe.
Ich würde dir so gerne mal erzählen, dass ich etwas Schönes erlebt habe. Na ja, zum Beispiel, dass ich im Meer schwimmen war und bis zur anderen Insel geschwommen bin. Oder dass Jenna, Sarah und ich mal etwas „cooles“ mit den anderen aus unserer Klasse gemacht haben. Oder vielleicht von meinem ersten Kuss (der sowieso niemals stattfinden wird) oder einer Rose, die in der Tür steckte – für mich.
Aber ich muss dich enttäuschen, wie immer. Ich bin eben nicht dieses Mädchen, das viel zu erzählen hat. Das viele Dinge erlebt. Das mit seinen Eltern nach Paris oder Monte Carlo oder Kalifornien fliegt und außergewöhnliche Abenteuer erlebt, denn ich bin nun einmal nicht außergewöhnlich. Ich bin, wie ich bin.
Einerseits denke ich, es ist ganz gut so… andererseits bin ich auch oft traurig und würde mein Leben gerne durch das eines anderen eintauschen.
Eigentlich ein dummer Gedanke, wenn man bedenkt, dass man nur ein Leben hat. Und eigentlich bin ich doch auch noch recht jung, oder? Als meine Mama 15 war, hat sie schon gearbeitet, gekocht, Wäsche gewaschen – fast den ganzen Haushalt selber geschmissen und meiner Oma unter die Arme gegriffen.
Im Gegensatz dazu bin ich ja geradezu faul. Zuhause bin ich draußen im Hof, lese, schreibe oder sitze am Laptop und schreibe mit irgendwelchen Internet-Phantomen, die ich eher meine Freunde nennen kann, als Jenna und Sarah. Traurig, oder?
Außerdem bin ich noch in der Schule. Hauptschule. Wie sich das schon anhört! Ein Haufen voller Intelligenzgestörter und Schlägerbräute.
Aber so bin ich nicht, wirklich. Es ist mir immer wieder peinlich, dazu stehen zu müssen. Ich würde mich niemals zu der Menge einer Hauptschule zählen und ich finde es gemein, dass wir Hauptschüler, von den Menschen da draußen, alle über einen Kamm geschert werden.
Ich bin anders als die anderen.
Ich meine, ja, ich weiß – jeder ist anders als die anderen. Aber ich bin ganz bestimmt nicht wie die! Wie Monika, Edona, Bella… und die restlichen 95 % meiner Klasse (und Schule).
Edona war heute übrigens bei uns in der Hütte und wollte sich einschleimen.
Sie hat Sonnenöl gebraucht, aber weder Jenna, Sarah noch ich sind solche Tussis, wie die aus ihren Kreisen, die Sonnenöl brauchen. Sie hat dann einfach Sonnencreme genommen und sie Jenna in die Hand gesteckt, damit sie eingeschmiert wird.
So etwas würde ich mich nie trauen. Und dann fing sie an den beiden Komplimente noch und nöcher zu machen und ich saß da und dachte mir so: Ja, ist klar. Du kannst auch einfach sagen, dass ich scheiße aussehe. War ja nie anders. Weißt du ja.
Und dann drückte sie noch den unnötigsten Satz raus, den die Weltgeschichte je gehört hatte: Deine Haare hätte ich gern.
Nein, nicht: du hast schöne Haare, oder "mir gefallen deine Haare"... bloß.."deine Haare hätte ich gern".. Bullshit.
Kann ich mir auch nichts von kaufen.
Kann sie vielleicht Krebspatienten spenden, die sich Perücken aus Echthaar wünschen. Wäre immerhin sinnvoll.
Ob ich nun ne Glatze trage oder nicht, ändert an meinem Gesicht wohl auch nichts mehr. Rund und pickelig, kleine Augen, fettige Haut. Ach, ist doch nichts mehr zu helfen.
Ich geh jetzt schlafen.
Jola hatte natürlich gewusst, dass sie diese Woche in Kroatien überleben würde. Sie hatte immerhin schon viele Woche überlebt. Sie hatte auch gewusst, dass sie die meisten aus ihrer Klasse, nach dieser Abschlussfahrt, nicht mehr sehen würde. Ihre Wege sollten sich trennen, als hätte es nie einen gemeinsamen gegeben. So war es auch. Die einzige Person, mit der Jola in Kontakt blieb, war Sarah. Sie besuchten sich in den Sommerferien noch oft. Es fanden fast tägliche Übernachtungen statt, was allerdings nichts Neues war. Sie hatten schon unter der Woche, während der Schulzeit, oft beieinander übernachtet. Das hat ihre Leistung in der Schule nicht beeinträchtigt. Es war viel schöner, zusammen Hausaufgaben zu machen, Zähne zu putzen, schlafen zu gehen, aufzuwachen, sich fertig zu machen und zur Schule zu laufen. Es war fast, wie ein Geschwisterleben, obwohl Sarah nicht unbedingt zu Jolas besten Freunden zählte.
Das Übernachten und Treffen hatte sich nach der Schule also nicht geändert. Kurz nach Kroatien warf Sarah ihr immer wieder vor, weshalb sie sie nicht davon abgehalten hatte, ihren Ex Freund zu küssen. Sarah und Steffen waren ein Jahr lang ein „Pseudo-Paar“. Also so wirklich konnte Jola diese Beziehung nicht gelten lassen. Es war einfach nur Kinderkacke, wie die meisten von Sarahs Beziehungen eben. In Kroatien gab es einen Tag vor der Abfahrt noch eine kleine Schüler-Disco. Alkohol war natürlich strengstens verboten, trotzdem tauchte Wodka-Bull und Wodka-Cola in Massen auf. Sarah war schneller dicht, als Jola schauen konnte. Jenna und Jola hatten sie dann auf die Seite gezogen, da sie lachen und weinen nicht mehr auseinanderhalten konnte, und füllten sie mit Wasser ab, in der Hoffnung, es würde besser werden. Aber sie schwankte wie der letzte Vollidiot und zog noch den Abend darauf eine Fahne hinter sich her, die nicht mehr feierlich war. Wort wörtlich. Und an diesem Tag ließ sie sich komplett gehen.
„Egal, was passiert“, hatte Sarah gelallt, „Lass mich auf keinen Fall in Steffens Nähe!“ Jola hatte versprochen, sie würde es versuchen. Aber dann verschwand Sarah plötzlich spurlos und Jola fand sie hinter dem Gebäude, in dem die Schüler-Disco stattfand. Mit Steffen. Die Arme um seinen Hals geschlungen, die Zunge in seinem Hals.
„Ich war betrunken“, rechtfertigte sich Sarah später.
„Das ist noch untertrieben“, hatte Jola entgegnet, „Du warst an der Grenze einer Bewusstseinsstörung.“ Heute war Sarah ihr nicht mehr böse für diese kleine Ego-Pleite. Allerdings, und da war sich Jola sicher, würde Sarah ihr das immer wieder vorwerfen, dass sie sie nicht davon abgehalten hatte, wenn Jola sie daran erinnern würde oder sie durch irgendjemand anderen daran erinnert werden würde.
„Hast du jetzt endlich alles?“
„Ja, hab‘ ich“, rief Jola aus ihrem Zimmer und warf noch die Kamera in den Rucksack. Sarah und sie wollten heute mit den Hunden Picknicken gehen. Eigentlich wusste Jola, dass das so gut wie unmöglich war. Charlie und Richie waren wildgewordene Bestien, wenn sie zusammen waren. Sarahs Yorkshire Terrier rannte gerade in Jolas Wohnung herum, auf der Suche nach etwas Essbarem. Bei Jolas Großmutter fand er immer ein Stückchen Käse oder Gurke, aber sie war seit einer Woche im Krankenhaus. Mal wieder. Weshalb Jola die letzten Tage auch sturmfreie Bude hatte, da ihre Eltern beide Vollzeit arbeiteten. Und Jolas Jack Russel lief Charlie einfach aus Prinzip hinterher. Acht Pfoten, die auf dem Parkett herum rasten. Jola verließ ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Das machte sie immer, weil sie es nicht mochte, wenn es einladend offen stand. Dann riefen die Mädchen ihre Hunde und leinten sie an, um los zu gehen.
Der Stadtpark war nur 10 Minuten Fußmarsch von Jolas Wohnung entfernt. Jola war nicht der Sommer-Typ. War sie noch nie gewesen. Sie mochte zwar die Farben, die Freude, die die Sonne ausstrahlte, aber die Hitze konnte sie einfach nicht ausstehen. Manchmal verkroch sie sich dann tagelang im Haus, bis es etwas kühler wurde. Eigentlich schade, weil die Frühlings- und Sommerzeit ihre depressiven Schübe oft wie auszulöschen schien. Was Jola diesen Sommer allerdings auffiel war, dass sie Dank Kroatien ganz schön abgehärtet war. Die 32° C erschienen ihr geradezu angenehm, im Gegensatz zu den fast 15 Grad mehr in KRK. Sie schwitzte deshalb auch nicht, obwohl sie ein luftiges Jäckchen trug, während sie zum Stadtpark liefen und sich dann in der prallen Sonne mit einer Decke auf die Wiese setzten. Eine Weile richteten die Freundinnen das Picknick her und schimpften gleichzeitig mit ihren Hunden, wenn sie zu weit weg liefen oder sich so in ihre Spiel-Rauferei hineinsteigerten, bis einer aufheulte und den Schwanz einzog, wobei weder Jola noch Sarah unterscheiden konnten, welcher von beiden nun wirklich das Opfer war, und welcher nur das unschuldige Lamm spielte. Irgendwann waren die Hunde so erschöpft, dass sie nur noch etwas Wasser aus dem niedrigen Bach tranken, der wenige Meter neben der Picknickdecke lag, und sich schließlich zu den beiden Mädchen in die Wiese legten und hechelnd in der Sonne dösten.
„Sie sehen aus, als würden sie grinsen“, bemerkte Jola halblachend, während sie von einer Erdbeere abbiss und auf ihr kaute.
„Schnell, mach ein Foto!“ Sarah drückte ihr die Kamera in die Hand und setzte Charlie eine Sonnenbrille auf, während sie Richie Jolas Sonnenhut auf den kleinen Kopf setzte.
Jola knipste ein Foto und die Mädchen lachten. Dann nahmen sie den Hunden die Verkleidung wieder ab und amüsierten sich über das Foto.
„Das poste ich bei Facebook“, sagte Sarah, dann machte sie noch ein Selfie von sich und Jola. Eine Weile aßen sie schweigend ihr aufgeschnittenes Obst und tranken die selbstgemachte Limonade, die Dank der Kühltasche erfrischend geblieben war.
„Sag mal“, setzte Jola dann gedankenverloren an und beobachtete zwei Spaziergänger, die einige Meter von ihnen entfernt den Bach überquerten.
„Hm?“
„Hast du eigentlich Angst? Ich meine vor dem, was nach den Ferien kommt. Vor der Ausbildung und so.“
Sarah kaute nachdenklich auf ihrer Traube, dann biss sie noch ein Stück vom Käse ab und schmunzelte.
„Nö. Ich stelle mir das eigentlich ganz cool vor. So erwachsen, weißt du? Außerdem bin ich fest davon überzeugt, dass wir dort unsere Traumprinzen finden werden.“ Sarah grinste, aber Jola entging nicht, dass sie durchaus auch ein wenig Schiss hatte.
„Ich weiß nicht“, Jola zuckte die Schultern, trank noch einen Schluck von der Limonade und legte sich auf den Rücken, um in den Himmel zu schauen. Die Sonne war schon am Untergehen, weshalb es noch erträglich war, die wenigen Wolken beim Vorbeiziehen zu beobachten.
„Was weißt du nicht?“
„Na ja“, Jola zog ihren Hut über das Gesicht, „Ich meine, wir sehen uns vermutlich nie wieder so häufig, wie die letzten 6 Jahre. Und die ganzen neuen Menschen. Hast du nicht ein bisschen Bammel, dass dein Chef sich im Endeffekt dann doch noch als Arschloch entpuppt? Oder vor der neuen Klasse…“ Jola graute es vor dem Gedanken des ersten Berufsschultages.
„Doch, ein bisschen schon“, gab Sarah dann nach kurzem Zögern zu und kraulte Charlies Kopf.
Jola sagte darauf nichts mehr. Sie war erleichtert, dass Sarah ihr Unbehagen zugegeben hatte. So fühlte sie sich nun nicht mehr so, als sei sie der einzige Trottel, der Angst vor einem Neubeginn hat. Vor so einem Lächerlichen vor allem, den jeder Mensch durchmachte. Eigentlich eine seltsame Tatsache, die Jola gerade feststellte. Man machte einem anderen das Herz schwer und schon wurde es um’s eigene leichter. Aber so war wohl das Leben.
Liebe Leyla,
Sarah und ich waren heute Picknick machen. War ganz schön, finde ich. Richie ist wenigstens so völlig k.o. gewesen, dass ich vorm Schlafengehen nur noch eine kleine Runde mit ihm gehen musste.
Weißt du… ich glaube, ich muss dir etwas gestehen, worüber ich schon länger nachdenke, aber mich noch nie getraut habe, es auszusprechen - Oder bzw. zu schreiben.
Ich habe verdammt große Angst. Vor der Ausbildung. Davor, keinen Anschluss zu finden.
Weißt du, ich bin nicht besonders schön, nicht einmal annähernd. Ich habe Beine wie ein Elefant, ein Gesicht wie ein Kugelfisch und einen Bauch wie ein Wackelpudding. Nichts, aber auch wirklich nichts an mir, hat das Wort „schön“ verdient. Ich bin einfach glanzlos. Ein Kieselstein unter tausend Diamanten.
Als Kind war ich lange stolz auf dieses fette Muttermal an meiner Stirn. Meine Mutter meinte immer, das sei etwas Einzigartiges.
Aber weißt du, ich bin inzwischen 15 und keine 5 mehr. Ich weiß, dass jeder Mensch einzigartig ist, deswegen macht mich mein Muttermal zu nichts Besonderem. Kein Mensch ist etwas Besonderes. Vielleicht jeder besonders auf seine eigene Art und Weise, aber auf keinen Fall etwas Besonderes. Mein Muttermal verstecke ich mittlerweile mit meinen Haaren, nachdem ich monatelang in der Schule Warzenfresse genannt wurde, weil ja alle meinten, das Muttermal wäre eine Warze.
Das Mal ist einfach nur ein Scheißdreck. Für nichts ist es gut. Außer vielleicht mal, um später meine Leiche zu identifizieren.
................Ich habe einfach Angst. Aber viel mehr vor meiner neuen Klasse, als vor der Arbeit. Ich habe so große Angst vor den Schülern. So große Angst, dass wieder dasselbe passiert, wie damals in der 6. Klasse. Die Narbe, als mir die Schüler aus der oberen Klasse den Zirkel durch die Hand gerammt haben, sehe ich immer noch. Alle anderen sehen sie nicht, aber ich sehe sie. Und dann denke ich immer daran. Ich meine, nicht nur daran, wie sie mir das erste Mal wehgetan haben. Das war eigentlich eher eine Erlösung. Es war mir so viel lieber, wenn sie mir Nägel auf den Stuhl legten, mich zufällig mit Stiften bewarfen oder mir das Bein stellten, als wenn sie einfach nur mit dem Finger auf mich zeigten und mich auslachten und fette Kuh und Pickelpinocchio oder Warzenfresse nannten. Das war nämlich die Hölle. Nicht etwa, als Burak zufällig das Lineal gegen meine Wange schnalzte oder Kevin mir aus Versehen (natürlich) seinen Schuh ins Gesicht donnerte.
Es war okay. Viel besser, Schmerzen zu spüren. Kannst du verstehen, was ich meine? Hm…………
Es war einfach… sowas wie ein Seil, an dem ich mich halten konnte. Wenn sie mich einfach nur auslachten, beleidigten oder ansahen und tuschelten, dann… fühlte sich das an, als müsste ich zusammenfallen. Als müsste ich irgendwie in mich zusammenfallen. Oder wie ein dünnes Blatt Papier solange zusammenfalten, bis es klein war, wie eine Ameise. Kaum wahrnehmbar. Ich wollte einfach weg sein, weil sich alles in mir zusammengezogen hatte. Ich kann dir nicht beschreiben, wie furchtbar sich das anfühlt, wenn du denkst, die ganze Menschheit ist gegen dich. Wenn du weißt, egal wo du bist, du angesehen wirst, wie ein kleines Stück Dreck am Straßenrand, mit dem man nicht wirklich weiß, was man anfangen soll, außer es anzusehen und es ekelig zu finden und einfach liegen zu lassen.
Ich weiß, hört sich alles irgendwie dramatisiert an… und obwohl das jetzt 4 Jahre her ist, fühle ich mich immer noch manchmal so.
Ein Scheißgefühl. Aber ich habe ein bisschen gelernt, damit umzugehen. Außerdem weiß ich, dass man sich zum Großteil auch selbst zum Opfer machen kann. Wenn man unsichtbar und unauffällig ist, passiert nichts.
Vielleicht werde ich es weiter so versuchen. In meiner neuen Schule dann, meine ich. Und… vielleicht muss ich einfach ein wenig abnehmen. Ich glaube, es ist leichter mich zu übersehen, wenn ich etwas weniger dick wäre.
Dann versuche ich das einfach mal. Ab morgen versuche ich weniger zu essen und Sport zu machen. Vielleicht reicht das ja, dass ich in den paar Wochen noch abnehme…
13. Oktober 2012
Liebe Leyla,
ich habe mich ganz schön lange nicht gemeldet, das tut mir leid. Vor ca. einem Monat hatte ich ja meinen ersten Berufsschultag. Der war ganz gut.
Ich glaube, das lag daran, dass jeder neu war und sich jeder irgendwie nicht ganz so wohl gefühlt hat.
Ich habe gleich ein paar Mädchen kennen gelernt. Ich verstehe mich mit ihnen voll super. Ganz anders, als in meiner alten Klasse, habe ich sehr schnell Anschluss gefunden.
Keiner aus der Klasse hat es auf mich abgesehen. Jedenfalls sind sie alle zu sehr mit sich selbst und dem Unterricht beschäftigt. Es gibt nur ein Mädchen, das ich gar nicht leiden kann. Naomi. Sie ist blond, groß, gertenschlank, bildhübsch und guckt mich immer von oben herab ab. Ich weiß, dass ich nicht so aussehe wie sie und ich weiß auch, dass ich dicker bin als sie und nie so aussehen werde. Das weiß sie auch.
Aber gesagt hat sie bisher zu mir noch nichts. Sie schaut mich nur genauso an, wie ich schon einmal irgendwann erzählt habe: wie ein Stück Dreck auf der Straße, bei dem man nicht weiß, was man damit anfangen soll.
Aber das kümmert mich nicht großartig. Sie ist die Einzige, die mich immer so blöd ansieht. Die anderen interessieren sich nicht für mich und die fünf Mädchen, mit denen ich mich verstehe, halten zu mir. Jedenfalls lachen wir verdammt viel.
Bea hat letztens zum Beispiel Menthol Bonbons gegessen und Alex hat ihr ein Schluck Red-Bull angeboten.
Bea: „Oh, nein danke.“
Alex: „Hä? Du liebst doch Red-Bull?!
Bea: „Ja schon… aber ich ess grad Menthol Bonbons…“
Michi: „Ja und?!“
Bea: „Na ja………ja aber wenn ich jetzt Red-Bull trinke, explodiere ich dann nicht?!“
Hahaha! Wir haben so lachen müssen! Dann hat uns Frau Albrecht auseinandergesetzt. Zu blöd.
Ansonsten ist bisher noch nichts von dem, was ich befürchtet habe, eingetroffen.
In einer Klasse weiter über uns sind ein paar Jungs, die mir schon am ersten Tag aufgefallen sind. Sie sind ein wenig komisch, wie sie uns immer anschauen. Vor allem Isi und ich sind ihren Blicken immer völlig ausgeliefert. Warum auch immer. Ein wenig unheimlich sind sie schon und bestimmt 5 Jahre älter als ich.´Mit den Lehrern bin ich zufrieden. Frau Albrecht ist sehr lustig und eine Schülerin aus unserer Klasse versucht immer unseren BOV-Lehrer auszuquetschen. Immerhin wissen wir, dass er sich vor wenigen Jahren erst geschieden hat. Er sieht echt nicht schlecht aus und diese eine Schülerin baggert ihn aus Spaß auch immer an. Er versteht es und nimmt’s mit Humor.
Ich mag meine Klasse ganz gern. Außer Naomi.
Was die Arbeit angeht… na ja. Andere Geschichte. Arztpraxis eben. Man wird von den Patienten blöd angemault, wenn sie einen schlechten Tag haben und beschweren sich, dass sie ne Stunde warten müssen, wenn sie ohne Termin in der Praxis hereinschneien. Das nervt mich extrem, aber was soll man machen? So ist das Leben.
Meine Chefin ist ganz nett, aber irgendwie immer grummelig. Also, sie ist auf jeden Fall nicht die Sympathie in Person, aber wenn man sie besser kennt, ist sie ganz nett.
Bis bald.
Jola legte den Stift weg, als sie etwas nebenan im Wohnzimmer auf den Boden donnern hörte. Sie zuckte leicht zusammen und runzelte die Stirn. Ihr erster Impuls war aufzustehen, und die Tür einen Spalt zu öffnen, um zu lauschen, was passiert war, aber sie ließ es doch bleiben. Es war kurz vor 22 Uhr. Ihre Mutter hatte noch in der Küche gestanden und die Spülmaschine ausgeräumt, als Jola mit dem Tagebuchschreiben angefangen hatte. Der Krach hätte rein theoretisch auch die Katze gewesen sein können, aber Jolas Verdacht lag schwer auf ihrem alkoholkranken Vater, der täglich bis zu 7 Bier soff. Das war keine Ausnahme, wenngleich es sich ein wenig gebessert hatte. Früher waren es immerhin 12 Bier gewesen, die Jola auf dem kleinen Kühlschrank im Wohnzimmer zählte. Ab und zu trank er heute auch noch so viel. Das machte sich dann bemerkbar, indem er ganz schön gereizt auf die lächerlichsten Kleinigkeiten reagierte und zu Wutausbrüchen neigte.
Er hatte Jola und ihrer Familie noch nie etwas angetan, aber Tastaturen, Computermäuse und etliche andere, zerstörbare Gegenstände (ja, sogar ein Monitor) waren schon einmal quer durch das Wohnzimmer geflogen. Er war nicht immer aggressiv. Sein tägliches Alkoholpensum hatte schon ein Limit erreicht, in dem er zwar dauerbesoffen war, man es ihm aber nicht anmerkte. Er hatte gerade sicher wieder etwas auf den Boden gedonnert. Jetzt brüllte er herum. Jola konnte nicht verstehen, was ihn aufregte. Vermutlich funktionierte wieder etwas nicht am Computer. Oder der Kater regte ihn auf, der immer miauend durch die Wohnung spazierte. Das konnte ihren Vater richtig zur Weißglut bringen. Dann hörte sie plötzlich, wie Richie aufheulte und ein Winseln, dass ihr das Herz in Fetzen riss. Ohne weiteres Zögern zog sie die Tür so heftig auf, dass ihr Arm mit nach hinten riss und es knackte. Sie fluchte über den kurzen Schmerz, Richie kam kleinlich zu ihr gerannt und versteckte sich hinter ihren Füßen. Sie kniete sich zu ihm herunter und kraulte ihn fest am ganzen Körper.
„Was hat er dir angetan?“
Richie hatte die Ohren eingezogen und wedelte unsicher mit dem Schwanz hin und her. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Ihr Vater fluchte immer noch aus dem Wohnzimmer, dann stapfte er heraus, mit hochrotem Kopf. Richie rannte sofort unter das Bett und verkroch sich, um sich zu verstecken. Jola hatte so eine dicke Zornesfalte im Gesicht, dass ihr die Stirn pochte.
„Was hast du getan?“, brüllte sie ihn an.
„Du sollst deinen Drecksköter erziehen, sonst spieß ich ihn mit der Gabel auf, das schwöre ich dir, so wahr ich hier stehe!“
„Was hast du ihm angetan?“, wiederholte sie in derselben Lautstärke und merkte, dass ihre Stimme zu beben anfing. Es war ungewohnt, ihren Vater anzubrüllen. Das hatte sie noch nie getan, weil sie großen Respekt, wenn nicht sogar Angst vor ihm hatte.
„Malte, bitte“, versuchte es Jolas Mutter vorsichtig, aber wenn es nach Jola ging, hätte sie auch einfach den Mund halten können. Ihre Mutter konnte sich ja sowieso nie durchsetzen. Obwohl Jola wirklich Angst vor ihrem Vater haben konnte, ballte sie gerade die Hände zu Fäusten und forderte ihn heraus: „Hast du ihn geschlagen? Was hast du getan???“
Sie redete wirklich nie so mit ihrem Vater, aber ihren Hund so eingeschüchtert und verängstigt zu sehen, brachte sie zur Weißglut. Egal wer ihm jemals etwas angetan hätte oder antun würde, das schwor sich Jola, denjenigen würde sie bis zum Tod hassen.
„Pass auf, wie du mit mir redest, Fräulein! Wenn du ihn nicht erziehen kannst, muss er eben fühlen.“
Jola spürte einen Muskel in ihrem Kiefer zucken und einen fetten Kloß in ihrem Hals heranwachsen. Sie war nicht dumm. Sie wusste, dass sie ein gefährliches Risiko herausforderte, aber bevor sie über die Konsequenzen nachdenken konnte, rief sie: „Ich hasse dich!“ drehte sich um und schlug ihre Zimmertüre zu. Der Schreck und das Adrenalin breiteten sich in ihrem Körper aus. Ihre Brust bebte, so sehr donnerte ihr Herz und sie lehnte sich mit all ihrem Gewicht gegen die Holztür. Er würde gleich reinkommen. Das wusste sie. Das würde er niemals einfach auf sich sitzen lassen. Natürlich spürte sie schon, wie er an der Türklinke rüttelte und versuchte die Tür aufzudrücken. Jola stemmte sich in mit den Fersen in den Boden und betete im Stillen, dass sie nicht falsch damit gelegen war, dass er ihr nie etwas antun würde. Würde er doch nicht, oder? Selbst nicht, wenn er betrunken war. Nein! Das konnte sie sich einfach nicht vorstellen.
„Jola, mach die Tür auf!“ Seine Stimme war ein einziges Knurren, das tief aus seiner Kehle herrührte und Jola das Blut in den Adern gefrieren ließ. Und im selben Moment wurde ihr klar, dass sie vollends verspielt hatte. Tränen der Angst und Hilflosigkeit stiegen ihr in die Augen und verschleierten ihre Sicht. Sie fragte sich instinktiv, ob ihre Mutter etwas tun würde, sollte er tatsächlich vorhaben, sie anzufassen. Aber das bezweifelte sie. Ihre Mutter würde lediglich den Kopf schütteln und in einem anderen Zimmer verschwinden.
„Jola!“ Noch ein Knurren und Jola fing an den Kopf schütteln, obwohl er sie nicht sehen konnte. Sie traute sich nicht mehr, etwas zu sagen. Als sei ihre Stimme im Hals stecken geblieben. Sie merkte, wie ihre Füße am Parkett immer weiter ausrutschten. Sie konnte sich nicht mehr halten. Ihr Herz schlug immer schneller, das Adrenalin stieg ihr zu Kopf und ein Schluchzen entfuhr ihren Lippen, was dazu führte, dass sie noch mehr Angst bekam. Es war ein Teufelskreis. Ihr Vater würde sicher noch wütender werden, wenn er merkte, dass sie Angst vor ihm hatte. Sie wusste, er wäre erst gekränkt und dann würde er diese Kränkung in Zorn umwandeln. Denn seine eigene Tochter sollte keine Angst vor ihm haben. Das war eine Beleidigung für die Familie! Jola fragte sich, warum ihre Mutter, gottverdammt nochmal, nichts tat!
Mit einem harten Schlag öffnete sich die Tür. Jola hatte nicht mehr die Kraft, sich gegen die Wut ihres Vaters zu stemmen und gab nach. Sie rutschte aus und stürzte seitlich zu Boden. Sie hatte keine Ahnung, was sie erwartete, aber sie wollte es auch gar nicht wissen. Sie zog den Kopf ein und kniff die Augen zusammen. Sie rechnete wirklich mit allem, so wütend, wie er gerade war. Deshalb war sie erleichtert, dass er sie bloß am Arm packte und hoch zog, damit sie wieder auf ihren Füßen stand. Ihr Hund lurte unter dem Bett hervor und beobachtete aus verängstigten Augen die Szene, die sich vor ihm abspielte. Am liebsten hätte Jola ihm zugebrüllt, er solle wieder unter dem Bett verschwinden. Ihr war es alle male lieber, ihr Vater würde sie zusammen schlagen, als Richie.
„Du packst deinen Hund und verschwindest aus meiner Wohnung“, sagte ihr Vater bestimmend, die Hand immer noch fest um ihren Oberarm. Es tat weh, aber Jola ließ sich nichts anmerken.
„Malte!“ Jola konnte ihre Mutter an der Tür der Küche stehen sehen. Sie beobachtete das ganze Schauspiel. Aber nicht etwa entsetzt oder hilflos oder mitleidig, nein – ihr Gesicht sprach ein einziges Wort: Empörung. Und das machte Jola wütend. Sie verstand nicht, was die Empörung bedeuten sollte. Alles wäre ihr lieb gewesen: Wut, Trauer, Unsicherheit, Angst. Aber keine Empörung! Wieso? Weil Jola eine Schande für die Familie war? Weil sie rebellisch war? Weil sie Streit mit ihrem Vater herausforderte? Wortlos riss Jola sich aus den Fängen ihres Vaters, drehte sich um, auch wenn sie ihm nicht traute (und einem Feind sollte man ja bekanntlich nicht den Rücken zudrehen) und lockte Richie unter dem Bett hervor. Sie nahm den Kurzbeiner auf den Arm, zog ihm sein Geschirr an, nahm ihn an die Leine und verließ das Haus, so wie sie war. In Socken, in einem Pulli und einer Leggings. Kein Schlüssel, keine Jacke, kein Handy. Und das Letzte, was sie sah, bevor ihr Vater die Haustür hinter ihr zuknallte, war das enttäuschte Kopfschütteln ihrer Mutter.
