Cover

.

 

 

Der Wächter des Sternensees

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Alle Personen und Handlungen in dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Originalausgabe Oktober 2014

 

© 2012 - 2014 by Demetria Cornfield

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Demetria Cornfield

Grafik: www.clipdealer.de

Logo Fontdesign: David Kerkhoff

Lektorat: Claudia Ziehm

 

Kontakt:

Demetria Cornfield

Kempter-Wald-Str. 29

87488 Betzigau

demetria.cornfield@gmx.de

http://fb.com/demetriacornfield

Widmung

 

 

 

 

 

 

 

Für alle meine Weggefährten, Schwestern und Brüder im Herzen - wir kennen uns von Anbeginn der Zeit.

 

1. Prolog

Sie schwebte in einem Zustand des Seins und Nichtseins, zwischen Träumen und Wachen. Lichter, Geräusche, Hektik drangen auf sie ein. Ein lautes Piepen begleitete das Durcheinander von Stimmen. Kälte.

Das Erste, das sie wahrnahm, war ein dunkler, verschwommener Schatten, der dicht bei einigen festen Körpern stand. Es befand sich etwas in seiner Hand, ein rundes, durchsichtiges Ding, das zunächst unscheinbar erschien. Doch als der Schatten den kleinen Ball über die Gestalt zu seiner Rechten hielt, bildete sich über ihrem Kopf ein Licht, das in die Kugel gesogen wurde. »Wir verlieren sie!« - »Das Baby atmet nicht« – »Verpassen Sie ihm einen Klaps, verflixt!«

Wo befand sie sich? – Sie beobachtete das Wesen, das den leuchtenden Ball in seinem Umhang verbarg und ihr einen Blick zuwarf. Schwarze Augen, gespickt mit goldenen Sprenkeln, wie Sterne im Universum. Ihre Sicht wurde klarer, die Konturen um sie herum gewannen an Schärfe – der Dunkle bemerkte ebenfalls, dass sie ihn direkt ansah. Im selben Augenblick durchfuhr sie ein Schmerz und sie schrie.

»Es atmet!« »Das ist nicht zu überhören, Schwester.«

Jemand wickelte etwas Weiches um sie, und als sie endlich die Gelegenheit bekam, nach der dunklen Gestalt zu schauen, war sie verschwunden.

Halloween

 2. Ein denkwürdiger Abend

 

»Vicky, es ist DAS Fest! Du musst mitmachen, wenn du dazugehören willst, das haben wir so besprochen!«

Sandy legte so viel Gewicht in diesen Satz, es wirkte nahezu lächerlich. Dabei beugte sie sich weit vor den Spiegel des Mädchenumkleideraums, um sich sorgfältig ihre Wimpern zu tuschen; es sah recht seltsam aus, denn untenherum trug sie noch die Trainingshose.

»Wenn du nicht Gas gibst, kommen wir nicht mehr rechtzeitig zur Haltestelle, um einen Blick auf deine coole Goth-Clique zu werfen«, bemerkte Vicky spöttisch und kratzte sich an der Stelle, wo der Kragen der enggeschnittenen Militärjacke ihren Hals berührte. Das Schwarze-Kleider-Getrage war auf Sandys Mist gewachsen, und Vicky hatte fast das ganze Taschengeld für dieses Image ausgegeben, dabei fand sie die Klamotten nicht mal bequem.

»Das wäre ja dieses Mal nicht schlimm, wir würden sie ja heute Abend treffen.«

Sandy trat einen Schritt zurück und überprüfte ihre langen wasserstoffblonden Haare, die sie rechts offen trug – links hatte sie sie mit Haarklammern am Hinterkopf festgesteckt, damit man ihre drei Silberkreolen sehen konnte. Sie schien nicht ganz zufrieden zu sein, denn sie schüttelte ihre Frisur nochmals durch und strich sie erneut glatt. Da sie die Echthaar-Extensions erst seit einer Woche hatte, verzieh ihr Vicky in diesem Punkt, wie sie ihr eigentlich immer alles verzieh, denn sie war ihre einzige Freundin. Unauffällig zupfte sie selbst an ihren schwarzen Strähnen, die ihr herzförmiges Gesicht umrahmten, überlegte kurz, ob sie sich den Zopf aufdröseln sollte, um zwei Pferdeschwänze daraus zu machen, und verwarf den Gedanken wieder, da es ihr zu aufwändig war.

»Du weißt schon, dass das eine Ehre war, dass wir die Einladung über Facebook bekommen haben?«, sagte Sandy kühl und starrte sie aus ihren blassblauen Augen an.

»Das ist nämlich keine öffentliche Veranstaltung, und nach dreißig Zusagen haben sie sie geschlossen!« Fasziniert stellte Vicky fest, dass die Wimpern der Freundin nun abstanden wie Spinnenbeine.

»Naja, du hast sie auch lang genug gestalkt«, bemerkte sie spitz und ging zum kleinen Fenster hinüber. Draußen auf dem Schulhof mühte sich ein Rabe mit einer Pausenbrot-Tüte ab, in der sich noch ein altes angeknabbertes Brötchen befand.

»Hab ich nicht – ich hab sie nur gegooglet!«

Sandy schien endlich zufrieden zu sein und bequemte sich, langsam und gemächlich die restlichen Klamotten - enge Jeansleggings und einen langen schwarzen Ledermantel - anzuziehen.

»Eigentlich hab ich ja nur Emil gesucht.«

Emil! Vicky verdrehte die Augen. Wegen Emil musste sie stundenlang in einem komischen Hexenforum herumhängen und so tun, als sei sie voll der Checker. Zum Glück hatte Sandy ihr ein paar Bücher für Junghexen gegeben, damit sie wenigstens einigermaßen authentisch tun konnte, während ihre Freundin mit diesem Typen im Chat abhing. Kurz nach der Extension-Aktion wurde sie dann auch noch dazu verdammt, Aufpasserin zu spielen, als die beiden sich in einem Café getroffen hatten – auf Emil war sie nicht sehr gut zu sprechen.

»Super – hast es ja geschafft, dass ihr nun auf Facebook befreundet seid.«

Wenn Vicky darüber nachdachte, hatte sie überhaupt keine Lust auf diese ominöse Gothic-Halloween-Party, wo lauter fremde Menschen weiß Gott was von ihr erwarteten.

»Jetzt komm halt mit, Emil hat sich bereit erklärt, uns zu fahren!«

»Hast du ihm gesagt, dass wir erst fünfzehn sind?«

Peng, das musste gesessen haben, denn Sandy machte ein Gesicht, als hätte sie in eine saure Zitrone gebissen. Sie warf die Haare zurück und schlüpfte in die kniehohen Stiefel, auf denen sie neuerdings umherstolzierte wie eine Elfe. Vicky sah beschämt auf ihren gefärbten Faltenrock, die zerrissenen Strumpfhosen (von denen sie drei Paar übereinander gezogen hatte und die dadurch zum Glück wieder cool aussahen) und die gebrauchten schwarzen Militärstiefel hinab. Frech lugten die Fransen der selbstgestickten Schafswollsocken hervor. Klamottentechnisch konnte sie mit der Freundin zwar nicht mithalten, aber wenigstens hatte sie warme Füße!

»Kannst ja gerne zu Hause versauern, wenn du willst. Wetten, du hast noch nicht mal Bescheid gegeben ...?«

Damit hatte Sandy fast den Nagel auf den Kopf getroffen – aber nur fast, denn erwähnt hatte Vicky die Party schon mal beiläufig.

Sie räusperte sich. »Ja, also Papa ...«

»Dein Alter hat ‘ne Neue, der interessiert sich einen Dreck dafür, was du an dem Abend machst«, unterbrach Sandy sie giftig.

Danke für die Retourkutsche, dachte Vicky; jetzt war es an ihr, stinkig zu sein. Sandy hatte es echt geschafft, Salz in die offene Wunde zu streuen. Mama war bei Vickys Geburt gestorben und Papa hatte die letzten Jahre zwar schon einige Freundinnen angeschleppt, aber so schlimm wie mit dieser Bettina war es noch nie gewesen. Mittlerweile ging er ja öfters aus als sie selbst (was nichts zu bedeuten hatte, denn sie durfte ja mit fünfzehn noch nicht so richtig weg, aber es ging ums Prinzip) und benahm sich zudem auch noch äußerst peinlich. Es war das erste Mal, dass sie nicht mehr das Gefühl hatte, die wichtigste Person in seinem Leben zu sein. Zumindest war er bislang bei ihrem Goth-Tick cool geblieben, womöglich war er von dieser neuen Braut auch einfach abgelenkt.

»Hör mal, der ist froh, wenn er diese aufgedonnerte Tussi heute ausführen kann.«

Sandy hatte es endlich geschafft, sich fertig zu stylen, und kam zu ihr hinüber geschwebt.

»Ich leih dir auch das Steampunkkorsett, das braune mit den Uhrenketten, na, haben wir ‘n Deal?«

Zweifelnd sah Vicky sie an und seufzte. Sandy hatte ja recht – um daheim zu sitzen und Trübsal zu blasen, blieb ihr noch genug Zeit.

»Okay, ich komm mit – aber sobald es doof wird, hauen wir ab, ja?«

Sandy fiel ihr um den Hals und freute sich. Schnell zückte sie ihr Handy und machte ein Foto von beiden.

»Das poste ich jetzt«, rief sie überschwänglich, »Party des Jahres, wir kommen!«

 

Den Nachmittag verbrachte Vicky mit Hausaufgaben und Wäschewaschen, während sie darüber nachdachte, wie sie Papa die Party verkaufen konnte. Mitten in ihren Überlegungen rief Tante Lily, Mamas ältere Schwester, an. Vicky mochte sie gern; als Kind war sie in den Ferien oft bei ihr auf dem Land gewesen.

Lily wollte Papa sprechen.

»Heute ist Freitag, Lily, da arbeitet Papa doch bis halb sieben!«, klärte sie sie kichernd auf.

Es passierte öfters, dass Tante Lily die Zeiten durcheinanderbrachte, Papa meinte, es liege daran, dass sie Künstlerin sei, da verliere sie sich manchmal darin.

»Oh ja, stimmt, wieso vergesse ich das nur ständig!«, Lily lachte leise.

»Es ist nur, dass er etwas Wichtiges mit mir besprechen wollte ... kannst du ihm bitte ausrichten, dass ich morgen wieder zu erreichen bin?«

Vicky runzelte die Stirn. Was sollte Papa Wichtiges mit Lily zu besprechen haben?

»Na schließlich ist doch bald Weihnachten, ich wette, er braucht eine Idee«, tönte die tiefe Stimme ihrer Tante aus dem Hörer.

Es war erstaunlich, nicht das erste Mal hatte Vicky das Gefühl, Lily könne einfach ihre Gedanken lesen.

»Hm, ja. O. k., ich richt’s ihm aus, aber Lily – es ist nicht bald Weihnachten!«

»Zeit ist relativ, meine Liebe. Hab noch einen spannenden Abend, was immer du auch vorhast. Küsschen!« Damit knackte es in der Leitung und Lily hatte aufgelegt.

