Cover

Prolog

Träge schwebten die Staubkörner durch die stickige Luft und gesellten sich zu ihren Brüdern und Schwestern auf die staubige Schrankwand. Zwischen dem Ramsch auf den überquellenden Regalbrettern war eine Brutstädte an Schmutz und Staub. Hier hatte schon lange niemand mehr einen Lappen zur Hand genommen.

Das unstete Flimmern des Fernsehers war die einzige Lichtquelle in dem abgedunkelten Raum. Sein flackernder Schein erhellte nur schemenhaft das gefurchte Gesicht des alten Mannes in dem durchhängenden Sessel. Müde durch Alter und Sorgen, vielleicht sogar Gewissensbissen, war sein einziger Trost das Cognacglas in seiner Hand. Eine kleine Bewegung reichte aus, um die Pfütze an dunkler Flüssigkeit darin in Bewegung zu versetzen und die Spiegelung seines starren Blickes verschwimmen zu lassen.

„… hat sich das Phänomen der weiter rasant sinkenden Geburtenraten von Europa über weite Teile von Asien ausgebreitet. Mittlerweile melden auch Gebiete von Afrika, sowie Süd- und Nordamerika von dieser Anomalie und es bleib zu befürchten, dass dies erst der Anfang einer bisher nicht näher zu definierenden Epidemie ist. Um einen genaueren Einblick in die Vorkommnisse zu erhalten, haben wir uns mit dem Spezialisten Dr. Thomas E. Cabell unterhalten. Wir schalten nun live zu ihm in die Praxis.“

Fast hätte der alte Mann aufgelacht.

Spezialist.

Wie anmaßend von diesen Wichtigtuern sich einzubilden, dass sie auch nur den Hauch einer Ahnung hatten, worum es hier ging. Keiner von ihnen wusste um die Ursache dieser Abnormität. Und das war der nächste Hohn. Phänomen. Von wegen. Das alles war nichts weiter als eine Katastrophe. Eine riesige Katastrophe von bisher ungeahntem Ausmaßes – und niemand würde es aufhalten können.

Er wusste es nur zu gut, denn er gehörte zu den Leuten, die es versucht hatten. „Und wir haben versagt.“ Die genuschelten, alkoholgeschwängerten Worte wurden von den dunklen Vorhängen und den tiefen Schatten des ungepflegten Zimmers einfach verschluckt.

Unkoordiniert griff der alte Mann nach rechts zum Tisch um die fast leere Cognacflasche am Hals zu fassen. Dabei stieß er einen zerfledderten Stapel aller Zeitungen zu Boden, der so schief stand, dass die kleinste Erschütterung ihn schon lange hätte fallen lassen müssen. Selbst der dumpfe Aufschlag der Papiere schien von dem kleinen Raum einfach geschluckt zu werden. Als würde die Welt das Vergessen an diesen Ort bringen wollen.

Seufzend ließ der alte Mann die müden Augen über das Chaos gleiten. Forschungslabor in Flammen, prangte auf der obersten Titelseite. Darunter war ein schwarzweis gekörntes Bild eines brennenden Gebäudes abgebildet. Die Flammen darauf schienen den Himmel berühren zu wollen, um die Welt in die Hölle zu verwandeln.

Auf der Zeitung daneben war ein kleiner Artikel mit dem Diagramm einer Statistik, das bildlich verdeutlichte wie rapide die Geburtenraten in den letzten dreißig Jahren gesunken waren.

Mutation beim Menschen, lautete die Schlagzeile auf einem anderen Titelbild. Aber dort ging es nicht darum, dass den Menschen plötzlich ein drittes Auge wuchs, oder sie übersinnliche Fähigkeiten entwickelten. Nein, es ging schlicht und ergreifen um das Verkümmern der inneren Fortpflanzungsorgane. Wachsende Unfruchtbarkeit bei Männern und Frauen. Je jünger die Generation, desto schlimmer wurde es.

Aber die schlimmsten Schlagzeilen kamen erst mit den späteren Daten der Zeitungen. Wirtschaftsumbruch, Ausfall von Fleischkonzernen, Massensterben bei der Viehzucht, Nahrungsknappheit.

Die Menschen waren nicht die einzige betroffene Spezies, nein, alle Säugetiere waren von dieser Epidemie betroffen. Schweine und Rinder, Bären und Hirsche. Sogar die Wassersäugetiere. Die Unfruchtbarkeit griff um sich und niemand konnte etwas dagegen unternehmen. Auch nicht diese sogenannten Spezialisten.

Und der Verlauf dieser Katastrophe wirkte sich nicht nur auf die Menschen und Tiere aus, nein, mittlerweile war auch ein Großteil der Wirtschaft davon betroffen. Börsencrashs, rote Zahlen, wohin das Auge auch blickte. Leid, Trauer. Der Beginn des Untergangs.

Die interessanteste Schlagzeile jedoch kam von einem sehr unbekannten Schmierblatt, dass im allgemein nur über den Yeti und Außerirdische in Roswell berichtete. Säugetiere von Kampfvirus befallen. Keiner von diesen gehirnamputierten Fanatikern wusste wie nahe sie damit der Wahrheit kamen. Keiner von ihnen wusste, dass der Brand in dem Forschungslabor vor mehr als einem viertel Jahrhundert für all das verantwortlich war. Und keiner wusste, dass dieser Brand aus purer Berechnung von einem gefeuerten Doktoranten gelegt wurde, um sich an der Firma zu rächen.

Niemand wusste es, außer ihm – denn er war der Letzte.

Der alte Mann starrte auf das gesammelte Werk seiner Zeitschriften und wurde von einer tiefen Hoffnungslosigkeit befallen. „Wir waren Narren“, flüsterte er und schüttete den Rest seines Cognacs direkt aus der Flasche in sich hinein. Das brennen im Hals erinnerte ihn daran, dass er noch lebte. Aber sein Leben war nichts mehr wert, nicht nachdem was er getan hatte, denn er hatte zu den Leuten gehört, die das Virus entwickelt hatten. Es war nie dazu gedacht gewesen, es auch einzusetzen, aber diese Tatsache beutete nichts – nicht nachdem was geschehen war. „Wir waren solche Narren“, wiederholte er leise nuschelnd. „Und nun sind wir alle dem Untergang geweiht.“

 

oOo

Kapitel 01

 

Leise plätschern floss das kristallklare Wasser, in dem seichten Bach, über glatte Flusssteine und karger Wasserbepflanzung, hinweg. Eine leichte Strömung zerrte an den Wurzeln und Gräsern, die am Rand der flachen Böschung ins Wasser ragten. Aus dem Rotschilf auf der anderen Seite war das Quaken liebestoller Frösche zu hören. Zu meinen Füßen huschte eine kleine Eidechse durch das Gras, ohne meine Anwesenheit überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.

Das verschwommene Abbild der Wasseroberfläche, zeigte eine junge, dunkelhäutige Frau, mit einem erhobenen Fischspeer, jederzeit bereit ihren Arm nach vorne schnellen zu lassen, sobald sich eine günstige Gelegenheit ergab. Nur dass der Fisch, auf den ich es abgesehen hatte, sich die ganze Zeit knapp außerhalb meiner Reichweite bewegte, als wollte er mich verhöhnen. Aber ich war geduldig. In der heutigen Welt gab es zwei Dinge, die ein Mensch zum Überleben brauchte. Das eine war Geduld, das andere Instinkt – obwohl eine ordentliche Portion Wachsamkeit auch nicht schaden konnte.

Über mir flogen laut krächzend zwei Kakadus vorbei und führten ein kleines Tänzchen in der Luft auf, bevor sie irgendwo in den Bäumen verschwanden.

Ich bewegte keinen Muskel.

Langsam schwamm der Flusswels an einem der größeren Steine vorbei, genau in meine Richtung. Er musste fast drei Fuß lang sein, vielleicht sogar noch ein wenig größer. Er würde ein schönes Abendessen abgeben.

Die Sommersonne stand bereits tief am wolkenlosen Himmel und kündigte die nahende Dämmerung mit schattigem Zwielicht an. Ich würde mich bald auf den Weg machen müssen. Es war nicht besonders gescheit, sich in der Dunkelheit zwischen den Ruinen herumzutreiben. Nachts streiften hungrige Jäger umher und die nahmen keine Gefangenen.

Der Wels kam näher. Meine Muskeln spannten sich an. Noch nicht, hab Geduld. Noch näher. Er hielt inne. Sein breites Maul öffnete und schloss sich mehrmals. Direkt über ihm rannte ein Wasserkäfer über die Oberfläche, völlig unbeeindruckt von dem Riesen unter sich.

Nur noch ein kleines Stück …

„Buh!“

Vor Schreck riss ich den Fischspeer herum, rutschte auf dem feuchten Untergrund aus und kippte mir wild rudernden Armen nach hinten. Ich versuchte noch irgendwie mein Gleichgewicht wiederzuerlangen, doch vergebens, ich landetet mit dem Hintern voran unter lautem Platschen im flachen Flussbett.

Der Wels und auch alle anderen Fische in der Nähe, machten sich eiligst davon, die Frösche stellten ihren Gesang ein und ich saß mit nassem Hintern mitten im Bach.

Vor mir stand ein großgewachsener Mann mit graumeliertem Haar, einem kantigen Kinn und einem langen, geflochtenen Bart. Um die dunkelbraunen Augen und die Mundregion hatten sich über die Jahre hinweg ein paar kleine Fältchen eingegraben. Er war ein stattlich gebauter Mann, von einer zeitlosen Schönheit, der auch das harte Leben in den Ruinen nichts anhaben konnte. Mit Ende vierzig und den angegrauten Schläfen, umgab ihn eine Aura der Weisheit. Naja, zeitweise zumindest, wenn er sich nicht gerade wie ein Idiot aufführte und mir meinen Fang ruinierte. Marshall, das Oberhaupt unserer kleinen Mischpoche.

„Das findest du wohl witzig“, grummelte ich und funkelte ihn böse an. Mit einer wedelnden Bewegung versuchte ich meine Hände ein wenig zu trocknen, um mir dann das Wasser aus dem Gesicht zu wischen – das brachte rein gar nichts.

Schmunzelnd trat Marshall näher, um meine heutige Ausbeute zu inspizieren. Es waren ein halbes Dutzend Fische in einem Schilfkorb, der am Ufer stand. „Es hat einen gewissen Unterhaltungswert.“

Unterhaltungswert, ha ha, sehr witzig. „Wenn du nicht aufhörst, dich immer so an mich heranzuschleichen, werde ich dich irgendwann versehentlich umbringen.“ Ich rappelte mich auf die Beine, fischte meinen Speer aus dem Wasser und schaute mich triefnass nach meinem Wels um. Der hatte natürlich die Flossen in die Hand genommen und eiligst das Weite gesucht. War ja klar. „Und meine Schuldgefühle werden sich dann auch in Grenzen halten.“

„Die wirst du heute noch pökeln müssen, damit sie sich ein paar Tage halten“, sagte er, ohne auf meine Drohung einzugehen.

Genau wie ich selber, trug er eine einfache Tunika aus Leinen, die ihm bis zu den Knien reichte, und rechts und links für mehr Bewegungsfreiheit an den Beinen geschlitzt waren. Um seine Taille trug er einen einfachen Gürtel aus Leder, an dem nicht nur mehrere kleine Stoffbeutel, sondern auch ein wirklich langes Messer hingen. Keine Schuhe, keine Hose, nichts als das Hemd. Alles andere war unnötiger Tand, den keiner von uns im Sommer brauchte. Außerdem hielt er in der Hand zwei tote Wildhühner. Entweder hatte er sie mit dem Bogen auf seinem Rücken geschossen, oder sie waren in eine unserer vielen Fallen gelaufen. Wie auch immer, sie bedeuteten ein gutes Abendessen.

„Das kann Nikita machen.“ Ich griff nach meiner eigenen Tunika und versuchte, so gut es eben ging, sie auszuwringen. Brachte nicht viel. Also gab ich es direkt wieder auf und trat aus dem Bach zu ihm ans Ufer. Wenn ich gemein wäre, würde ich ihn nun auch hinein Schubsen. „Sie ist alt genug um mitzuhelfen. Sie will schließlich auch etwas essen, da kann sie auch mit anpacken.“ Da ich mit einem Widerspruch rechnete, bereitete ich mich schon mal auf eine Diskussion vor. Als es jedoch still blieb, hob ich den Blick.

Marshall stand noch an der gleichen Stelle, hatte das Gesicht jedoch abgewandt und den Blick wachsam auf die Bäume in einiger Entfernung gerichtet.

Ich wurde ganz still, folgte seiner Blickrichtung und lauschte auf die Umgebung. Der Wind ließ die Blätter in den Bäumen rascheln. Vögel trällerten sorglos ihre Lieder. Die liebestollen Frösche im Schilf begannen wieder mit ihrer Balz. Nichts deutete auf eine Gefahr hin, doch Marshalls gesteigerte Aufmerksamkeit, ließ auch mich achtsam werden. Aber ich entdeckte nichts Ungewöhnliches. „Was ist los?“

Er antwortete nicht sofort. Langsam ließ er den Blick von links nach rechts gleiten, als würde er etwas suchen.

„Marshall?“

„Ich dachte da wäre …“ Er ließ den Satz unbeendet, schüttelte den Kopf, wie um sich selber von etwas zu überzeugen und wandte sich dann wieder mir zu. „Ich dachte ich hätte etwas gehört, aber ich muss mich geirrt haben.“

„Das liegt am Alter“, teilte ich ihm mit und widmete mich wieder dem kläglichen Versuch, meine Tunika auszuwringen. „Das wird jetzt jedes Jahr schlimmer werden. Warte es nur ab, nicht mehr lange und du wirst einen Gehstock brauchen und blind wie ein Maulwurf sein.“

Seine Augen verengten sich leicht. „Du wirst auch mit jedem Tag frecher, Kismet.“

„Das habe ich alles von dir, du bist ansteckend.“ Ich schnappte mir meinen Ledergürtel von dem Felsen neben den Korb und band ihn mit um die Taille. Sobald er saß, steckte ich meine Machete in die dafür vorgesehene Schlaufe. Diese Waffe war das Einzige, was ich noch von meinen leiblichen Eltern besaß. „Ich bin die Strafe für all deine Vergehen.“

Er schnaube, warf seine toten Vögel zu den Fischen in den Korb und hob ihn auf. „Wir sollten uns beeilen, bevor die Dunkelheit hereinbricht.“

Auch wenn ich seine Meinung teilte, bezweifelte ich doch stark, der Nacht zuvor zu kommen und es noch im Hellen nach Hause schaffen. „Dann beweg dich, alter Mann.“

„Ich hätte dich bereits vor Jahren irgendwo aussetzen sollen“, erklärte er mir trocken, kehrte mir dann den Rücken und marschierte Richtung Unterholz.

„Das würdest du niemals tun. Wenn ich nicht mehr da wäre, würdest du mich vermissen.“

Das ließ er unkommentiert, aber wir wussten beide, dass es der Wahrheit entsprach.

Dieser Mann war zu einer Zeit in mein Leben getreten, in der ich glaubte, alles verloren zu haben. Anfangs war er ein Fremder für mich gewesen, sogar ein Feind, dem es sehr schwergefallen war, mein Vertrauen zu gewinnen. Mit den Jahren war er für mich zu einem Vorbild geworden, einem Mentor und wenn es sein musste, auch zu einem Vater, der mich mit strenger, aber gerechter Hand, führte. Heute waren wir Freunde und Jagdgefährten. Er und die anderen waren die Familie, die ich vor so vielen Jahren verloren hatte.

Immer noch grinsend, schulterte ich meinen Fischspeer, warf einen letzten Blick auf den Bach mit meinem verlorenen Wels und folgte ihm dann durch das Gestrüpp und die Bäume zurück in die Ruinen einer vergangenen Zivilisation.

Die Welt in der ich lebte, war ein Zeugnis vergessener Errungenschaften. Ein verlassener und einsamer Ort, nachdem Gaias Rache über die Menschheit gekommen war und sie alle bis auf einen kläglichen Rest ausgelöscht hatte. Ausgleichende Gerechtigkeit, hatte meine Mutter mir einmal erzählt, als ich noch ganz klein gewesen war. Sie hatte viele Geschichten erzählt. Von Wundern, Aufschwung und Fortschritt. Von Menschen, so vielen, dass sie ganze Städte überall auf der Welt gefüllt hatten. Und auch davon, wie die Menschheit den Planeten ausgebeutet hatte, solange, bis Mutternatur genug von dem ganzen Mist hatte, zurückschlug und all dem ein Ende setzten. Alles was übriggeblieben war, waren Monumente des Zerfalls und des Vergessens, von Menschen die schon lange tot waren.

Unter unseren bloßen Füßen raschelten die Blätter vom letzten Herbst. Irgendwo in den Bäumen hörte ich wieder die Kakadus. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages fanden ihren Weg durch das dichte Blätterdach und malten ein Farbenspiel aus Licht und Schatten in die blühende Vegetation. Eine kühle Brise fuhr durch meine nasse Tunika und ließ mich leicht frösteln. Die warme Sommerluft würde es hoffentlich trocknen, bevor wir im Lager ankamen.

Marshall folge dem Trampelpfad durchs Unterholz, den wir schon so oft gegangen waren. Die Bäume standen recht dicht und ließen kaum erkennen, was sich hinter ihnen befand, doch dann wichen sie abrupt vor uns zurück und offenbarten uns eine ganz andere Welt. Dort wo eben noch eine friedliche und unberührte Oase der Natur herrschte, offenbarten sich uns nun zerfallene Relikte einer vergessenen Kultur. Unbewohnt. Unbelebt. Eine tote Stadt. Unser Zuhause.

Wir traten hinaus auf aufgerissene und bröckelnde Straßen, die zu großen Teilen unter Erde und dichtem Pflanzenwuchs einfach verschwanden, und suchten uns unseren Weg zwischen Trümmerberge aus Schutt und Mauerresten hindurch. Die Überbleibsel des Vergangenen schluckte uns. Bloße Stahlgerippe, die Skelettartig mit rostigen Fingern in den Himmel ragten. Einst imposante Gebäude, angenagt vom Zahn der Zeit, jeder Witterung schutzlos ausgeliefert, ohne den drohenden Vormarsch der unaufhaltsamen Natur etwas entgegensetzen zu können. Bröckelnde Fassaden, Trümmer, Schutt und Ruinen, die Überreste einer ganzen Kultur.

Bäume, verwurzelt in aufgebrochenem Asphalt, beschatteten unseren Weg. Manchmal überlegte ich, wie dieser Ort ausgesehen hatte, als noch alles neu und belebt gewesen war. Als es mehr gab als verrostete Autowracks, Stahlgerippe, überwucherte Trümmer und Gebäude, die eingestürzt oder umgefallen waren. Als der Asphalt noch nicht rissig war und die Natur die Vorherrschaft über die Welt noch nicht übernommen hatte.

„Der Flachs muss bald geerntet werden.“ Marshall umrundete die Ruine eines Hauses, bei dem kaum mehr als die Grundmauern standen. Das Dach und die obere Etage waren schon vor langer Zeit verschwunden und der Boden war in den Keller hinab gesunken. Leere Ziegelbögen erlaubten den Blick ins Innere, Pflanzen und Ranken hatten sich an jedem erreichbaren Ort niedergelassen, als wollten sie auch noch die letzten Reste der Menschheit auslöschen. „Azra möchte, dass du ihr dabei hilfst.“

Ich verzog das Gesicht. „Warum ich? Nikita oder Balic können das doch machen.“ Ich hatte schließlich genug anderes zu tun.

„Balic?“ Marshall warf mir über die Schulter hinweg, einen kurzen Blick zu. Seine hochgezogene Augenbraue teilte mir alles mit, was ich wissen musste.

Ich seufzte. Wahrscheinlich würde Balic ihr wirklich nicht helfen können. Nicht weil er ein alter Mann war, der die sechzig bereits überschritten hatte, sondern, weil sein einziger Lebensinhalt darin bestand, jeden Tropfen Schnaps, den er herstellte, sofort in sich hinein zu schütten. An guten Tagen torkelte er nur lallend durch die Gegend, an schlechten wusste er nicht einmal mehr wo oben oder unten war. „Dann soll Nikita ihr zur Hand gehen.“

„Lass Nikita doch noch ein wenig Kind sein.“

Warum wunderte ich mich nicht über diese Worte? Ach ja, weil ich sie bereits viel zu oft gehört hatte.

Nikita war meine kleine Schwester, die einzige Blutsverwandte, die ich in dieser Welt noch besaß. Neben Marshall war sie wohl der wichtigste Mensch in meinem Leben, aber sie war inzwischen fünfzehn Jahre alt und damit bei weitem alt genug, um auch mal ein wenig Verantwortung zu übernehmen. „Als ich in ihrem Alter war, habe ich schon viel mehr mit angepackt.“

„Du bist auch ein Bienchen, sie ist ein kleiner Schmetterling.“

Sollte bedeuten, sie war ein Freigeist, der ziellos durch die Gegend flatterte, ohne sich Gedanken über irgendwas zu machen. Wohingegen ich immer fleißig, zielstrebig und schwer beschäftigt war. Auch diese Diskussion hatten wir schon zu oft geführt, als dass ich Lust darauf hatte, sie erneut mit ihm durchzukauen.

Für Marshall war Nikita ein unbedarftes Küken, das gehegt und beschützt werden musste. Das Nesthäkchen, dem man viel zu viel durchgehen ließ. Sein kleines Mädchen, das nie etwas falsch machen konnte.

Aber nicht nur er dachte so, auch Azra und Balic verhätschelten sie von vorne bis hinten. Und ja, ich gab es zu, auch ich war nicht ganz unschuldig daran. Doch in der letzten Zeit fiel immer öfter auf, wie Nikita alle um sich herum manipulierte, um sich vor ihrer Arbeit zu drücken. Auch wenn sie meine kleine Schwester war und ich geschworen hatte, sie immer zu beschützen, dieses Verhalten musste ein Ende haben. „Sie will nicht jagen, sie will nicht fischen, sie will den ganzen Tag nur durch die Gegend stromern. Ein wenig bei der Ernte zu helfen, wird ihr bestimmt nicht schaden.“

„Sie kümmert sich doch schon um die Beete.“

Ich umrundete ein Trümmerteil und stieg dann über einen verrosteten Stahlträger, der quer über der Straße lag. Ein kleiner Ahorn hatte seine Wurzeln in den losen Schutt daneben gegraben. „Azra kümmert sich um die Beete. Würde Nikita sich darum kümmern, würden wir dieses Jahr sicher nichts ernten können.“ Denn sie dachte nicht im Traum daran, Wasser zu schleppen, um die Pflanzen zu gießen. „Wir nehmen ihr alle Arbeit ab, die sie eigentlich erledigen sollte. Wir machen das so selbstverständlich, dass es uns nicht mal mehr auffällt.“

Marshall öffnete den Mund, doch bevor er etwas sagen konnte, fügte ich noch hinzu: „Du weißt, dass ich Recht habe.“

Er schloss den Mund wieder, schaute mich einen stillen Moment an und seufzte dann geschlagen. „Du hast recht.“

Ich wartete.

„In Ordnung, ich werde mit ihr sprechen. Es ist an der Zeit, ihr mehr Verantwortung zu übertragen.“

Diese Worte überraschten mich so sehr, dass ich nicht wusste, was ich dazu sagen sollte. Also hielt ich den Mund. Woher der plötzliche Sinneswandel kam, wusste ich nicht, aber ich würde mich hüten noch weiter auf dem Thema herumzureiten. Ich hatte schließlich erreicht, was ich wollte und um an diesen Punkt zu gelangen, hatte es einen langen Weg erfordert.

Die restliche Strecke schwiegen wir die meiste Zeit. Unser Weg führte uns durch die Stadt in die Randbezirke. Der Abendhimmel hatte sich zu einem tiefen purpurrot verdunkelt und schon bald wurde aus dem dämmrigen Zwielicht, die anbrechende Nacht. In der nahenden Dunkelheit, wirkten die verwilderten Ruinen der Stadt, wie eine andere Welt. Ein Phantom voller Schatten und finsterer Löcher, in dem jedes Rascheln und Knarzen eine Melodie in einer fremden Sprache war. Die Überbleibsel der Stadt geben dem Wind eine Stimme, die die Ruinen singen ließ. Ich mochte diesen Klang. Er war mir so vertraut und hatte etwas Beruhigendes. Er bedeutete Heimat.

Ich hatte in meinem Leben noch nicht viel von der Welt gesehen. Es störte mich auch nicht, denn in meinem kleinen Teil der Welt fühlte ich mich wohl.

Marshall hatte mir einmal erzählt, dass diese Stadt vor Gaias Rache eine Kleinstadt gewesen war. Doch wenn dies hier eine Kleinstadt gewesen war, welche enormen Ausmaße musste dann eine Großstadt haben? Besonders eine Großstadt voller Menschen? Es gab Dinge, die überstiegen einfach meine Vorstellungskraft.

Als die ersten Sterne am Himmel zu funkeln begannen, wurden die Ruinen der Stadt kleiner, bis der Zerfall von einer blühenden Vegetation überwuchert wurde. Felder, voll mit hohem Gras, in dem nur vereinzelte Bäume und Büsche standen. Hier waren die Relikte der Vergangenheit weitestgehend der Natur zum Opfer gefallen. Doch in einigen hundert Fuß Entfernung standen mehrere verkommene Gebäude, die einer Leiche ähnelten, deren Verwesungsstadium sehr weit fortgeschritten war. Ein hoher Turm, an dem ganze Schwärme von Ranken hinaufkletterten, ragte aus ihnen empor. Wahrscheinlich waren diese Ranken der Grund, warum der Turm noch nicht in sich zusammengefallen war. Ganze Vogelschwärme umschwirrten die Spitze in einem immerwährenden Tanz.

Dies war unser Ziel. Nicht der Turm, oder die Ruinen eines einst imposanten Gebäudes, sondern das was dahinter lag. Ein Ort, der vor Gaias Rache als Flughafen bekannt war. Angeblich konnten die Maschinen, die es dort gegeben hatte, wie Vögel fliegen. Ich wusste was ein Flugzeug war und auch wie es aussah, denn ich lebte in einem, aber ich hatte niemals eines fliegen sehen.

Marshall und ich hielten auf die Ruinen zu, liefen aber an ihnen vorbei. Durch sie hindurch zu gehen war nicht nur gefährlich, sondern Lebensbedrohlich, denn alles dort war einsturzgefährdet. Das hatte mich in jüngeren Jahren natürlich nicht daran gehindert, meiner jugendlichen Neugierde zu folgen und die Gebäude auf eigene Faust zu erkunden. Es war niemals etwas passiert, dennoch mied ich die Gebäude heute, denn im reifen Alter von zweiundzwanzig Jahren hatte ich verstanden, dass es einfach nur dumm war, sich grundlos in Gefahr zu begeben.

Zwischen dem hohen Gras und den Sträuchern, gab es einen Trampelpfad, der sich durch die häufige Benutzung meiner Mischpoche deutlich von seinem Umfeld abhob. Er führte an verbogenen Stangen und rostigen Zaunresten vorbei, bis sich eine große Öffnung vor uns auftat, die den direkten Zugang zum Flugplatz gewährte.

Eine große Freifläche breitete sich vor uns aus.  Der Asphalt war rissig, die meisten Gebäude eingestürzt und die Natur kroch aus jeder Ritze und Spalte, die sie finden konnte. An den Rändern befand sich die Flora auf dem Vormarsch, bereit auch dieses Stück Land für sich einzunehmen.

Unser Ziel befand ich am anderen Ende des Flughafens. Mittlerweile wurde das Areal nur noch von den Sternen und dem Mond beschienen. Die wolkenlose Nacht machte es uns einfach, unser Ziel auch ohne Fackel nicht aus den Augen zu verlieren.

Auf halber Strecke hörte ich Marshalls Magen lautstark knurren. Ich grinste. „Da hat wohl jemand einen Bären verschluckt.“

„Wenn es nur so wäre.“

Aus der Dunkelheit schälte sich ein altes Gebäude heraus. In früherer Zeit wurde dieses Bauwerk als Flugzeughangar bezeichnet. Es diene wohl dazu, Flugzeuge sicher zu verwahren. Eine große viereckige Konstruktion, heute nur noch ein Schatten ihre einstmalige Pracht. Die großen Tore, die einmal die gesamte Frontseite eingenommen hatten, waren bereits vor langer Zeit verschwunden. Der rechte Teil des Hangars war vermutlich viele Jahre vor meiner Geburt in sich zusammengesackt. Auch das linke Teil des Daches hatte sich der Zeit und der Schwerkraft nicht entziehen können, wurde jedoch durch die große Boeing darin daran gehindert, bis auf den Boden herunter zu sacken. Dieser alte Hangar war das letzte noch halbwegs intakte Gebäude auf dem Gelände.

Unter den Trümmern des Gebäudes, gab es noch weitere Flugzeuge, doch die lagen bereits seit Jahrzehnten unter dem Schutt und den Scherben begraben. Auch draußen auf den Rollfeldern gab es noch andere Flugzeuge, die wir nutzen, wenn wir Ersatzteile und Flickzeug brauchten, um Löcher in unserer rostigen und altersschwachen Boeing zu flicken.

Als wir uns der großen Öffnung des Hangars näherten, wurden wir von dem fröhlich flackernden Licht aus der Feuergrube in der Vorhalle begrüßt. Das war der Teil des Gebäudes, dessen Dach im vorderen Bereich durch hölzerne Stützpfeiler oben gehalten wurde. Das alte Deckengebälk aus Stahlstreben war noch vorhanden, war jedoch verbogen, verbeult und zum Teil gebrochen. Doch mithilfe der hölzernen Stützpfeiler, sorgte es für einen geschützten und überdachten Bereich vor unserem Flugzeug.

Als ich an Marshalls Seite die Überreste das Halle betrat, begrüßten mich nicht nur ausgelassene Stimmen, sondern auch eine unerwartete Überraschung.

Die Vorhalle nutzen wir, um alles zu lagern, was zu groß war, um durch die Einstiegsluke in das Flugzeug zu passen. Gerätschaften für das kleine Feld hinter dem Hangar, Ausrüstung, zwei große Holzkarren – eine mit zwei, die andere mit vier Rädern. Von den Deckenbalken hingen Felle, gegerbte Lederhäute, Seile, Netze, Lederriemen und Bündel mit getrockneten Pflanzen und Kräutern. Genau wie ein paar Säcke voller Baumwolle und zerfaserten und gebürstetem Flachs, die dort auf ihre Weiterverarbeitung warteten. Sie hingen dort, um sie vor der Feuchtigkeit auf dem Boden zu schützen.

Im hinteren Teil lag die alte, rostige Boeing, die unter dem eingestürzten Dach des Flugzeughangars begraben lag. Das Fahrgestell war bereits vor langer Zeit verschwunden und der rechte Flügel fehlte, wodurch das ganze Flugzeug leicht schief war und nur noch durch das Dach halbwegs gerade gehalten wurde. Die Einstiegsluke war über eine gezimmerte Holztreppe ohne Geländer zu erreichen. Eine große, gewebte Schilfmatte verbarg den Eingang und diente als Tür.

Links unter der Überdachung des Hangars, befand sich ein großer Holzpferch, in dessen inneren ein laut kauendes Dromedar stand, das bei meinem Anblick ein lautes Blöken von sich gab. Das war mein ewig sturer Trotzkopf.

Die Überraschung bestand jedoch in den Leuten, die bei dem munter prasselnden Lagerfeuer in der Mitte der Halle standen. Zum einen war es Azra, eine wirklich dürre Frau, mit einem braunen Flechtzopf, der ihr bis zum knochigen Hintern reichte. Sie hatte ein langes Gesicht und eine lange Nase. Selbst ihre Körpergröße war lang. Insgesamt wirkte sie, als hätte sie ihr ganzes Dasein dem Laufen gewidmet.  Sie war erst Mitte dreißig, doch das Leben hatte sie gezeichnet und ließ ihr strenges Gesicht älter wirken, selbst wenn sie wie jetzt, ein Lächeln auf den Lippen trug.

Neben ihr stand meine kleine Schwester Nikita. Ein junges Mädchen von fünfzehn Jahren. Da wo meine schwarzen Haare raspelkurz am Kopf anlagen, hatte sie einen riesigen Wuschelkopf, der zu allen Seiten abstand. Meine Haut hatte die Farbe von Walnüssen, ihre dagegen war fast schwarz wie die Nacht. Sie war klein, zierlich und mager, und die Leinentunika schlackerte um ihre dünnen Beine. Ich war schlank, aber muskulöser und überragte sie um einen ganzen Kopf. Ich besaß sehr feine und ebenmäßige Gesichtszüge, mit einer kleinen Nase und einem sogenannten Schmollmund. Nikita wirkte … niedlich. Ihre magere Brust war das genaue Gegenteil von meiner üppigen Oberweite, doch die Augen waren genau die gleichen. Braune Augen mit grünen Sprenkeln darin. Unsere Augen hatten wir von unserer Mutter geerbt.

Diese beiden hatte ich erwartet. Wen ich dagegen nicht erwartet hatte, waren die beiden Männer, die bei ihnen standen: Saad und Taavin.

Saad war ein alter Mann, dessen einziges Interesse darin lag, den Schrott, den er aus den Ruinen vergangener Zeiten gezogen hatte, gegen nützlichen Tand wie Nahrung oder Kleidung einzutauschen. Er bezeichnete sich selber gerne als fahrenden Händler und reiste zusammen mit dem viel jüngeren Taavin und den drei Phantomen von Mischpoche zu Mischpoche, um sein Zeug an den Mann zu bringen. Manchmal hatte er wirklich interessante Sachen bei sich. Aber meisten fuhr er nur Schrott umher und erzählte so phantastische Geschichten, dass kein Zweifel daran bestand, dass sie einzig seiner Phantasie entsprungen waren.

Ich hatte die Beiden nicht mehr gesehen, seit sie im Frühling bei uns vorbeigeschaut hatten und hatte nicht erwartet, dass sie vor dem nächsten Herbst wieder hier auftauchen würden. Ja, dieser Besuch war wirklich unerwartet gekommen – aber nicht unwillkommen.

Die vier standen neben dem Lagerfeuer um einen alten Handkarren herum, in dem sich allerhand Schrott türmte. Der alte Mann beugte sich gerade vor, um den beiden Damen etwas in seiner Hand zu zeigen, als Azra unsere Ankunft bemerkte. Sie richtete sich auf und winkte uns zu sich heran. „Kommt her, das müsst ihr euch ansehen.“ Sie hatte für eine Frau eine sehr kratzige und tiefe Stimme.

Durch ihre Worte wurden nun auch die beiden Männer auf uns Aufmerksam. Mein Blick kreuzte sich mit dem von Taavin und seine blauen Augen glänzten erwartungsvoll. Er war ein junger Mann, nur wenige Jahre jünger als ich. Sehr maskulin, kräftig, mit schulterlangem, blondem Haar und einem kurzen Bart. Wäre das breite, kantige Kinn nicht, könnte man ihn glatt als hübsch bezeichnen. Er steckte in einer langen Lederhose und einer einfachen Lederweste aus Tierhäuten, die seine bloße Brust frei ließ. An seinen Füßen trug er alte Schuhe aus gegerbtem Leder, die auch schon bessere Tage gesehen hatten und an einer Schlaufe an seinem Gürtel hing ein Tomahawk.

Ich erwiderte seinen Blick mit kühlem Desinteresse.

Da ich auf sein erstes Blöken nicht reagiert hatte, begann mein Dromedar Trotzkopf zu randalieren. Er begann unruhig in dem Holzpferch herumzutrampeln, wühlte das Stroh auf, trat ungeduldig gegen seinen Wassertrog und rempelte immer wieder mit der Brust gegen das Gatter. Ich wusste genau, was er mit dem Tumult bezweckte. Er wollte meine Aufmerksamkeit. Also ging ich hinüber zum Gatter, während Marshall sich mit dem Schilfkorb im Arm zu der kleinen Gruppe gesellte.

Trotzkopf gab ein leises Blubbern von sich und streckte den Kopf über das Gitter hinweg, um an meinem Hals und meinem Kopf zu schnuppern. Direkt daneben an einem Posten, hing sein ledernes Zaumzeug und seine Führleine.

„Wenn ich dich nicht kennen würde, könnte ich glatt glauben, du hättest mich vermisst.“ Ich schob seinen Kopf zur Seite, lehnte meinen Fischspeer gegen das Gatter und ging dann hinüber zu der großen Kiste in der Ecke, wo ich einen großen Korb mit Weidefutter, Gräsern und anderem Unkraut füllte, das in der großen Kiste lagerte. Mir war bewusst, dass Trotzkopf viel lieber hinaus ins Freie gegangen wäre, um dort an frischen Halmen zu zupfen, aber es war dunkel und er hatte die dumme Angewohnheit, tagelang zu verschwinden, wenn ich ihn allein hinausließ. Also würde er sich mit dem hier zufriedengeben müssen.

Als ich mich ihm mit dem Korb näherte, lief er bereits aufgeregt am Gatter entlang, ohne mich aus den Augen zu lassen. Er stieß ein Röhren aus, als ich das Tor öffnete und ihn dabei zur Seite schob, damit er nicht ins Freie gelangte. Dann folgte er mir auf dem Fuße und versuchte bereits sein Futter aus dem Korb zu klauen, währen ich noch dabei war, es ihm in eine Ecke des Pferchs zu kippen.

„Geduld ist nicht gerade deine Stärke, wie?“

Er machte sich nicht einmal die Mühe den Kopf zu heben, um Interesse an mir vorzuheucheln.

Ich strich ihm über das kurze, zottige Fell. Vor nun fast acht Jahren hatte ich ihn als Kalb laut blökend zwischen den Trümmern zweier eingestürzter Häuser gefunden. Er hatte in einer Spalte festgesteckt und war aus eigener Kraft dort nicht mehr herausgekommen. Von seiner Mutter war weit und breit keine Spur zu finden gewesen und er selber war so kraftlos gewesen, dass er dort schon einige Tage drinnen gesteckt haben musste.

Mein erster Gedanke bei seinem Anblick war gewesen: Abendessen. Von so einem Kalb hätten wir gut ein paar Tage leben können. Marshall jedoch hatte es mir ausgeredet und gesagt, ich solle ihn behalten. Wenn er groß war, könnte er uns gute Dienste als Nutztier erweisen. Zwar hatten wir beide damals keine Ahnung gehabt, was für ein Tier er war, aber ich hatte auf ihn gehört.

Ein paar Jahre später, waren wir zum Markt weiter südlich gegangen. Das taten wir jedes Jahr im Herbst, um Vorräte für den Winter zu besorgen. Die Reise dorthin dauerte fast drei Wochen und da die Dinge, die wir tauschen wollten, zu schwer waren um sie alle zu tragen, hatten wir Trotzkopf vor einen Karren gespannt und ihn die Last ziehen lassen. Auf dem Markt hatte uns eine sehr alte Frau gesagt, was er war und dass es sehr schlau von uns gewesen war, ihn zu behalten.

Ich strich ihm ein letztes Mal durch das Fell und gesellte mich dann zu den anderen ans Feuer.

Sobald ich näherkam, richtete Saad seinen berechnenden Blick auf mich. Er war ein alter, gebeugter Mann mit zittrigen Fingern und einer Halbglatze, aber seine Augen waren scharf wie die eines Falken und sein Verstand arbeitet trotz seines Alters noch sehr gut. Saad aufgrund seines Aussehens zu unterschätzen, wäre ein Fehler.

Er trug eine alte Lederhose, die man bereits mehrfach ausgebessert hatte. Ein schmutziges Baumwollhemd, das am Kragen eingerissen war und abgetragene Schuhe aus gegerbtem Leder. In einer Scheide an der Hüfte steckte ein kleines Messer. „Kismet.“ Er griff in seinen Karren, kramte darin ein wenig herum. „Ich habe hier etwas, dass dich interessieren könnte.“

„Ach ja?“ Ich wurde misstrauisch. Keine Ahnung, was nun kommen würde.