Jola war quer durch den Stadtpark gelaufen. Sie hatte sich von der Dunkelheit nicht beirren lassen. Sie wusste, wo es lang geht, immerhin kannte sie ihn, und auch so war sie kein Schisser. Sie hatte keine Angst vor der Dunkelheit oder vermeintlichen Gefahren. Ein alter Bekannter von ihr meinte mal, die einzige Gefahr seien die eigenen Geister im Kopf. Außerdem hatte Jola schon seit Kindesalter Horrorfilme gesehen. Angefangen hatte es mit Buffy, dann ging es weiter mit Halloween und dem Schweigen der Lämmer. Das war im Übrigen jahrelang eines ihrer Lieblingsfilme. Ihr großer Cousin hatte ihr die DVD zum 9. Geburtstag geschenkt und Jola hatte sich mehr darüber gefreut, als über den Kuschelbären in Lebensgröße, der heute nur noch im Keller den Staub auffängt. Jola bog gerade links in die nächste düstere Ecke des Stadtparkes ab, um über die Brücke zu laufen. Wenn sie die Brücke überquert hatte, war sie wieder auf beleuchteter Straße. Links von ihr ergab sich das riesige Gymnasium-Gebäude. Richie hielt an einem Baum am Straßenrand, steckte seine Schnauze in die feuchte Wiese und hob dann das Bein. Während Jola so das Gebäude betrachtete, wurde sie ein wenig wehmütig. Diesen Weg würde nicht mehr so oft laufen. Wer weiß, vermutlich sogar nie wieder. Immerhin hatte sie keinen anderen Grund gehabt, hierher zu laufen, wenn sie nicht zur Schule gegangen war. Seufzend zog sie sanft an Richies Leine, damit er mit ihr mitkam. Sie überquerte die Straße, bog links ab und lief an der Fachhochschule für Soziale Arbeit vorbei, eine Straße weiter noch einmal an einem Gymnasium und schließlich blieb sie vor ihrer Schule stehen.
Eigentlich gemein, fand Jola, wie sie so die zwei Schulen direkt nebeneinander betrachtete. Wer hatte diese bescheidene Idee gehabt, eine Hauptschule direkt neben einem Gymnasium zu gründen? Einen größeren Kontrast gab es doch gar nicht. Und eine einfachere Fläche für Anfeindungen. Wie oft lief sie hier am Gymnasium vorbei. Eine Gruppe Hauptschüler vor ihr, die mehr Selbstbewusstsein hatte wie sie und ihre Freundinnen. Wie oft kam es direkt vor ihren Augen zu einer Pöbelei zwischen einer Gruppe Gymnasiasten und Hauptschülern! Dieser sonst so belebte Platz mit einem Haufen von lachender, johlender, schubsender und drängelnder Jugendlicher wirkte seltsam leer und verlassen, in dieser einsamen Stunde. Beinahe unheimlich, wie sie hier alleine vor den zwei riesigen Gebäuden stand, über und über mit Vorurteilen, und die leeren Pausenhöfe betrachtete. Das leise Schnüffeln ihres Hundes auf der kleinen Grünfläche kurz vor dem Eingang zur Hauptschule.
Vor wenigen Wochen noch hatte sich Jola große Gedanken um den Neuanfang gemacht. Hatte sich die schlimmsten Dinge ausgemalt. Und was hatte das gebracht? Nichts, außer einige Minuten, die sie sich selbst unter Stress setzte und Sorgen machte, um nichts und wieder nichts. Ihre Klasse war ganz in Ordnung. Sie fühlte sich zwar nicht besonders wohl, aber solange es keiner auf sie abgesehen hatte, war alles okay. Vermutlich würde sie sich sowieso ein Leben lang nicht mehr wohlfühlen unter einer großen Gruppe Jugendlicher.
„Hey.“
Jola erschrak so sehr, dass ihr die Leine aus der Hand fiel und Richie vor Schreck zur Seite sprang. Mit donnerndem Herzen drehte sie sich um und als sie die harmlose Frau sah, zu der die Stimme gehörte, lächelte sie über ihre Schreckhaftigkeit und bückte sich, um die Leine wieder in die Hand zu nehmen.
„Hallo“, entgegnete Jola und merkte, dass die Fremde ihr Tempo verlangsamte, bis sie direkt vor ihr zum Stehen kam. Ihr schlanker Körper war in eine weiße Strickjacke gewickelt, die sie fest zusammengezogen hatte. Jola hatte gemerkt, dass es kühler geworden war, aber ihr war nicht kalt. Der Pulli war recht warm, den sie anhatte und der Boden war auch noch nicht ausgekühlt. Die Sonne hatte den Tag über ordentliche Arbeit geleistet. Der Boden! Jola starrte auf ihre Füße und wackelte mit den Zehen, als hätte sie vergessen, dass sie bloß in Socken unterwegs war. Oh man. Wie musste das denn aussehen?
„Entschuldigung, dass ich dich einfach so anspreche“, sagte die Frau mit einem leisen Lächeln um den Lippen, „Aber ich bin jetzt ein ganzes Stück mit dir mitgelaufen. Und…“, sie warf einen kurzen Blick auf Jolas Füße, „…ich wollte nur sichergehen, ob alles in Ordnung ist.“ Das Lächeln der Frau war langsam erloschen und stattdessen stand nun ein großes Fragezeichen in ihrem Gesicht.
Jola sah sich flüchtig um, ob noch jemand außer der Frau unterwegs war, dann schaute sie der Fremden ins Gesicht und nickte bloß stumm. Ihr fiel auf, dass die Frau relativ hübsch war. Sie hatte sehr feine Gesichtszüge, tiefliegende, große Augen. In der Dunkelheit konnte Jola nicht genau erkennen, welche Farbe sie hatten. Wegen der blonden Haare, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren, kombinierte sie aber blau.
„Es ist schon recht spät“, bemerkte die Frau nach kurzem Schweigen, in dem sie vermutlich nachgedacht hatte, was sie sagen könnte. Jola konnte sehen, dass die Fremde ihr nicht glaubte. In ihrem Gesicht lag viel Skepsis. Dennoch würde Jola darauf beharren, dass alles okay war. War’s ja auch. Sobald sie mit Richie draußen gewesen war, war die Anspannung von ihr abgefallen. Sie hatte sich noch ein paar Minuten ausgeweint, dann die Tränen weggewischt und war weiter gelaufen. Ohne Ziel, aber das war schon gut so. Der Weg ist ja bekanntlich das Ziel, nicht?
Jola sah kurz zu ihrem Jack Russel herunter, der irgendwas in der Ferne fixierte, dann sah sie wieder der Frau in die Augen, was ihr nicht gerade leicht fiel. Sie war kein Mensch, der leicht Augenkontakt halten konnte.
„Du bist noch recht jung, oder? Wissen deine Eltern, dass du unterwegs bist?“
Jola merkte, dass sie in die Offensive ging. Die Fragen waren Lock-Fragen. Jola war zwar jung, aber nicht blöd. Sie redete nicht viel, dafür beobachtete sie aber sehr gut und las viele Bücher. Sie konnte Menschen relativ schnell einordnen. Die Frau würde sie nicht mehr einfach so loswerden. Das stand schon in dem Moment fest, in dem sie vor ihr stehen geblieben war.
„Ja“, öffnete Jola zum ersten Mal den Mund, womit sie beide Fragen auf einmal beantwortete.
„Kann ich dich ein Stück auf deinem Weg begleiten?“
„Ähm“, machte Jola geistreich und schaute noch einmal zu ihrem Hund und den Weg zurück, den sie hinter sich gelegt hatte. Es gab kein „deinem Weg“. Sie hatte keinen blassen Schimmer, wo sie hin wollte.
„Damit würdest du mir auch mein Gewissen erleichtert“, lächelte die Fremde vorsichtig und schaute auf ihre Armbanduhr, „Es ist kurz vor Mitternacht und ich würde dich ungern jetzt noch alleine hier stehen lassen.“
Jola wand sich unter den Blicken der Frau. Sie war unentschlossen. Wieso machte sich die Frau überhaupt Gedanken um sie? Sie kannte Jola nicht. Sie war ziemlich schick gekleidet. Eine enge, dunkle Jeans, bescheidene Schuhe mit Absätzen, eine gemusterte, dünne Bluse unter der Strickjacke. Ihre Lippen deuteten auf die letzten Reste von Lippenstift hin, der wohl beim Wein (oder was auch immer) trinken bereits abgegangen war und ihre Wimpern waren getuscht. Jola fragte sich, wo sie wohl gewesen war.
„Ja. Na ja. Ich geh nur noch ein bisschen mit meinem Hund spazieren.“
„Das ist perfekt. Ich brauche sowieso noch frische Luft. Also?“ Wieder lächelte die Frau und zeigte ein wenig von ihren geraden Zähnen. Wie alt durfte sie sein? Vielleicht um die 40? Etwas jünger… Jola sah sich kurz um, wusste nicht, wo sie hin laufen sollte.
„Wartest du auf jemanden?“, fragte die Fremde dann plötzlich und sah sich um. Jola, irritiert von dieser Schlussfolgerung, schüttelte zögerlich den Kopf.
„Dachte ich bloß, weil du dich die ganze Zeit umsiehst.“
„Ach so“, antwortete Jola und entschloss, einfach Richtung Lehrerparkplatz zu laufen, „Nein. Ich dachte nur, ich hätte etwas gehört.“
Jola hatte keine Angst gehabt, als sie durch den Stadtpark gelaufen war. Trotzdem fühlte sie sich viel sicherer, mit dieser Fremden in Begleitung. Vielleicht war sie aber auch erleichtert, nicht alleine zu sein. Das Gefühl kannte sie in und auswendig und es bereitete ihr nicht mehr so viele Schmerzen, wie damals, als sie weinend in ihrem Zimmer gesessen ist und sich sehnlichst irgendjemanden an ihre Seite gewünscht hatte, der einfach nur neben ihr saß und nichts tat. Oder ihr mal gelegentlich einen Arm um die Schulter legte. Das ist nie passiert, außer vielleicht in ihren Träumen. Zu der Zeit relativ häufig. Damals bestand ihr Leben beinahe nur aus Schlaf. Sie freute sich, wenn es dunkel wurde, sie alles aus der Hand legte und die Augen schließen konnte. Jedes Mal freute sie sich auf den Moment, in dem sie in den Tiefschlaf verfiel und sich einer anderen Welt widmen konnte, die mit all ihren Grausamkeiten so viel besser war. In ihren Träumen wurde sie manchmal von Monstern verfolgt, von Raubkatzen oder von Vampiren. Nicht diese Pseudo-Cullen-Vampire. Sondern die Richtigen, die Blutrünstigen. Die, vor denen sich ausnahmslos jeder fürchten würde. Einmal träumte sie sogar, wie sie sich vor einem Amokläufer unter einem Tisch versteckte, er sie fand, die Pistole an die Stirn hielt und abdrückte. Sie hatte gewusst, dass es ein Traum war, als sie den Schlag der Kugel für den Bruchteil einer Sekunde spürte, und dann, wie ihr Körper einfach erschlaffte und sie in ein Nichts fiel. Dann war alles schwarz. Keine Gefühle, keine Gedanken, nur die erbarmungslose Tatsache, dass sie gerade tot war. Es dauerte Sekunden – viel länger, als üblich – dass sie wach wurde. Sie hatte dann die Augen aufgerissen und gekeucht, als wäre sie gerade wirklich vom Tod wieder zum Leben erwacht.
Aber all diese Albträume waren ihr tausend Mal lieber, als die Realität, in der sie die Einsamkeit mit all ihrer Düsternis einfach verschluckte.
Jola wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie auf einen spitzen Stein stieg und verzog das Gesicht. Der Frau blieb der kleine Humpler nicht verborgen.
„Wieso läufst du eigentlich in Socken spazieren?“
Jola sah wieder auf ihre dreckigen Füße und zuckte die Schultern.
„Ich hatte es eilig“, sagte sie wahrheitsgemäß.
„So eilig, dass du nicht einmal Zeit zum Schuhe anziehen hattest?“ Die Frau schmunzelte amüsiert und Jola entdeckte ein zartes Grübchen auf ihrer rechten Wange.
Jola antwortete nicht auf diese Frage. Zum einen, weil sie sich keine weitere bescheuerte Antwort leisten konnte und zum anderen, weil sie gar keine zweite bescheuerte Antwort hatte. Ihr keimte gerade die Idee, einfach ehrlich zu dieser Frau zu sein. Warum auch nicht? Sie war sympathisch, sah alles andere als gefährlich aus. Sie war bildschön – ja, das war sie wirklich, nach längerem Betrachten – und außerdem schien ihr klar, dass Jola ihr von vorne bis hinten Lügen auftischte. Andererseits hatte Jola Angst vor der Wahrheit. Nicht, sie irgendjemandem zu gestehen, sondern sie sich selbst zu gestehen. Nein, das konnte sie nicht machen.
„Ich… glaube, ich gehe besser wieder nach Hause. Mir wird ein wenig kalt.“
Die Fremde war so überrascht von dieser Reaktion, dass sie inne hielt und Jola aus fragenden Augen ansah.
„Ach so? Okay. Kann ich dich vielleicht nach Hause-“
„Nein, danke“, unterbrach Jola ihr Angebot, „Ich wohn‘ gleich um die Ecke. Aber danke. Komm Richie!“ Sie zog sachte an der Leine, damit ihr Hund verstand, dass sie umkehrten. Dann drehte Jola der Frau den Rücken zu und eilte davon. Kurz vor der ersten Straße merkte sie, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen und sie drehte sich noch einmal um. Die Frau stand immer noch an derselben Stelle, Jola hinterher sehend.
Dann ging Jola über den Zebrastreifen und verschwand wieder in dem stillen Stadtpark, der das weinende Mädchen mit seinen unsichtbaren Armen in Empfang nahm.
14. Oktober 2012
Liebe Leyla,
das Wochenende ist ja mal richtig in die Hose gegangen. Streit mit Papa. Er hat mich sogar aus der Wohnung geworfen. Irgendwann um 1 Uhr nachts hat mich meine Mum mit dem Fahrrad aufgegabelt.
Als ich gestern spazieren war… na ja, unfreiwillig und in Socken, wie ein Depp. Aber egal. Was ich sagen will: ich habe gestern jemanden kennengelernt. Sozusagen jedenfalls. Ich weiß nicht wie sie heißt. Eigentlich weiß ich nichts über sie. Ich will eigentlich nicht gemein klingen… du weißt, ich mag dich sehr gerne. Ich meine, immerhin schreibe ich seit 5 Jahren Tagebuch und du begleitest mich in jedem mit. Ich kann mit dir über alles reden, ohne Angst vor einer Reaktion zu haben. Und ich liebe es, so offen mit dir sein zu können. Aber… weißt du, manchmal fehlt es mir dann doch… so eine Person, die mich einfach in den Arm nimmt, wenn ich weinen muss. Ich meine, klar tut das gut, wenn ich dir in solchen Momenten schreiben kann, aber… irgendwie gibt es mir doch nicht so ganz das, was ich in so einer Situation wirklich bräuchte. Und wenn es dich wirklich gäbe, Leyla… dann würde ich dich mir genauso vorstellen, wie die Frau gestern. Und ich weiß, du würdest es mir gönnen. Du wünschst mir bestimmt genauso sehr eine Schulter zum Anlehnen, wie ich sie mir wünsche. Du würdest deshalb ja auch nicht gleich zu kurz kommen. Niemals. Schulter hin oder her. Meine tiefsten Herzensergüsse werde ich sowieso nur mit dir teilen.
Montagmorgen war in der Praxis immer anstrengend. Jola mochte ihre Dienstzeiten. Von 8 Uhr bis 13 Uhr und von 17 Uhr bis 19 Uhr die letzte Runde. Vormittags waren Frau Dr. Reich und Frau Dr. Du Pont zusammen im Dienst. 2 Ärzte, 5 Arzthelferinnen und 2 Auszubildende. Nur abends wurde es dann etwas hektisch. Frau Dr. Du Pont war die letzten zwei Stunden alleine im Dienst mit 2 Arzthelferinnen und Jola. Deswegen durften Patienten ohne Termin am Abend auch nicht mehr einfach hereinschneien. Frau Dr. Du Pont war eigentlich ein herzensguter und freundlicher Mensch, aber am Abend befahl sie den Empfangsdamen knallhart, alle terminlosen Gäste abzuwimmeln.
„Jola?“, Frau Dr. Du Pont rief sie in das Sprechzimmer. Ein kleines Mädchen saß auf dem Stuhl und hatte rote Augen vom Weinen. Jola stand vom Empfangsstuhl auf und ging zu Frau Dr. Du Pont ins Zimmer. „Könntest du unserem Mäuschen hier einen Pieks geben?“
„Aber klar.“ Jola war noch nicht besonders lange in der Ausbildung, aber eines der ersten Dinge die sie gelernt hatte, war Impfungen zu geben und Blut abzunehmen.
„Sie hat ein bisschen Angst vor der Nadel, aber ich habe ihr schon gesagt, dass sie gerne die Augen zukneifen darf.“
„Oder einfach ganz feste die Mama anschauen“, lächelte Jola die Fünfjährige aufmunternd an und reichte ihr die Hand.
„Komm Lilly“, sagte die Mutter viel zu fröhlich, „So schlimm ist das wirklich nicht.“ Wahrscheinlich war sie genau so eine Kandidatin die augenblicklich in Ohnmacht fiel, wenn sie Blut sah. So waren die meisten Mütter. Aber immerhin gab sich diese hier etwas Mühe. Jola hatte da in ihrer kurzen Zeit schon viel schlimmere Kandidaten erlebt. Stellten sich schlimmer an als die Kinder und waren dann völlig ratlos, warum das Kind denn so Angst vor der Nadel hat.
Lilly legte zögerlich die kleine Hand in Jolas und ließ sich ins Nebenzimmer führen. Es war eigentlich fast nichts besonders kindgerecht eingerichtet. Die Praxis war nun einmal kein Kinderarzt. Ein Grund mehr, dass sich Jola fragte, warum die Eltern nicht einfach direkt zu einem Kinderarzt gingen.
„Setz dich einfach auf den großen Stuhl dort in der Ecke. Siehst du da oben?“ Jola deutete auf ein Regal mit einer offenen Glaskugel. Lillys blauen Augen suchten das Regal ab, scannten die Kugel und dann nickte sie. Jola hatte letzte Woche erst vorgeschlagen, für die kleinen Gäste ein paar Gummibärchen auf Vorrat zu haben. Schaden konnte es nicht.
Lilly biss sich mit einem schüchternen Lächeln auf die Unterlippe.
„Alle mutigen Kinder kriegen ein Päckchen Gummibärchen. Und ganz mutige Kinder kriegen sogar zwei!“ Jola erzählte das so, als wäre es die tollste Belohnung auf Erden.
„Ach, das ist doch toll, oder?“, machte die Mutter das Spiel mit und Lilly nickte eifrig mit dem Kopf. Dann kniff sie die Augen fest zu und streckte Jola den Arm hin, die lachen musste.
„Ich muss erst noch meine Ausrüstung holen“, erklärte Jola und tätschelte dem Mädchen den Kopf. Sie hatte mit Absicht nicht das Wort „Nadel“ in den Mund genommen. Es war erstaunlich, wie leicht man Kinder beruhigen konnte, wenn man die Dinge einfach bei einem harmloseren Namen nannte. Die Mutter lächelte Jola an, dann verließ sie in Eile das Zimmer, um schnell im Nebenraum das Desinfektionsmittel, die Nadel und das restliche Zubehör in einer Pappschale herzurichten. Als sie auf dem Rückweg in die Schale starrte, um sicherzugehen, dass sie alles dabei hatte, lief sie versehentlich in jemanden hinein. Sie hob den Kopf und entschuldigte sich tausendmale, während der Mann, den sie schon als Stamm-Patienten erkannte, sie am Arm festhielt, damit sie nicht aus dem Gleichgewicht geriet. Er lächelte sie verständnisvoll an, woraufhin sie mit rasendem Herzen ihre Haarsträhne wieder hinters Ohr strich und zurück zu Lilly ins Zimmer ging.
„So“, setzte Jola wieder ihr Lächeln auf, „Da wäre ich wieder. Jetzt darfst du mir gerne deinen Arm reichen.“ Lilly sah kurz unentschlossen zu ihrer Mama, die ihr zuversichtlich zunickte. Dann streckte Lilly Jola den Arm entgegen. Das Desinfizieren war hervorragend. Sie versuchte Lilly währenddessen eine kleine Geschichte zu erzählen, die eigentlich überhaupt keinen Sinn ergab. Aber die Fünfjährige würde sich schon einen Sinn dazu erfinden. Eine Gabe, die man mit dem Älterwerden verlor. Als die Nadel dann ins Spiel kam, kniff die Kleine die Augen zusammen und verzerrte mit einem kurzen Wimmern das Gesicht. Die Mutter konnte auch nicht hinsehen – wie Jola sich schon gedacht hatte.
Als die Prozedur dann endlich überstanden war, starrte Lilly erst skeptisch auf das Pflaster an ihrer Armbeuge. Dann verzog sie die Lippen zu einem Lächeln und warf einen Blick auf die Glaskugel.
„Ja, die hast du dir verdient“, deutete Jola den auffordernden Blick richtig, stellte sich auf Zehenspitzen und klaubte zwei Gummibärchen-Tüten aus der Glaskugel. Lilly biss sich wieder lächelnd auf die Unterlippe und sah Jola abwartend an.
„Schätzchen“, tadelte die Mutter und strich dem Mädchen die blonden Haare mit einer Hand aus dem Gesicht, „Was sagt man da?“
„Dankeschön“, murmelte das Mädchen leise und klimperte Jola aus großen Augen an.
Damit war Jolas Vormittag geschafft. Sie mochte die jüngeren Patienten viel lieber als die älteren. Es war erstaunlich einfach mit ihnen umzugehen. Viel einfacher, als mit den Erwachsenen. Sie fragte sich häufig, warum sie sich nicht bei einem Kinderarzt beworben hatte.
Gegen 13 Uhr fuhr Jola den Computer am Empfangsbereich herunter. Die Patienten waren Wort wörtlich durchgearbeitet. Heute waren weniger Leute terminlos erschienen, so dass Frau Dr. Du Pont und Frau Dr. Reich pünktlich in die Pause gehen konnten.
„Jola, du kannst abhauen, wenn du möchtest. Ich lege den Schuppen lahm“, sagte Frau Dr. Reich, als sie an ihr vorbei zur Toilette eilte. Frau Dr. Reich war eine junge, dynamische Ärztin, die Jola sehr sympathisch war.
„Wirklich?“, fragte sie.
„Ja. Hau ab“, zwinkerte Frau Dr. Reich, bevor sie die Toilettentür hinter sich schloss.
Jola sah sich noch einmal um, zog sich dann ihre Weste an, nahm den Praxisschlüssel und verließ die Praxis. Da die Kabinen im hinteren Raum neu saniert werden mussten, müssen die Mitarbeiter sich alle zwei Stockwerke tiefer in den Toilettenkabinen umziehen. Dort hatten sie erst einmal notdürftige Spinde errichtet.
Jolas leise Schritte hallten in dem leeren Hausgang wider, während sie die Treppen herunter schritt. In Gedanken versunken nahm sie allerdings noch ein anderes Geräusch wahr. Kurz hielt sie an, runzelte die Stirn und horchte das Treppenhaus hinauf. Nichts. Kopfschüttelnd zog sie ihren Praxisschlüssel aus der Westentasche, an dem auch ihr Spind-Schlüssel hing, und sperrte die Tür zu dem unteren leeren Raum auf, in dem früher einmal eine Psychotherapeutin ihre private Praxis hatte und nun leer stand. Die Tür ließ sie aus Gewohnheit immer einen Spalt offen. So fühlte sie sich etwas sicherer in diesem engen, spärlich beleuchteten Raum, mit dem blauen Teppichboden. Es roch nach einem Citrus-Putzmittel und einem Hauch von dem eigenen Parfüm der Therapeutin, die hier mal gearbeitet hatte. Jola ging den kurzen Gang entlang, bis zur nächsten Tür, während sie den Spind-Schlüssel an dem Schlüsselbund suchte. Die Toilettentür knarzte ein wenig, als sie die Klinke herunterdrückte und den Raum betrat. Aus irgendeinem Grund ließ ihr Instinkt sie wieder aufhorchen. Hatte sie gerade Schritte hinter sich gehört? Vermutlich war das bloß Frau Dr. Reich, zwei Stöcke über ihr. Seufzend schaltete sie das Licht an, das mit anfänglichen Schwierigkeiten die Toilette überflutete. Wegen der perlweisen Fliesen, an Wand und Boden, war Jola kurz geblendet.
„Entschuldigung.“
Jola entfuhr ein Schrecklaut, als in dieser Todesstille die Stimme eines Mannes hinter ihr ertönte und eine Hand auf ihre Schulter legte. Einen ganzen Satz war sie von ihm weggesprungen. Der Mann, in den sie vorhin in der Praxis schon hineingelaufen war. Peinlich.
„Wow, verzeih mir!“, rief er und griff wieder nach Jolas Schulter, der die Berührung äußerst unangenehm war. Mit drei tiefen Seufzern beruhigte sich ihr stolperndes Herz und sie schüttelte den Kopf.
„Nein, nein. Tut mir leid. Ich erschrecke mich vor jeder Kleinigkeit“, winkte sie ab.
Der Mann nahm seine Hand von ihrer Schulter und lächelte sie offenherzig an. Jola hatte ihn die letzten Tage ausgesprochen häufig in der Praxis gesehen, aber nie mitbekommen, weshalb er Dauergast war. Im ersten Moment wunderte es sie nicht einmal, weshalb er ihr gefolgt war. Dann scannte sie seine Hände, ob er vielleicht einen Schlüssel oder weiß Gott was in der Hand hielt, das sie verloren hatte. Nichts. Über seinem schwarzen T-Shirt trug ein eine hellbraune Weste und dunkelblaue Jeans. Er war sicher zwei Köpfe größer als Jola und vergleichsweise zu ihr ein Schrank. Jola hatte in den letzten Wochen tatsächlich abgenommen. 7 Kilos waren gepurzelt und nicht wieder zurückgekehrt. Man konnte sie beinahe schon schlank nennen, aber sie fand, es durften ruhig noch mehr Kilos verschwinden.
„Ähm“, machte Jola hilflos und sah unbegründet an dem Mann vorbei, „Ich wollte mich eigentlich gerade umziehen.“ Sie hob ihren Spind-Schlüssel. Der Blick des Mannes veränderte sich nicht. Er sah aus wie ein Hund, fand Jola. Einer, den man gerade schimpft, aber es einfach nicht kapiert. Was will der Typ von mir?
„Also… ich werde mich dann mal umziehen“, versuchte sie es noch einmal und hoffte, er würde nun den Wink verstehen. Sie fummelte an dem Schlüsselbund herum, da ihr der Spind-Schlüssel aus der Hand gerutscht war. Dann brauchte sie mehrere Anläufe, um den Spind überhaupt zu öffnen und ihre Jeanshose heraus zu holen. Sie versuchte den Mann, der immer noch wortlos in der Toilettentür stand, zu ignorieren. Ein ungewolltes Räuspern entwich ihrer Kehle, als sie eine Kabinentür öffnete und ihre Jeanshose und den Schlüssel auf dem Toilettendeckel ablegte. Spätestens jetzt müsste er doch kapieren, dass er gehen soll!
Oder?
Tagebuch
Liebe Leyla,
Wie es sich anfühlt…
Es ist warm. Sonne. Süßer Duft herrlicher, lieblicher Blumen. Bunt, fröhlich - stummes Lachen.. Die Zehen nackt im saftigen Gras vergraben. Nichts und doch Alles. Blauer Himmel, sanfter Wind, Vogelgesang. Es fühlt sich schön an, die Füße auf dem kühlen, weichen Gras. Augen geschlossen, alles schwarz und doch komplett bunt. Arme ausgestreckt, der Wind um den Körper schmiegend. Die Beine holen aus, laufen geradeaus– ohne Angst, denn dieses Grün ist so unendlich. Es ist hell und bunt und schön und leicht und ich kann atmen und tanzen und lachen und ich bin glücklich. Einfach glücklich. Ich laufe weiter und immer weiter und spüre das Gras immer intensiver unter meinen Füßen, als würde ich auf Wolken laufen, auf Erinnerungen, auf Gefühlen – auf guten Gefühlen fliegen. Ein Höhenflug, komplett bodenständig.
Plötzlich reißt mein Körper in die Tiefe. Ich schlage die Augen auf, schnappe nach Luft. Es ist Angst. Kein Gras unter meinen Füßen – nichts. Ein Abgrund. Die Unendlichkeit war eine Illusion. Die Höhenflüge schnell vorbei. Aus dem Leben gerissen. Ein Fall. Ich falle und falle und falle und falle. Alles schwarz. Alles um mich herum ist schwarz und leer und ich falle immer weiter und kann nach nichts greifen, nichts kann mich retten. Mein Herz rutscht mir in den Kopf, donnert dort weiter, macht mir Angst und schreit und weint und raubt mir den Atem. Angst.Und dann spüre ich einen Knall, der härter nicht sein kann. Finsternis. Wie tot. Ein Knall, der meinen Körper erschüttert, mir alle meine Knochen in die kleinsten Teile zerfetzt. Schmerzen. Leere. Und es klafft und blutet und tut weh und hört nicht auf und ich liege da in dieser Finsternis auf dem Beton. Bin dankbar, dass der Fall ein Ende genommen hat, dankbar für den Schmerz, auch wenn er so wehtut, dass ich nur keuchen kann.
Die Angst bleibt, weil die Angst mir zeigt, dass alles, was kurz so glücklich und schön ist, nur Illusion ist, wenn man von einer Unendlichkeit ausgeht.
Trugbild.
April 2016
Jola riss die Augen auf, keuchte, schmiss die Decke vom schweißnassen Körper. Sie war es so satt. So satt, diese Albträume! Mit Tränen in den Augen stand sie auf. Fast täglich erwachte sie weinend aus dem Schlaf. Sie merkte nicht, wenn sie im Schlaf weinte, aber wenn sie aus dem Traum gerissen wurde, waren ihre Augen immer feucht. Selten hatte sie den Luxus schöner Träume. Selten. Zitternd stand sie auf und schlurfte in das Bad. Sie versuchte leise zu sein, um ihre Mitbewohnerin nicht zu wecken. Es war gut, in einer WG zu leben. Es gab viel Ablenkung – Tessa gab ihr viel Ablenkung. Nur nicht nachts, wenn sie schlief und Jola von ihren Albträumen aus dem Schlaf gerissen wurde. Der Teufel!
Mit pochendem Herzen öffnete sie die Tür zum Bad, machte das Licht an und kniff die Augen zusammen. Das Licht blendete sie kurz, dann stellte sie sich vor den Spiegel und betrachtete ihr blasses Gesicht und die tiefen Augenringe.
Sie hatte wieder von ihm geträumt. Nach drei Jahren ließ er ihr nicht einmal in ihren Träumen ihre Ruhe. Dabei hatte sie schlafen früher so geliebt.
Traurig wusch sie sich das Gesicht. Dann schaute sie auf die Uhr. Zwei Stunden, dann würde Tessa aufwachen. Ihre andere Mitbewohnerin war über Nacht mal wieder weg gewesen. Jola entschied sich dazu, duschen zu gehen. Sie musste den Angstschweiß vom Körper kriegen. Sich frisch fühlen.
Zögerlich richtete sie alles her. Das weiche Handtuch, das Duschgel. Sie zog sich aus und warf die verschwitzten Schlafsachen in den Wäschekorb.