 

Pünktlich um halb sieben hörte sie Papas Schritte im Treppenhaus und eilte ihm entgegen. Er hatte Hackfleisch und Spaghetti mitgebracht, wie schon so oft. Es war Familientradition, dass sie dann gemeinsam kochten - Papa machte die Soße und sie die Nudeln. Dabei unterhielten sie sich meist ganz gut über alles Mögliche. Vicky liebte diese Abende; sie ließen sie vergessen, dass sie zum wiederholten Male das Gleiche aßen, weil ihre finanzielle Situation ihnen keine großen Sprünge erlaubte.

Heute war es jedoch seltsam. Papa bemühte sich, heitere Stimmung zu verbreiten, was bei ihr etliche Alarmglocken läuten ließ. Sie dachte an Lilys Anruf und an Papas neue Freundin, die olle Bettina. Hoffentlich wollte Papa nicht, dass sie einen gemeinsamen Ausflug machten oder sowas.

Sie standen in der engen Küche mit den hässlichen gelben Fliesen und den grünen Einbauschränken, die vom schlechten Geschmack der 1980er Jahre kündeten. Vicky hatte Wasser in den braunen Emailtopf gelassen und ihn auf die größte Kochplatte gestellt. Ja, so eine richtige Kochplatte hatte schon was, dachte sie sarkastisch, nicht wie das neumodische Cerankochfeld-Gedöns, das leicht zu reinigen war.

Sie hatte großzügig Salz hineingegeben und wartete, bis das Wasser kochte – oder bis Papa zu reden anfing.

»Erzähl mir doch etwas über die Gruselparty, die du heute Abend besuchen willst«, sagte er endlich, nachdem er eine ganze Weile stumm die Zwiebeln bearbeitet hatte und diese nun zum angebratenen Hackfleisch gab. Der leckere Geruch stieg ihr in die Nase und sie beobachtete ihn, wie er das Gebratene mit einem Schluck Rotwein ablöschte und passierte Tomaten hinzutat.

Ihr war momentan gar nicht nach Feiern zumute. Ein nostalgischer Abend mit Papa auf der durchgesessenen Couch und einem Malefizspiel wäre eine viel bessere Idee, als sich den Blicken fremder Goth-Jugendlicher auszusetzen, die bald dahinter steigen würden, dass sie ein Fake war.

»Sandy hat ‘n Fahrer für uns organisiert, den Emil«, fing sie zögernd an, »aber ich mag da gar nicht hin. Ich kenn ja niemanden dort.«

Das Wasser blubberte, sie tat die Nudeln hinein, rührte kurz um und ging zum Geschirrschrank, um den Tisch zu decken. Die Tür musste man leicht anheben, damit sie sich öffnen ließ, und an dem glasierten Blümchengeschirr, das vom vielen Gebrauch schon gelblich angelaufen war, hatte sie sich über die Jahre längst sattgesehen.

»Ich weiß, dass Veranstaltungen nicht dein Ding sind, Vicky, aber je öfter du so eine Situation meisterst, desto leichter wird es dir das nächste Mal fallen.«

Er hatte aufgehört, im Topf zu rühren, und die Soße warf kleine Spritzer an die Wand hinter dem Herd. Ein Schwall landete auf der heißen Herdplatte und es roch nach Verbranntem. Schnell zog Papa den Topf zur Seite und griff nach einem feuchten Lappen, während Vicky zum Fenster eilte und es kippte. Sie hatten keine Dunstabzugshaube und die Wohnung konnte tagelang nach Essen riechen. Vier Stockwerke tiefer fuhr die Straßenbahn rumpelnd vorbei; ihr Blick fiel durch die schmutzigen Scheiben auf das gegenüberliegende Bürgerhaus, dessen ehemals prachtvolle Fassade vor Ruß strotzte. Sie seufzte.

»Meinst du nicht, wir könnten einen gemeinsamen Fernsehabend machen? So wie früher? Bei den Simpsons zeigen sie Grusel-Specials!«

»Vicky, Bettina und ich sind auf dem Kostümfest der Tanzschule, das habe ich dir sicher gesagt. Gegen Mitternacht bin ich aber zurück und ich möchte, dass du bis dahin auch daheim bist.«

Na, das ging ja super-schnell mit der Genehmigung, klang ja so, als wollte er, dass sie auch Spaß hatte, während er ...

»Wahrscheinlich werde ich eh den ganzen Abend da sein!«, raunzte sie trotzig.

Sie musste sich anstrengen, das Besteck leise neben die Teller zu platzieren. Diese Bettina ging ihr langsam richtig auf die Nerven! Damit Papa ihre Wuttränen nicht bemerkte, wandte sie sich ab und holte die Holzuntersetzer, um sie auf dem wackeligen Tisch mit der altmodisch karierten Wachstischdecke zu verteilen. Dann stellte Papa vorsichtig die Töpfe darauf.

Die bescheidene Essecke war zwischen Fenster und Küchentür eingepfercht und es war unmöglich, sich gegenüber zu sitzen. Deswegen quetschte Vicky sich auf den Stuhl an der Wand, damit Papa an der Breitseite Platz nehmen konnte.

»Ist dieser Emil zuverlässig?«, fragte er beiläufig und schaffte es, sie abzulenken.

»Glaub schon. Er hat den Führerschein mit ’m B17 gemacht und geht aufs Gymnasium im Abschlussjahr. Seine Eltern haben eine Apotheke.«

Sie hoffte, das reichte Papa als Leumund, zumindest fand sie, es hörte sich solide an. Wenn man Emil nämlich das erste Mal sah, konnte man als Erwachsener leicht in Sorge um seine Kinder verfallen. Nicht nur, dass er ein Nasenpiercing und Ohrringe trug – er hatte auch lange, hellblond gefärbte Haare und machte einen auf Lucius Malfoy, den Vater von Harry Potters Widersacher Draco aus den Buchverfilmungen. So gesehen passten Sandy und er zumindest optisch perfekt zusammen.

Papa verteilte die Spaghetti und grinste sie an.

»Aha, der Sohn eines Apothekers, hm?«

»Ich steh nicht auf ihn!«

Sie griff beherzt nach der Gabel.

»Er holt Sandy vorher ab und kommt anschließend zu uns, Papa, hör auf, so zu gucken!«

Papa gehorchte. Er beschäftigte sich eine Weile mit seinem Essen, bevor er erneut das Wort ergriff.

»Naja, da ist noch etwas anderes, das wir besprechen müssen.«

Vickys Herz machte einen kleinen Sprung. Es konnte sich doch nur um Bettina handeln, oder? Wollte er sie heiraten? Sollten sie zusammenziehen? Oder war sie doch nicht die Richtige und Papa überlegte, sich von ihr trennen?

Er räusperte sich und spannte sie damit auf die Folter, sie vergaß fast, zu atmen.

»Es schaut so aus, als würde das Ende unserer finanziellen Sorgen in Sicht kommen«, fing Papa nervös an.

Er machte eine künstliche Pause.

»Ich habe heute einen lukrativen Job angeboten bekommen.«

Und nach kurzem Zögern sprudelten die Sätze nur so aus ihm hervor.

»Allerdings müsste ich dafür ein paar Monate ins Ausland gehen, um vor Ort eine Entwicklungsabteilung aufzubauen. Ich habe mir überlegt, du könntest in dieser Zeit zu Lily ziehen und dort die Abschlussklasse machen? Ich meine, das Schuljahr hat ja erst angefangen und du bist doch eine Fleißige …«

Weiter kam er nicht, denn Vicky verschluckte sich an einer Nudel und rang zwischen Hustenanfällen nach Luft. Währenddessen liefen ihre Gedanken fast Amok. Papa fort, sie auf dem Land, die coole Clique und Sandy, alles weit weg, andere Leute … und Bettina? Papa machte Anstalten aufzustehen, um ihr auf den Rücken zu klopfen, doch sie schüttelte vehement den Kopf. Ihre Augen tränten.

»Nicht! Nicht …«, würgte sie hervor.

Papa ließ sie in Ruhe und wartete ab, bis sie sich beruhigte.

‚Vielleicht ist das ja auch die Gelegenheit, Bettina loszuwerden?‘, überlegte sie. ‚So unternehmungslustig, wie die war, würde sie doch nicht einmal einen Monat auf Papa warten wollen?‘ Sie unterdrückte alle Gefühle von Angst und Panik, die in ihr aufstiegen, so wie sie es immer machte. Noch war es nicht so weit. Heute Abend musste sie erst die Party überstehen.

»Wo ins Ausland?«, krächzte sie, nachdem der Husten endlich abklang.

Papa seufzte. »Nach Indien. Ich habe aber noch nicht fest zugesagt.«

»…Und Bettina?«, fiel sie ihm ins Wort. Sie hoffte, dass das relativ gleichgültig klang.

»Bettina? Was hat denn Bettina damit zu tun?« Papa sah sie überrascht an.

»Wenn sie nach meiner Rückkehr noch weiter mit mir um die Häuser ziehen will, sage ich gewiss nicht nein. Aber das beeinflusst auf keinen Fall unsere Entscheidung.«

Mit gemischten Gefühlen starrte Vicky auf den fast leeren Teller. Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Papa stand auf und begann den Tisch abzuräumen und das Geschirr in der schmalen Edelstahlspüle zu stapeln; es war eine Kunst für sich, in ihr eine Pfanne zu säubern.

»Das können wir später auch noch besprechen, Vicky – ich glaube, es ist Zeit, dass du dich umziehst.«

Ein Blick auf die mechanische Küchenuhr, und Vicky sprang hektisch auf. Mit einem »Ach – herrje!« verließ sie eilends die Küche. Papas »Ich spüle ab!« hörte sie nicht mehr.

 

3. Party

»Das sieht hier ja voll profan aus!«

Sandy sprach aus, was Vicky dachte, als sie aus Emils altem VW Jetta kletterten. Ein kühler Wind wehte, und schnell zog sie sich den langen, schwarzen Schurmantel mit den Silberknöpfen über – die aktuellste Investition in ihr Image, online im »Alte Legenden Shop« als Sonderangebot erstanden. Sie standen in einem Vorort, der spießiger nicht sein konnte. Schmucke Reihenhäuser mit korrekt zugeschnittenen Hecken säumten die Vorgärten, die von Straßenlaternen blass beleuchtet wurden.

»Habt ihr alle Türknöpfe runtergedrückt?«, fragte Emil, bevor er die Fahrertür mit seinem Autoschlüssel absperrte.

»Eigentlich müsste die Karre doch schon als Oldtimer durchgehen«, kicherte Vicky.

Emil zuckte die Schultern und grinste.

»Wenn ihr mit der S-Bahn gefahren wärt, hättet ihr noch mindestens eine Viertelstunde laufen müssen – und ob ihr das je ohne GPS gefunden hättet, wage ich zu bezweifeln.«

Sandy lachte schrill und hakte sich bei ihm unter.

»Wir sind ja froh, dass du uns chauffierst«, säuselte sie.

Vicky sah zum sternenklaren Himmel. Wenigstens der Mond schien Halloween zu respektieren, denn er leuchtete majestätisch.

Emil steuerte auf ein Eckhaus zu, auf dessen Treppenabsatz ein einsamer geschnitzter Kürbis stand. Irgendwie entsprach die Szenerie nicht den Vorstellungen der Freundinnen. Vielleicht hatten sie auch zu viele amerikanische Teeniesendungen gesehen, in denen die Vorgärten vor Deko-Grabsteinen nur so strotzten und die Eingänge mit Tonnen falscher Spinnennetze gruselige Atmosphäre verbreiteten - aber das hier … Die Realität konnte grausam sein.