„Ja. Die alte Mochica – du erinnerst dich an sie? – hat mir das im Tausch gegeben und ich musste dabei sofort an dich denken.“

Ich hatte keine Ahnung, wer die alte Mochica war und es war auch gar nicht wichtig.

Saad schob und drückte Dinge in seinem Karen hin und her. Es schepperte und polterte. Etwas klirrte und dann zog einen kleinen Topf aus Keramik hervor. Er war nicht groß, passte in seine Handfläche und war mit Wachspapier verschlossen. Triumphierend hielt er ihn mir vor die Nase. „Honig.“

Sofort wurde ich hellhörig, denn ich liebte Honig. Doch dank meiner Erinnerung, kehrte meine Misstrauen genauso schnell zurück, wie es verschwunden war. „Honig.“ Er war keine Frage, eher eine Herausforderung.

„Ja, Honig, nur für dich.“

Ich zog eine Augenbraue nach oben. „Das letzte Mal als du mir Honig angedreht hast, hat es sich als Zuckersirup herausgestellt.“

Saad blähte empört die magere Brust. „Das ist nicht wahr, es war Honig!“

„Nein war was nicht. Du hast mich betrogen und dich dann schnell aus dem Staub gemacht, bevor dein Schwindel aufgeflogen ist.“

Er hob sein Kinn ein wenig höher. „Das ist eine Frechheit! Welche Beweise hast du für deine Behauptung?“

Ich zeigte auf Marshall, Nikita und Azra, die unserer Unterhaltung aufmerksam folgten. „Zeugen.“

Saad funkelte mich böse an.

„Es ist wirklich Honig“, warf Taavin ein. Er hatte eine sehr weiche Stimme. Wenn er sprach, bekam ich immer das Gefühl, jemand würde mir hauchzart über die Haut streichen.

Ich blieb skeptisch. „Dass du ihn unterstützt, wundert mich gar nicht. Die wichtigere Frage lautet, was wollt ihr für den vermeintlichen Honig?“

„Es ist Honig“, erklärte Taavin erneut, während Saad auf den Schilfkorb in Marshalls Armen deutete. „Die Hühner aus dem Korb und ihr lasst uns heute Nach hierbleiben und mit euch essen.“

Ein Essen, ein Nachtlager und den Fang eines ganzen Tages? „Vergiss es, dass ist zu viel.“

Saad ließ den Arm mit dem Keramiktopf wieder sinken. „Honig ist nicht leicht zu bekommen. Er ist wertvoll.“

Da hatte er nicht unrecht und wenn ich ehrlich war, wollte ich diesen Honig unbedingt. Immer vorausgesetzt, es war das, was er versprach. „Gegenangebot. Du lässt mich kosten. Wenn es wirklich Honig ist, dann könnt ihr über Nacht bleiben und euch mit uns ans Lagerfeuer setzen.“

„Und was ist mit den Hühnern?“

„Keine Hühner, aber ich gebe euch zwei Fische.“

Marshall schien beinahe vor Stolz zu platzen. Wahrscheinlich, weil ich mich von Saad nicht einschüchtern ließ und ihm beim Feilschen einen harten Kampf lieferte.

„Du versuchst mich über den Tisch zu ziehen.“

„Nein, aber von dem Fisch wird man satt, von dem Honig nicht. Wenn du nicht willst, dann behalte deinen Honig und geh draußen in der Kälte mit knurrendem Magen schlafen.“

Er kniff die Augen leicht zusammen. „Du bist ein verdammt harter Verhandlungspartner.“

Ich wartete einfach ab.

Grummelnd löste Saad das Band um das Wachspapier und reichte mir dann den kleinen Topf.

Gespannt nahm ich ihn entgegen. Auf den ersten Blick sah es aus wie Honig. Ich tauchte einen kleinen Finger in die klebrige Masse und steckte sie mir dann in den Mund. Die Süße verteilte sich auf meiner Zunge.

„Und?“, fragte Azra.

Ich lächelte. „Es ist wirklich Honig.“

„Sag ich doch. Also, steht unser Deal?“ Saad streckte mir die Hand entgegen.

„Warte“, warf Nikita ein und hielt mir ihre offene Handfläche entgegen. Darin lag ein kleines Schmuckstück. Ein angelaufener Schmetterling aus Metall, mit bunten Glassteinen in den Flügeln. Ein paar der Glassteine fehlten bereits. „Den will ich haben.“

„Das ist Schrott.“

Sie funkelte mich böse an. „Ich möchte ihn haben. Du hast deinen Honig, ich möchte den Schmetterling.“

Ich öffnete den Mund, um ihr mitzuteilen, dass ich für die Bezahlung dieses Honigs gearbeitet hatte, wohingegen sie den ganzen Tag vermutlich wieder durch die Ruinen gestreunt war, aber bevor ich auch nur ein Wort hervorbringen konnte, sagte Marshall: „Du kannst ihn haben.“

Ich klappte den Mund wieder zu. Soviel zu strenger Erziehung.

„Dann will ich aber noch einen Fisch“, erklärte Saad. „Für den Anhänger. Oder Felle. Oder Leinen.“

„Noch einen Fisch.“ Marshall hob die freie Hand. „Schlag ein, oder lass es.“

Saad schlug ein und damit besiegelten die beiden Männer ihr Geschäft.

Nikita quietschte vor Freude und drückte Marshall einmal kurz an sich, während ich es mir verkniff, einen Seufzer auszustoßen.

Ich verschloss das Töpfchen sorgsam mit dem Wachspapier und ließ ihn in der kleinen Tasche meiner Tunika verschwinden. Den würde ich für einen besonderen Anlass aufheben und jeden Tropfen davon genießen.

„Ich werde mich dann mal um das Abendessen kümmern“, verkündete Azra und wandte sich Richtung Flugzeug.

Da fiel mir etwas auf. „Wo ist eigentlich Balic?“

„Der liegt drinnen und schläft seinen Rausch aus.“ Azra erklomm die Holzstufen und schob die gewebte Schilfmatte vor der Luke zur Seite. „Ich schaue mal, ob ich ihn wach bekomme, aber erwartet nicht zu viel. Er hat heute bereits zwei Flaschen geleert.“ Damit verschwand sie im Flugzeug.

„Nun gut, dann werde ich mich mal um die Hühner kümmern.“ Ich nahm Marshall den Korb ab, nahm die toten Vögel zur Hand und streckte den Korb dann Nikita entgegen. „Und du kümmerst dich um den Fisch.“

„Aber …“

„Tu was deine Schwester sagt“, befahl Marshall in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ.

Sie wollte es dennoch tun, ich sah es in ihrem Blick. Am Ende entschied sie jedoch, dass es nicht in ihrem Interesse lag, Wiederworte zu geben, nicht nachdem sie dank Marshall den kleinen Schmetterling bekommen hatte. Trotzdem war ihre Mine grimmig, als sie den Korb entgegennahm. Als sie uns den Rücken kehrte, stieß sie einen Seufzer mit all dem jugendlichen Unmut aus, den sie aufbringen konnte und teilte uns damit mit, wie ungerecht das Leben doch mit ihr war und dass niemals jemand verstehen würde, wie sehr sie unter uns litt.

Ich schüttelte nur den Kopf, nahm meine Hühner und machte mich an die Arbeit.

 

oOo

Kapitel 02

 

Mit einem leisen Fluch auf den Lippen, versuchte ich noch die Holzbecher festzuhalten, bevor sie auf den Boden fallen konnten. Einen erwischte ich, drei andere landeten klappernd auf dem nackten Metallboden des Flugzeugs und gaben dabei ein lautes Poltern von sich. Leider stieß ich mit meinem Manöver auch noch gegen das wacklige Holzregal, in dessen Folge ein Stapel Holzteller zu Boden krachte.

Als der Gedröhn verstummte und als ich die Bescherung besah, seufzte ich leise. Wenigstens hatte ich einen der Becher aufgefangen. Und da ich Balics lautes Schnarchen noch immer hörte, hatte ich ihn mit dem Lärm wohl auch nicht gestört.

Ich befand mich im vorderen Bereich der Boeing – man könnte diesen Teil wohl als unseren Wohnraum bezeichnen. Hier gab es grob gezimmerte Tische und Stühle, volle Regale und einen großen Webstuhl, mit dem Azra Stoffe aus Kamelhaar, Baumwolle und gebürstetem Flachs herstellte. In der Mitte gab es eine kleine Feuerstelle mit einem Rauchabzug darüber.  Als wir damals hierhergezogen waren, hatte Marshall ihn selber gebaut – und dabei viel und oft, sehr ausgefallen geflucht. Tierfelle lagen rund um die Feuerstelle auf dem Boden verteilt, um der Kälte der Metallbodens entgegenzuwirken. Wir nutzten sie eigentlich nur in den kühlen Jahreszeiten, wenn es zu frisch war, sich draußen in der Vorhalle aufzuhalten. Keiner von uns wollte Erfrierungen riskieren.

Das was früher einmal das Cockpit gewesen war, nutzten wir heute als Lagerraum. Die Fenster aus Glas waren schon vor langer Zeit verschwunden und durch Holz und Metallplatten ersetzt worden, um im Winter die Wärme drinnen zu halten.

Der hintere Teil des Flugzeugs, war durch eine eingezogene Wand aus Holz, vom Rest der Boeing abgetrennt. Dort befanden sich unsere Schlafstätten und von dort hörte ich auch das laute Schnarchen von Balic. Es klang fast wie ein gurgelndes Knurren. Es hörte sich nicht besonders gesund an, aber da dieses Geräusch völlig normal für ihn war, machte ich mir deswegen keine Sorgen.

Da ich für diesen Abend noch Pläne hatte, beseitigte ich das Chaos, versteckte meinen Honig ganz hinten im Regal und nahm mir einen alten Lappen, den ich in die Tasche meiner Tunika steckte. Dann schnappte ich mir ein paar der Holzbecher und eine Flasche mit dem Selbstgebrannten von Balic und trat damit aus dem Flugzeug hinaus.

Azra war gerade dabei einen Topf über die Feuergrube zu hängen, um mit dem Kochen des Abendessens zu beginnen. Ein Stück weiter saß Nikita auf dem Boden und bearbeitete missmutig den Fisch, um ihn haltbar zu machen. Marshall saß zusammen mit Saad und Taavin auf dicken Schilfmatten am Lagerfeuer und lauschte lachend den Geschichten des alten Mannes. Gut, genau wie ich es mir erhofft hatte.

Ich ging zu den drei Männern hinüber und kniete mich zu ihnen. „Hier, um euch die Wartezeit bis zum Abendessen ein wenig zu versüßen.“

„Ah, Kismet, du bist wahrlich mit Gaias Güte gesegnet“, rühmte Saad mich.

Grinsend füllte ich einen der Becher und reichte ihn ihm.

„Auf dich!“ Ohne auf die beiden anderen zu warten, setzte er seinen Becher an den Mund und leerte die Hälfte in einem Zug. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab und er hustete nicht einmal. Wow, da hatte aber jemand einen stählender Magen. „So sollte man einen Abend ausklingen lassen“, verkündete er mit einem breiten Lächeln.

Grinsend füllte ich auch die beiden anderen Becher und reichte je einen an Marshall und Taavin. Dabei bemerke ich sehr wohl das laszive Lächeln auf den Lippen unseres jungen Besuchers und auch den intensiven Blick, mit dem er mich bedachte. Ich ignorierte beides, stellte die halbvolle Flasche zwischen die drei Männer und erhob mich wieder, um sie ihren Gesprächen zu überlassen.

Keiner beachtete mich, als ich zu Trotzkopf hinüber ging, um nach dem Rechten zu schauen. Er ließ sich dazu herab, mir einen kurzen Blick zuzuwerfen, bevor er im Stroh weiter nach den Resten seines Futters suchte.

Ich warf noch einmal einen Blick über die Schulter und schlüpfte dann unbemerkt hinaus ins Freie. Sehr gut. Nicht dass es ein großes Drama wäre, wenn mich jemand gesehen hätte, aber ich hatte keine Lust auf eine Diskussion mit Marshall.

Die Nacht war mild und still. Der Halbmond strahlte zwischen den funkelnden Sternen in einem diffusen Licht. Ein paar Zikaden zirpten in dem hohen Gras hinter dem Hangar. Der Wind trug eine kühle Brise mit sich. Zum Glück war meine Tunika nach dem unfreiwilligen Bad im Bach bereits getrocknet, sonst würde ich nun frösteln.

Ohne mich noch einmal umzusehen, schlug ich den Weg nach links ein. Der flackernde Schein des Lagerfeuers erhellte nur einen Teil vor dem Gebäude und so war ich schon nach wenigen Schritten von den Schatten der Nacht umringt. Von hier aus würde niemand auch nur ahnen, dass sich hier bereits vor Jahren meine Mischpoche niedergelassen hatte. Nichts deutete auf Menschen oder Leben hin. Niemand der hier zufällig vorbei kam, würde uns bemerken, wenn wir es nicht wollten – dafür war unser Zuhause viel zu gut versteckt.

Durch Gaias Rache führte man hier draußen in den Weiten ein sehr einsames Leben. Es gab nur noch sehr wenige Menschen, aber auch die meinten es nicht immer gut mit einem – das hatte ich bereits sehr früh in meinem Leben gelernt. Manchmal war die Einsamkeit besser, denn sie schützte einen.

Ich lief an dem Hangar entlang, als ich vor mir in den Schatten plötzlich eine Bewegung wahrnahm. Dort, direkt an der Wand, halb verborgen in dem strohigen Gras, dass aus den Ritzen im Beton wuchs.

Ein Augenpaar beobachtete mich. Es fixierte mich mit einem so intensiven Blick, dass mir eine unangenehme Gänsehaut über den Rücken kroch und sich mir die Härchen auf den Armen aufstellten. Und dieses Augenpaar war nicht alleine. Direkt daneben war noch eines und ein Stück weiter ein drittes. Und sie alle hatten ihre starren Blicke auf mich gerichtet.

Wieder bewegte sich das Geschöpf in den Schatten und durch das Licht des Mondes war es mir nun möglich zu erkennen, um was es sich handelte. Phantomhunde.

Meine Muskeln spannten sich an.

Es waren keine Wölfe, auch wenn sie ihren vom Körperbau sehr ähnelten. Phantomhunde waren die Nachfahren von domestizieren Hunden. Meine Mutter hatte mir einmal erzählt, dass die vielen Menschen vor Gaias Rache, Hunde als Haustiere und Weggefährten hielten. Als die Menschen dann langsam ausstarben, zusammen mit vielen anderen Säugetieren, wurden aus den niedlichen Haustieren wilde Hunde. Sie waren breiter, kräftiger und größer als Wölfe, doch der markanteste Unterschied zu ihren wilden Vorfahren, war ihre Fellfarbe. Sie waren von einem seidigen Schwarz. Nur die Maske in ihrem Gesicht, die Brust und ihre Beine waren von einem rötlichen Braun.

Phantomhunde waren gefährliche Räuber. Ich hatte schon mehr als einen von ihnen erlegt, um mein eigenes Leben zu retten. Zum Glück waren sie sehr selten.

Von diesen drei Phantomhunden jedoch drohte mir keine Gefahr, solange ich sie in Frieden ließ, denn sie gehörten zu Saad und Taavin. Wie ich eins Trotzkopf aufgenommen hatte, so hatte Saad diese drei in seine Obhut genommen. Allerdings hatte er das Muttertier getötet, um an die Welpen zu kommen. Nun beschützten sie ihn und Taavin auf ihren Reisen.

Ich zwang mich dazu, mich zu entspannen und langsamen Schritts an ihnen vorbei zu gehen. Sie behielten mich genauso im Auge, wie ich sie. Dass sie so still waren, war geradezu unheimlich und meine Machete an meinem Gürtel zu lassen, verlangte mir eine enorme Willenskraft ab. Ich mochte Phantomhunde einfach nicht, denn ich kannte die Gefahr, die von ihnen ausging.

Langsam und äußerst wachsam schritt ich an ihnen vorbei und versuchte mich selber davon zu überzeugen, dass diese drei Hunde nicht weiter waren, als nette, kleine Kuscheltiere. Trotzdem atmete ich erst auf, als ich die eingerissene und verbogene Umzäunung erreichte und den Flugplatz am rückwärtigen Teil verließ. Hier gab es nichts als die Natur. Und eine sehr alte Straße, die man nur Stellenweise als das erkannte, was sie einst gewesen war.

Ich folgte der halb überwucherten Straße ungefähr einen halben Kilometer, bis ich eine alte Brücke erreichte, die in früherer Zeit eine einfache Straßenüberführung gewesen sein musste. Sie war eingestürzt. Der mittlere Teil lag in Trümmern auf der zerbröckelten und gebrochenen Straße darunter und alte Stahlstreben ragten wie bizarre Klauen aus dem gebrochenen Beton. Die Trümmer der Brücke stapelten sich wie eine abstrakte Treppe aus zerklüftetem Bruchstein und Betonblöcken in die Tiefe. Die Vegetation der Böschung war so hoch, dass sie mir bis zur Brust ging. Ein leises Rascheln ging vom Gras aus, der Wind, der wie ein einfühlsamer Liebhaber darüberstrich.

Ich trat bis an die Bruchkante der Brücke und ließ mich dort, wie schon viele Male zuvor, nieder. Ein Bein hing über die Kante, das andere zog ich an die Brust und legte mein Kinn darauf ab. Die Schneide meiner Machete schabte mit einem metallischen Klang über den alten Beton. Die überwuchertem Trümmer der Brücke lagen so hoch, dass ich sie mit meinem Fuß streifen konnte. Meine Augen richteten sich auf den Himmel und für einen Moment genoss ich einfach nur die Ruhe der Nacht.

Ich liebte die Nacht. Ich wusste nicht warum das so war, aber die Nacht hatte etwas Magisches. Es war, als würde mit dem Untergang der Sonne eine ganz andere Welt um mich herum erblühen, eine stille Welt, die mich jeden Abend aufs Neue mit ihrem Zauber gefangen nahm und die Probleme des Tages in weite Ferne rückten ließ.

Die Nacht hatte etwas Uraltes und Mystisches an sich. Bereits vor tausenden von Jahren hatten Menschen wie ich auf dieses Meer aus Sternen geblickt, fasziniert von deren Strahlen und Glanz. Sie hatten ihre eigenen Träume und Wünsche gehabt, aber tief drinnen mussten sie genauso wie ich gewesen sein. Sie liebten und hassten, sorgten sich um ihre Probleme und feierten ihre Triumphe.

Wenn ich irgendwann diese Welt verließ, würde dieses Sternenmeer noch immer am Nachthimmel funkeln und andere Menschen würden es betrachten und sich davon verzaubern lassen.

Lange saß ich einfach nur da, ein Teil der Nacht und der Natur. Wenn man genau hinhörte, war sie gar nicht so ruhig, wie man annahm. Es gab überall Geräusche. Das Lied des Windes, das Rascheln der Gräser, ein Kauz irgendwo in den Bäumen. Selbst in der Nacht lebte eine tote Welt.

Das Geräusch eines kleinen Steinchens, das hinter mit über den Asphalt rollte, erregte meine Aufmerksamkeit. Leise, beinahe lautlose Schritte folgten dem Geräusch. Die Leichtigkeit der Schritte und deren Rhythmus, waren mir vertraut, darum sah ich keinen Grund meinen Blick vom Nachthimmel abzuwenden. „Wenn die Nacht so klar ist, wirkt das Universum unendlich. Es lässt uns klein und unbedeutend erscheinen.“

Die Schritte hielten direkt hinter mir. „Du bist nicht unbedeutend.“

Wie immer, machte Taavins melodiöse Stimme etwas mit mir, das tief in mir einen wohligen Schauder auslöste. Seine Stimme war einfach nur faszinierend. Besonders wenn er sang, konnte sich ihm niemand entziehen. Es zwang einen geradezu dazu, seine volle Aufmerksamkeit auf ihn zu richten.

Saad hatte Taavin bei sich aufgenommen und großgezogen, als dieser gerade mal zwei Jahre gewesen war. Der alte Mann hatte nie erzählt, wie genau es dazu gekommen war und ich hoffte nur, dass er es nicht auf die gleiche Art getan hatte, wie mit seinen Phantomhunden. Wundern würde es mich allerdings nicht, denn dieser alte Scharlatan konnte ziemlich rücksichtslos sein, wenn er etwas wollte.

„Ich bin genauso unbedeutend wie du“, widersprach ich ihm. „Jeder von uns ist vergänglich, nur Gaia bleibt und sie entscheidet über unser aller Schicksal.“

„Gaia hat vor fast dreihundert Jahren über unser Schicksal entschieden, heute tun wir das wieder selber. Wir sind die Überlebenden der Apokalypse.“

Vielleicht hatte er recht, vielleicht aber auch nicht. Was damals geschehen war, war bereits so lange her, dass heute nur noch alte Geschichten und Legenden daran erinnerten.

Als ich noch ein kleines Kind gewesen war und meine Mutter mich und meinen großen Bruder Akiim zu Bett brachte, erzählte sie uns wie jeden Abend eine Geschichte. Damals hatte sie uns von Gaias Rache erzählt. Sie hatte von Menschen gesprochen, die Mutter Erde so sehr ausgebeutet hatten, dass die Natur entschied, dem ein Ende zu bereiten. Gaia machte viele Menschen unfruchtbar, doch wir waren nicht die einzige Spezies, die sie an den Rand der Ausrottung brachte. Vögel und Fische, ja selbst Reptilien entwickelten sich prächtig. Doch alles was ein Fell hatte, nagte am Rand seiner Existenz. Darum gab es von uns heute nur noch einen erbärmlichen Rest, der allen Widrigkeiten trotzte. Wenn die Menschen Gaia und ihre Gaben nicht zu schätzen wussten, musste dieser Fehler korrigiert werden. Und so war aus der dominierenden Spezies dieses Planeten ein Parasit geworden, der nach und nach ausstarb.

Was ich daran aber bis heute nicht verstand, war, warum auch andere Säugetiere deswegen sterben mussten. Pferde, Wildschweine und Kaninchen hatten nichts Böses getan. Amphibien, Reptilien, Vögel, Fische und Insekten dagegen, hatten nun die Herrschaft über diese Welt.

Das waren müßige Fragen und da ich darauf vermutlich niemals eine zufriedenstellende Antwort erhalten würde, verdrängte ich diese Gedanken und wechselte das Thema. „Du hast dir ganz schön Zeit gelassen.“

Das Geräusch von raschelnder Kleidung erklang hinter mir. Ein Finger strich mir über den Nacken und hinterließ eine kribbelnde Spur. Warmer Atem strich mir übers Ohr. „Ist da etwa jemand ungeduldig?“

Die Frage wurde kurzerhand ignoriert. Stattdessen drehte ich den Kopf, als Taavin mir einen zarten Kuss auf die Halsbeuge hauchte. Er hockte hinter mir, die Arme auf die Beine gestützt. „Hat dich jemand gesehen?“

Leichte Belustigung hob seine Mundwinkel. „Du meinst, ob Marshall mein Verschwinden bemerkt hat?“

Ja, genau das meinte ich, denn Marshall mochte ihn nicht. Nein, das stimmte so nicht. Marshall hatte kein Problem mit Taavin. Was er nicht mochte, war das Interesse, des jungen Mannes an mir. Ich dagegen genoss dieses Interesse sehr.  „War das eine Antwort?“

Er lächelte, hob eine Hand und folgte mit dem Finger meiner Kinnlinie. „Ich sagte ihnen, ich müsste mal austreten. Sie haben es kaum zur Kenntnis genommen. Sie haben bereits gut getrunken und Saad wird ihn mit seinen Geschichten sicher noch eine ganze Weile ablenken.“

Zumindest so lange, bis Marshall sich wunderte, wo unser Besuch abgeblieben war und er bemerkte, dass auch ich verschwunden war. „Das wollen wir mal hoffen.“

Sein Lächeln bekam etwas Selbstgefälliges. „Hast du etwa Angst um mich?“

„Ich? Nein.“ Wie zur Bekräftigung meiner Worte, schüttelte ich den Kopf. „Du solltest Angst um dich haben. Wenn Marshall mitbekommt, wie du mir nachstellst, wird er dir die Eier abschneiden und sie dir in den Mund stopfen, bis du daran erstickst.“

„Ich stelle dir nach?“ Sein Tonfall klang so amüsiert, dass auch ich schmunzeln musste. „Bisher hatte ich immer den Eindruck, du genießt meine Aufmerksamkeit.“

Das stimmte zwar, aber das würde ich ihn sicher nicht unter die Nase reiben, „Dein Ego kennt keine Grenzen.“

„Das liegt an der Art, wie du mich ansiehst.“

„Also jetzt raspelst du ein wenig zu viel Süßholz.“ Ich senkte auch das zweite Bein und sprang nach unten auf die Trümmer.

Taavin runzelte die Stirn. „Wo willst du hin?“

„Abstand gewinnen. Dein Ego saugt den ganzen Sauerstoff aus der Umgebung auf und nimmt mir die Luft zum Atmen.“

Seine Augen verengten sich ein ganz kleinen wenig, dann erhob er mit einem listigen Grinsen zurück auf die Beine und sprang zu mir auf die Trümmerteile der Brücke.

Ich kreischte vergnügt auf und ergriff die Flucht. Eilig und in dem Wissen, dass er mir folgte, kletterte und sprang ich die Bruchstücke der Brücke herunter. Kleine Steinchen und Dreck flogen dabei in alle Richtungen. Ich warf einen schnellen Blick über die Schulter, als Taavin fluchte, weil er fast weggerutscht wäre.

Kichernd sprang ich das letzte Stück zu Boden. Dreck, kleine Steinchen und vertrocknetes Gras knirschten unter meinen Füßen. Mit einem Grinsen rannte ich zur Böschung, nicht bereit mich allzu schnell von ihm einfangen zu lassen, doch auf halbem Wege wurde ich am Arm gepackt, herumgerissen und mit dem Rücken nicht allzu sanft gegen den mit Moos und Flechten überwachsenen Pfeiler der Brücke gedrückt. Mein Herz begann ein wenig schneller zu schlagen, als er so unüberwindlich vor mir aufragte. Unsere Blicke begegneten sich und in seinen Augen sah ich dieselbe Gier aufflammen, die auch ich verspürte. „Jetzt hast du mich gefangen. Und nun?“

Taavin drängte seinen ganzen Körper der Länge nach gegen meinen. Seine Hand schob sich in meinen Nacken, als wollte er mich an Ort und Stelle fixieren. Die Wärme seines Körpers drang durch die dünnen Schichten unserer Kleidung und ließ mich in freudiger Erwartung erschaudern.

„Nun bekommst du das, was du verdienst: Mich.“ Seine Worte besiegelter er, indem er seinen Kopf senkte und seinen Mund zu einem intensiven Kuss auf meinen drückte.

Es wäre mir ein Leichtes gewesen, mich gegen seine Attacke zur Wehr zu setzten, doch ich liebte diese kleinen gestohlenen Momente zwischen uns. Daher ließ ich es zu, dass er mich unterwarf und für diesen Moment als die seine Zeichnete.

All meine Sinne erwachten zum Leben. Er roch nach Mann und Wildnis. Er roch wie Taavin. Ich spürte jede Berührung wie einen elektrischen Schlag. Mein Körper erblühte, nicht weniger Begierig als seiner. Es war viel zu lange her, ich hatte das hier vermisst.

„Du hast mir gefehlt.“, murmelte er an meinen Lippen, als könnte er meine Gedanken lesen. Seine Hände packten mich begierig an meiner Taille, als wollte er verhindern, dass ich einfach wieder verschwand. „Egal wie oft ich dich sehe, ich bekomme einfach nicht genug von dir.“ Taavin schob seine Hand an meinem Körper hinauf und umfasste meine Brust. Als er die Spitze berührte, entschlüpfte mir ein wohliges Seufzen. „Ich werde wohl niemals genug von dir bekommen.“

„Du redest zu viel“, erklärte ich ihm und schob meine Hände über seine muskulöse Brust hinauf und vergrub sie in seinem blonden Haar. Ich wollte nicht reden, ich wollte ihn spüren und genau das tat ich auch.

Er drängte seinen ganzen Körper gegen mich, sodass ich seine Härte an meinem Bauch spüren konnte und mich wohlige Erregung durchzuckte. Eine seiner Hände glitt zu meiner Hüfte, gleich darauf löste sich mein Gürtel und fiel samt der Machete in das trockene Gras zu unseren Füßen.

Langsam glitten seine Finger mein nacktes Bein hinauf. Er rieb sich an mir, schob mir einen Schenkel zwischen die Beine und gab ein Geräusch männlichen Stolzes von sich, als ich leise keuchte. Ein kleiner Blitz schien meinen Körper zu durchzucken und heizte mich noch weiter an.

Eine Hand umschloss meinen Schenkel und hob ihn leicht an. Damit veränderte er meine Position auf eine Art, die es ihm erlaubte, mehr Druck auf meine Mitte auszuüben. Das Gefühl war überwältigend.

„Mehr“, keuchte ich an seinen Lippen und er gab mir mehr.

Seine Lippen glitten an meiner Kinnlinie entlang, küssten die Empfindliche Stelle an meinem Hals. Sein Bart kratzte über meine empfindliche Haut und ließ sie prickeln. Eine Hand fand seinen Weg zu meiner Brust und als er die harte Spitzte berührte, stöhnte ich leise. Das fühlte sich so gut an.

Vor nun fast zwei Jahren, war Taavin der erste Mann gewesen, der mir auf diese Art nahegekommen war. Natürlich hatte ich bereits vorher gewusst was Sex war. Ich lebte mit vier anderen Personen in einem Flugzeug und Marshall und Azra waren nicht immer Diskret gewesen, doch vor Taavin hatte mich noch nie ein Mann auf diese Art berührt. Dass er drei Jahre jünger war als ich, störte keinen von uns beiden, wir genossen einander nur in den kurzen Augenblicken, die wir zusammen verbringen konnten.

Ich spürte, wie meine Erregung stieg, als ich meine Hände gierig über seinen Körper gleiten ließ und genoss die Macht über ihn, als ich seinen harten Penis durch seine Hose drückte. Sein Stöhnen und der feste Griff seiner Hände verrieten mir, wie sehr auch er es genoss.

„Bei Gaia, du bringst mich noch um.“

„Später vielleicht, noch brauche ich dich.“ Ein Keuchen entrang sich mir, als er mir in die Brustwarze kniff. Ein elektrischer Schlag jagte durch meinen ganzen Körper und ließ meine Mitte pulsieren. Ich rieb mich hemmungslos an seinem Bein und genoss das Gefühl.

Auf einmal packte Taavin meine Handgelenke und drückte meine Arme über meinen Kopf gegen den mit Flechte überwucherten Betonpfeiler. „Lass sie da“, befahl er mir und griff dann nach dem Saum meiner Tunika.

Ich wand mich, als er sie langsam hochschob und mich dabei immer wieder berührte, gehorchte ihm aber. Als das Kleidungsstück zu meiner Machete auf den Boden flatterte, stand ich nackt vor ihm und genoss seine gierigen Blicke, die jeden Flecken meines Körpers abtasteten.

„Wunderschön wie die Nacht selber“, murmelte er und ging dann vor mir auf die Knie.

In Vorfreude auf das was nun geschehen würde, stöhnte ich leise. Er schob meine Beine ein wenig auseinander. Seine Hand strich langsam über die vielen feinen Narben an meinem rechten Oberschenkel. Andenken an meine Zeit, als ich noch zu ungeschickt mit meiner Machete gewesen war, um sie sicher an meinem Gürtel unterzubringen. Und dann konnte ich seinen Mund endlich auf meinem geschwollenen Fleisch spüren. Ein Keuchen entrang sich mir und meine Hände gruben sich aus eigenem Antrieb in sein Haar. „Oh Gaia“, stöhnte ich.

Ein Ball der Lust schwoll in mir heran. Die warme Nachtluft strich wie eine Liebkosung über meine nackte Haut und ließ sie hochsensibel werden. Und sein Mund erst, bei Gaia, dieser Mund!

Ich spürte wie mein Herz immer schneller schlug und das Blut durch meine Adern rauschte. Ich spürte all diese Gefühle, die mich in eine andere Sphäre zu katapultieren drohten. Mein Atem und Keuchen wurden immer heftiger. Taavin grub seine Hände in meine Hüften, damit ich mich nicht zu sehr wand und gab dabei ein Geräusch von sich, das mich am ganzen Körper kribbeln ließ.

„Hör nicht auf“, stöhnte ich. „Bei Gaias Güte, hör bloß nicht auf.“ Ich war so kurz davor und dann … hörte er einfach auf.

Einen kurzen Moment hätte ich am liebsten geschrien, oder ihm einfach eine geklebt. Als er mich dann auch noch frech angrinste, krallte ich meine Finger fester in sein langes Haar, doch bevor ich überhaupt die Gelegenheit bekam etwas zu sagen, kam er wieder auf die Beine und drückte seinen Mund in einem so gierigen und intensiven Kuss auf meinen, dass mir einen Moment tatsächlich der Atem wegblieb.

„Taavin“, stöhnte ich, einfach weil das fies von ihm war.

„Du bist immer viel zu ungeduldig“, murmele er an meinen Lippen und drückte sich fest an mich. Seine Hand fand meine Brust und liebkoste die bereits viel zu überreizte Haut.

„Und du bist ein Mistkerl.“

Der Mistkerl packte mich plötzlich am Arm, riss mich herum und drückte mich mit dem Gesicht voran gegen den Pfeiler. Er drängte sich fest gegen mich, rieb seinen harten Schafft gegen meinen Po und entlockte mir damit ein weiteres Stöhnen. „Ich will dich einfach nur so lange wie möglich auskosten.“ Er hauchte einen Kuss auf meinen Nacken und biss mir dann leicht in die Schulter. „Dieses Vergnügen habe ich einfach viel zu selten.“

„Wenn du mit deinen Spielchen nicht aufhörst, wirst du dieses Vergnügen nie wieder haben“, drohte ich ihm, rieb mich aber gleichzeitig an ihm. Oh Gaia, das war die reinste Qual.

Eine seiner Hände glitten über meinen Bauch hinunter in tiefere Regionen. Gleichzeitig zerrte er an seiner eigenen Hose und gleich darauf spürte ich seine Erektion an meinen Hintern. „Stütze dich ab“, verlangte er von mir, griff gleichzeitig nach meiner Hüfte und zog meinen Hintern ein Stück nach hinten. Ich spürte wie seine Finger über meinen Po glitten, bis zu der feuchten Stelle zwischen meinen Beinen. „Oh ja“, murmelte er und ließ einen Finger in mich gleiten. „Sag mir, dass du mich willst.“

Das musste ich ihm noch sagen? „Du willst doch nur, dass ich dein Ego streichle.“ Ich drängte mich seinem Finger entgegen, auch wenn das nur ein kläglicher Ersatz für das war, nach dem ich mich wirklich sehnte.

„Vielleicht braucht mein Ego das ja. Sag es mir Kiss, sag mir was ich tun soll.“

„Fick mich.“ Da, bitte, ich hatte es gesagt und wenn er es jetzt nicht tat, würde ich ihn umbringen müssen.

„Dein Wunsch ist mir Befehl.“

Ich spürte seine harte Erektion an meinem Eingang, doch anstatt sich in mich hinein zu bohren, folterte er mich noch ein wenig, bevor er sich mit quälender Langsamkeit in mich hineinschob.

Das Gefühl war berauschend.

„Das ist es, was du willst, nicht wahr?“ Er zog sich zurück, nur um sich genauso langsam wieder in mich zu bohren. „Du bist so eng.“

Ich stöhnte.

„Sag mir, dass ich der Einzige für dich bin.“

Das tat ich nicht. Nicht nur, weil es nicht der Wahrheit entsprach, sondern weil ich ihm keinen Grund zum Aufhören geben wollte.

Taavin war der erste Mann für mich gewesen, genauso wie ich die erste Frau für ihn gewesen war. Damals war es anders, unbeholfen, unsicher und auch ein wenig peinlich, aber auch wenn ich so gut wie keinen Kontakt zu anderen Menschen in meinem Leben hatte, so war er nicht der einzige Mann gewesen, der in meinen Orbit eingeschwungen war.

Im letzten Jahr auf dem Herbstmarkt, hatte es da noch jemanden gegeben. Ich war ihm vorher nie begegnet und hatte ihn danach auch nicht wiedergesehen. Ich wusste weder seinen Namen, noch, ob er überhaupt noch lebte. Doch diese eine Nacht mit ihm, würde ich niemals vergessen. Sie war ganz anders als das hier gewesen und gehörte zu meinen liebsten Erinnerungen. Doch das war etwas, das ihn nichts anging. Außerdem wusste ich mit Sicherheit, dass auch er bereits andere Freuen beglückt hatte. Also stöhnte ich stattdessen nur ein weiteres Mal: „Taavin, bitte.“

„Du machst mich wahnsinnig“, keuchte er und dann begann er sich endlich richtig zu bewegen. Eine Hand grub sich in meine Taille, während die andere ihren Weg zwischen meine Beine fand. Ich brauchte diesen zusätzlichen Reiz, um ans Ziel zu gelangen.

Unser Keuchen und Stöhnen wurde lauter, unsere Bewegungen unkontrollierter. Ich stütze mich mit den Armen ab und grub die Zehen in den trockenen Boden, um seinen Stößen entgegen zu kommen. Die Lust in mir schwoll an, mein Herz schlug mir bis zum Hals und jedes Nervenende in meinem Körper stand erwartungsvoll in Habachtstellung.

Die Berührungen seiner Finger in meiner Mitte wurden immer intensiver. „Komm Kiss, komm für mich.“

Mein Herz flatterte wie das eines Kolibris, jede seiner Berührungen sandte einen Stromstoß durch meinen ganzen Körper. Seine Bewegungen wurden immer schneller und dann spürte ich, wie der Ballon aus Lust mit einem Schlag in mir explodierte.

Ich stöhnte laut auf und spürte wie mein Innerstes sich um ihn herum zusammenzog.

„Oh Gaia.“ Sein Keuchen wurde lauter, seine Bewegungen hektischer, wodurch mein Orgasmus noch intensiver wurde. Dann spürte ich, wie er sich ein letztes Mal tief in mich hineinbohrte und sich mit einem tiefen Stöhnen in mich ergoss.

Keuchend und schwitzend verharrten wir einen Augenblick einfach so wie wir waren und versuchten wieder zu Atem zu kommen, während die Wellen der Erregung in uns langsam abebbten. Mein Herzschlag begann sich zu beruhigen, während mein Blut noch immer vor Lust und Erregung summte.

Ich stand einfach da, eingehüllt in seiner Wärme und fühlte mich gut. Die Nacht war lau, die Sterne funkelten und der Mond beobachtete uns mit seinem diffusen Licht.

Hauchzart strichen seine Lippen über meinen erhitzten Nacken und ließen die Haut dort prickeln. „Begleite mich morgen, wenn wir weiterziehen.“

Und damit kam der wundervolle Moment mit quietschenden Reifen zum Stillstand. Oh Gaia, warum musste er immer wieder damit anfangen? „Nein Taavin, nicht das schon wieder.“ Meine Stimme war mehr ein Seufzen, als eine Ablehnung.

„Warum nicht? Was hält dich hier?“

Ich hätte wissen müssen, dass es mal wieder damit enden würde. „Du meinst abgesehen von meiner Mischpoche?“ Ich schob ihn von mir, sodass er sich von mir lösen musste. Es war ein Gefühl von Verlust, das ich nicht mochte und ich mochte es auch nicht, dass ich es nicht mochte. Manchmal war ich wirklich seltsam.