Das warme Wasser tat gut – der Duft vom Duschgel tat gut. Es weckte ihre Lebensgeister. Sie ließ sich Zeit mit dem Duschen. Dann klopfte es an der Tür. Jola musste das Wasser abstellen.
„Jola?“ „Ja“, rief sie zurück und fragte sich, ob sie Tessa geweckt hätte. Das war nicht ihre Absicht gewesen.
„Alles okay?“
Tessas Stimme klang noch müde.
„Ja. Ich musste nur duschen.“
„Darf ich rein?“
„Warte.“
Jola stieg aus der Dusche, wrang das Wasser aus ihren Haaren und wickelte sich in das Handtuch. Gänsehaut. Dann öffnete sie die Bad Tür. Tessas Augen waren noch ganz klein vom Schlafen. Ihre Haut sah weich und blass aus. Aber im Gegensatz zu Jola hatte sie keine Augenringe.
„Sicher alles okay?“, fragte Tessa, als sie die Tür hinter sich schloss und Jola forschend ansah.
„Ja, sicher…“
Tessa setzte sich an den Badewannenrand und klopfte neben sich, damit Jola sich neben sie setzte. Diese zögerte kurz, schaute den beschlagenen Spiegel an und setzte sich dann zu ihr.
„Hast du wieder Albträume?“
Tessa wusste von Jolas schlechtem Schlaf. Nachdem Jola von Zuhause weggezogen war, hatten sich ihre und Sarahs Wege getrennt. Sie sahen sich nur noch alle 3 Monate, wenn es hinkam. Und die Freundschaft war auch nicht mehr wirklich das, was sie mal war. Das hatte Jola aber auch gar nicht anders erwartet. Nachdem sie ihre alte Ausbildung als Medizinische Fachangestellte aufgegeben und eine neue Stelle als Kauffrau für Büromanagement gefunden hatte, hatte sich sowieso vieles verändert.
Dann hatte sie Tessa kennen gelernt.
Jola war in ihrem Stamm-Café gewesen, in dem Tessa arbeitet. Dort hing am schwarzen Brett eine Anzeige, in der ein Mitbewohner für eine 2-er WG gesucht wurde. Jola hatte nie mit dem Gedanken gespielt, in eine WG zu ziehen und die Anzeigen hatte sie nur gelesen, während sie auf ihren Frühstücks-Latte gewartete hatte. Tessa war neben sie an das schwarze Brett getreten, mit dem Latte Macchiato in der Hand.
„Na? Interesse?“
„Nein… ich habe nur…“ „Schade. Ich suche schon seit gefühlten hundert Jahren nach einer Mitbewohnerin, die etwas geselliger ist als Ms. Stranger.“
„Ach, die ist von dir?“, fragte Jola Tessa, die sie ja schon gut kannte. Tessa war jeden Morgen in dem Café und bediente Jola. Manchmal hatte sie den Frühstücks-Latte sogar schon vorbereitet, bevor Jola das Café betrat.
„Ja. Die hängt aber schon lange hier. Sicher, dass du nichts suchst?“
Dann hatte Jola nur zwei Tage darüber nachgedacht und hatte sich kurzerhand doch noch bei Tessa gemeldet. Seitdem waren sie WG-Mitbewohner und ziemlich gute Freundinnen.
Jola seufzte, als sie daran dachte und ließ den Kopf hängen. Tessa hatte wahnsinnig feine Antennen. Man konnte ihr kaum irgendwas vormachen.
„Ich weiß nicht, was wieder los ist. Seit einigen Tagen…“, fing Jola hilflos an und sackte sichtlich in sich zusammen.
Tessa legte einen Arm um Jolas nasse Schulter und zog sie an sich. Jola mochte es, sich an Tessa anzulehnen, obwohl sie kein Mensch war, der gerne Körperkontakt zuließ.
„Wir müssen dich irgendwie ablenken.“
„Oh Gott“, seufzte Jola und verdrehte gedanklich die Augen. Wenn Tessa auf Ideen kam, waren die meistens nicht besonders produktiv.
„Wirklich. Vertrau mir!“ Tessa stand auf und betrachtete Jola kritisch.
„Darf ich dich heute Abend entführen?“
„Wohin?“
„Warst du schon einmal in der Disco?“
Jola riss die Augen auf und schüttelte gehemmt den Kopf.
„Na dann wird’s aber mal Zeit.“
„Oh Gott, nein!“ Jola stand auf und stellte sich vor den Spiegel, in dem sie sich nun langsam erkennen konnte. Sie war wirklich alles andere als Disco-geeignet. Die einzige Party auf der sie gewesen war, war in der 5. Klasse und das war eine alkoholfreie Faschingsparty. Dann musste sie noch an die Schülerdisco in Kroatien und Sarah’s peinlichen Absturz denken.
„Kennst du das B8?“
„Klar. Das ist der Absturz-Schuppen. Nicht?“ Jola drehte sich zu Tessa um, die hinter ihr stand und auch in den Spiegel sah.
„Ich hatte noch nie nen Absturz.“
„Klar!“ Jola musste fast lachen bei dieser Behauptung.
„Nicht um B8. Außerdem gibt es da so hübsche Typen!“
„Die alle nur vögeln wollen“, murmelte Jola und nahm eine Haarbürste, um sich die Haare knotenfrei zu kämmen.
„Sex ist ungefähr das Beste, was diese traurige Welt zu bieten hat.“
Wenn du wüsstest, dachte Jola und verzog das Gesicht, als der Kamm in ihren Haaren hängen blieb.
„Gutaussehende Frauen gibt’s da auch“, bemerkte Tessa, als Jola nichts mehr darauf sagte. Jola hatte grundsätzlich nichts gegen Sex. Aber Sex mit Männern kam ihr eher weniger in den Sinn.
„Ich hab doch dich“, witzelte Jola, band ihre Haare dann zu einem Dutt und drehte sich wieder zum Spiegel.
„Hach. Ich fühle mich geehrt.“ Tessa legte eine Hand auf ihr Herz. Jola äugte im Spiegel nach ihr und musste leise lachen. So erging es ihr immer wieder. Kaum war Tessa in ihrer Nähe, vergaß sie im Bruchteil weniger Sekunden, weshalb sie noch betrübt war.
„Also gut“, seufzte sie schließlich, „Wenn du mich zum Ende kommen lässt, dann kaufe ich Brötchen, du richtest das Frühstück her und ich denke bis heute Abend darüber nach, ob ich mitkomme.“
Auf Tessas Gesicht breitete sich ein zufriedenes Grinsen aus.
„Dann werde ich mich auch mal annehmbar machen.“
Tessa verließ das Bad, woraufhin Jola ihr noch kurz hinterher sah, dann machte sie sich fertig.
16. April 2016
Liebe Leyla,
ich habe leider nicht viel Zeit, um dir zu schreiben. Muss gleich los und Brötchen kaufen.
Tessa ist ein toller Mensch. Habe ich das schon einmal erwähnt? Ich habe heute wieder davon geträumt. Nur dass die Kulisse diesmal nicht die Toilette war, sondern das Therapiezimmer. Ich habe damals keinen einzigen Fuß in das Therapiezimmer gesetzt, aber ich wusste, welche Tür es war. In meinem Traum sah das Zimmer aus wie alle üblichen Therapiezimmer in so Privat-Praxen. Nun ja, helle Dielen, weiße Vorhänge mit Sonnenblumen-Muster, orangener Teppich. An der Wand hingen Bilder von zwei Elefanten und einer Tier-Pyramide. Frag nicht. Ich träume meistens sehr detailliert. Ich saß auf dem Therapiesessel und zupfte an abstehender Haut an meinem Nagel herum. Ich wartete auf jemanden. Vermutlich auf die Therapeutin.
Dann öffnete sich hinter mir die Tür. Ich drehte mich um. Ein Licht blendete mich. Als wäre hinter der Tür, die hinter mir nun offen stand, der Himmel. Dann tauchte eine Gestalt auf. Ich konnte die Konturen eines Mannes erkennen. Und ich bekam Angst. Ich habe die Bilder mit den Elefanten von der Wand genommen und auf die Türschwelle gelegt. Traum-Logik. Ich fühlte mich sicherer. Aber er trat einfach auf die Bilder drauf und das Glas zersprang. Ich schmiss den Sessel um, auf dem ich saß und versteckte mich unter dem runden Tisch – mitten im Raum. Oh man. Was für ein Brain ich doch bin! Er kam auf mich zu. Ich hatte so Angst! Und er kam auf mich zu. Direkt auf mich zu. Dann hielt er mir etwas entgegen.
Meinen Spind-Schlüssel und meine weiße Hose, die ich damals zum Arbeiten immer anhatte. Sie war blutdurchtränkt. Dann sah ich auf mich herab. Ich hatte keine Hose an. An meinen nackten Beinen klebte ebenfalls Blut und ich fing das Zittern an. Ich lag in irgendwas Warmen. Drei mal darfst du raten! Blut! Eine ganze Lache! Scheußlich! Ich bekam richtig Panik, versuchte rückwärts unter dem Tisch hervor zu kriechen, aber ich rutschte aus, klatschte mit dem Oberkörper in diese warme Flüssigkeit und dachte, ich muss kotzen. Plötzlich spürte ich seine Hand an meinem Fußknöchel. Ich versuchte nach ihm zu treten, aber dann hatte ich auf einmal solche Schmerzen… diese von damals. Das Pochen zwischen den Beinen, die Krämpfe im Unterleib. Ganz komisch. Einfach nur höllische Schmerzen und ich konnte meine Beine nicht bewegen. Plötzlich riss ihn dann aber etwas von mir weg. Ich erkannte den Rüssel eines Elefanten um seinen Oberschenkel. Der Elefant zog ihn von mir weg, riss ihn in die Höhe und schleuderte ihn auf den Boden. Mit so einer Wucht, dass ich seine Knochen brechen hören konnte… dann wachte ich auf. Und musste erst einmal duschen gehen, weil ich in Schweiß gebadet war…
Ich muss jetzt erst einmal die Brötchen holen. Wenn ich heute Abend dieser Disco entkommen kann, dann schreibe ich…
Er setzte sich neben Jola. Das Essen auf dem Tisch, die Blumen, die er für Jola und Tessa mitgebracht hatte, standen in der Mitte in einer hübschen Vase.
„Und wer von euch beiden hat nun gekocht?“
Er war sehr höflich, fand Jola. Er hatte seine Schuhe vor der Tür ausziehen wollen, aber Tessa hatte schnell abgewinkt. Ihr war das zu spießig. Also hatte er sie im Flur stehen lassen. Die Jacke hatte er aufgehängt und hatte gewartet, bis einer der beiden Mädchen ihn in die Küche einlud. Das war dann natürlich Jolas Job gewesen, da Tessa nicht besonders… nun ja… gesittet war, was Gastfreundschaft betraf.
„Tessa. Ich kann nicht kochen“, sagte Jola und steckte sich den Suppenlöffel in den Mund. „Das schmeckt sehr gut. Wieso kannst du nicht kochen?“
„Kochen ist kein Frauen-Talent. Echt nicht“, entgegnete Jola, als sie das Vorurteil heraushörte.
„Das meine ich nicht. Aber ich denke sehr wohl, dass du kochen kannst.“ Auch er aß genüsslich Tessas Karotten-Kartoffel-Suppe. Tessa grinste Jola an und zuckte die Schultern.
„Sie kann auch kochen. Aber nicht nach Rezept.“
„Also frei Schnauze“, bemerkte Jake.
„Sie kocht experimentalisch.“
Jake lachte und zeigte seine geraden Zähne. Jola war plötzlich verstört. Warum taten sie das eigentlich? Wollte Tessa wirklich nur darauf aus, mit Jake im Bett zu landen? Und warum störte das Jola? Sie wollte doch sowieso nicht mit Jake schlafen. Könnte sie gar nicht. Nicht einfach so. Aber was tat sie dann eigentlich hier? Sie überkam auf einmal der unwiderstehliche Drang, einfach aufzustehen und abzuhauen. Mit einem beklommenen Gefühl im Bauch tupfte sie sich schnell den Mund an der Serviette ab, stand auf und entschuldigte sich. Ihr Fluchtort war das Bad. Wie immer. Sie hatte sich schon immer in das Bad geflüchtet. Das war vermutlich so eine Angewohnheit von früher. Wenn ihr Vater ausgerastet war, war sie immer ins Bad gelaufen, weil das die einzige Tür war, hinter der sie sich einschließen konnte. Auch wenn sie aus einem Albtraum erwachte, flüchtete sie immer ins Bad. Und jetzt… vor was lief sie eigentlich jetzt weg? Rein theoretisch wusste sie es ganz genau, aber sie wollte es sich nicht eingestehen. Die Tatsache war einfach viel zu seltsam.
Sie konnte ihn nicht „gut“ finden. Das ging einfach nicht. Er war wirklich anständig, zurückhaltend und sprach nicht viel. Er stellte fragen, hörte zu. Und wenn er dann doch etwas sagte, dann war es ziemlich direkt. Das mochte sie, aber… im Prinzip könnte er jeder sein. Sie kannte ihn nicht! Jola konnte sich vorstellen, dass nicht viele Menschen mit seiner Art klarkamen. Aber Jola konnte es nie leiden, wenn Menschen einem etwas durch die Blume (oder gelegentlich sogar durch einen ganzen Baum!) sagten. Das fand sie ätzend. So war Jake eigentlich ziemlich straight, was Jola sehr gefiel. Auch seine klaren Augen, die ziemlich wissend aussahen. Er wirkte manchmal wie ein Computer. Seine Augen erfassten die Umgebung, seine Ohren lauschten ihren Geschichten und all diese Informationen wurden in seinem Gehirn nicht einfach nur abgespeichert, sondern auch gleich analysiert. Jedenfalls vermittelte er mit seinem stechenden Blick manchmal dieses Gefühl. Das fand Jola ein wenig beunruhigend. Sie wusste noch nicht, wie sie das einschätzen soll. Eigentlich war es ja nichts Verwerfliches. Jeder Mensch macht sich einen ersten Eindruck binnen weniger Sekunden, um schnell in Schubladen zu stecken. Das war vermutlich auch gut so, solange man die Schublade nicht komplett verschloss. Aber bei Jake war es etwas anderes. Intensiver.
„Jola?“ Tessa klopfte an der Tür und Jola riss den Kopf hoch.
„Komme gleich“, sagte sie.
„Ist alles okay?!“
Jola zögerte eine Sekunde zu lange.
„Ja.“
Auch Tessa ließ auf ihre Antwort warten. Sie glaubte Jola nicht, hielt es aber nicht für sinnvoll, sie jetzt ausquetschen zu wollen, deshalb sagte sie nur: „Okay. Wir warten auf dich mit der Hauptspeise.“ Dann hörte Jola, wie Tessa wieder ging.
Seufzend stand Jola vom Badewannenrand auf und stellte sich vor den Spiegel. Es hatten sich ein paar Strähnen aus ihrem Dutt gelöst. Sie versuchte sie wieder zurück zu stecken, aber irgendwas störte sie. Nachdem sie lange in den Spiegel starrte, löste sie das Gummi aus ihren Haaren und die braune Mähne fiel locker um ihre Schultern. So fühlte sie sich besser. Viel mehr wie Jola. Das andere war sie einfach nicht. Dann legte sie das Haargummi weg, sperrte die Tür auf und ging wieder zu Tessa und Jake ins Esszimmer. Sie nahm sich vor, sich heute einfach nicht in irgendwas hineinzusteigern. Sie brauchte sich nicht irgendwelche unnötigen Zukunftsprognosen machen. Sie war kein Hellseher. Jetzt war Jake erst einmal nur ein Gast. Sie lernten sich kennen. Was daraus wird, kann keiner wissen. Mit dieser Einstellung setzte sie sich zu den beiden und setzte ein bildschönes und zuversichtliches Lächeln auf. Dann sagte sie, mit dem Sektglas in die Höhe gehoben: „Also dann. Auf einen sättigenden Abend.“
Jake und Tessa lachten leise und stießen an.
Nach dem Dessert und einer kurzen Verschnaufpause schlug Jake vor, spazieren zu gehen. Es war 20 Uhr und es dämmerte langsam. Es war zwar noch hell, aber die Sonne hatte sich in eine goldene Kugel verwandelt, die den ganzen kleinen Ort in ein warmes Licht tauchte. Jake und Tessa hatten lange auf Jola einreden müssen, um sie vom Spaziergang zu überzeugen. Schließlich war sie doch mitgelaufen. Jake hatte ja Recht. Mit einem Spaziergang konnte man schneller das schwere Essen verdauen. Jola war völlig aufgebläht.
„So“, sagte Tessa, als sie in einen kleinen Park einbogen, „Ich muss dich jetzt etwas fragen, was mich schon den ganzen Abend interessiert. Wie alt bist du?“
Jake sah Tessa an und lachte dann in sich hinein.
„Alt.“
„Ich bin 20, fühle mich manchmal wie 15 und andere Male wie 85.“
„Wie 85?“, fragte Jake und sah Tessa mit hochgezogenen Brauen an.
„Ja, wenn sie ihre weisen Phasen hat…“, grinste Jola und sah Tessa herausfordernd an.
„Ich kann durchaus sehr weise sein!“
„Klar.“
Tessa und Jola lachten. Jake grinste über die beiden.
„Und wie alt bist du?“, fragte er an Jola gewandt, die schnell im Lachen verstummte und ihn aus großen Augen ansah.
„Jola ist das Küken in unserer WG.“
„Wohnt noch jemand mit euch?“, fragte er verwundert.
„Ja. Ms. Stranger“, winkte Tessa ab, „Die bekommen aber selbst wir nie zu Gesicht.“
„Ms. … Stranger?!“
„Sam“, erklärte Jola, „Sie ist ein wenig… anders. Nun ja. Schwer zu erklären.“
Kurz meinte Jola etwas in Jakes Augen aufflackern zu sehen. Er hatte seine Gesichtszüge allerdings so schnell wieder unter Kontrolle, dass sie im nächsten Moment schon gar nicht mehr wusste, ob sie sich das nur eingebildet hatte.
„Sam?“, fragte er nur.
„Samantha.“ Jola achtete wieder ganz genau auf seinen Ausdruck, diesmal ließ er aber nichts erkennen. Vermutlich hatte sie sich das wirklich nur eingebildet.
„Die ist nicht nur ein wenig anders“, warf Tessa ein, „Die ist total merkwürdig. Und verdammt prüde.“
„Oh.“ Jake schien desinteressiert, aber irgendwas, das sah Jola ihm an, ließ ihn noch eine Weile darüber nachdenken.
„Und? Wie alt bist du nun?“ Tessa steuerte auf eine Bank zu, wo die Drei sich dann setzten.
Jake grinste kurz verschmitzt.
„Ich bin 34.“
„34“, stöhnten Tessa und Jola synchron und mussten sich daran hindern, sich einen ungläubigen Blick zuzuwerfen, weshalb Jola schnell auf den Boden sah. Tessa wäre das egal gewesen, Jola vor Jake so fassungslos anzusehen, aber Jola empfand das als zutiefst unhöflich.
„Ich sage ja, ich bin alt.“
„Na ja“, Tessa zuckte die Schultern, „Jolas älteste Flamme war 38.“
„Tess!“ Jola sah Tessa entsetzt an. Warum musste sie das jetzt herumposaunen?
„Und sie sah verdammt scharf aus.“
„Sie?“ Jake sah Jola fragend an.
„Jola hier ist eine waschechte Lesbe, wobei ich ziemlich sicher bin, dass sie von gewissen männlichen Genitalien auch nicht ganz abgeneigt wäre.“ Tessa legte einen Arm um Jola und grinste.
„Oh man“, murmelte Jola und sackte in sich zusammen. Sie ließ den Kopf hängen und bezweckte damit, dass ihr die Haare ins Gesicht fielen, damit Jake nicht sah, wie sie rot anlief. Manchmal musste man sich mit Tessa echt fremdschämen.
„Du stehst auf Frauen?“, fragte Jake ungläubig, „Jetzt verzeih‘ mir mal dieses Gerede, aber du passt wirklich absolut nicht in dieses Klischee.“
„Na ja“, Jola zuckte die Schultern mit dem Gedanken, dass die Blamage eh nicht mehr schlimmer werden konnte, „Abgesehen von den Fingernägeln.“ Sie hob ihre Hände mit den sauberen, kurz-gefeilten Fingernägeln.
Jake runzelte die Stirn, während er ihre Hand betrachtete.
„Mensch“, rief Tessa, als sei Jake total bescheuert, „Lesben, die kein Spielzeug benutzen, bringen eben ihre Finger in Einsatz. Das muss ich dir doch als viel jüngere Frau nicht erklären!“
Wieder versteckte Jola ihr Gesicht. So viel zu: Es kann nicht schlimmer werden.
„Leute“, sagte sie und straffte die Schultern, „Vielleicht sollten wir irgendwas Produktiveres tun, als über mein lesbisches Sexleben zu spekulieren.“ Dabei warf sie vor allem Tessa einen warnenden Blick zu.
Auch Jake schien erleichtert, dass ein Themenwechsel bevorstand.
Ziemlich spät am Abend, gegen 22 Uhr, saßen die Drei wieder in der WG und machten es sich auf der Couch bequem. Sie hatten tatsächlich noch die Kurve gekriegt und waren über lange Zeit in ein intensives Gespräch vertieft, in dem jeder frei seine Meinung äußerte. Tessa hatte angefangen, dass sie von Krieg absolut keinen Schimmer hat, worauf Jake meinte, dass sich die Welt in seinen Augen schon längst wieder in einem Krieg befände. Jola hatte darauf gesagt, dass sie sich ziemlich sicher ist, dass wenn die Bürger wirklich wüssten was los wäre, vermutlich eine Massenpanik ausbrechen würde. Und so zog sich das Gespräch seine Runde. Von Krieg zu Geld, von Geld zu Armut von Armut zu Gemeinschaft und so weiter und so fort. Irgendwann lenkte das Gespräch wieder auf Jola. Beziehungsweise auf Jola und ihr lesbisches Sexleben, wobei Jola nicht aufgefallen war, wer von den beiden das Gespräch in diese Richtung gelenkt hatte. Wahrscheinlich waren es beide gewesen.
„Und Jola hat ja schon viel Erfahrung mit Frauen. Das ist bestimmt cool, mit ihr darüber zu diskutieren, welche von den vielen Weibern in der Disco den geileren Arsch hat.“
„Ach, Tess“, seufzte Jola und strich sich eine Strähne hinter das Ohr. Dann sagte sie an Jake gewandt: „Ich diskutiere nicht über Frauenärsche.“
„Sie diskutiert nicht“, gab Tessa ihr Recht, „Sie hat einfach aus Prinzip immer Recht.“
„Nein. Ich interessiere mich einfach nicht für Ärsche“, erklärte Jola mit tadelndem Blick, „Ein deutlicher Unterschied zwischen Männern und lesbischen Frauen.“
„Ich interessiere mich auch nicht für Ärsche“, verteidigte sich Jake ziemlich tonlos, weshalb Jola und Tessa erst nicht wussten, ob es ironisch gemeint war.
„Was will ich mit einem Apfelpo, wenn das Gesamtpaket nicht passt?“ Er sah die beiden mit ernstem Gesicht an und Jola fing an zu hinterfragen, ob er sie nur um den kleinen Finger wickeln wollte. War ja durchaus möglich. Gleichzeitig fiel ihr auch das erste Mal auf, dass er etwas furchtbar Trauriges in seinem Blick hatte.
Aus dem Hausflur hörten die drei, wie die Tür aufging.
„Sam?“, rief Jola nach kurzem Warten.
„Ja“, rief das Mädchen mit ihrer leisen Stimme zurück, als Bestätigung, dass sie da war.
Im selben Moment, und das geschah so schnell, dass weder Jola, noch die sonst so reaktionsschnelle Tessa etwas einwenden konnten, sprang Jake mit einer flüchtigen Entschuldigung von der Couch auf, schnappte sich seine Jacke, schlüpfte in seine Schuhe und stürmte aus der Wohnung.
„Hey! Warte! Hey!“ Jola lief ihm bis über die nächste Straße in Socken hinterher. Ihr war nicht klar gewesen, dass die Luft mit dem Untergehen der Sonne so drastisch abgekühlt war und schling nun die Arme um ihren Körper, als Jake endlich in seinen hastigen Schritten zum Stehen kam. Er drehte sich um und sah sie an.
„Dein Handy! Verdammt. Warum hast du es so eilig?“, keuchte sie außer Atem.
„Oh. Danke“, er nahm ihr das Handy aus der Hand und steckte es stirnrunzelnd weg. Dies geschah ziemlich langsam und Jola hegte den Verdacht, dass er sich eine Lüge überlegte.
„Ich …“, seufzend kratzte er sich am Nacken, „Hör zu. Es tut mir leid, aber… das sollten wir lassen. Danke für das Essen und für den netten Abend.“
Mit hängenden Schultern drehte er sich um und ging langsam auf sein Auto zu. Jola brauchte einige Sekunden, bis sie aus ihrer Fassungslosigkeit erwachte. Sie lief ihm hinterher, bis sie ihn einholte. Sie wusste nicht genau, warum sie das tat, aber sie mochte Jake. Das Gespräch – vor allem die Gespräche zum Ende hin – hatten ihre Vermutung bestätigt. Er war intelligent, ziemlich ehrlich und irgendwie sympathisch. Nichts an ihm hatte sie hinterfragt. Jedenfalls bis jetzt.
„Aber du kannst doch nicht einfach so abhauen“, sagte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen und griff nach seinem Arm, um ihn anzuhalten. Eine Geste, die nicht nur ihn verstörte. Er hielt an, sah auf ihre Hand an seinem Arm und dann in ihr Gesicht. Der leise Ärger in seinem Blick verflog so schnell, dass Jola ihn kaum realisiert hatte. Dann ließ sie seinen Arm los und räusperte sich.
„Ist dir nicht kalt?“, bemerkte er schließlich, seine Stimme etwas ruhiger.
„Doch“, murmelte sie, „Aber… egal. Du… ähm“, stammelte sie unbeholfen, „Na gut. Ich werde dich vom Gehen wohl nicht abhalten können…“ Sie sah fragend in seine Augen. Er erwiderte nichts darauf. Sein Gesicht abwartend, als wüsste er, dass sie noch etwas sagen würde.
„Sehen wir uns trotzdem wieder? Ich meine… das war doch ganz nett.“
„Was willst du eigentlich von mir?“
Diese Frage ließ sie einen Schritt von ihm zurück weichen. Es klang bissig, irgendwie sogar heftig, obwohl sie keinen Vorwurf heraushören konnte. Es war eine einfache Frage. Wie als hätte er gefragt, was sie heute noch macht. Genau das meinte sie damit, das viele mit seiner Art vermutlich nicht klarkommen würden. Diese Direktheit.
„Ich… äh…“, kurz merkte sie einen ungerechtfertigten Ärger aufkeimen, den sie zu schlucken versuchte, was ihr gänzlich missglückte: „Wie bitte?“
„Na, was möchtest du überhaupt von mir? Ich hätte eher mit Tessa gerechnet, dass sie mir hinterher…“
„Ach ja?“, unterbrach sie ihn, „Weil ich lesbisch bin?! Du bist doch so ein arrogantes Arschloch!“ Es hätte nur noch gefehlt, dass sie mit dem Fuß aufstampfte. Das änderte aber nichts daran, dass sie sich in ihrer Würde verletzt fühlte.
Um Jakes Mundwinkel spielte ein Lächeln, als müsste er sich beherrschen, nicht zu lachen. Auch seine Augen wirkten viel freundlicher.
„Darauf wollte ich nicht hinausspielen“, bemerkte er und betrachtete Jolas nackten Arme, die von Gänsehaut übersäht waren. Jolas Gesichtszüge kämpften zwischen Verwirrung, Ärger und Unsicherheit. Er machte sie total nervös mit seiner überlegener wirkenden Art.
„Du hast nur ziemlich viel geschwiegen. Und bist mir oft aus dem Weg gegangen. Ich hatte nicht den Eindruck, als würdest du mich wieder in eurer WG sehen wollen.“
Nun war Jola komplett verwirrt und der Ärger verflog. Sie schämte sich jetzt schon über ihre kleine Beleidigung vorhin und rieb sich die kalten Arme.
„Das … tut mir leid, wenn das so rüberkam“, murmelte sie schließlich nur und drehte sich kurz um, da sie Blicke in ihrem Rücken spürte. Sie hatte Recht gehabt. Tessa stand auf dem Balkon und lehnte sich über das Gerüst, um dem Gespräch zu folgen.
Kopfschüttelnd über sich selbst drehte Jola sich wieder zu Jake, der sie immer noch mit demselben verschmitzten Lächeln ansah.
„Selbst wenn das so wäre. Tessa würde sich sicher auch sehr freuen, dich wieder zu sehen.“
„Tessa kannst du ausrichten, dass ich kein Mann für eine Nacht bin.“
Jola blieben die Worte im Hals stecken und musste fast lachen. Sie hätte sich denken können, dass Jake das Spiel schon längst durchschaut hatte. Aber Tessa war ihre Freundin. Sie musste für sie einstehen.
„Ich glaube allerdings nicht, dass sie nur darauf aus war. Sie scheint dich wirklich zu mögen.“
„Sie oder du?“
„Deine Fragen sind mir zu anstrengend. Also… nimmst du nun eine zweite Einladung an?“
Jake schielte kurz zu Tessa, die immer noch am Balkon stand und sah dann wieder in Jolas Gesicht.
„Ich melde mich, wenn ich mich entschieden habe.“
Jola zögerte, weil sie gerade wirklich nicht wusste, was sie darauf antworten sollte. Eigentlich wollte sie ihn nicht einfach so gehen lassen, aber was blieb ihr anderes übrig? Seufzend sah sie ihm also in die Augen.
„Also gut. Und wehe nicht!“ Sie hob witzelnd ihren Zeigefinger und funkelte ihn gespielt böse an. Daraufhin lachte er leise in sich hinein. Ein unbehaglicher Moment entstand, in denen sie nicht wussten, wie sie sich verabschieden sollten. Jola verspürte den Impuls, ihn kurz zu drücken, aber er wirkte so unnahbar, dass sie diesen Impuls verdrängte und nur peinlich berührt die Hand hob.
„Bis dann“, sagte er und hob ebenfalls die Hand.
Jola saß nun mit Tessa in ihrem Bett. Tessa kämmte Jolas Haar – ein in Stein gemeißeltes Ritual, seit Jola hier wohnte – und ging ziemlich zärtlich dabei um. Das war eher ungewöhnlich, wodurch Jola aber merkte, dass Tessa wirklich in tiefen Gedanken versunken zu sein schien.
„Ist alles okay?“, fragte sie deshalb, nachdem sie ohne wirklich etwas zu lesen seit drei Minuten auf die Zeitschrift vor ihr starrte.
„Hm? Ja, ja“, sagte Tessa abwesend.