Sie mussten dreimal klingeln, bis sich jemand erbarmte, an die Tür zu kommen. »Patrizia«, sagte Emil huldvoll zu dem Mädchen, das ihnen öffnete. Sie ging im Lolita-Look, mit kurzem, rotem Schottenrock und schweren Schnürstiefeln, auf denen silberglänzende Schnallen prangten. Ihre schwarzen Haare waren zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden und dazu trug sie ein dunkles T-Shirt mit dem weißen Aufdruck »Menschenfeind«. Mit vornehmer Zurückhaltung gaben sie sich ein Küsschen rechts und links.

»Darf ich dir meine Gefolgschaft vorstellen? Sandra und Victoria.«

Irritiert nahm sie Emils nasale Aussprache zur Kenntnis. Würdevoll zeigte er mit dem verchromten Knauf seines Spazierstockes auf die Mädchen.

Vicky versuchte sich auf den Lärm und die Menschenmenge im Innern des Hauses zu konzentrieren, um Patrizias kalte, prüfenden Blicken keine Beachtung schenken zu müssen. Sie fühlte sich wie geröntgt und hätte gerne an sich hinabgesehen, um sicherzugehen, ob sie nicht doch nackt war.

Sie überprüfte vor ihrem inneren Auge nochmals ihr Outfit auf eventuelle Anzeichen eines Fakes: Die langen Haare waren offen und sie trug das allgemeine Szenen-Make-up: weißes Puder, dazu dunkel umrandete Augen und stark getuschte Wimpern. Sandy hatte ihr das braune Korsett mit den Uhrenketten geliehen, allerdings mit der Auflage, den Rüschenrock und die passenden Schnürstiefel dazu anzuziehen. Als sie zudem verlangte, dass sie Zylinder und Sonnenschirm mitnahm, hatte Vicky sich geweigert. So dick wollte sie dann doch nicht auftragen.

Nach einer kleinen Ewigkeit schienen beide Mädchen die Prüfung überstanden zu haben, denn Patrizia legte ihnen abwechselnd die Hände auf die Schultern und küsste rechts und links die Luft über ihre Ohren.

»Dein Gefolge sei hier willkommen, Emil, tretet ein«.

Die Goth-Lolita ging ins Wohnzimmer voraus, aus dem in voller Lautstärke »Krabat« von ASP dröhnte. Enttäuscht kräuselte Vicky die Nase. Das alles sah nicht gerade nach einer Horrorparty aus. Die spärliche Gruseldekoration beschränkte sich auf ein paar falsche Spinnweben und einen billigen Plastikschädel, der auf einer Vitrine thronte. Lediglich die Lampe, die in der Ecke stand und aussah, als hätte sie Tentakeln, war gruselig. Vicky stellte sich vor, dass sie in einem unbeobachteten Moment den Nächststehenden festhalten und erwürgen würde. Diese Stehlampe war allerdings bestimmt nicht für diesen Abend angeschafft worden.

»Meine Eltern sind diese Woche auf Geschäftsreise«, erklärte Patrizia. »Ich habe extra mehrmals die Einstellung zur Facebook-Veranstaltung überprüft, damit wir hier keine Party-Crasher haben, das wäre ja der blanke Horror.«

Sie zeigte auf einen langen Tisch, überladen mit Gruselessen. Vicky entdeckte einen Teller Tomaten auf Basilikumblättern, garniert mit zwei in Augenform zugeschnittene Mozzarella-Scheiben, auf denen sich jeweils zwei Trauben mit einem Klecks Kaviar befanden. Dieses Essen starrte sie regelrecht an.

»Bedient euch und fühlt euch wie zu Hause. Ach ja – Trinken steht auf der Terrasse – und kotzt bitte nicht auf den Rasen.« Die Gastgeberin entschwand in Richtung Küche.

Vicky folgte Emil und Sandy nach draußen in den Garten, der wie ein Park anmutete. Das Gras war kurz geschnitten und kein einziges Blatt Laub befand sich darauf. Von der mit Rosen bepflanzten Terrasse aus führte ein geschwungener Kiesweg, der im regelmäßigen Abstand von Solarlampen beleuchtet wurde, zu einem Teich, den in Jutesäcke eingebundene Sträucher säumten. Vicky hätte gerne gewusst, um was für Pflanzen es sich handelte. Zwei rosafarbene Plastik-Flamingos standen im Wasser. Das Bein des einen war angewinkelt und sein Kopf war unter der Wasseroberfläche, während sein Freund ihm stumm zusah. Um das Anwesen herum wuchsen Koniferen, die penibel zu einer grünen Wand geschnitten waren.

Pattys Eltern hatten richtig Asche, dachte Vicky beeindruckt.

»Was trinken die Damen?«, fragte Emil galant.

Neben der Tür waren mehrere Getränkekisten gestapelt, es gab verschiedene Biersorten, aber es war auch Radler und Nichtalkoholisches vorhanden.

»Ich nehme ein Bier«, sagte Sandy wie aus der Pistole geschossen.

Vicky wandte ihren Blick von dem pompösen Garten.

»Bitte ein Mineralwasser …«, begann sie den Satz, doch ihre Freundin sah sie plötzlich so komisch an, dass sie kurzerhand ihre Meinung änderte, »... obwohl – gib mir doch ein Radler.«

Sie seufzte innerlich. Sie hasste Bier. Es schmeckte fürchterlich, überhaupt mochte sie keinen Alkohol. Sie hatte jedes Mal, wenn sie es probierte, den Eindruck, sie würde Gift zu sich nehmen. Aber um nicht komplett daneben zu erscheinen, konnte sie sich ja an der Bierflasche festhalten.

Sie bemerkte, dass Emil eine Flasche Weizen in den Händen hielt.

»Du bist der Fahrer!« rutschte es ihr raus.

Na toll, nun klang sie wie eine Gouvernante.

»Komm, der Abend ist noch jung. Ich hör um elf das Trinken auf, das passt schon!«

Er drehte sich abrupt um und ließ die Mädchen stehen.

»Aber ehrlich, Sandy, das finde ich nicht gut …«, fing Vicky an, doch ihre Freundin machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Jetzt bleib mal locker, komm, wir exen die Flaschen, dann sind wir wenigstens ein bisschen lustig.«

»Wir – was?«

Sandy setzte die Bierflasche an den Mund und trank in großen Schlucken, ohne abzusetzen. Sie bedeutete ihr, das Gleiche zu tun. Vicky verdrehte die Augen und nippte vorsichtig, bevor sie einen Würgereiz verspürte. Tapfer schluckte sie abermals, doch das war ein Fehler, denn ein Teil des Getränkes gelangte über die Luftröhre in ihre Nase und mit einem Schwall fand alles, das sie schluckte, den Weg rückwärts wieder hinaus. Die Freundin sprang zur Seite und kicherte laut.

»Ich glaube, das üben wir noch.«

Vickys Augen tränten, der Alkoholgeschmack auf ihrer Zunge war unerträglich, ihr Gesicht glühte, die Nasenhöhlen brannten und ihr wurde schwindelig.

»So ein Mist.« Sie japste nach Luft.

»Wie war das mit ‚nicht in den Garten kotzen‘?«, witzelte Sandy.

»Ich denke, du lässt das doch lieber mit dem Alkohol, bevor wir uns komplett blamieren.«

»Besser ist es!«

Unauffällig leerte Vicky den restlichen Flascheninhalt in eines der Rosenbeete, während Sandy ihr eine kleine Wasserflasche reichte. Sie spülte die Radler-Flasche aus und füllte diese mit dem Wasser auf. Erleichtert nahm sie einen Schluck, es kam ihr wie pure Medizin vor. »Puh.« Die Terrassentür öffnete sich, und vier schwarzgekleidete Jugendliche betraten den Garten.

»Ist das hier die Raucherecke?«, fragte einer von ihnen, ein Junge mit einem Gehrock, einem Rüschenhemd und hochtoupierten Haaren.

»Nein, die Bar«, lachte Sandy übermütig und leerte die Flasche vollends. Sie nahm sich das nächste Bier und zerrte Vicky zurück ins Haus.

Ungefähr fünf Wasser später wurde Vicky der Party überdrüssig.

Sie befand sich in einer Ecke des stilvollen Wohnzimmers und versuchte unnahbar auszuschauen, während Sandy und Emil sich köstlich amüsierten. Sie standen wie festgewachsen bei der Augapfel-Bowle und schienen die Welt um sich herum vergessen zu haben. Um den Anschein der Beschäftigung vorzutäuschen, besuchte Vicky gefühlte hundert Mal die Toilette. Sie hatte sich mehrmals an der seltsamen Armatur des asymmetrischen Waschbeckens nass gespritzt und war immer noch nicht hinter das Geheimnis des elektrischen Seifenspenders gekommen, der ihr partout nicht gehorchen wollte. Zumindest wusste sie mittlerweile, dass sie keine Klospülung zu betätigen brauchte, denn sobald sie aufstand, spülte das Wasser wie von Geisterhand das benutzte Becken. Auch durfte sie feststellen, dass sich hinter dem Spiegel ein Wandschrank befand, der Toilettenpapier und Gästehandtücher beherbergte. Mit gemischten Gefühlen beobachtete sie ihre beste Freundin und ihren Fahrer. Was würde mit ihr passieren, wenn aus den beiden ein Paar wurde? Wäre sie dann abgeschrieben?

Langsam füllte sich das Haus mit Gästen, Vicky holte sich erneut eine Flasche Wasser und musste sich den Weg durch die Jugendlichen bahnen. Sie fühlte sich wie in einer modernen Verfilmung von »Tanz der Vampire«. Einige hatten sich die Gesichter weiß angemalt und UV-aktive Kontaktlinsen eingesetzt, eine schockte mit einer durchschnittenen Kehle, bei der man die Speiseröhre sehen konnte, viele verkleideten sich als viktorianische Blutsauger. Sie versuchte sich einzureden, dass sie alle im Grunde normale Jugendliche waren, mit denselben Interessen wie alle Heranwachsenden: Musik, Klamotten und das andere Geschlecht, nur teilten sie allesamt noch die Vorliebe für das Morbide – und heute Abend wohl für Alkohol. Aber die Party war schlicht und ergreifend nicht Vickys Ding. Sie hatte versucht zu essen, aber das Korsett bot nicht wirklich viel Platz für ein Festmahl. Es schnürte ihr so die Luft ab, dass sie nicht einmal bequem sitzen konnte. Je ausgelassener das Fest wurde, desto mehr zog Vicky sich innerlich zurück. Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es erst kurz nach zehn war. Über anderthalb Stunden, bis sie zu Hause sein musste. Wie sollte sie das nur so lange aushalten?

»Bist du Tabita16?«

Fast wäre sie vor Schreck umgefallen. Ungläubig drehte sie ihren Kopf nach rechts – jemand sprach sie an! Ein rothaariges Mädchen in einem schwarzen Minikleid mit zerrissenen Strumpfhosen stand vor ihr.

»Entschuldige, wenn ich dich aus einer anderen Sphäre geholt habe. Ich bin Bluemoon94. Wir kennen uns aus dem Hexenforum.«

Ach du Schreck, das Forum! Das war Sandys Idee gewesen. Sie hatten sich als erfahrene Junghexen ausgegeben und für jedes Zipperlein der Forenmitglieder leicht modifizierte Rezepte aus ihren Zauberspruchbüchern gepostet. Hoffentlich kam Bluemoon94 jetzt nicht auf die Idee, dass sie auf die Schnelle einen Zauberspruch gegen Warzen oder Schluckauf brauchte. Um nicht unhöflich zu erscheinen, räusperte sie sich.