„Es wäre ja nicht so, als würdest du sie nie wieder sehen.“

Bei Marshall, Azra und Balic wäre das vielleicht sogar möglich, aber Nikita? „Ich kann meine Schwester nicht zurücklassen, das würde sie mir niemals verzeihen.“

„Dann nimm sie mit.“

„Sie würde nicht gehen, nicht freiwillig. Sie mag das Reisen nicht.“ Ich schnappte mir meine Tunika vom Boden und streifte sie mir wieder über. Taavin beobachtete das, als wäre es ein Verlust mich wieder bekleidet zu sehen, „Außerdem mag ich mein Leben hier.“

„Das ist kein Leben, das ist eine Endlosschleife. Jeden Tag das Gleiche. Auf Reisen kannst du Abenteuer erleben und Dinge sehen, die du dir nicht vorstellen kannst.“ Er schloss seine Hose und schaute mich dann sehr ernst an. „Du gehörst zu mir, das weißt du genauso gut wie ich. Warum also sträubst du dich noch so?“

„Ich gehöre nur mir allein und ich entscheide, was ich tue.“

„Du meinst wohl, Marshall entscheidet was du tust.“ Nun hatte sich ein leicht bitterer Unterton in seine Stimme geschlichen.

Mir stellten sich die sprichwörtlichen Stacheln auf. „Ich denke es ist an der Zeit, dass du zurück gehst, bevor Marshall sich noch Gedanken darüber macht, wie lange du pinkeln kannst.“

Er öffnete den Mund.

„Geh jetzt.“ Ich fixierte ihn mit unnachgiebigem Blick. „Bitte.“

Seine Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Er wollte noch etwas sagen, ich sah es ihm an, aber dann schnaubte er nur, wandte sich ab und stampfte die Böschung hinauf.

Ich ließ mich mit einem Seufzen an dem Betonpfeiler auf den Boden sinken. Immer wieder endete unsere gemeinsame Zeit genau so, dabei musste es doch gar nicht so sein. Ich mochte Taavin, sehr sogar, aber ich liebte ihn nicht. Ich wusste was liebe war. Ich hatte sie zwischen meinen Eltern erlebt. Die Gefühle zwischen ihnen waren praktisch mit Händen zu greifen gewesen. Zumindest bis zu dem Tag, als mein Vater seiner Krankheit erlag. Damals war ich gerade mal acht Jahre gewesen. Danach hatte meine Mutter sich verändert. Früher immer fröhlich, war sie nach dem Tod meines Vaters oft in Melancholie versunken und hatte viel geweint.

Das war es was ich wollte. Nicht das mit dem Weinen, sondern diese Verbundenheit, die innige Zusammengehörigkeit, ohne Wenn und Aber. Wenn ich jemals das Glück haben sollte, dass mir die wahre Liebe begegnete, würde ich diesem Mann auch bis ans Ende der Welt folgen, aber Taavin liebte ich nicht. Ich hatte ihn sehr gerne und genoss die Zeit und das Zusammensein mit ihm sehr, doch das war nicht das Gleiche.

Auch er liebte mich nicht, da war ich mir sicher. Für ihn war ich einfach nur ein weiteres Abenteuer, etwas das er genoss und gerne hatte, aber würde ich mit ihm gehen, würde sich das sicher ganz schnell ändern. Taavin und ich kannten uns seit Jahren, aber im Grunde war das nur eine flüchtige Bekanntschaft, an der ich auch nichts ändern wollte. Wenn er nur ein wenig Zeit gehabt hatte, würde er es sicher auch so sehen. Und falls nicht, wäre das auch nicht mein Problem.

Seufzend schnappte ich mir meinen Gürtel, stemmte mich zurück auf die Beine und schnallte mir meine Machete wieder um die Hüfte. Dann nahm ich den Lappen aus der Tasche meiner Tunika und beseitigte so gut es eben ging die Reste von Taavin zwischen meinen Beinen.

 

oOo

Kapitel 03

 

Als ich zehn Minuten später in die Vorhalle des Flugzeughangars zurückkehrte, saß Taavin bereits wieder bei den beiden Männern an der Feuerstelle und setzte gerade einen Holzbecher an seinen Mund. Er wirkte … nicht direkt verärgert, eher bockig – wie ein kleines Kind, das nicht seinen Willen bekommen hatte.

Sollte er doch bockig sein. Ich würde mein Leben nicht für ein kurzes Abenteuer über den Haufen werfen, dessen Ende bereits jetzt in Sichtweite lag. Und er würde sich schon wieder beruhigen, das war immer so.

Neben den Männern stand eine zweite Flasche von Balics Fusel und die Wangen der drei Kerle waren bereits leicht gerötet. Wahrscheinlich würde das nicht die letzte Flasche heute Abend sein. Wir bekamen nicht oft Besuch und wenn dann wurde das immer ein kleinen wenig gefeiert.

Von Azra und Balic war weit und breit nichts zu sehen.

Auch Nikita saß am Feuer und lachte über etwas, das Saad gerade gesagt hatte. In der rechten Hand hielt sie ebenfalls einen Holzbecher.

Ich runzelte die Stirn. „Da ist hoffentlich nur Wasser drin.“

Wie es nur Mädchen in ihrem Alter möglich war, verdrehte sie die Augen und ließ mich damit wissen, wie anstrengend ich doch war. „Als wenn ihr mich etwas anderes als Wasser und Tee trinken lassen würdet.“

„Ich habe dich schon mal dabei erwischt, wie du versucht hast, dich mit einen von Balics Flaschen heimlich aus dem Staub zu machen“, rief ich ihr in Erinnerung. Ich war mir sogar ziemlich sicher, dass sie bereits ein paar Mal erfolgreich Schnaps weggeschmuggelt hatte. Anschließend war sie dann immer die ganze Nacht verschwunden gewesen und erst in den frühen Morgenstunden wieder aufgetaucht – dick verkatert und mit rot unterlaufenden Augen.

Zugegeben hatte sie es allerdings nie. Mir dann aber Vorhaltungen machen, dass ich jeden Aspekt ihres Lebens kontrollieren wollte, das schaffte sie dann immer noch, bevor sie im Flugzeug verschwand und den restlichen Tag verschlief.

„Ein einziges Mal“, sagte Nikita entnervt. „Wirst du mir das jetzt bis an mein Lebensende vorhalten?“

„Ja.“

Saad stieß ein Glucksen aus. „Das Vorrecht einer großen Schwester.“

„Na für irgendwas muss ich ja gut sein“, erwiderte ich und ignorierte Nikitas Schnauben.

Marshall klopfte neben sich auf die Schilfmatte, als er Taavins frustrierten Blick auf mich bemerkte. „Komm, setzt dich zu uns.“

Und zwar neben ihn und damit möglichst weit von Taavin entfernt. Dieser Mann war so durchschaubar. Daher konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich seiner Aufforderung nachkam.

In dem Topf über der Feuerstelle, kochte und brodele es. Das Essen darin wehte mir einen himmlischen Duft entgegen und mein Magen begann sofort wie auf Kommando an zu knurren. Ich hatte seit dem Morgen nichts mehr gegessen und das rächte sich nun.

Sobald ich saß, kreuzten sich wieder die Blicke von Taavin und mir. Er versuchte seinen Frust hinter einer gleichmütigen Maske zu verstecken, was mich nur noch breiter lächeln ließ. Immer dasselbe Spielchen mit ihm.

„Wo warst du?“, wollte Marshall wissen, schenkte sich seinen Becher dabei noch einmal voll und nippte dann daran.

„Auf der Brücke.“

Die Art wie er mich daraufhin ansah … es war nicht so, dass er mir nicht glaubte, denn er wusste, dass ich oft zu der Brücke ging, um für mich zu sein, doch scheinbar hatte er Taavins Verschwinden doch bemerkt und das gefiel ihm gar nicht. Er hielt ihn für einen dummen Jungen, der mir nur Flausen in den Kopf setzte. Das zumindest war meine Vermutung.

„Oh, die Brücke“, sagte Saad, als hätte ich ihm damit irgendein Stichwort gegeben. Seine Stimme klang leicht lallend. „Ihr kennt doch die Brücke im Westen, ihr wisst schon, die mit den großen Bögen?“ Er ließ es wie eine Frage klingen.

„Die, die wir passieren müssen, wenn wir zum Herbstmarkt wollen.“ Ja ich wusste welche Brücke er meinte.

„Die ist weg.“ Er machte mit der Hand eine Bewegung, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen. „Einfach eingestürzt. Weiß nicht warum, aber es ist lästig, jetzt müssen wir immer einen riesigen Umweg laufen. Diese Welt geht zugrunde.“

Eine große Neuigkeit, die man uns unbedingt mitteilen musste. Vielleicht sollte ihn jemand darüber aufklären, dass wir uns inmitten der Apokalypse befanden? Oder zumindest in den Resten davon.

„Aber das hat auch etwas Gutes“, fügte er noch hinzu.

„Ach ja?“ Ich schnappte mir den halbleeren Becher von Marshall und trank einen Schluck von dem Schnaps darin. Die Flüssigkeit brannte wie Feuer durch meine Speiseröhre und ich musste mich stark zusammenreißen, um ein Keuchen zu vermeiden. Mann, was hatte Balic da nur wieder zusammengebraut?

„Ja.“ Saad nickte eifrig. „Weil wir eine andere Route nehmen mussten, haben wir auf dem Weg hier her eine Herde Rinder gesehen.“

„Rinder?“ Ich horchte auf. „Wirklich?“

„Ja. Es war an der …“ Er runzelte die Stirn. „Es müsste bei …“ Wieder verstummte er in dem Versuch seinen benebelten Geist ein wenig klar zu bekommen, um seine Gedanken in die richte Reihenfolge zu bringen.

„Vier Tagesreisen westlich von hier“, sagte Taavin ohne mich anzuschauen. Er griff hinüber zu der Flasche, um seinen Becher noch einmal zu füllen. Dass die Flasche direkt neben meinem Bein stand, nutzte er dabei schamlos aus, indem er wie zufällig mein Bein streifte und mich damit daran erinnerte, was wir eben getrieben hatten. Seine Augen begannen zu funkeln. Auch er spielte die Szene in seinem Kopf noch einmal durch.

Gemeiner Bastard.

„Es müssen fast ein Dutzend Rinder gewesen sein. Gut genährt.“ Er setzte sich wieder zurück und tat so, als wäre nichts gewesen. Wenigstens hatte er die Bockphase jetzt hinter sich gelassen. „Sie hatten sogar ein Kalb bei sich.“

Fast ein Dutzend Rinder. Schon ein Rind würde reichen, um uns eine ganze Woche wie Könige leben zu lassen. Wenn wir mehr als eines jagten und das Fleisch haltbar machten, hatten wir für eine ganze Weile ausgesorgt.

Vor drei Jahren war mir eine erfolgreiche Jagd auf ein Reh gelungen. Wir hatten Tagelang davon essen können. Doch seitdem hatte ich keines mehr gesehen. Seitdem hatte ich überhaupt nichts ähnliches in der Größenordnung mehr gesehen – abgesehen von Trotzkopf, aber den würden wir nur im äußersten Notfall essen.

Ich drehte mich zu Marshall. „Wir müssen da hin.“ In Meinem Kopf begann ich bereits zu planen. Vier Tage entfernt. Dann würden wir sie auch noch finden müssen. Es konnte gut sein, dass uns eine solche Jagd gut zwei Wochen kosten würde. „Wir nehmen Trotzkopf und den Karren mit.“  Samt Dromedar unbeschadet durch die halbe Stadt zu kommen, würde nicht nur anstrengend, sondern auch Zeitaufwendig werden, aber es wäre nötig, denn keiner von uns hatte die Kraft, auch nur ein halbes Rind nach Hause zu tragen. „Und ich muss noch Pfeile machen, aber dann …“

„Nun mal langsam“, unterbrach Marshall mich. „Heute werden wir sowieso nirgends mehr hingehen und für die nächsten Tage haben wir genug zu Essen.“

„Ich will nicht mit“, erklärte Nikita. „Ich hasse die Jagd. Das ganze Blut und …“

„Aber essen willst du es doch auch.“ Ich fixierte sie. „Dann kannst du auch mithelfen, anstatt immer allein durch die Gegend zu ziehen und nichts zu tun.“

Oh, wenn Blicke Blitze verschießen könnten, hätte sie mich jetzt gegrillt. „Ich tue sehr wohl etwas. Ich kann es nur allein machen, ohne dass du mir ständig im Nacken sitzt.“

„Allein ist nicht gut.“ Saad hielt Taavin seinen leeren Becher hin. Er folgte der Aufforderung wortlos und füllte ihn noch einmal nach. „Diese Zeiten sind viel zu gefährlich, um allein umherzuziehen. Es geschehen sonderbare Dinge.“

Ich hob eine Augenbraue. „Sonderbare Dinge?“ Nun war ich gespannt. Saad erzählte gerne Geschichten von seinen Reisen. Manche waren wirklich interessant, bei anderen wusste man sofort, dass sie nur ausgeschmückte Halbwahrheiten sein konnten.

„Ja.“ Saad nickte, um diesem Wort noch einmal Nachdruck zu verleihen. „Vor ein paar Wochen ist uns auf unserer Reise etwas sehr seltsames passiert.“

Taavin verdrehte die Augen. Scheinbar wusste er bereits, was nun kommen würde. „Hör auf den Leuten diese Geschichte zu erzählen, das ist Blödsinn. Du machst ihnen damit nur Angst.“

„Sie sollten auch Angst haben.“ Er beugte sich ein wenig in Marshalls Richtung. „Ihr wisst doch wer die Nowaks sind.“

Die Nowaks waren eine kleine Mischpoche von drei Frauen, die weit im Süden in einem kleinen Waldstück lebten. Sie waren aufgrund ihrer Fähigkeiten als Heiler in der Gegend ziemlich bekannt, doch selbst bei einem strammen Marsch würden wir fast einen Monat brauchen, um zu ihnen zu gelangen.

Ich hatte sie ein paar Mal auf dem Herbstmarkt gesehen. Viele Leute aus der Region gingen dort hin und unternahmen dafür sogar wochenlange Reisen auf sich. Niemals in meinem Leben hatte ich so viele Menschen wie auf dem Markt auf einem Haufen gesehen. Es mussten immer ein paar hundert sein. Das waren wirklich viele Menschen.

„Sicher“, stimmte Marshall ihm zu.

„Sie sind verschwunden“, verkündete Saad mit unheilschwangerer Stimme.

Meine Augenbrauen zogen sich ein Stück zusammen. „Was meinst du mit verschwunden?“

„Weg. Puff.“ Er machte mit den Armen eine Bewegung, als wollte er andeuten, sie hätten sich wie von Zauberhand einfach in Luft aufgelöst. „Wir waren bei ihrem Haus. Ich hatte ein paar seltene Kräuter bei mir, die ich ihnen im Tausch gegen Arzneien anbieten wollte, aber sie waren nicht da. Die Tür stand sperrangelweit offen, auf dem Tisch lagen noch ihre Arbeiten, als hätten sie sie nur kurz abgelegt und der Wind hatte altes Laub hineingeweht. Ansonsten war das Haus völlig unberührt, alles stand da wo es hingehörte.“

Was es ihm vermutlich leichter gemacht hatte, die Sachen zu finden, die er hatte haben wollte.

„Überall war eine Staubschicht, so als wären sie bereits längere Zeit fort. Ihre Lebensmittel aber waren noch nicht verdorben, ich habe es überprüft.“

Da hatte er sicherlich auch zugeschlagen. In dieser Welt musste eben jeder sehen, wo er blieb.

„Es sah aus, als wären sie für einen kurzen Spaziergang aus dem Haus gegangen und nicht wiedergekommen.“ Er hob vier Finger. „Vier Tage haben wir auf sie gewartet, aber keine Spur von ihnen. Taavin ist sie suchen gegangen, zusammen mit den Hunden, aber ihre Spur endete am Waldrand. Es war, als hätten sie sich einfach in nichts aufgelöst.“

Da war wirklich seltsam. Natürlich kam es immer mal wieder vor, dass Menschen verschwanden. Die Welt war gefährlich. Nicht nur wegen der wilden Tiere, auch die Ruinen selber waren kein sicherer Ort. Allein unter dieser Stadt gab es kilometerweite, unterirdische Tunnel. Die meisten von ihnen waren verschüttet oder geflutet, aber manche standen noch. Manchmal jedoch stürzten auch diese noch ein und rissen dann alles über sich mit in die Tiefe.

Ich selber war mal durch einen morschen Boden in einen Keller hinabgestürzt und hatte mir dabei das Bein gebrochen. Ich wusste also sehr genau, wie gefährlich es sein konnte, wenn unter einem plötzlich der Untergrund verschwand.

„Nur weil die Hunde die Fährte nicht mehr finden konnten, bedeutet das noch lange nicht das, was der Einsiedler gesagt hat“, merkte Taavin an.

Marshall horchte interessiert auf. Seine Finger spielten mit dem Zipfel seines langen Bartes. „Ihr wart beim Einsiedler?“

Ich setzte Marshalls Becher ein weiteres Mal an meinen Mund und trank tapfer ein paar Schlucke. Brannte immer noch wie Feuer, das einem die Magenschleimhäute wegätzte.

„Wegen der eingestürzten Brücke mussten wir ja einen Umweg machen“, erklärte Saad.

„Hätten wir es nur nicht getan“, murmelte Taavin in seinen Becher und beachtete den giftigen Blick des alten Mannes gar nicht.

Der Einsiedler war ein uralter Mann, älter als jede Zeitrechnung. Jedenfalls erweckte sein Anblick diesen Eindruck. Er besaß keine Zähne mehr, war blinder als ein Maulwurf, hielt sich nur noch dank eines Gehstocks auf den klapprigen Beinen und die einzigen Haare, die ihm noch wuchsen, befanden sich in seinen Ohren.

Auf dem Weg zum Herbstmarkt machten wir bei ihm immer Rast, um uns für die Nacht auszuruhen. Zum Dank blieben wir immer einen Tag und halfen ihm bei allem was so anfiel, bevor wir weiterreisten.

Dieser Kerl würde uns vermutlich alle noch überleben.

„Warum nicht?“, wollte Nikita wissen. „Was hat der Einsiedler denn gesagt?“

Saad beugte sich noch ein wenig vor, als wollte er uns ein Geheimnis anvertrauen. „Er sagte, er hätte das Summen gehört.“

Ich erstarrte. Das war eine völlig verständliche Reaktion auf diese Worte. Und auch auf die Art, wie er sie aussprach. Wenn er das Summen meinte, waren die Nowaks verloren.

Es war eine enorme Willensstärke meinerseits erforderlich, den Becher vorsichtig zurück auf den Boden zu stellen und meine Zähne auseinander zu bekommen. „Das Summen?“

„Das Summen, das die Wege der Tracker begleitet.“

Oh Gaia. Die meisten Menschen kannten das Summen nur aus Geschichten und Erzählungen, als wäre es nichts, als eine Legende. Mysteriös und unerklärbar. Den wenigsten war dieses Geräusch schon einmal zu Ohren gekommen und wenn doch, dann waren sie so schnell und so weit wie möglich in die andere Richtung davongerannt.

Ich war nur ein einziges Mal einer Frau begegnet, die eine leibhaftige Begegnung mit diesem Summen hinter sich hatte. Sie war den Geschehnissen entkommen, aber sie hatte nicht darüber sprechen wollen – was ich sehr gut nachvollziehen konnte.

Nun war es nicht mehr ganz so einfach, Ruhe zu bewahren.

Es gab nicht viele Dinge, die mir Angst einjagen konnten, aber die Tracker gehörten dazu. Sie gehörten nicht nur dazu, sie standen ganz oben auf meiner Liste. Allein ihre Erwähnung bereitete mir ein tief verwurzeltes Unbehagen, geboren aus meiner eigenen Erinnerung.

In einer Welt, die nur noch aus Ruinen und Mahnmalen der Vergangenheit bestand, gab es nur noch sehr wenige Menschen, die weit verstreut in kleinen Mischpocken, Stämmen oder Clans lebten. Dörfer, Siedlungen und Städte waren so gut wie ausgestorben und wenig bis gar nicht mehr belebt – mit einer Ausnahme.

Weit oben im Norden, mehr als zwei Wochen Fußweg von hier, gab es eine Stadt: Eden. Die Menschen sprachen nur im Flüsterton über diesen Ort, denn dort lebten die Monster, die selbst den mutigsten Mann in Angst und Schrecken versetzten konnten.

Für die Menschen aus der Stadt waren wir nur verdeckte Streuner, heimatlose Nomaden, die zu ihrer freien Verfügung standen. Wir hatten für sie keinen großen Wert, waren in ihren Augen nicht einmal richtige Menschen, was es ihnen erlaubte, mit uns zu tun, was sie wollten. Und was sie mit uns taten, war so schrecklich, dass nur die wenigsten wagten darüber zu sprechen.

Natürlich gab es Gerüchte, geflüsterte Worte und abstrakte Geschichten. Man sprach von grauenhaften Experimenten an Menschen, im Namen der Wissenschaft. Sonderbare Substanzen, die einem gespritzt wurden, um deren Wirkung zu erforschen, die oftmals fürchterliche Konsequenzen hatten. Menschen, die geklont wurden, um mehr von uns zu erschaffen, doch die Ergebnisse waren fast immer fragwürdig. Oder sie folterten uns einfach zu ihrem Vergnügen. Ihre futuristische Technik war der unseren weit überlegen und das machte sie auch so gefährlich.

Niemand von uns würde freiwillig dort hingehen und niemand der einmal die Stadttore durchschritten hatte, wurde jemals wieder gesehen. Niemand wusste genau, was hinter diesen Stadtmauern geschah, aber eines war sicher: Der Weg nach Eden, war ein Weg ohne Wiederkehr.

Ich hatte viele Dinge über diesen Ort gehört, aber das Schlimmste war das, was ich selber bereits erlebt hatte und das hatte mit den Trackern zu tun.

Die Tracker waren Jäger. Sie wurden von Eden ausgesandt, um Menschen aus der freien Welt zu suchen, einzufangen und hinter ihre Mauern zu bringen. Es kursierten Gerüchte, dass sie es nur gut meinten, dass Eden eine Zuflucht war, aber aus eigener Erfahrung wusste ich, dass das alles Lügen waren. Die Menschen aus Eden waren Monster und jeder der noch bei klarem Verstand war, hielt sich so weit wie möglich von diesem Ort und seinen Trackern fern.

„Das kann nicht stimmen.“ Marshall hatte seine Augenbrauen so weit zusammengezogen, dass es aussah, als würde ihm eine haarige Raupe auf der Stirn sitzen. „Der Süden galt bereits vor meiner Geburt als verlassen – gerade weil Eden so nahe ist. Der Einsiedler und auch die Nowaks liegen hunderte von Kilometern von ihren Suchrouten entfernt. Wenn er ein Summen gehört hat, kann es nicht von den Trackern stammen.“

„Und wo sind dann die Nowaks abgeblieben?“, wollte Saad wissen.

Die naheliegendste Antwort war die offensichtliche, aber keiner von uns sprach es aus, denn keiner von uns wollte daran glauben.

„Aber warum sollten sie so weit im Süden suchen?“ Meine Stimmte klang ganz ruhig und ich schaffte es sogar das Zittern meiner Finger zu unterdrücken. Dabei spürte ich Marshalls aufmerksamen Blick auf mir. Er kannte die Geschichte um meine Vergangenheit, aber er schwieg. Nur seine Hand legte sich auf mein Bein und drückte sanft zu, als wollte er mich beruhigen.

„Neue Jagdgründe?“ Saad zuckte mit den Schultern und stieß einen Rülpser aus. „Die alten haben sie Jahrelang abgeerntet. Die Menschen, die dort noch lebten, sind weggezogen, um ihnen nicht in die Hände zu fallen. Ein Jäger folgt der Spur seiner Beute.“

Es so zu beschreiben, klang in meinen Ohren noch viel beunruhigender. „Wir sind keine Beute.“

Azra nutzte diesen Moment, um mit einer Hand voller Holzschalen und Stäbchen aus dem Flugzeug zu kommen. Balic war nicht bei ihr.

„Und wir geraten sicher nicht in ihren Suchradius“, fügte Marshall mit mehr Überzeugung hinzu, als ich sie im Moment verspürte. „Wir befinden uns viel zu weit im Süden. Wenn wir anderen Menschen begegnen, dann nur weil wir auf Reisen gehen. Die Einzigen außer uns, die sich hier hin und wieder blicken lassen, seid ihr beide.“

Marshall hatte recht. Die Wahrscheinlichkeit, dass in unserer Gegend Tracker auftauchen konnten – selbst wenn die Tracker nun weiter südlich aktiv waren – tendierte nahezu gegen null. Dies war nicht nur eine verlassene, sondern auch eine zerstörte Stadt, kein guter Lebensraum. Es wäre töricht hier etwas anderes als Ungeziefer und ganze Schwärme von Vögeln zu erwarten. Also gab es auch keinen Grund zur Besorgnis.

Aber wo waren dann die Nowaks abgeblieben? Waren die drei Frauen wirklich den Trackern in die Hände gefallen? Eingefangen, um der Gnade noch gnadenlosen Kreaturen ausgeliefert zu sein? Oh Gaia.

„So, Essen ist fertig“, verkündete Azra und kniete sich mit den Tellern neben den blubbernden Topf. Sie rührte noch ein wenig in darin herum, bevor sie anfing, es auf die einzelnen Holzschüsseln zu verteilen.

„Ich habe ja auch nicht behauptet, dass sie hierherkommen würden“, rechtfertigte sich Saad. „Ich sagte nur, dass sie ihr Muster geändert haben.“

„Falls der Einsiedler recht hat“, warf ich ein. „Einen Beweis dafür haben wir nicht.“ Womit das vermutlich wieder eine von Saads phantastischen Geschichten war, die er nur erzählte, um etwas zum Erzählen zu haben. Taavin hatte recht, diese Geschichte war Blödsinn und hatte nur den Zweck, die Leute zu verunsichern. Zum Glück ließ ich mich nicht so leicht verunsichern.

„Es ist auf jeden Fall gut das zu wissen.“ Marshall nahm von Azra einen Teller und zwei Holzstäbchen entgegen. „Aber selbst, wenn sie eines Tages in dieser Stadt auftauchen sollten, würden sie uns hier niemals finden. Dafür wohnen wir viel zu versteckt.“

Dem konnte keiner der Anwesenden widersprechen. Von außen sah dieser Ort wie eine eingefallene Ruine aus. Um uns hier zu finden, müssten sie schon jedes Loch in dieser Stadt durchkämmen und das würde sie Jahre kosten.

Der nächste Teller ging an Saad, der sich gar nicht erst die Mühe machte, seine Fleischstücke mit den Stäbchen von seinem Teller zu fischen, er benutzte einfach seine Finger und gab dann ein genießerisches Geräusch von sich. „Ihm, lecker. So was Gutes habe ich schon lange nicht mehr gegessen.“

„Weil du nicht kochen kannst“, bemerkte ich grinsend, auch wenn es mir schwerfiel, mein Lächeln auf den Lippen zu behalten. Dieses Thema setzte mir doch mehr zu, als ich zugeben wollte. Ich gab den Teller den Azra mir reichte, an Nikita weiter. Sie hatte dem ganzen Gespräch schweigend gelauscht und wirkte nun in Gedanken versunken.

„Aber essen kann ich gut.“ Ein Stück Gemüse verschwand in seinem Mund und noch während er kaute, erklärte er: „Vor ein paar Monaten waren wir bei einem der großen Clans drüben im Westen. Viele Menschen und sehr leckeres Essen.“

Der größte Clan von dem ich je gehört hatte, zählte an die vierzig Menschen. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie es sich unter so vielen Leuten lebte. Der ständige Trubel, immer jemand um einen herum. Nein, das war absolut nichts für mich.

„Und sie hatten ein Baby“, fügte Saad noch begeistert hinzu. „Ein süßes, kleines Baby, kaum ein paar Tage alt. Ich habe seit Jahren kein Baby mehr gesehen.“

Ich auch nicht. Das letzte und auch einzige Baby, dass ich in meinem ganzen Leben gesehen hatte, war Nikita gewesen und damals war ich selber noch ein kleines Kind von gerade mal sieben Jahren. Meine Erinnerungen daran waren also mehr als kläglich.

Das Essen und der Abend, zogen sich in die Länge. Saad und Taavin unterhielten uns mit ihren Geschichten ihrer Reisen. Von dem großen Markt, der zwei Mal im Jahr stattfand und immer eine große Menschenansammlung anlockte. Er erzählte uns von dem Handel mit anderen Mischpochen und Clans und von einem verrückten alten Mann, der nicht nur geisteskrank war, sondern auch unter ständigem Realitätsverlust litt. Keiner von uns verstand, wie er es schaffte, ganz alleine zu überleben. Vielleicht tat er ja auch nur so, als wäre er verrückt, damit andere Menschen ihn in Ruhe ließen. Oder ihn unterschätzten.

Was uns aber wirklich zum Lachen brachte, war die Geschichte von dem kaputten Karren. Irgendwo im Nirgendwo war das Rad von Saads Karren gebrochen und er hatte zusammen mit Taavin fast zwei Wochen gebraucht, um einen Ersatz dafür zu finden. Wie er das allerdings angestellt hatte, wollte er uns nicht verraten. Er sagte, das sei viel zu peinlich, um es zu erzählen.

Sehr spät in der Nacht, vielleicht sogar schon am nächsten Tag, machte sich Nikita als erstes auf den Weg zu ihrem Nachtlager. Ich folgte ihr recht bald zusammen mit Azra. Als ich auf meinen Fellen lag und die Augen schloss, konnte ich Saads Lachen draußen immer noch hören.

 

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Kapitel 04

 

Die warme Sonne, strahlte vom saphirblauen Himmel. Keine Wolke soweit das Auge reichte. Ein zarter Wind strich über smaragdgrüne Gräser und ließ die Blätter in den dichten Baumkronen über meinem Kopf leise rascheln. Irgendwo sang ein Vogel ein trällerndes Lied, während zwei Eichhörnchen sich einen Stamm hinauf jagten.

Eine leichte Süße lag auf meiner Zunge. Mein Blick richtete sich auf meine kleinen Finger, sie waren rubinrot.

Direkt vor mir rankte sich ein dichter Strauch mit spitzen Stacheln um die Reste eines sehr alten Hauses, von dem nur noch ein kleiner Teil der Grundmauern stand. Uralte Ziegel, die nur noch von brüchigem Mörtel und dem dichten Strauch aus Dornenranken zusammengehalten wurden. Dicke, pralle Früchte hingen überall zwischen den Dornen und auch sie waren Rot. Himbeeren.

Meine kleinen Hände griffen vorsichtig danach und zupften eine Frucht von dem Strauch, ohne mit den spitzen Dornen in Kontakt zu kommen. Ich rollte die kleine Beere vorsichtig zwischen den Fingern, zerdrückte sie, bis rubinroter Saft austrat und meine Finger noch weiter verfärbte.

Plötzlich lag ein lautes Grollen in der Luft. Der Himmel wurde von einem Moment auf den anderen schwarz und in der Ferne zuckte ein grellweißer Blitz über den Himmel.

Der rote Saft der Beere tropfte wie Blut von meinen Fingern. Tropf, tropf, tropf. Aus dem kleinen Tropfen wurde eine Lache. Die Lache wurde größer und breiter und schwoll an. Sie lief über den Boden, färbte das smaragdgrüne Gras rot, lief über meine kleinen Füße und ließ sich einfach nicht aufhalten. Alles wurde rot. Die Lache wurde immer größer, lief über Gräser und Blumen, kletterte Bäume und Büsche hinauf und färbte auch die Reste der Ruine und mit einmal mal wurde alles um mich herum in ein rotes, pulsierendes Licht getaucht.

Ein Gefühl von Furcht kroch mir den Rücken herauf. Ängstlich blickte ich auf und schaute mich nach den Bäumen und der großen Wiese um. „Mama?“

Der entsetzte Schrei einer Frau zerriss die Ruhe und übertönte selbst das Grollen des Himmels.

Ich fuhr herum und sah ein Baby. Friedlich und sorglos lag es in dem blutroten Gras und schlief. Doch als es meinen Blick spürte öffnete es die Augen. Seine Lippen bewegten sich und sagten mit Nikitas Stimme ein einziges, sehr eindringliches Wort: „Lauf.“

Ich schlug die Augen auf und versuchte mich zu orientieren, während die Nachbilder meines Traumes sich langsam zerfaserten und wie Asche zerfielen, bis sie sich in Nebel aufgelöst hatten, der langsam wie vom Wind davongetragen wurde. Auch wenn das Herz in meiner Brust raste und mir der Schweiß auf der Stirn stand, blieb ich völlig still und regungslos liegen.

Diffuses Licht schien durch einige beabsichtigte Spalten im hinteren Teil des Flugzeugs. Das leise Schnarchen von Balic ließ meinen Puls langsam zur Ruhe kommen. Ich war zu Hause, lag auf meinem Lager und dieser Traum war nichts weiter als eine verzerrte Erinnerung aus meiner Vergangenheit. Kein Wunder, dass ich heute Nacht von diesem Tag geträumt hatte, nachdem Saad uns gestern mit seinen Geschichten von den Trackern unterhalten hatte. Ich hätte damit rechnen müssen.

Es musste noch früh sein, aber von den fünf Bettenlagern, waren die von Marshall und Azra bereits verwaist. Nach diesem Traum würde auch ich nicht mehr schlafen können – das konnte ich nie.

Mit einem kleinen Seufzer richtete ich mich halbsitzend auf und strich mir mit einer Hand über mein kurzes, krauses Haar. Das Laken aus Leinen rutschte mir von der Schulter und bauschte sich zu einem unordentlichen Knäuel um meine Hüfte.

Wie auch die Schlaflager der anderen, bestand meines aus getrockneten Gräsern und Stroh, die von einem Leinenlaken umwickelt und zusammengehalten wurden. Darüber lagen zusammengeflickte Felle von Tieren, die warm und weich waren. Ich besaß auch eine Decke aus solchen Fellen, doch für die war es im Sommer einfach zu warm.

Alle Lager waren mit einigem Abstand zueinander in einer Reihe aufgereiht. Neben jedem Lager standen Kisten und in Marshalls Fall sogar eine alte Truhe, in denen wir unsere persönlichen Sachen aufbewahrten. Die Wände waren mit Fellen und Leder kleiner Tiere bezogen, um im Winter die Wärme drinnen zu halten. Mehr gab es in diesem Teil des Flugzeugs nicht zu sehen.

Balic lag rechts außen und damit ganz hinten. Er hatte sich während der Nacht auf den Rücken gedreht, eine Hand auf der mageren Brust, die andere hing über das Lager hinaus. Sein Leinenlaken hatte sich um seine Beine verheddert.

Danach kamen Marshall und Azra, doch ihre Lager waren bereits verwaist.

Ich hatte das Lager links außen und direkt neben mir schlief Nikita, eingewickelt wie ein Murmeltier, ohne sich zu rühren. Ihr Brustkorb hob und senkte sich ganz leicht. Zum Glück war sie damals noch viel zu jung gewesen, um mitzubekommen, was geschehen war und blieb somit von den Alpträumen verschont, die mich auch heute noch – Jahre nach dem es geschehen war – des Nachts immer wieder heimsuchten. Ich konnte nichts dagegen tun, ich konnte nur damit leben. Wenigstens hatte ich bereits vor Jahren damit aufgehört, aus diesen Träumen mit einem Schrei zu aufzuschrecken und den anderen damit einen Todesschock einzujagen. Nun erwachte ich immer still und leise und verdrängte die Bilder des Nachts in den hintersten Winkel meiner Erinnerung, in der Hoffnung, sie niemals wieder sehen zu müssen.

Da die Zeit der Ruhe für mich vorbei war, schob ich mein Laken zur Seite und stand auf. Um die beiden anderen nicht zu stören, nahm ich sehr leise meinen Gürtel mit der Machete an mich, schlich damit zu dem Vorhang aus geflochtenem Schilf und schlüpfte in den vorderen Teil des Flugzeugs.

Zu meiner Verwunderung, traf ich auch hier weder auf Marshall noch auf Azra. Wahrscheinlich waren sie bereits draußen, immerhin hatten wir Besuch. Saad und Taavin hatten die Nacht auf eigenen Lagern in der Vorhalle verbracht.

Ich schnallte meinen Gürtel um, versteckte ein Gähnen hinter einer Hand und ging zum Ausgang. Noch bevor ich ihn erreichte, hörte ich von draußen die leisen Stimmen – eine weibliche und eine männliche. Ich schob mich hinaus, trat barfuß auf die knarrenden Stufen der alten Holztreppe und entdeckte Azra und Taavin, an der ausgebrannten Feuerstelle.

Die beiden Schlaflager der Männer lagen unweit davon entfernt. Sie waren weder so dick, noch so bequem wie die unseren, aber die Felle waren weitaus besser. Es musste eben seine Vorteile haben, jeden Tag als fahrender Händler durch die Gegend zu reisen.

Azra kniete auf einer der Schilfmatten und zerstieß mit einem Stößel in einem Mörser Getreide für das Frühstück. Taavin musste irgendwas Lustiges zu ihr gesagt haben, den sie lächelte. Von den beiden anderen Männern sah ich keine Spur. Wie sie es schafften, nach dem gestrigen Saufgelage, um diese Zeit schon munter zu sein, war mir ein Rätsel.

Ich gähnte ein weiteres Mal, rieb mir dabei über das Gesicht, um die Müdigkeit zu vertreiben und hielt auf die Feuerstelle zu. „Morgen“, murmelte ich, woraufhin sich beide zu mir herumdrehten.

„Morgen“, erwiderte Taavin mit einem kleinen Lächeln. Entweder hatte er unsere Meinungsverschiedenheit von gestern vergessen, oder er wollte sich davon den Morgen nicht versauen lassen. Ich tippte auf zweiteres.

Azra schenkte mir ein breites Grinsen. „Gut geschlafen?“

„Sehr gut.“ Das war keine Lüge, jedenfalls nicht direkt. Bis mich die Schatten meiner Erinnerung heimgesucht hatten, war meine Nacht sehr gut gewesen. Nur das Erwachen war nur nichts, was nach einer Wiederholung schrie. Ich kniete mich neben Taavin auf die Schilfmatte und ja, ich bemerkte dabei sehr wohl, wie genau er mich musterte. „Wo sind Marshall und Saad?“

„Saad kümmert sich gerade um die Hunde.“ Es war Taavin, der das sagte und mich damit zwang, meine Aufmerksamkeit auf ihn zu richten. „Marshall hat sich ein stilles Örtchen gesucht. Er müsste also gleich zurück sein.“ Er veränderte seine Position und strich dabei wie zufällig über mein Bein.

Ich warf ihm einen warnenden Blick zu und rückte ein Stück ab.

Azra bekam davon gar nichts mit, so sehr war sie auf ihre Aufgabe konzentriert. „Denkst du bitte daran, heute mit der Wäsche zum Fluss zu gehen? Und die Wasservorräte müssen auch aufgefüllt werden.“

Ach ja, das hatte ich ja ganz vergessen. Ich verzog das Gesicht. Da hatte ich ja etwas, auf das ich mich freuen konnte. „Klar, kein Problem. Allerdings muss ich mich vorher noch um Trotzkopf kümmern. Ich will sein Fell runterholen. Er sieht aus wie ein zerrupftes Huhn.“ Nicht das mich das stören würde, aber die Zottel die er verlor, ließ sich prima verwenden, um daraus Wolle zu spinnen.

„Ich wollte dich ja auch nicht vor dem Frühstück losschicken.“ Azra streute noch etwas Getreide in den Mörser und gab einen Schluck Wasser dazu. „Ich wollte dich nur an die Wäsche erinnern.“

Und damit sicherstellen, dass ich mich nicht vor dieser ungeliebten Aufgabe drückte. Botschaft angekommen.

