Taffe Mädchen weinen nicht
Es war schon spät. Ramona hätte längst schlafen müssen. Stattdessen saß sie mit angezogenen Beinen auf der Fensterbank im Erker und schaute nach draußen. Dunkle Umrisse von Kaminen ragten aus einem Meer von Dächern in den sternenklaren Himmel hinein. Das würde eine coole Tätowierung abgeben, dachte sie, während sie ihre Plüschfledermaus fest an sich drückte. Von ihrem Zimmerfenster in der kleinen Stadtwohnung hatte sie einen fantastischen Blick auf die Stadt. Irgendwo da draußen fuhr Dad jetzt mit seinem Taxi durch die Gegend.
Gegen die Müdigkeit ankämpfend spähte Ramona zur Tür. Sie wollte auf keinen Fall ins Bett gehen, bevor Mom kam. Eigentlich hätte sie ihr längst Gute Nacht sagen sollen. Ramona hatte gekocht, ihre Hausaufgaben hingekritzelt und sich gewaschen. Das Tattoostudio, in dem ihre Mutter arbeitete, war bis acht Uhr geöffnet und danach musste noch alles aufgeräumt werden. Vielleicht hatte sie wieder eine Inspiration. Was das genau bedeutete, wusste Ramona nicht, aber wenn Mom eine Inspiration hatte, durfte man sie nicht stören. Auch nicht, wenn man Hunger hatte oder die Hausaufgaben nicht verstand.
Dann musste sie Dad fragen. Aber der arbeitete den ganzen Tag in einem kleinen Blumengeschäft, nur ein paar Häuser weiter, und nachts fuhr er Taxi. Zwar freute er sich immer, wenn Ramona nach der Schule vorbeischaute und fragte sie nach dem Unterricht, doch meistens kamen dann andere Kunden. „Umarm deine Mutter von mir!“ rief er ihr jedes Mal nach.
Das tat Ramona auch. Ihre Wohnung lag direkt über dem Tattoostudio und bevor sie ihre Tasche nach oben in ihr Zimmer brachte, schaute sie dort vorbei. Sie saß gerne dabei, wenn neue Kunden kamen und in den riesigen Motivbüchern blätterten. Manche erzählten Geschichten dazu. Ihre Mom hörte ihnen aufmerksam zu und ihre Augen funkelten dabei immer stärker, sicher wegen der Inspiration.
Dann sah Ramona zu, wie sich die Kunden – manchmal waren junge Männer, bereits über und über mit Tattoos bedeckt, manchmal junge Mädchen, die nervös waren und ihre beste Freundin mitbrachten, manchmal Mütter und Väter, die verlegen Witze machten, bevor sie sich auszogen – auf die Liege legten. Wie ihre Mutter Rosen aus Schulterblättern sprießen ließ, Vögel aus einer einzelnen Feder zauberte und Kränze aus Worten um Handgelenke und Knöchel wand. Es war wundervoll. Mom lächelte jedes Mal, wenn sie ein neues Tattoo beendet hatte.
Ramona fror. Sie stand von ihrem Fensterplatz auf und tapste barfuß zu ihrem Bett. Sie gab der flauschigen, schwarzen Fledermaus einen Kuss auf die Nasenspitze, wickelte sich in ihre Decke und wartete.
Der Wind pfiff durch die Häuserschluchten und es war stockdunkel. Doch Ramona hatte kein bisschen Angst. Wenn nur ihre Mom kommen und sie in den Arm nehmen würde... Vielleicht könnte sie ihr etwas vorlesen. Oder sie würde sich an Bett setzen, mit einem Block und einem Stift. „Ich male dir deinen Traum“, sagte sie dann. Und das konnte sie, davon war Ramona felsenfest überzeugt. Mom zeichnete für sie die Bucht, die sie mit Dad auf Mallorca entdeckt hatte, die kunterbunten Häuser der Küstenstraße, den Nachbarshund. Ramona legte ihre Kopf dabei so auf ihr rechtes Bein, dass sie zusehen konnte.
Was, wenn sie nun nicht kam? Wenn die Inspiration so lange dauerte, dass Ramona darüber einschlief? Dann würde sie wieder schreckliche Alpträume bekommen und es war niemand da, der ihr helfen konnte. Mit einem Mal fühlte sie sich sehr allein. Ihr Herz schlug schmerzhaft in ihrer Brust und sie spürte einen Kloß im Hals. Doch sie würde nicht weinen. Sie war schließlich ein taffes Mädchen.
Und taffe Mädchen weinten nicht.
Niemals.
„Ramona.“ Jemand legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie drehte sich um und da stand Mom. Durch die halbgeöffnete Tür fiel Licht ins Zimmer und auf ihr fahles, erschöpftes, von schwarz gefärbtem Haar umrahmtes Gesicht. Ramona klopfte mit einer Hand aufs Bett und ihre Mutter setzte sich.
„Sorry, aber im Studio war die Hölle los. Der Kerl mit dem Nasenring war wieder da, wir haben ihm den halben Rücken tätowiert. Mit nackten Frauen, ausgerechnet. Tja, man kann sich seine Kunden nicht aussuchen. Wie war dein Tag?“
„Ganz gut. Ich hab Suppe gekocht und in der Schule haben wir Nomen und Verben gelernt.“ Ramona stützte sich aufs Kopfkissen. Sie kannte die meisten Stammkunden, auch den gruseligen Kerl mit dem Nasenring. Ihre Mom seufzte und fuhr ihrer Tochter durch die Haare.
„Ich bin eine furchtbare Mutter“, brach es auf einmal aus ihr heraus. Erschrocken sah Ramona zu, wie Mom den Kopf auf die Hände stützte und Flüche ausstieß.
„Du bist erst sieben. Du solltest nach der Schule spielen und Freunde treffen statt zu kochen, einzukaufen und Wäsche zu waschen.“
„Das ist okay“, sagte Ramona und tätschelte ihrer Mom unbeholfen die Schulter. „Ich kann das, wirklich!“ Denn sie war unheimlich stolz darauf, dass sie ganz alleine eine Zwiebelsuppe zustande gebracht hatte.
„Darum geht es nicht. Es ist nur einfach nicht dein Job.“ Mom richtete sich auf, ihre Haare standen wild vom Kopf ab. Sie fuhr mit den Fingerkuppen über die zwei verschlungenen Rs auf ihrem Handgelenk, eins für Richard, ihren Mann, und eins für Ramona.
„Du weißt, dass wir dich sehr liebhaben, Dad und ich. Und dass es uns unheimlich leid tut, dass wir so viel Zeit mit Arbeiten verbringen...“
„Und mit Inspirationen“, warf Ramona ein.
„Genau. Wir schaffen es einfach zu selten, Mutter-Tochter- Gespräche zu führen. Ich versuche, in Zukunft öfter hier zu sein und für dich zu kochen. Glaub mir, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe... aber du bist ein taffes Mädchen und ich bin stolz auf dich.“
Ramona strahlte. Mom stand auf, nahm einen Block und einen Stift vom Schreibtisch und setzte sich ans Kopfende.
„Wovon magst du heute Nacht träumen?“
Publication Date: 06-17-2019
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