»Ach - woran hast du mich erkannt?«, sie versuchte zu lächeln.

»Emil sagte etwas – und außerdem bist du die Einzige hier, die so nach innen gekehrt wirkt. Du befindest dich sicherlich in regem Austausch mit deinem Schutzgeist?«

Vicky starrte sie ausdrucklos an. Was faselte das Mädchen da von Sphären und Geistern? Das war gewiss Sandy, die mal wieder an ihrem Image schraubte, ohne sie darüber zu informieren. Sie würde nachher ein ernstes Wörtchen mit ihr reden müssen.

»Nenn mich Vicky«, sagte sie stattdessen.

Die Andere lächelte schüchtern.

»Ich bin Dani. Danke im Übrigen für deinen Rat, wie man unerwünschte Ex-Freunde los wird. Er ist weggezogen!«

Bevor Vicky sich das Hirn zermartern konnte, was sie denn da ins Forum geschrieben hatte, beugte sich Dani verschwörerisch zu ihr hinüber.

»Wir machen gleich in Pattys Zimmer eine Séance. Es wäre uns eine Ehre, wenn du dabei wärst.«

»Oh. Wie nett.«

Mehr fiel Vicky dazu nicht ein. Sie musste plötzlich dringendst aufs Klo. Dani blieb stehen und sah sie abwartend an.

»Ähm – etwa jetzt?! Ich sollte aber vorher noch für kleine Prinzessinnen.«

»O. k., ich warte draußen. Du weißt sicher nicht, wo Pattys Zimmer ist.«

Sie wurde von Dani in das Treppenhaus eskortiert.

»Ist recht … äh, bis nachher.«

Eilig schloss Vicky die Toilettentür und drehte zwei Mal den Schlüssel um.

‚Danke, Sandy‘, dachte sie grimmig und kramte ihr Smartphone aus dem Umhängebeutel. Wenn sie das Internet jemals nötig hatte, dann jetzt. Hastig gab sie in das Google-Suchfeld ihres Browsers »Séance« ein. Das erste Suchergebnis war von Wikipedia.

»…Eine Séance (frz. Sitzung) ist eine spiritistische Sitzung einer Gruppe mehrerer Personen, um unter Anleitung oder Nutzung eines ‚Mediums« mit einer behaupteten Welt der Toten und des Übernatürlichen (z. B. Geister oder Dämonen) in Kontakt zu treten, um ‚Nachrichten‘ aus dem Jenseits zu empfangen oder mit Verstorbenen kommunizieren zu können …«

Beinahe ließ Vicky das Handy fallen.

»Na, das kann ja heiter werden«, murmelte sie.

4. Die Séance

 Pattys »Räumlichkeiten« lagen im oberen Stockwerk und es roch im Treppenhaus penetrant nach Räucherstäbchen. Als die Mädchen leise den Raum betraten und die Tür hinter sich zuzogen, fiel Vicky als Erstes der riesige runde Tisch auf, der den Mittelpunkt des Zimmers bildete und in dessen Mitte als einzige Lichtquelle eine Kirchenkerze brannte. Um ihn herum waren Stühle aufgestellt, die so dicht zusammenstanden, dass sich die Lehnen fast berührten. Der Raum selbst war so ausladend, dass Vickys ganze Wohnung darin Platz gefunden hätte. Die Fenster waren mit schwarzem Organza behängt, auf dem Glitzersteinchen wie Glühwürmchen funkelten. In einer Nische stand Patrizias Himmelbett im viktorianischen Stil und die Wände waren in einer Art Fliederfarben gestrichen. Nebelschwaden, die nach Moschus rochen, waberten wie Geister durch den Raum und ließen den schwarzen Drachenkronleuchter, der vor dem dunklen Spiegelschrank baumelte, wie ein lebendiges Fabeltier aussehen.

Der Geruch, gepaart mit der mega-esoterischen Synthesizermusik, verursachte ihr Übelkeit.

Die anderen Teilnehmer der spirituellen Sitzung standen in kleinen Grüppchen zusammen und unterhielten sich flüsternd. Vicky erkannte den Jungen von der Terrasse und Patrizia - Patty, die Gastgeberin. Sandy war ebenfalls anwesend und winkte ihr überschwänglich zu. Vicky schnitt ihr eine Grimasse.

Wo war Emil?

»Ach, da seid ihr ja«, sagte Patty erfreut, als sie die Ankömmlinge bemerkte.

»Da wir endlich vollzählig sind, können wir ja beginnen. Vicky hat sich freundlicherweise dazu bereit erklärt, in unserer heutigen Sitzung als Medium zu agieren. Setzt euch bitte.«

Sie hatte – was?

Sandy zwinkerte ihr zu und sie eilte zu ihr hinüber.

»Du Biest, das zahle ich dir heim!«, zischte sie der Freundin zu. »Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll!«

Der Geräuschpegel stieg etwas, bis alle an ihrem Platz waren; die Stühle quietschten beim Zurechtrücken auf dem Parkettboden. Vicky setzte sich links neben Sandy, mit dem Rücken zum Fenster und dem Gesicht zur Zimmertür. Sie hatte ein komisches Gefühl in der Magengegend.

»Ihr spreizt alle die Hände und berührt mit dem kleinen Finger den Finger eures Nachbarn. Die Daumen legt ihr ebenfalls aneinander. Es wird ein Kreis entstehen, der unter keinen Umständen gelöst werden darf, bis die Sitzung vorbei ist, habt ihr alle verstanden?«

Patty sah sie nacheinander mit Nachdruck an.

»Wenn ich sage ‚Rufe deinen Schutzgeist‘, wird das Medium in Kontakt mit der anderen Sphäre treten. Sobald die Verbindung hergestellt ist, wird das Medium das mit einem Nicken bestätigen. Danach werde ich zuerst fragen, ob eine Wesenheit anwesend ist, und erst dann seid ihr reihum dran. Jeder hat nur eine Frage. Soweit alles klar?«

Vicky schluckte. Keine Ahnung, wie sie das gleich anstellen sollte. Einfach die Augen schließen, würdevoll ausschauen und nach einer Weile huldvoll nicken? Das würde ja ein totaler Reinfall werden, wenn herauskam, dass sie das unmagischste Wesen der Welt war. Sie wünschte sich heim, in ihre Wohnung zu Papa und einem Malefiz-Spiel.

Als sie ihre Hände vor sich spreizte, um der Anweisung zu folgen, fühlte sie eine zaghafte Berührung an ihrem linken kleinen Finger. Mussten die Daumen übereinander liegen, oder reichte es, wenn sie aneinander lagen? Sie sah auf und bemerkte den Jungen von der Terrasse neben sich, der ihr zuzulächeln schien. Sandy kicherte nervös, als sie Vicky ihre gespreizte Hand zustreckte.

»Seid ihr so weit?«

Zustimmendes Gemurmel. Patty holte tief Luft und sprach anschließend mit veränderter Stimme in einem Sing-Sang:

»Wir haben uns hier versammelt, wie es Tradition ist, um in der Nacht der Nächte die Geister nach der Zukunft zu befragen.«

Während ihrer kunstvollen Pause erschien Vicky die seltsame Hintergrund-Musik unnatürlich laut.

»Wir bitten die Wesen, uns wohlgesonnen zu sein, denn wir sind die wenigen, die noch an eure Existenz glauben. In unserer Mitte befindet sich eine Weltenwanderin, die euch bestens bekannt ist. Sie sei Garant dafür, dass wir nichts Böses im Sinn haben. So bitten wir dich, Medium, rufe deinen Schutzgeist!«

Vicky machte ein ernstes Gesicht und schloss die Augen. Gleich würde sie sich bis auf die Knochen blamieren. Das war vermutlich die erste und die letzte Goth-Party, die sie je besuchen würde – sie musste nur schauen, wie sie heil aus der Nummer herauskam. Konnten Schutzgeister Migräne haben? Wäre das eine gute Ausrede? Die Rauchschwaden zogen in ihre Nase und verursachten einen Hustenreiz, die Nebenhöhlen fingen an zu brennen und sie bekam leichte Kopfschmerzen. Sie versuchte flach zu atmen, da die Korsage ihr die Luft abklemmte; sie spürte förmlich die Ungeduld der Anwesenden.

‚Ich werde bis zwanzig zählen‘, dachte sie verzweifelt, ‚und wenn ich nicke und nichts passiert, sage ich einfach, dass Ungläubige in unserem Kreis sind. Sandy zum Beispiel, das hat sie dann davon.‘

Hörte sich nach einem Plan an. Vicky wurde ruhig und konzentrierte sich auf ihren Herzschlag. Wirre Bilder von dicklichen geflügelten Babys mit Pfeil und Bogen, die auf einen Mann schossen, der auf einer Hängebrücke stand, zogen durch ihre Gedanken. Der Mann hatte schützend die Arme über den Kopf gehoben, in seinem Blick lag ein stummes Flehen. ‚… Neunzehn, zwanzig … Schutzgeist!‘ Sie senkte und hob langsam den Kopf und öffnete die Augen. Alle machten recht angespannte Gesichter.

Patty räusperte sich.

»Ist hier ein Geist anwesend?«, rief sie leise.

Ihre Stimme klang plötzlich dünn. Es lag ein Knistern in der Luft. Sie sahen sich alle stumm und ängstlich an. Vicky bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Sandys Hände zitterten. Die sphärische Musik schwoll zu einem unerträglichen Jaulen an - aber es geschah nichts. Die Luft war so dick, dass man sie beinahe schneiden konnte. Nach einer Weile rief Patty mit lauter Stimme:

»Wenn hier ein Geist anwesend ist, möge er sich zu erkennen geben!«

Dann passierte alles wie im Zeitraffer. Erst flackerte die Kerze und ging mit einem Zischen aus. Etwas krachte laut an das Fenster, vor dem Vicky und Sandra saßen, und es schwang nach innen auf. Gleichzeitig öffnete sich die Zimmertür – bei alledem fühlte Vicky jedoch keinen einzigen Windstoß.

»Haltet den Kreis«, hörte sie Patty rufen, doch mehrere Anwesende sprangen mit lautem Kreischen auf und rannten aus dem Zimmer, unter ihnen Sandy. Vicky erkannte im Spiegel einen Schatten und sie blickte wie hypnotisiert in die entgegengesetzte Ecke, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Der Schatten kam ihr bekannt vor. Er stand einfach da, in einen dunklen Umhang gehüllt, und sah sie unverwandt an. Seine Augen funkelten wie Diamanten, und das Gesicht war alterslos und schön wie das eines Engels. Plötzlich war sie sich sicher, dass er unter den Falten seines Überwurfs eine leere Kugel barg. Sie fühlte sich gefangen in seinem Blick, ihr Herz wurde eiskalt. Tausende von Ameisen krabbelten auf ihr herum und verursachten eine Gänsehaut. Sie atmete schwer und riss sich schließlich von seinem Anblick los. »Geh«, krächzte sie leise. »verschwinde – lass mich in Ruhe!« Die Gestalt schien ihr zuzunicken und verschwand langsam im Nichts. Es dauerte eine kleine Weile, bis sich ihre Lähmung löste. Sie sprang auf und rannte hinaus, so schnell es ihr in dem langen Rock möglich war, den anderen hinterher. Sie konnte nicht einmal schreien.