„Wir könne ja ein Stück zusammen gehen“, schlug Taavin vor.

Oh nein, bitte nicht. Ich brauchte heute nun wirklich kein Drama.

„Wir brechen bald auf und wollten sowieso einen kleinen Abstecher zum Fluss machen.“ Er zuckte die Schultern, als sei es ihm gleich. „Da bietet sich das doch an.“

„Das ist eine gute Idee“, erklärte Azra und schien das auch wirklich so zu meinen.

Ich fand die Idee gar nicht gut. Das Zwischenspiel zwischen Taavin und mir, war immer ein heikler Drahtseilakt. Ich mochte ihn und er mochte mich. Das Problem war nur, dass er mich zu sehr mochte und ich befürchtete, er würde wieder versuchen, mich von hier fortzulocken. Da ich aber keine Lust hatte, mich vor Azra zu erklären, sagte ich einfach nur „klar“ und erhob mich dann von meinem Platz. „Ich kümmere mich dann erst mal um Trotzkopf, bevor er wieder damit beginnt, in seinem Pferch zu randalieren.“ Das tat er nämlich nur zu gerne, wenn er sich vernachlässigt fühlte.

„Brauchst du Hilfe?“, fragte Taavin.

„Nein“, sagte ich ohne mich noch einmal nach ihm umzudrehen und ging hinüber zum Pferch, wo das störrische Dromedar mich mit einem lauten Blöken begrüßte und sofort zu mir an den Zaun getrappt kam. Nicht um mich zu begrüßen, sondern um sein Frühstück einzufordern. „Ist ja gut, ich mach ja schon.“

Seinem Ermessen nach aber scheinbar nicht schnell genug, denn er begann wieder zu randalieren. Zum Glück hatte Marshall den Pferch so stabil gebaut.

Sobald ich ihm sein Futter in den Trog geschüttet hatte, nutzte ich die Ablenkung, um ihm sein Halfter umzulegen. Solange er beschäftigt war, würde er dabei wenigstens kein Theater machen. Dann nahm ich ein gezacktes Stück Blech, das entfernte Ähnlichkeit mit einem Kamm hatte und begann, ihm damit die Wolle vom Körper zu bürsten. Teilweise hing das Fell bereits in losen Knäulen an ihm herab, sodass ich es einfach nur abzupfen musste, beim Rest musste ich mich richtig anstrengen, um überhaupt vorwärts zu kommen. Nach kurzer Zeit stand mir bereits der Schweiß auf der Stirn und das obwohl es für einen Sommermorgen noch recht kühl war.

Das ausgekämmte Fell landete in einem großen Weidekorb, der bereits zur Hälfte gefüllt war. Azra würde sich darüber freuen, damit konnte sie endlich die Decke fertigen, von der sie schon seit Wochen sprach.

Trotzkopf ließ sich von mir nicht stören. Seelenruhig widmete er sich seinem Frühstück und schien die Pflege sogar ein wenig zu genießen.

Sobald ich mit der ersten Seite fertig war, wechselte ich auf die andere. Langsam wurde mir warm. So ein großes Tier zu kämmen, konnte ganz schön anstrengend sein.

Als Saad in den Hangar zurückkehrte, begrüßte er mich mit einem fröhlichen Gruß, bevor er sich zu Taavin uns Azra an das Lagerfeuer setzte. Sie hatte in der Zwischenzeit die Feuerstelle befeuert, um den Brei für das Frühstück vorzubereiten. Sie war noch immer dabei, als ich mit Trotzkopf fertig war und den Pferch verließ. Jetzt war es Zeit, sich um den Karren zu kümmern. Er war alt, schäbig und erweckte den Eindruck, bei dem kleinsten Windhauch auseinander zu fallen – aber das täuschte. Ich hatte ihn zusammen mit Marshall gebaut und wir achteten darauf, ihn gut in Schuss zu halten.

Ich zog den großen, vierrädrigen Karren aus seiner Ecke und begann ihn mit mehreren leeren Wassereimern aus Holz zu bestücken. Marshall hatte sie gebaut, in solchen Dingen war er sehr versiert.

Gerade als ich den vierten Eimer auf den Karren stellte, nahm ich im Augenwinkel eine Bewegung am Flugzeug wahr. Klein, dünn und mit einer Mähne auf dem Kopf, den jeder Löwe neidisch gemacht hätte. Nikita. Sie schlich am Flugzeug entlang, ihren Wollbeutel in der Hand und versuchte scheinbar mit den Schatten zu verschmelzen. Es gelang ihr nicht.

„Du hättest dir ein Loch durch die Rückwand nagen sollen“, bemerkte ich und drehte mich mit verschränkten Armen zu ihr um.

Ertappt hielt die Gestalt inne. Dann stieß sie ein tiefes Seufzen aus, damit wir alle wussten, wie sehr sie litt.

„Wo willst du hin?“, fragte ich, griff mir den nächsten Eimer und stellte ihn zu den anderen auf den Karren – sie behielt ich dabei sehr genau im Auge. Es war nicht das erste Mal, dass sie versuchte, sich unbemerkt davon zu schleichen. In der letzten Zeit tat sie das sogar recht häufig, was mir ganz und gar nicht gefiel.

Sie schaute mich böse an.

Ich wartete.

„Nirgends“, sagte sie schlussendlich und ignorierte unsere Zuschauer genauso wie ich.

„Und warum versuchst du dann, dich unbemerkt aus dem Staub zu machen?“

„Ich versuche nicht mich unbemerkt aus dem Staub zu machen.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich hatte nur keine Lust auf eine Begegnung mit dir.“

Nein, das traf mich nicht im Geringsten. „Weil?“

„Weil du wieder nur bis ins kleinste Detail wissen willst, wohin ich gehen, wie lange ich wegbleibe und wie oft ich mich unterwegs am Hintern kratze.“

Hinter uns beiden ertönte ein leises Lachen.

Ich drehte mich danach um und entdeckte Marshall, der in die Vorhalle trat. In der einen Hand hielt er eine lange Sense, in der anderen einen Schleifstein.

„Geh, Niki“, sagte er und lehnte die Sense gegen einen Holzstapel. „Sei wieder da, bevor es dunkel wird.“

Das ließ sich meine kleine Schwester natürlich kein zweites Mal sagen. Er hatte kaum ausgesprochen, da drehte sie sich bereits herum und eilte an mir vorbei.

„Warte!“, rief Azra ihr hinterher. „Was ist mit Frühstück?“

„Ich besorge mir unterwegs etwas.“

„Hey!“ Ich wirbelte herum, doch bevor ich ihr hinterherlaufen konnte, hatte Marshall mich bereits beim Arm gegriffen und Nikita verschwand um die Ecke.

„Lass sie“, sagte er leise. „Sie wird zurückkommen, wenn sie dafür bereit ist.“

„Wenn wir Glück haben.“ Missmutig schaute ich zu ihm auf. „Es ist gefährlich, allein dort draußen herumzulaufen.“

„Sie ist in den Trümmern dieser Welt aufgewachsen, Kismet.“ Marshall legte mir eine Hand an die Wange und strich behutsam darüber. „Vertrau ihr doch einfach. Sie weiß schon was sie tut.“

Da war ich mir leider nicht so sicher. Sie war doch noch ein halbes Kind und Kinder waren heutzutage eine Rarität, denn Mutter Erde hatte sich gegen die Menschen verschworen und bereits vor Jahrhunderten damit begonnen die Zivilisation auszulöschen. Ich wollte nicht, dass sie Nikita auch auslöschte, nur weil es meiner kleinen Schwester zu langweilig war, im Hangar zu bleiben.

„Du weißt was du tust“, erklärte ich. „Ich weiß was ich tue, sie ist erst fünfzehn und ziemlich unbedacht.“

„Sie hat sowohl dich, als auch mich als Vorbild.“

Leider sagte das nicht sehr viel aus, denn Nikita war ein Freigeist, unbedacht und flatterhaft, wie ein Schmetterling.

Seufzend machte ich mich von ihm los und stellte den letzten Eimer zu den anderen auf den Karren. „Ich weiß ja, dass sie auf sich aufpassen kann. Ich mag es nur nicht, wenn sie alleine herumläuft.“

„Das weiß ich doch.“ Er lehnte sich gegen den Karren und beobachtete mich aufmerksam. Dabei strich er mit der linken Hand über seinen Bart und zupfte immer wieder daran. „Aber du kannst sie nicht kontrollieren. Glaub mir, ich weiß wovon ich spreche. Es gab eine Zeit, da habe ich es bei dir versucht und bin dabei kläglich gescheitert.“

Das zauberte mir ein Lächeln auf meine Lippen. „So schlimm wie Nikita war ich nie.“

„Nein, du warst schlimmer.“

„Oh! Das ist nicht wahr.“

„Bei unserer ersten Begegnung hast du versucht, mir mit deiner Machete den Arm abzuhacken.“

Hm, na gut, das entsprach leider der Wahrheit. „Du hast mich erschreckt.“ Ich war schließlich nur ein Kind gewesen, ganz allein mit meiner kleinen Schwester. Ich hatte seit fast einem Jahr keine anderen Menschen mehr gesehen und meine letzte Begegnung mit fremden Menschen, hatte mir die Hälfte meiner Familie geraubt. Wenn dann plötzlich ein so großer Mann vor einem stand, konnte das schon beängstigend sein.

Als ich mich abwandte, um die beiden Säcke mit Wäsche aus dem Flugzeug zu holen, hielt Marshall mich ein weiteres Mal am Arm fest. „Ich weiß, dass dir nicht leichtfällt, aber es ist nicht gut, wenn du dich zu sehr an sie klammerst. Sie ist ein kleiner Vogel, sie braucht ihre Freiheit.“

„Kleine Vögel werden gefressen, wenn sie das Nest verlassen, bevor sie flügge sind.“

Marshall schnaubte. „Was soll ihr denn hier schon passieren, Kismet? Wir sind die einzigen Menschen, die in dieser Stadt leben.“

Ich seufzte. Die Schlacht um Nikita hatte ich für den Moment verloren, also brauchte ich nicht weiter darauf herumzuhacken. Vielleicht hatte er ja auch recht und ich machte mir viel zu viele Sorgen.

Ein lautes Scheppern hinter uns ließ uns überrascht aufblicken. Nein, es war nicht Trotzkopf, der in seinem Pferch randalierte, es war Balic, der bei dem Versuch aus dem Flugzeug zu steigen, die Treppe verfehlt hatte und in den Haufen mit Blechmetall gefallen war, das wir immer zur Reparatur des Flugzeuges sammelten.

Fluchend und schwankend versuchte er zurück auf die Beine zu kommen und stieß dabei noch mehr von Metallschrott um. Am Ende ließ er den Schrott einfach liegen. War wahrscheinlich besser so. „Die Schufen sind su klein.“

„Nein“, widersprach ich sofort. „Du bist einfach nur mal wieder stockbesoffenen.“

„Das auch“, räumte er ein und setzte sich wankend in Bewegung.

Um den Mund herum hatte er tiefe Falten, das lange Haar war fettig und die Augen schienen immer müde zu sein. Er war so dünn, dass man glauben konnte, der nächste Windstoß würde ihn einfach von den Beinen fegen und der graue Bart war eine einzige unappetitliche Filzmatte – ich sollte ihn ihm ganz dringend abschneiden. Und auch wenn er wie eine Müllkippe stank, er gehörte zu uns und mit der Zeit gewöhnte man sich an alles.

„Isch mus pinkeln.“

Ja, das waren mal wieder Informationen, die ich unbedingt brauchte. „Dann geh raus. Und wage es ja nicht wieder in die Beete zu pinkeln. Das Gemüse wollen wir noch essen.“

„Das mach isch nisch“, versprach er und wankte auf wackligen Beinen an uns vorbei.

Ich beobachtete ihn dabei skeptisch, bis er den Hangar verlassen hatte und aus meinem Sichtfeld verschwand. Er bog nach rechts ab, die Beete lagen links, das war in Ordnung. Allerdings konnte ich es mir nicht verkneifen die Nase zu rümpfen, als er an uns vorbeilief. „Ich glaube, ich nehme ihn mit zum Bach.“ Dort konnte ich ihn in das fließende Wasser tauchen, bis er nicht mehr so roch, wie seine Schnapsfabrik. Außerdem würde er einen guten Schutzschild gegen Taavin abgeben. Wenn der alte Mann dabei war, würde sich unser Besuch sicher ein wenig zurückhalten. Ha, das war eine super Idee. Warum nur war ich nicht schon früher darauf gekommen?

„Pass auf, dass er nicht vom Karren fällt“, witzelte Marshall.

„Oder im Bach absäuft.“ Grinsend wandte ich mich ab und holte die Wäschekörbe aus dem Flugzeug. Sie waren riesig und schwer und ich musste ganz schön ackern, um sie auf den Karren zu bekommen.

Gerade als ich damit fertig war, rief Azra uns zum Frühstück und wir versammelten uns um die Feuerstelle. Es gab warmen Getreidebrei mit Trockenfrüchten, den ich mit einem Löffel von meinem Honig süßte.

Hm, lecker.

Saad lobte das karge Mal überschwänglich. Marshall sagte, er solle nicht so dick auftragen, sodass Azra ihm mit dem Kochlöffel drohte.

Ich verspeiste meine Mahlzeit schweigend und holte dann Trotzkopf aus seinem Pferch, um ihn vor den Karren zu spannen.

Während ich damit beschäftigt war, rollten Saad und Taavin ihre Nachtlager zusammen und luden sie auf ihren Handkarren.

„Balic, du kommst mit“, ließ ich den alten Mann wissen, als er beim Versuch aufzustehen, fast in seine leere Frühstücksschale kippte.

Er blinzelte mit großen Eulenaugen. „Wohin?“

„An den Bach, du musst baden.“

Zwar wirkte er nicht besonders begeistert, aber er fügte sich in sein Schicksal. Als er dann allerdings eine Flasche von seinem Schnaps mitnehmen wollte und ich ihm den verbot, wurde er ein wenig unleidlich. Es wurde so schlimm, dass er sich kurzzeitig weigerte mitzukommen und Marshall mir helfen musste, ihn auf den Karren zu bekommen. Als wir dann endlich loskonnten, war ich leicht entnervt. Manchmal war es wirklich einfacher, alleine zu sein.

Taavin schnappte sich den Handkarren und sobald wir den Hangar verlassen hatten, pfiff Saad nach den drei Phantomhunden, die sofort wir treue Begleiter angelaufen kamen.

Beim Bellen der drei Hunde, wurde Trotzkopf ein wenig unruhig und blökte laut.

Ich fixierte die Viecher einen Moment. „Halt die bloß von Trotzkopf fern, sonst landen sie heute Abend im Kochtopf.“ Ich hatte schon lange kein Hundefleisch mehr gegessen.

„Na“, machte Saad. „Die sind ganz lieb.“

„Aber ich nicht.“ Ich warf ihm noch einen warnenden Blick zu, ignorierte Taavins Grinsen und führte Trotzkopf vom Hangar weg.

Der Beton der Landebahnen war rissig und mit hohem Gras überwuchert, in dem sich Käfer und anderes Kleingetier zuhause fühlte. Am äußeren Rand waren ein paar eingefallene Ruinen, Berge von Schutt und überwucherten Mauerresten. Dahinter befanden sich die zerklüfteten Überreste einer einst blühenden Zivilisation. Stahlskelette, die weit in den Himmel reichten, eingestürzte Gebäude, karge, unbelebte Weiten in einem Wald voller Gerippe früherer Baukunst.

Wir nahmen den Weg nach hinten zur Straße. Das war zwar nicht der direkte Weg zum Fluss, aber mit dem großen Karren, kam ich nicht überall durch und musste so einen kleinen Umweg nehmen. Taavin zog seinen Handkarren direkt hinter mir den Weg entlang und Saad bildete mit den Hunden das Schlusslicht. Das war gar nicht so schlecht. Das Knarren des Karrens, Balics schiefer Gesang und Trotzkopfs Blöcken verhinderten ganz ohne mein Zutun die Möglichkeit auf ein Gespräch. Wenn der restliche Tag auch so verlief, würde ich mich nicht beklagen.

Im Osten kletterte die Sonne den Horizont hinauf und weckte auch den größten Langschläfer. Es würde ein warmer Tag werden.

Schweigend lief ich die vertrauten Pfade entlang, ohne wirklich darauf zu achten. Hohe Gräser verschluckten die Reste rostiger Autos am Straßenrand und eingestürzter Ruinen, von denen kaum mehr übrig war, als das kahle Gerippe. Ein eingestürztes Gebäude lag quer über die Straße, sodass ich Trotzkopf im Slalom um die einzelnen Trümmer herumführen musste. Das Schwinden der Menschen hatte für die Zivilisation viel Schaden bedeutet. Es war ein schleichender Vorgang gewesen, doch irgendwann hatte man ihn nicht mehr leugnen können. Es wurden kaum noch Kinder geboren, aber die Leute starben trotzdem. Ressourcen schwanden, der Luxus der Moderne ging zurück. Kriege wurden geführt und was von der Welt dann noch übriggeblieben war, starb in den Folgen dessen. Alles was uns jetzt noch geblieben war, holte sich die Natur nach und nach zurück, als wollte sie jedes Zeichen unserer Existenz vernichten. Gaias Rache kannte kein Erbarmen.

Die Welt durch die ich lief, war die Grabstädte der Menschheit.

Ich sollte dringend mit diesen Gedanken aufhören.

Der Vormittag zog an uns vorbei und die Sonne hatte bereits fast den Zenit erreicht, als wir schließlich am Fluss ankamen. Saad und Taavin nahmen mit uns zusammen noch ein kleines Mittagsmahl ein, bevor sie sich verabschiedeten und mit ihren drei Hunden ihrer Wege gingen. Spätestens im Herbst würden wir sie wiedersehen, wahrscheinlich schon früher, wenn ich Taavins Lächeln beim Abschied richtig deutete. Wie es schien, hatte er seinen Plan, mich mit sich zu nehmen, noch nicht ganz aufgegeben. Das würde mir sicher noch Schwierigkeiten bereiten.

Aber nun war er erstmal fort und ich musste mich um ein viel dringenderes Problem kümmern: Balic musste baden. Ihn zum Fluss zu bekommen verlief recht reibungslos, doch ins Wasser wollte er nicht. Dann wollte er doch, aber mit Kleidung. Am Ende drohte ich ihm ihn zu ertränken, wenn er mit dem Unsinn nicht aufhörte. Daraufhin entschieden wir gemeinsam, dass es zu unser aller Vorteil wäre, wenn er sich entkleidete und im Fluss baden ging.

Sobald er im Wasser war, schnappte ich mir das Waschbrett und die beiden Körbe mit der Kleidung, und machte mich an die Arbeit.

Es war anstrengend und ich konnte mir wirklich viele Dinge vorstellen, die in lieber getan hätte, aber irgendjemand musste es ja tun und ich hatte zugesagt dieser Jemand zu sein. Wenigstens war es warm und von Balics schiefen Gesangseinlagen einmal abgesehen, auch ruhig.

Trotzkopf graste währenddessen ruhig und harrte meiner geduldig.

Es war schon später Nachmittag, als die Kleidung sauber, die Eimer mit frischem Wasser gefüllt und Balic wieder auf dem Karren geladen waren. In der Ferne zogen ein paar Wolkenfetzen über den Himmel und irgendwo in den Bäumen trällerte ein Vogel sein Lied. Der Wind frischte ein wenig auf und ließ Gräser und Wind rascheln.

Nachdem ich mich versichert hatte, dass wir auch nichts vergessen hatten, führte ich Trotzkopf zurück auf die rissige Straße. Der Karren knarzte und holperte auf dem unebenen Untergrund.

Der Weg war lang und wurde nur von Balics Gesang begleitet. Meistens war es nur ein undeutliches Gemurmel, das an meine Ohren drang, immer wieder unterbrochen von einem plötzlichen Ausruf, in den Liedtexten. Ich lauschte diesem Unsinn schmunzelnd.

Wir hatten etwa die Hälfte der Strecke hinter uns gebracht, als Balic plötzlich sagte: „Was läuft da eigentlich zwischen Taavin und dir?“

Ich brauchte einen Moment um zu verstehen, dass er mit mir sprach und das nicht nur, weil seine Stimme einmal nicht bierselig klang. Und dann was ich so überrumpelt, dass mir keine gute Antwort außer „Was meinst du?“ einfiel.

„Ach bitte“, sagte er mit einer Mine, die mir wohl deutlich machen sollte, dass ich ihm nichts vorzumachen konnte. „Ich war auch einmal jung und ich habe die Blicke gesehen, mit denen er dich auf dem Weg zum Fluss beobachtet hat.“

Das konnte ich mir gut vorstellen. Schließlich hatte er die Fahrt auf dem Karren verbracht und Taavin damit die ganze Zeit direkt vor der Nase gehabt. Mir war bloß nicht klar gewesen, dass er mit seinem benebelten Hirn noch etwas außerhalb seines Kopfes wahrnahm.

Als das Schweigen zu lange anhielt, fragte Balic: „Willst du gar nicht antworten?“

„Da läuft gar nichts.“ Ich führte Trotzkopf auf die linke Seite der Straße, um einem tiefen Schlagloch auszuweichen. Der Karren rumpelte über kleine Steinchen.

„Das glaube ich dir nicht.“

„Das ist dein Problem, nicht meines.“

„Aber …“

„Es geht dich nichts an“, schnitt ich ihm das Wort ab und beendete das Thema damit.

Balic stieß einen schweren Seufzer aus, der von all der Last auf seinen Schultern kündete. Wenigstens beließ er es dabei.

Ich dagegen konnte seine Worte nicht so einfach wieder ausblenden. Wenn selbst Balic etwas bemerkt hatte, dann hatte Marshall sicher mehr als nur eine wage Ahnung.

Es war nichts so, dass Taavin mir peinlich war, oder sie Sache zwischen uns unangenehm, es war nur einfach meine private Angelegenheit und ich wollte weder unangebrachte Kommentare, noch Gespräche über dieses Thema. Taavin war ein netter Zeitvertreib, etwas an dem man sich erfreute, um ohne Reue darauf zurückzuschauen. Wenn sich jetzt allerdings meine Mischpoche mit einschaltete, würde es mehr als eine angenehme Zerstreuung werden. Ich würde Fragen beantworten müssen, über die Zukunft und meine Pläne. Dabei hatte ich gar keine Pläne. Dafür bekam ich jetzt allerdings Kopfschmerzen.

Und ich hatte geglaubt, Taavin würde mir erst bei seinem nächsten Besuch wieder Schwierigkeiten bereiten. Da hatte ich mich offensichtlich getäuscht. Vielleicht war es an der Zeit, die Sachen zwischen uns, ein für alle Mal zu beenden.

Mitten in meine Gedanken hinein schrie Balic plötzlich: „Rauch! Am Boden. Nebel! Er läuft durch die Stadt!“

„Was?“ Stirnrunzelnd hielt ich Trotzkopf samt Karren an und schaute über die Schulter zu Balic. „Rauch kann nicht laufen.“

„Doch! Da!“ Mit einer Hand stützte er sich an der Umrahmung des Karrens ab und zeigte mit der anderen in den Norden. Dabei beugte er sich so weit nach vorne, dass es ein Wunder war, dass er nicht kopfüber aus dem Wagen fiel. Seine Augen waren weit aufgerissen.

Ich folgte mit den Augen seinem ausgestreckten Finger und entdeckte am Horizont den Rauch. Und Balic hatte recht, er bewegte sich. Knapp außerhalb der Stadtgrenze.

Meine Augenbrauen zogen sich noch dichter zusammen. Nein, das war kein Rauch, das war eine riesige Staubwolke, die mit ungeheurer Geschwindigkeit durch die Straßen raste. „Was ist das?“

„Rauch.“

Fast hätte ich die Augen verdreht. „Balic, Rauch kann nicht laufen. Das ist eine Staubwolke.“

Sein Gesicht verzog sich angestrengt. „Wovon?“

Genau das war hier die Frage. „Es könnte die Herde sein.“ Obwohl ich noch kein Tier gesehen hatte, das so schnell laufen konnte.

„Die Herde?“

„Saad und Taavin haben uns gestern davon erzählt. Sie haben auf dem Weg zu uns eine Herde Rinder gesehen.“ Aber die Staubwolke bewegte sich wirklich sehr schnell. Und wenn ich nun genauer darüber nachdachte, war sie auch viel zu groß. Auf der ganzen Welt gab es keine Herde, die groß genug wäre, eine solch enorme Staubwolke zu produzieren. Doch was sollte es sonst sein?

„Eine Herde Rinder.“ Er richtete seinen Blick wieder auf die Trümmer der Stadt, durch die die Staubwolke wie ein Messer schnitt. „Hier? Hier gib es doch schon seit Äonen ein großes Vieh mehr.“

„Vieh wandert.“

„Dann müssen wir auf die Jagd.“

Ich stieß ein bellendes Lachen aus und setzte mich mit Trotzkopf wieder in Bewegung. Der Karren knarzte und ächte unwillig, kam aber wieder ins Rollen. „Marshall und ich werden auf die Jagd gehen. Du bleibst bei Azra im Hangar.“

Balic setzte sich beleidigt zurück. „Ich kann auch jagen.“

Dazu sagte ich nichts.

Mit einem gekränkten Schnauben, ließ er mich wissen, was er von meinem stummen Kommentar hielt.

Ich dagegen behielt die Staubwolke im Auge. Wenn das wirklich die Herde sein sollte, war das ein Glücksfall. Wir könnten bereits morgen auf die Jagd gehen. Das würde ein Festmahl geben.

Am liebsten wäre ich sofort losgezogen, doch zuerst musste ich zurück in den Hangar. Nicht nur um meine Ladung und Balic abzuliefern, die Jagd musste auch noch vorbereitet werden. Ich hatte bisher keine Zeit gehabt, neue Pfeile herzustellen und Marshall brauchte ich auch. Er war nun einmal er bessere Fährtenleser und er einzige, der bei der Jagd mit mir mithalten konnte.

Morgen, morgen würden wir es machen. Wir würden die Herde aufspüren und am Abend einen großen Fang feiern.

Zufrieden damit, schaute ich der Herde nach, bis auch das letzte Staubwölkchen am Horizont verschwunden war und machte mich dann energischen Schritts auf den Weg nach Hause. Die gute Laune hielt allerdings nur an, bis ich im Hangar ankam und Azra mich darum bat, den restlichen Flachs vom Feld zu holen. Als sie mir dann auch noch die Sichel in die Hand drückte, war mir klar, dass Holen auch Ernten bedeutete.

Ich akzeptierte wortlos. Aber zuerst musste ich noch das Wasser und die Wäsche vom Karren holen. Balic fand seinen Weg alleine – direkt zur nächsten Schnapsflasche.

Ich war gerade dabei die restliche Wäsche auf die Leinen in der Vorhalle zu hängen, als Marshall mit einem toten Huhn in der Hand zurückkam. Bei seiner kleinen Beute grinste ich breit und rieb ihm meine Entdeckung mit der Rinderherde unter die Nase. Es war keine große Überraschung, dass er daraufhin beschloss, zusammen mit mir morgen auf die Jagd zu gehen. Vorher allerdings musste ich noch aufs Feld den Flachs holen.

Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen.

Als ich am Abend endlich mit zwei geschnürten Bündeln voller Flachs in die Halle zurückkam, war ich müde und hungrig, aber zufrieden. Die Sonne rollte bereits dem Horizont entgegen und ließ mit ihrem Dämmerlicht den Tag ausklingen. Ich hatte heute alles geschafft, was ich schaffen wollte und der Duft eines köstlichen Eintopfs wehte mir bereits am Eingang entgegen. Azra war eine tolle Köchin.

„Bin wieder da“, rief ich und stapelte den Flachs bei den anderen Ballen, die Azra über den Tag geholt hatte. Sie würde sich um die Weiterverarbeitung kümmern. Die Sichel legte ich einfach daneben, darum konnte ich mich auch noch nach dem Essen kümmern.

Marshall stand bei Azra an der Feuerstelle. Sein Gesicht wirkte grimmig und die in die Hüften gestemmten Arme zeigten eine gewisse Anspannung. Auch Azra wirkte leicht besorgt, als sie ihren Blick auf mich richtete. Dass sie sich dabei nicht mit dem Messer in den Finger schnitt, obwohl sie gerade Gemüse klein hackte, fand ich bewundernswert.

„Was ist los?“, wollte ich wissen.

Marshalls Lippen wurden noch eine Spur schmaler. „Es geht im Nikita.“

„Nikita?“ Ich schaute mich um, konnte sie aber nicht entdecken. Da ich allerdings auch von Balic keine Spur sah, war ich davon ausgegangen, sie wäre bei ihm. „Was ist mit ihr?“

Die Falten in Azras Gesicht schienen sich tiefer in die Haut zu graben. Sie schaute nach draußen auf den immer dunkler werdenden Himmel. In der Ferne ließ sich bereits die Mondsichel erkennen. Es war nicht mehr lange bis zur Nacht. „Sie ist noch immer nicht zurück.“

 

oOo

Kapitel 05

 

Einen Moment erwiderte ich schweigend ihren Blick. Dann klappte ich mit einiger Anstrengung meine Zähne auseinander und versuchte dabei nicht einmal meinen aufsteigenden Ärger zu unterdrücken. „Was soll das heißen, sie ist noch nicht zurück?“

„Dass wir sie seit dem Morgen nicht mehr gesehen haben.“ Azra seufzte, legte das Messer neben das Gemüse und lehnte sich auf die Fersen zurück. „Wir wissen nicht wo sie ist.“

„Oh, ich weiß ganz genau wo sie ist.“ Und auch was sie dort tat. Dasselbe, was sie immer tat, wenn sie abends nicht nach Hause kam und dann eine ganze Nacht wegblieb. „Ich werde jetzt dort hingehen, ihr den Hintern versohlen und sie anschließend am Flugzeug festbinden.“ Auf dem Absatz machte ich kehrt und marschierte mit fest entschlossen Schritt durch die Vorhalle.

„Kiss“, rief Marshall mir hinterher.

Sollte ich sie wirklich mit Balics Schnaps erwischten, würde ich sie zwingen die ganze Flasche auf einmal zu trinken, damit ihr richtig schön schlecht davon wurde und sie diesen Scheiß nie wieder mit uns abzog.

„Kismet, warte.“ Als ich auch auf seinen zweiten Ruf nicht reagierte, lief Marshall mir eiligst hinterher und schnappte mich am Arm, um mich aufzuhalten. „Es ist schon fast dunkel.“

„Mir egal.“ Ich zog an meinem Arm, aber Marshall hatte nicht vor mich freizugeben und einfach davonlaufen zu lassen. Er griff sogar ein wenig fester zu, damit ich ihm zuhörte.

„Du kannst nicht mitten in der Nacht durch die Ruinen wandern“, rief er mir eindringlich in Erinnerung. „Das ist viel zu gefährlich.“

„Gefährlich? Gefährlich ist es, nachts allein da draußen zu sein und sich den Kopf neblig zu trinken.“

„Nicky ist nicht dumm.“

„Dem würde ich so nicht zustimmen.“

Marshall ignorierte mein verärgertes Gemurmel einfach. „Sie in Sicherheit. Wir wissen doch beide wo sie ist.“

In der alten Siedlung am westlichen Stadtrand. Dort wo sie immer zu finden war und ganze Tage mit Nichtstun verbrachte. Keine Ahnung was sie an diesem Ort so faszinierte, dass es sie immer wieder dort hinzog.

„Du kennst sie doch. Morgen ist sie wieder da und dann kannst du in aller Ruhe ausflippen, ohne dass irgendeine von euch beiden, in der Dunkelheit, in eine Trümmerspalte rutscht und dort stecken bleibt.“

Es war schwer ihm zu widersprechen, da er hartnäckig darauf bestand vernünftig zu sein. „Vielleicht würde es ihr eine Lehre sein, eine ganze Nacht in einer Trümmerspalte festzustecken.“

Er wartete nur ruhig ab.

Ich seufzte und rieb mir mit der freien Hand über das Gesicht. Es war schon fast dunkel, ich war müde und hungrig und konnte den Tag weitaus besser ausklingen lassen, als meiner unverantwortlichen, kleinen Schwester hinterher zu jagen, egal wie sehr es mich im Moment danach verlangte, ihr ein wenig Vernunft einzubläuen. Wie konnte ein Mensch allein nur so unverantwortlich sein? Sie kannte doch die Regeln.

Aber es nutzte alles nichts. Im Moment befand sie sich außerhalb meiner Reichweite und war damit für mich unantastbar. „In Ordnung“, stimmte ich widerwillig zu. „Ich werde hierbleiben.“

„Gut.“ Marshall gab meinen Arm frei.

„Aber morgen kann sie etwas erleben.“ Ich würde ihr so den Marsch blasen, dass ich sie damit quer über den Flugplatz pusten würde.

„Ich auch.“ Auch Marshall war mit diesem Verhalten nicht einverstanden. Er würde zwar nicht wie ich mitten in der Nacht losrennen, um sie zusammenzustauchen, aber er hatte vor langer Zeit die Rolle unseres Vaters übernommen und auch wenn er die meist Zeit eher ruhig war und die Dinge mit einem Lächeln hinnahm, so konnte er auch ganz anders.

Nikita hatte viele Freiheiten, aber es gab eben auch Regeln, die befolgt werden mussten. Zum Beispiel dann, wenn man die ganze Familie mit seinem Verhalten in Sorge versetzte. Oder wie in meinem Fall, verärgerte. Dabei war es eher Ärger über mich selber, weil ich mir Sorgen um sie machte, obwohl mir klar war, was sie gerade trieb.

Manchmal war mir wirklich nicht mehr zu helfen. „Ich werde mal nach Trotzkopf sehen“, murmelte ich und suchte mir damit eine Aufgabe, die mich von unüberlegten Handlungen abhielt.

Leider hinderte meine Arbeit mich nicht am Nachdenken und so drehten meine Gedanken sich den ganzen Abend nur um meine kleine Schwester. Es war nicht nur ihr unverantwortliches Handeln, was wenn ich mich täuschte und ihr doch etwas zugestoßen war? Es konnte so viel passieren. Nicht nur wilde Tiere, ein unbedachter Moment reichte schon. Sie musste nur falsch auftreten, sich den Fuß verdrehen und lag nun mitten in der Nacht einsam und verletzt irgendwo herum und wartete auf Hilfe, die nicht kommen würde, weil ich sauer auf sie war.

Super, jetzt begann mein Hirn Horrorszenarien auszuspucken. Nicht mal die Tatsache, dass Trotzkopf mir wegen meiner Geistesabwesenheit fast auf den Fuß trat, ließ mich meine Aufgabe fokussieren.

Als Azra uns alle zum Essen an die Feuerstelle rief, zeigte mein Hirn mir gerade ein Bild von Nikita, wie sie verletzt und völlig verzweifelt in irgendeiner Ruine lag, während sich hungrige Phantomhunde, knurrend an sie anschlichen und Donner und Blitze über den Himmel wüteten.

Nach dem Essen war ich so genervt von mir selber, dass ich mich für die Nacht verabschiedete und mich ins Flugzeug zurückzog. Leider wollte der Schlaf jedoch nicht über mich kommen. Dass ich Nikitas leeres Lager direkt vor mir hatte, machte die ganze Sache auch nicht unbedingt besser. Gereizt drehte ich mich auf die andere Seite, schloss die Augen und zwang mich dazu, mit diesem Mist aufzuhören. Es ging ihr gut und morgen würde sie wieder hier sein.

Trotz meines guten Zuredens, brauchte ich eine Ewigkeit, um zur Ruhe zur kommen. Am Ende waren es meine Erschöpfung und die Müdigkeit, die mich in einen unruhigen Schlaf rissen.

Meine Träumer waren voll von meiner kleinen Schwester. In dem einen Moment lachte sie mich aus, weil ich mir Sorgen um sie gemacht hatte. Im nächsten weinte sie bitterlich, weil ich nicht sofort nach ihr gesucht hatte. Was mich dann endgültig erwachen ließ, war der Moment, als ich ihren leblosen und blutüberströmten Körper inmitten eines überwucherten Grabhügels fand.

Ich schlug die Augen auf, blinzelte und versuchte mich in der Dunkelheit zu orientieren. Fast schon automatisch streckte ich die Hand nach dem Lager neben mich aus, um mich zu vergewissern, dass es Nikita gut ging. Aber sie war nicht da. Natürlich war sie das nicht, sie war gestern ja nicht nach Hause gekommen.

Am liebsten hätte ich lautstark geflucht, doch die Atemgeräusche der anderen und das laute Schnarchen von Balic sagten mir, dass ich als Einzige wach war. Von ihnen wüsste es sicher keiner zu schätzen, wenn ich meinem Unmut laut kundtat. Also machte ich das nächstbeste. Ich wickelte meine Decke um mich und schlich auf Zehenspitzen aus dem Flugzeug, um niemanden zu stören.

Draußen war es kühl. Die Nacht war noch nicht ganz vorbei, doch im Osten zeigte sich bereits das erste morgendliche Glühen der Sonne, das den kommenden Tag ankündigte. Alles war ruhig und friedlich. Selbst Trotzkopf lag noch völlig entspannt in seinem Heuhaufen und machte leise, blubbernde Geräusche im Schlaf. Irgendwie war das niedlich.

Da ich nun sowieso schon wach war, entschied ich, den Morgen zu beginnen. Das bedeutete, mir erstmal ein stilles Örtchen zu suchen und mir anschließend mit kaltem Wasser eine Morgenwäsche zu verpassen. Danach war ich wach genug, um mich mit wichtigen Dingen zu beschäftigen. Heute stand eine große Jagd an und wir brauchten dringend neue Pfeile. Also suchte ich mir leise alles zusammen und setzte mich mit meiner Beute an die ausgebrannte Feuerstelle. Dass ich mich dabei so hinsetzte, dass ich den Ausgang und damit auch einen Teil des Flugplatzes im Auge hatte, lag nicht an meiner Sorge um Nikita. Wirklich nicht. Ich saß nicht hier, weil ich auf sie wartete, ich wollte einfach nur die schöne Aussicht und den Sonnenaufgang genießen.

Ach Mist, wem versuchte ich hier eigentlich etwas vorzumachen? Seufzend öffnete ich den Sack mit den Vogelfedern und begann sie nach Brauchbarkeit zu sortieren. Es war gar nicht so einfach, sich selber zu belügen, wenn einem die Wahrheit doch ins Gesicht schlug. Ich war wirklich ein hoffnungsloser Fall.

Sich dieser Schwäche bewusst, versuchte ich mich auf meine Arbeit zu konzentrieren und nicht bei jedem Blatt das an mir vorbeiflog, den Hals zu recken. Meine Erfolgsquote behielt ich lieber für mich.

Langsam wurde es heller. Aus dem ersten Zwinkern der Sonne, wurden schon bald der frühe Morgen. Die Vögel begannen zu zwitschern und Trotzkopf kam mit einem Röhren auf die Beine. Er rempelte gegen den Zaun, blökte mich einmal an und begann dann den Pferch nach Futter abzusuchen. Offensichtlich fand er etwas, denn danach war erstmal Ruhe.

Ich hatte bereits ein Dutzend Pfeile gefertigt und fummelte gerade an der Befiederung des nächsten herum, als ich hinter mir ein Geräusch hörte. Jemand schob die Schilfmatte beiseite und trat auf die knarrenden Holzstufen. Ein kurzes Verharren und dann ein leises Seufzen.

„Wie lange bist du schon wach?“, fragte Marshall. Seine Stimme klang noch rau vom Schlaf.

„Nicht lange.“ Ich zog an dem Bindfaden, um die Feder an Ort und Stelle zu halten.