„Du kämmst seit ungefähr 20 Minuten durch meine Haare. Schöner können sie nicht werden.“
„Hach ja.“ Tessa legte den Kamm aus der Hand und lehnte sich an die Wand. Jola schlug die Zeitschrift zu und drehte sich zu Tessa um.
„Irgendwas stimmt doch nicht mit dir.“
„Ich weiß nicht“, murmelte Tessa und starrte nachdenklich auf ihre scharlachrot lackierten Nägel, „Irgendwas war doch heute komisch.“
„Irgendwas? Wenn du den plötzlichen Abgang meintest…“
„Nein. Also ja, das auch. Aber… hast du nicht gemerkt, wie er dich angestarrt hat?“
„Mich? Oh“, Jola überlegte und runzelte die Stirn. Tessa hatte Recht. Jake hatte eigentlich den ganzen Abend lang kein großes Interesse an Tessa gezeigt. Dafür umso mehr an Jola. Tessa lächelte ein schiefes, bitteres Lächeln und streichelte Jola kurz durch die Haare.
„Du hast es bemerkt. Vielleicht unterbewusst. Aber dir ist durchaus aufgefallen, dass er Interesse an dir hat.“
„Ja“, murmelte Jola, „Schon möglich.“
„Du, nicht dass ich dir das nicht gönnen würde“, lachte Tessa halbherzig, „Das ist auch nicht das, was mir komisch vorkam.“
„Hä? Was denn dann?“
„Du.“
„Oh. Hä?“ Jola war nun völlig verwirrt und jetzt musste Tessa richtig lachen. Jola wartete, bis Tessa sich ausgelacht hatte und zog sich dann die Decke über die Schultern, weil ihr kalt wurde.
„Wieso ich?“
„Ich weiß nicht“, Tessa zuckte die Schultern, „Du warst heute ganz anders. Irgendwie… verklemmt. Und viel zu ruhig, für deine Verhältnisse. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dir ist nicht ganz wohl bei der Sache.“
Jola nestelte an der Decke herum. Natürlich lag Tessa richtig. Was auch sonst. Tessa merkte meistens, wenn etwas mit Jola nicht stimmte, auch wenn sie sich gerade mal ein Jahr lang kannten. Sie waren halt doch zu guten Freunden geworden. Zu sehr guten.
„Sorry, dass ich das so raushaue“, warnte Tessa nach kurzem Schweigen vor, „Aber das frage ich mich schon länger.“
Jola hob fragend eine Augenbraue.
„Du hast doch so häufig Albträume. Die kommen doch nicht von irgendwoher?“
Oh. Wunder Punkt. Jola spürte, wie sich diese altbekannte Stahlwand vor ihr Seelenleben schob. Eine Wand, die Fakten und Realität seit drei Jahren zu verdrängen versucht. Vergeblich. Nachts holte sie die Wahrheit ja doch immer wieder ein. Eine gute Sache hatte diese Stahlwand allerdings: Sie hatte Kontrolle über ihre Gefühle. Große Kontrolle. Und das Gefühl von Trauer, Selbstmitleid oder Angst war ihr in solchen Momenten völlig fremd. Ein Schutzmechanismus.
„Dacht ich mir doch“, sagte Tessa, als hätte Jola ihr längst eine Antwort gegeben.
„Aber ist ja auch okay. Ich wollte dir jetzt gar nicht auf den Schlips treten oder so!“
„Ach“, Jola senkte den Blick und sie fühlte eine Art Kapitulation in ihrem Inneren. Ein einfaches Aufgeben. Eine weiße Fahne. Ein: Ach, wo soll das ganze Lügen denn hinführen?
„Du hast Recht“, sagte sie schließlich leise und merkte die Last eines schwarzen, bleiernen Umhangs auf ihrem Rücken. Nein, nicht etwa das Federgewicht der Decke.
„Recht womit?“
„Damit, was du denkst. Du denkst es doch eh schon.“ Jola hob den Blick und sah in Tessas grüne Augen, die ihren Verdacht ungewollt bestätigten.
„Ich habe nur eine Vermutung.“
„Deine Vermutungen sind meistens richtig, Milady.“
Tessa erkannte Jolas verzweifelten Versuch, es ins Lächerliche zu ziehen. Und was sie auch erkannte war, dass das Thema Jola viel zu tief ging. Es war nicht gut, so kurz vor der unerbittlichen Nacht so schwere Themen aufzugreifen. Jola hatte sowieso schon einen schlechten Schlaf. Das musste Tessa nicht auch noch herausfordern. Sie versuchte das Thema zu schließen. Jedenfalls für heute. Dafür war ihr Jola natürlich dankbar. Die Stahlwand verschwand auch schnell wieder und Jolas Gesicht erhellte sich, als die bleierne Last von ihrem Rücken schwand. So gut es Tessa auch meinte. Drei Jahre waren einfach zu kurz, um jetzt schon darüber zu reden.
„Weißt du was?“, fragte Tessa nun mit einem komplett anderen Klang in der Stimme, der auf puren Schwachsinn hindeuten ließ und Jola verspürte jetzt schon den Anflug von Skepsis.
„Nein. Aber du wirst es mir sicher gleich sagen.“
„Ja.“ Tessa drehte ihre langen blonden Haare zu einem Dutt und ließ sie wieder fallen. „Ich werde mir die Haare schneiden.“
Liebe Leyla,
ich kann dir heute nicht genug erzählen, weil viel zu viel passiert ist. Verschiedene Gefühle, verschiedene Eindrücke. Verschiedene Ängste, Sorgen und weißderGeierwas.
Jake war heute bei uns und es war… seltsam. Alles in mir sträubte sich gegen die Tatsache, dass ich ihn irgendwie gut finde. Sehr gut. Ach, könnte ich das erklären. Er ist verdammt intelligent und verfügt über einen Intellekt, der nur zu erträumen ist. Ich mag Menschen, die Intellekt besitzen. Gibt es halt leider doch zu selten, heutzutage. Vor allem in den Kreisen Jugendlicher. Und dazu gehöre ich nun einmal. Ob ich will oder nicht. Wobei man 19 nun ja auch schon als „junge Erwachsene“ betrachten kann. Bullshit. Ich finde für 18 – 22 gibt es keine Definition. Das ist irgendwie so ein Zwischending von Teenager und junger Erwachsener. Ich fühle mich auf jeden Fall noch kein bisschen Erwachsen. Man wird viel zu früh alt. Außerdem (wirklich nur rein faktisch gesehen) ist man viel länger alt als jung. Diese Tatsache finde ich verdammt unfair.
Nun… ich will nicht dumm um den heißen Brei herumreden. Ich muss ehrlich zu dir sein. Wenn zu keinem sonst, zu wem dann, außer dir? Du bist jetzt seit 3 Jahren meine Verbündete, kennst meine intimsten Gedanken – die nackte Wahrheit. Kennst mich bis zu meinen Pussyhährchen. Das kann wahrlich nicht jeder behaupten. Und das soll auch so bleiben. Verstehst du? Ich denke, wenn ich dich nicht hätte, dann… würde ich an meinen Gedanken ersticken. Sie würden mich foltern – weit über meine Träume hinaus.
Nun… Ich denke, irgendwas gefällt mir an Jake. Mehr, als nur der Intellekt und die Intelligenz. Ich mag seine Stimme. Und seinen Duft. Er sieht auch ziemlich gut aus. Ein Mann. Leyla! Hör doch: ER sieht ziemlich gut aus. Hast du das jemals in meinem Leben von mir gehört? Wie kann denn bitte ein Mann gut aussehen? Oder viel eher: wie kann ich einen Mann anziehend finden? Völlig suspekt.
Aber irgendwas an ihm ist seltsam. Ich kann nicht genau sagen, was es ist, aber er hat definitiv was zu schlucken. Ein Geheimnis wäre jetzt übertrieben. Trotzdem hat er auf jeden Fall etwas zu verbergen. Und gerade dieses „Komische“ an ihm macht mich irgendwie… naja… neugierig…(?)… und ich mag ihn. Ich kenne ihn nicht. Eigentlich so gut wie gar nicht. Aber ich mag ihn. Seine Art. Wie er ehrlich und unkompliziert ist. Zumindest scheint er unkompliziert. Und heute… ich habe mich dabei ertappt, wie ich seine Hände betrachtet habe. Wie absurd. Aber er hat wirklich schöne Männerhände! Groß, stark, weich! Weich… ja, habe ich gespürt. Sieht nicht nur so aus.
Was Tessa angeht… ich glaube, sie findet ihn ziemlich geil. Aber irgendwas stört sie an ihm. Vermutlich, dass er so… nun, wie nennt man das? Konservativ? Er lässt auf jeden Fall nicht so schnell Leute an sich heran. Das ist natürlich Neuland für Tessa, die bisher spätestens nach zwei Tagen schon mit jedem Typen im Bett war, den sie gut fand. Ich frage mich, ob es sie stören würde, dass er mehr Interesse an mir zeigt als an ihr, wenn sie ihn auch gut fände…
Irgendwie hoffe ich, dass ich ihn wiedersehe. Auch, wenn gleichzeitig ein Funken Angst und Unbehagen in diesem Wunsch mitschwingt… völlig bescheuert.
„Schau dir mal den an“, Tessa drehte Jola ihren Laptop zu. Tessa stöberte nun schon seit Stunden im Internet nach Hundezüchtern. Jola war sehr tierlieb. Ihr zerriss es ja selbst das Herz, wenn sie nur auf eine Schnecke trat. Deswegen war Tessa ziemlich verwundert über ihr Desinteresse, als sie ihr den süßen Mischlings-Welpen zeigte. Jola nickte nur pflichtbewusst und sah dann wieder auf ihr Handy, um nach irgendeiner Ablenkung zu suchen. Hunde gingen nicht. Seit man ihr vor zwei Jahren Richie weggenommen hatte, gingen Hunde nicht. Es hatte allein schon Wochen gebraucht, bis sie einen Hund überhaupt anschauen konnte, ohne in Tränen auszubrechen und sich in Schmerzen zu winden. Richie hatte ihr alles bedeutet. Aber ihr Vater hatte ihn kurzerhand einfach verschenkt – verschenkt! Jola hatte ihn dafür gehasst. Abgrundtief. Bis heute verzieh sie ihm das nicht.
„Hmm…“, machte Tessa und scrollte weiter nach unten, „Der hier ist aber auch süß. Meinst du nicht?“
Jola hob seufzend den Kopf, sah in das Gesicht eines Jack Russel Terriers, der Richie zum Verwechseln ähnlich sah und spannte ihr Unterkiefer an. Verärgert sprang sie von der Couch auf, auf der die beiden gerade gesessen waren.
Tessa runzelte die Stirn, sah Jola kurz hinterher, wie sie in ihrem Zimmer verschwand und klappte dann den Laptop zu, um hinter ihr her zu gehen. Sie klopfte an der Tür.
„Nein“, rief Jola aus ihrem Zimmer. Eine ungewöhnliche Antwort. Sie war immer sehr bedacht mit Ablehnungen. Aber diesmal war es deutlich. Tessa seufzte und trat trotzdem in ihr Zimmer. Sie erkannte in Jolas Augen den Kampf mit den Tränen und setzte sich neben sie auf das Bett.
„Was ist los?“, fragte Tessa verwirrt.
Jola schüttelte abwehrend den Kopf und zog ein dickes Kissen an sich heran, um das sie die Arme schling. Sie wollte nicht weinen und gab sich gerade deshalb Mühe, es auch nicht soweit kommen zu lassen.
„Hast du irgendwas gegen Hunde?“
„Ich mag sie einfach nicht“, presste Jola gelogen hervor und runzelte erbost die Stirn.
„Sorry, aber das kauf ich dir nicht ab. Du hebst ja sogar Regenwürmer von der Straße auf. Was zum Geier sollst du dann gegen Hunde haben?“
Jola warf Tessa einen bösen Blick zu, während ihr eine dicke Träne über die Wange lief und sie sich dafür verfluchte.
„Weißt du, dass du ein verdammter Sturkopf bist?“
„Ich bin kein Sturkopf. Ich bin gerade einfach nur genervt.“
„Oho. Okay!“ Tessa hob entwaffnend die Hände, wobei trotzdem ein Schmunzeln um ihre Lippen spielte.
„Nein, wirklich. Ich bin kein Sturkopf, ich bin genervt!“
„Und wieso bist du genervt?“ Tessa zog die Knie an und stützte ihr Kinn darauf ab.
„Weil… ach, keine Ahnung. Bin ich halt. Muss man für ein Befinden immer einen Grund haben?“
„Na ja…“ Tessa zog eine Braue in die Höhe und dachte kurz nach, „Also wenn ich genervt bin, weiß ich meistens wieso.“
„Schön. Ich nicht.“
„Wow. Ist okay, Prinzessin. Kann man dich trotzdem irgendwie aufmuntern?!“
Jola schüttelte den Kopf, seufzte tief und legte das Kissen weg. Tessa schaute aus dem Fenster. Wenn das Sonnenlicht in ihrer Iris brach, sahen diese grünen Augen aus, als würde flüssiges Gold mitschwimmen. Das fiel Jola heute das erste Mal auf und auch, wie fein Tessas Haut war. Keine einzige Pore war zu sehen, nur der hauchdünne Flaum, den ja jeder Mensch in seinem Gesicht trägt, war durch die Sonne zu erkennen.
„Hm. Der Tag ist jung. Was hältst du von einem Spaziergang in der Schlucht?“
„Echt jetzt?“ Jola hob eine Augenbraue. Also Tessa war wirklich vieles, aber wenn sie eines nicht war, dann naturverbunden! Und seit wann ging sie freiwillig spazieren?
„Ja, echt. Du bist nach deinen Spaziergängen immer so ausgelassen.“
„Du möchtest spazieren gehen, um mich aufzumuntern?“, Jola kräuselte die Lippen, weil sie fast lachen musste.
„Ja. Ist das so abwegig?“, grinste Tessa und zwirbelte sich wieder die ganzen Haare um den Arm. Dann, als wäre ihr gerade ein Licht aufgegangen, strahlte sie vorfreudig über das ganze Gesicht.
„Weißt du, was wir vorher machen?“
„Nein?!“, sagte Jola skeptisch.
Tessa stand vom Bett auf und wühlte in Jolas Schreibtisch Schublade. Dort nahm sie eine lange Schere und ging wieder zur Jola ans Bett, um sie ihr in die Hand zu drücken.
„Hä? Was soll ich denn damit?“, im selben Moment leuchtete es ihr ein, „Oh nein! Auf gar keinen Fall!“ Sie schmiss die Schere aus der Hand, als sei sie ein Feuerball.
„Bitte“, schmollte Tessa, „Beim Friseur kostet das hunderte von Euros und selber kann ich das nicht. Ms. Stranger werde ich sicher nicht fragen. Bitte, bitte, bitte!“ Sie kniete sich vor Jola ans Bett und verschränkte die Finger miteinander, als würde sie beten. Immerhin hatte es funktioniert – Jola war wieder komplett bei anderen Gedanken und stöhnte quengelnd auf.
„Das kannst du nicht mit mir machen.“
„Außer dir habe ich niemanden.“
„Außer mir hast du keinen anderen Trottel, der das machen würde“, korrigierte Jola ihren Satz. Tessa verdrehte amüsiert die Augen und schaute sich in Jolas Zimmer um.
„Komm, ich mach’s dir auch einfach!“ Sie ging zu ihrer Kommode, auf der eine Handskulptur stand, an deren Finger Ketten, Armbänder und Haargummis hingen. Von den Haargummis nahm sie einen ab und band die Haare zusammen.
„So. Und da, wo der Haargummi ist, schneidest du jetzt einfach mit einem ZACK meine Haare ab.“
„SPINNST DU? SO VIEL?!“ Jola hatte die Augen aufgerissen, als hätte man ihr gerade gesagt, dass eine Frau einen Elefanten zur Welt gebracht hatte. Dann schüttelte sie heftig den Kopf und winkte mit beiden Armen.
„Niemals. Das will ich nicht verantworten!“
Seufzend zog Tessa das Haargummi noch einen Stück weiter nach unten.
„Augen zu und durch“, sagte sie ironisch.
„Ich kann das echt nicht!“
„Uff! Dann mach ich’s halt!“ Tessa griff nach der Schere auf dem Bett, doch bevor sie die Klingen ansetzen konnte, schnappte Jola nach Luft und riss sie ihr wieder aus der Hand.
„Nein! Okay, okay! Ich mach’s! Aber wehe, du heulst rum, wenn es scheiße aussieht!“
Nachdem Tessa ihr das Versprechen gab, setzte Jola die Schere an und schnippte mit einem Satz die lange Mähne ab. Seltsam, dass es ihr schwerer fiel als Tessa selbst. Aber als sich Tessa zur ihr umdrehte und den abgeschnittenen Bündel Haare auf dem Boden betrachtete fiel Jola auf, dass Tessa diese kurzen Haare verdammt gut standen. Sie brachten ihren langen Hals und ihre hohen Kiefern besser zur Geltung und so wild, wie sie ihr gerade ins Gesicht flogen, passte es einfach perfekt zu ihrem Charakter. Das war Tessa.
„Falls du dich mal für ‘ne Echthaarperücke entscheiden solltest“, sagte Tessa und wedelte mit dem Haarbündel vor Jolas Nase herum.
„Ich weiß Bescheid.“ Jola drückte mit gerümpfter Nase Tessas Hand weg und legte den Kopf schief, um sie genauer zu betrachten.
„Du siehst echt gut aus.“
„Wow, wow, wow. Ich bin mit dem Schnitt jetzt nicht offiziell unter die Lesben gegangen“, grinste Tessa ironisch und Jola schubste sie lachend von sich weg, so dass Tessa nach hinten kippte und auf ihren Arsch plumpste.
„Du bist nicht mein Typ.“
„Okay. Das nehm‘ ich jetzt aber persönlich“, schmollte Tessa spielerisch.
Am Abend lag Jola noch lange wach. Natürlich waren Tessa und sie nicht mehr zusammen spazieren gegangen. Das wäre auch ein Weltwunder gewesen. Vor allem, wenn das Angebot von Tessa aus kam. So großartig hatte Jola das aber auch nicht bedauert. Die Sonne war gegen den Abend hin schnell verschwunden, dafür hatten sich graue Wolken am Himmel verteilt und sich geschüttelt und geärgert, dass es blitzte und donnerte und Jola von dem krassen Wetterumschwung Kopfschmerzen bekam. Gerade, als sie ihr Tagebuch heute zum zweiten Mal rausholen wollte, klingelte ihr Telefon. Es war ihre Mutter und sie dachte nach, ob sie rangehen sollte. Im Endeffekt hatte sie keine andere Wahl. Würde sie es jetzt durchklingeln lassen, würde sie es spätestens morgen wieder versuchen. Seufzend nahm sie das Telefonat an.
„Hi“, sagte sie.
„Hallo Liebling. Schön, dich endlich mal wieder zu hören.“
„Ja“, murmelte sie.
„Du meldest dich ja gar nicht. Wenn ich nicht anrufen würde...“
„Quatsch. Ich habe einfach viel um die Ohren. Außerdem habe ich letzte Woche erst Oma angerufen und mit ihr gequatscht.“
Ihre Mutter schwieg eine Weile am Telefon und Jola konnte im Hintergrund den Fernseher hören. Sie sah das Bild vor sich. Das eingebrannte Bild einer Familie, die zwar unter einem Dach, aber nur nebeneinander her lebte. Es hatte in ihrer Familie nie ein Miteinander gegeben. Manchmal fiel es nicht einmal auf, wenn einer von ihnen gerade weg war. Mutter beim Einkaufen, Vater plötzlich in der Arbeit oder Jola draußen im Hof. Nicht einmal ein gemeinsames Essen hatte es gegeben. Nie. Jola war ziemlich froh, dort weg zu sein. Seit sie nicht mehr bei ihren Eltern und ihrer Oma wohnte, war die Beziehung zu ihnen auch etwas besser geworden, wobei sie niemals sagen könnte, dass sie ihre Eltern liebt, wie man Eltern lieben sollte. Und ihren Vater schon gleich drei Mal nicht. Ihr Vater hatte jeglichen Dienste als Vater verkackt. Er war nichts weiter als ihr Erzeuger. Und ihre Mutter versuchte jetzt alles wieder gut zu machen, was sie damals falsch gemacht hatte, was allerdings gute zehn Jahre zu spät kam.
„Na ja“, seufzte Jolas Mutter am anderen Ende der Leitung, „Obwohl du immer noch in unserer Stadt wohnst, sehen wird dich kaum noch. Möchtest du uns nicht ab und zu mal besuchen kommen? Nächste Woche zum Essen zum Beispiel.“
„Hm“, machte Jola, ohne wirklich nachzudenken. Eigentlich hätte sie gleich „nein“ gesagt, aber sie musste an ihre Oma denken, die sie nämlich, im Gegensatz zu ihren Eltern, aus tiefstem Herzen liebte. Außerdem wurde ihr Zustand nicht besser. Im Gegenteil. Sie wurde immer schwächer und magerte immer mehr ab. Seltsam, dass die Ärzte das nicht als ungewöhnlich empfanden.
„Ja… ich denke schon, das könnte klappen.“
„Das wäre toll!“ Jola hörte die stumme Erleichterung im Unterton ihrer Mutter. Irgendwie tat es ihr leid, dass sie ihrer Mutter nicht verzeihen konnte. Aber es ging nun einmal nicht. Wenn sie zu Hause zu Besuch war, fühlte sich alles wie ein jämmerliches Schauspiel an. Die Gelassenheit und der möchtegern Humor ihres Vaters, die Fürsorge und Ruhe ihrer Mutter. Das alles war einfach nicht echt und Jola wusste gottverdammt noch mal nicht, was sie ihr beweisen wollten. Sie war keine fünf Jahre alt mehr, als man ihr die heile Welt noch vorspielen konnte.
„Ich bin ziemlich müde Ma“, sagte sie, was nicht einmal gelogen war, aber ein guter Aufwand, um aufzulegen.
„Okay… also, ich würde mich freuen, wenn du kommst.“
„Mhm“, machte Jola.
„Dann schlaf gut, mein Schatz. Ich habe dich lieb.“
Jola zögerte. Sie hasste diese Sätze. Sie konnte es nicht erwidern. Lediglich ein verallgemeinertes: „Ich euch auch“, brachte sie über die Lippen, wobei sie überwiegend an ihre Oma dachte – und an ihren Vater eigentlich überhaupt nicht.
„Mach’s gut“, hörte sie noch ihre Mutter sagen, bevor sie auflegte.
Liebe Leyla,
ich habe ja heute Nacht schon geschrieben. Jetzt habe ich das Bedürfnis, dir wieder zu schreiben. Einfach, weil es mir nicht ganz so wohl geht. Ich denke an Richie. Tessa hat vor, sich einen Hund anzulegen. Jetzt ist sie wirklich voll im Fieber. Und will mich damit anstecken. Geht nicht. Ich weiß nicht, ob ich dazu bereit bin, einen neuen Hund aufzunehmen.
Als mir Richie genommen wurde, bin ich in Stücke zerrissen. Das Loch ist immer noch da und klafft, wenn ich an ihn denke. Es tut furchtbar weh. Wie ich geweint habe, als er weg war! Wie ich… einfach nicht sprechen, nicht essen, nicht hören konnte, weil alles dazu führte, dass ich in eine Tränen-Sintflut ausbreche. Und Hunde! Hunde konnte ich ewig nicht anschauen, ohne vor Kummer kotzen zu müssen.
Und jetzt will Tessa einen! Ich meine, es ist jetzt zwei Jahre her, aber ich habe auch lange nicht mehr an ihn gedacht – ihn verdrängt. Gott sei Dank. Die Schmerzen hätte ich nicht länger ausgehalten… ich weiß nicht, irgendwie war ich wütend auf Tessa. Obwohl sie keine Ahnung hat. Aber ich kann ihr auch nichts davon erzählen. Ich habe Angst, dieses Loch wieder aufzureißen.
Und weißt du, wovor ich noch Angst habe?
Vor meiner Müdigkeit.
Und jetzt schlafen zu gehen.
Aber mir bleibt keine andere Wahl. Ich muss morgen arbeiten. Ich hoffe so inständig, dass mich mein Unterbewusstsein schlafen lässt. Wenigstens ein bisschen. Oh Gott, wenigstens nur fünf Stunden am Stück! Ich könnte schon wieder heulen, wenn ich nur daran denke, was mich im Traum alles erwarten könnte……
Eine Nacht durchgeschlafen. Tatsächlich. Eine ganze Nacht! Das war für Jola mehr als ein Geschenk. Auch an ihre Träume erinnerte sie sich nicht mehr. Sofern sie überhaupt geträumt hatte. Sie wusste nur noch, dass sie mit dem Gedanken an den Besuch ihrer Familie eingeschlafen war. Und der vorwurfsvollen Stimme ihrer Mutter…
Müde rieb sich Jola die Augen, knipste ihr Nachtlicht an und sah auf die Uhr. Es war erst 5 Uhr früh. Theoretisch hatte sie noch eine Stunde zu schlafen, aber sie war gerade ziemlich fit. Deshalb stand sie auf und stapfte ins Bad. Tessa würde vermutlich noch schlafen, immerhin musste sie heute erst abends ins Café. Noch mit Schlaf in den Augen drückte Jola die Türklinke nach unten und betrat das Bad, wobei sie viel zu spät realisierte, dass das Licht schon an war.
Stirnrunzelnd blinzelte sie gegen das Licht an. War Tessa vielleicht doch schon wach? Oder Samantha. Aber die schlief doch so selten hier. Plötzlich hellwach von dieser Verwirrung sah sie, dass der Duschvorhang vor die Badewanne gezogen war und…
Jola entwich ein entsetztes Keuchen, das ihr plötzlich viel zu schnell schlagendes Herz verursachte. Ihr wurde eiskalt und gleichzeitig spürte sie den Schweiß auf ihrer Stirn ausbrechen. Galle, die sie nicht kontrollieren konnte, gurgelte in ihrem Hals.
An den unlackierten Fingernägeln erkannte sie, zu wem die Hand gehörte, die über dem Badewannenrand hing. Eine Erleichterung, dass es nicht Tessas Hand war, überfiel sie für eine kurze Sekunde, gleich darauf war sie aber wieder verschwunden und sie hasste sich dafür. Eine Blutlache, die Jola zuvor nicht aufgefallen war, bildete sich auf den Fließen und hatte sich bis unter den Teppich gezogen, der das Blut aufgesaugt hatte. Jola brauchte einige Sekunden um aus ihrer Schockstarre zu erwachen, die sich allerdings wie Stunden anfühlten. Auf Blut war sie noch nie gut zu sprechen gewesen. Es hatte üblich nur ein Tropfen gereicht und sie war in völliger Hysterie ausgebrochen. Aber diese Menge, die gerade zwei Meter vor ihr lag, ließ ihr glatt den Verstand abschalten. Es war, als versuchte man vergeblich den Motor eines Autos zu starten. Spring an! Spring an! Spring an! Aber sie hörte nur: Blut! Blut! Blut! Und wusste diese Tatsache einfach nicht einzuordnen. Bis endlich der Motor ansprang und in ihrem Kopf schließlich Panik ausbrach. Das Herz schlug ihr unangenehm im Hals, als sie zur Badewanne rannte und den Vorhang zur Seite riss. In dem Moment gaben ihre Beine nach und sie sackte zusammen. Dabei merkte sie kaum, dass sie mitten in der roten, kalten Pfütze kniete, denn sie musste sich auf ihre Atmung konzentrieren, die gerade völlig außer Kontrolle geriet. Blut! Überall! Die andere Hand von Sam war vom inneren Badewannenrand gerutscht und hatte eine blutige Spur hinterlassen. Ihr Schlafanzug hatte das weitere Blut aufgesaugt. Überall war Blut… einfach überall! So viel, dass Jola sogar diesen beißenden Gestank riechen konnte und würgen musste. So blass, wie Sam dort in der Badewanne lag und so weiß, wie ihre Lippen waren, hegte Jola kaum noch Hoffnung, dass sie lebte. Ihre Arme sahen aus wie ein einziges Massaker. Keine akkuraten, sauberen Schnitte. Es sah aus, als hätte ein wildes Tier mit aller Gewalt versucht an ihre Schlagadern zu gelangen. Jola musste etwas tun! Aber was? Was??? So banal es auch war, ihr schalt es nicht, den Notarzt zu rufen.
„Was zur… Oh, fuck! FUCK, FUCK, FUCK!!!“
Jola regte sich keinen Millimeter, als sie Tessas aufgebrachtes Fluchen hörte. Sie fühlte sich wie ein nasser Sack, als sie von ihr stöhnend aus der Blutlache gezogen wurde. Das Bad sah aus wie in einem Horrorszenario.
„Hast du den Notarzt gerufen?“, fragte Tasse, als sie sich über Sam beugte, den Puls am Hals abtastete und ihr dann ein Ohr an die Lippen legte. Jola rührte sich nicht, kniete immer noch auf dem kalten Boden.
„JOLA!“, brüllte Tessa nun verzweifelt, „Hast du einen Arzt gerufen???“
Jola schüttelte wie in Zeitlupe und mit starrem Gesicht den Kopf, worauf Tessa sofort aufsprang, fast in der Pfütze ausrutschte und sich gerade noch mit ihrer blutigen Hand an der Waschmaschine festhalten konnte. Sie rannte unbeirrt weiter in das Wohnzimmer und Jola hörte Tessas blutverschmierten Füße auf dem Parkett schlittern und quietschen. Dann hörte sie, wie Tessa das Telefon von der Ladestation riss und eine Nummer in die Tasten haute. Kurze Zeit später sagte Tessa fast hysterisch: „Bitte! Unsere Mitbewohnerin… Sie… sie hat sich die Arme aufgeschnitten. Sie lebt noch!“
Sie lebt noch, hallte es in Jolas Ohren nach. Dann merkte sie, wie sich ihr schwarze Wolken vor das Sichtfeld schoben und sie plötzlich alles nur noch wie durch Watte hörte. Ihr Herz wurde langsamer, hatte Mühe zu schlagen, wurde schwerer, bis sie alle ihre Kräfte verließen und sie in Ohnmacht fiel.
Licht. Das war das Erste, was sie wahrnahm. Dann öffnete sie die Augen. Das Nachttischlämpchen leuchtete direkt in ihr Gesicht. Sie starrte an die Zimmerdecke. Ziemlich lange und regungslos, bis sie sich hinsetzte. Irgendwas beunruhigte sie. Aber was? Plötzlich, als hätte man einen Schalter umgelegt, wusste sie wieder was passiert war und in Sekundenschnelle war die verebbte Angst wieder da.
„Tessa!“, rief sie und schlug die Decke von ihrem Körper.
„Tessa!“
Mit donnerndem Herzen riss Jola ihre Tür auf und rannte in das Bad. Mit einem Schlag machte sie das Licht an und… sie hielt so abrupt an, dass sie sich am Türrahmen festhalten musste.