Im Wohnzimmer herrschte ein ziemlicher Tumult. Alle redeten aufgeregt durcheinander. Vicky suchte den Raum nach Emil und ihrer Freundin ab. Sie wollte sofort nach Hause. Einige Gäste warfen ihr seltsame Blicke zu und traten ein paar Schritte zurück, andere wiederum verstummten im Gespräch und starrten sie unverhohlen an. Sandy und Emil standen bei der Augenbowle - wie wenn sie sich den ganzen Abend nicht vom Fleck bewegt hätten, allerdings hielt Sandy ein kleines Fläschchen »Feigling« in der rechten Hand. Damit niemand merkte, wie aufgewühlt sie war, ging Vicky rasch, aber jede Hektik vermeidend, auf die beiden zu.

»Lasst uns nach Hause fahren, es ist bereits nach Mitternacht - bitte.« Ihre Stimme zitterte.

Sandy musterte sie eingehend und hielt ihr den Feigenschnaps hin.

»Magst du auch was? Du bist echt bleich um die Nase.«

Sie schüttelte verneinend den Kopf und sah Emil verzweifelt an.

»Bitte!«

Emil seufzte und stellte sein Weizenglas auf die Seite.

»Okay, lasst uns fahren.«

Sie bahnten sich einen Weg Richtung Haustüre und Vicky erkannte an einigen Gesprächsfetzen, dass die Vorkommnisse der Séance sich wie ein Lauffeuer verbreiteten.

»... Ja, Tabita16, die aus dem Hexenforum, das muss echt gruselig gewesen sein, schau doch, die sind alle total fertig mit den Nerven ...«

Emil warf ihren Mantel um sie und Sandy lotste sie aus dem Haus. Die frische Luft tat gut, doch der Mond schien mittlerweile bedrohlich vom Himmel. Zitternd nahm Vicky auf dem Rücksitz Platz und schloss die Augen. Bloß nichts mehr sehen und hören, nur noch rasch heim. Der Wagen startete und fuhr ruckelnd an, Sandy kicherte leise.

»Das war echt der Hammer, ich frage mich, wie Patrizia das gemacht hat - voll die Grusel-Effects! Was meinst du, Vicky, echt krass, was?«

Vicky lehnte ihren heißen Kopf an die kühle Scheibe und überlegte. Sie wusste, das waren keine Tricks, die irgendjemand angewandt hatte. Sie kannte den schwarzen Mann, sie zermarterte sich das Hirn, von woher ...

»Na dann kann ich Patrizia ja nur gratulieren, bislang sind ihre Geisterbeschwörungen alle etwas öde gewesen«, hörte sie Emils Stimme, die leicht amüsiert klang.

»Ich hoffe, sie hat euch nicht zu arg erschreckt ...?«

Vicky öffnete die Augen und begegnete Sandys Blick.

»Süße, alles o. k.?«, raunte ihre Freundin leise.

Aus den Augenwinkeln bemerkte sie einen Schatten, wie von einem Menschen, am Straßenrand.

Plötzlich gab es einen dumpfen Knall und die rechte Seite des Autos hob und senkte sich, als ob sie über ein Hindernis fuhren - es fühlte sich seltsam »weich« an. Emil machte eine Vollbremsung und brachte den alten Jetta quietschend zum Stehen. Vicky wurde nach vorne geschleudert, wo sie sich die Stirn an der Fahrerkopfstütze stieß, und dann zurück nach hinten. Ihr Hinterkopf prallte auf etwas Hartes.

»Spinnst DUUUUU?«, hörte sie Sandy kreischen und gleich darauf:

»Oh Gott, oh Gott, du hast sie überfahren!«

Vicky presste fest die Augen zusammen. Es passierte nicht wirklich, sie war in ihrem Bett und träumte nur, oder? Alles war ein schlechter Traum.

An den Geräuschen erkannte sie, dass Emil und Sandy das Auto verließen und die Straße zurück eilten. Sie wollte sich ebenfalls abschnallen, um nachzusehen, was geschehen war, als sie die dunkle Gestalt am Straßengraben bemerkte.

Der schwarze Mann! Er hielt eine Kugel in der linken Hand, gefüllt mit einer grünlich leuchtenden Essenz, sah einen langen Moment in ihre Richtung und verschwand dann in der Dunkelheit.

Emil und Sandy kamen zurück.

»Platt wie eine Flunder«, sagte Emil, »so ein Mist, ich habe das erste Mal in meinem Leben ein Tier getötet.«

Alle Coolness war aus seiner Stimme verschwunden.

Sandy weinte leise.

»Die arme Katze, herrje wie schrecklich, ach das Blut aus ihrer Nase, die arme Katze ...«

Bevor Victoria etwas sagen konnte, klingelte ihr Handy. Es war Papa.

»Seid ihr alle o. k., Vicky? Auf der Schnellstraße direkt nach eurer Auffahrt gab es einen großen Unfall, jetzt gerade eben, oh bin ich froh, dass du ans Telefon gehst ...«

»Uns geht es gut, Papa, wir sind ungefähr fünf Minuten von der Auffahrt entfernt, wir sind später dran, ... weil wir ... Papa, wir haben eine Katze überfahren ...«

Tränen schossen ihr in die Augen.

»Vicky, gib mir bitte Emil, ich erkläre ihm einen anderen Weg in die Stadt.«

Sie reichte das Telefon an Emil weiter. Sie fror.

»Mein Vater - es gab einen Unfall auf der Schnellstraße.«

Vicky schlang den Mantel um sich und wollte nicht darüber nachdenken, was passiert wäre, hätten sie die Katze nicht überfahren. Sandy schniefte und auch ihr liefen die Tränen über die Wangen. Es war einfach alles zu viel.

Weihnachten

5. Lily

 

»Schau, die Berge«, sagte Papa lächelnd. Direkt vor ihnen tauchte gleichsam einer Fata Morgana eine Gebirgskette am Horizont auf. Um den Eindruck der Unwirklichkeit zu verstärken, riss die Wolkendecke in der Ferne auf und die Sonne ließ die verschneiten Bergkämme wie von Gold überzogen erscheinen. Vicky fühlte ein wenig Frieden in sich aufsteigen.

»Deine Mama ...«, fing Papa an.

»Ja, ich weiß. Sie liebte sie.«

Eine seltsame Melancholie überkam sie, als sie sich vorzustellen versuchte, wie ihr Leben wäre, wenn Mama noch lebte. Gemeinsam würden sie zu Mamas Schwester fahren, um dort die Feiertage zu verbringen. Sie stellte sich vor, wie Mama auf der Fahrt Anekdoten aus ihrer Kindheit erzählte und sie zum Lachen brachte. Papa sagte, sie habe dasselbe Lachen wie Mama. Vor allem würden sie im neuen Jahr alle nach Hause zurückkehren, und sie müsste nicht bei ihrer Tante bleiben, weil Papa ins Ausland ging. Ob Mama im Himmel war und auf sie herabsah, wie Papa ihr das als Kind immer erzählt hatte? Oder war sie einfach nicht mehr da? Nach einer Weile verließen sie die Autobahn und es dauerte nicht lange, bis sie das kleine Dorf erreichten und die steile, schneebedeckte Straße, die zu Lilys Haus führte, hinaufrutschten. Sie schien Papas Fahrkünste herauszufordern und Vicky ertappte sich dabei, wie sie sich krampfhaft am Türgriff festhielt. Endlich fuhren sie in die Auffahrt und sie atmete erleichtert auf.

»Entschuldige, mein Schatz, aber mir fehlt die Schneeerfahrung.« Papa lächelte hilflos.

»Alles gut, Papa.« Beherzt sprang sie aus dem Wagen und öffnete den Kofferraumdeckel.

Lilys Haus umgab eine ganz eigentümliche Atmosphäre. Es war ein typisches Haus im alpenländischen Stil, mit Balkonen, die jede Hausseite einnahmen, einer Terrasse im Erdgeschoss und einem kleinen Garten. Trotz der behaglichen Ausstrahlung hatte es auch gleichzeitig etwas Unwirkliches an sich. Als Kind hatte Vicky sich immer eingebildet, wenn sie nur schnell genug die Einfahrt hinaufstürmte, könnte sie das Haus dabei erwischen, wie es sich aus dem Nichts materialisierte. Einmal hatte sie auch geträumt, es wäre ein Raumschiff, mit dem sie fremde Planeten bereiste.

Es war das vorletzte am Dorfrand und stand an einer kleinen Kreuzung, die nicht wirklich als solche zu erkennen war, denn die unauffällige Straße, die am Feld abbog, endete in einer Sackgasse und das Straßenschild war leicht zu übersehen. Die schmale, steile Zubringerstraße, auf der sie hinaufgerutscht waren, führte weiter zu einem weitläufigen Waldgebiet, das von einem Bach durchzogen wurde. Bei schönem Wetter konnte man zwischen den gegenüberliegenden Nachbarhäusern die Berge sehen; jetzt allerdings konnte Vicky vor lauter Schneeflocken nicht mal mehr die Einfahrt richtig erkennen.

Der Kofferraum war gerammelt voll mit Gepäckstücken. Papa musste Meister im Tetris spielen sein, dachte sie erstaunt, denn außer ihren eigenen Koffern hatte er es auch noch geschafft, sein eigenes Gepäck für Indien einzuladen.

»Das nenn ich ja mal Schnee, was?«

Papa stieg aus und formte sogleich einen Schneeball, den er lachend in ihre Richtung warf.

»Maaaartiiiin! Schön, dass ihr da seid!«, hörte Vicky Tante Lily, bevor sie sie überhaupt sah. Sie konnte sich bildhaft vorstellen, wie sie auf Papa zugeflogen kam, um ihm um den Hals zu fallen, denn sie war berüchtigt für ihre überschwängliche Art.

»Und, wo ist ... Vicky, ach, da bist du ja!«

Sie hatte keine Chance, etwas auszuladen, Lily drückte sie an sich und allzu gerne ließ sie sich in die Umarmung sinken, um den bekannten Geruch, eine Mischung aus Parfüm und Weihrauch, einzuatmen.

Bei Lily zu sein bedeutete einfach irgendwie heimkommen, wie hatte sie auf der ganzen Fahrt denken können, es sei schrecklich, so lange Zeit hier zu bleiben?

Als Lily sie losließ, bemerkte sie, dass sie mittlerweile gleich groß waren. Letzten Sommer war sie ihr noch bis ans Kinn gegangen. Amüsiert sah die Tante sie an, auf das obligatorische »Bist du aber gewachsen« wartete Vicky allerdings vergebens.

Stattdessen warf Lily ihren langen schwarzen Zopf unternehmungslustig nach hinten, bevor sie beherzt nach einer der Taschen griff. Ihre schlanken Beine steckten in Winterreitstiefeln und sie hatte einen schwarzen Anorak übergezogen. Überhaupt ging Lily immer in Schwarz, zumindest hatte Vicky sie noch nie in einer anderen Farbe gesehen. Die einzige Ausnahme war ihr Brillengestell, das rote Bügel hatte. Wahrscheinlich trug sie Schwarz seit dem Tod ihrer Schwester und hatte sich einfach dran gewöhnt. Das konnte Vicky sich als Erklärung gut vorstellen; Lily war immens praktisch veranlagt, und wenn sich etwas bewährt hatte, blieb sie meistens dabei. Das erklärte vielleicht auch, warum sie nie Make-up trug und der dicke Kajalstrich ihre einzige Schminke war. Vielleicht hatte Vicky den Unwillen gegen das Gesicht-Anmalen von ihr?