Schritte nährten sich, dann ließ Marshall sich mit einem Ächzen neben mich auf der Schilfmatte in den Schneidersitz fallen. Sein Blick glitt sofort zu den bereits gefertigten Pfeilen. „Noch nicht lange. So so. Dann hat Trotzkopf wohl neue Fähigkeiten entwickelt.“ Er lehnte sich zurück und stützte sich auf den Armen ab. „Meinst du, wir könnten ihn auch dazu bringen, das Loch im Dach zu flicken, oder kann er nur Pfeile herstellen?“

„Du bist längst nicht so witzig, wie du denkst.“ Ich verknotete den Bindfaden und biss das Ende mit den Zähnen ab.

„Wie kommst du darauf, dass das witzig gemeint war? Ich wäre wirklich sehr dankbar, wenn sich jemand anderes um das Loch kümmert.“

Das war wieder mal einer dieser Momente, in dem ich fast die Augen verdreht hätte. „Ich bin mit der Sonne aufgestanden, konnte nicht mehr schlafen.“ Träume waren schon immer mein Verhängnis gewesen. All die Dinge die mich quälten, konnte ich verbannen, solange ich wach war, doch sobald ich mich ihnen im Schlaf schutzlos auslieferte, suchten sie mich heim.

„Kismet.“ Marshall legte mir eine Hand auf den Arm, als ich den Pfeil zu den anderen legte und nach dem nächsten Schaft griff. Die Bewegung hielt mich auf. „Nikita wird frühstens in ein paar Stunden auftauchen, das weißt du so gut wie ich.“

Ich ließ meine Hände kraftlos in meinen Schoß sinken. Natürlich wusste ich das. Wenn sie eine ganze Flasche von Balics Selbstgenbraten getrunken hatte, würde sie erstmal gründlich ihren Rausch ausschlafen. Dann würde sie nach Hause kommen und hier weiterschlafen. „Und was ist, wenn sie nicht auftaucht?“, fragte ich sehr leise. Ich sprach meine Ängste nicht gerne aus.

„Ihr wird schon nichts passiert sein.“

„Ach ja?“ Um ihn nicht ansehen zu müssen, schnappte ich mir nun doch den nächsten Schafft und begann mit dem Messer das Ende anzuspitzen. „Wie kannst du dir da so sicher sein?“

„Sie ist deine Schwester. Du magst es vielleicht nicht sehen, aber sie hat viel von dir gelernt. Sie ist kein kleines Kind mehr.“

„Das bedeutet aber noch lange nicht, dass ihr nichts Schlimmes passieren kann.“ Ich setzte das Messer zu heftig an und schnitt die halbe Spitze weg. Toll, wirklich fantastisch. „Ich war nie so rücksichtslos und egoistisch wie sie gewesen und habe alle nächtelang mit meinem Wegbleiben in Sorge versetzt.“

„Natürlich nicht“, stimmte Marshall mir zu. „Du hast dich um sie gekümmert, seit sie ein Baby war. Schon als du klein warst, hast du sie von vorne bis hinten umsorgt. Wenn ich dich gelassen hätte, würdest du ihr vermutlich noch heute das Essen klein schneiden, damit sie sich nicht verschluckt.“

Ich warf ihm einen empörten Blick zu. „Ach, dann ist es jetzt meine Schuld, dass sie so sorglos ist und auf alles scheißt?“

„In gewisser Weise.“

Wäre ich dazu in der Lage, hätte ich ihm nun allein mit meiner Gedankenkraft einen Schubs versetzt. Doch würde ich wirklich über solche Fähigkeiten verfügen, hätte ich vermutlich eher Nikita über Entfernung erwürgt.

„Was ich damit sagen wollte, dir wurde die Verantwortung gewissermaßen aufgezwungen. Dir blieb gar keine andere Wahl, denn das Überleben von dir und Nikita lag in deinen Händen. Du hast immer für sie gesorgt und sie beschützt. Nikita dagegen hatte das Glück umsorgt und beschützt zu werden. Sie hat sich nie Sorgen darum machen müssen, woher die nächste Mahlzeit kommt, oder wo ihr die nächste Nacht sicher verbringen könnt, da du dich um all das gekümmert hast. Sie versteht unter Verantwortung nicht das gleiche wie du, weil sie nie für die Konsequenzen verantwortlich gemacht wurde.“

Ich verzog das Gesicht. „Und die Moral von der Geschichte?“

„Nikita ist ein verwöhntes Mädchen und wir sind daran schuld. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie dumm oder leichtsinnig ist. Sie weiß was sie tut, denn du und ich haben ihr alles beigebracht, was wir wissen. Darum kann ich auch mit Gewissheit sagen: Es geht ihr gut.“

„Unfälle passieren. Es gibt immer ungeahnte Einflüsse. Niemand weiß was die Zukunft bringt.“

Marshall stieß einen schweren Seufzer aus, denn er konnte meine Sorge und meinen Ärger nicht mit Worten besänftigen. Er senkte kurz den Kopf und sagte dann: „Nun gut. Hol deine Machete, wir gehen sie holen.“

Nun ließ ich auch den Schaft sinken. „Und was ist mit den Rindern?“

„In deiner Gemütsverfassung würde eine Jagd gar nichts bringen. Du wärst unkonzentriert und mit den Gedanken die ganze Zeit nur bei Nicky. Lass uns losgehen und sie holen, dann weißt du, dass sie sicher ist. Die Rinder werden wir auch morgen noch finden.“

Er hatte recht, es wäre das Schlauste das zu tun. Und trotzdem wollte ein kleiner Teil von mir nein sagen. Wir hatten andere Pläne, wichtige Sachen die erledigt werden mussten und eine Herde voller Rinder, die uns wochenlang ernähren konnten. Aber Nikitas Abwesenheit warf das alles über den Haufen.

Solange ich sie nicht wieder wohlbehalten Zuhause wusste, würde ich zu nichts zu gebrauchen sein.

„Ich werde sie mit einer Kette ans Flugzeug binden“, drohte ich und stopfte die Federn zurück in den Sack. „Dann wird das nie wieder passieren.“

„Ich werde dir sicher nicht im Weg stehen“, beteuerte Marshall und half mir dabei, alles wieder ordentlich wegzuräumen. Die Pfeile allerdings steckte er zu den anderen in seinen Köcher, bevor er ihn zusammen mit seinem Bogen auf den Rücken nahm.

Da ich aber noch Trotzkopf versorgen musste, bevor wir uns auf die Suche machen konnten, verschob sich unser Aufbruch lange genug, um Azra noch zu begegnen. „Hier“, sagte sie und reichte Marshall einen kleinen Beutel. „Äpfel und etwas Trockenfleisch.“

„Danke.“ Marshall nahm den Beutel und band ihn an seine Gürtel.

Ich schlüpfte aus dem Pferch und versicherte mich zwei Mal, dass das Tor auch richtig verschlossen war. Trotzkopf war schon mehr als einmal ausgebüxt, da konnte es nicht schaden, es sicherheitshalber noch einmal zu kontrollieren. „Wir können dann los.“ Ich legte die Hand auf die Machete an meiner Hüfte.

Azra bemerkte die Geste. „Sei nicht zu streng zu ihr, sie ist noch jung.“

„Das würde ich als Ausrede gelten lassen, wenn sie zu spät nach Hause gekommen wäre, nicht wenn sie die ganze Nacht wegbleibt.“

Azra seufzte, beließ es aber dabei. Zum Abschied bat sie nur noch: „Bringt mir mein Mädchen heil wieder nach Hause.“

„Das werden wir.“ Marshall drückte ihr kurz die Schulter und wandte sich dann zu mir um. „Lass uns Nikita holen.“

„Das ist der Plan.“ Ich verließ mit Marshall auf den Fersen den Hangar.

Unser Ziel war eine kleine Wohnsiedlung am westlichen Ende der Stadt. Ein altes rostiges Schild an der Zufahrt, zeigte ein Bild von hübschen Einfamilienhäusern mit sauberen Fassaden, eingerahmt von weißen Gartenzäunen. Die Begrünung war üppig und gepflegt und der Himmel strahlend blau.

Das Bild auf der riesigen Tafel war vom Rost angefressen, zerkratz und die Farbe war stark ausgeblichen. Nach all den Jahrhunderten war das auch kein Wunder. Trotzdem sah man bei genauerem Hinsehen die glückliche Familie mit den Kindern im Vordergrund, die jeden Besucher der Siedlung begrüßten.

Heute gab es diese Familie nicht mehr. Sie war genauso verschwunden wie die gepflegten Gärten, die sauberen Fassaden und die weißen Gartenzäune. Ja selbst ein Großteil der Häuser war verschwunden. Eingesunken, eingestürzt, abgebrannt, oder einfach dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen.

Dort wo einst die weißen Gartenzäune die Grenze des Besitzes aufgezeigt hatten, wucherten nun dicke Büschel Unkraut an rissigen Gehwegen. Das was von den Mauern und Wänden noch stand, war schmutzig, verblasst und regenfleckig. Selbst die Trümmerberge der einzelnen Häuser hatten sich über die Jahre hinweg so weit verstreut, dass die wild wuchernde Natur sie unter sich einfach begraben hatte und die Gegend jetzt eher einer heruntergekommenen Hügellandschaft, als einer gepflegten Vorstadtsiedlung glich.

Aber es gab auch ein paar Ausnahmen. Einige wenige der Häuser standen noch. Sie hatten keine Türen und Fenster mehr und von ihrem früheren Glanz war nur noch ein trauriger Überrest zurückgeblieben, doch die Wände hielten die kaputten Dächer noch oben und ließen einen bei ihrem Anblick erahnen, wie sie einst aussahen.

Trotzdem würde ich nur jemanden der lebensmüde war raten, diese Häuser zu betreten. Entweder der Boden sackte unter einem weg und riss ihn mit in die Tiefe, oder die kleinste Erschütterung brachte das Haus dazu, über einem zusammen zu brechen. Bei meinem Glück würde mir erst der Boden unter den Füßen wegbrechen, damit anschließend das Haus über mir einstürzen konnte. Deswegen mochte ich diese Siedlung nicht und deswegen mochte ich es auch nicht, dass Nikita sich hier her zurückzog, wenn sie allein sein wollte. Vielleicht lag das auch einfach nur an meiner pragmatischen Seite.

Nikita dagegen war ein Freigeist, für die jeder neue Tag ein Abenteuer bot. Sie hatte nicht sehen müssen, was ich gesehen hatte und verstand die Gefahr nicht. Kinder hielten sich für unsterblich, der Tod war für sie etwas weit entferntes, das verschwommen im Nebel lauerte. Ich wusste es besser, der Tod war endgültig und diese Häuser waren Todesfallen.

„Ich hasse diesen Ort.“ Ich passierte die fast unkenntliche Metalltafel, die den Beginn der Siedlung markierte und ließ meinen Blick über das vor uns liegende Areal gleiten. Es war ziemlich weitläufig und die wenigen Häuser, die noch nicht dem Alter zum Opfer gefallen waren, stachen wie seltsame Auswüchse aus dem Boden.

„Ach wirklich?“ Marshall hielt mit mir Schritt. In seinem langen Bart tat sich eine Kerbe auf und verzog sich zu einem amüsierten Lächeln. „Und ich dachte, deine Bezeichnungen von Grabhügel und Totenacker, bezogen sich auf Wunsch, deiner Schwester den Hals umzudrehen.“

„Ich will ihr nicht den Hals umdrehen.“ Sie vielleicht ein wenig würgen, um ihr etwas Vernunft einzubläuen, aber nicht umbringen.

„Natürlich nicht. Du willst sie nur an den Haaren zum Flugzeug zurück schleifen, dort festbinden und nie wieder fortlassen.“

„Und? Was ist daran so verkehrt? Dort ist sie wenigstens in Sicherheit und ich kann sie im Auge behalten.“

Nach einem fast dreistündigen Marsch im strammen Tempo über die Hügellandschaft, hatte ich meine Sorge um sie so weit zurückgedrängt, dass nun der Ärger über ihr Verhalten wieder die Oberhand hatte. Und das war auch gut so. Sie sollte ruhig merken, dass ihr Wegbleiben ganz großer Mist war. Und dieses Mal würde sie auch die Konsequenzen für ihr Verhalten tragen, dafür würde ich schon sorgen.

Das Haus, das Nikita für sich beansprucht hatte, stand weiter hinten in der Siedlung, an der einzigen noch halbwegs intakten Straße in dieser Gegend. Um zu diesem Haus zu gelangen, mussten wir einmal quer durch die mit Unkraut und Gras begrünte Hügellandschaft laufen. Dabei achteten wir sehr sorgsam darauf, wohin wir unsere Füße setzten, denn nur weil die Oberfläche auf den ersten Blick stabil wirkte, bedeutete das noch lange nicht, dass sich darunter kein Hohlraum befinden konnte. Die Trümmer lagen nicht immer fest aufeinander und die Natur wuchs einfach darüber hinweg. Starker Regen unterspülte das Ganze dann auch noch und die Zeit tat ihr Restliches.

Vielleicht wäre es schlauer gewesen, außen herum zu laufen. Doch nun waren wir schon mittendrin.

Ich hielt mich an der äußeren Wand eines eingestürzten Hauses und erklomm dann den vor mir liegenden Hügel. Hinter mir schnaufte Marshall. Auch wenn er noch fit war, so war er doch nicht mehr der Jüngste und die Sonne brannte heute heiß vom Himmel. „Wir sind gleich da.“

„Und das erzählst du mir weil?“

„Weil du alt bist und eine Pause brauchst.“ Uh, konnte der aber finster gucken. Ich zuckte mit den Schultern. „Was denn? Du hast gefragt.“

„Geh weiter, du undankbares Gör.“

Grinsend machte ich mich auf der anderen Seite an dem Abstieg, prüfte den Boden und machte dann den nächsten Schritt. Der Untergrund war steinig und nicht allzu fest.

Nikitas Unterschlupf war noch ungefähr sechzig Fuß von uns entfernt. Er wirkte alt und schäbig und der rechte Teil war schon vor langer Zeit in den Boden eingesunken. Die leeren Fensterrahmen mit den dunklen Räumen schienen Augen zu besitzen, mit denen sie unser Kommen beobachteten. Das Ganze wurde von einer alten Eiche überschattet, deren lange Äste sich in alle Richtungen ausgebreitet hatten. Ein Paar dieser Äste waren sogar durch das Haus durchgewachsen, was vielleicht erklärte, warum es noch stand.

In der Hoffnung hinter diesen Fenstern eine Bewegung wahrzunehmen, kniff ich die Augen leicht zusammen.

Kleine Geröllbrocken kullerten unter meinen Füßen weg. Ein lockeres Bäumchen bot mir bei meinem Abstieg ein wenig Halt. Naja, zumindest solange, bis sich die Wurzeln aus dem Geröll lösten und ich mit einem überraschten Ausruf wegrutschte und schmerzhaft auf dem Hintern landete.

„Kismet!“ Sofort eilte Marshall mir hinterher. Bei seinem Abstieg trat er kleine Steinchen los und wäre in seiner Eile fast selber gestürzt, bevor er um Gleichgewicht ringend neben mir ankam.

„Alles Gut“, murrte ich mit zusammengebissenen Zähnen und ließ mir von ihm zurück auf die Beine helfen. Dabei lösten sich ein weiterer Schotter und Geröll, das sich unangenehm in meine Fußsohle bohrten. Außerdem tat mir jetzt der Hintern weh. „Vielleicht werde ich Nikita ja doch erwürgen.“ Das würde mir jedenfalls weiterem Ärger mit ihr ersparen.

„Auf dem Rückweg sollten wir besser außen lang gehen.“

Ich rieb mir meine Kehrseite, knurrte etwas Unverständliches und machte mich von ihm los. Wenigstens ein Gutes hatte mein Sturz gehabt, ich befand mich nun direkt neben dem Haus.

Hier gab es einen kleinen Trampelpfad, der zwischen den verwilderten Pflanzen um das Haus herumführte. Das letzte Mal war ich ihn Anfang des Jahres gegangen, nachdem Nikita nach einem Streit mit Marshall für zwei Tage verschwunden gewesen war. Es sah noch genauso aus wie an diesem Tag, nur dass jetzt neben dem ganzen Grünzeug, das hier aus allen Ecken und Löchern spross, auch noch überall kleine Sommerblumen blühten.

Als wir uns dem leeren Rachen näherten, der einst die Haustür beherbergt hatte, schlug uns nichts als gähnende Leere und einem modrigen Geruch nach Schimmel entgegen.

„Nikita?“, rief ich laut und betrat das Haus. Früher musste es hier mal eine kurze Treppe gegeben haben, aber die war schon lange weg, sodass ich einen großen Schritt machen musste. „Zeig dich besser gleich, sonst bekommst du noch größeren Ärger.“

Keine Antwort.

Der Boden im Flur war aus Holz. Die vielen Jahre, die er Wind und Wetter ausgeliefert gewesen war, hatten ihn aufgequollen und stark gewellt. Bei jedem Schritt ächzte und stöhnte er unter meinem Gewicht. Die Wände waren fleckig und kahl. Nur einige wenige Reste einer uralten, vergilbten Tapete klebten noch an ihm und wechselten sich mit spärlichem Wuchs von Moos, Flechten und Schimmel ab. Ich hasste dieses Loch. „Nikita? Antworte mir.“

Marshall trat hinter mir hinein. Er hatte den Bogen von den Schultern genommen und trug ihn nun in der Hand, damit er damit nicht gegen das stieß, was früher einmal der Türrahmen gewesen war. „Vielleicht schläft sie noch.“

Wenn sie eine ganze Flasche Schnaps in sich hineingeschüttet hatte, dann schlief sie auf jeden Fall noch. Schade das ich keinen Eimer mit kaltem Wasser bei mir hatte, sonst hätte ich sie gebührend wecken können.

Vom Flur aus führte eine Treppe ins Obergeschoss und drei Türen in anliegende Räume. Der Treppe fehlten nicht nur das Geländer, sondern auch der Großteil der Stufen. Die Wenigen noch vorhandenen, waren morsch, lose und zum Teil gesplittert. Dort oben war wahrscheinlich seit den großen Kriegen niemand mehr gewesen. Genau wie in den zerstörten Räumen links und rechts. In dem linken fehlte sogar ein Teil des Bodens. Zum Glück für uns, mussten wir in den Raum gerade zu.

„Nikita?“, rief ich wieder, als ich auf das einzig halbwegs intakte Zimmer dieses Hauses zuging. Ein Teil der Wand zu diesem Raum fehlte und vergrößerte damit den Durchgang, der einmal eine Tür gewesen sein musste. Nur dank einer Konstruktion Marke Eigenbau, stürzte der Rest der Wand nicht auch noch in sich zusammen. Nikita selbst hatte das gemacht, aber es wirkte nicht sehr vertrauenerweckend, weswegen ich sehr vorsichtig hindurchtrat.

Der Raum dahinter wurde nur spärlich von Licht erhellt. Zwei der drei großen Fenster waren mit Brettern vernagelt, genauso wie die Tür, die früher einmal in Freie geführt haben musste.

Das Dritte Fenster hatte Nikita mit einem Netz bespannt. Vermutlich um alles draußen zu behalten, was nicht nach drinnen dringen sollte.

„Niki scheint fleißig gewesen zu sein“, bemerkte Marshall mit einem Blick auf einem wackligen Tisch, auf dem ein halbfertiger Korb aus Schilf stand.

Meine Aufmerksamkeit jedoch richtete sich sofort auf das kleine Lager in der Ecke. Eine Strohmatte mit Leinenlaken, ganz ähnlich wie die bei uns zu Hause. Es fehlten nur die Felle.

Das Lager war leer. „Sie ist nicht hier.“ Wirklich clever, das Offensichtliche noch einmal zu betonen.

„Vielleicht haben wir sie ja verpasst und sie ist bereits auf dem Weg nach Hause.“

Das wäre eine Möglichkeit. Trotzdem schaute ich mich noch etwas genauer im Raum um. Ich wollte nicht glauben, den langen Weg hier her umsonst gegangen zu sein.

Im Fokus stand ein sehr wackliger Kamin aus Holz und Bauschutt, der scheinbar nur zum Anschauen gedacht war, denn funktionieren würde der niemals.

Oben drauf stand ein Bild, ein richtiges Gemälde. Der Rahmen war gesplittert und die Farbe verblasst. Es war beschädigt, hatte Wasserflecken und Risse. Dennoch erkannte man, was einst darauf gemalt worden war. Ein Raum mit goldenen Möbeln vor einem Kamin.

Meine Lippen wurden ein wenig dünner, als mir klar wurde, dass ich dieses Bild nicht zum ersten Mal sah. Es musste Monate her sein, dass Saad damals mit seinem Karren durch die Stadt gezogen war und genau dieses Bild mit sich herumgeschleppt hatte.

Was hatte Nikita ihm nur für diesen wertlosen Plunder gegeben?

Ich drehte mich herum und entdeckte ein schiefes Regal in der Ecke, das von Tand nur so überquoll. Da war ein gesprungenes Glas und ein Becher voller Federn. Eine kleine Figur ohne Kopf, ein paar Kerzen und eine Schachtel voller bunter Steine. Sogar eine Pflanze in einer Schüssel entdeckte ich.

Er wirkte fast, als hätte Nikita versucht, sich ein eigenes zuhause zu schaffen. Da waren auch noch zwei Kisten und ein Sitzmöbel, gebunden aus Stroh und Tüchern.

„Schau dir das an.“

In der Ecke stand ein kleiner Holzkäfig, in dem ein blauer Vogel auf einem Ast hockte und uns wachsam beobachtete. „Warum hat Nikita einen Vogel in einen Käfig gesteckt?“ Das ergab keinen Sinn. Er war viel zu klein für eine Mahlzeit und die wenigen Eier die er legte, brachten bei einem so kleinen Vogel auch nicht viel. Außerdem wäre er bald tot, wenn Nikita ihn nicht mit Futter und Wasser versorgte.

„Ich habe keine Ahnung.“ Aufmerksam sondierte Marshall den ganzen Raum. „Keine leeren Schnapsflaschen.“

Jetzt wo er es sagte, bemerkte auch ich es. Hatte Nikita sie wieder mitgenommen?

Der Gedanke, dass Nikita vielleicht gar nicht hier gewesen war, schlich sich unwillkommen in meinen Kopf, doch ich schmetterte ihn sofort ab. Wenn sie nicht hier gewesen war, würde das bedeuten, dass sie seit gestern Morgen verschwunden war und das würde bedeuten …

Nein. Nein, das durfte ich nicht glauben.

Entschlossen drehte ich mich herum und trat zu dem wackligen Regal. Sie war hier gewesen und den Beweis dafür, würde ich genau hier finden. Dieses Regal war ihre kleine Schatztruhe. Hier bewahrte sie alles auf, was sie für kostbar erachtete, mochte es auch noch so großer Ramsch sein.

Meine Augen huschten über die drei Regalbretter, auf der Suche nach einem ganz besonderen Stück. Manche von den Dingen erkannte ich noch von früher, andere hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen und das was ich suchte, fand ich nicht.

Aber es musste hier sein.

Ich suchte ein zweites Mal, schaute mir jedes der Stücke ganz genau an und schob die einzelnen Dinge sogar hin und her, in der Hoffnung, es vielleicht so zu finden, aber es war nicht da. Auch eine dritte und fast schon verzweifelte Suche, brachte mich wieder zum selben Ergebnis. „Er ist nicht da.“

Marshall, der gerade beim Käfig stand und den Vogel nachdenklich beobachtete, drehte sich zu mir um. „Hm?“

„Der Schmetterling, er ist nicht da.“

„Wovon redest du?“

„Na von dem Schmetterling, den sie von Saad bekommen hat. Du weißt schon, dieses kleine, angelaufene Schmuckstück, mit den fehlenden Steinen.“ Ich zeigte auf das Regal. „Er ist nicht da. Wenn sie hier gewesen ist, müsste er hier liegen. Sie bringt alle ihre Schätze hier her.“

Nun verstand er, worauf ich hinauswollte. Sein Mund verzog sich zu einer grimmigen Linie, als er zu mir kam, um das Regal selber nach dem Schmetterling absuchen.

„Sie war nicht hier gewesen.“ Oh Gaia, irgendwas war passiert.

„Nun lass uns keine voreiligen Schlüsse ziehen.“

„Keine voreiligen Schlüsse?“ Ja, meine Stimme klang ein wenig hysterisch, aber das war auch kein Wunder. Seit gestern Morgen hatte niemand mehr Nikita gesehen und nun musste ich feststellen, dass sie nicht hier gewesen war. Ihr konnte sonst was geschehen sein und ich hatte meine Zeit damit verbracht, meinen Ärger auf sie zu schüren. „Wir müssen sie finden.“ Ich machte auf dem Absatz kehrt und marschierte aus dem Haus. Dabei strömten allerlei Horrorszenarien auf mich ein, die mir zeigten, was ihr zugestoßen sein könnte. Von einem wilden Tier erlegt, von einem fremden Menschen angegriffen und ausgeraubt. Gestürzt, verschüttet, ertrunken. Es gab so viel, dass ihr widerfahren sein konnte.

Marshall holte mich vor dem Haus ein und packte mich an der Tunika, um mich am Weitergehen zu hindern. „Warte, so kopflos drauflos zu rennen, bringt nichts, wir …“

„Rumstehen aber auch nicht!“ Oh Gaia, was war, wenn sie verletzt war und auf Rettung wartete? Oder vielleicht war sie ja schon tot, weil ich mich nicht schon gestern Abend auf die Suche nach ihr gemacht hatte. Ich hätte mich von Marshall niemals aufhalten lassen dürfen.

„Wir werden nicht rumstehen, aber wir brauchen einen Plan. Am besten suchen wir erst mal an den naheliegendsten Orten nach ihr.“

„Da sind wir gerade und sie ist nicht hier!“

Marshall Griff wurde ein kleinen wenig fester, so als befürchtete er, ich würde mich jeden Moment von ihm losreißen – womit er gar nicht so Unrecht hätte. „Kismet, jetzt beruhige dich und atme einmal tief durch. Nikita geht es gut, wir müssen sie nur finden.“

„Woher willst du das wissen?“, fragte ich aufgebracht. „Wir wissen ja nicht mal, wo sie gerade steckt!“

„Weil Nikita nicht dumm ist. Und du bist es auch nicht, also denk nach. Keiner von uns kennt sie so gut wie du. Wo könnte sie sonst noch sein?“

Ich hatte keine verdammt Ahnung, aber die Eindringlichkeit seiner Worte waren durch den Nebel meiner Befürchtungen zu mir durchgedrungen. Jetzt in Panik zu verfallen würde Nikita nicht helfen. Ich musste einen kühlen Kopf bewahren und nachdenken. Also schloss ich für einen Moment die Augen, zwang mich zur Ruhe und atmete einmal tief durch. Es konnte durchaus sein, dass sie hier gewesen war und sich wie vermutet hatte volllaufen lassen. Dann hatte sie einfach vergessen den Schmetterling in das Regal zu legen und war verschwunden, bevor wir hier aufgetaucht waren. Alles ganz harmlos.

Ich schlug die Augen wieder auf. „Wir sollten erst mal nach Hause gehen und schauen, ob sie da ist. Wir sollten den Weg laufen, den sie normalerweise nimmt. Falls ihr Unterwegs etwas passiert ist, finden wir sie auf diese Art am Schnellsten.“

Marshall nickte und ließ mich wieder los, um seinen Bogen zu schultern. „Das erscheint mir auch am sinnvollsten.“

Ich setzte mich in Bewegung, auf die rissige und bröckelnde Straße zu. Der Asphalt war von den dicken Wurzeln der alten Eiche, aufgeworfen und teilweise durchbrochen. Trotzdem wäre ich daneben noch problemlos mit Trotzkopf und seinem Karren vorbeigekommen. „Wenn wir sie da nicht finden, können wir noch zum Fluss gehen, oder zum Erdbeerfeld.“

„Sie könnte auch bei der alten Hütte sein.“

Ja, die Hütte. Dort sollten wir vermutlich als erstes nachschauen. „Wenn sie auch da nicht ist, gehen wir in die Stadt zu diesem alten Geschäftsdingens. Du weißt schon, dort wo die Menschen früher ihre Waren verkauft haben. Dort treibt sie sich auch immer gerne herum, weil unter den Trümmern so viele Dinge verborgen sind.“

Marshal nickte grimmig. Er ließ es sich vielleicht nicht so anmerken wie ich, aber er war nicht weniger besorgt als ich. Auch wenn wir nicht blutsverwandt waren, Nikita war genauso seine Tochter wie ich.

Eine blitzende Reflektion im Augenwinkel erregte meine Aufmerksamkeit. Da lag etwas am Straßenrand, dass das Licht der Sonne reflektierte. Fast wäre ich einfach daran vorbei gegangen, aber etwas daran kam mir seltsam vor. Es passte nicht ins Bild.

Natürlich fand man hier immer wieder mal Müll auf den Straßen, aber nicht so. Anstatt also weiter zu gehen, trat ich zu dem wild wuchernden Unkraut an den Straßenrand und zupfte das glänzende Teil aus den Grashalmen.

„Was hast du da?“, fragte Marshall und schaute mir interessiert über die Schulter.

Ich hielt es ihm hin. Es war ein Einwickelpapier von einem Energieriegel, außen bunt und innen mit irgendwas Silbernen beschichtet. Das kannte ich vom Herbstmarkt. Ein Mann hatte sie dort feilgeboten. Angeblich hatte er ein Konvoi der Städter überfallen und sie ausgeraubt. Ich glaubte eher, er hatte die Riegel gefunden und wollte sich mit seiner Geschichte aufspielen.

„Das stammt aus Eden“, erkannte nun auch Marshall.

In mir breitete sich ein ungutes Gefühl aus. Dieses Stück Müll konnte auf viele Arten hierher gelangt sein. Ein Durchreisender hatte es sich genau wie der Mann vom Markt angeeignet und dann einfach weggeschmissen. Der Wind könnte es über viele Kilometer hierher geweht haben und dann war es im Grasbüschel hängen geblieben. Vielleicht lag es schon seit Jahren hier, aber so sah es nicht aus. Es war sauber, fast wie neu, so als hätte man sich ihm erst vor kurzem entledigt. Wäre es alt, wäre nicht nur die Farbe verblichen, es müsste auch Dreck daran kleben. Dem war aber nicht so.

„Marshall …“

„Wir wissen nicht, wie es hierhergekommen ist.“

Seine Gedanken gingen also in die gleiche Richtung wie meine. Ein Stück aufgerissenes, aber sauberes Einwickelpapier aus Eden, direkt neben dem Haus, in dem Nikita eigentlich sein müsste. So weit von Eden entfernt hielten sich nur Tracker auf, die Jäger der Stadt. Tracker wie die, von denen Saad uns erst vor zwei Tagen gewarnt hatte.

Das ungute Gefühl in mir wuchs und breitete sich aus. „Wir müssen Nikita finden.“ Meine Stimme war fast tonlos. Ich versuche die aufkeimende Beklemmung zu unterdrücken. Ein Stück Müll war kein Beweis und es würde mich ganz sicher nicht von meiner Suche nach meiner kleinen Schwester abhalten.

„Lass uns weiter gehen.“ Ich ließ es achtlos zu Boden segeln und wandte mich Richtung Heimat. Ich hatte eine Aufgabe, die ich erfüllen musste. Doch ich war kaum einen Schritt gegangen, als ich einen sehr vertrauten Wollbeutel nur ein paar Fuß von mir entfernt am Straßenrand entdeckte.

Nein, das konnte nicht sein.

Sehr langsam, mit Blick auf mein Ziel, bewegte ich mich darauf zu. Meine Beine schienen mit jedem Schritt schwerer zu werden. Bereits bevor ich mich vor den Beutel hockte und ihn an mich nahm, wusste ich es und trotzdem versuchte ich mir einzureden, dass es nicht wahr sein konnte. Erst als ich ihn öffnete und neben einem Apfel und einem kleinen Messer den angelaufenen Schmetterling mit den fehlenden Steinen erblickte, konnte ich es nicht länger leugnen: Das hier war Nikitas Beutel.

Nikita war hier gewesen und jetzt war sie es nicht mehr.

Nicht auch Nikita, dachte ich nur. Nicht auch noch meine Schwester.

 

oOo

Kapitel 06

 

Bilder der Vergangenheit drängten sich in mein Bewusstsein. Die wütenden Worte fremder Männer, das verzweifelte Schluchzen eines kleinen Jungen. Rot, alles war rot von ihrem Blut. Wie ein Leuchtfeuer, hatte es sich vom Boden abgehoben. Doch all das verblasste, im Angesicht ihres leeren Blickes, der starr auf mich gerichtet war.

Meine Augen schlossen sich von allein, während ich versuchte, die aufsteigenden Erinnerungen mit aller Gewalt aus meinem Gedanken zu verdrängen. Ich musste die Schreie ersticken, die grünen Uniformen ausblenden. Ich durfte mich nicht ablenken lassen. Nikita brauchte mich.

Meine Finger krampften sich um den kleinen Schmetterling. „Marshall.“

Als er nicht reagierte, wandte ich mich zu ihm um und entdeckte ihm in der Hocke auf dem Boden. Seine Finger strichen über den Dreck und dem Staub auf der Straße, als suchte er dort nach etwas. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, denn es war von mir abgewandt.

„Marshall“, sprach ich ihn erneut an. „Sie ist hier gewesen.“

Er blickte mit gerunzelter Stirn zu mir auf und entdeckte den Wollbeutel in meiner Hand. Sein Gesicht wurde eine Spur blasser. Ein Blick reichte, um die Bedeutung dessen zu verstehen. „Oh Gaia.“

„Es ist ihrer.“ Ich zeigte ihm das kleine Schmuckstück. Meine Finger zitterten leicht, ich konnte nichts dagegen tun. „Es ist ihr Beutel. Nikita war hier gewesen. Sie würde ihren Beutel niemals freiwillig zurücklassen, besonders nicht, wenn da einer ihrer Schätze drin ist. Ihr ist etwas zugestoßen.“

Dieses Mal sagte Marshall mir nicht, ich solle keine voreiligen Schlüsse ziehen. „Hier sind Spuren.“ Er schien sich überwinden zu müssen, diese Worte auszusprechen.

„Spuren?“ Meine Augen huschten zu der Dreckschicht aus Staub und Erde. „Was für Spuren?“

„Reifenspuren von Autos.“ Er machte eine kurze Pause. „Und sie sind frisch.“

Das Zittern wurde heftiger. Ich drückte meine Hände samt Beutel und Schmetterling gegen meine Brust, aber es half nicht. Es gab nur noch eine Sorte von Menschen, die im Besitz funktionierender Autos waren, die Leute aus Eden. „Sie haben Nikita.“ Oh Mutter des Lebens und der Vernichtung, die Tracker waren gekommen und hatten sich meine kleine Schwester geholt.

„Das wissen wir nicht mit Sicherheit, vielleicht …“

„Was brauchst du noch für Beweise?“, fuhr ich ihn an. „Das Einwickelpapier, du hast selbst gesagt, es stammt aus Eden! Das hier ist ihr Beutel und dort sind Reifenspuren. Wir stehen genau vor Nikitas Unterschuft. Sie müsste hier sein, aber das ist sie nicht!“

Ein Gedankenblitz beförderte die große Staubwolke zurück in mein Gedächtnis. Ich hatte geglaubt, sie wäre von den Rindern, von denen Saad uns erzählt hatte. Allerdings war sie mir sofort ein wenig seltsam vorgekommen, zu groß und zu schnell. Was, wenn das gar keine Rinder gewesen waren? Ich hatte nie ein Auto fahren sehen, wusste aber aus Erzählungen, dass sie sehr schnell sein sollten.

Ich versuchte mich daran zu erinnern, in welche Richtung diese Staubwolke sich bewegt hatte. Richtung Westen. Die Stadtrandsiedlung lag im Westen. Oh Gaia. „Die Tracker haben Nikita.“

Marshall presste die Kiefer aufeinander. Sein Blick war gesenkt. Er konnte mir nicht widersprechen, aber er wollte es nicht glauben. Wenn die Tracker Nikita in ihre Gewalt gebracht hatten, dann war sie für uns verloren. „Vielleicht ist sie ihnen entkommen und versteckt sich jetzt irgendwo. Vielleicht haben die Tracker sie auch gar nicht bemerkt. Wir wissen nicht was passiert ist, nur das sie nicht hier ist.“

Das stimmte alles, jedes einzelne Wort davon und so sehr ich es auch glauben wollte, mein Instinkt sagte mir etwas anderes. Nikita war verschwunden, nachdem die Tracker hier gewesen waren. So sehr ich es mir auch wünschte, das konnte kein Zufall sein.

Marshall erhob sich und legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Kismet …“

„Das ist alles deine Schuld.“

Sein Griff wurde ein wenig fester. „Was?“

Ich riss mich von ihm los, während meine Finger Nikitas Sachen umklammerten. „Das ist deine Schuld!“, warf ich ihm vor. „Ich wollte, dass sie beim Hangar bleibt, du hast sie gehen lassen!“

Er wich einen Schritt vor mir zurück, als hätte ich ihn geschlagen und augenblicklich bereute ich meine scharfen Worte. Aber sie stimmten doch. Nur weil er immer der Meinung war, sie sei ein kleines Vögelchen, das seine Freiheit brauchte, standen wir nun hier und mussten einer grauenhaften Wahrheit ins Auge blicken.

„Du hast sie gehen lassen“, wiederholte ich sehr leise.

Seine Kiefer begannen angestrengt zu mahlen, aber er sagte kein Wort.

Am liebsten hätte ich ihn geschlagen, oder angebrüllt. Auch einfach loszuheulen, kam mir im Moment gar nicht so verkehrt vor, aber das würde weder ihr noch uns helfen. Anschuldigungen und Vorwürfe brachten uns nicht weiter. Wir mussten irgendwas tun. Wir mussten sie zurückholen. Vielleicht waren die Tracker noch in der Nähe und Nikita wartete genau in diesem Moment auf Rettung. „Wir müssen ihrer Spur folgen.“

Marshall zog die Augenbrauen so dicht zusammen, dass es aussah, als säße ihm eine Raupe im Gesicht. „Wessen Spur?“, fragte er wachsam.

„Na der Spur der Tracker.“ Ich steckte den kleinen Schmetterling zurück in Nikitas Beutel und band ihn dann neben meiner Machete an meinen Gürtel. Ich würde ihn später meiner kleinen Schwester zurückgeben. „Sie könnten noch in der Stadt, oder in der näheren Umgebung sein. Letzte Nacht werden sie sicher Halt gemacht haben, um sich auszuruhen. Vielleicht hoffen sie auch, hier auf weitere Menschen zu stoßen und durchkämmen nun die Umgebung. Wenn wir sie finden, dann können …“

„Wenn sie die Stadt durchsuchen, müssen wir zurück und uns mit Azra und Balic in Sicherheit bringen.“

Ich erstarrte mitten in der Bewegung. „Zurück? Nein, wir müssen zuerst Nikita finden.“

„Du willst die Tracker jagen? Bist du verrückt? Wenn sie Nikita haben, können wir nichts mehr für sie tun. Wir müssen Azra und Balic in Sicherheit bringen und darauf hoffen, dass sie uns nicht finden.“

Ich starrte ihn im sprachlosen Entsetzen an. Das konnte doch nicht sein Ernst sein. „Du willst Nikita einfach aufgeben?“

„Was sollen wir denn sonst tun?“ Marshall drückte die Lippen aufeinander, drehte sich kurz weg und wirbelte gleich darauf wieder zu mir herum. „Glaubst du denn, diese Entscheidung fällt mir leicht? Nikita ist meine Tochter, sie gehört zu uns und ich will sie nicht verlieren, aber wenn wir zu den Trackern gehen, laufen wir Gefahr, selber geschnappt zu werden. Wir haben diesen Leuten nichts entgegenzusetzen. Und was wird aus Azra und Balic, wenn wir nicht mehr da sind? Die beiden schaffen es niemals alleine.“

Ich schüttelte den Kopf, ich wollte das nicht hören. „Ich werde Nikita nicht im Stich lassen.“

„Kismet …“

„Hilfst du mir sie zu finden, oder muss ich alleine gehen?“

Er wollte nicht, ich sah es ihm an. Er fürchtete sich vor den Tracker genauso sehr wie ich. Aber ich brauchte ihn, er war der bessere Spurenleser und besaß viel mehr Erfahrung als ich. Vielleicht würde ich es auch ohne ihn schaffen, aber es würde erheblich schwerer werden.