„S-Sam?“ Unsicher setzte Jola einen weiteren Schritt in das saubere Bad. Die Badewanne war leer und nirgendwo auch nur ein Tropfen Blut zu sehen.
„Tessa?“, rief sie noch einmal, traute sich aber nicht, sich umzudrehen. Als könnte sich sonst ein Monster aus dem Hinterhalt auf sie stürzen. Warum, gottverdammt, antwortete ihr niemand? Irgendwas stimmte nicht. Das Bad war doch voller Blut gewesen! Und auch diese Totenstille ließ ihr die Nackenhaare zu Berge stehen. Hatte Tessa alles allein wieder sauber gemacht? War sie mit Sam ins Krankenhaus gefahren? Wann ist der Notarzt überhaupt eingetroffen? Hatte Jola das alles nicht mitbekommen? Jola fühlte sich seltsam fremd in dieser Wohnung, sah sich in den dunklen Gängen um, suchte nach blutigen Fußspuren auf dem Parkett. Alles kam ihr so friedlich vor. Hatte sie etwa…? Nein. Sie wollte sich keine Vorfreude gönnen. Die Hoffnung keimte allerdings tief in ihr. Die Hoffnung, dass es nur ein Traum gewesen war. Doch vorher musste sie sich vergewissern. Sie machte im Bad das Licht wieder aus und steuerte auf Tessas Zimmer zu, wo sie leise die Tür öffnete. Es kam ihr vor, wie in einem schlechten Film, als die alten Scharniere ein leises Quietschen von sich gaben, dann fiel ihr aber ein gewaltiger Stein vom Herzen, als sie Tessa friedlich in ihrem Bett schlafen sah. Fast hätte sie vor Erleichterung aufgelacht! Es war wirklich nur ein Traum gewesen! Kurz dachte sie darüber nach, auch noch bei Sam im Zimmer vorbei zu schauen, aber aus irgendeinem Grund wollten sich ihre Beine nicht von Tessas Türschwelle bewegen. Sie stand eine ganze Weile schweigend am Türrahmen gelehnt und beobachtete Tessa beim Schlafen, während sie diese unsagbare Erleichterung genoss. Schließlich seufzte sie einmal leise in sich hinein, zog die Tür wieder hinter sich zu und ging kopfschüttelnd wieder in ihr Zimmer. Völlig verwirrt von diesem realen Traum legte sie sich wieder ins Bett und hoffte, noch einmal einschlafen zu können.
Es war alles gut.
„Jola.“
Es war wie ein aus-dem-Tod-Erwachen, als Jola Tessas Stimme hörte, die immer mehr in ihr Bewusstsein drang. Dann fühlte sie einen warmen, feuchten Lappen auf ihrer Stirn. Ein sanftes Tupfen. Dann öffnete sie die Augen und sah in Tessas besorgtes Gesicht, das direkt über ihrem war. Sie saß neben ihr an der Bettkante. Stirnrunzelnd blinzelte sie Tessa an.
„Was… tust du da?“ Jola stützte sich mit den Ellenbogen auf, doch Tessa drückte sie zurück ins Kissen.
„Bleib liegen. Du bist kreidebleich. Ich habe für dich in der Arbeit angerufen, während du weggetreten warst.“ Tessa tauchte den Lappen in einen Eimer neben Jolas Bett und wrang ihn ordentlich aus, bevor sie ihn Jola wieder an die Stirn und Wange tupfte.
„Weggetreten?“, stammelte Jola benommen und verstand die Welt nicht mehr. Sie musterte kurze Zeit Tessas unergründliches Gesicht in der Hoffnung, etwas daraus lesen zu können. Sie hatte das allerdings nicht so gut drauf wie Tessa. Dann erinnerte sie sich wieder an ihren Traum und sie griff nach Tessas Arm.
„Wenn du wüsstest, was ich geträumt habe!“
„Was denn?“, fragte Tessa ruhig. Irgendwie wurde Jola das Gefühl nicht los, dass mit Tessa etwas nicht stimmte. Oder bildete sie sich das ein? Stimmte vielleicht bei ihr selbst etwas nicht? Ganz so abwegig war der Gedanke ja nicht. Jeder wusste, dass sie einen Knacks in der Birne hatte. Und sie wusste es am besten.
„Ganz komisch. Und unheimlich“, antwortete Jola, „Aber ist nicht wichtig. Ich bin einfach nur froh, dass du da bist.“
Tessa lächelte knapp, aber es erreichte ihre Augen nicht.
„Okay“, Jola drückte Tessas Hand weg, „Irgendwas stimmt doch nicht mit dir!“
„Mit mir?“
Jola setzte sich im Bett aufrecht und erhaschte einen Blick in den Eimer.
„Wieso…?“ Stirnrunzelnd und plötzlich mit verrücktspielendem Puls starrte sie auf den Lappen in Tessas Hand und ihr wurde schlecht. Von der Erkenntnis. Von der Tatsache. Von dem, was sie sah.
„Was ist das für… braunes Zeug?“, fragte sie leise, obwohl sie die Antwort längst wusste. Eine bekannte Taubheit breitete sich in ihrem Brustkorb aus und ihre Zunge blieb am Gaumen kleben, als sie ihr Gesicht abtastete.
Ich werde verrückt, dachte sie verzweifelt. Scheiße! Ich werde… verrückt!
Ihre Haare fühlten sich hart und verklebt an und an ihrem Ohr spürte sie eine Kruste. Getrocknetes Blut.
„Nein“, keuchte sie mit Tränen in den Augen. Sie sah, wie sich Tessas Lippen bewegten, aber sie konnte kein Wort verstehen. Ein Dröhnen breitete sich in ihren Ohren aus und sie merkte schon wieder die anbahnende Ohnmacht.
„Nein…“ Diesmal war das Keuchen lauter und vermischte sich mit einem Anflug von Panik in ihrem Unterton. Das war kein Traum gewesen!
Gerade rechtzeitig schmiss Tessa den Lappen aus der Hand, um Jolas erschlaffenden Körper aufzufangen.
04. April 2016
Liebe Leyla,
es ist Mittag und ich sitze nicht etwa in der Arbeit am Empfang, schreibe Angebote, nehme Bestellungen an und besänftige gestresste Kunden oder leite Anrufe weiter. Es ist etwas viel zu Krasses passiert.
Deshalb sitze ich jetzt in der Küche und trinke einen Kaffee. Tessa ist schnell einkaufen gefahren, für ein verspätetes Frühstück.
Ich bin immer noch ganz platt und zittere von innen heraus.
Unsere Mitbewohnerin, Sam, hat sich versucht umzubringen! Und wer war der Glückspilz, der sie halbtot in der Badewanne finden durfte? RICHTIG! Ich!
Himmel, ausgerechnet ich! Du weißt ja, dass ich Blut nicht sehen kann! Ich hatte ne Panikattacke oder so. Auf jeden Fall… das ist gar nicht das, was mich so beunruhigt. Ich meine, ich habe Angst um Sam, das schon! Komisch. Eigentlich habe ich nichts mit ihr zu tun, trotzdem habe ich Angst um sie.
Sam ist wie ein Phantom, finde ich. Sie taucht auf, verschwindet, taucht wieder auf und redet nie, außer das Nötigste. Na ja, sie winkt ab und zu und lächelt auch alle hundert Jahre einmal, aber eigentlich ist sie so ein richtig typisches Mauerblümchen. Sie schafft es, sich unsichtbar zu machen. Manchmal merken Tessa und ich ja nicht einmal, wenn sie plötzlich neben uns in der Küche steht. Ich meine, Sam ist ein hübsches Mädchen… na ja, hübsch ist übertrieben. Sie ist süß und wäre sehr hübsch, wenn sie was aus sich machen würde. Versteh mich nicht falsch, mich stört das nicht!
Na ja, was aber eher so eigenartig an ihr ist, ist dass sie… so verdammt viel liest! Und so schnell! Ich meine, sie sitzt auf der Couch (aber meistens in ihrem Zimmer), blättert in einem Buch herum und ist spätestens bei 500 Seiten nach zwei Stunden fertig. Keine Ahnung, wie sie das macht. Und dann malt sie immer die Szenen aus einem Buch, die ihr am besten gefallen haben – nehme ich jedenfalls an, immerhin hängen diese abstrakten Zeichnungen, Skizzen und Malereien alle in ihrem Zimmer ziemlich maßgenau nebeneinander in einer Linie an der Wand. Als würden sie eine Geschichte erzählen. Also eine Geschichte aus vielen verschiedenen Geschichten.
Und unter diesen Bildern hängen ihre eigenen Gedichte oder Slams. Ich denke nichts Negatives von ihr. Echt nicht. Eigentlich würde ich sie sogar gerne näher kennenlernen… na ja… wenn… ach, wenn sie das überlebt…
Egal. Ich bin auf Thema Tod oder Nahtod echt nicht gut zu sprechen. Aber ich schreibe dir, wenn ich mehr weiß. Tessa und ich werden sie auf jeden Fall im Krankenhaus besuchen. Also, ich muss mit Tessa noch darüber reden, aber ich denke sie wird keine Einwände haben.
Und jetzt… also, eigentlich geht’s mir darum, dass ich geträumt habe – und irgendwie doch nicht geträumt habe.
Wie soll ich anfangen? Als Sam da im Bad lag und ich in ihrem Blut kniete (ich glaube übrigens, dass ich deshalb in Ohnmacht gefallen bin), war es völlig aus mit mir. Die Synapsen in meinem Hirn haben einfach nicht mehr richtig funktioniert und ich war einfach nicht mehr Herr über meinen Körper. Ich bin in Ohnmacht gefallen.
Dann bin ich aufgewacht. Dachte ich jedenfalls! Aber das war ein Traum! Also: ich bin im Traum wachgeworden, habe mich an Sam erinnert und dachte, dass Sams Selbstmordversuch nur ein Traum gewesen war. Dann bin ich aber wirklich wach geworden und war so beruhigt, weil ich immer noch dachte, dass ich das mit Sam alles nur geträumt habe… bis ich gesehen habe, wie Tessa mir das angetrocknete Blut vom Gesicht gewaschen hat. Ja… ich bin mit dem Gesicht ordentlich in der Blutlache aufgeklatscht, als ich in Ohnmacht gefallen bin und mir auch noch eine atemberaubende Beule zugezogen.
Und das alles macht mir Angst! Ich meine… ist das normal, dass man so realistisch träumt, dass man nicht einmal merkt, dass man träumt?
Ich weiß nicht, mit wem ich darüber reden könnte… und gerade fehlt mir dein Zuspruch so sehr…
„Ich hoffe Brezen und eine Semmel ist in Ordnung?“
Jola hatte nicht gehört, wie Tessa angekommen war und klappte deshalb nur schnell ihr Tagebuch zu, als Tessa die Papiertüte vom Bäcker auf den Tisch stellte.
„Ja“, sagte Jola und schob ihr Tagebuch zur Seite. Nach dem Duschen hatte sie sich nur noch schnell einen Pulli übergeworfen, weshalb ihre Haare immer noch feucht waren und sie ein wenig fror.
„Tessa?“
„Ja?“ Tessa stellte Jola einen Teller hin und holte Butter und Käse aus dem Kühlschrank.
„Wurst auch?“
„Marmelade“, sagte Jola und nahm sich eine Semmel aus der Tüte, „Sag mal… denkst du, wir können Sam heute schon im Krankenhaus besuchen?“
Tessa hielt in ihrer Bewegung inne und sah Jola skeptisch an.
„Bist du dir sicher? Dich hat das ganz schön mitgenommen, ich weiß nicht…“
„Bitte mach dir keine Sorgen um meine Psyche.“
„Mache ich aber“, erwiderte Tessa, legte alles auf den Tisch und setzte sich neben Jola.
Während sich die Mädchen ihre Frühstücksemmeln machten, schwiegen sie und gingen beide ihren eigenen Gedanken nach.
„Tessa?“
„Hm?“
„Was denkst du, warum sie das gemacht hat?“
Tessa biss von ihrer Semmel ab, zuckte mit den Schultern und legte das Essen aus der Hand.
„Weiß ich nicht… Ich wohne seit drei Jahren mit ihr in dieser WG und alles was ich von ihr weiß ist ihr Name. Ich habe noch nie mit ihr gesprochen.“
„Hat dich das nie interessiert?“
Tessa schien kurz nachzudenken und seufzte dann stumm. Jola merkte, dass sie dieser Schreck heute früh nicht kalt ließ, auch wenn sie gerne so täte. Aber sie war viel ruhiger geworden. Und nachdenklicher.
„Ich habe mich anfangs schon bemüht“, sagte Tessa, „Aber irgendwann habe ich es aufgegeben.“
Jola beobachtete Tessa, wie sie von ihrer Semmel abbiss und langsam auf dem Stück herumkaute. Aus irgendeinem Grund wurde sie das Gefühl nicht los, dass Tessa mehr wusste. Oder zumindest eine Ahnung hatte, die von Relevanz war. Und plötzlich kam Jola ein Gedanke.
„Hat sie das schon einmal versucht?“
Stille.
Totenstille. Tessa hatte aufgehört auf ihrem Essen zu kauen und auf ihrer Schläfe tauchte eine kaum wahrnehmbare Ader auf, die heftig pulsierte. Jola war wirklich nicht so gut darin Menschen zu analysieren, wie Tessa. Allerdings war sie sich nun todsicher, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.
„Darf ich dich um etwas bitten?“ In Tessas Augen lag eine Kälte und Distanz, die Jola überhaupt nicht von ihr kannte und komplett verunsicherte. Sie hatte das Gefühl, gerade keine Freundin neben sich sitzen zu haben, sondern jemand völlig Fremden. Sie traute sich nicht einmal zu antworten, sah sie nur aus großen Augen an.
„Lass uns einfach nicht mehr über das Thema reden… bitte.“ Das „Bitte“ hatte sie sehr sanft ausgedrückt und in dem Moment war auch die Wärme in ihren Augen wieder da. Trotzdem hatte sie die Schärfe aus ihrem Unterton erkennen können, die keinen Widerspruch duldete. So großen Hunger, wie Jola auch gerade gehabt hatte, ihr war der Appetit gänzlich vergangen. Sie fühlte sich schlecht. Und das nicht, wegen dem Horror in der Früh oder der seltsamen Tatsache, dass sie Traum und Realität nicht mehr unterscheiden konnte, sondern schlichtweg deshalb, weil ihr Tessa Angst machte. Diese Kälte, diese Schroffheit, mit der sie gerade redete, war alles andere als gewöhnlich. Tessa wirkte auf einmal wie ein total arroganter Chef, ein frauenfeindlicher, der nur darauf wartet einen Fehler bei seinen Angestellten zu finden. Ganz einfach: Jola fühlte sich untergebuttert. Und so sollte man sich in einer Freundschaft doch nicht fühlen? Gerade wünschte sie, sie hätte dieses Thema gar nicht erst angefangen.
„Ich… geh mal spazieren…“, räusperte sich Jola mit leiser Stimme und erhob sich ohne auf eine Antwort zu warten vom Tisch.
Jola hatte sich beeilt und deshalb gar nicht darauf geachtet, wie sie sich anzog. Über ihre feuchten Haare hatte sie noch eine dünne Mütze gestülpt und jetzt spazierte sie durch den Nieselregen. Ihr tat die frische Luft gut und auch wenn sie es nicht sehen konnte wusste sie, dass sie endlich wieder Farbe ins Gesicht bekam. Jola mochte Farbe im Gesicht nicht. Ihr stand diese Bräune nicht, die ihre ehemaligen Klassenkameraden Monika und Bella manchmal sogar im Solarium bezahlten. Sie hatte schon immer eine eher blassere Haut. In der Grundschule hatten häufig Leute zu ihr gesagt, sie sei wie Schneewittchen, was sie aber nicht gerne hörte, da sie weder das Märchen, noch Schneewittchen selbst mochte. Das passte ihr dann natürlich nicht immer, wenn man sie sogar vom Charakter her mit ihr verglich. Dass sie Tiere zum Beispiel magisch anzieht. Was aber so auch nicht stimmt. Jola hatte ein großes Herz für Tiere, das war schon richtig. Sie hatte bisher auch schon viele Vögel aufgepäppelt, sogar einen Frosch, der sich halb vertrocknet nur noch mit den letzten Kräften über die Straße zog. Als sie mit zehn Jahren einen großen Streit mit ihren Eltern hatte, war sie nachts quer durch den stockdunklen Stadtpark gelaufen, hatte bei einer Koppel, auf der viele kleinere und größere Ponys standen, angehalten und war dann unter dem Zaun zu ihnen hindurch geschlüpft und hatte zwischen ihnen geschlafen. Wenn sie es eilig zur Arbeit hatte rannte sie auch gerne wieder zwei Meter zurück, um einen Regenwurm vom Weg aufzuheben und in die Wiese zu legen.
Soweit musste sie mit Schneewittchen wohl Ähnlichkeit haben. Aber der gravierende Unterschied war, dass sie nicht mit allen Tieren auskam. Und sie sang auch nicht irgendwelche dämlichen "a-a-a-a" Lieder, damit Rehe und Füchse und Hasen herangesprungen kamen. Die eine Türkentaube, die sie vor zwei Jahren mal verletzt auf der Straße gefunden hatte, konnte Jola gar nicht leiden. Das gefiederte Knäuel hatte immer wieder nach ihrer Hand gehackt, wenn sie es füttern wollte oder hatte sich aufgeplustert und ganz seltsame und gefährliche Geräusche von sich gegeben. Deshalb hatte sie die Taube auch zu einer Vogel Auffangstation gebracht. Und die kleine Amsel hatte große Angst vor ihr und war vermutlich heilfroh, als sie endlich wieder fliegen konnte und freikam.
Der einzige treue Freund, um den Jola sogar Rotz und Wasser geheult hatte, war der kleine Mauersegler, den sie Kimono genannt hatte, weil der Vogel sie aus irgendeinem Grund an Japan erinnerte. Und Kimono hatte fabelhaft zu dem kleinen, dehydrierten Jungvogel gepasst. Er hatte sie nach wenigen Tagen nicht einmal mehr gehen lassen. Sobald Jola den Vogel in seinen großen Karton gesetzt hatte, weil sie Einkaufen gehen musste, hatte er fürchterlich geschrien, so dass es Jola das Herz zerriss. Kaum hatte sie ihn auf die Hand genommen, kletterte er auf ihre Brust, krallte sich an ihrem Oberteil fest und blieb dort seelenruhig hängen. So war sie dann tagelang mit einem kleinen Vogel an der Brust einkaufen und spazieren gegangen und er hatte nicht eine Sekunde von ihr abgelassen. Die ganze Geschichte hört sich so ja ganz süß an, aber dass die meisten ihrer Oberteile dann drunter leiden mussten, wenn Kimono mal für kleine Vögel musste, daran erinnerte sie sich lieber nicht mehr.
Irgendwann kam der Tag, nach unzähligen Flug-Stunden, an dem Kimono tatsächlich fliegen konnte. Und frei war.
Obgleich er nun endlich sein richtiges Leben leben konnte, weinte Jola noch tagelang um ihn.
„Hoppla!“
Jola stolperte in ihren Gedanken versunken in eine Person hinein, die sie gerade noch festhielt, bevor sie stürzte. Als sie den Blick hob und in das Gesicht der Frau sah, blieb ihr die Sprache weg.
„Oh man“, machte Jola fassungslos, wobei sie sich ein freudiges Lächeln nicht verkneifen konnte.
„Das ist ja eine Überraschung! Ich dachte mir gerade, dass ich das Gesicht doch irgendwoher kenne!“ Auch die blonde Frau lächelte herzlich über das ganze Gesicht und Jola merkte, dass sie keinen Tag gealtert war. Sie stand tatsächlich genau dieser Frau gegenüber, der sie damals vor drei Jahren, nach einem großen Streit mit ihrem Vater, über den Weg gelaufen war. Gleichzeitig spürte sie, wie sich etwas Unergründliches in ihrem Magen zusammenzog, als sie sich erinnerte, dass es außer dem Ort, noch einen Unterschied gab.
Richie war diesmal nicht dabei.
Die Frau hielt Jola ihren roten Regenschirm mit über den Kopf, womit sie automatisch viel näher an ihr stand und Jola den süßlich-fruchtigen Duft von damals wiedererkannte.
„Ach“, winkte Jola ab lächelte zuversichtlich, „Das macht nichts.“
Die Frau sah sich kurz um, dann erhaschte sie einen höflichen Blick auf ihre Armbanduhr und sah Jola an.
„Hättest du heute etwas dagegen, ein wenig den Weg mit mir fortzusetzen oder bist du gerade auf dem Sprung?“
Jola zögerte, erinnerte sich kurz an damals, wie unhöflich sie die Frau abgewimmelt hatte. Sie wusste noch haargenau, wie sehr sie es bereut hatte, einfach abgehauen zu sein und das wollte sie nicht noch einmal riskieren.
„Nein“, sagte Jola mit einem halben Lächeln, „Ich bin nur ziellos herum gelaufen.“
Drei Jahre hatte es gedauert, um über ihren Schatten zu springen. Sowas Dummes! Jola ärgerte sich über sich selbst, als sie die ersten Minuten noch schweigend nebeneinander herliefen und wunderte sich gleichzeitig, warum sich die Gesellschaft dieser fremden Frau so vertraut anfühlte. Es war nicht so, dass Jola nie wieder an sie gedacht hatte. Im Gegenteil. Sie hatte immer wieder an sie gedacht und hatte sich immer wieder neu ausgemalt, wie es weitergegangen wäre, wenn sie sich auf den Spaziergang mit ihr eingelassen hätte.
„Und du wohnst wohl hier in der Nähe?“, ergriff die Frau schließlich das Wort und schielte zu Jola herab.
„Ja. Nun ja. Damals habe ich noch bei meinen Eltern gewohnt. Das ist ungefähr eine halbe Stunde von der Innenstadt entfernt. Seit letztem Jahr wohne ich aber hier in der Nähe mit zwei… Mädchen in einer WG.“ Jola stockte, als sie an Sam dachte und sich fragte, ob sie es überlebt hatte. Der Frau blieb der Aussetzer nicht unbemerkt, aber sie ging nicht weiter darauf ein. Dafür kannte sie Jola zu wenig.
„Wie alt warst du denn damals, als du kurz vor Mitternacht spazieren warst?“ Sie sagte das in so einem Ton, als sei es ein vertrauter Insider, den sie schon lange miteinander teilten. Jola lachte leise darüber.
„Fünfzehn.“
„Gut, dass du keiner Polizei über den Weg gelaufen bist“, lachte die Frau herzlich.
„Nein“, erwiderte Jola lächelnd, „Kein einziges Mal.“
Ach, sie hätte am liebsten die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Wie blöd war sie eigentlich?!
„Kein einziges Mal?“, fragte die Frau wieder mit einem Lachen in der Stimme, „Machst du solche nächtlichen Spaziergänge öfter?“
Jola seufzte über sich selbst und zuckte die Schultern.
„Ja, damals immer wieder mal. Wohnen Sie auch hier?“ Jola hoffte mit der Frage vom Thema ablenken zu können.
„Du kannst ruhig Du zu mir sagen. Ja. Ich wohne in der Nähe vom Gärtnerplatz.“ Die Frau deutete über mehrere Häuserreihen hinweg und Jola nickte. Sie kannte den Gärtnerplatz. Ein großer Kreisverkehr mit einem schönen Brunnen in der Mitte, um den herum viele verschiedene Blumen blühten und saftiges Gras wuchs. Der Gärtnerplatz war ein recht bekannter Kreisverkehr. Sie bogen in eine kleine Straße und befanden sich nun nahe einer Hauptstraße. Hier waren deutlich mehr Leute unterwegs – trotz des schlechten Wetters. Wenigstens hatte es zu regnen aufgehört, weshalb die Frau nun ihren Regenschirm wegsteckte. Es wehte ein leichter, aber kalter Wind und Jola bereute, dass sie über den Pulli keine Jacke gezogen hatte.
„Ich muss jetzt dann gleich zu einem Termin“, sagte die Frau vorsichtig und blieb an einer Ampel stehen.
„Ja… das dachte ich mir“, lächelte Jola und als die Frau sie verwundert ansah, fügte sie hinzu: „Weil Sie… Du vorhin auf Deine Armbanduhr geschaut hast.“
Ein Lächeln spielte um den Lippen der Frau und sie schien kurz zu überlegen. Das war so ein typischer Moment, in dem jeweils der andere wartete, dass sich der Gegenüber als erstes verabschiedete, aber beide waren sich nicht klar darüber, wie sie sich verabschieden sollten und vor allem, wie es weitergehen sollte. Jola war sich ziemlich sicher, dass die Frau auch darüber nachdachte, ob es jetzt bei diesem Zufalls-Treffen bleiben sollte.
„Ähm“, machte Jola geistreich und rieb sich an der Stirn, wobei ihre Mütze ein wenig verrutschte. Sie wollte gerade fragen, ob sie irgendwie in Kontakt bleiben konnten, aber der plötzlich seltsame Ausdruck im Gesicht der Frau ließ Jola stocken.
„Hast du dich verletzt?“ Die Frau starrte auf eine Stelle an Jolas Schläfe.
„Ach so!“ Jola fiel ein Stein vom Herzen. Sie hatte schon befürchtet, etwas Falsches gesagt zu haben.
„Nein“, sagte sie halb lachend vor Erleichterung, „Also… ja. Schon. Aber das ist nur halb so wild!“
„Sicher?“ Die Frau machte einen Schritt auf Jola zu und ihre Hand wanderte an Jolas Gesicht.
„Darf ich?“, fragte sie nach Erlaubnis, das Mädchen zu berühren. Jola zögerte, nickte dann aber. Die Frau zog die Mütze etwas weg und betrachtete den grün-blauen Fleck.
„Das sieht aber böse aus“, murmelte sie und ließ wieder von Jola ab, wobei sie große Acht darauf gab, die Wunde nicht zu reizen.
„Ach. Ich spür’s schon gar nicht mehr“, beschwichtigte Jola wahrheitsgemäß. Sie hatte zwar ein wenig Kopfschmerzen, aber die hatten nichts mit der Beule zu tun. Vermutete sie jedenfalls.
„Hmh“, machte die Frau nachdenklich, dann sah sie wieder in Jolas Augen.
Oh man, dachte Jola, hoffentlich denkt sie nicht, ich wurde geschlagen!
„Ich bin ein wenig empfindlich, was Blut betrifft“, erklärte Jola deshalb nervös, „Wenn ich Blut sehe, falle ich manchmal in Ohnmacht.“
„Oh Gott. Bist du so hart auf dem Boden aufgeschlagen?“
Jola zuckte die Schultern: „Sowas kriege ich schon mal hin. Ich bin nicht gerade die Grazie in Person.“
Obwohl Jola damit nicht gerechnet hatte, musste die Frau doch ein wenig lachen.
Jola konnte beim besten Willen nicht erklären, warum sie ihr so sympathisch war. Ob es an den Augen lag, dem Mund? Vielleicht auch einfach an der fröhlich klingenden Stimme – es war wie eine Melodie, ohne kindlich zu wirken. Vielleicht war es die offene Art, die ja wirklich nicht jeder Mensch hat. Sie wusste es nicht. Aber was sie noch viel mehr zum Nachdenken brachte war das unerklärliche Gefühl der Vertrautheit. War das vielleicht, weil sie sich gedanklich die letzten drei Jahre nie von ihr verabschiedet hatte? Konnte ja gut möglich sein.
„Also“, fing Jola holpernd an, „Ich möchte Sie… ach, Dich! Ich möchte Dich nicht aufhalten.“
Die Frau lächelte sie an, dann sah sie auf die Ampel, die gerade auf Grün schaltete.
„Man sieht sich sicher wieder“, sagte sie deshalb nur noch, drehte sich langsam um und ging über die Straße.
Was, echt jetzt?
Jola zögerte. Aber nein, sie konnte es nicht noch einmal riskieren. Bevor die Ampel auf Rot schaltete, sprintete sie über die Straße.
„Halt. Warten Sie!“ Du – korrigierte sie im Kopf nochmal.
Die Frau drehte kurz vor dem Gebäude um und lächelte Jola fast wissend an. Als hätte sie gewusst, dass sie ihr hinterher läuft.
„Ich… möchte es nicht drauf ankommen lassen“, sagte Jola hektisch, „Haben Sie zufällig etwas zum Schreiben dabei?“ Du! Ach Mann…!
Kurz schien es, als würde die Frau zögern, doch dann zog sie ihre Tasche nach vorne und suchte nach irgendwas zum Schreiben. Sie reichte Jola einen Kugelschreiber und ein Taschentuch, worüber Jola schmunzeln musste. Dann kritzelte sie der Frau ihre Handynummer auf das lasche Tüchlein und gab es ihr.
„Vielleicht… nun ja. Falls…“, Jola wusste nichts Sinnvolles zu sagen.
„Danke“, half ihr die Frau deshalb nur und steckte das Taschentuch und den Kugelschreiber wieder weg, „Ich werde mich auf jeden Fall melden. Mach’s gut!“
Jola winkte ihr noch kurz, dann ging sie wieder ihren eigenen Weg und war froh, dass sie den Schritt gewagt und das Schicksal nicht herausgefordert hatte. Wer weiß, vielleicht wären sie sich erst wieder in drei Jahren über den Weg gelaufen?
„Jola!“
Kaum, dass Jola ihre Schuhe von den Füßen gestreift und die Mütze vom Kopf genommen hatte, kam Tessa um die Ecke gestürzt.
„Hey, tut mir leid, wenn ich vorhin so komisch zu dir war!“ In ihren Augen konnte Jola erkennen, dass es ihr wirklich nah ging.
Jola hatte es selbst aber schon fast wieder vergessen und da sie Tessa wirklich nicht böse war, grinste sie nur über das ganze Gesicht und griff nach ihren Armen.
„Wow, okay. Wie soll ich das jetzt deuten?“
„Ich habe jemanden kennengelernt!“ Strahlte Jola.
Tessa runzelte kurz die Stirn, brachte endlich das altbekannte Lächeln über die Lippen und zog eine Braue in die Höhe.
„Sprichst du von Jake?“
Jola lachte, was aber viel mehr aus der Erleichterung heraus kam, dass Tessa wieder „normal“ war. Dann ging sie mit Tessa in die Küche und lehnte sich an die Theke. Es gab keinen ersichtlichen Grund, warum sie immer in der Küche waren, aber die war irgendwie von Anfang an der „Aufenthaltsraum“ gewesen. Im Wohnzimmer waren sie nur sehr selten. Wenn es mal einen Filmeabend gab oder wenn Besuch da war und es sich gemütlich machen wollten. Aber die langen Gespräche und ungefähr 75 % ihres Alltags verbrachten sie in der Küche.
„Nun, wenn es nicht Jake ist, wer dann?“
Jola beobachtete Tessa, wie sie eine Orange aufschnitt und in eine Schale schmiss.
„Wie kommst du überhaupt auf Jake?“, fragte sie verwirrt, als wäre das gerade erst zu ihr durchgedrungen.