Mittlerweile hatte Lily die zweite Tasche aus dem Kofferraum gehievt und zog beide fröhlich mit den Worten »Ich dachte schon, ich muss alleine in der Küche stehen« hinter sich her. Vicky beeilte sich, ihr mit dem nächsten Schwung Koffer zu folgen, während Papa die Sachen vom Rücksitz nahm.

»Kannst den Kofferraum offen lassen, hier klaut keiner was!«, rief Lily ihnen von der Hausecke zu.

»Mir scheint, sie hat Augen am Hinterkopf«, sagte Papa grinsend. »Pass nur auf, Vicky, ihr entgeht nichts.«

»Weiß ich doch, Papa - und Gedanken lesen kann sie auch noch. Ich hab noch nie ‘n Streich bei ihr durchgebracht, aber aus dem Alter bin ich ja raus.«

Ein eisiger Wind pfiff am Hauseck und die letzten Schritte zur Haustür brachte sie fast im Galopp hinter sich.

Drinnen war es behaglich warm und Vicky stellte die Koffer auf dem weiß-schwarz gekachelten Fliesenboden des Hausganges ab. Neugierig sah sie an den blauen Wänden mit der handbreiten Spiegelsplitterbordüre nach oben, um herauszufinden, ob Lily wieder ein neues Bild aufgehängt hatte. Papa quetschte sich mit seinen Taschen an ihr vorbei, während ihre Augen forschend die Werke der Tante musterten. Da – ein Lebkuchenhaus aus Acryl, wie bei Hänsel und Gretel, zwischen dem Ölgemälde mit den Mohnblumen im Kornfeld und dem Aquarell einer Birke.

Und der Kronleuchter, der war doch auch neu, oder? Hing da nicht mal ein Lüster aus Hirschgeweih? Sie ging an der Tür, die zu Lilys Büro führte, vorbei und stieg einige Stufen der knarrigen Holztreppe hinauf, um die neue Lampe in Augenschein zu nehmen. Sie war im Stil der 1920er Jahre und warf bunte Sprenkel an die Wände. Hinten rechts, wo es in die Küche und das angrenzende Wohnzimmer ging, sah das Muster aus wie ein fünfzackiger Stern.

»Witzig«, sagte Vicky zu sich selbst und ging wieder hinunter. Papa musste das Auto komplett ausgeladen haben, denn die Haustür war nun geschlossen und die drei Damen, die auf deren Glasscheibe unter einem Holzkreuz neben einem Schiffsanker verewigt waren, sahen sie freundlich an. Schnell hängte Vicky ihre Jacke an die Garderobe und freute sich auf die Stube.

 

Im Wohnzimmer brannte fröhlich ein Feuer im offenen Kamin und der Tisch war mit Teegeschirr eingedeckt. Lilys seltsamer elektrischer Wasserkocher in Kesselform pfiff und die Tante schaltete ihn aus. Vicky wunderte sich zum wiederholten Mal, wie sie immer wusste, wann sie ankommen würden. Lily zwinkerte ihr zu, als ob sie ihre Gedanken lesen konnte.

»Martin hat mir Bescheid gegeben, bevor ihr losgefahren seid, und etwas rechnen kann ich auch«, sie zeigte auf den gemütlichen Ohrensessel vor dem Feuer.

»Setz dich doch, Schatz.«

Dankbar kam sie der Aufforderung nach. Ihr Blick wanderte durch das Wohnzimmer, das von einer Bücherwand dominiert wurde. Rechts an der Wand neben dem Kamin war auf Brusthöhe ein Brett angebracht, auf dem eine neue Marienstatue thronte. Schnell stand sie wieder auf, um sie genauer zu betrachten. Es war eine der Darstellungen Marias ohne Christuskind, die Arme waren einladend zu einer Umarmung geöffnet und das makellose Gesicht hatte einen milden Ausdruck. Das Gewand selbst war tiefblau und am Saum mit goldenen Sternen versehen. Neben der Statue hatte Lily blaue Kerzen und eine Vase mit roten Rosen aufgestellt; vor ihr befand sich ein Weihrauchgefäß aus Messing. Anhand der Asche, die sie durch das Gitter sah, wusste sie, dass es rege in Gebrauch war.

»Ist sie nicht wunderbar?« Lily war hinter sie getreten und lächelte. »Das ist die Darstellung der Maria als Stella Maris - Stern des Meeres. Sieht sie nicht aus wie die Venus selbst?« Vicky musste zugeben, dass die Statue tatsächlich wie eine antike Göttin aussah. Andächtig standen beide vor dem Altar und sie spürte eine stille Verbundenheit zu ihrer Tante. Sie schloss die Augen und genoss einfach den Augenblick. Bilder von Mama und Lily aus Kindertagen tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Sie waren an einem Apfelbaum, Mama war bereits zwischen den Ästen verschwunden, während Lily noch zweifelnd davor stand und von oben mit unreifen Äpfeln beworfen wurde. Helles Kinderlachen drang an ihr Ohr. Die Sonne schien und es war einer der unwirklichen Tage, an denen man meinte, die Welt stünde still.

»Sie konnte ganz schön biestig sein, ich hatte eine Beule am Kopf, das tat echt weh.« Erstaunt blickte Vicky auf, doch Papa betrat im selben Augenblick das Wohnzimmer und zerriss das Band.

»Wo ist denn jetzt der Weihnachtsbaum?«, fragte er unternehmungslustig und rieb sich die Hände.

»Na, auf der Terrasse, wo sonst?«, Tante Lily lachte Vicky an.

»Komm, wir holen derweil den Christbaumschmuck!«

 

 

6. Bescherung

»Fertig!«, Lily trat einen Schritt vom Baum zurück und schien sichtlich zufrieden. Vicky kräuselte amüsiert die Lippen und sah auf vier große Papiertaschen, die die leeren Verpackungen von Weihnachtskugeln, Glashennen, Fliegenpilzen und Filzheinzelmännchen beherbergten. Dieses Jahr wollte Lily einen weiß-rot geschmückten Baum und war glücklich darüber, ein Dutzend Zuckerstangen aus Glas günstig erstanden zu haben. Diese hingen sorgsam verteilt zwischen den anderen Kuriositäten. Der Baum sah gar nicht traditionell aus. Prüfend trat Vicky einen Schritt zurück und bemühte sich um einen kritischen Gesichtsausdruck. »Meinst du nicht, dass die Pfauen zu weit unten sind?« Ihre Tante sah zuerst auf das Pfauenpaar, das unmittelbar unterhalb der weißen Christbaumspitze miteinander turtelte, danach zu ihr. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht »Ja, ja, nimm mich nur auf den Arm. Er ist perfekt. Hol doch bitte deinen Vater zum Christbaumloben!« Sie bückte sich und räumte das herumliegende Seidenpapier auf, während Vicky ihren Kopf in den Flur steckte und laut »Christbaaaum loooobeeen« rief.

Vicky fand »Christbaumloben« eine lustige regionale Eigenart. Man versammelte sich dazu mit einem Glas Hochprozentigem vor dem Baum und sagte voller Überzeugung: »Was für ein schöner Christbaum!« Auch wenn er in manchen Jahren so dürr ausgefallen war, dass alle Bemühungen, ihn mit Schmuck aufzuhübschen, scheiterten. Lily war eines Tages auf die Idee gekommen, dass es an den Fichten im Allgemeinen liegen musste, und schwur seither auf den klassischen Nordmann. Seitdem war er wenigstens buschig, wenn oft auch nicht gerade gewachsen.

»Würdest du bitte kurz die Lichter am Baum anmachen? Ich schenk‘ uns derweil was ein. Was magst du denn? Ich hab dieses Jahr allerdings keinen Kindersekt für dich eingekauft.«

Lily eilte in die Küche, während Vicky unter den Baum kroch, um die zwei Lichterketten in die Buchse des Verlängerungskabels zu stecken.

»Hast du was Süßes?«

»So was wie Kaffee Creme?«

Als sie wieder auftauchte, stand Papa bereits vor ihr.

»Uiii, was für ein schööööner Baum!«

Er strahlte über das ganze Gesicht.

»Ich komme ja«, rief Tante Lily und brachte jedem ein kristallenes Likörgläschen mit einer hellbraunen Flüssigkeit mit. Sie prosteten einander zu und riefen anschließend wie aus einem Munde: »Mei - was für ein schöööner Christbaum!«

Der Likör war wie erwartet süß und brannte zum Glück erst, als er bereits hinuntergeschluckt war. Er schmeckte nach stark gesüßtem Kaffee mit Sahne.

»So, weiter geht’s«, Lily war abermals in Richtung Küche unterwegs.

»Würdest du bitte die Tüten in den Keller schaffen, Vicky? Und Martin – hier ist das Sauerkraut und die Rippchen. Ich fang derweil schon mal mit der Soße an.«

»Ja, Tante Lily.«

Vicky tat wie geheißen und warf einen Blick auf Papa, der hilflos die Schultern zuckte und dabei grinste.

»Ja, Frau Feldwebel! Zu Befehl, Frau Feldwebel!«

 

Als sie später in die Küche kam, sah sie die beiden einvernehmlich nebeneinander am Herd stehen, sich angeregt unterhaltend. Papa lachte zwischendrin kurz auf und schien Lily mit etwas aufzuziehen. Diese knuffte ihn als Revanche in den Oberarm, während er in Deckung ging und laut »Au, au, au«, rief. Sandy hatte nie verstanden, warum sie so gerne die Feiertage bei ihrer Tante verbrachte, die Erfahrungen der Freundin in Bezug auf Besuche bei Verwandten waren durchweg negativ behaftet. Von geheucheltem Frieden, der dann spätestens nach übermäßigem Alkoholkonsum die Flucht ergriff, um Streit und Zank das Feld zu überlassen, war die Rede. Von Leuten, die das Jahr über nicht miteinander sprachen und die für die Dauer der Feiertage gezwungen waren, eine Familientradition aufrechtzuerhalten, die eine Farce war und von der niemand wusste, warum man sie überhaupt noch pflegte. Vicky war froh, dass es bei ihnen anders war; im Nachhinein konnte sie nicht mehr verstehen, wieso sie sich so geziert hatte, dieses Jahr mit herzufahren.

»Ich habe keinen Nerv für Verehrer, Martin, das ist schlichtweg Zeitverschwendung, du kennst doch meine Meinung.«

Vicky neigte den Kopf und betrachtete die beiden. Papa und Lily - ihre Familie.

»... und du weißt genau, dass ich nicht anders kann, Lily. Ich habe bereits zwei Menschen in meinem Herzen.« Papas Stimme klang traurig.

Die Tante legte das Messer, mit dem sie den Liebstöckel bearbeitet hatte, auf die Seite, trat auf ihn zu und nahm ihn in den Arm. Papa lehnte seinen Kopf an ihre Schulter.

»Das Rad lässt sich leider nicht zurückdrehen«, murmelte sie leise.