„Bitte“, flehte ich ihn an. „Ohne dich könnte ich zu spät kommen.“

„Es ist gefährlich, das weißt du doch besser als ich.“

„Aber wir müssen es doch zumindest versuchen. Ich kann nicht mit der Schuld leben, nicht noch einmal, das schaffe ich nicht.“

Marshalls Blick wurde ein wenig weicher. „Das mit deinem Bruder war nicht deine Schuld. Du warst damals noch ein Kind, du hättest nichts …“

„Ich bin einfach weggerannt und deswegen ist er jetzt tot!“ Ich schüttelte den Kopf und wich ein Stück zurück. „Das kann ich nicht nochmal, ich kann Nikita nicht auch so verlieren.“ Das würde ich nicht ertragen.

„Aber wenn wir sie suchen, verliere ich vielleicht meine beiden Töchter. So kann ich wenigstens eine von euch retten.“

„Nein, denn die Schuld würde mich aufzehren.“ Ich entfernte mich einen weiteren Schritt von ihm. „Ich werde sie jetzt suchen, egal ob du mir hilfst oder nicht.“

„Kismet, sei doch vernünftig.“

„Ich muss sie finden.“ Oder es zumindest versuchen. Ich musste alles tun, was in meiner Macht stand. Wenn ich dann versagte, konnte ich vielleicht damit leben, aber einfach wegzurennen, kam gar nicht in Frage. Das würde ich mir niemals verzeihen. „Tut mir leid“, sagte ich noch und kehrte ihm den Rücken.

„Kismet.“

Ich kniff die Lippen zusammen und ignorierte den flehenden Unterton in seiner Stimme. Ich durfte nicht darauf achten, im Moment zählte nur Nikita.

Als erstes musste ich herausfinden, wohin die Tracker gegangen waren. Sie waren aus dem Westen gekommen, also war Osten die naheliegendste Richtung. Die Spuren auf der Straße führten Richtung Nordosten, aber das lag am Verlauf der Straße. Wenn sie mit Autos unterwegs waren, dann würden sie sich auch weiterhin an solche Straßen halten müssen. Halbwegs intakt, nicht unter Trümmern begraben und breit genug, um durchzukommen. So viele Wege konnten sie von hier aus also nicht genommen haben.

„Also gut“, rief Marshall plötzlich, was mich dazu brachte, mich überrascht zu ihm umzudrehen. „Ich helfe dir, aber wenn ich das mache, dann zu meinen Bedingungen.“

Beim ersten Teil seiner Worte, wollte ich schon jubeln, aber der zweite ließ mich zögern. „Was für Bedingungen?“

„Wir werden sie suchen und falls wir sie finden, werden wir die Lage einschätzen. Wenn Nikita wirklich bei ihnen ist und es eine Möglichkeit gibt sie zu befreien, werden wir sie nutzen. Aber wenn die Situation ausweglos ist, werden wir uns zurückziehen und uns mit Azra und Balic in Sicherheit bringen.“ Er trat direkt vor mich. „Ich werde nicht dabei zusehen, wie du dich unnötig in Gefahr bringst und auf ein aussichtsloses Unterfangen einlässt. Wenn es nicht geht, dann geht es nicht und du wirst mit mir zusammen zurück zum Flughafen gehen. Freiwillig.“

Das war doch alles was ich wollte, oder? Eine Chance bekommen, Nikita zurückzuholen. Mit Marshalls Hilfe konnte das gelingen, Tracker waren schließlich auch nur Menschen.

„Versprich es mir, ich kann euch nicht beide verlieren.“

„Wenn es wirklich keinen Weg gibt sie zu retten, dann …“ Ich zögerte, schluckte.

„Versprich es, Kismet“, forderte er sehr eindringlich. Sein Blick war unnachgiebig. Er würde mir helfen, aber in diesem Punkt würde er nicht mit sich diskutieren lassen. Und das war auch richtig so.

„In Ordnung“, sagte ich. „Wenn es nicht geht, dann … werde ich mit dir gehen.“

Marshall stieß erleichtert die Luft aus. „Danke“, sagte er und drückte seine Lippen kurz auf meine Stirn.

„Wir werden sie finden“, sagte ich leise.

„Wir werden es versuchen.“ Er ließ von mir ab und schaute sich die Spuren auf der Straße genauer an. Sie waren unser bester Anhaltspunkt.

„Ich glaube sie sind nach Nordosten unterwegs.“

„Wie kommst du darauf?“

Ich klärte ihn über die Staubwolke und meine Vermutungen auf.

Seine Mine wurde grimmig. „Da könntest du recht haben.“ Er folgte mit den Augen dem Verlauf der Straße. Unser Flugzeug lag in der entgegengesetzten Richtung. „Hoffentlich machen wir keinen Fehler“, murmelte er und setzte sich dann in Bewegung.

Der Spur zu folgen, erwies sich als überraschend einfach. Mehrere Kilometer konnten wir einfach der Straße folgen und mussten nur an Weggabelungen darauf achten, welche Richtung sie genommen hatten. Es war ein Zickzackkurs, hinein in die Stadt. Nur einmal verlor sich die Spur und wir mussten ein wenig suchen, um sie wiederzufinden.

Als wir einen Moment verschnauften und ich mir den Schweiß von der Stirn wischte, war die Sonne schon ein ganzes Stück weitergewandert. Wir waren bereits seit Stunden unterwegs, doch ich hatte das Gefühl, dass wir Nikita kein Stück nähergekommen waren.

In diesem Teil der Stadt hielt ich mich nur äußerst selten und ungern auf. Die Ruinen hier standen dicht an dicht und das Fundament war durch die langen Tunnel im Untergrund nicht besonders stabil. Die meisten von ihnen waren überflutet, oder verschüttet und hatten bereits in der Vergangenheit ganze Straßenzüge mit sich in die Tiefe gerissen, aber es kam trotzdem immer wieder zu kleineren Einstürzen der maroden Gebäude. Hier war es gefährlich.

Nicht weit von mir entfernt, klaffte ein riesiges Loch im Boden, in das unser ganzes Flugzeug gepasst hätte. Es war wie der Schlund in eine andere Welt.

Irgendwann war die Straße hier einfach eingesackt. Moos, Flechten und Gräser waren mit den Rändern verwachsen. Sogar ein Baum hatte seine krummen Wurzeln in die Umrandung geschlagen und wirkte, als musste er sich mit aller Kraft festhalten, um nicht auch in die Tiefe gerissen zu werden.

Im Inneren konnte ich fließendes Wasser hören. Aufgescheuchte Eidechsen huschten in der Nähe über den Boden und nicht weit entfernt, hockte zitternd eine fette Spinne.

„Sie sind immer noch auf dem Weg Richtung Osten“, ließ Marshall mich mit einem prüfenden Blick auf die Spuren wissen. Die Abdrücke der Autoreifen waren hier sehr deutlich. „Die Spuren hier sind frischer. Wir scheinen uns ihnen zu näheren.“

Was nur bedeuten konnte, dass sie irgendwo Halt gemacht hatten. Wären sie die ganze Zeit gefahren, hätten wir sie wahrscheinlich niemals eingeholt. „Dann lass uns weiter gehen.“ Wir hatten schließlich keine Zeit zu verlieren.

Marshall setzte sich wieder in Bewegung. Er war nun aufmerksamer, schien immerzu die Umgebung zu sondieren und jedes Geräusch in sich aufzunehmen, um es zu analysieren.

Ich blieb ihm dicht auf den Fersen.

Es war gar nicht so einfach sich auf die Suche zu konzentrieren, denn die Erinnerung über das was vor elf Jahren geschehen war und meine blühende Phantasie, vermischten sich in meinem Kopf zu einem farbenprächtigen Kaleidoskop, das mir Nikita in den schlimmsten Szenarien zeigte, die ich mir nur vorstellen konnte.

Ich hätte Saads Worte nicht einfach als Unfug abtun dürfen. Ich hätte sie beim Flugzeug behalten sollen. Ich hätte die Zeichen richtig deuten müssen. Aber nichts davon hatte ich getan und jetzt würde ich meine Schwester vielleicht für immer verlieren.

Nein, sowas durfte ich nicht denken, das würde mich nur aufhalten. Später konnte ich mir noch immer Vorwürfe machen, jetzt war nur das Ziel wichtig.

Etwas Spitzes bohrte sich in meinen Fuß, weswegen ich einen Schritt zur Seite machte und dann versuchte mich zu orientieren.

Von der Straße die hier einmal verlaufen war, war nichts mehr zu erkennen. Alles war mit Moosen und Gras überwuchert. Direkt in der Mitte war ein nicht gerade kleiner Baum aus der Erde gebrochen. An der Ruine gegenüber sah ich das Dach eines verrosteten Wagens zwischen den Gräsern hervorschauen. Ein alter Lichtmast stand schief an der Seite. Das Schild daran war von der Zeit völlig unkenntlich gemacht worden. Dort drüben an der Wand, halb verdeckt von Efeu und anderem Rankengewächs, schimmerte rote Farbe und Schriftzeichen hindurch.

Wir gingen weiter, arbeiteten uns Schritt für Schritt voran. Zerklüftete Bauwerke begleiteten unseren Weg. Links von uns breitete sich eine große Heide aus, aus der vereinzelte Mauerreste wie stumme Wächter ragten. Wir liefen daran vorbei.

In der Ferne stachen die wohl letzten hohen Gebäude in den Himmel. Sie neigten sich bereits dem Boden entgegen, hatten der Schwerkraft aber noch nicht ganz nachgegeben.

Auf einmal blieb Marshall stehen und hob den Arm, um auch mich zum Anhalten zu bringen. Er hatte den Kopf leicht geneigt, als lauschte er auf ein Geräusch. Sein Blick war in den Norden auf die hohen Gebäude gerichtet.

„Was ist?“

„Ich glaube ich habe jemanden gehört.“ Seine Stimme war ruhig, aber ich konnte die Anspannung in seinen Schultern sehen.

Sofort nahm auch meine Wachsamkeit zu.

Wir befanden uns neben einem verfallenen Gebäudekomplex, von dem kaum mehr als das korrodierte Skelett übrig war. In der Nähe standen die Reste zerfallener Züge und Wagons und zwischen der Vegetation blitzten immer wieder Überbleibsel von uralten Schienen durch.

Bäume und hohe Gräser hatten sich mit der Zeit zu einem lichten Wäldchen entwickelt und verhinderten eine weite Sicht.

Ich lauschte, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen. Da war das Zwitschern der Vögel und das Rascheln von Blättern im Wind. In einiger Entfernung konnte ich auch das Rauschen von fließendem Wasser vernehmen. Ich versuchte mir die Gegend ins Gedächtnis zu rufen, konnte mich aber hier in der Nähe an keinen Fluss erinnern. 

Was ich aber nicht hörte, waren Stimmen. Doch Marshall würde sich sowas nicht ausdenken. „Wir sollten abseits der Straße weitergehen.“

Er nickte. „Die Bäume müssten uns ausreichend Deckung geben.“

Also schlichen wir ins karge Unterholz und hielten uns geduckt.

Wir bewegten uns nun parallel zur Straße, aufmerksamer als vorher und lauschten jedem noch so verdächtigem Geräusch. Doch das Einzige, was immer stärker an meine Ohren drang, war das Geräusch von fließendem Wasser.

Auf einmal ging Marshall hastig in die Hocke, was mich dazu brachte, es ihm gleich zu tun. Und dann hörte ich sie, die Stimme eines Mannes. Sie war zu leise um zu verstehen, was er sagte, aber da sprach eindeutig jemand. Und dieser Jemand war nicht allzu weit von uns entfernt.

Vorsichtig und ohne das leiseste Geräusch, rückte ich ein wenig weiter vor, um durch den grünen Bewuchs spähen zu können. Und dann sah ich sie.

Es waren zwei Männer, die nebeneinander in zügigen Schritten die Straße entlangliefen, genau in unsere Richtung. Sie steckten in grünen Uniformen mit Camouflagemuster. Auf ihrer linken Brust prangte das Zeichen von Eden, ein stilisierter Baum in einem Kreis. Weite Hosen mit vielen Taschen, enganliegende Oberteile, über die sie Westen trugen, die ebenfalls viele Taschen hatten. Ihre Füße steckten in festen Stiefeln.

Meine Hände wurden schwitzig und mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich hatte diese Uniformen schon einmal gesehen. Oh Gaia, wir hatten uns nicht geirrt. Die Männer waren Tracker.

Mein Instinkt schrie mich an wegzulaufen und nie mehr zurückzuschauen, aber was würde dann aus meiner kleinen Schwester werden? Ich konnte Nikita nicht einfach so im Stich lassen.

Ich merkte erst wie meine Hände zitterten, als Marshall sie berührte. Er musste genauso viel Angst haben wie ich, doch sein Blick war ruhig. Er war wie ein Fels, unerschütterlich und nicht aus der Ruhe zu bringen.

Ich zwang mich einmal tief einzuatmen und mein Herz zu beruhigen. Es würde niemanden helfen, wenn ich jetzt ausflippte und dadurch auch noch die Aufmerksamkeit der beiden Männer auf uns zog. Außerdem zählte Nikita auf mich. Ich musste mich zusammenreißen.

Die Stimmen kamen näher und dann traten auch, begleitet von den donnernden Schritten der Stiefel, Worte an meine Ohren.

„…  totale Zeitverschwendung“, sagte der kleinere der beiden Männer und strich mit der Hand durch sein dichtes, braunes Haar. Er war ein wenig untersetzt und einen ganzen Kopf kleiner, als sein Begleiter. „Dieser Sektor ist so verlassen, dass eigentlich jemand Mundharmonika spielen müsste, während ein paar Steppenläufer durch die Straße rollen.“

Der andere Mann schnaubte. Er war groß, kahlköpfig und hatte breite Schultern. Außerdem war er mindestens zehn Jahre jünger. „Wir haben immerhin dieses Mädchen aufgegabelt. Das ist doch schon was.“

Mein Herz begann wieder ein wenig schneller zu schlagen, aber dieses Mal nicht vor Angst.

„Ein Mädchen.“ Er trat einen Stein quer über die Straße und steckte dann die Hände in die Hosentaschen. „Ich hasse es zu patrouillieren. Hier ist doch schon seit Jahren niemand mehr. Wir sind viel zu nahe an der Stadt, die Streuner halten sich aus diesem Gebiet fern. Aber Dascha weiß natürlich wieder alles besser.“

Eigentlich war es nicht nötig, aber als sie an uns vorbeiliefen, duckte ich mich ein wenig tiefer.

„Hör endlich auf zu meckern, du bist ja schon schlimmer als meine Frau.“

Der kleine Mann machte eine Geste mit seiner Hand, die ich nicht kannte. „Niemand ist schlimmer als deine Frau.“

Der große Mann lachte und murmelte etwas, das ich nicht verstand.

„Du sagst es.“ Auch der kleine Mann lachte, dann waren sie zu weit weg, um mehr als ihre Stimmen zu vernehmen.

Wir blieben wo wir waren und beobachteten still, wie die Männer die Straße entlangliefen. Sie schienen ein Ziel zu haben. Erst als sie um die zerbröckelnden Mauerreste eines früheren Hochhauses verschwanden, wagte ich es, den Mund zu öffnen.

„Sie müssen Nikita gemeint haben.“

Marschall nickte grimmig. „Es wäre schon ein Wunder, wenn sie in dieser Stadt ein anderes Mädchen gefunden hätten.“

Also war Nikita wirklich bei ihnen. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich darüber freuen sollte, endlich Gewissheit zu haben, oder es doch angebrachter war, in Panik zu verfallen. „Was machen wir jetzt, folgen wir ihnen?“

„Nein.“ Marshall drehte den Kopf und schaute in die Richtung, aus der das Geräusch des fließenden Wassers kam. „Dort waren wir bereits, da ist nichts. Wir sollten in die Richtung gehen, aus der sie gekommen sind. Mal sehen, was wir da finden.“

Im besten Falle? Die Tracker. Und im schlimmsten Falle? Die Tracker.

Marshall nahm seinen Bogen von der Schulter und zog auch einen Pfeil aus dem Köcher. Erst dann schlich er weiter von Deckung zu Deckung.

Ich hängte mich an seine Fersen.

Wir kamen nur langsam voran und machte immer wieder kurz Halt, um sicher zu gehen, auch nichts zu übersehen. Das Geräusch des Wassers wurde lauter und dann sah ich, woher es kam. Die ganze Straße war verschwunden und hatte einen breiten Graben gebildet, in dem ein steter Strom Wasser floss. Das Wasser in den Tunneln musste die Straße mitgerissen haben, sodass hier ein Wasserlauf entstanden war. Vielleicht vierzig Fuß breit. Das eine Ende verbarg sich hinter einer Kurve und war von unserer Position aus nicht einzusehen, das andere verschwand jedoch wie ein unterirdischer Fluss unter dem bröckelnden Asphalt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Wasser die Straße noch weiter aufriss. Auf der anderen Seite, drohte ein Teil der Gebäuderuinen in den Fluss abzurutschen.

Nicht weit von uns entfernt, stand ein schiefes Gebäude, das halb über das Wasser reichte. Marshall huschte von Baum zu Baum, bis er sich im Schutz dieses Gebäudes verstecken konnte.

Ich schaute zu dem Teil der Straße, der noch intakt war. Sie verlief sie eine Brücke über den Wasserlauf. Die Tracker mussten von dort gekommen sein. Aber dort gab es keine Deckung. Um auf die andere Seite zu kommen, müssten wir einen Umweg laufen.

Während ich noch überlegte, wie wir das am besten taten, winkte Marshall mich zu sich herüber. Vielleicht hatte er ja einen Weg entdeckt, also huschte ich geduckt an seine Seite.

Ich hatte ihn fast erreicht, als er einen Finger auf die Lippen legte und dann quer über den Wasserlauf zeigte. Meine Schritte waren kaum zu hören. Ich achtete sorgsam darauf, trockene Äste zu meiden und nicht aus Versehen lose Steine loszutreten. Dann hockte ich mich im Schutz des zerfallenen Gebäudes neben ihn.

Da waren sie.

Auf der anderen Seite der weggespülten Straße, nicht weit davon entfernt, standen vier glänzende Fahrzeuge halbkreisförmig zum Wasser hin ausgerichtet. Die beiden ersten waren klein und eher Kastenförmig. Sie beide hatten einen fünften reifen, der nutzlos am Heck klebte. Der letzte Wagen in der Reihe war doppelt so groß, hatte an den Seiten aber keine Fenster. Es wirkte wie ein geschlossener Raum, als brauchte man dort kein Licht. Das eindrucksvollste Gefährt jedoch war der große in der Mitte. Er war höher als die anderen und langgezogen. Wenn ich schätzen müsste, würde ich sagen, dass er fast zwanzig Fuß maß. Über die ganze Seite erstreckten sich aneinandergereihte Fenster, die einen Blick ins Innere ermöglichten und die Tür ganz vorne war hoch genug, dass man ihn im Stehen betreten konnte.

So ein Gefährt hatte ich noch nie gesehen.

Alle Fahrzeuge waren von weißer Farbe, mit dunkel getönten Fenstern. Die Dächer von allen waren schwarz, aber es sah nicht wie Farbe aus, eher als hätte man dort angepasste Platten montiert. Die Lackierung glänzte im Sonnenlicht.

In der Mitte des Halbkreises, hatte man ein provisorisches Lager aufgebaut. Ich zählte sieben kuppelförmige High-Tech-Zelte in Weiß, die dort locker verteilt herumstanden. In der Mitte waren mehrere Stühle um ein ausgebranntes Lagerfeuer aufgereiht. Es gab auch einen langen Tisch mit seltsamen Gerätschaften. Zwei Tracker standen dort und diskutierten mit den Köpfen über einer großen Karte.

Durch das Lager bewegten sich weitere Menschen. Einer steckte mit dem Kopf in einem der Zelte. Ein anderer stand am hinteren Teil des fensterlosen Wagens und kramte darin herum. Er rief etwas, woraufhin eine schlanke Frau mit einem blonden Pferdeschwanz zu ihm rüber ging.

In der Mitte saßen sieben Leute auf den Stühlen, doch nur vier von ihnen waren Tracker. Die drei anderen – eine Frau um die vierzig mit roten Haaren und zwei ältere Männer – waren eindeutig keine Edener. Nicht nur dass sie viel verhärmter und vom Leben gezeichnet aussahen, sie trugen auch nicht diese Uniformen, sondern alte Kleidung, die Teilweise sehr verlottert wirkte. Kleidung die meiner mehr ähnelte, als die der Tracker. Lange Woll- oder Pelzhemden. Einer besaß sogar Hosen und hatte sich Lederhäute um die Füße gewickelt.

Es mussten Menschen sein, die sie auf ihrer Jagd durch die Ruinen gefunden hatten. Oder die ihren Verlockungen zum Opfer gefallen waren. Die Möglichkeit auf ein bequemes und sicheres Leben konnte einen schon mal zu einem Fehler verleiten, besonders, wenn man vom ewigen Kampf und dem Leben müde war.

Zu meiner Verwunderung wirkten sie nicht wie Gefangene. Der eine Mann lachte sogar über etwas, dass der Tracker neben ihm gesagt hatte und nahm dann eine Schüssel mit einem Löffel entgegen.

Wen ich aber zu meiner wachsenden Unruhe nicht sah, war Nikita. „Sie ist nicht hier.“

„Doch, ist sie.“ Er zeigte auf das langgezogene Gefährt. Die Tür war offen und ein weiterer Tracker trat heraus. Seine Hand umfasste den Arm eines jungen Mädchens mit einem krausen Lockenkopf und dunkler Hautfarbe. Nikita.

Alle meine Muskeln spannten sich an, als ich sah, wie der Mann sie aus dem Fahrzeug führte und dann auf einen der Stühle zeigte. Ihre Handgelenke waren vor ihrem Bauch gefesselt. Sie schien in Ordnung zu sein, wirkte aber ängstlich und verunsichert, etwas das ich gar nicht von ihr kannte.

Bis jetzt hatte es da noch einen kleinen Teil in mir gegeben, der darauf gehofft hatte, dass Nikita ihnen trotz aller Indizien entkommen war, aber diese Hoffnung starb nun einen grausigen tot. Die Tracker hatten sie in ihren Fängen.

Meine Augen waren von diesem Anblick so gefangen, dass ich den zweiten Tracker, der ihnen mit einem kleinen Jungen an der Hand folgte, kaum wahrnahm.

„Ruhig“, sagte Marshall und legte mir eine Hand auf den Arm. Erst da merkte ich, dass ich nach der Machete gegriffen hatte und drauf und dran war, sie zu ziehen.

Ich atmete einmal tief durch. Jetzt einfach da hineinzustürmen, wäre völlig idiotisch und würde niemanden helfen. „Wir müssen sie da rausholen.“

Nikita wurde von einem der Männer auf den äußeren Stuhl gedrückt. Dann reichte man auch ihr eine Schüssel mit einem Löffel, die sie zögernd entgegennahm.

„Wir brauchen zuerst einen Plan.“

Marshalls Augen huschten über die Leute auf der anderen Seite. „Es sind mehr als ich erwartet hatte.“

„Elf.“

„Zwölf.“ Marshall zeigte auf einem Mann, der halb versteckt an dem vorderen der beiden kleinen Wagen arbeitete. Den hatte ich übersehen.

„Mit den beiden anderen, die wir auf dem Weg hierher gesehen haben, sind das vierzehn.“ Viel zu viele, um sie zu überwältigen. Zwei wären kein Problem, vier wären schon schwieriger, aber vierzehn? Gegen so viele kamen wir niemals an.

„Am besten warten wir auf die Nacht“, überlegte Marshall. „Wenn sie alle schlafen, schleichen wir rein, holen Nikita und schleichen wieder raus.“

„Wir können nicht solange warten. Was, wenn sie vorher aufbrechen?“

„Würden sie heute noch aufbrechen, hätten sie bereits damit begonnen, das Lager abzubauen, aber das haben sie nicht. Vielleicht wollen sie morgen weiterziehen, aber heute Nacht werden sie noch hierbleiben.“

„Aber …“

„Kismet.“ Marshall nahm mein Gesicht zwischen die Hände und zwang mich damit ihn anzusehen. „Wir werden sie ihnen nicht überlassen, aber wir müssen auf die Nacht warten, denn dann sind wir im Vorteil. Dies ist unsere Stadt, unser Revier, wir kennen uns hier aus. Sie nicht.“

Klang alles ganz logisch. Trotzdem machte mich der Gedanke nervös, hier stundenlang im Gebüsch zu hocken und nichts unternehmen zu können.

Ein durchtrainierter Tracker erhob sich von seinem Stuhl und kam genau auf uns zu. Marshall und ich gingen sofort tiefer in Deckung, doch das war völlig unnötig. Der blonde Mann trat nur an den Wasserlauf und hockte sich an die brüchige Kante, um die Flasche in seiner Hand mit Wasser zu füllen.

Er sah auffallend gut aus. Naja, für ein Monster. Außerdem war er ziemlich mutig. Ich an seiner Stelle hätte ja Angst, dass der Boden unter mir wegbrechen könnte. Mich sollte es jedenfalls nicht stören, wenn er weggespült wurde. Ein Tracker weniger, um den wir uns dann kümmern müssten.

Bei dem kleinen Wagen gab es einen dumpfen Knall, der mir beinahe einen Herzinfarkt einbrachte. Der Mann an dem Wagen fluchte, wandte sich dann um und rief so laut, dass ich es selbst über das leise Rauschen des Wassers hinweghören konnte: „Hey Kit, die Solareinheit auf dem Dach von Wagen Eins spinnt schon wieder herum.“

Es war der Mann vorne am Wasser, der darauf reagierte und ohne sich umzusehen genauso laut zurückrief: „Ich kümmere mich gleich darum. Wird vermutlich nur schon wieder dieser verdammte Dreck sein, der hier überall rumfliegt.“

„Wahrscheinlich.“ Der Mann am Wagen trat mit dem Fuß gereizt gegen das Fahrzeug. „Zum Glück sind wir schon auf dem Rückweg nach Eden. Es wird Zeit, dass sich das ein Mechaniker anschaut, der Ahnung davon hat.“

„Ha ha, sehr witzig.“ Nun drehte der blonde Mann sich doch um. „Wenn du es besser kannst, dann mach es doch selber.“

„Nee, lass mal, für irgendwas musst du ja gut sein.“

Der Tracker verschloss seine Wasserflasche und ging dann zu dem Mann am Wagen.

„Was ist, wenn wir sie nicht retten können?“, fragte jemand. Dann wurde mir klar, dass ich selber es war.

Marshalls Lippen wurden zu einem dünnen Strich. „Dann gibt es niemand mehr, der ihr helfen kann.“

Und genau das war es, wovor ich mich am Meisten fürchtete. Natürlich hatte Marshall recht, ich konnte die Wahrheit in seinen Worten nicht einfach ignorieren, nur weil sie unbequem war und gegen all meine Instinkte ankämpfte. Doch zwei gewöhnliche Leute konnten gegen diese Überzahl nicht viel ausrichten. „Ich kann sie nicht verlieren, Marshall, nicht sie auch noch.“ Das würde ich nicht verkraften.

„Das wirst du auch nicht“, sagte er mit grimmiger Entschlossenheit. „Wir werden alles tun was wir können, um sie zurückzuholen.“

„Und wenn das nicht reicht?“

Dazu sagte er nichts. Er wusste was ich hören wollte, was ich hören musste, aber er würde es nicht sagen. Mir zu helfen, Nikita zurückzuholen, was auch immer geschah, das konnte er nicht, das würde kein Mensch, nicht wenn die Tracker der Feind waren. „Wir werden tun was wir können“, war alles was er mir versprechen konnte. „Noch geben wir Nikita nicht auf.“

 

oOo

Kapitel 07

 

Ein Käuzchen erfüllte die Nacht mit seinem unheimlichen Ruf. Einzelne Wolken zogen am Mond vorbei und machten die Schatten zwischen den Ruinen noch ein wenig finsterer. Das stete Rauschen des Wassers blieb eine beständige Geräuschkulisse im Hintergrund.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, aber ich zwang mich zur Ruhe. Ich hatte nur diese eine Chance. Eine Chance Nikita da rauszuholen. Wenn es mir nicht gelang, würden die Tracker gewarnt sein und ich würde meine kleine Schwester für immer verlieren.

Nur kein Stress.

Ich atmete einmal ruhig und kontrolliert aus, dann spähte ich wieder über das gezackte Trümmerteil des alten Hochhauses, hinter dem ich mich verbarg.

Es war nicht nur die Nacht, die mich vor Entdeckung bewahrte. Durch meine dunkle, fast schwarze Hautfarbe, wurde ich in den Schatten so gut wie unsichtbar, doch jeder Bewegung hafteten Geräusche an, die es unbedingt zu vermeiden galt. Zum Glück hatte ich jahrelange Erfahrung als Jägerin vorzuweisen.

Im Lager der Tracker waren alle Lichter aus. Das Licht in den Fahrzeugen war erloschen und selbst das Lagerfeuer war bis auf die Glut heruntergebrannt. Das ganze Lager war in Dunkelheit gehüllt.

Nicht weit von mir entfernt, vielleicht achtzig Fuß weiter, stand das langgezogene Fahrzeug, als würde es nur auf mich warten. Hinter den dunklen Fenstern, waren schon seit einer Weile keine Bewegungen mehr gewesen, nicht mehr seit das Licht ausgegangen war, aber ich wusste, Nikita war da drin.

Die Nacht war bereits vor Stunden hereingebrochen, doch es hatte ein ganzes Weilchen gedauert, bis alle Tracker in den Zelten verschwunden waren – alle bis auf einen einzigen Mann: Den Wachposten.

Ich konnte es noch immer kaum fassen, sie hatten nur einen Mann als Wachposten aufgestellt. Natürlich, die Tracker hatten Waffen, die den unseren bei Weitem überlegen waren, doch sie waren müde vom Reisen. Den ganzen Abend hatte ich sie beobachtet und mehr als einmal ihre Erschöpfung bemerkt. Aber es war trotzdem einfach nur dumm, die Sicherheit der ganzen Gruppe nur einer einzigen Person anzuvertrauen. Sie fühlten sich sicher, glaubten nicht, dass es jemand wagen würde, sich ihnen zu nähern. Ihre Arroganz würde ihnen heute Nacht das Genick brechen.

Die Aussicht mich diesen Leuten jetzt stellen zu müssen, ließ mein Herz schneller schlagen. Die altbekannte Angst stieg in mir auf und versuchte mich zu lähmen. Nein, das ging jetzt nicht, Nikita brauchte mich. Später hatte ich immer noch dafür Zeit.

„Also gut“, murmelte ich und versuchte mir damit selber Mut zuzusprechen. Ich war bereits vor einer ganzen Weile auf die andere Seite des Wasserlaufs geschlichen, um auf die Rückseite des Lagers zu gelangen. Marshall war geblieben wo er war, um im Notfall eingreifen zu können. Er hielt seinen Bogen bereit, um ein Ablenkungsmanöver starten zu können, sollte es nötig sein. Natürlich erst, wenn ich Nikita sicher an meiner Seite war. „Dann mal los.“

Mein Herz begann schneller zu schlagen. Langsam erhob ich mich, drängte meine Angst beiseite und schob ich mich aus den Schatten ins Freie. Zwischen mir und dem Lager gab es keine Deckung. Keine Ruinen, keine Schuttberge, ja nicht mal ein kleines Bäumchen, oder ein verrostetes Schild. Mein einziges Glück war, dass der Wachtposten der Tracker auf einem Stuhl am Lagerfeuer saß und zwischen ihm und mir das langgezogen Fahrzeug stand.

Trotzdem huschte ich so schnell ich konnte über die leere Fläche, bis ich mich geduckt im Schatten des großen Wagens verbergen konnte. Dort verharrte ich einen Moment und lauschte auf verdächtige Geräusche, doch das Einzige was ich hören konnte, war Rauschen in meinen Ohren. Die Nacht blieb still und geheimnisvoll. In der Ferne stieß das Käuzchen wieder seinen Ruf aus.

Als ich mir sicher war, dass niemand meine Anwesenheit bemerkt hatte, richtete ich mich langsam auf, um in das Innere des Fahrzeugs zu spähen. Bevor ich wusste, wie ich weiter vorging, musste ich erst mal genau wissen, wie es im Inneren aussah und wo Nikita sich befand.

Meine Muskeln spannten sich an, um sofort wieder in Deckung gehen zu können – wahlweise auch um die Beine in die Hand zu nehmen und schnellstmöglich abzuhauen. Oh Gaia, ich wollte nicht hier sein.

Sehr langsam erhob ich mich, bis ich durch die schwarz getönten Scheiben hereinspähen konnte. Es war dunkel und meine Augen brauchten einen Moment, um einzelne Formen aus den Schatten herauszuschälen.

Im vorderen Teil befand sich ein seltsam geformter Stuhl, vor einem großen Rad und irgendwas Technischem, mit dem ich absolut nichts anfangen konnte, aber ich war mir sicher, dass dieses Gefährt von dort aus gesteuert werden konnte. Als ich dann auch noch sah, dass die Tür immer noch offen war, schlug mein Herz ein kleinen wenig schneller. Das war gut, so konnte ich leichter hineingelangen und Nikita herausholen. Erstmal musste ich sie jedoch finden.

Direkt unter dem Fenster vor dem ich stand, befanden sich eine Reihe mit bequemen Bänken und Tischen, die durch einen schmalen Durchgang von der anderen Seite getrennt waren. Auf der anderen Seite gab es sechs Betten. Richtige Betten, immer zwei übereinander. Sowas hatte ich nicht mehr gesehen, seit ich von dem Haus meiner Geburt fortgelaufen war. Fünf dieser Betten waren belegt.

Mein Puls nahm einen Zahn zu, als ich die Betten nacheinander ins Auge faste. Oben in der Mitte, lag ein sehr kleines Knäuel, als hätte sich dort jemand unter seiner Decke zu einem festen Ball zusammengerollt. Zu klein für Nikita, das musste der Junge sein, den die Tracker in ihre Gewalt gebracht hatten.

Direkt rechts daneben lag die Frau. Ihr rotes Haar war selbst in dem spärlichen Licht des Mondes leicht zu erkennen.

Unten links und in der Mitte befanden sich die beiden alten Männer. Der eine lag ohne Decke da, der andere hatte sich so gedreht, dass er mich direkt ansehen würde, wenn er nicht geschlafen hätte.

Blieb also nur noch das rechte Bett unten. Leider hatte sich die Gestalt darin, genau wie das Kind, komplett unter der Decke verkrochen, doch ein Blick reichte, um mit zu sagen, dass es sich bei ihr nicht um meine kleine Schwester handelte.

Nikita murmelte sich nachts auch immer fest in ihre Decke ein, aber sie hatte immer den Kopf draußen. Außerdem war die Person in diesem Bett zu groß und kräftig, für die kleine und schmächtige Gestalt meiner Schwester. Das war nicht Nikita.

Ich runzelte die Stirn. Wer war das? Bis auf die Tracker, hatte ich im Lager nur fünf weitere Leute gesehen und eine davon müsste meine Schwester sein. Gut, vielleicht war die ganze Zeit jemand in dem länglichen Fahrzeug geblieben, das konnte gut sein, aber wo war dann meine Schwester? Ich hatte gesehen, wie zwei Tracker sie vorhin hier hineingebracht hatten und danach war sie nicht mehr herausgekommen.

Mein Blick huschte nach rechts. Dort war ein Teil, durch ein stabiles Gitter, vom Rest des Gefährts abgetrennt. Eine Gittertür gewährte den Zutritt in dieses Areal. Es wirkte fast wie ein Käfig, oder eine Zelle.

Ich duckte mich wieder unter das Fenster und schlich außer Sichtweite ans Ende des Fahrzeugs. Dann lauschte ich noch mal einen Moment auf alarmierende Geräusche, bevor ich mich wieder aufrichtete und einen Blick riskierte.

Dieser Teil sah ganz anders aus. Es gab weder Sitzecken noch übereinander gestapelte Betten. Nur der schmale Gang in der Mitte, war gleichgeblieben. Rechts und links davon befand sich jeweils ein Bett und in dem rechten Bett lag eine schmächtige Gestalt mit einem wild wuchernden Wuschelkopf.

Nikita.

Die Decke bis zum Hals hochgezogen, lag sie dort und schien tief und fest zu schlafen.

Alle Ruhe war mit einem Schlag wie ausgelöscht. Ich musste mich zwingen jetzt nicht übereilt zu handeln und ruhig zu bleiben, egal wie sehr mein Instinkt darauf drängte, sie dort sofort herauszuholen. Da waren noch immer vierzehn Tracker, die sich sicher freuen würden, wenn sie noch einen Gast mehr ihr Eigen nennen konnten.

Eilig ging ich unter dem Fenster wieder in Deckung, schloss einen Moment die Augen und atmete mehrmals tief durch, um mein wild schlagendes Herz zu beruhigen. Sie war da, ich war hier. Wir hatten es fast geschafft. Jetzt durfte ich nur keine Fehler machen.

Sobald ich mich unter Kontrolle hatte, richtete ich mich wieder auf, um erneut hereinzuspähen. Um zu Nikita zu gelangen, musste ich einmal durch das ganze Gefährt laufen, aber das war riskant. Wenn einer der anderen Leute aufwachte, konnte er sich erschrecken und die Tracker auf den Plan rufen. Sollten die Tracker mich bemerkten, während ich drinnen war, konnten sie mir einfach den Fluchtweg abschneiden. Das würde niemals gut für mich ausgehen.

Doch dann bemerkte ich etwas, das mir in meiner Aufregung bisher entgangen war: Es gab eine zweite Tür. Am Heck, direkt zwischen den beiden Betten, war eine Tür und sie war offen!

So viel Glück weckte mein Misstrauen. Es gab nur einen Wachposten und beide Türen zum Wagen standen offen. Außerdem, warum verließ Nikita nicht einfach das Fahrzeug und rannte davon? Die offene Tür befand sich direkt neben ihrem Kopf und wie bereits erwähnt, es gab nur einen Wachposten. Irgendwas war hier doch faul.

Meine Aufregung verwandelte sich in äußerste Wachsamkeit. Hätte ich mehr Zeit, würde ich erstmal von hier verschwinden und mir einen brauchbaren Plan überlegen, aber ich bezweifelte, dass die Tracker noch lange in der Gegend bleiben würden. Schon morgen früh konnten sie ihre Zelte abbrechen.

Nein, ich musste es jetzt tun, ganz egal welche Zweifel ich auch hatte.

Leider ließ diese Entscheidung Nervosität in mir aufsteigen. Und auch die unterdrückte Angst, ließ sich nicht länger ignorieren. Solange ich hier draußen war, bestand noch immer die Möglichkeit wegzulaufen. Besonders bei Nacht würden sie mich niemals finden. Aber jetzt würde ich zu ihnen gehen – ich musste. Oh Gaia, bitte sei mir gnädig.

Es brachte nichts es länger hinauszuzögern. Jede verstreichende Sekunde lief ich höhere Gefahr entdeckt zu werden. Darum duckte ich mich wieder unter das Fenster und schlich zum Heck des Wagens. Meine Hand fand meine Machete. Ich umschloss ihren Griff, um mich selber zu beruhigen. Ich war weder schwach noch wehrlos und wenn es sein musste, war ich auch bereit, das zu tun, was nötig war. Man überlebte hier draußen nicht, weil man so einnehmend und zuvorkommend war. Man brauchte einen wachen Geist und eine gute Portion Rücksichtslosigkeit. Außerdem noch die Fähigkeit seine Furcht zu unterdrücken.