„Ach, Püppchen“, seufzte Tessa und schnitt nun eine Banane auf, „Ich bin nicht blind. Ich sehe, dass du ihn gut findest.“
„Ich bin lesbisch“, verteidigte sich Jola.
Tessa hob einen Finger und sah sie vielsagend an. Jola hob die Brauen in die Höhe.
„Wenn du dir was vormachst, ist das okay. Aber bei mir kommst du damit nicht durch.“
Jola schüttelte den Kopf, schnalzte mit der Zunge und pickte sich ein Stück von der Banane, die sie sich in den Mund warf.
„Wie auch immer. Und? Wer war’s dann?“
Jola wollte gerade ansetzen, dann stockte sie im Luft holen und zog die Nase kraus: „Na ja, ehrlich gesagt… habe ich keine Ahnung.“
Beide Mädchen kicherten leise, aber dieser Klang verebbte schnell. Mit den Hintergedanken an Sam war ausgelassene Fröhlichkeit irgendwie nicht angebracht. Als hätten sie beide gleichzeitig wieder daran gedacht, trat kurzes Schweigen ein.
„Ich habe ihr auf jeden Fall meine Nummer gegeben“, setzte Jola von neuem an und schnappte sich eine Birne, als ihr einleuchtete, dass Tessa Obstsalat machen wollte. Während sie das Obst klein stückelten schielte Tessa zu Jola.
„Okay. Also eine Frau. Kann man dich nicht einmal eine Stunde alleine spazieren gehen lassen, ohne dass du jemanden aufgabelst?!“
„Eine Stunde?“, lachte Jola emotionslos auf, „Das hat drei Jahre gedauert.“
Tessa warf ihr einen fragenden Blick zu, worauf Jola enttäuscht seufzte, als müsste sie eine vergessene Geschichte noch einmal erzählen.
„Ich habe sie vor drei Jahren getroffen, als ich von meinem Dad aus der Wohnung geschmissen wurde. Und heute lief ich ihr wieder über den Weg.“
„Stehst du auf sie?“, fragte Tessa frei heraus.
„Was?! Nein!“
„Ach so“, grinste Tessa, „Deine Nasenspitze wird rot.“
Jola rieb verärgert ihre Nase, die sie immer verriet, wenn sie sich bei irgendwas ertappt fühlte. Aber sie stand wirklich nicht auf die Frau. Sie mochte sie lediglich sehr gerne, ohne begründen zu können, warum. Tessa warf die aufgeschnittenen Apfelstückchen auf Jolas Birne und träufelte Zitronensaft darüber, bevor sie die Schüssel mit Frischhaltefolie abdeckte.
„Also, wie auch immer. Ich bin gespannt, ob deine Ische sich meldet“, mit einem Blick auf die Uhr legte sie die Schneidebretter weg, „Ich würde sagen, wir gehen Sam besuchen.“
Der beißende Geruch im Krankenhaus zog sich in Jolas Nase. Sie fühlte sich nicht wohl in Krankenhäusern. Aber das tat wohl niemand. Krankenhäuser erinnerten sie an Tod und Schmerz und nichts, was man mit freudigen Erinnerungen in Verbindung bringt.
„Dass es immer so ruhig sein muss“, murmelte Jola in ihren Schal hinein und schielte zu Tessa, die bestätigend nickte. Die Mädchen gingen auf die Info zu. Eine ältere Dame blickte über ihre dicken Brillengläser hinweg in das Gesicht der beiden.
„Kann ich Euch weiterhelfen?“, fragte sie mit einem leichten, bayerischen Dialekt.
„Ja“, sagte Tessa, „Wir würden gerne zu Samantha Jonte.“
„Samantha Jonte“, murmelte die alte Frau und suchte in ihrem Computer, „Hmh… die Gute wurde vor zwei Stunden verlegt.“
Jola und Tessa warfen sich erstaunte Blicke zu.
„Verlegt?! Wohin denn?“
„Seid ihr mit der Patientin verwandt?“
„Ähm…“, Jola sah in Tessas Augen, dass sie kurz in Versuchung war zu lügen.
„Nein…“, stutzte Tessa dann, „Aber wir sind ihre Mitbewohnerinnen und…“
„Tut mir leid, dann kann ich euch diesbezüglich keine weiteren Auskünfte geben.“
„Aber…“, auf Tessas Stirn bildete sich eine Zornesfalte, „Ihre Eltern? Wissen die Bescheid?“
„Es tut mir wirklich leid“, blockte die alte Dame ab und Jola griff behutsam nach Tessas Arm.
„Komm… das bringt doch nichts“, flüsterte Jola in der Hoffnung eine kleine Eskalation zu vermeiden. Tessa konnte ganz schön laut werden, wenn es nicht nach ihrer Nase ging. Tessa wollte gerade noch etwas sagen, schluckte aber den nächsten Satz runter, reckte nur das Kinn in die Höhe und warf der alten Dame einen letzten, arroganten Blick zu. Dann drehte sie sich um und ging mit Jola Richtung Ausgang, die sich noch einmal aus Höflichkeit zur Rezeptionistin umdrehte und sich verabschiedete.
„Wo zur Hölle wurde sie hin verlegt?“, polterte Tessa los, kaum dass sie an der frischen Luft waren.
„Keine Ahnung“, zuckte Jola die Schultern, „Vermutlich in ne Psychiatrie?!“
„Ach was!“
„Ja klar“, sagte Jola, „Was denkst denn du? Die hat versucht sich umzubringen!“
„Aber dann müssen die doch ihren Eltern Bescheid geben, wenn sie verlegt wird!“ Tessa drückte so fest auf ihren Autoschlüssel, dass ihr Daumen weiß anlief.
„Sie ist doch nicht mehr minderjährig“, seufzte Jola.
„Das ist doch…“
„Was macht ihr denn hier?“
Tessa fuhr erschrocken herum und Jola muss mindestens genauso entsetzt ausgesehen haben, nachdem Jake mit einem Schmunzeln um die Lippen die Hände hob.
„Tut mir leid. Ich wollte euch nicht erschrecken.“
„Hast du aber.“ Tessa hob eine Braue.
„Im Ernst“, sagte Jake und warf einen Blick auf das Krankenhaus, „Was macht ihr hier?“
„Wir wollten unsere…“
„Eine Freundin besuchen“, unterbrach Jola ihre Freundin und warf ihr einen schnellen Blick zu. Sie hoffte, Jake würde ihn nicht deuten können.
„Oh“, machte er, „Wollten?“
„Ja…“, übernahm Jola das Sprechen und hoffte, Tessa würde einfach mitspielen, „Sie schläft. Deshalb sind wir wieder gegangen. Ist ja sinnlos ihr beim Schnarchen zuzuhören.“ Jola merkte selber, wie falsch ihr halbherziges Lachen klang. Sie wusste gar nicht genau, wieso sie ihn anlog, aber irgendwas sagte ihr, dass es besser war, wenn er nicht alles wusste. Und dann war da noch dieses komische Ziehen in ihrem Bauch. Nicht Schmetterlinge. Schmetterlinge waren Schnulzenkacke. Es war viel mehr ein… sowas wie ein Grummeln, von dem sie nicht wusste, ob es gut oder schlecht war. Es war einfach angenehm. Angenehm, ihn zu sehen, ihn in ihrer Nähe zu haben. Aber trotz allem war da irgendwas, das sie beunruhigte. Vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, sie wusste es nicht, aber sicher war sicher und sie hatte noch nie falsch gelegen, wenn sie auf ihren Instinkt gehört hatte.
„Was machst du eigentlich hier?“, fragte Jola gezielt, um von sich und Tessa abzulenken, die außergewöhnlich still war.
„Ach“, machte Jake und deutete mit dem Daumen über seine Schulter, „Ich war nur in der Gegend. Muss ja heute Abend in die Bar.“
Jola wurde das Gefühl nicht los, dass irgendwas mit Jake nicht stimmte. Es war eine Härte in seinem Blick, die sie vermutlich nicht wahrgenommen hätte, hätte er nicht zu lächeln versucht. Dieses Lächeln erreichte nämlich nicht einmal ansatzweise seine Augen und ließ ihn unheimlich wirken. Jola lächelte nicht zurück, was die Anspannung plötzlich ziemlich spürbar machte, die zwischen ihnen lag.
„Jola“, Tessas Stimme drang zu Jola hindurch, die mit stechendem Blick Jakes Gesicht zu studieren versuchte, „Gehen wir. Jake, sorry, wirklich, aber wir haben es eilig.“
Auch Jake schien es nicht leicht zu haben, seinen Blick von Jolas Gesicht zu reißen, aber er ließ sich kaum etwas anmerken. Als wäre diese seltsame Maske, die Jola durchaus als Maske erkannte, ziemlich fest auf seinem Gesicht angewachsen. Aber das war nicht Jake. Das war er nicht. Dieser Mann, der gerade vor ihr stand, wirkte wie ein komplett anderer als der vom Dreier-Date.
„Okay. Wir sehen uns bestimmt bald wieder“, sagte Jake. Jola sah die Anspannung in seinem Kiefer. Er sprach wie eine Bauchredner-Puppe. Ich glaube nicht, dass wir uns bald wiedersehen, dachte Jola bitter und fragte sich, warum sie ein wenig traurig bei diesem Gedanken war. Sie verstand sich ja zum Teil selber nicht, weshalb sie gerade so eine Abwehr-Haltung Jake gegenüber einnahm, aber irgendwas beunruhigte sie zutiefst. Natürlich konnte es auch sein, dass sie die ganze Situation vom Horror-Morgen und die erschreckende Nachricht, dass Sam verlegt wurde, ein wenig überforderte und sie sich Dinge einbildete, die gar nicht da waren. Seufzend sah sie Tessa an.
„Ja, bestimmt“, sagte Jola schließlich leise und bemühte sich um ihre Gesichtszüge. Wieder schenkte Jake ihr ein kaltes Lächeln, von dem sich Jolas Magen zusammenzog.
Tessa hakte sich bei ihrer Freundin unter, drehte sich um und überquerte die Straße, wobei Jola in sich hinein fluchte. Sie konnte das nicht leiden, einfach über eine Straße zu laufen. Ohne Zebrastreifen oder Ampel.
„Wer war das?“, fragte Tessa, kaum dass sie die Straße überquert und in ihr Auto gestiegen waren.
Jola runzelte die Stirn und schnallte sich an.
„Jake?!“
„Nein“, brummte Tessa und sah Jola an, als sei sie komplett bescheuert, „Der Typ in dem Auto, aus dem Jake gestiegen ist.“
„Habe ich nicht gesehen“, sagte Jola. Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche um zu schauen, ob sie eine Nachricht hatte. Enttäuscht steckte sie dann das Handy wieder weg.
„Jake ist aus diesem Bonzen-Wagen gestiegen. Da saß ein Kerl drinnen, der uns die ganze Zeit total widerlich angeglotzt hat“, plapperte Tessa monoton drauf los, während sie sich umblickte, um auszuparken und loszufahren, „Wäre das Arschloch in meiner Nähe gewesen, hätte ich ihm glatt ins Gesicht gespuckt.“
„Jetzt fahr mal runter.“
„Und Jake ist aus diesem Wagen gestiegen! Hey, wenn der auch so ein verdreckter Sack ist, der seinen Schwanz in jede Vagina stecken will, dann kann er meine Nummer gleich aus seinem Handy löschen.“
„Vagina“, murmelte Jola und musste sich ein Lachen verkneifen, „Seit wann drückst du dich so gewählt aus? Und außerdem: stehst du nicht gerade auf solche Typen? Ich dachte fast, Jake sei dir viel zu weich.“
Tessa hob eine Braue und schielte kurz zu Jola.
„Hey, ich bin keine von diesen Schlampen, die es so dringend nötig haben. Ein Kerl sollte schon ein wenig was an sich haben, das mich reizt. Das hat Jake irgendwie nicht. Er ist einfach so… memmig.“
„Was soll das jetzt wieder bedeuten?“
„Na ja… tuntig, langweilig, romantisch. Irgendwie verhält er sich wie ein Pierre“
„Wie ein Pierre?!“
„Na, wie ein Pierre. So heißen doch die Schwulsten unter den Schwulen.“
Wieder musste Jola lachen und verteufelte sich im selben Augenblick dafür. Es war wirklich nicht der Tag um in schallendes Gelächter auszubrechen!
„Hast du heute früh in Klischees und Vorurteilen gebadet?!“
„Nein. Eher in einer Blutlache“, sagte Tessa sarkastisch und auf einmal trat wieder eine beißende Stille ein. Jola räusperte sich leise und verfolgte eine Zeit lang die Ortschaft, die an ihnen vorbeizog.
„Wie auch immer“, sagte sie dann vorsichtig, „Ich habe eher genau das Gegenteil im Gefühl.“
„Das Gegenteil von was?“
„Jake. Ich finde ihn sehr… undurchsichtig.“
„Ist doch aufregend“, sagte Tessa, wobei sie keinerlei Emotion mit in die Stimme legte und Jola fast schon dachte, sie mache einen Witz.
„Nein?!“
„Doch?!“
„Okay, also ich finde es nicht aufregend. Viel eher verstörend… und verunsichernd.“
Während Tessa einparkte, schwieg sie und schien kurz ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Erst als sie ausstiegen und im Treppenhaus auf den Aufzug warteten, sah Tessa Jola an.
„Ich weiß ja nicht. Ich fand eher die Tatsache beunruhigend, dass er zu diesem schmierigen Typen in dem Bonzen-Wagen gehörte.“
Darauf wusste Jola nichts mehr zu antworten und sie stiegen schweigend in den Aufzug.
Auf der Fahrt hatte Jola immer wieder auf ihr Handy geschaut, in der Hoffnung, die Frau würde ihr schreiben. Natürlich kam keine Nachricht. Nicht einmal um 18 Uhr erschien eine unbekannte Nummer auf ihrem Display. Der Tag war eigentlich sowieso schon ziemlich im Arsch und er zog sich wie Kaugummi. Obwohl es erst eine Stunde her war, dass sie Jake vor dem Krankenhaus getroffen hatten und von der Empfangsdame abgewimmelt wurden, fühlte es sich für Jola an, als sei das schon ganze Jahrhunderte her. Es gingen ihr tausende Gedanken durch den Kopf, während sie Tessa schweigend dabei half, das Abendessen vorzubereiten und ihre Augen von den scharfen Zwiebeln brannten. Es war fast melodramatisch, wie sie so weinend vor dem Fenster an der Küchentheke stand, über ihr trostloses Leben nachdachte und weinte. Die Tränen hätten durchaus auch aus ihrem Inneren herrühren können, aber dafür war sie sich zu stolz. Jola weinte selten. Viel zu selten, wenn sie genauer darüber nachdachte. Selbst nach so einem Tag empfand sie nicht das Bedürfnis sich auf das Bett zu werfen und zu heulen. Ziemlich krass, fand sie, nachdem sie halbwegs im Blut einer Mitbewohnerin gebadet hatte. Dann hatte sie auch noch diesen seltsamen Traum, der doch kein Traum war und als wenn das nicht alles genug wäre, hatte sie heute auch noch zum ersten Mal nach 2 Jahren angefangen an Tessa zu zweifeln. Diese Kälte und Distanz die Tessa in Bezug auf Sams Selbstmordversuch ausgestrahlt hatte war einfach zu heftig gewesen, um sie einfach zu vergessen. Als Kontrastprogramm zu diesem Horror-Tag lief sie dann dieser bildschönen Frau über den Weg. Jake… puh. Jola war so übermannt von ihren Gefühlen und Gedanken, dass sie erschöpft das Messer aus der Hand legte, sich mit den Händen an der Theke abstützte und den Kopf hängen ließ. Ihr Schädel pochte.
„Alles okay?“, fragte Tessa, während sie die kleingehackten Zwiebeln, die Jola geschnitten hatte, in eine beschichtete Pfanne warf und langsam anbriet.
„Ja“, seufzte Jola und schüttelte den Kopf, „Habe nur Schädelbrummen.“
„Kein Wunder“, entgegnete Tessa und hatte nun auch ein wenig Tränen in den Augen. Jolas Heulerei wurde nicht besser. Obwohl ihre Oma schon immer behauptet hatte, dass die Zwiebeln beim Anbraten ihr Gift verlieren, heulte sie erst dann Rotz und Wasser. Genervt drehte sie sich um und tastete blind nach einer Küchenrolle, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen und zu schnäuzen.
„Deine Beule ist übrigens weg“, bemerkte Tessa und drehte die Herdplatte etwas runter.
„Hm“, machte Jola und zuckte die Schultern.
„Und für diesen schönen bunten Fleck gibt es Camouflage.“
Jola wollte gerade etwas Sarkastisches erwidern, da leuchtete das Display ihres Handys auf, das in einer Ecke auf der Küchentheke lag und sie stürzte auf das Licht zu.
0172…
„Unbekannte Nummer!“ Das Quietschen entwich ihr so spontan, dass sie sich über sich selbst erschrak und ihr das Handy aus der Hand fiel.
„Nein“, zischte sie, „Nein, nein, nein! Das darf nicht wahr sein, das kann nicht… FUCK!“
Jola drückte jeden erdenklichen Knopf, klopfte und schüttelte, aber das Display blieb schwarz.
„Du hast echt ein Talent“, seufzte Tessa und nahm Jola das Handy aus der Hand, um es zu inspizieren. Jola stand wie versteinert da und aus irgendeinem lächerlichen Grund hatte sie jetzt das Bedürfnis zu heulen. Nein, nicht, weil Sam im Krankenhaus lag und sich umbringen wollte, nicht, weil Tessa sie verunsicherte und auch nicht wegen diesen komischen Gefühlen, die sie Jake gegenüber hatte und auch nicht wegen diesem kackverdammten Tag. Nein. Sondern weil ihr Handy scheinbar kaputt war. Zum ersten Mal in ihrem ganzen Leben dankte Jola der Natur, dass es Zwiebeln gab und ihr die Augen halb wegätzten. Die Tränen, die jetzt liefen, waren nämlich nicht mehr von den bereits glasigen Zwiebelstücken in der Pfanne.
„Ich glaube, das muss zur Reparatur“, bedauerte Tessa und legte den Akku wieder in das Handy.
„Ich hasse mein Leben“, wimmerte Jola theatralisch und ließ sich auf den Boden sinken. Tessa gab ihr das Handy zurück und zog eine Braue in die Höhe.
„Sei nicht so dramatisch“, sagte Tessa und half Jola wieder vom Boden auf.
„Ich habe das Gefühl, meine Welt geht unter“, seufzte Jola immer noch in demselben Tonfall, aus dem sich schließen ließ, dass sie in ihrer Ironie und Theatralik auch ernsthaft verzweifelt war.
„Okay, pass auf“, Tessa schaute auf die Uhr und schaltete den Herd ab, „Zieh dich an, wir gehen noch schnell in den Handyladen. Die richten das sicher bis nächste Woche.“
Jolas Gesicht erhellte sich – wieder eine ziemliche Übertreibung, aber gerade wusste sie nicht, wie sie anders aus ihrem Jammertal herausfinden konnte.
Als sie den Laden wieder verließen, legte Tessa einen Arm um Jolas Schulter.
„Und? Bist du jetzt glücklich?“
„Na ja. 176 € ärmer.“
„Du tust ja fast so, als hätte dich wer beleidigt, Herzchen.“
Ja und der Letzte in der Reihe war der Fachmann in dem Handyladen gewesen, als er ihr den Betrag für die Reparatur genannt hatte. Hundertsechsundsiebzig! Aber den Gedanken behielt sie besser für sich. Der ganze Tag war eine einzige Beleidigung gewesen. Noch nie hatte sich Jola so sehr auf die Arbeit gefreut, wie an diesem Abend.
Jola hatte große Schwierigkeiten beim Einschlafen. Sie wunderte sich nicht, warum. Ihr Magen war ziemlich leer und brummte in dem stillen Zimmer. Tessa und Jola hatten nur wenig gegessen und sie hatten mindestens für die nächsten zwei Tage noch etwas vom Abendessen übrig. Keiner konnte ihnen verübeln, nach so einem Tag appetitlos im Essen herumzustochern. Sie hatten auch nicht mehr viel gemacht. Tessa war nach dem Abendessen ins Café gegangen. Jola konnte meistens schwerer einschlafen, wenn sie alleine in der WG war. Es war beunruhigend, so verlassen in einer Vierzimmerwohnung. Seufzend drehte sie sich zum 10. Mal in ihrem Bett auf die andere Seite und starrte an die weiße Wand, die der Vollmond gerade in ein silber-bläuliches Licht hüllte. Ihr Zimmer warf die verschiedensten Schatten und kurz war Jola in der Versuchung mit Nachtlicht zu schlafen. Aber die Tatsache, dass sie 19 und nicht 5 war, ließ sie davon abhalten. Sie ärgerte sich schrecklich über ihr kaputtes Handy. Die Neugier, was in der Nachricht hätte stehen können, zerfraß sie innerlich. Sie hoffte inständig, dass am System nichts kaputt war und es wirklich nur das Display war, das verrücktspielte.
Ein lautes Poltern an ihrer Haustür ließ sie aufschrecken. Ihr Blick flog automatisch auf die Uhr, während ihr das Blut in den Adern gefror. Wer wollte um 23 Uhr nachts noch etwas von ihr? War das vielleicht ihre Nachbarin? Die alte Dame, die sie fast nie zu Gesicht bekamen? Unsicher stieg sie aus dem Bett, schlüpfte in ihre Hausschuhe und zog sich schnell ein Jäckchen über das Top. Dann ging sie langsam zur Tür und spähte aus dem Türspion.
„Das gibt’s nicht“, flüsterte sie zu sich selbst und wusste nicht, ob sie erleichtert sein oder ihr schlecht werden sollte.
Jola öffnete die Tür, stellte sich aber in den Türrahmen, damit Jake nicht einfach in die Wohnung treten konnte. Sie glaubte zwar nicht, dass er das tun würde, dafür war er viel zu gesittet, aber auf Nummer sicher zu gehen war nie falsch.
„Was machst du hier?“, zischte sie in den Hausflur, in dem ihre Stimme unheimlich widerhallte.
„Tut mir leid“, sagte er leise und sah sich um, als könnte jemand hinter ihm auftauchen, „Darf ich rein?“
„Es ist fast Mitternacht! Solltest du heute nicht in der Bar arbeiten?“ Jola machte keine Anstalten, aus dem Türrahmen zu treten.
„Doch. In zwei Stunden. Bitte.“
Jola forschte in seinen blauen Augen nach irgendeinem Hinterhalt, aber sie fand nichts. Er war wieder der Jake, den sie kennengelernt hatte. Nach längerem Zögern seufzte sie schließlich und trat zur Seite.
„Na gut. Aber beeil dich. Ich muss morgen früh raus.“
„Danke“, sagte er und trat an Jola vorbei in die WG, wobei er ihre Schulter streifte und sie von dem kalten Stoff seiner Lederjacke eine Gänsehaut bekam, obwohl sie ein Jäckchen trug. Schnell schloss sie die Tür hinter sich und sperrte ab.
„Das ist aber mutig von dir. Was ist, wenn ich ein Serienmörder bin?“ Jake zog ironisch eine Braue in die Höhe, während Jola den Schlüssel in der Tür stecken ließ. Dann drehte sie sich um und verschränkte die Arme.
„Ich vertraue dir noch nicht genug, als dass du dir solche Späße erlauben könntest“, bemerkte sie trocken.
„Okay“, er ließ die Schultern hängen und aus seinem Gesicht war jeglicher Humor verschwunden. Er sah jetzt ernst aus.
„Ich bin ja auch nicht zum Spaßen hergekommen“, murmelte er und wich ihrem Blick aus, was Jola verstörte. Er war eigentlich eher der Typ, der Blickkontakt suchte.
„Weshalb dann?“, fragte sie, immer noch mit verschränkten Armen vor ihrer Brust. Wieder sah Jake hinter sich Richtung Wohnzimmer.
„Können wir uns nicht erst einmal setzen?“
„Äh. Wow, nein?!“ Jola hob entsetzt die Brauen in die Höhe und sah ihn aus großen, skeptischen Augen an. Er musste sich ein keusches Lachen verkneifen.
„Keine Angst. Ich habe nicht vor, dich ins Bett zu kriegen oder Annäherungsversuche zu starten. Bist du alleine?“
„Ja“, antwortete sie peinlich berührt und runzelte die Stirn. Sie hoffte, er würde nicht merken, dass ihre Wangen heiß wurden.
„Okay, dann tu mir nur einen Gefallen.“ Er suchte in seiner Jackentasche herum, zog etwas heraus und drückte es Jola in die Hand, wobei er einen Schritt auf sie zu machte und nun in ihrer unmittelbaren Nähe stand. Sie spürte die Hitze seines Körpers und eine Gänsehaut übersäte ihre Arme und Beine. Es war ein seltsames Gefühl, dass ihr Herz so schrecklich donnerte, obwohl ein Mann in ihrer Nähe war. Er war ein Mann! Und gleichzeitig hoffte sie, er würde dieses laute Klopfen ihres Herzens nicht hören. Sie hielt die Luft an. Er duftete unglaublich.
„Trage das immer bei dir. Ausnahmslos. Versprich mir das!“ Er redete so leise, als könnte man sie belauschen.
„Okay“, flüsterte Jola zurück und kam sich im selben Moment total dumm vor, räusperte sich und trat einen Schritt von ihm weg. Dabei strich sie sich nervös eine Strähne ihrer glatten Haare hinter das Ohr und betrachtete den Gegenstand in ihrer Hand.
„Pfefferspray?!“ Ihr entwichen alle Gesichtszüge, so überrascht war sie. Er antwortete nicht, sah sie nur steinhart an. Ein Blick, der keinen Widerspruch duldete. Er sah sie so lange streng an, bis ihr klar wurde, dass das sein Ernst war und nicht eines seiner tonlosen Witze, von denen man manchmal nicht wusste, ob sie ernst gemeint waren. Jetzt wurde ihr wirklich unwohl.
„Du machst mir Angst“, sagte sie leise und klammerte sich so an das Pfefferspray, als sei es das letzte Stück Leben, an dem sie hing. Sie beobachtete das Pochen an Jakes Kiefer.
„Manchmal ist es besser falsche Angst zu haben, als keine.“ Mit den Worten drängte er sich an ihr vorbei, schloss die Tür auf, sah noch einmal zu ihr zurück und ging. Jola hörte noch eine ganze Weile seine Schritte im Treppenhaus, während sie das Spray in ihrer Hand betrachtete, ohne es wirklich anzusehen. Bis ihr einfiel, dass die Tür hinter ihr offenstand, sie sich mit rasendem Herzen umdrehte, sie zuknallte und drei Mal den Schlüssel im Schloss umdrehte.
Am nächsten Tag hatte Jola Kopfschmerzen, als sie wach wurde. Sie hatte noch schnell in Tessas Zimmer vorbeigeschaut. Sie schlief seelenruhig in ihrem Bett und Jola beruhigte es zutiefst, ihre Mitbewohnerin so friedlich schlafen zu sehen. Der Arbeitsweg hatte ihr ziemlich viele Nerven gekostet. Erst war der Bus zu spät gekommen, dann stritten sich zwei ältere Damen um einen Platz und zu allem Übel hatte sie auch noch genug Zeit um nachzudenken. Während sie sich an Jakes Besuch erinnerte, zog sie das Pfefferspray aus ihrer Jackentasche und drehte es in alle Richtungen, als würde es dann eine andere Form annehmen.
„Heutzutage kann man nicht vorsichtig genug sein“, murmelte eine Dame, als sie sich an ihr vorbeidrängelte, um an einen hinteren Sitzplatz zu gelangen. Jola riss den Blick hoch, lächelte die Frau kurz verzwickt an und steckte das Spray wieder weg. Sie durfte sich nicht verrückt machen. Vermutlich war es wirklich nur ein total geschmackloser Scherz gewesen und Jake würde heute Nachmittag wieder bei ihr auftauchen und loslachen, wenn er ihre besorgte Mine sah. Schön wär’s.
Immer noch in Gedanken versunken stieg Jola aus dem Bus und lief, mit dem Blick auf den Boden gerichtet, ihren gewohnten Weg zur Arbeit. Sie war nur zwei Minuten von der Bushaltestelle entfernt, trotzdem liefen ihr schon in diesen zwei Minuten fünf Menschen über den Weg, die sie kannten und ihr höflich grüßten. Jola arbeitete in einem kleinen Ortsteil, der wie ein eigenes Dorf wirkte. Es war eine soziale Einrichtung einer Diakonie für Menschen mit seelischer Erkrankung, körperlicher und geistiger Behinderung, Obdachlosen und für Suchterkrankungen und Altenpflege. Nach zwei Jahren kannte man in diesem 800-köpfigen „Dorf“ so gut wie jeden. Und jeder kannte Jola. Sie grüßte höflich zurück, lief über die Straße und wollte gerade die Tür zum Verwaltungsgebäude öffnen, als jemand ihren Namen rief.
„Maia?“
„Wo warst du gestern?“ Maia eilte mit ihren kurzen Beinen auf Jola zu und breitete die Arme aus, damit Jola sie umarmte. Maia war eine sehr gute Freundin von Jola, die sie vor einem Jahr in ihrer Ausbildung kennen gelernt hatte. Sie war in ihrem ersten Ausbildungsjahr und Jola hatte sie damals am Empfang eingewiesen. In der kurzen Zeit haben sie sehr viele gemeinsame Leidenschaften und Hobbys entdeckt. Außerdem hatten sie so ziemlich denselben Humor und dachten immer dasselbe. Sie verstanden sich ohne Worte.
„Mir ging’s nicht gut“, sagte Jola und trat mit Maia ins Gebäude. Wie jeden Morgen nahm sie den Geruch von den alten Backsteinwänden und Kaffee in den Gängen wahr.
„Okay“, sagte Maia, Jola hörte aber die Skepsis aus ihrer Stimme. Dann seufzte sie, zuckte die Schultern und meinte wie nebenbei: „Meine Mitbewohnerin hat versucht sich umzubringen.“
„Was?! Tessa???“ Maia war so erschrocken über diese kühle Neuigkeit, dass sie abrupt stehen blieb und Jola noch ein paar Schritte weiterlief, bis sie es merkte und sich zu ihr umdrehte.
„Nein. Sam… Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Und du weißt ja, wie ich auf Blut reagiere.“
Maia presste die Lippen aufeinander, wobei ein ihr ein „pffft“ entfuhr und sie in sich hineinlachte.
„Sag bloß, dich hat’s umgehauen.“
Das war eine von wenigen Dingen, die sie an Maia mochte. Sie zeigte ihr kein Mitleid oder Beileid, wie man womöglich vermutet hätte. Sie war einfach… so einfach. Umgänglich. Sie wusste immer, wie man Jola aufmunterte.