Für Vicky klang dieser Satz jedoch so laut, als würde er direkt aus ihrem Kopf kommen. Tränen schossen ihr in die Augen. Es wäre so einfach, sich einzubilden, diese beiden seien ihre Eltern. In einer anderen Realität wäre es bestimmt möglich gewesen. Vor ihrem inneren Auge sah sie eine jüngere Lily, wie sie Papa das erste Mal begegnete. Er war damals in einer Softwarefirma angestellt und ihre Tante hatte den Auftrag bekommen, die Büroräume der Firma mit ihren Kunstwerken auszustatten. Sie hatte eine Auswahl davon mitgebracht und stand mit jeweils vier gerahmten Bildern rechts und links unter den Arm geklemmt vor der Tür des Gebäudes, darüber nachdenkend, wie sie es bewerkstelligen konnte, zu klingeln. Papa kam gerade von einem Kunden und fragte sie amüsiert, ob er ihr helfen könne. Dankbar gab sie ihm die gesamte Last, klingelte und lotste ihn bis zum Fahrstuhl, wo sie ihm erklärte, wohin sie überhaupt wollte. Die Bilder verblassten und Vicky bemerkte, dass Lily sie lächelnd ansah.

»Komm her, Vicky, du kannst uns mit den Kartoffeln helfen.«

 

Während das Essen schmorte, nutzte Vicky die Gelegenheit, ihre Sachen nach oben zu bringen und auszupacken. Ihr Zimmer befand sich gleich links neben dem Treppenaufgang über dem Büro und war mit Bett, Schreibtisch, einem Kleiderschrank und einer Kommode ausgestattet. Es hatte einen kleinen Balkon an der Westseite, von dem man auf die gegenüberliegende Wiese blicken konnte. Im Gegensatz zu zuhause war das hier der reine Luxus. Dort besaß sie zwar einen eigenen Raum, der jedoch nur ein enger Schlauch mit einem Minifenster war, in dem die Matratze auf einem Rost auf dem Boden lag. Direkt an der Tür war der windschiefe Kleiderschrank; die Hausaufgaben musste sie in der Küche erledigen, denn es war kein Platz für einen Schreibtisch.

Seit sie zu Tante Lily kam, war dieses hier »ihr Zimmer« gewesen, und nun würde es tatsächlich für eine lange Zeit ihres sein. Mit gemischten Gefühlen machte sie sich daran, ihre Kleider in den Schrank zu hängen. Außer ein paar Jeans, Pullovern, zwei Jacken, ein paar T-Shirts und Unterwäsche hatte sie noch ein komplettes Steampunk-Outfit dabei. Sie wusste selbst, dass sie es hier nie tragen würde, aber die Klamotten waren es wert, wenigstens ab und zu einen Blick auf sie zu werfen. In der anderen Tasche hatte sie ein paar Bücher, Schmuck, Schreibzeug, Kosmetik, Kleinkram wie ihr Smartphone nebst Ladegerät und die Geschenke für Lily und Papa. Sie legte sich auf das frisch bezogene Bett und starrte an die lindgrüne Decke. Nebenan hörte sie Papa im Zimmer rumoren. Es war wie immer, doch es war dieses Mal anders. Papa würde bald fortfahren, sie waren noch nie länger als über die Ferien getrennt gewesen. Sie würden sich eine Zeit lang nur über Skype sehen, und sie selbst saß in diesem kleinen Dorf bei ihrer Tante fest, ohne Freunde und jenseits jeglicher Zivilisation. Bevor sie komplett in Selbstmitleid versinken konnte, überprüfte sie, ob ihr Handy Empfang hatte, und stellte erleichtert fest, dass zumindest in diesem Zimmer alles in Ordnung war. Morgen würde sie Lily fragen, ob sie WLAN hatte, damit sie wenigstens ab und zu ins Facebook schauen konnte, ohne ihr Handyguthaben anzugreifen. Sie drehte sich auf die Seite und sah aus dem Fenster, an dichten Schneeflocken vorbei bis zum Horizont, wo die letzten Strahlen der untergehenden Sonne sich dunkelrot durch dicke graue Wolken kämpften. Bilder von Lily und Papa mischten sich mit Sandy, Emil, Patty und Dani, einer schwarz-weißen Katze und einem Mann auf einer Hängebrücke, der von Putten mit Pfeilen beschossen wurde. Emils Jetta fuhr fahrerlos in der Schlucht spazieren - und über allem schwebte sie, umfangen von einem Mantel der Gnade in den Armen eines geflügelten Wesens, das so viel Liebe und zugleich Traurigkeit ausstrahlte, dass seine Nähe allein einem den Atem nahm. Das erste Mal seit Halloween fiel sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

 

»So, genug gesungen, wollen wir auspacken?«

Papa sah aus wie ein Junge, der es kaum erwarten konnte, dass es endlich losging. Sie hatten sich nach dem Essen umgezogen und waren anschließend geschenkebeladen wieder aufgetaucht. Lily las wie jedes Jahr die Geschichte aus dem Lukas-Evangelium und sie trällerten gemeinsam mehr oder weniger schön ein paar Weihnachtslieder. Der Baum glänzte majestätisch, das Feuer knisterte behaglich und Weihrauchschwaden zogen durch das Zimmer. Vicky fühlte sich wie in ihrer Kindheit in eine andere Welt versetzt. Lily lachte und verteilte als Erste ihre Geschenke. Papa bekam ein paar kurzärmlige Hemden und eine Schachtel Schnapspralinen. Für Vicky gab es schwarze Winterstiefel aus wasserabweisendem Material und ein echt cooles Tagebuch. Der Einband war aus Leder in abgegriffener Optik und überall waren Taschenuhrräder in verschiedenen Größen draufgenäht. Es hatte ein mechanisches Zahlenschloss.

»Ist das Steampunk, oder liege ich da falsch?«, fragte Lily augenzwinkernd.

Vicky freute sich wirklich, obwohl sie keine Ahnung hatte, was sie mit einem Tagebuch anfangen sollte. Außer für die Schule hatte sie bislang nicht viel geschrieben. Papa hatte für Lily Leinwände und Pinsel und für Vicky einen Schulrucksack. Während Vicky ihre Geschenke für die Erwachsenen unter dem Baum hervorholte, bemerkte sie ein weiteres Päckchen, das unauffällig nach hinten gerutscht war. Papa zwängte sich derweil in eines der Hemden.

»Hmmm, gibt’s das auch in lang?«

»Martin, ich schätze, du hast seit Ostern doch etwas zu gelegt. Zumindest sind die Arme nicht zu kurz.«

Lily hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und unterdrückte einen Lachkrampf.

»Zieh es aus, wir können das zu Glück umtauschen.«

»Ich will mich aber vorher noch im Spiegel anschauen!«, auch Papa lachte und setzte sich auf die Couch. Sein kleines Bäuchlein lugte vorwitzig unterhalb des letzten Knopfloches hervor.

»Hier, Papa, dass du in Indien nicht verhungerst.«

Vicky hatte ihm ein indisches Kochbuch besorgt und Tante Lily bekam ein nettes Schmuckkästchen mit silberfarbenen Beschlägen, das sie bei einem der vielen Geschenkläden in der Stadt erstanden hatte.

»Das ist doch hoffentlich ein Diätkochbuch, Vicky«, witzelte Papa und blätterte bereits darin.

»Endlich hab ich einen Platz für meine Alltags-Räucherwaren«, freute sich auch Lily und drückte sie an sich.

»Will noch jemand den Christbaum loben?«

»Ähm, da liegt noch ein Geschenk ...«, warf Vicky ein.

Die Erwachsenen schauten beide überrascht auf.

»Hast du etwa noch etwas für uns?«

»Nein ...«, Vicky war verwirrt.

»Wir auch nicht.«

Alle sahen sich an.

»Lasst uns doch nachschauen, was das Christkind da gebracht hat.«

Papa kroch unter den Baum und holte ein mittelgroßes, relativ flaches Päckchen hervor, das in einfarbig grünes Geschenkpapier gewickelt war. Das Geschenkband war aus hellgrünem Stoff.

»Könnte ein Spiel sein«, mutmaßte Papa und schüttelte es leicht.

Er drehte und wendete es, aber es war kein Vermerk darauf zu entdecken, für wen das Geschenk war. Vicky verspürte plötzlich ein Kribbeln, das ihr an den Armen beginnend bis zum Nacken hinaufkroch.

»Wer will aufmachen?«

»Gib schon her.«

Tante Lily streckte den Arm aus und löste zuerst gewissenhaft das Band und anschließend das Papier von dessen Inhalt. Vicky hatte ein ungutes Gefühl und wollte nicht hinschauen.

»Was ist das denn?«, hörte sie Papa sagen.

»Wer schenkt uns denn sowas!«, kam es von Lily.

Sie trat hinter ihre Tante, um das Geschenk in Augenschein zu nehmen. Es war ein blauer quadratischer Karton mit der Abbildung eines Kreises drauf. Drumherum waren Schmetterlinge, Bäume, die Worte »Ja«, »Nein«, »Vielleicht«, »Später« und das Alphabet angeordnet.

»Ein Spellboard?«, fragte sie entsetzt und trat automatisch einen Schritt zurück.

»Ja, ein Hexenbrett - wie reizend«, Tante Lily hob die Augenbrauen und sah von einem zum anderen.

»Ja, und was macht man damit?«, wollte Papa wissen.

Vicky setzte zu einer ausschweifenden Antwort über Séancen und Geisterbeschwörungen an, doch Lily kam ihr zuvor.

»Das ist ein dummes Spiel, bei dem man die Zukunft befragt. Keine Ahnung, wie jemand auf die Idee kommen könnte, das wäre was für uns.«

Sie musterte jeden nochmals durch ihre Brillengläser, Vicky fror und schwitzte gleichzeitig.

»Lasst uns kurz reinschauen, vielleicht findet sich ja irgendein Hinweis«, sprach sie weiter. Papa hatte bereits das Interesse an dem Geschenk verloren und ging in die Küche, um sich einen Wein einzuschenken. Die Schachtel enthielt außer dem Spielbrett, einer Gebrauchsanleitung und einer spitz zulaufenden handgroßen Scheibe tatsächlich eine Karte mit einem Rosenmotiv und Glitzer drauf - wie die Klebebildchen aus alten Poesiealben. Darauf stand in altmodischer Schrift

»Für Victoria, damit wir in Kontakt bleiben.«

Vicky musste sich setzen.

»Kann ich bitte den Christbaum loben?«

Lily packte die Karte in die Schachtel und schob das Ganze zurück unter den Baum. Dann ging sie ebenfalls in die Küche und kam nach kurzer Zeit mit zwei gefüllten Likörgläschen wieder, eines davon drückte sie Vicky in die Hand. Sie prosteten einander zu und Vicky hatte das Gefühl, dass ihre Tante sie mit ihren Blicken durchbohrte. Sie wollte ihr erklären, dass sie nichts mit dem Geschenk zu tun hatte, doch als sie ansetzte, schüttelte Lily unmerklich den Kopf. Papa gähnte und streckte sich.

»Also, das gute Essen und der viele Wein, ich bin geschafft. Entschuldigt mich, aber ich gehe jetzt ins Bett.«

»Das wird für uns alle das Beste sein«, stimmte Lily zu, machte jedoch keine Anstalten aufzustehen. Vicky drückte Papa einen Kuss auf die Wange.