In meinem Leben hatte ich schon öfters Dinge getan, auf die ich nicht stolz war. Einmal hatte ich sogar einen anderen Menschen töten müssen, was mir mehr als nur eine schlaflose Nacht eingebracht hatte. Ich war kein Monster, doch ich wollte überleben. Und wenn das Schicksal mir keine andere Wahl ließ, würde ich noch einmal ganz genauso handeln. Jetzt aber musste ich mich erstmal auf die vor mir liegende Aufgabe konzentrieren.

Langsam und mit wachsender Unruhe, spähte ich um das Heck herum. So konnte ich die beiden kleinen Wagen und drei der Zelte sehen. Der Wachposten befand sich außerhalb meiner Sichtweite, was bedeutete, dass er mich auch nicht sehen konnte. Das war gut.

Alles war ruhig, niemand in Sicht. Zeit loszulegen.

So leise wie möglich, setzte ich mich in Bewegung und hielt mich dabei nahe an dem großen Gefährt. Ich brauchte nur wenige Schritte, bis ich direkt neben der offenen Tür kauerte und einen Blick ins Innere riskierten konnte.

Meine Schwester war direkt vor mir. Wenn ich den Arm ausstrecke, hätte ich sie fast berühren können. „Nikita.“ Meine Stimme war so leise, dass sie im rauschen des Wassers einfach unterging. Trotzdem versicherte ich mich mit einem schnellen Blick Richtung Zelte, dass mich dort niemand gehört hatte, bevor ich mich wieder auf mein eigentliches Zielt konzentrierte.

Nikita regte sich nicht. Ihr Brustkorb hob und senkte sich unter ruhigen und gleichmäßigen Atemzügen. Sie schien tief und fest zu schlafen. Zu Gaias Ärger noch mal, musste ich da wirklich hinein? Das gefiel mir nicht.

In Ordnung, reiß dich zusammen. Geh da rein, hol deine Schwester und dann nichts wie weg von hier.

Mein erster Schritt versetzte mir einen Adrenalinschub, den ich nur schwerlich unter Kontrolle bekam. Am liebsten wäre ich sofort losgestürmt. Gleichzeitig packten mich aber wieder die Klauen der Furcht. Die Tracker waren so nahe. Ich wollte da nicht hinein.

Ich riss mich zusammen, warf noch einen letzten Blick zu den Zelten und trat dann aufs Äußerste angespannt in das Fahrzeug.

Es gab eine Treppenstufe aus Metall, die ich benutzen musste, dann hockte ich mich geduckt neben Nikitas Bett. Sofort wurde mir klar, warum die beiden Türen geöffnet waren. In dem Fahrzeug war es ziemlich warm, viel wärmer als draußen. Ein Wunder, dass Nikita in dieser Wärme so eingemummelt schlafen konnte.

Mein Blick schnellte kurz zu den anderen Leuten in ihren Betten, aber dort blieb alles still.

Vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, legte ich meiner Schwester eine Hand auf die Schulter und rüttelte leicht daran. Dabei brachte ich meinen Mund so nahe wie möglich an ihr Ohr und flüsterte. „Nikita, wach auf.“ 

Nikita gab ein leises Murren von sich, wachte aber nicht auf.

Ich rüttelte ein wenig fester. „Komm schon, wir müssen hier weg.“

Müde blinzelnd öffnete sie die Augen. „Kiss? Was …“

Ich schlug ihr die Hand auf den Mund, um sie am Sprechen zu hindern und legte mir dann einen Finger an die Lippen, zum Zeichen, dass sie leise sein sollte.

Erst zogen sich ihre Augenbrauen ein wenig zusammen, als wollte sie fragen, was der Mist sollte, aber dann schien sie richtig wach zu werden. Sie riss die Augen auf und richtete sich mit einem Ruck auf, wobei sie ihren Kopf auch noch fast gegen meinen schlug. Sie zog die Hand von ihrem Mund und schlang die Arme um meinen Hals. Dabei gab es ein schepperndes Geräusch. „Oh Gaia, du bist hier!“ Sie gab sich mühe leise zu sprechen, aber das Scheppern beim Aufrichten war ziemlich laut gewesen, weswegen ich einen hastigen Blick zu den anderen Leuten warf. Noch immer alles ruhig. Gedankt sei es Gaia.

„Du bist so dumm“, schimpfte ich im Flüsterton und löste ihre dünnen Ärmchen von meinem Hals, um mich ihrer Unversehrtheit zu versichern. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. „Geht es dir gut? Haben sie dir was getan?“

Sie schob meine Hand weg, als ich nach ihrem Gesicht griff. „Nein, mir geht es gut. Hör auf damit.“

Das würde ich erst glauben, wenn ich sie von Kopf bis Fuß untersucht hatte. Aber das hier war weder der richtige Ort, noch die richtige Zeit dafür. „Wie konntest du es nur zulassen, dass sie dich einfangen?“ Ich zog ihre Decke weg, um ihr aus dem Bett zu helfen. Erst da bemerkte ich, was zuvor das Scheppern verursacht hatte.

„Ich habe sie nicht kommen gesehen“, verteidigte sie sich mit störrischer Miene.

Zwar nahm ich die Worte wahr, ging aber nicht darauf ein. Etwas anderes hatte meine Aufmerksamkeit geweckt. Jetzt wurde mir klar, warum Nikita nicht einfach aufgestanden und fortgelaufen war.

Durch die Decke und ihre Position, hatte ich vorher nicht bemerkt, was nun deutlich ins Auge stach. Nikita trug am rechten Handgelenk Handschellen. An der Seitenwand des Fahrzeugs, horizontal über ihrem Bett, befand sich eine fest installierte Stahlstange, an die man sie gekettet hatte. Sie hatte gar nicht weglaufen können. So ein Mist.

Ich griff nach ihrem Handgelenk, um mir die Sache genauer anzuschauen. Die Kette war etwa zwei Fuß lang – nicht viel Bewegungsfreiraum. „Wie bekomme ich dich von diesem blöden Ding ab?“ Versuchsweise zog ich erst an Nikitas Handgelenk und dann an der Metallstange. Beides saß Bombenfest.

„Du brauchst den Schlüssel.“

„Schlüssel?“ Aber an den Dingern war doch gar kein Schloss dran. Das waren einfach nur zwei Armbänder, an deren Bindungsstück ein blaues Licht blinkte.

„Die Keychips, in den Händen der Tracker.“ Sie entriss mir ihr Handgelenk und drehte die Schelle so, dass ich das blinkende Licht vor Augen hatte. „Das ist ein elektronisches Schloss. Sie lassen sich nur öffnen, wenn ein berechtigter Keychip darüber gezogen wird.“

Hä? „Was ist ein Keychip?“ Und wo verdammt noch mal, bekam ich sowas her?

„Das ist ein kleines, elektronisches Gerät, dass sich jeder Edener in die Hand implantieren lässt. Kit hat es mir erklärt, nur mit einem solchen Chip lässt sich das Schloss öffnen.“

Wer war Kit? „Dieses Gerät, sie tragen es in ihren Händen?“ Hatte ich das richtig verstanden?

Sie nickte. „Unter der Haut, im Handballen der rechten Hand“, flüsterte sie. Ich Ton war eindringlich. „Sie müssen den Chip nur an die Handschellen halten und dabei diesen Knopf drücken, dann gehen die Dinger auf. Anders lassen sie sich nicht öffnen.“

Das war schlecht, um es mal vorsichtig auszudrücken. Um an einen solchen Chip zu gelangen, musste ich einen Tracker hierher bekommen. Gaia schien es heute Nacht doch nicht gut mit mir zu meinen.

Einen Moment überlegte ich, Nikita einfach den Daumen zu brechen und ihre Hand aus der Schelle zu ziehen. Ein Bruch würde wehtun, aber wieder heilen. Es war auf jeden Fall besser, als sich den Trackern auszuliefern. Aber ein Bruch bedeutete auch sehr viel Schmerz. Nikita war schon immer ziemlich schmerzempfindlich gewesen und ich konnte es nicht riskieren, dass sie einen Schrei ausstieß. Somit blieb eigentlich nur noch eine einzige Möglichkeit. „In der rechten Hand, sagst du?“

Sie nickte. Ihre Augen waren groß und verängstigt. „Was sollen wir tun?“

Es gab nur eine einzige Möglichkeit sie zu befreien und auch wenn mir mein Herz allein bei dem Gedanken daran vor Angst bis zum Hals schlug, musste ich es tun. Es gab keinen anderen Weg. „Bleib hier und sei ruhig, ich bin gleich wieder da.“ Ich erhob mich und schlich geduckt bis zur Tür.

„Kiss?“ Ihre Stimme klang verängstigt. „Wo willst du hin? Was hast du vor?“

„Ich bin gleich wieder da“, beruhigte ich sie. „Sei still, ich kümmere mich um alles.“

Sie wirkte nicht überzeugt, ließ den Mund aber geschlossen, während sie verfolgte, wie ich aus dem Bus kletterte.

Ich dagegen hatte nun ein ganz anderes Problem. Ich wusste was ich tun musste, aber ich wusste nicht, ob ich das hinbekam.

Nein, ich durfte nicht zweifeln. Ich konnte das, ich musste mich nur zusammenreißen. Nikitas Leben hing davon ab.

So leise ich konnte, ließ ich mich in die Hocke gleiten und spähte vorsichtig um das Heck des Fahrzeugs. Alles sah noch genauso aus wie bei meinem letzten Blick. Die Zelte, das fast ausgebrannte Lagerfeuer und der einsame Wachposten, der gerade mit einem langen Stock gelangweilt in der Glut herumstocherte. Er hob eine Hand, um ein Gähnen dahinter zu verstecken und rieb sich dann müde über die Augen.

Er war mein Ziel. Der hübsche Mann hatte einen Keychip und den brauchte ich um Nikita zu befreien.

Allein daran zu denken, mich diesem Mann zu näheren, ließ mein Herz schneller schlagen. Meine Hände begannen zu schwitzen und ich musste gegen den Drang ankämpfen, einfach davon zu laufen. Ich konnte nicht wegrennen, Nikita zählte auf mich. Ich musste einfach nur für einen Augenblick meine Angst überwinden.

Leider war sowas viel einfacher gesagt als getan.

Ich drückte mich mit dem Rücken gegen das Fahrzeug und schloss kurz die Augen. Das Ziel war klar, jetzt stellte sich mir nur die Frage, wie ich es am besten anging. Ich konnte mich von hinten anschleichen und ihm mit meiner Machete einfach den Kopf abschlagen. Ihm würde keine Zeit bleiben, um nach Hilfe zu rufen. Allerdings war es gar nicht so einfach, jemanden mit einem Schlag den Kopf vom Hals zu trennen. Wenn ich nicht fest genug zuschlug, würde ich ihn nur verletzen. Selbst wenn die Verletzung lebensgefährlich wäre, könnte er in seinem Todeskampf noch genug Lärm verursachen, um die anderen Tracker auf den Plan zu rufen. Es reichte schon, wenn nur ein Tracker in den Zelten einen leichten Schlaf hatte und mitbekam, dass hier draußen etwas nicht stimmte.

Natürlich konnte ich mich auch einfach an ihn heranschleichen und ihm meine Machete an den Hals legen. Ich könnte ihn zwingen ruhig zu sein und mit mir zu Nikita zu gehen, um die Handschellen zu öffnen. Nur dass ich es dann mit einem Gegner zu tun hatte, der einen Kopf größer, viel muskulöser und doppelt so breite Schultern hatte wie ich. Außerdem könnte er mich trotz Machete ignorieren und seine Freunde um Hilfe rufen.

Keine guten Alternativen.

Ich musste mich entscheiden, ich hatte keine Zeit hier ewig zu hocken und zu zögern. Darum setzte ich auf seinen Überlebensinstinkt. Meine Machete war scharf und normalerweise tendierten Menschen dazu das zu tun, was ihr Überleben sicherte. Es war also recht unwahrscheinlich, dass er mit einem geschärftem Stück Metall an der Kehle Dummheiten begehen würde. Darauf setzte ich sowohl mein, als auch Nikitas Leben.

„Ich bekomme das hin“, sprach ich mir selber Mut zu und hoffte, dass ich nicht gerade den größten Fehler meines Lebens begehen würde.

Langsam richtete ich mich auf, zog meine Machete und spähte erneut um das Heck. Der hübsche Mann saß immer noch auf seinem Stuhl, unwissend, dass ich ihn bereits als meine Beute auserkoren hatte. Sehr vorsichtig schob ich mich um das Fahrzeug herum und warf einen schnellen Blick auf die andere Seite des Wasserlaufs. Marshall hockte dort irgendwo in den Schatten. Er musste mich jetzt sehen und fragte sich wahrscheinlich, was ich hier gerade tat.

Am Fenster des Fahrzeugs drückte sich Nikita die Nase platt und beobachtete mit weit aufgerissen Augen, wie ich mich dem Tracker näherte. Die Machete erhoben, setzte ich einen Fuß vorsichtig vor den anderen.

Mein Puls beschleunigte sich, mein Herz schlug ein kleinen wenig schneller. Es war wie auf der Jagd nach dem Abendessen. Und genauso wie dort, zwang ich mich zur Ruhe und Umsicht. Aber ich durfte nicht zögern.

Noch ein Schritt. Noch einer. Und ein dritter.

Als es knackte, erstarrte ich und befürchtete einen Moment schon, mich jetzt verraten zu haben, aber das Geräusch war vom Lagerfeuer gekommen. Oh Gaia, diese Anspannung würde mein Herz nicht mehr lange mitmachen.

Ich erlaubte mir einen Moment erleichtert zu sein, versicherte mich mit einem weiteren schnellen Blick, dass wir immer noch allein waren und nahm meine Aufgabe wieder in Angriff.

Ich brauchte vier weitere Schritte, um hinter den Mann zu kommen. Er bemerkte mich nicht, jedenfalls nicht, bis er meine Machete an der Kehle hatte.

Vor Überraschung riss er den Mund auf, aber damit hatte ich gerechnet. Noch bevor er einen Ton von sich gegeben konnte, klatschte ich ihm meine Hand darauf und drückte seinen Kopf gegen meine Brust, damit er sich nicht einfach befreien konnte. Sein Arm schnellte hoch, um nach mir zu greifen, erwischte aber nur den Zipfel meiner Tunika. Der Stock mit dem er die ganze Zeit herumgespielt hatte, landete auf dem Boden. Der Stuhl auf dem er saß, knarrte.

Ich drückte die Machete etwas fester gegen seinen Hals. Fest genug, dass es wehtun musste, aber so, dass ich ihn nicht verletzte. Nicht dass ich ein Problem damit gehabt hätte, aber ich wollte vermeiden, dass er in Panik geriet. Das hätte keinen von uns geholfen. „Keinen Mucks“, knurrte ich ihm ins Ohr und legte so viel Drohung in meine Stimme, wie ich nur aufbringen konnte. „Wenn du das hier überleben willst, tust du genau das, was ich dir sage. Hast du das verstanden?“

Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, spürte aber wie er schluckte.

„Wenn du deine Freunde zu Hilfe rufst, werden sie mich vielleicht erwischen, aber du bist trotzdem tot, bevor sie uns erreichen.“ Zum Glück zitterte meine Stimme nicht. „Ihr habt meine kleine Schwester entführt“, flüsterte ich. „Ich will sie wieder haben. Deswegen werden wir jetzt zusammen zu ihr gehen und du machst ihre Handschellen auf. Wenn du artig bist, werden Nikita und ich einfach in die Nacht verschwinden und niemand wird …“ Ich sah die Bewegung, sah wie er blitzschnell nach etwas an seiner Hüfte griff. Keine Ahnung was er da wollte, aber es wäre sicher nichts Gutes, also griff ich einfach zu.

Meine Finger strichen über etwas Hartes. Er zischte, als die Machete durch das Manöver seine Haut ritzte, aber ich schaffte es vor ihm an das Teil zu kommen und riss es an mich. Es war eine Waffe. Zumindest wies das Ding entfernte Ähnlichkeit auf.

Erst einmal in meinem Leben hatte ich eine Waffe gesehen. Es war vor ein paar Jahren bei einem von Saads Besuchen. Damals hatte er aus seinem geladenen Ramsch gezogen, um sie uns zu zeigen. Saads Waffe war aus Metall gewesen. Alt, schmutzig, angelaufen und halb verrostet. Ich war sogar der Meinung, dass der Pistole ein paar Teile gefehlt hatten. Die hätte in hundert Jahren nicht mehr funktioniert.

Diese Waffe hier hatte sicher keine Funktionsstörungen. Sie war nicht nur neu und gepflegt, wenn ich es richtig erkannte, war sie auch aus irgendeiner Art von weißem Kunststoff. Sie wirkte auch nicht wie ein Zusammenspiel aus mehreren Teilen, es hatte eher den Anschein, als wäre sie aus einem Stück gegossen worden. Sie sah futuristisch aus. Und an der Seite leuchtete ein rotes Lämpchen.

„Glaubst du, das hier ist ein Spiel?“, zischte ich. Mein Herz schlug mir immer noch bis zum Hals. „Hältst du das für einen Witz?“

Ein kleines, rotes Rinnsal floss an seinem Hals hinunter. „Nein.“

„Willst du sterben?“

„Wenn ich die Wahl habe, dann nicht.“

„Was sollte dann diese Schwachsinnsaktion?“

„Du kannst es mir nicht übelnehmen, dass ich es versuchen wollte. Es ist kein tolles Gefühl, wenn einem jemand ein Messer an die Kehle hält.“

Machte der Kerl sich jetzt auch noch über mich lustig? „Das Gefühl wird noch viel übler werden, wenn ich dir die Kehle durchschneide.“ Der Einzige Grund, warum ich das bisher noch nicht getan hatte, war, weil ich nicht mit der Schuld leben wollte. Aber das musste er ja nicht wissen. Außerdem wäre es nicht ganz einfach, einen so großen Kerl zu Nikita zu schleifen. „Darum solltest du jetzt besser tun, was ich sage. Ich brauche nur deinen Keychip und mir ist egal, ob du mit mir kommst, um die Handschellen zu öffnen, oder ob ich dir einfach die Hand abhacke.“ Ich drückte die Machete ein wenig fester. Seine Muskeln spannten sich an. „Kapiert?“

„Klar wie Kloßbrühe.“

Was zum … „Heißt das ja?“

„Ja.“

Warum sagte er dann nicht einfach ja? „Dann steh auf. Und keine Mätzchen.“

„Du bist der Boss.“

Das würde sich noch zeigen. Aber ich hatte hier schon genug Zeit vergoldet. Deswegen verbot ich mir jedes weitere Zögen, nahm meine Machete von seinem Hals und trat einen Schritt zurück. Als er dann langsam den Kopf zu mir drehte, war die Machete aber schon wieder auf ihn gerichtet. „Ich weiß sehr gut damit umzugehen“, erklärte ich, als sein Blick darauf fiel. Er schaute auch kurz zu seiner Waffe in meiner Hand, machte aber keine Anstalten danach zu greifen. Vielleicht war er ja doch nicht so dumm, wie der mich hatte glauben lassen wollen.

„Aufstehen“, forderte ich.

Er folgte meinem Befehl nur langsam, hob dabei die Hände, als wollte er mir beweisen, dass von ihm keine Gefahr ausging. Dann wartete er einfach.

„Und jetzt zu dem großen Fahrzeug. Aber langsam.“ Ich pikste ihn mit der Machete in die Seite, genau an die Stelle, an der die Leber saß. „Und mach besser keine plötzlichen Bewegungen.“ Wenn er mich erschreckte, wäre das nämlich zu seinem Nachteil.

„Leise und langsam“, bestätigte er.

Ein leises Klicken in meinem Rücken erreichte meine Ohren wie ein Donnerschlag. Nichts warnte mich, keine Schritte, da war nur dieses Klicken, das sich in diesem Moment so falsch anhörte.

Ich wirbelte herum und schaute direkt in die Mündung einer Waffe. Eine Frau mit entschlossener Mine hatte sie auf mein Gesicht gerichtet und schien sie in absehbarer Zeit dort nicht wegnehmen zu wollen. Verdammter Mist, wo kam die denn plötzlich her?

„Du weißt doch Kit, kein Besuch nach zehn Uhr abends.“ Ihre Stimme war kühl, leise, aber klar und deutlich. In ihren Augen lag nur eine kalte, wachsame Berechnung, ohne jegliches Mitgefühl oder Gnade. Es war die Frau, die ich heute schon ein paar Mal hatte durchs Lager laufen sehen. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem strengen Pferdeschwanz an ihren Kopf gebunden. In ihrem feinzügigen Gesicht wirkten ihre blauen Augen riesig und ihre Nase ein wenig zu lang. Sie schien um die dreißig zu sein, aber von einer Strenge behaftet, die sie weitaus älter wirken ließ. Und ihre steife Haltung strahlte die Effizienz einer Maschine aus.

Das war es was Eden aus den Menschen machte: Hirnlose Maschinen. Experimente. Genmanipulation. Geistversklavung. Handlungen wider die Natur.

„Naja, einer schönen Frau konnte ich noch nie widerstehen.“

Ich reagierte, bevor mein Kopf wusste, was ich da tat. Die Hand die eben noch die Waffe des Trackers gehalten hatte, riss den hübschen Mann zu mir heran. Die Pistole fiel klappernd zu Boden und im nächsten Moment hatte der Kerl wieder meine Machete an der Kehle.

„Und nun ist dir dieses Laster zum Verhängnis geworden.“ Die Stimme der Frau klang trügerisch sanft, doch der Blick mit dem sie mich fixierte, hatte nichts Sanftes an sich.

Mein ganzer Körper spannte sich an und auch wenn ich äußerlich versuchte Ruhe zu bewahren, schlug mir mein Herz vor Angst bis zum Hals. So war das nicht geplant gewesen. Was sollte ich jetzt tun?

„Es wäre besser für dich, wenn du ihn loslassen würdest.“

Hastig ging ich in meinem Kopf meine Möglichkeiten durch. Leider kam auf die Schnelle nichts Brauchbares dabei heraus, was vermutlich an meiner wachsenden Panik lag.

Ich konnte wegrennen, natürlich. Ich war flink und schlau genug ihr zu entkommen. Bei Nacht würden sie mich niemals aufspüren können. Aber ich müsste Nikita nicht zurücklassen.

Niemals.

Und mit meiner Machete auf sie losgehen? Ich war mir nicht sicher wie schnell ihre Reflexe waren. Wie lange dauerte es eine solche Waffe zu zünden?

„Ich werde mich nicht wiederholen.“

Meine Muskeln vibrierten praktisch vor Anspannung. Das Gefühl von Angst kroch mir in den Nacken. Ich durfte nicht versagen. Wenn doch nur Marshall hier wäre. Wenn er doch nur schießen würde.

„Wie du willst.“ Sie streckte den Arm zur Seite aus, eine Bewegung die mich nervös machte, auch wenn ich nicht verstand, was sie damit bezweckte. Neben ihr stand nur das große Fahrzeug.

Plötzlich ging alles ganz schnell. Sie klatschte mit der flachen Hand gegen das Fahrzeug. Der dumpfe Knall hallte durch das ganze Lager. In den Zelten kam Bewegung auf und gleich darauf purzelten die anderen Tracker um mich herum aus ihren Zelten.

Jetzt bekam ich wirklich Panik. Auf einmal waren sie überall und zielten mit ihren Waffen auf mich. Ich riss heftig an dem hübschen Mann, nutzte ihn als Schutzschild, um mich langsam zurückzuziehen, doch die einzige freie Stelle war hinter mir und da versperrte mir das große Fahrzeug den Weg. Ich war gefangen.

„Wir wollen dir nichts tun“, sagte die blonde Frau. „Aber ich werde nicht erlauben, dass du einen meiner Männer verletzt.“

„Dann lass meine Schwester frei!“

„Wir werden auch ihr nichts tun. Leg einfach die Waffe nieder, dann können wir in Ruhe reden.“

Reden? Ich wollte nicht reden, ich wollte hier weg. Gaia, wie hatte das alles so schiefgehen können?

„Letzte Chance.“

Ich wich zurück, bis ich das große Fahrzeug im Rücken spürte. Eine Chance, es gab noch eine Chance für mich. Ich konnte mich fallen lassen und unter das Gefährt rollen. Wenn ich schnell genug war, würden sie mich nicht erwischen. Aber was war mit Nikita? Ich konnte sie nicht zurücklassen, ich konnte einfach nicht.

„Wie du meinst.“ Sie tat nichts, aber etwas traf links in der Schulter. Es gab nur ein leises Plopp und dann einen stechenden Schmerz. In meiner anwachsenden Panik, stieß ich den hübschen Mann nach links und warf mich auf den Boden, um unter das Fahrzeug zu rollen, aber etwas stimmte nicht.

Mein Körper krampfte sich zusammen. Eine eisige Kälte breitete sich unter meiner Haut aus und ließ meine Bewegungen beschwerlich und anstrengend werden. Meine Muskeln verweigerten den Gehorsam und meine Arme knickten einfach ein. Ich stürzte in den Dreck. Ich starb nicht. Ich glaubte nicht einmal, dass ich tödlich verletzt war, aber etwas stimmte hier ganz und gar nicht.

Die Geräusche um mich herum drangen nur durch einen Schleier an meine Ohren. Selbst Nikitas Schrei nach mir war nichts weiter als ein fernes Geräusch. Und doch schien die Realität wie durch Nebel irgendwie bei mir anzukommen. Daher bemerkte ich auch, wie die blonde Frau neben mich trat und sich an meine Seite hockte, bevor sie mich auf den Bauch drehte, meine Arme auf den Rücken zerrte und sie grob mit irgendwas zusammenzurrte.

Meine Benommenheit zerriss unter der meiner aufsteigenden Angst. „Nein“, flüsterte ich mit schwerer Zunge und begann mich auf dem Boden zu winden und gegen meine Fesseln anzukämpfen.

„Ruhig“, sagte sie in einem beinahe besänftigen Ton. Eine warme Hand legte sich vorsichtig auf meine Schulter. „Wir wollen dir nichts tun, dir wird nichts passieren.“

„Kiss!“, schrie Nikita. „Verdammt Kiss! Bei Gaias Zorn, du hast sie umgebracht! Kiss! Kiss!“

Mir geht’s gut, wollte ich sie beruhigen. Doch um die Lippen zu bewegen, brauchte man auch Kontrolle über seine Muskeln, aber aus irgendeinem Grund war mir das nicht vergönnt. Was war mit mir geschehen?

Die Stimmen um mich herum klangen nur noch gedämpft durch den Nebel meiner Sinne und wurden immer leiser – als würden die Menschen um mich herum sich entfernen. Meine Glieder wurden schwer. Mein Kopf wurde schwer. Meine Augenlider verloren den Kampf gegen die Schwerkraft.

Die Welt um mich herum versank in Dunkelheit.

 

oOo

Kapitel 08

 

Eine Welt voller Nebel und Dunst, so unklar wie der Grund eines verschlammten Tümpels. Die Gedanken träge, als müssten sie sich durch zähflüssigen Sirup bewegen. Ich kämpfte darum von diesem Ort zu fliehen, kämpfte darum das Bewusstsein wiederzuerlangen, wachte weit genug auf um zu wissen, dass etwas nicht stimmte, aber mehr schaffte ich nicht – als würde ich schwimmen und die Wasseroberfläche über mir sehen, sie aber nicht erreichen können. Jedes Mal, wenn ich mich hinaufzustoßen versuchte, zog eine Strömung mich wieder hinunter in die Tiefen des Vergessens.

Einmal nahm ich ein Rumpeln wahr. Dann hörte ich Stimmen. Nikita, sie war bei mir und sprach. Mit mir? Beim dritten umnebelten Aufwachen war alles still. In der vierten Runde nahm ich ein Geräusch wahr. In der Luft lag ein hohes Surren, wie das Summen eines sehr großen Bienenschwarms, nur war die Tonlage viel höher. Bei dem Geräusch schalte ein Alarm in meinem Kopf, doch meine Gedanken waren irgendwie verworren und unklar. In meinem Kopf drehte sich alles wie in einem Karussell.

Ich zwängte meine Augenlider auseinander und wurde prompt vom grellen Tageslicht geblendet. Seit wann war es im Flugzeug so hell?

Beim zweiten Versuch war ich vorgewarnt und blinzelte vorsichtig, damit meine Augen sich erstmal an die Helligkeit gewöhnen konnten.

Da waren Fenster, große Fenster, doch aus meiner Position konnte ich kaum mehr als den Himmel und hin und wieder einen Baum sehen. Die Bäume rasten an dem Fenster vorbei. Das war seltsam, Bäume bewegten sich normalerweise nicht.

Es war schwer die Augen offen zu halten, aber ich war mir sicher, wenn ich sie wieder schloss, würde etwas schlimmes geschehen, also wehrte ich mich gegen diesen Sog und versuchte meine Gedanken zu klären.

„… habt wirklich warmes Wasser? Immer?“

Ich horchte auf. Das war Nikitas Stimme.

„Zu jeder Tages- und Nachtzeit“, erklärte eine Frau. Auch diese Stimme hatte ich schon einmal gehört, schaffte es aber nicht, ihr ein Gesicht zuzuordnen. Was war nur mit meinem Kopf los? „Das ist bei uns Standard und für jeden Bewohner frei zugänglich. Bei uns ist niemand besser als der andere, wir sind nur in verschiedenen Aufgabenbereichen zugeteilt. Jeder findet bei uns seinen Platz.“

„Natürlich werden auch persönliche Wünsche berücksichtigt“, fügte ein Mann munter hinzu.

Meine Haut kribbelte, als würde dort eine ganze Ameisenkolonie spazieren gehen. Ich wollte die Hand heben, um dieses Gefühl wegzurubbeln, aber ich konnte meinen Arm nicht bewegen. Das Prickeln breitete sich den Hals hinab aus. Ich ballte die Hände zur Faust, aber ich konnte sie nicht anheben. Meine Arme und Beine, sie waren nicht nur schwer, sie wurden von irgendwas runter gehalten. Warum nur fühlte ich mich so schwach?

„Egal was ich mir wünsche?“

Wieder Nikita.

„Egal was du dir wünscht“, sagte die Frau. Woher kannte nur ich diese Stimme? „Solange es zu deinen Fähigkeiten passt.“

„Damit meint sie, wenn jemand dumm wie Brot ist, sollte er kein Lehrer werden, egal wie sehr er Kinder liebt.“

„Unkonventionell ausgedrückt, aber ja.“

Meine Lippen kribbelten, als langsam das Gefühl in sie zurückkehrte. Das war wie eingeschlafene Füße im Gesicht. Ich nahm einen Geruch wahr, etwas Würziges. Mein Magen meldete sich zu Wort. Ich schnitt eine Grimasse. Alle Gesichtsmuskeln funktionierten. Fantastisch. Jetzt musste ich nur noch herausfinden, was um mich herum los war. Am besten begann ich mit dem Naheliegendsten.

Ich lag auf einem weichen Untergrund. Über mich hatte jemand eine Decke aus einem weißen Stoff ausgebreitet. Darauf war ein schwarzes Symbol, dass ich jedoch aus meiner Position nicht erkennen konnte. Ein Muster?

Ich drehte den Kopf, um eine Ahnung von meiner Umgebung zu bekommen, verstand im ersten Moment jedoch nicht was ich sah. Neben mir war ein schmaler Gang. Auf der anderen Seite von dem Gang befand sich ein Bett mit einem großen Fenster darüber. Am Fußende meines Lagers befand ich eine vergitterte Wand. Bei diesem Anblick schien irgendwas in meinem Hirn klick zu machen. Ich kannte das hier, ich war schon einmal hier gewesen.

Das surrende Geräusch geriet wieder in den Fokus meiner Wahrnehmung und plötzlich verstand ich, was hier los war. Es war das Summen, das die Wege der Tracker begleitete. Ich befand mich in dem Bett, in dem zuvor noch Nikita gelegen hatte. Oh Gaia, ich war in dem Fahrzeug der Tracker und es bewegte sich!

Mein Hirn war immer noch viel zu träge um einen klaren Gedanken zu fassen, aber die Angst war nicht an logisches Denken gebunden und die hieb mit einem Mal so kräftig auf mich ein, dass ich am ganzen Körper zu zittern begann. „Nein“, flüsterte ich, während mein Puls in die Höhe schoss und mir mein Hirn, wie ein eifriger Diener, all die Erinnerungen an Nikitas Rettung bereitlegte. Ich hatte sie nicht gerettet. Ich war plötzlich von ihnen umzingelt gewesen und nun war ich ihnen hilflos ausgeliefert.

Das war der Moment in dem sich meine Angst in blanke Panik verwandelte. Die Tracker hatten mich. Ich hatte Nikita nicht befreien können und nun befanden wir uns beide in den Klauen dieser unmenschlichen Monster. „Nein.“ Ich begann mich zu winden, versuchte mich aufzurichten, aber es gelang mir nicht. Irgendwas hielt mich im Bett.

„Nein, nein, nein!“ Mein Flüstern wurde zu einem verzweifelten Schrei. Hecktisch schaute ich mich um, in der Hoffnung irgendwas zu finden, was mir helfen konnte, aber da war nichts. „Nein!“

„Das ist Kiss.“

Eiliges Getrampel näherte sich mir. Nikita stürzte durch die Tür in die Zelle und hockte sich gleich darauf neben mein Bett. Ihre Hände strichen mir über das Gesicht. „Hey, bleib ganz ruhig, alles ist gut.“

Gut? Wir waren in einem Gefährt der Tracker, nichts war gut!

Ein Mann stürzte hinter Nikita in die Zelle. Es war der Schönling. „Sin, sie ist wach!“, rief er und kam dann zu mir.

Das entfachte das Feuer meine Panik zu einem Flächenbrand. Ich war wehrlos und konnte mich nicht bewegen und da kam ein Tracker direkt auf mich zu. „Geh weg, geh weg!“, schrie ich.

„Hey, ganz ruhig.“ Er hob die Hände in einer beruhigenden Geste. „Ich tu dir nichts, niemand tut dir etwas, alles wird gut.“

„Oh Gaia, nein!“ Mein Atem wurde immer hektischer und vor meine Augen erschienen schwarze Flecken. Ich war in einem verdammten Wagen der Tracker! Und dieser Wagen bewegte sich. Sie hatten mich! Nein, nein, nein, nein, nein, das konnte nicht sein! Das durfte nicht wahr sein.

Das Herz raste in meiner Brust, mein Atem wollte sich nicht beruhigen. Die Angst hatte ihre Klauen tief in meinen Körper gerammt und schien nicht vorzuhaben in absehbarer Zeit von mir abzulassen. Doch das schlimmste? Nikita, sie war auch hier. Natürlich war sie auch hier. Sie hatten sie sicher nicht aus reiner Herzensgüte wieder laufen lassen. Die Tracker gaben nie jemanden frei, der einmal in ihre Fänge geraten war – niemals.

„Kiss.“ Wieder strich Nikita über mein Gesicht. „Du musst aufhören, du …“

„Ist das hier eine Kuriositätenshow? Los, weg mit euch.“ Eine kräftige Frau, die aus irgendeinem Grund zwei violette Flechtezöpfe hatte, drängte sich durch die kleine Versammlung am Eingang zur Zelle und wedelte sie mit einer auffordernden Handbewegung fort. Auch sie trug eine grüne Uniform mit dem Symbol von Eden auf der linken Brust. „Na los, bewegt euch, sucht euch eine sinnvolle Beschäftigung.“

Die Drei Leute, die dort standen, zogen sich zurück. Die blonde Frau mit dem Pferdeschwanz war auch unter ihnen und drehte einen kleinen Jungen an den Schultern um. „Komm schon, setzt dich wieder an den Tisch. Sinead kommt gleich zurück.“

Der kleine Junge zögerte, ließ sich dann aber von der Frau wegschieben.

Ich wehrte mich immer noch wie eine Verrückte, schaffte es aber einfach nicht frei zu kommen. Sie hatten mich mit irgendwas ans Bett gebunden. Keine Handschellen, mein ganzer Körper war verschnürt.

„Ihr auch“, sagte die Frau mit dem lilafarbenen Haar und scheuchte den hübschen Mann und Nikita fort. Der Mann machte Platz und setzte sich auf das leere Bett, Nikita dagegen rutschte nur ein kleines Stück zur Seite, nicht gewillt von meiner Seite zu weichen.

Ich hatte nicht gedacht, dass meine Angst sich noch steigern ließ, doch als sich die Frau mit dem lila Haar zu mir auf die Bettkante setzte, erreichte meine Panik ganz neue Gipfel.

„Nein, bleib weg!“, schrie ich, während Bilder vom schlimmsten Tag meines Lebens vor meinem inneren Auge aufstiegen. Sein verzweifeltes Schluchzen drang an mein Ohr, als würde er direkt neben mir sitzen. Blut, da war so viel Blut.

„Schhht, ganz ruhig“, murmelte die Frau mit besänftigender Stimme. „Ich bin Sinead, aber du kannst mich Sin nennen, das machen alle. Ich werde dich jetzt kurz untersuchen, das geht ganz schnell.“

„Verschwinde, geh weg von mir!“

Sie lächelte mich freundlich an. „Du brauchst keine Angst haben, ich bin Sanitäterin, ich weiß also was ich tue.“

„Ist mir scheiß egal! Ich will das ihr weg geht, lasst mich in Ruhe!“ Ich grub die Fersen ins Bett und bog den Rücken durch, in der Hoffnung, die Gurte damit ein wenig zu lockern, doch sie gruben sich nur in mein Fleisch. „Macht mich los!“

„Du musst dich beruhigen. Du bist in Sicherheit, niemand hier wird dir etwas tun.“

„Ich will hier weg!“

Nikita schaute verzweifelt zu der Sinead. „Tu doch etwas.“

„Sie regt sich zu sehr auf.“ Sin wandte sich an die blonde Frau. „Dascha, bringst du mir bitte meine Tasche?“

Die Blondine verschwand.

Tasche? Was hatten sie jetzt vor? Ich biss die Zähne zusammen und stemmte mich mit all meiner Kraft gegen meine Fesseln, doch ich kam einfach nicht frei.

„Hey, ganz ruhig.“ Sie zog die Decke zur Seite und legte zwei Finger an mein Handgelenk. Nun sah ich auch endlich, was mich da ans Bett kettete. Es waren fünf schwarze Gurte, die quer über meinen Körper gespannt waren und mich so von den Schultern abwärts sehr effektiv auf dem Bett hielten. Breit und stabil, keine Chance dem zu entkommen.

„Nimm deine Finger weg! Ich bring dich um!“

Die blonde Frau kehrte mit einer großen, roten Tasche zurück, die mit einem weißen Kreuz markiert war und stellte sie neben Sinead auf den Boden.

„Danke.“ Die ältere Frau öffnete die Tasche und offenbarte einen Haufen medizinischer Utensilien, von denen die meisten mir so fremd waren, als würden sie von einem anderen Planeten stammen. Sie ergriff etwas, das Ähnlichkeit mit ihren Waffen hatte.

„Was machst du da?“, fragte ich und konnte die Furcht nicht aus meiner Stimme verbannen.

„Keine Angst, dir wird nichts passieren.“ Sie entnahm der Tasche ein kleines, gläsernes Gefäß, das sie wie eine Kapsel hinten in die Waffe schob. „Das hier ist nur ein leichtes Beruhigungsmittel.“

„Nein, geh weg damit, ich will das nicht!“ Ich versuchte vor ihr zurückzuweichen, als die das Teil an meinem Arm ansetzte, doch die verdammten Gurte hielten mich an Ort und Stelle fest. „Nein. Nein!“ Das letzte Wort kreischte ich, aber es half nichts. Ich spürte ein Stechen im Arm und dann verschwand ein Teil des Flüssigen Inhalts aus der Kapsel.