„Ja“, Jola winkte ab, „Ich finde so Halb-Leichen ziemlich umwerfend, weißt du.“
Maia kicherte und auch Jola verzwickte sich ein Kichern über diesen morbiden Witz, wusste aber nicht genau, wie sie sich dabei fühlen sollte. War das nicht eigentlich total widerlich so über jemanden zu reden, der versucht hatte sich das Leben zu nehmen?
„Ich hab‘ einen blauen Fleck.“ Jola deutete auf die Stelle an ihrer Stirn, die sie mit viel Make-up zugekleistert hatte. Wieder lachte Maia sie aus.
„Du bist ein fieser, kleiner Zwerg“, sagte Jola und boxte ihr in die Schulter.
„Lass mich, ich bin süß“, schmollte Maia theatralisch und sah sie aus Hundeaugen an. Daraufhin musste Jola lachen. Sie war wirklich süß, und das nicht nur wegen ihrer 1,58 m Körpergröße.
„Okay. Wir sehen uns in der Mittagspause?“
„Jep. Ich hol dich ab“, sagte Maia und lächelte Jola an.
„Alles klar. Ich warte auf dich.“
„Will ich doch hoffen“, grinste Maia anzüglich und wackelte mit den Augenbrauen, bevor sie die Tür öffnete und in ihrem Büro verschwand. Während Jola noch lächelnd über Maia den Kopf schüttelte und die Treppen nach oben lief merkte sie nicht, dass bereits jemand oben an der letzten Stufe stand und auf sie wartete.
„Wow!“ Jola erschrak so sehr, dass sie sich am Treppengeländer festhalten musste, um nicht rückwärts wieder herunter zu fallen. Der Junge, der vor ihr stand, kam ihr ziemlich bekannt vor. Sie konnte allerdings nicht sagen, wo sie dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte.
„Tut mir leid“, sagte er mit einer warmen, angenehmen Stimme und trat zur Seite. Seine braunen Haare waren die Art, durch die man nur einmal mit der Hand durchfahren musste und sie saßen. Sie konnte aus seinem Blick lesen, dass er auf sie gewartet hatte. Seine Hände hatte er unsicher in den Taschen seines blauen Pullis vergraben. Er sah sehr hübsch aus, für einen Jungen. Er durfte nicht älter sein als sie selbst.
„Schon okay“, sagte Jola und stieg die letzte Stufe nach oben, wo sie vor ihm stehen blieb, „Kann ich dir weiterhelfen?“
„Ähm“, stutzte er unsicher und zog eine Hand hervor, um sich am Nacken zu kratzen, „Ja. Vielleicht. Ich bin Joel.“
Jola runzelte die Stirn und dachte nach. Irgendwoher kannte sie den Namen.
„Sams Bruder…“
„Oh!“ Jola versuchte die Fassung zu bewahren. Jetzt wurde ihr klar, warum er ihr so bekannt vorkam, ihn aber nicht einordnen konnte. Er war Sam beinahe wie aus dem Gesicht geschnitten. Nur eben in männlich. Er hatte große, braune Augen und Wimpern, für die Jola ihn beneidete.
Fuck, ich werde noch zur Hete.
„Ich soll dir das von Sam geben“, er reichte ihr einen Zettel, den er aus seinem Pulli zog. Der Zettel war komplett zerknittert und warm von seiner Hand. Vermutlich hatte er ihn die ganze Zeit mit der Hand in der Tasche in der Faust gehabt.
„Danke“, sagte sie und sah ihm in die Augen.
„Ihr geht es gut“, sagte er nach einem kurzen Schweigen, „Sie… na ja, muss jetzt noch einige Zeit dortbleiben. Aber sie würde sich freuen, wenn du sie mal besuchen kommst.“
Jola betrachtete kurz den Zettel in der Hand, dann sah sie Joel wieder an und steckte den Zettel weg.
„Okay. Ich werde den Zettel dann in meiner Pause lesen… danke, dass du da warst…“
Wieder lächelte er sie unsicher an und hob eine Hand.
„Also… vielleicht sieht man sich ja mal wieder.“
„Ja“, sagte Jola nur. Er sah sie noch kurz an, bevor er an ihr vorbei die Treppen wieder runterging. Jola sah ihm hinterher, zog den Zettel noch einmal aus ihrer Jackentasche und überlegte, ob sie ihn nicht jetzt schon lesen sollte. Die Neugier war eigentlich fast zu groß. Es verwunderte sie zutiefst, dass Sam ihr einen Brief geschrieben hatte. Sie hatten kaum ein Wort miteinander gewechselt, kannten sich eigentlich so gut wie gar nicht. Und dann schickte sie ihren Bruder zu Jola, um ihr einen Zettel zu überreichen? Das war sehr merkwürdig. Und was meinte Joel mit dort? Kopfschüttelnd faltete sie den Zettel auf. Die zwei Minuten hatte sie jetzt auch noch Zeit.
Hey.
Du wirst dich über den Brief hier vermutlich wundern. Ich weiß. Ich wundere mich auch. Bitte verlange keine Erklärungen. Ich habe keine. Ich habe nur eine Bitte. Ich weiß nicht, ob sie zu viel verlangt ist, wo wir uns ja nicht kennen. Aber ich wünsche mir, du könntest mich besuchen. Ich brauche ein Gesicht hier.
Meine Eltern kommen heute Abend. Und mein Bruder. Ich werde ihm diesen Brief geben. Keine Ahnung, wieso. Wie gesagt, ich habe keine Erklärungen.
Ich hoffe, du kommst.
Und noch eine Bitte….. komm allein.
Sam.
Verwirrt drehte und wendete Jola den Zettel in ihrer Hand, der nicht einmal eine halbe Seite lang war, mit Sams kleinen, geschwungenen Schrift. War das alles? Dieser Brief war nicht besonders aufschlussreich. Sie las noch einmal die Anschrift durch und wurde in ihrem Verdacht bestätigt, dass Sam in einer Psychiatrie war. Und dort sollte sie hin? Alleine? Ihr kamen tausende Schreckensbilder auf, die sie aus Horrorfilmen kannte, die in einer Psychiatrie spielten. Die kalten, kleinen Zimmer, in denen die Leute eingesperrt wurden, Gummiräume, Fixier-Betten, Beruhigungsspritzen… Lauter komische Leute, die mit blassen Gesichtern und schwarzen Ringen unter den Augen herumliefen. Jola nagte auf ihrer Unterlippe herum. Natürlich wollte sie Sam besuchen. Es interessierte sie, wie es ihr ging. Sie wollte sehen, dass sie in Ordnung war und lebte. Sie wollte dieses halbtote Mädchen aus ihrem Kopf kriegen und wieder das lebendige, farbige Gesicht von Sam sehen. Aber sie konnte doch nicht ohne Tessa dort aufkreuzen! Warum? Hatte Sam etwas zu verheimlichen? Aus irgendeinem Grund war ihr klar, dass das irgendwas mit Tessas komischen Reaktion zusammenhing, als Jola sie gestern in der Küche gefragt hatte, ob Sam schon einmal versucht hatte sich umzubringen. Allerdings wusste Jola, dass Tessa ihr böse sein würde, wenn sie einfach in die Psychiatrie ging, ohne mit ihr darüber zu reden. Verständlich war das schon. Jola wäre auch gekränkt, wenn ihre Freundin ihr so etwas verheimlichen würde. Aber was sollte sie tun? Sam in den Rücken fallen? Na ja, immerhin besser als der eigenen Freundin etwas vorzulügen, oder?
„Guten Morgen.“
Jola drehte sich um und wurde von der Rechnungsprüferin herzlich angelächelt, die gerade ihren Schlüssel aus der Tasche suchte. Schnell stopfte sie den Zettel wieder in die Jackentasche und erwiderte das Lächeln.
„Guten Morgen Frau Will!“
„Na? Geht es Ihnen wieder besser?“
Jola ging neben ihr her, da sie zusammen in einem Büro arbeiteten.
„Ja“, antwortete Jola wahrheitsgemäß.
„Das ist schön. Sie sind heute wieder bei mir in der Rechnungsprüfung?“ Frau Will äugte nach Jola, die nickte. Jola wechselte häufig die Abteilungen, deswegen war es nie sicher, wo sie in einer neuen Woche arbeitete. Ihre Chefin hatte zu Beginn ihrer Ausbildung einen Rotationsplan erstellt, damit Jola in so viele verschiedene Bereiche schnuppern konnte, wie möglich. Sie hatte deshalb schon mehrere Vorgesetzte gehabt. Momentan sprang sie in der Ablage, Buchhaltung und Rechnungsprüfung hin und her. In der Rechnungsprüfung war sie am liebsten, da ihr Frau Will sehr sympathisch war.
„Ich habe Ihnen neue Allongen zum Bearbeiten vorbereitet“, sagte Frau Will, während sie ihre Tasche an ihrem Schreibtisch abstellte und den Rechner hochfuhr. Sie warf einen schnellen Blick auf Jolas Platz, direkt gegenüber von ihrem Schreibtisch. Jola sah den Stapel Rechnungen in der Ablage und die danebenliegenden, leeren Allongen. Sie hatte nichts gegen das Allongen Bearbeiten. Es war ein kontinuierlicher Ablauf. Es waren sieben Schritte zu beachten, die ausnahmslos auf den Allongen stehen sollten. In diesen sieben Schritten, die bei vielen Rechnungen locker drei Stunden beeinflussen konnten, hatte Jola Zeit, um ihren Gedanken nachzugehen. Es war eine Monotonie, die sich in ihrer Arbeit einstellte. Die Arbeit geschah wie nebenbei und meistens machte sie keinen einzigen Fehler, obwohl sie vielleicht nur einen Viertel der Arbeit wirklich konzentriert dabei war. Es war vermutlich wie atmen. Man tat es einfach, ohne es falsch zu machen oder zu vergessen oder darüber nachzudenken. Denn neben dem Atmen dachte man über das Leben nach. Und das tat Jola während dem Allongen Schreiben.
Der Vormittag ging ziemlich schnell vorbei. Sie hatte zwei Ablagen bearbeitet und die Allongen auf die Rechnungen geklebt. Der Brief von Sam war ab und zu sogar in Vergessenheit geraten, dafür aber nicht Joels Gesicht. Die tiefen, braunen Augen, die hängenden Schultern und der leicht geneigte Kopf. Er hatte einen sehr respektvollen, unsicheren Eindruck auf Jola gemacht. Er hatte sich verhalten wie jemand, der schon viele Geschichten über eine Person gehört hatte und Jola fragte sich, ob und wie viel Sam von ihren Mitbewohnerinnen erzählte. Dieser Gedanke beunruhigte sie.
„Und? Schon kaputt von der schweren Arbeit?“, neckte Maia sie, während sie den kleinen Supermarkt betraten, der gegenüber von der Verwaltung stand. Dort holte sich Jola immer einen Mittags-Cappuccino.
„Ne. Aber von dem hier.“ Jola zog den Zettel von Sam aus ihrer Jackentasche und reichte ihn Maia. Sie war froh, dass Maia in alldem nicht verwickelt war, sonst würde sie jetzt sicher verzweifeln. Mit Tessa konnte sie ja nicht darüber reden. Jedenfalls noch nicht.
„Von wem ist der?“, fragte Maia, während sie das Blatt drehte und wendete, als würde da noch mehr Text auftauchen, als dieser lächerliche, kurze Absatz.
„Von Sam.“
Maia las den Brief durch und ihr Gesicht versteinerte sich gefühlt mit jedem Wort, den sie las. Dann zog sie die Brauen in die Höhe und prustete die Luft aus ihren Backen, bevor sie Jola den Brief wiedergab.
„Sehr aufschlussreich“, bemerkte sie ironisch.
„Ja. Sehr.“
„Und, gehst du hin?“
Jola schenkte Maia einen kritischen Blick, während sie an der Bäckerei anstanden.
„Was würdest du tun?“
„Hingehen.“ Maia zuckte mit den Schultern, während ihre Augen die Theke nach Blaubeer-Muffins absuchten.
„Und was ist mit Tessa?“
„Keine Ahnung“, wieder zuckte Maia die Schultern, „Das musst du entscheiden.“
„Hm.“
Maia sah Jola mit einer erhobenen Braue an. Jola kannte diesen Blick. Entweder folgte jetzt ein sarkastischer Satz oder ein verzögertes Auslachen. Beides blieb aus. Maia wandte den Blick wieder ab und zählte in ihrem Geldbeutel nach Geld. Jola bestellte derweil ihren Cappuccino.
„Ich würde es ihr nicht sagen“, sagte Maia schließlich, als sie das Geld der netten Dame auf die Theke legte, die ihr dafür die Tüte mit den Blaubeer-Muffins in die Hand drückte. Dann stellten sie sich an den Stehtisch, wo Jola den Süßstoff in ihrem Cappuccino umrührte und dann den Schaum versuchte abzutrinken.
„An deiner Stelle würde ich sie ohne Tessa besuchen. So bald wie möglich. Und dann kannst du ja Tessa davon erzählen, wenn du bei ihr warst.“
Jola ließ sich diesen Vorschlag durch den Kopf gehen, während sie die ganzen Leute beobachtete, die in dem Laden eintrudelten, bis es zu einem unübersichtlichen Haufen wurde. Schließlich sah sie Maia in die Augen.
„Okay. Dann gehe ich sie besuchen.“
„Gute Entscheidung“, lobte Maia grinsend und biss herzhaft von ihrem Muffin ab.
„Aber du musst mich begleiten.“
Liebe Leyla,
ich habe mir Zeit gelassen, dir zu schreiben. Einfach, weil meine Gedanken durcheinander sind und es sowieso keinen Sinn hätte, irgendwelche Worte auf Papier zu bringen – es wäre ein pures Chaos.
Jetzt ist schon wieder Freitag und ich habe das Gefühl, die Woche wäre wie im Flug vergangen! Sam hat mir am Dienstag einen Brief geschrieben, den sie mir über ihren Bruder hat geben lassen!!! Ich bin immer noch völlig fassungslos und weiß nicht, was ich davon halten soll. Tessa und ich wissen nichts über Sam. Ich meine, absolut gar nichts! Und dann schickt sie ihren Bruder zu mir in die Arbeit, um mir einen Zettel zu geben, auf dem sie vielleicht 3 Sätze geschrieben hat. Ich bin total verwirrt. Meine Gedanken kreisen seitdem nur noch um diesen Brief und ich habe das Gefühl, dass mich diese Gedanken völlig auslaugen. Mir alle Kräfte aussaugen. Dabei war da wirklich nichts Spannendes drinnen gestanden. Nur, dass sie mich sehen will. Und DAS ist verdammt komisch. Sie hat nie ein Wort mit mir gewechselt. Ich habe nur einmal mitbekommen, wie Sam ihre Familie erwähnt hat, als Tessa einen Zugang zu ihr gefunden hat. Das war ziemlich am Anfang meines Einzugs. Sie hatten in der Küche geplaudert. Ja, so richtig geplaudert! Wenn ich ehrlich bin… ich glaube, dass sich Sams Verschwiegenheit eigentlich verschlimmert hat, als ich eingezogen bin. Die ersten Tage hatte sie vergleichsweise sogar noch ziemlich viel mit Tessa gesprochen. Und wenn es nur so Höflichkeitsfloskeln waren.
Wie hast du geschlafen?
Wie war dein Tag?
Wie geht’s dir?
Wie läuft dein Studium?
Du weißt schon… das Übliche eben. Ich weiß sogar, dass Sam Illustration studiert, oder sowas. Na ja, nach den Bildern an ihrer Wand zu urteilen gar nicht so abwegig. Auch wenn einige von den Bildern echt unheimlich sind.
Ich weiß nicht. Vielleicht lag das wirklich zum Teil an mir, dass sie sich mehr zurückgezogen hat. Ich dachte ja immer, sie sieht mich als Eindringling oder so, aber als Tessa mir erzählte, dass Sam schon immer so komisch war, vergaß ich diesen Gedanken schnell. Ich glaube auch nicht, dass das der Grund war. Und wenn doch, dann frage ich mich umso mehr, wieso sie jetzt ausgerechnet mich sehen möchte. Und das alleine – ohne Tessa.
Ich habe am Mittwoch bei der Nummer angerufen, die sie mit in den Brief geschrieben hatte. Es war ihr Stationsleiter. Die sind echt ganz schön genau… was der alles von mir wissen wollte! Ob ich ne Freundin oder ein Familienmitglied bin, wann ich komme, wann ich gehe, wie alt ich bin, woher wir uns kennen… unglaublich.
Es ist banal. Wenn man bedenkt, dass ich in eine Anstalt gehe, voller psychisch kaputten Seelen… theoretisch würde ich da auch reinpassen… Wie auch immer. Banal, weil ich mir schon seit Stunden den Kopf darüber zerbreche, was ich morgen anziehen soll, wenn Maia und ich Sam besuchen gehen. Wie zieht man sich in einer Klapse an? Ein Pulli? Eine Jeans? Oder förmlicher? Kommt das blöd, wenn ich in quietschbunten Sachen auftauche? Scheiße. Ich bin völlig überfordert! Mein ganzer Kleiderschrank quillt über vor Klamotten, aber ich finde einfach nicht das Richtige zum Anziehen! Ich habe vorhin das Suchen und Kombinieren aufgegeben und hoffe, dass ich morgen spontan eine Entscheidung treffen kann. Ich sollte mir um Wichtigeres Gedanken machen: wie reagiert Sam auf mich? Wie reagiere ich auf sie? Was will sie von mir??? Aber es würde ja nichts bringen, wenn ich mir jetzt den Kopf darüber zerbreche. Wenn mir jemand eine Antwort geben kann, dann sowieso nur Sam selbst. Allerdings sagte sie, ich solle keine Erklärungen verlangen, denn sie hat keine.
Ich überlege gerade, ob ich Kuchen oder Plätzchen backen soll. Dann sind wir mit Essen beschäftigt und müssen uns vielleicht nicht zwingend ein peinliches Thema hervorwürgen, nur um betretenes Schweigen zu verhindern. Und dieses Schweigen wird unumgänglich sein.
Plätzchen. Das ist eine gute Idee. Das werde ich jetzt gleich machen!
Jola verstaute ihr Tagebuch in einer Schublade unter ihrem Bett. Sie legte zwei Schichten saubere Bettwäsche drüber, bevor sie die Schublade wieder zuschob und noch eine ganze Weile in Gedanken versunken auf dem Boden knien blieb. In ihrem Kopf war ein großes Nichts, das aber jeden freien Denkraum beanspruchte. Das machte Jola schrecklich müde. Deshalb stand sie auf, bevor sie zu gähnen anfing, schaute noch einmal kurz aus dem Fenster, das Regen-Tränen weinte, und ging in die Küche. Es roch nach Ingwer und Orange. Tessa hatte gestern Abend Hähnchen in einer Ingwer-Orangen Soße gekocht und den Rest natürlich nicht weggeräumt. Das konnte Jola ihr nicht verübeln. Sie hatte es eilig gehabt und Jola hatte auch nicht mehr daran gedacht, das Restessen in den Kühlschrank zu stellen. Träge schlich sie an den Herd, nahm die Pfanne und fing an das Hähnchen aus der Pfanne zu kratzen. Dann stellte sie sich an die Spüle um das Geschirr zu säubern.
„Was machst du da?“
Jola drehte sich um und sah in das müde Gesicht von Tessa. Ihre blonde Mähne stand in allen Himmelsrichtungen ab und Jola konnte gar nicht anders, als sie liebevoll anzulächeln. Auf Tessas T-Shirt stand „Got 99 Problems“, was so ungefähr den Nagel auf den Kopf traf. Jedenfalls in ihrer jetzigen Situation.
„Ich spüle. Hab ich dich geweckt?“
Jola sah auf die Uhr. Es war kurz vor acht am Abend. Eher eine ungewöhnliche Zeit für Tessa, wenn sie Nachtschicht hatte. Meistens schlief sie dann bis 22 Uhr. Wenn nicht sogar länger.
„Pfft“, winkte Tessa mit einem bitteren Lachen ab und setzte sich an den Küchentisch, „Ich kann kaum richtig einschlafen. Scheiß Schlafrhythmus.“
„Ist das überhaupt erlaubt, dich drei Tage hintereinander für die Nacht einzutragen?“, fragte Jola grimmig und legte das saubere Geschirr auf das Abtropfgitter. Dann wischte sie noch einmal über die Arbeitsplatten drüber.
„Ist denen doch käse“, zuckte Tessa die Schultern, stützte den Kopf auf ihre Hand und schloss die Augen, „Was machst du hier wirklich?“ Sie öffnete nur ein Auge, um Jola zuzuschauen.
„Ich will Plätzchen backen.“
Jetzt waren Tessas Augen beide offen und sie zog die Brauen bis zum Anschlag in die Höhe.
„Dein verdammter Ernst? Um 20 Uhr? Im April? Plätzchen? Sollen das April-Plätzchen mit Senffüllung sein oder was?!“
Jola kicherte leise und schüttelte den Kopf. Dann trocknete sie die Hände am Geschirrtuch ab und setzte sich zu Tessa an den Tisch.
„Geh lieber noch eine Runde schlafen.“
„Ich schlaf hier. Und höre dir beim Plätzchen backen zu“, sagte Tessa ironisch, schloss wieder die Augen und grinste. Dann öffnete sie sie wieder, als wäre ihr etwas eingefallen und griff nach Jolas Händen.
„Knabberst du neuerdings an deinen Nägeln?“
Jola runzelte die Stirn und betrachtete ihre Finger. Tatsächlich. Das muss sie völlig unbewusst gemacht haben. Grummelnd zog sie ihre Hände weg und setzte sich auf sie drauf.
„Wieso? Hast du doch noch nie gemacht, oder?“ Tessa kratzte sich an der Schläfe. Das tat sie oft, wenn sie versuchte jemanden zu analysieren. Dann gähnte sie und rieb sich die Augen. Jola ärgerte sich über sich selbst. Sie hatte immer wieder ihre Phasen, in denen sie an ihren Fingernägeln kaute. Das geschah meistens dann, wenn sie unter enormem Druck stand oder Stresssituationen ausgesetzt war, gegen die sie nichts tun konnte. Weder das Eine noch das Andere waren der Fall. Sie war im Moment nur völlig erschöpft und verunsichert.
„Ich weiß, wir haben uns die letzten Tage selten gesehen“, setzte Tessa plötzlich mit ruhiger Stimme an. Es kam selten vor, dass Tessa ernste Themen aufgriff. Nicht, weil sie nicht ernst sein konnte. Lediglich, weil ihr schwere Themen unangenehm waren und ihnen gerne aus dem Weg ging. Das vermutete Jola jedenfalls. Das verübelte sie ihrer Freundin nicht. Sie war auch nicht der Typ Mensch, der über das eigene Seelenleben reden konnte. Trotzdem verstanden sich Tessa und Jola ohne Worte. Und wenn es dem einen nicht gut ging, dann setzte sie sich nur zusammen an einen Tisch oder auf die Couch und schwiegen sich an. Das allein reichte, dass es dem anderen wieder gut ging. Jola liebte Tessas Nähe. Sie hatte eine ruhige Ausstrahlung, obwohl sie so verdammt aufgeweckt war. Ein kompletter Gegensatz in sich, aber so offen und dynamisch Tessa auch war, genauso kompakt und unkompliziert konnte sie sein. Alles was sie tat, tat sie aus irgendeiner undefinierbaren Ruhe heraus, die Jola nicht nachvollziehen konnte.
„Ich komme nach Hause, wenn du schon längst in der Arbeit bist. Und wenn du kommst, muss ich bald gehen.“ Tessa spielte nachdenklich mit einem ausgetrockneten Blatt auf dem Essenstisch herum, das vom Blumenstiel abgefallen war.
„Das ist okay“, sagte Jola, nachdem Tessa nichts mehr sagte. Sie beobachtete, wie Tessa mit dem Blatt spielte, bis es in den kleinsten Bröseln vor ihrer Nase auf dem Tisch lag.
„Nein“, sagte Tessa bitter, „Eigentlich sollten wir gerade jetzt füreinander da sein. Sam hat sich versucht umzubringen und wir verhalten uns, als wäre nie etwas passiert!“
Jola hob den Blick und sah Tessa in die Augen, doch die waren immer noch auf die Blattbrösel gerichtet. Jola hatte herausgehört, dass ihre Stimme belegt war und als sie sah, wie ein Tropfen auf dem Tisch aufkam, und in winzige Perlen zersprang, wurden ihre Ohren heiß. Jola bekam immer heiße Ohren, wenn sie eine Situation nicht kannte und nicht wusste, was sie tun sollte. Sie hatte Tessa noch nie weinen sehen. Nicht einmal traurig hatte sie Tessa gesehen! Tessa hob ihren Blick und sah Jola in die Augen. Bei dem Wimpernschlag flog noch eine leichte Träne aus ihrem Augenwinkel, dann wischte sich Tessa schnell das Gesicht trocken und schluckte. Sie kämpfte gegen das Wasser in ihren Augen und lächelte sie mit einem traurigen Lächeln weg.
„So. Jetzt kennst du also auch meine weiche Seite“, sagte Tessa leise. Jolas Lippen waren wie zusammengeklebt. Sie konnte nichts sagen.
„Wehe, du nutzt das aus.“
Obwohl Tessa das im Spaß sagte und Jola einen ironischen Blick zuwarf, konnte Jola die versteckte Botschaft heraushören und es war das erste Mal seit sie Tessa kannte, dass sie eine Ahnung hatte, was ihre Vergangenheit betraf.
Tessa stand vom Tisch auf, gab Jola einen flüchtigen Kuss auf die Wange und ging wieder in ihr Zimmer, um zu schlafen. Jola backte an diesem Abend keine Plätzchen mehr. Sie räumte die Brösel vom getrockneten Blatt vom Tisch und gab der halbtoten Blume etwas zu trinken.
Das Gebäude erinnerte Jola an ein Internat. Ein Internat, abgeschottet von der Welt. Inmitten vom Nirgendwo. Die Psychiatrie stand abseits von jeglichem Leben. Ein Reiterhof war in der Nähe. Dort war Maia rechts abgebogen, dann noch einmal rechts und einen Berg nach oben gefahren. Es war fast wie eine Spirale, die Maia gefahren war, bis sie noch einmal rechts endlich einen Parkplatz erblickten mit lauter kleinen Bussen. Es ging weiter bergauf und dann befanden sie sich endlich in den Armen des Gebäudes. Um das Gebäude herum der tiefste Wald und in der Mitte des Kreises – wirklich mitten auf dem Asphalt – stand eine einzige kleine Zitterpappel. Drei Meter weiter die Eingangstür. Die nicht aufging.
„Was ist das denn für ein trottelsicherer Scheiß?“, brummte Maia, nachdem sie gedrückt und gezogen und gezerrt hatte und ihr schon ein Schweißfilm auf der Stirn klebte. Jola trat noch einmal einen Schritt vom Eingang zurück und sah sich um. Das Gebäude sah aus wie ein altes Hotel. Es war in viktorianischem Stil gebaut, nur die Holzfront links und die Glasfront rechts vom Eingang sahen aus wie Neubauten. Dann sah sie eine Sprechanlage, darunter drei Klingeln.
„Das ist echt unheimlich“, seufzte Jola und drückte auf den Knopf, auf dem „Station 2“ stand.
Hallo? Die Sprechanlage.
„Äh…“, Jola sah kurz hilflos zu Maia, dann starrte sie die Sprechanlage an, als hätte sie Augen, „Hier sind Maia und Jola. Ich… habe mich für heute angemeldet.“
Für wen kommt ihr denn?, fragte die freundlich klingende Frau.
„Sam. Also, Samantha!“
Kommt rein. Einfach links geradeaus und dann die Treppen hoch bis Station 2. Die Sprechanlage ließ die Mädchen rein und dann standen Maia und Jola in diesem Gebäude. Sie sahen sich beide ehrfürchtig um. Es wirkte kein bisschen wie eine Psychiatrie. Jedenfalls nicht so, wie sich Jola das vorgestellt hatte. Der Boden war aus einem dunklen Parkett, vor ihnen war eine Rezeption, hinter deren Fenster aber das Licht aus war. An Wochenenden schien da niemand zu arbeiten. Die beiden hielten sich an die Anweisung, liefen ziemlich langsam und verunsichert nach links und sahen auch sehr bald die breiten Backsteintreppen. Jola wäre fast in die fette, runde Säule hineingelaufen.
„Wenn sie uns hier nicht mehr raus lassen, weil sie merken, dass wir einen Vollschaden haben, dann werde ich dir das ein Leben lang nachtragen“, murmelte Maia, bevor sie im 2. Stock ankamen und vor einer großen Holztür mit der Beschriftung „Station 2“ standen.
„Müssen wir da jetzt klopfen?“, flüsterte Maia, als sie unschlüssig die Tür anstarrten, als könnte sie die Mädchen gleich angreifen. Da öffnete sich allerdings schon die Tür und zwei junge Frauen standen vor ihnen.
„Huch“, sagten drei wie aus einem Mund.
„Oh“, machte Jola.
„Seid ihr Besucher?“, fragte eine der Frauen, die eine Zigarettenschachtel in der Hand hielt.
„Ähm… ja“, sagte Jola, „Sam.“
„Ah, für die Neue“, bemerkte die andere Frau, „Die arme Seele. Geht ruhig rein. Frau Meier zeigt euch ihr Zimmer.“
Die zwei Frauen traten zur Seite und ließen Maia und Jola vorbei. Jola spürte, wie Maia sich dicht an sie drängte und als sie die Station betraten, sich sogar an ihrem Arm festhielt. Sie standen in einem langen Gang mit blauem Linoleum. Rechts und links ergaben sich die Zimmer. Vor ihnen standen zwei Türen offen, die sich schräg gegenüberstanden. In der rechten Tür sahen sie einige Tische und Schränke. Vermutlich sowas wie das Esszimmer. Links war das Büro, aus dem nun eine Frau herauskam und die beiden anlächelte.
„Maia und Jola?“
„Ja“, sagte Jola, machte einen entschlossenen Schritt auf die Frau zu und versuchte das Lächeln zu erwidern. Die Leute trugen keine weißen Kittel und auch keine Namenschilder, wie Jola vermutet hatte. Es wirkte alles so persönlich und familiär. Wüsste Jola nicht, dass sie sich gerade in einer Klapse befand, dann würde sie sich vermutlich sogar wohl fühlen. Aus dem Raum mit den Tischen hörte sie einige Leute miteinander quatschen und leise lachen. Rechts in den Zimmern kam ein Mädchen heraus, das so alt sein durfte wie sie selbst, und verschwand in einem anderen Zimmer.
„Samantha ist im hintersten Zimmer rechts.“
Jola und Maia folgten Frau Meiers Finger in den linken Flügel und nickten.
„Danke“, sagte Jola.