»Nacht, Papa - geh du ruhig zuerst ins Bad.«

Martin winkte nochmals kurz in die Runde und wenig später konnten sie seine Schritte auf der knarzenden Holztreppe hören. Sie setzte sich in den Ohrensessel und zog die Beine an. Lily ging zu den kleinen rosa Wandschränkchen, die in einer Nische in der offenen Küche hingen, und kramte darin herum. Danach kam sie mit einem Weinglas, gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit, zurück, stellte es zur Marienstatue, drehte sich zum Kamin und warf etwas auf das glimmende Holz. Es zischte kurz und ein beißender Geruch von verbrannten Kräutern lag in der Luft, gemischt mit der schweren Süße von Weihrauch. Es qualmte.

»Komm her«, sagte Lily in einem Ton, der keine Widerrede duldete.

Vicky trat neben ihr an den Kamin und die Tante schob sie direkt in den Rauch. Es kratzte in Nase und Hals und sie hustete, aber Lily zeigte kein Erbarmen. Sie packte sie beherzt an der Schulter und drehte sie ein paar Mal nach links, während sie etwas murmelte und gleichzeitig noch mehr von der Qualm erzeugenden Kräutermischung in den Kamin warf. Vickys Augen tränten, ihr wurde langsam schwindlig und sie sah nur noch verschwommen. Endlich hörte Lily auf, ging zu dem Marienaltar, hielt die Hände über das Weinglas und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Sie winkte sie zu sich heran und streckte ihr das Glas entgegen.

»Trink es in einem Zug aus.«

Verwirrt tat Vicky wie ihr geheißen. Es war klares, kaltes Wasser, das ihre Kehle hinabfloss bis in den Magen, fast war es, als konnte sie seinen Lauf durch ihren Bauch nachverfolgen. Es tat auf jeden Fall gut und unwillkürlich nahm sie einen tiefen Atemzug. »Schließe die Augen und atme langsam und tief weiter«, erklang Lilys Stimme. Während sie den Befehl befolgte, hörte sie, wie ihre Tante Richtung Terrassentür ging, und kurze Zeit später strömte frische Luft in das Zimmer. Als es nach einer Weile kalt wurde, schloss Lily die Tür wieder.

»Du kannst dich setzen.« Dankbar öffnete Vicky die Augen und ließ sich in den Ohrensessel plumpsen.
»Lass hören - was hast du da mitgebracht?«

Lily hatte sich auf ein Sitzkissen vor den Kamin gesetzt und sah sie freundlich an. Vicky war unschlüssig. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihr, dass ihre Tante nur indirekt das seltsame Geschenk meinte. Sie biss sich auf die Unterlippe und ihr Gehirn lief auf Hochtouren. Sollte sie von dem schwarzen Mann erzählen? Oder von der Party, von dem Unfall?

»Sind Spellboards gefährlich?«, fragte sie stattdessen.

Lily zögerte nur kurz. »Nicht, wenn du die Wesenheit, die du befragt hast, ordnungsgemäß zurückschickst«, antwortete sie und blickte in die Kaminglut, »sonst kann es sein, du schleppst sie mit dir rum, eine recht energieraubende Angelegenheit.«

Vicky dachte an den Mann mit den Sternenaugen. Hatte sie ihn gerufen, oder war er schon immer da gewesen? War er jetzt auch bei ihr?

»Ich habe das Geschenk nicht mitgebracht, Lily, ganz, ganz ehrlich! Keine Ahnung, wo es herkommt,«, sagte sie schließlich. Mochte Lily denken, was sie wollte, es war die Wahrheit.

»Und bei deiner letzten Séance - da hast du auch alles beendet?«

Vicky sah ihre Tante irritiert an. Es war nicht meine Séance, ich hatte überhaupt nichts damit zu tun, schrie eine Stimme in ihrem Kopf. Hau ab, hab ich gesagt, lass mich in Ruhe, schrie eine andere. Lily kam zu ihr hinüber und strich ihr behutsam über den Kopf.

»Lass uns ins Bett gehen, Liebes. Es war ein langer Tag.«

Dankbar stand Vicky auf, murmelte »Gute Nacht« und war froh, dass sie nach oben verschwinden konnte. Sie hatte lange die Gedanken und Gefühle an besagtem Abend verdrängt und wollte nicht daran erinnert werden. Zumindest nicht an Weihnachten.

7. Raunächte

Lily lief in ihrem Zimmer hin und her, setzte sich ab und zu auf die alte Holztruhe, die in der Ecke stand, um abermals umherzugehen. Schließlich blieb sie vor ihrem Bett stehen, auf dem das unerwartete Geschenk für ihre Nichte lag. Nachdenklich starrte sie auf die grüne Geschenkverpackung, in die sie das Hexenbrett wieder gewickelt hatte, auf das Band, das sorgsam gebunden wurde. Trotz seines harmlosen Äußeren sendete dieses Päckchen für sie etwas Bedrohliches aus. Es war keinesfalls das bedruckte Brett mit seinen Symbolen, es war die Signatur, die ihm innewohnte. Nie hatte sie erwartet, dieser Energie erneut zu begegnen. Nach einigem Zögern setzte sie sich an ihren Schminktisch und zündete die zwei Kerzen an, die rechts und links vor dem Spiegel standen. In der Mitte des Tisches befand sich eine kleine Replik der Göttin Artemis von Ephesus mit den vielen Brüsten. Sie holte tief Luft und betete:

»Heilige Mutter, von der wir stammen und zu der wir zurückkehren. Hilf mir auf meiner Reise, öffne mein Herz und zeige mir deine Macht, an dunklen wie an hellen Tagen, segne uns alle, die wir deine Kinder sind.«

Sie hatte nicht dran geglaubt, dass dieser Tag eintreffen würde; nein, sie dachte, sie hätte alles Erdenkliche dafür getan, dass das nicht passieren konnte. Hatte sie etwas übersehen? Hatten sie alle etwas übersehen? Sie erinnerte sich an den verhängnisvollen Abend, an dem die Geschichte ihren Anfang nahm. Es war das Jahr, das ihr Leben zerstörte. Damals waren sie erheblich jünger gewesen, und unerfahren. »Deppen«, sagte sie laut zu sich, »überhebliche, dämliche Volldeppen.« Alle mussten bezahlen, der eine mehr, der andere weniger. Es hätte doch enden sollen. »Wir müssen dafür sorgen, dass es für immer vorbei ist.« Kurzentschlossen nahm sie ihr Handy und tippte schweren Herzens die Nummer ein, die sie im Leben nie mehr hatte wählen wollen.

 

In der Nacht gewitterte es und nach anfänglichem Hagel ging der Niederschlag in dicke Schneeflocken über. Der Wind pfiff heulend um das Haus und Vicky, die von dem Prasseln auf dem Dach aufgewacht war, konnte nicht mehr einschlafen. Sie hörte Tante Lily nebenan rumoren und lauschte ihren Schritten, als diese leise die Treppen hinabstieg. Alles war unwirklich, das diffuse Licht, das durch die Fenster schien, die unbekannten Geräusche - ihr war kalt und sie wickelte sich in die Decke ein. Lilys Stimme drang von der unteren Etage zu ihr hinauf. Der Stimmlage nach zu urteilen musste sie aufgebracht sein, Vicky konnte einige Wörter verstehen, die für sie aber keinen Zusammenhang ergaben. Sie fühlte das Bedürfnis, mit jemandem über die Geschehnisse des Abends zu reden. Ihr fiel Sandy ein, als sie nach ihrem Smartphone tastete, das auf dem Nachtkästchen lag. Das Display zeigte kurz vor Mitternacht an. War die Freundin noch auf? Sie überlegte kurz, ob ihr Guthaben für einen Anruf ausreichte, entschloss sich jedoch für eine Kurznachricht.

»Bist du wach? Ruf mal durch. LG, V.«

Der Empfang war bescheiden, Vicky sah das an dem kleinen Punkt links oben im Startbildschirm, wo sich normalerweise drei Balken befanden.

»Ich erwarte dich noch im alten Jahr!«

Vicky zog die Augenbrauen hoch, als sie die Stimme der Tante vernahm. Das war unmissverständlich, selbst für sie. Sie starrte auf ihr Telefon, das keinen Piep von sich gab, stand auf und überprüfte die Heizung. Sie war lauwarm und gluckte leise vor sich hin. Ihr Blick fiel aus dem Fenster, auf die kleine Kreuzung, die bereits so eingeschneit war, dass das Vorfahrt-gewähren-Schild aussah wie ein dürrer Riese ohne Arme. Ein Windstoß ließ den Schnee aufwirbeln, es sah aus, als schneite es quer. Unter den Geräuschen des Sturms konnte Vicky ein Rasseln vernehmen und sie hörte gedämpftes Rufen. Angestrengt starrte sie in die Dunkelheit und traute ihren Augen kaum, als sie bemerkte, wie sich aus dem Schneegestöber berittene Pferde schälten, die im gestreckten Galopp über das Feld jagten. Sie waren ein Heer aus Schneeflocken und ihr Heulen vermischte sich mit den Geräuschen des Windes. Fasziniert beobachtete sie die Horde und versuchte die Reiter genauer in Augenschein zu nehmen. Sie schloss die Augen bis auf einen kleinen Spalt. Die einzelnen Flocken setzten sich zu einfarbigen Ausschnitten eines Puzzles zusammen, das sich nach einer Zeit auflöste. Hier konnte sie Zaumzeug sehen, da einen Stiefel - das gesamte Bild blieb ihr jedoch verwehrt; es war genauso flüchtig wie die Schneekristalle, aus denen es bestand. Als der Spuk nach einer Weile vorüber war, entdeckte sie eine einsame Gestalt, die sich durch den Schnee kämpfte. Sie trug eine seltsame altertümliche Jacke, einen dicken Wollschal und eine Strickmütze, die weit über die Ohren gezogen war. Vicky kam es vor, als hätte die Reiterschar diese Gestalt zurückgelassen, so verlassen und herausgefallen erschien sie ihr. An der Kreuzung sah sie sich um und blickte kurz nach oben. Vicky konnte das Gesicht erkennen - es war das eines jungen Mannes, ungefähr so alt wie sie selbst. Instinktiv trat sie einen Schritt zurück, hinter die Vorhänge. Die Gestalt wandte sich nach einer Weile Richtung Dorf und verschwand im Schneegestöber. Das Vibrieren ihres Handys ließ sie aufschrecken. Schwarze Buchstaben prangten auf dem grünen Hintergrund und verkündeten zwei Minuten nach Mitternacht. Das Blinken eines Umschlags deutete ihr an, dass eine Nachricht eingegangen war. Es war eine SMS von Sandy. »Bin noch wach aber in der Kirche. Morgen?«

Vicky schaltete das Telefon, ohne zu antworten, aus und ging nachdenklich zum Bett hinüber. Sie erinnerte sich an Besuche in ihrer Kindheit, als sie glaubte, es lebte ein Gnom unter ihrem Bett, der am Abend alle Sachen, die sie tagsüber verloren hatte, zusammensammelte und sie dort hortete. Leider

Imprint

Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Text: © 2014 Demetria Cornfield
Images: clipdealer.de
Editing: Claudia Ziehm
Publication Date: 10-23-2014
ISBN: 978-3-7368-5018-7

All Rights Reserved

Next Page
Page 1 /