Sie gingen eilig den Gang entlang, dann klopften sie an der Holztür und öffneten sie. Ihr stieg ein süßlich-frischer Duft in die Nase, der unverkennbar von Sam stammte. Sie kannte diesen Duft aus ihrem eigenen Zimmer in der WG. Das Erste was Jola auffiel war, dass dieses Zimmer gar nicht so viel anders aussah als das in der WG. Es hingen selbstgemalte Bilder an der Wand. Einige abstrakt, andere total realistisch – wie eine schwarz-weiß Fotografie – mit Bleistift oder Kohle. Auf dem Nachtkästchen lagen ein Haufen Bücher, auf dem Schreibtisch viele angefangene Briefe und Stifte. Und auf dem Bett selbst saß Sam.
„Wer ist das?“, fragte sie, kaum, dass hinter Jola und Maia die Tür zufiel, „Die Tür müsst ihr offenlassen.“
Maia zog sofort wieder die Tür auf und stellte sich schräg hinter Jola.
„Das ist… Maia“, stellte Jola sie schnell vor, „Eine gute Freundin von mir.“
„Habe ich dich nicht gebeten, alleine zu kommen?“ Sams Stimme war sehr ruhig und leise, als hätte sie Angst, dass man sie hört. Jola kannte Sams Stimme noch nicht besonders gut und sie musste sich an diesen tiefen Klang gewöhnen. Es passte nicht zu ihrer zierlichen, kleinen Gestalt und den Sommersprossen. Sam war leider immer noch ziemlich blass. Und hatte fettige Haare. Sie sah wirklich nicht glücklich aus.
„Ich musste sie mitnehmen… tut mir leid… ich hätte es dir sagen sollen“, entschuldigte sich Jola und fühlte, wie sich ihr Schweiß auf der Stirn bildete. Gott, war das eine komische Situation. Gleichzeitig hatte sie auch Maia gegenüber ein schlechtes Gewissen. Sie hatte an dem Tag, an dem sie spontan entschlossen hatte sie mitzunehmen, das Stück vom Blaubeer-Muffin, das sie schon abgebissen hatte, wieder ausgespuckt und sie noch versucht davon abzubringen, weil Sam das bestimmt nicht toll fände, wenn sie mitkäme. Da hatte sie wohl Recht gehabt, aber Jola hatte stur darauf bestanden.
„Wieso? Hattest du Angst?“
Jola konnte nicht einschätzen, ob das ein Witz war oder ob Sam es ernst meinte. Ihr Gesicht verriet keinerlei Emotion. Sowas Dummes. Vielleicht hätte sie doch Plätzchen backen sollen.
„Vor der Psychiatrie oder mir?“, stellte Sam direkt die nächste Frage, nachdem sie die Antwort aus Jolas Gesicht hatte lesen können.
Jola zögerte.
„Beidem.“
„Ah.“
Sam wandte den Blick ab, runzelte die Stirn, seufzte und stand dann auf.
„Na ja“, sie strich sich einige fettige Strähnen hinter die Ohren, während sie zwei Stühle leerräumte und den beiden einen Platz anbot, „Das hatte ich auch.“
Jola und Maia setzten sich, nachdem Sam ihnen auffordernd zunickte und sich dann selber wieder auf das Bett setzte.
„Vor der Psychiatrie?“, fragte Jola sinnloserweise.
„Beidem“, erwiderte Sam das Wortgefecht und fixierte Jolas Blick um zu sehen, ob sie es verstanden hatte.
„Und wer bist du?“ Sam sah Maia in die Augen. Sie hatten das leiseste Glitzern verloren. Sie wirkten nur noch matt und leblos. Aber das unangenehmste an Sams Art war, dass sie absolut keine Emotionen in ihrem Gesicht zeigte. Sie war wie eine Statue.
„Maia“, antwortete sie auf Sams Frage, „Ich arbeite seit einem Jahr mit Jola zusammen.“
Sam sah wieder Jola an.
„Ich will dich kennenlernen.“
Jolas Brauen fuhren ungewollt in die Höhe und sie verzog die Lippen zu einem dünnen Strich.
„Wenn du mit Tessa gekommen wärst, hätte ich dich nicht kennenlernen wollen. Aber du bist alleine gekommen“, sie hielt kurz inne, starrte Jola ausdruckslos in die Augen, „Na ja, fast.“ Sie hatte nicht zu Maia gesehen, aber Jola wusste, dass Sam sie als ungebetenen Gast empfand. Was hätte sie denn tun sollen? Es war genug verlangt, dass sie dieses unbekannte Mädchen in einer Klapse besuchte, über die sie absolut nichts wusste. Jola fand, sie hatte jedes Recht der Welt, sich seelischen Beistand mitzunehmen.
„Okay… nur…“, Jola zuckte die Schultern, „Ich habe nicht besonders viel zu erzählen.“
„Du arbeitest in einem Sozialdorf“, merkte Sam an und setzte sich im Schneidersitz auf ihr Bett, „Wie genau funktioniert das? Arbeitest du mit solchen wie mir?“ Sams linker Mundwinkel zuckte in die Höhe. Fast, als würde sie über einen guten Witz schmunzeln, aber es erreichte ihre toten Augen nicht.
Jola runzelte kurz die Stirn, schüttelte den Kopf und überlegte, wie sie das genau erklären konnte.
„Es gibt ganz viele Menschen dort, die Hilfe bekommen. Menschen im Alter, Kinder und Jugendliche mit seelischen Erkrankungen, körperlich und geistig Behinderte, Alkoholkranke“, Jola zog kurz unschlüssig die Schultern in die Höhe und ließ sie wieder fallen, „Aber mit denen habe ich fast nichts zu tun. Sie wohnen ja nur in den Wohnheimen drum herum. Ich arbeite nur in der Verwaltung von dieser Diakonie.“
„Was für eine Diakonie ist das? Und hast du bis vor drei Wochen nicht noch im IT-Zentrum am Empfang gearbeitet?“
Jola beobachtete Sam und hoffte irgendein Stück Leben in ihr wiederzufinden, aber sie blieb diese komische, unheimliche Statue. Trotzdem wurde Jola das Gefühl nicht los, dass sich Sam wirklich für sie interessiert. Aber warum erst jetzt? Wieso nach zwei Jahren und wieso in der Psychiatrie und wieso, wenn Maia dabei war?
„Eigentlich ist das ja eine einzelne Einrichtung. In München selbst gibt es auch noch eine. Aber diese Einrichtung ist so groß, dass man es als einzelnes Dorf bezeichnet. Ich glaube, offiziell ist es sogar eins.“ Sie sah Maia fragend an, die unschlüssig mit den Schultern zuckte.
„Hat euer Sozialdorf eine eigene Postleitzahl?“ Es hörte sich fast so an, als würde Sam das Wort in imaginäre Anführungszeichen setzen. Vielleich bildete sich Jola das aber auch nur ein.
„Nein.“
„Dann ist es offiziell kein eigenes Dorf. Und wieso arbeitest du immer wo anders?“
„Ich arbeite als Bürokauffrau“, sagte Jola, als wäre das alles selbsterklärend, „Unsere Ausbilderin hat zum Anfang der Ausbildung einen Rotationsplan erstellt. Das heißt, ich bin in gewissen Zeitabständen immer in anderen Bereichen. Die ersten 3 Monate habe ich im Bereich Marketing gearbeitet. Dann war ich lange im Back Office und die letzten Monate habe ich den Empfang geschmissen. Jetzt bin ich in der Buchhaltung. Die ist halt in einem anderen Gebäude.“
„Wer ist dann dein Ausbilder?“
„Das geht alles über Frau Kiel. Aber in jeder Abteilung ist dann jemand anderes mein Chef.“
Sam sah Jola an, dann sah sie zu Maia und schließlich aus dem Fenster.
„Ich fühle mich hier eingesperrt“, sagte sie leise, während sie eine Amsel beobachtete, die auf einem Ast vor ihrem Fenster herumtanzte und schließlich wegflog. Dann sah sie wieder zu Jola und Maia.
„Ich darf hier nicht raus.“
„Oh“, machte Jola geistreich und wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. Sollte sie ihr Beileid ausdrücken? Oder sollte sie ein Beruhigungsversuch starten und sagen, dass sie es hier gar nicht so schlimm fand? Sie kannte Sam einfach zu wenig um zu wissen, in welche Richtung sie die Gespräche leiten sollte.
„Wieso?“
Jola sah Maia an, der diese Frage ziemlich leicht über die Lippen wich. Auch Sam schien kurz überrascht zu sein, dass Maia so direkt war.
„Also, wenn ich fragen darf“, nuschelte Maia dann schnell hinterher, als sie die Blicke der beiden bemerkte.
„Sie haben Angst, dass ich mich umbringe.“
„Wieso solltest du dich umbringen wollen?“
Wieder so eine direkte Frage, die Jola nicht nachvollziehen konnte und ihr deshalb ein warnender Blick entwich, der an Maia gerichtet war. Sie musste etwas vorsichtiger sein. Nur weil Sam eine ziemlich geradlinige Person war hieß das nicht, dass sie genauso gut auf andere Leute zu sprechen war, die ihre Eigenart teilte. Oder war gerade das eine ziemlich gute Idee? Jola entschied Maia das Sprechen zu überlassen und vorerst zu schweigen und zuzuhören.
„Möchtest du in einer Trostlosigkeit leben?“, stellte Sam eine Gegenfrage und wirkte ziemlich ruhig. Nicht wie jemand, der vorhatte sein Leben zu beenden. Sie saßen nicht da wie drei Mädchen, die gerade in einer Ausbildung und im Studium waren und sich damit auf die Welt vorbereiteten. Sie waren jahrelang in einem Käfig auf und ab getigert, wie ein trauriger schwarzer Panter, und hatten durch die Gitterstäbe die Welt betrachtet, vor der ihre Familien sie hüten und sie darauf vorbereiten wollten. Jetzt waren sie bereit zum Absprung. Durch die geöffneten Gitter, heraus aus dem Käfig der in Watte gehüllten Wahrheiten und Grässlichkeiten, die das Leben bieten konnte. Jola hatte sich den Prozess viel langwieriger vorgestellt, viel unauffälliger. Aber jetzt saßen sie hier und redeten über den Tod. Es war wie ein Sprung ins eiskalte Wasser. Vom Kindsein mitten ins Erwachsensein. Oder zumindest in ein Pseudo-Erwachsensein. Etwas, das sich so anfühlt. Die Erwachsenen redeten so oft von dem Tod. Eigentlich fast immer. Tagein, tagaus. Etwas, das Jola schon sehr früh bemerkt und beobachtet, aber nicht weiter studiert hatte. Sie redeten nicht von dem neuen Tag, wenn sie zu Bett gingen, sondern von der Nacht, die hereinbrach. Sie redeten nicht über die armen Seelen, sondern weinten um die lange Verstorbenen und sie öffneten Diskussionen und Gedankengefechte: Was geschieht, wenn wir nicht mehr sind? Häuser, Finanzen, Erbe… Die Beerdigung!
Und was taten sie? Jola, Maia und Samantha? Sie redeten über genau diese Dinge. Über den Tod, obwohl die Lebendigkeit ihnen viel näherstand. Und zum ersten Mal fragte sich Jola: Warum habe ich eigentlich nie versucht mich umzubringen?
Kapitel 18
Nach einer unheimlich langen Stunde trat Schweigen ein. Jola merkte in diesen stillen Minuten, dass Sam ihnen ganz schön viel erzählt hatte, was sie jetzt erst einmal sacken lassen musste. Sie hatte von den Regeln erzählt. Dass sie gemeinsam zu Abend essen mussten, dass sie nach 21 Uhr das Gebäude nicht mehr verlassen durften - vorausgesetzt, man durfte es überhaupt verlassen. Um 15 Uhr mussten sich alle Patienten auf ihren Zimmern befinden, da die Stationsärztin Zimmervisite machte, was Sam nur mit einem Augenrollen unterstrich. Lediglich 5 Minuten für jeden Patienten um nachzufragen, wie es ihnen geht, ob sie irgendein Anliegen oder eine Beschwerde haben. Man hätte behauptet, es gäbe einmal die Woche ein Einzelgespräch mit der Stationsärztin. Eine richtige Gesprächstherapie, quasi. Und sonst die ganzen anderen Therapien, die Sam besuchen musste, nervten sie tierisch. Über ihre Mitpatienten hatte Sam absolut nichts erzählt, fiel Jola gerade auf.
„Was ist mit den anderen? Wieso sind sie hier?“
Sam entwich wieder so ein totes Lächeln, dass beinahe schon sowas wie ein Markenzeichen von ihr wurde.
„Du interessierst dich wirklich für die Gründe der anderen Patienten, aber warum ich mir die Arme aufgeschlitzt habe ist dir egal?!“
Jola hörte die Fangfrage heraus und sie haderte mit sich selbst.
„Wieso hast du dir die Arme aufgeschlitzt?“, fragte Maia also aus Prinzip und diese Frage klang so provokant, dass Jola kurz den Atem anhielt. Sam schien allerdings ziemlich ruhig zu bleiben und nicht gerade überrascht von der Frage zu sein. Sie sah Maia an und nickte einmal. Dann zog sie die Ärmel ihrer schwarzen Strickjacke nach oben und zeigte die zwei verarzteten Arme.
„Sieht schick aus, nicht?“, fragte sie rhetorisch und ließ die Ärmel oben, was Jola jetzt nicht unbedingt angenehm fand. Im Gegenteil. Am liebsten wäre sie selber aufgesprungen und hätte ihr die Ärmel wieder herunter gerissen.
„Ich kann euch nicht sagen, warum ich das getan habe. Ich bin nicht besonders wortgewandt. Vor allem nicht, wenn es um Gefühle geht.“
Ha! Jola hätte am liebsten laut und bitter aufgelacht. Von wegen nicht wortgewandt! Und was für Gefühle? Jola hatte bisher nicht die leiseste Emotion in Sams Gesicht erkannt.
„Aber…“, Sam sah sich in ihrem Zimmer um, dann stand sie auf, ging zu ihrem Schreibtisch und wühlte unter den ganzen Zetteln und Briefen und leeren Papieren ein Blockblatt hervor, das mit ihrer feinen, geschwungenen Handschrift verziert war. Sie flog beide Seiten noch einmal durch, dann ging sie wieder zu ihrem Bett und reichte Jola das Blockpapier.
„Wenn es dich interessiert, darfst du es lesen. Aber es könnte triggern.“
„Triggern? Was sollte mich denn triggern?“, fragte Jola automatisch, obwohl es genug Dinge gegeben hätte. Es war eine Gegenfrage aus Instinkt und Unsicherheit, weil Sam eigentlich nichts über sie wusste. Jedenfalls nichts wissen durfte. Es sei denn, sie hätte Jolas Tagebuch gelesen. Was unmöglich sein konnte. Sam reagierte nicht auf Jolas Frage, faltete den Zettel und drückte ihn ihr in die Hand.
„Ihr müsste jetzt gehen“, sagte sie dann.
Jola und Maia tauschten kurz verwirrte Blicke, dann strich sich Jola eine Strähne hinter das Ohr und stand mit einem Räuspern vom Stuhl auf. Maia tat es ihr gleich und schob beide Stühle wieder zurück an den Schreibtisch. Jola fiel nichts zu sagen ein, weshalb sie Sam nur kurz unsicher ansah, dann drehte sie ihr den Rücken zu und zog die angelehnte Tür auf. Maia trat aus dem Zimmer und sah Jola an, die nun wieder nach Sam äugte. Üblicherweise sagte man zum Abschied auf Wiedersehen oder einfach nur Tschüss oder Ciao.
„Was ist denn nun? Kommst du?“
Maia rüttelt kaum merkbar an der Tür, so dass Jola die Schwingungen an der Klinke spürte, die sie fest umklammert hielt.
„Kann ich dich denn noch einmal besuchen?“, fragte Jola schließlich und hoffte aus irgendeinem Grund, dass Sam einfach nur freundlich lächelte und nickte. Sie hätte nicht einmal was sagen müssen, aber Jola wünschte sie so sehr dieses niedliche Lächeln auf Sams Gesicht! Sie hatte in der WG auch nur selten gelächelt, aber immerhin hatte es ein Lächeln zur Begrüßung gegeben. Jola war verwirrt über die Tatsache, dass ihr am meisten das kleine Grübchen auf Sams linker Wange fehlte wenn sie leise lachte. Wer war diese Person da vor ihr überhaupt? Das war nicht Samantha! Kurz bevor Jola die Hoffnung auf eine Antwort aufgegeben hatte und umdrehen wollte, um die Tür hinter sich zuziehen, hörte sie Sam leise Luft holen.
„Wenn du dir mich antun willst, bist du jederzeit herzlich willkommen.“
Kein Lächeln, aber immerhin eine Antwort. Jola verdrängte den Gedanken, dass Sams leise Stimme gerade so ziemlich das Unheimlichste war, was sie seit dem Film Insidious gehört hatte. Mit einer Gänsehaut an den Armen nickte sie nur einmal kurz, drehte sich um und schloss die Tür hinter sich.
Maia und Jola schwiegen die ganze Fahrt über und gingen ihren eigenen Gedanken nach. Erst kurz vor Jolas WG seufzte Maia tief, als hätte sie eine Prüfung ganz knapp bestanden.
„Ich nehme dich nie wieder mit. Versprochen“, merkte Jola an und konnte schon wieder lächeln. Die Anspannung war von ihr herabgefallen, als sie Sams Zimmer verlassen hatten. Ihre Gedanken waren unsortiert und es herrschte großes Chaos in ihrem Kopf, aber das machte ihr nicht viel aus. Das war Standard. Chaos im Kopf.
„Quatsch“, stieß Maia hervor, „Ich fands nicht schlimm. Aber deine Mitbewohnerin ist verdammt strange.“
Jola lachte halbherzig über diese Bemerkung und musste an Tessas Spitznamen für Sam denken. Dieses leise Lachen wurde mit einem Blick auf die Uhr von einem scharfen „FUCK!“, unterbrochen. Maia runzelte die Stirn, bog in die nächste Einfahrt und schielte kurz zu Jola, die sich eine Hand an die Stirn klatschte.
„Was ist los?“
„Mein Handy!!! Ich hätte es heute von der Reparatur abholen sollen!“
„Wann?“
„Vor 3 Stunden“, mit einer Zornesfalte auf der Stirn knurrte Jola in sich hinein, „Ich und meine dumme Vergesslichkeit! Glaubst du mir, dass mich das richtig aggressiv macht???“
„Fahr runter. Haben die nicht bis 19 Uhr geöffnet?“
„Es ist Samstag“, sagte Jola kläglich, „Da sind mittags die Schotten dicht.“
„Dann hol es halt am Montag ab“, schlug Maia unbeirrt vor und fuhr rechts ran, um Jola aus dem Auto zu lassen.
„Ich warte seit 5 Tagen sehnsüchtig auf dieses blöde Handy, weil ich eine SMS lesen muss!“
„Dann wartest du halt jetzt noch 2 Tage mehr.“
„Etwas Anderes bleibt mir wohl nicht übrig“, seufzte Jola und sah aus dem Autofenster.
„Nöp“, bestätigte Maia fast fröhlich und tätschelte Jolas Wange, „Keine Sorge. Wenn du Entzugserscheinungen bekommst, bin ich immer für dich da.“
„Ha! Das hast du verpasst“, ging Jola lustlos auf den Witz mit ein und öffnete schließlich die Tür, „Danke, dass du mitgekommen bist.“
„Schon okay“, lächelte Maia, „Auch wenn ich enttäuscht war, dass keiner in Zwangsjacken lag und auch kein gestörter Glatzkopf sein Blut an den Wänden verschmiert hat. Das wäre zu genial gewesen. Diese Klapse ist doch der reinste Langeweile-Alptraum, oder? Arme Sam.“
„Ja, arme Sam“, bestätigte Jola mit nachdenklichem Gesicht und hievte sich aus dem Autositz. Dann blieb sie noch einmal kurz vor der geöffneten Tür stehen und spähte zu Maia in das Auto hinein. „Aber mal ernsthaft: Es hat dir doch nichts ausgemacht, oder?“
„Nein, wirklich nicht“, bekräftigte Maia ernst und nickte Jola zuversichtlich zu, „Und jetzt hau ab! Bis Montag.“
Jola lächelte Maia dankbar an, schlug die Autotür zu und wartete bis sie in die nächste Straße einbog, bevor sie über die Straße lief und nach oben eilte.
Als Jola die Tür zur WG öffnete, war das Licht in der Küche an, was sie durch das Milchglas, das in der Küchentür integriert war, erkennen konnte. Durch die geschlossene Tür hörte sie leises Brutzeln und den Duft von irgendetwas Köstlichem schlich sich ihr in die Nase. Mit einer Hand versuchte sie die Schnürsenkel zu öffnen und stützte sich mit der anderen an der Kommode ab. Aus dem Wohnzimmer konnte sie erkennen, dass Licht auf das Parkett fiel. Es stand der Küche gegenüber und sie hatte keinen direkten Einblick in das Wohnzimmer, da sie vorher links um eine kleine Ecke gehen musste, aber das Licht, das auf das Parkett fiel, stammte definitiv aus dem Wohnzimmer. Vermutlich von der Designer-Stehlampe, die Tessa mal von ihren Eltern geschnorrt hatte. Aber warum brannte Licht im Wohnzimmer, wenn Tessa doch in der Küche kochte? Das war eigentlich überhaupt nicht ihre Art. Als sie endlich den zweiten Schuh ausgezogen hatte, ging sie dem Licht entgegen, um es auszuschalten. Das war unnötige Stromverschw-
„WUUUAAAAAH!“ Jola kreischte hysterisch auf, klatschte sich die Hände vor die Augen, drehte sich mit einem Satz wieder um und lief knallrot an. Der fremde Mann, der splitterfasernackt in ihrem Wohnzimmer stand, war vom Sofa aufgesprungen und hatte sich ein Kissen genommen, um es vor sein Heiligtum zu halten.
„TESSA!“ Mit zugekniffenen Augen tastete sie sich aus dem Wohnzimmer und öffnete sie erst wieder, als sie die Küchentür erreichte. Während sie die Tür öffnete, fluchte sie vor sich hin, dann entfuhr ihr wieder ein lautes Quieken und sie kehrte Tessa den Rücken. Gott sei Dank war der Mann ihr nicht gefolgt und von dieser Perspektive konnte sie ihn nicht sehen, auch wenn sie einen direkten Blick ins Wohnzimmer hatte.
„Scheiße! Seid ihr alle verrückt geworden? Ist heute irgendein Welt-Nudistentag?!“
Ihre Stimme war mehrere Oktaven zu hoch und ihr Gesicht prickelte vor Scham. Obwohl sie mit dem Rücken zu Tessa stand, konnte sie spüren, wie sie in sich hineinlachte. Der Mann kam mit verlegenem Gesicht aus dem Wohnzimmer gewatschelt und setzte gerade an, um etwas zu sagen. Vermutlich, um sich zu rechtfertigen oder zu erklären, aber Jola zog so scharf die Luft ein, dass er abrupt wieder innehielt, während Jola entschlossen auf ihn zu stürmte.
„Gib das her! Uuuurrrgghh…“ Mit Fingerspitzen zog sie ihm das Kissen weg und machte ein angewidertes Gesicht. Der Mann ersetzte instinktiv seine Hände durch das Kissen. Jola war verwirrt über das kurze Bild, das ihr in den Kopf sprang, in dem sie Adam und Eva mit Tessas und des Mannes Gesicht sah. Natürlich mit dem berüchtigten Ahornblatt als Intimbekleidung. Ähm… Dezent kopfschüttelnd drehte sie sich zu Tessa um und hob das Kissen in die Höhe. Sie starrte ihr in die Augen, wobei sie gekonnt ihren nackten Körper ignoriert.
„Mein Kissen. Verstehst du? M-E-I-N Kissen“, knurrte sie mit einer Zornesfalte auf der Stirn. Jola kannte Tessa und ihre wilde Lebensweise, aber notgeil hin oder her! Nackt in der Wohnung herumtanzen ging einfach nicht. Ging gar nicht! Plötzlich nahm sie einen quälenden Gesichtsausdruck an, als wäre ihr ein Licht aufgegangen.
„Oh nein“, jammerte sie und ließ das Kissen aus ihren Fingerspitzen auf den Boden gleiten, „Oh nein, nein, nein… bitte sag nicht, dass ihr… ich meine… ihr habt doch nicht…?!“
Tessa verzog entschuldigend das Gesicht, aber Jola konnte das halbe Grinsen erkennen, das sie zu schlucken versuchte. Mit einem theatralischen Wimmern ließ sich Jola auf die Knie sinken und beugte sich so weit vor, dass sie ihre Stirn auf dem Boden ablegen konnte. Mit geschlossenen Augen schüttelte sie fassungslos den Kopf. Dann seufzte sie wie jemand der einsah, dass ihm nichts Anderes übrigblieb, als sein Schicksal in all seinen Ausmaßen hinzunehmen.
„Haben wir wenigstens genug Desinfektionsmittel für die Couch?“, murmelte sie gegen das Parkett, das ihre Stimme fast verschluckte und sie hohl anhören ließ. Schreckliche Bilder von Tessa und dem nackten Mann auf ihrer unschuldigen, genötigten IKEA-Couch sprangen ihr vor die geschlossenen Augen. Sie bekam natürlich keine Antwort, weshalb sie die Augen öffnete und sich soweit wieder aufrichtete, dass sie mit hängenden Schultern zwischen einem fremden nackten Mann und ihrer besten nackten Freundin kniete. Sie wusste nicht, was sie schlimmer finden sollte. Auf ihrer Stirn klebte ein roter Abdruck vom kühlen Boden.
„Könntet ihr euch endlich etwas anziehen?!?!?“, brummte sie mit Nachdruck. Der Mann eilte ohne zu zögern ins Bad. Tessa sah Jola noch kurz verzwickt an, dann tapste auch sie dem Mann hinterher in das Bad. Na toll, dachte Jola, dann hat das ganze Sex-Tape also dort angefangen. Instinktiv fragte sie sich, ob sie den roten Spitzen BH weggeräumt hatte, den sie unter der Woche einmal aus Jux anprobiert hatte. Um ehrlich zu sein war das kurz nach Jakes plötzlichem Auftauchen. Sie hatte sich zwei Tage danach am Abend in das Bad gestellt und ihre rote Spitzenunterwäsche anprobiert. Sie hatte ihre Haare vor die Spiegel flüchtig aufgedreht und locker mit einer Haarklammer festgesteckt, was sie viel zu billig wirken ließ. Dann hatte sie sie wieder offen fallen lassen, den Kopf geschüttelt und fand, dass sie viel zu verrucht aussah. Oder wie eine versoffene Hausfrau. Schließlich hatte sie die Unterwäsche mit einem Seufzen wieder ausgezogen und beschlossen sie in den Müll zu werfen. Oder Tessa zu geben.
Mit bösem Blick schielte sie auf das Kissen am Boden, das sie auszulachen schien, und zog die Nase kraus. Dann stand sie auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Zwischen Küche und Wohnzimmer im Flur stehend wartete sie. Als Tessa und der Typ angekleidet aus dem Bad kamen, war sie fast verwirrt von der Wirkung von Klamotten.
„Ich habe nicht so früh mit dir gerechnet“, entschuldigte sich Tessa und hob das Kissen vom Boden auf, „Das koche ich aus…“
„Ich bitte darum“, gab Jola scharf zurück.
Der fremde Mann kratzte sich verschämt am Hinterkopf und sah Jola verlegen an.
„Ich bin übrigens Derek.“ Er streckte ihr versöhnlich die Hand entgegen, die Jola nur skeptisch musterte und schließlich den Kopf schüttelte. Sie wusste ja nicht, was er vorher alles angefasst hatte. Das widerte sie dezent an.
„Dieses reizende Wesen hier ist Jola“, stellte Tessa sie schließlich vor, nachdem von Jola selbst keine Anstalten kamen, sich vorzustellen.
„Und jetzt?“ Jola war grimmig. Außerdem war sie so verkrampft von der Anspannung, dass ihr der Brustkorb von den verschränkten Armen schmerzte, die sich wie eine Würgeschlange ineinander verknoteten.
„Eigentlich wollten Derek und ich etwas zu Abend essen“, antwortete Tessa auf die eigentlich rhetorische Frage. Jola wollte den Typen einfach aus der Bude haben. Sonst nichts. Aber das konnte sie ja schlecht sagen. Mit einem Schnauben zuckte Jola die Schultern.
„Dann macht das. Ich, für meinen Teil, gehe in mein Zimmer.“ Sie ließ die Arme wieder fallen, warf Derek einen vernichtenden Blick zu und steuerte auf ihre Tür zu. Kurz davor drehte sie sich noch einmal um und sah Tessa und Derek hinterher, wie sie in der Küche verschwanden. Endlich mit entspannten Gesichtsmuskeln, senkte sie dann bedrückt den Blick. Tessa war wirklich eine schöne Frau. Selbst nackt.
Liebe Leyla,
Ich habe keine Lust mehr, das Datum zu notieren. Ob es mich deprimiert oder nicht, dass die Zeit so schnell vergeht, aber ich kann diese Zahl nicht mehr sehen: 2016. Aus Prinzip. Ich muss schon in der Schule und in der Arbeit jeden Tag das Datum stempeln oder schreiben, ich will das nicht auch noch in meinem Tagebuch tun müssen.
Von Jake habe ich die letzten Tage im Übrigen absolut gar nichts gehört. Arschloch. Erst macht er mir Angst mit seiner verdammten Pfefferspray-Aktion und dann lässt er sich nicht mehr blicken. Ich habe überlegt ihm einfach zu schreiben, um ihn zu fragen, was das gewesen sein sollte, aber heute habe ich mein Handy im Laden vergessen. Das heißt, ich muss jetzt noch einmal zwei Tage warten, bis ich es von der Reparatur abholen kann. Das nervt mich jetzt nicht unbedingt, weil ich Kontakt zu Jake aufnehmen möchte, sondern vielmehr weil ich wissen will, ob es die Frau war, die mir kurz vor dem Schrotten geschrieben hat. Und wenn es sie war, dann hoffe ich inständig, dass die Nachricht noch auf meinem Handy ist. Ich ärgere mich über mich selbst.
Meine Träume sind auch total wirr. Letztens träumte ich von einem Schwan, auf dem ich reiten musste aber nicht wollte, weil ich Angst hatte, dass er unter mir zusammenbricht. Heute träumte ich von meiner Oma…. FUCK! Ich wollte heute meine Eltern besuchen gehen!
Ärgerlich legte Jola den Stift aus der Hand und schlug sich eine flache Hand an die Stirn. Dann sah sie aus ihrem Fenster, direkt neben dem Bett und klappte ihr Tagebuch zu, das sie unter ihrem Kopfkissen verschwinden ließ. Sie durfte auf keinen Fall vergessen, ihre Eltern morgen zu besuchen. Sie hatte vermutlich schon über 20 verpasste Anrufe auf ihrem Handy, weil ihre Mutter wissen wollte, wo sie blieb. Seufzend riss sie ihren Blick von dem schwarzen Nachthimmel, zog sich die Decke bis zur Nasenspitze und machte das kleine Licht aus, um zu schlafen.
Publication Date: 04-07-2016
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