„Was hast du gemacht?“, fragte ich panisch, während mein Herz mir vor Angst bis zum Hals schlug. „Was hast du mir gespritzt? Was ist das?!“

„Keine Sorge, das schadet dir nicht.“ Sie nahm das Waffending von meinem Arm und tauschte es gegen ein Pflaster aus, das sie über die kleine Einstichstelle klebte. „Das soll dir nur dabei helfen, dich zu beruhigen und von deiner Angst zu lösen. Gleich müsstest du dich ein wenig entspannen.“

„Entspannen? Ich bin in den Klauen von Monstern!“ Und doch spürte ich, wie mein Pulsschlag sich ein wenig beruhigte. Mein Herzschlag wurde langsamer, meine Atmung beherrschter und die schwarzen Flecken vor meinen Augen verschwanden.

„So ist richtig“, sagte Sinead, während sie weiter meinen Puls fühlte. „Entspann dich einfach, hier droht dir keine Gefahr.“

Trotz des Wissens um ihre Lüge, überkam mich eine seltsame Gelassenheit. Ich war nach wie vor in Gefahr, genau wie Nikita, aber dieses Gefühl kam nicht mehr an mich heran. Das war unheimlich. „Das ist nicht richtig.“

Sineads Lächeln wurde ein wenig sanfter. „Schon Jahrhunderte vor der Wende setzten Menschen Beruhigungsmittel ein, um einen ins Gleichgewicht zu bringen. Das ist nichts Schlimmes und es wird dir helfen.“

„Mir würde es helfen, wenn ihr mich losbindet.“ Meine Zunge war ein wenig schwer. Oh Gaia, alles war so schrecklich schiefgelaufen und es wurde immer schlimmer.

„Keine Sorge, das werden wir.“ Sie tätschelte mir den Arm und zog die Decke dann fast schon Mütterlich bis zu meiner Hüfte hoch, als wollte sie verhindern, dass ich fror. „Vorher würden wir uns nur gerne mit dir unterhalten.“

„Ich will mich nicht mit euch unterhalten, ich will hier weg.“

„Kiss“, sagte Nikita wieder und setzte sich neben meinen Kopf auf die Bettkante. Sie war wachsam, aber nicht eingeschüchtert. Sie vertraute wohl darauf, dass ich uns aus dieser Situation rausholen würde. „Vielleicht solltest du zuhören.“

Mein Blick huschte zu ihr.

Sie sah mich eindringlich an. Wollte sie vielleicht auf Zeit setzten? Hoffte sie, mir würde ein rettender Einfall kommen, der uns aus dieser Misere befreien konnte, wenn ich ihr Spiel erstmal mitspiele? Dieser Gedanke war auf jeden Fall besser, als sich in meiner Angst zu verlieren. Nur waren meine Mitspieler Tracker und die spielten niemals fair.

Ich musste mit dieser Metapher aufhören.

Unruhig flitzte mein Blick von einem zum anderen. Ich kam hier nicht weg. Selbst ohne die Fesseln, war der Feind in der Überzahl. Was also sollte ich tun? Schreien und mich wehren, würde mich in meiner momentanen Lage nicht weiterbringen. Sie hatten die Macht und ich war ihnen hilflos ausgeliefert. „Was wollt ihr von mir?“

„Nur reden“, sagte diese Sinead. „Wir wollen nur eine kurze Unterhaltung und dass du uns zuhörst.“

Ein Gespräch. Was wenn ich es ablehnte? Hatte ich überhaupt eine Wahl? Wahrscheinlich nicht. Vielleicht sollte ich wirklich zuhören, wenigstens bis ich wusste, wie ich mich befreien konnte. „In Ordnung.“ Die Worte kamen zögernd. Es widerstrebte mir zutiefst diesen Leuten bei irgendwas zuzustimmen – nicht mal mit diesem Zeug, dass sie mir injiziert hatten. „Ich werde zuhören.“

„Dann werde ich die Damen jetzt wohl mal alleine lassen, damit ihr euch ein wenig unterhalten könnt.“ Noch während sie es sagte, ordnete Sinead ihre Tasche und verschloss sie. Dann erhob sie sich und verschwand mit ihrem Gepäck in den vorderen Bereich des Fahrzeugs. Neben dem hübschen Mann, blieb damit nur noch die Blondine an der Tür zurück.

„Am besten stellen wir uns erstmal vor“, sagte der hübsche Mann und zum ersten Mal schaute ich ihn mir richtig an. Sein blondes Haar hing ihm etwas zu lang in die babyblauen Augen. Auf seiner Wange war eine kleine kaum sichtbare Narbe. Volle Lippen, durchtrainierter Körper, ein kantiges Kinn und ein vorsichtigen Lächelnd, das wohl beruhigend wirken sollte. Am Hals klebte ein breites Pflaster. Ich erinnerte mich, wie ich ihm meine Machete an die Kehle gehalten hatte.

Verdammt, meine Machete! Mein Blick huschte zu meiner Hüfte, aber auch wenn die Decke sie verdeckte, war mir klar, dass sie sie mir abgenommen hatten. Das durfte nicht wahr sein. Ich brauchte sie zurück. Sie war nicht nur eine Waffe, sie war ein Erbstück, das Einzige was ich noch von meinen Eltern besaß. Ich durfte sie nicht den Trackern überlassen.

Ohne etwas von meinen Gedanken zu ahnen, sagte der Mann: „Mein Name ist Kit Vark. Ich bin der Zweite Mann unserer Truppe und außerdem ein ziemlich guter Mechaniker.“ Er zwinkerte mir zu, als hätte er einen Witz gemacht und zeigte dann auf die Blondine. „Diese Perle ist unsere allseits geschätzte Leaderin Dascha. Sie hat das Sagen und darf uns alle herumkommandieren.“

„Und manchmal hört ihr sogar auf mich.“

Kit grinste sie an, richtete seine Aufmerksamkeit aber gleich wieder auf mich. „Du bist Kismet, richtig?“

Als er meinen Namen sagte, zuckte ich innerlich zusammen. Ihn aus dem Mund dieses Mannes zu hören war, als würde ich in den Rachen einer hungrigen Bestie gucken. Warum hatte Nikita nur mit ihnen gesprochen? Sie wusste es doch besser. Ich hatte ihr oft genug erzählt, was diese Leute getan hatten und zu was sie fähig waren.

„Hm, schwerer Fall.“ Er stützte den Ellenbogen auf sein Knie und legte sein Kinn in die Hand. Sein Blick glitt dabei über meine dunkle Haut und das feingemeißelte Gesicht. „Eine Unterhaltung lässt sich leichter führen, wenn beide Parteien sich daran beteiligen.“

„Und noch besser wäre es, wenn sie nicht erzwungen wäre“, gab ich bissig zurück. Nur weil sie mich stillgelegt hatten, würde ich nicht auf einmal unterwürfig sein. Vielleicht war es gar nicht so schlecht gewesen, dass sie mir dieses Mittel gegeben hatten, denn jetzt wo meine Angst unterdrückt wurde, konnte ich wieder halbwegs klar denken. Nicht dass mir das in Augenblick weiterhalf.

„Leider würdest du nicht zuhören, wenn wir nicht gewisse Vorkehrungen getroffen hätten.“

Eine Bodenwelle ließ den Wagen hüpfen. Mir wurde übel. Ich schloss die Augen.

„Kiss?“, fragte Nikita besorgt und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Alles in Ordnung mit dir?“

In Ordnung? Wie konnte sie das fragen? An dieser Situation war absolut nichts in Ordnung. Ich fühlte mich noch immer leicht benommen. Eine seltsame Trägheit ließ meine Glieder schwer an mir herabhängen. Mein Körper fühlte sich falsch an, so schwach. Es war wie damals, ich war hilflos.

„Kismet?“

Ich schluckte und versuchte dem Strudel der Vergangenheit zu entkommen. „Es geht mir gut.“ Was für eine dicke, fette Lüge. Ich fixierte diesen Kit. „Lass mich frei.“

„Wie?“ Erstaunt hob er die Augenbrauen. „So ganz ohne das Zauberwort?“

„Kiss“, begann Nikita wieder, verstummte dann aber. Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, dass Nikita keine Handschellen trug. Oh Gaia, sie konnte sich frei bewegen. Leider nutzte ihr das nichts, solange sich dieser Wagen bewegte und selbst wenn er still stand, war es fraglich, ob sie einfach verschwinden würde. Keiner von uns beiden würde die andere einfach im Stich lassen. Und ich konnte nicht entkommen. Meine Unfähigkeit hatte mich in diese Situation geführt. Ein Kloß unbändiger Wut manifestierte sich unter meinem Brustbein. Ich hatte versagt. Und jetzt …

Oh nein. Ich riss den Kopf herum und starrte durch das Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft. Wir fuhren. Erst in diesem Moment wurde mir klar, was genau das bedeutete. Wir entfernten uns vom Flugzeug, von Marshall und von allem was wir kannten und liebten. Oh nein. Nein, nein, nein.

„Ich weiß, dass diese Situation dich ängstigt und auch, dass du wütend bist, aber wir wollen dir und deiner Schwester nichts Böses“, erklärte Kit und hoffte damit wohl zu mir durchdringen zu können. „Wir sind nicht eure Feinde, wir wollen euch nur helfen.“

Ich schluckte. Aber sicher doch. Eine Entführung galt ja bekanntlich als Hilfe.

„Natürlich glaubst du mir nicht, aber alles wird gut werden.“

Zumindest mit dem ersten Teil seiner Aussage hatte er ins Schwarze getroffen.

Er schwieg einen Moment, als müsste er überlegen, wie er dieses Gespräch fortsetzen sollte. „Du weißt doch wo wir hinfahren, oder?“

Natürlich wusste ich das. Es war mir erst einen Moment zuvor klar geworden, aber ich würde es nicht sagen. Das würde diese ganze Situation und die Zukunft die auf mich wartete, nur noch realer machen. Meine Hände begannen zu zittern. Um es zu verbergen, schloss ich sie zu Fäusten, bis meine Nägel ins Fleisch stachen. Aber ich fühlte den Schmerz kaum.

„Wir fahren nach Eden.“

Halt den Mund. Halt den Mund, halt deinen verdammten Mund! Ich biss die Zähne zusammen.

„In Eden können wir dir und deiner kleinen Schwester Schutz bieten. Dort braucht ihr niemals mehr vor etwas Angst haben. Wenn ihr krank oder verletzt seid, können unsere Ärzte euch helfen. Krankheitsvorsorge wird bei uns ganz großgeschrieben. Und ihr braucht auch nie wieder zu hungern. Wir haben genug zu essen – für alle. Sauberes Wasser und warme Unterkünfte. Arbeit die einen erfüllt und eine Zukunft. Das ist es was wir euch anbieten, eine unbekümmerte Zukunft, in der die Menschen nicht nur überleben, sondern auch wirklich leben können.“

Ja genau, Eden war das Paradies und die letzte Rettung der Menschheit. Der Slogan der Städter. Nur leider galt das nicht für Menschen wie Nikita und mir, die außerhalb ihrer riesigen Mauern geboren worden waren. Wir waren der Dreck unter ihren Stiefeln. Sklaven die man herumschubsen konnte, lebendiges Fleisch das man benutzen konnte, wie einem der Sinn danach stand. Und das waren noch die guten Schicksale, die Menschen wie uns hinter ihren Mauern erwarteten. Übel wurde es erst, wenn man nicht mehr gebraucht wurde. Dann führten sie einem zur Schlachtbank, um das Abendessen auf den Tisch bringen zu können.

„Hast du verstanden was ich gesagt habe?“

„Ja. Du sprichst wie ein Händler, der seine Ware an den Mann bringen will, obwohl er weiß, dass er nur Schrott anzubieten hat. All deine Worte nichts weiter sind als hohles Gerede, dass dich an dein Ziel bringen soll.“

Mein Verglich schien ihn zu belustigen. „Und was glaubst du, ist mein Ziel?“

„Mein Versprechen artig zu sein und alles zu tun, was ihr von mir verlangt. Ihr wollt, dass ich mit euch komme, ohne mich zu wehren, bis wir in Eden angekommen sind, wo ihr weiß-ich-was mit uns tun werdet.“

Seufzend lehnte Kit sich auf dem Bett zurück und musterte mich nachdenklich. „Wie ich die Gerüchte der Streuner verabscheue. Sie stellen uns als Monster hin, die …“

„Ihr seid Monster“, unterbrach ich ihn. „Für euch sind wir nichts weiter als Abfall, mit dem ihr machen könnt was ihr wollt. Ihr haltet euch für etwas Besseres und es ist euch gleich, was ihr auf dem Weg zu eurem Ziel alles zerstört. Heime, Familien, Leben.“

„Mir ist bewusst, dass du so denkst, aber …“

„Du hast keine Ahnung was ich denke. Ihr Städter seid so verblendet, die Realität interessiert euch gar nicht.“ Ich wollte diese Lügen nicht mehr hören. Ich kannte die Wahrheit, hatte sie mit eigenen Augen gesehen. Die Tracker, nein, alle Städter waren Monster der schlimmsten Sorte und ich würde mich ihnen niemals ergeben. „Ihr habt euch eure eigene, kleine Welt geschaffen, in der ihr Könige seid. Eure Welt, eure Regeln. Unterdrücker, Menschenjäger, Kannibalen …“

„Jetzt übertreibst du aber maßlos.“

„Du bist nichts als ein dreckiger …“

„Na na, keine Ausdrücke.“

„… Bastard!“

„Das war jetzt aber nicht nett gewesen.“

Ja ich wusste, dass ich seine Gefangene war und dass er hier im Moment alle Hebel in der Hand hielt, aber ich würde mich nicht unterkriegen lassen. Er durfte nicht merken, dass die Angst sich noch immer an mich klammerte und mit jedem verstreichenden Augenblick tiefer in mich hinein drang. Ja, besser ich zeigte mich aggressiv als ängstlich, dann würde er mir wenigstens fernbleiben.

Er seufzte. „Hör zu, ich weiß, dass dies hier gegen deinen Willen geschieht, aber es wäre für alle Beteiligten das Beste, wenn du kooperieren würdest. Das macht es nicht nur einfacher für uns, sondern auch für dich. Wir wollen dich nicht unter Beruhigungsmittel setzten müssen, oder dir noch eine Dosis Tranquilizer verpassen.“

Ich runzelte die Stirn. „Was verpassen?“

„Tranquilizer. Betäubungsmittel. Es ist eine Medizin, die dich schlafen lässt. Als du uns gestern überfallen hast, hat mein Kollege dich damit angeschossen, um dich schnell und ohne Gewalt auszuschalten. Ich habe es dir bereits gesagt, niemand hier will dir schaden.“

Ich erinnerte mich an ein Stechen in der Schulter und wie mein Körper ganz kalt wurde, bevor ich zu Boden gestürzt war. Die Kraft war einfach aus mir herausgeflossen, wie Wasser durch ein Sieb. War es das, was sie mit ihren Waffen tun konnten? Die Menschen einfach einschlafen lassen? Allein die Vorstellung, ihnen so wehrlos ausgesetzt zu sein, ließ mich erschaudern. Wenn ich mich in einem solchen Zustand befand, konnten sie alles mit mir tun und ich würde es nicht mal wissen. „Ich werde dir deine falschen Worte nicht glauben und ich werde mich wehren.“

Seine Lippen wurden ein wenig schmaler. „Das muss nicht so laufen. Wir können uns doch beide zivilisiert verhalten.“

Zivilisiert? Fast hätte ich ihm ins Gesicht gelacht. Die Menschen aus Eden kannten die Bedeutung dieses Wortes nicht einmal. „Was weiß ein Barbar schon über zivilisiertes Verhalten?“

Um seinen Mundwinkel zeigte sich ein Zug von Missmut. „Es wäre wirklich nett, wenn du aufhören würdest uns als Ausgeburten der Hölle darzustellen.“

Was war eine Hölle? „Ja und ich fände es wirklich nett, wenn ihr aufhören würdet Menschen zu entführen.“

„Entführen?“ Er schnaubte belustigt. „Hast du das gehört Dascha? Sie glaub wir entführen sie.“

Dascha zuckte mit den Achseln. „Aus ihrem verqueren Weltbild heraus, mag das vielleicht sogar stimmen.“

„Du bist keine große Hilfe“, bemerkte er trocken.

„Kiss“, sagte Nikita, aber ich brachte sie mit einem Blick zum Schweigen.

Ihre Augen blickten bockig, doch ich bemerkte auch den Hauch von Angst in ihnen. Sie wollte helfen, aber sie fürchtete sich vor den Konsequenzen. Nikita war mir schon lange nicht mehr so jung vorgekommen.

„In Ordnung.“ Kit beugte sich wieder vor und stürzte die Arme auf seine Beine. „Du möchtest es sicher nicht hören und überlegst bereits fieberhaft, wie du uns entkommen kannst, aber das wird dir nicht gelingen. Wir sind keine Monster, aber wir haben eine Aufgabe: Den Erhalt der Menschheit. Dafür brauchen wir sowohl dich, als auch Nikita. Ihr seid wichtig für uns, jeder Mensch ist das. Es gibt nicht mehr viele von uns und darum müssen wir zusammenhalten.“

Ich fixierte ihn mit all dem Hass, den ich schon mein halbes Leben hegte und pflegte. „Nette Worte von einem Mörder.“

Er seufzte, als hätte er es mit einem unbelehrbaren Kind zu tun, das allein aus Trotz allem widersprach, was es hörte. „Ich bin kein Mörder, ich bin Tracker. Ich helfe Menschen.“

„Du hast mich aus meinem Zuhause entführt.“

„Du hast mir fast die Kehle durchgeschnitten.“

„Ihr habt meine Schwester genommen.“

„Wir wollen ihr ein besseres Leben bieten. Und dir auch.“ Sein Blick war eindringlich. „Das ist etwas Gutes, dass musst du einsehen.“

Ich musste gar nichts, außer hier ganz schnell zu verschwinden. „Ich hatte ein gutes Leben, doch dann kamen die Monster und zerstörten meine Familie.“

Kit öffnete den Mund, um mich weiterhin mit seiner Brillanz zu verblüffen, aber noch bevor er etwas sagen konnte, erschien Sinead neben Dascha.

„Kit, kannst du mal nach vorne ans Komkon kommen? Xander sagt, der Motor von Wagen eins macht seltsame Geräusche.“

Kit entließ die Luft aus seinem Mund und erhob sich dann schwer genervt von dem Bett. „Langsam wird diese Karre wirklich zu einer Plage.“

„Jeder hat sein Kreuz zu tragen.“ Sinead grinste.

Er zeigte mit dem Finger auf sie, sagte aber nicht. Dann schien ihm wieder einzufallen, dass ich noch da war. „Tut mir leid, da muss ich mich drum kümmern, aber so bekommt ihr etwas Zeit um über alles nachzudenken. Wir sprechen dann später weiter.“

„Ich kann es kaum erwarten“, murmelte ich.

Das hatte er gehört. Er zwinkerte mir zu und verschwand dann zusammen mit Sinead aus der Zelle.

Dascha musterte mich. „Es geschieht wirklich nur zu eurem Besten.“

Sollten sie doch alle an ihren Lügen ersticken. „Was ist mit den Gurten? Ihr habt gesagt, wenn ich zuhöre, löst ihr sie.“ Und ich hatte wirklich keine Lust mehr, hier verschnürt wie ein Paket herumzuliegen.

„Wir werden sie lösen, sobald du dich ein wenig eingewöhnt hast.“

Ich biss die Zähne zusammen. Hatte ich wirklich erwartet, sie würden sich an ihr Wort halten? Dumm, einfach nur dumm.

„Es wird euch gut gehen, gebt der Sache nur eine Chance.“ Sie drehte sich um und kehrte in den vorderen Bereich zurück.

Ich wartete, bis ich sah, wie sie sich an einem der Tische niederließ, dann fuhr mein Kopf auch schon zu Nikita herum. „Mach die Gurte los.“ Das würde zwar nicht all unsere Probleme lösen, aber zumindest würde ich mehr Spielraum bekommen.

Nikitas Mundwinkel sanken herab. „Ich kann nicht. Sie lassen sich nur mit einem Keychip öffnen.“

„Verdammt.“ Die verdammten Tracker mit ihrer verdammten Technik. „Warum haben sie dir die Handschellen abgenommen?“ Vielleicht könnte das auch mir helfen.

Nikita rutsche auf der Bettkante ein wenig nach unten. So konnte ich sie nicht nur besser sehen, sie wandte den Trackern auch den Rücken zu. Ihr Blick ging kurz über ihre Schulter, als wollte sie sichergehen, dass uns niemand belauschte. Ihre Zunge huschte nervös über ihre Lippen. „Wegen dir. Ich kann nicht gehen, wenn du hier bist. Ich kann dich nicht im Stich lassen.“

Sie erpressten sie also mit mir. Das sah ihnen ähnlich. „Nikita, wenn sich dir eine Gelegenheit bietet, wirst du laufen.“

„Aber …“

„Kein Aber, es ist mir ernst. Wenn du fliehen kannst, dann tust du es. Versprich es mir.“

Sie zögerte.

„Nikita, versprich es mir“, forderte ich mit mehr Nachdruck.

Sie wollte nicht und trotzdem nickte sie nach einem kurzen Moment. „Ich werde gehen, wenn ich kann, aber bitte, lass mich nicht allein bei ihnen.“

Oh Gaia, es war so lange her, dass Nikita bei mir Schutz gesucht hatte. Sie musste größere Angst haben, als sie mich sehen ließ. „Ich werde dich niemals zurücklassen“, versprach ich und begann gleichzeitig über eine mögliche Flucht nachzudenken. Doch die Situation erschien mir im Moment so ausweglos, dass ich kurz vor dem Verzweifeln war. Selbst wenn ich es schaffte mich von den Gurten zu befreien, befanden wir uns noch immer in einem fahrenden Fahrzeug mit mindestens drei Trackern und verschlossenen Türen. Außerdem hatten sie meine Machete. Es würde mir schwerfallen sie zurückzulassen, aber das Leben von mir und Nikita war wichtiger, als ein Streifen Metall. Meine Eltern würden es verstehen.

„Was machen wir jetzt?“

Ja, das war eine ausgezeichnete Frage. „Wir brauchen einen Plan.“

„Was für einen Plan?“

„Ich weiß nicht.“ Das zuzugeben, war nicht gerade einfach. „Ich werde mir etwas überlegen.“ Allerdings brauchte es Zeit, einen guten Plan zu entsinnen. Zeit und keine Komplikationen. Und in der Lage in der wir uns befanden, musste es mehr als ein guter Plan sein.

„Wir haben aber nicht viel Zeit“, sagte Nikita leise. „Kit hat gesagt, dass wir in drei Tagen in Eden sein werden.“

Ich riss die Augen auf. „Drei Tage?“

Sie nickte.

„Verdammt.“ Wie sollte ich das schaffen, wenn ich mich nicht einmal bewegen konnte?

Ich wollte weinen. Stattdessen schloss ich einen Moment die Augen und zwang mich ruhig zu bleiben. Wenn Marshall nur hier wäre, dann würde das alles viel einfacher sein. Marshall wusste immer was zu tun war.

Aber Marschall war nicht hier, wir waren auf uns allein gestellt. Genauso wie damals, gab es im Moment nur Nikita und mich.

Der Gedanke an ihn ließ mich schwer schlucken. Wo war er? Suchte er nach uns? Hatten die Tracker ihn vielleicht auch geschnappt und in einen anderen Wagen gesteckt? Ich würde sicher nicht nachfragen. Wenn sie ihn nämlich nicht hatten, dann wussten sie vielleicht gar nichts von ihm und ich würde mich hüten den Tracker zu verraten, dass es da noch ein paar andere Menschen gab. „Du darfst ihnen nichts von den anderen sagen.“

Nikita nickte entschlossen. „Mache ich nicht.“

Das hatte ich auch nicht geglaubt, musste es ihr aber trotzdem noch einmal in Erinnerung rufen. „Gut.“ Jetzt mussten wir nur noch einen Weg hier rausfinden.

„Ich habe Angst“, gestand Nikita mir sehr leise.

„Das brauchst du nicht, Eden wird uns nicht kriegen.“ Ich würde es nicht zulassen, dass die Geschichte sich wiederholte. Egal was es mich auch kostete, ich würde Nikita hier herausholen, das schwor ich mir.

 

oOo

Kapitel 09

 

Meine erste Gelegenheit kam, mit dem nächsten Halt, am frühen Nachmittag, als die ganze Wagenkolonne, am Rand eines kleinen Sees anhielt, um eine Pause zu machen. Dascha kam zu mir und fragte mich, ob ich nicht mal dem Ruf der Natur folgen wollte. Ich wollte. Und zwar nicht nur, weil ich darin sofort eine Chance auf Flucht erkannte, sondern auch, weil ich wirklich mal dringend pinkeln musste. Leider wurden meine Hoffnungen sofort im Keim erstickt, denn einfach so würden sie mich nicht aus diesem Gefährt lassen. Sie entfernten zwar die Gurte, aber erst nachdem sie mir Handschellen angelegt hatten. Sie ließen mich auch nicht allein hinaus, Dascha und Sinead bewachten mich mit Argusaugen. Außerdem behielten sie Nikita im großen Fahrzeug, um sicherzugehen, dass ich auch keine Dummheiten begehen würde. Das trug nicht gerade zu meiner guten Laune bei.

Da ich für den Moment sowieso zum Nichtstun verdammt war, konnte ich auch erstmal für kleine Mädchen gehen.

Sie konnten vielleicht meine Bewegungen kontrollieren, aber nicht meine Gedanken. So konnten sie mich nicht daran hindern, über meine Möglichkeiten nachzusinnen.

Ich konnte versuchen meine Bewacher zu überwältigen und dann das Weite suchen, aber selbst, wenn mir dieses Glanzstück gelingen sollte, was war mit Nikita? Sie allein zurückzulassen und diesen Monstern zu überlassen, stand gar nicht zur Debatte.

Wenn ich wieder frei war, konnte ich natürlich einen erneuten Versuch wagen sie zu befreien, nur dass ich dann im Nachteil wäre. Nicht nur weil ich allein und sie in der Überzahl waren, der Überraschungsmoment war auch nicht mehr auf meiner Seite. Beim ersten Mal hatten sie nicht mit mir gerechnet, aber nun wüssten sie, dass ich wegen meiner kleinen Schwester wieder käme. Sie würden Nikita bewachen und auf mich lauern, so dass meine eh bereits geringe Chance sie da rauszuholen, geradezu gegen null tendierten. Oder sie würden mich einfach vergessen und Nikita mit nach Eden nehmen, wo ich unter keinen Umständen mehr an sie herankommen würde.

Nein, ich konnte jetzt nicht verschwinden, nicht ohne Nikita an meiner Seite. Ich musste auf eine bessere Gelegenheit warten, eine, die uns beiden unsere Freiheit zurückgab. Blieb nur zu hoffen, dass so eine Gelegenheit noch kommen würde, ehe wir die Stadttore von Eden erreichten. Sonst hätten wir beide ein wirklich großes Problem.

Zu meinem Leidwesen, fiel mir im Moment auch keine weitere Möglichkeit ein, zumindest nicht, bis sie mich, bewacht von beiden Seiten, zu dem großen Fahrzeug zurückeskortierten. Meine Hände waren mit den Handschellen direkt vor meiner Brust gefesselt und links und rechts hatten Dascha und Sinead mich am Arm gepackt, da fiel mein Blick auf die Waffe an Daschas Hüfte. Wenn ich ihrer habhaft werden konnte, dann …

„Das wird dir nicht helfen.“

Mein Kopf schnellte hoch und ich schaute direkt in Daschas Augen. Sie ahnte wohl, was in meinem Kopf vor sich ging. Alles abstreiten. „Was meinst du?“

„Halt mich bitte nicht für blöd.“ Wir nährten uns den Fahrzeugen von der Seite. Die Tracker hatten bereits damit begonnen, ein paar Dinge aufzubauen, um das Essen zu machen. Die freien Menschen – die Rothaarige und die beiden alten Männer – gingen ihnen dabei zur Hand. Ich verstand es nicht, wie konnten sie das nur tun? „Du bist nicht der erste Streuner, der glaubt, es würde ihm helfen, eine von unseren Waffen in die Hand zu bekommen.“

Ich schwieg.

„Selbst wenn du an eine herankommst, hat es für dich keinen Nutzen. Die Programmierung unserer Waffen verhindert die Benutzung von dritten Personen. Nur jemand mit einem autorisierten Keychip kann sie abfeuern. Für alle anderen ist die Benutzung gesperrt. So verhindern wir, dass Unbefugte Dummheiten damit begehen.“

„Ich kann euch immer noch damit schlagen.“ Das würde sie zwar nicht umhauen, so wie mich, aber spüren würden sie es trotzdem.

„Dafür wäre ein schwerer Ast wohl eher zu empfehlen.“

Sollte das ein Witz sein, oder machte sie sich über mich lustig?

Als wir zurück in das Lager kamen, lief uns der kleine Junge entgegen, denn ich bereits ein paar Mal bemerkt hatte. „Sin!“, rief er und schlang dem Tracker rechts von mir ein paar dünne Ärmchen um den Bauch. Er konnte nicht älter als sieben oder acht Jahre sein.

„Hey, kleiner Mann.“ Sie strich ihm in einer liebevollen Geste über das schmutzige Haar. „Hast du schon auf mich gewartet?“

Er nickte. „Du warst weg.“ Da klang ein kleiner Vorwurf aus seiner Stimme mit.

„Ich habe doch gesagt, dass ich gleich wieder da bin.“

Seine Unterlippe schob sich ein wenig vor. Er war wohl anderer Meinung.

„Geh ruhig mit ihm“, sagte Dascha. „Ich bringe sie allein zurück in den Bus.“

Bus? Nannte man das große Fahrzeug so?

Sinead musterte mich einen Moment und schien dann zu dem Schluss zu kommen, dass sie ruhig gehen konnte. Zum einen waren wir wieder im Lager, wo es vor Trackern nur so wimmelte und zum anderen hatten sie noch immer Nikita in ihrer Gewalt. „Solltest du mich doch noch brauchen, ruf mich einfach.“ Sie löste die Arme des kleinen Jungen und nahm ihn an die Hand. „So, dann lass uns mal schauen, was die anderen so trieben.“

Ich sah den beiden hinterher, wie sie zu einer Gruppe von Männern gingen, die sich lachend um eine Art Grill versammelt hatten. Er schien nicht mit Feuer zu funktionieren, doch das Brutzeln des Fleisches konnte ich bis hierherhören. Außerdem lag ein sehr verlockender Geruch in der Luft.

Mein Magen knurrte auffordernd. Ich hatte heute noch nichts gegessen und gestern nur das bisschen, das uns Azra gestern mitgegeben hatte. Zum Glück war ich es gewohnt, mal ein oder zwei Tage nichts zu essen.

„Keine Sorge, wenn das Essen fertig ist, bringen wir dir etwas.“

Als wenn ich etwas von den Trackern nehmen würde. „Wie seid ihr an den Jungen gekommen?“

Dascha gab mir zu verstehen, dass ich mich wieder in Bewegung setzten sollte und schob mich Richtung Bus. „Deinem Ton nach vermutest du wohl, wir hätten seine ganze Familie niedergemetzelt, dann das Haus abgefackelt und ihm am Ende unter Gewalt verschleppt.“

Joa, so in die Richtung gingen meine Gedanken.

„Ich muss dich enttäuschen. Wir haben ihn vor knapp drei Wochen gefunden. Ziemlich am Anfang unserer Expeditionstour.“

Expeditionstour? Das war wohl eher eine Treibjagd, um die abnehmenden Vorräte an menschlichen Sklaven ein wenig aufzustocken.

„Er lebte ganz allein in einem … man könnte es wohl als Baumhaus bezeichnen, obwohl es kaum mehr als eine wacklige Plattform gewesen war.“

„Wo sind seine Eltern?“

„Wir wissen es nicht.“ Sie führte mich an einem der kleinen Fahrzeuge vorbei, zum Heck des Busses. „Er redet nicht viel. Ohne Sinead würde er wahrscheinlich gar nicht reden.“

„Was meinst du damit?“

„Dass er ihr vertraut.“ Sie hielt an und legte ihre Hand an das Heck. Es klickte, dann schob die Tür sich zur Seite und gab den Weg ins Innere frei. „Ich weiß, dass es dir schwer fällt das zu verstehen, aber er muss schon lange allein gewesen sein. Ohne Hilfe wäre er hier draußen irgendwann gestorben. Bei uns hat er eine Zukunft.“

„Jeder muss irgendwann sterben.“

„Ja, aber man sollte doch wenigstens die Chance bekommen, erwachsen zu werden. Wie lange glaubst du, hätte er noch allein überlebt?“

Diese Frage konnte ich nicht beantworten. Vielleicht nur Tage, vielleicht aber auch Jahrzehnte. „Wenigstens wäre er frei gewesen.“

„Eden ist kein Gefängnis“, belehrte sie mich. „So, und nun rein mit dir.“

Ich wollte nicht. Ich stand vor der offenen Tür und wusste, dass ich es musste, aber meine Beine bewegten sich nicht.

„Wir können das auf die weiche, oder auf die harte Tour machen. Für mich macht das keinen Unterschied. So oder so, du wirst wieder in diesen Bus steigen.“

„Alles nur zu meinem Besten.“

„Ja.“ Der Sarkasmus in meiner Stimme prallte einfach an ihr ab. „Muss ich nachhelfen?“

Nikita war da drinnen. Ich musste da wieder rein, doch es war diese tief verwurzelte Angst, die mich einen Schritt zurückweichen ließ. „Ich will nicht.“

„Zur Kenntnis genommen.“ Sie bugsierte mich wieder nach vorne, sodass ich mit dem Knie gegen die Stufe knallte. Aua.

Ich warf ihr einen finsteren Blick zu.

„Kiss!“ Nikita tauchte in der offenen Zelle auf. Erleichterung machte sich auf ihrem Gesicht breit. Sie musste Angst gehabt haben, so ganz allein bei den Tracken.

„Was ist nun?“, wollte Dascha wissen.

„Irgendwann werde ich dich töten“, schwor ich ihr, fügte mich aber vorerst in mein Schicksal. Mit den Handschellen war es ein wenig schwierig, in den Bus zu klettern, aber ich schaffte es und stand dann wieder vor dem verdammten Bett.

Dascha kletterte mir nach und verschloss dann sofort die Tür, als befürchtete sie, ich könnte mich sonst noch in Luft auflösen. Sofort wurde es um mich herum angenehm kühl. Die Sonne brannte heute wirklich heiß vom Himmel.

„Auf das Bett“, befahl Dascha.

Ich biss die Zähne zusammen. „Ich will nicht wieder festgezurrt werden.“ Ich war heilfroh, diese Dinger endlich so zu sein und mich bewegen zu können. Es war kein Vergnügen, dazu gezwungen zu sein, die ganze Zeit unbewegt auf dem Rücken liegen zu müssen.

„Wenn du dich benimmst, brauchen wir keine Gurte.“

Ich kniff die Augen leicht zusammen. Das kaufte ich ihr nicht ab.

„Die Gurte sind nicht für den dauerhaften Gebrauch gedacht, sie sollen nur eine kurzzeitige Fixierung ermöglichen. Natürlich werde ich dich nicht frei herumlaufen lassen, dafür bist du einfach zu unberechenbar, aber du wirst mehr Bewegungsfreiheit haben, als zuvor.“

Das klang in meinen Ohren nicht unbedingt besser. „Was genau bedeutet das?“

„Handschellen und nachts eine verschlossene Zellentür. Damit wollen wir nur sichergehen …“

„Das ich nicht einfach so verschwinde.“

„Das du keine Dummheiten begehst“, verbesserte sie mich.

Ich bewegte mich nicht.

„Wir können dich natürlich auch wieder mit den Gurten sichern, wenn dir das besser gefällt.“

„Kiss.“ Nikita zupfte am Ärmel meiner Tunika. „Tu besser was sie sagen.“

Das war an sich kein schlechter Ratschlag. Dascha hatte es vielleicht nicht ausgesprochen, aber wenn es sein musste, würde sie mich zwingen das zu tun, was sie für angebracht hielt. Das bedeutete, Sicherheitsverwahrung in den Gurten. Mit Handschellen war ich vielleicht immer noch außer Gefecht gesetzt, aber ich hätte wenigstens mehr Spielraum. Das war nicht wirklich besser, aber die andere Variante wäre noch schlechter.

Widerwillig setzte ich mich aufs Bett und zwang mich ruhig zu verharren, als sie mich an der Wandstange festkettete.

Gestern noch hatte ich geschworen, Nikita auf die gleiche Art ans Flugzeug zu binden. Das Universum hatte wirklich einen schrägen Sinn für Humor.

Die Schelle an meinem rechten Handgelenk war gepolstert, wohl damit ich mich nicht daran verletzte. Wie nett, zuvorkommende Entführer. „Irgendwann werdet ihr das hier bereuen“, knurrte ich und ballte die Hand zur Faust. Wie gerne ich sie damit geschlagen hätte.

Dascha überprüfte den konkreten Sitz, dann richtete sie sich wieder auf. „Irgendwann wirst du verstehen und dann wirst du dich für unsere Unnachgiebigkeit bedanken.“

Ich schnaubte verächtlich. „Nichts in der Welt könnte mich jemals dazu bringen, einem Tracker für irgendwas dankbar zu sein.“

Dascha schüttelte den Kopf. „Du sagst, wir seien verblendet und das wir nur nach unseren Regeln spielen wollen, dabei bemerkst du gar nicht, wie Realitätsfremd du selber bist.“

„Ich?“ Das war jawohl der blanke Hohn.

„Ja du. Du lebst in deiner kleinen Welt und nimmst nichts außerhalb davon wahr. Glaubst du wirklich, wir sind Wochen und Monate in der alten Welt unterwegs, nur um ein paar Streuner zu töten? Es gibt wesentlich leichtere Beute.“

„Du kannst sagen was du willst, du wirst es nicht schaffen, meinen Geist zu vergiften.“ Meine Schutzmauern waren viel zu dick. Sie waren undurchdringlich, denn sie waren im Feuer der Tragödie geschmiedet worden.

Dascha atmete einmal tief durch. „Du bist noch so jung und schon so verbittert.“

„Ich bin nicht verbittert, ich bin wütend! Du und die anderen Scheusale, ihr seid keine Glücksboten, sondern widerliche Menschenjäger! Ihr seid der größte Abschaum, den die Welt zu bieten hat und wenn ihr einfach verschwinden würdet, gebe es niemanden, der euch auch nur eine Träne nachweinen würde! Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ihr …“

„Du dummes Kind, warum machst du ein solches Theater?“ Die ältere Frau mit den roten Haaren und der abgetragenen Kleidung, schob sich neben Nikita in die Zelle und bedachte mich mit einem Stirnrunzeln. „Sie wollen dir doch nur helfen und dir etwas Gutes tun.“

„Etwas Gutes tun?“ Ich lachte scharf auf und klapperte dann sehr nachdrücklich mit meinen Handschellen. „Sie halten mich hier gefangen und bringen mich nach Eden! Ich will nicht nach Eden, ich will mein Leben zurück!“

Etwas wie Mitleid zeigte sich auf dem Gesicht der Frau. „Eines scheinst du bisher noch nicht verstanden zu haben. Es gibt einen kleinen Unterschied zwischen Leben und Überleben. Zwischen den Ruinen, in halb verrotteten Häusern, in der Einsamkeit zu hausen, ist kein Leben. Es ist ein Kampf, jeden Tag aufs Neue.“

Das mochte stimmen, aber: „Ich bin eine Kämpferin und du hast keine Ahnung, was dich hinter den Mauern von Eden erwartet.“

„Vielleicht nicht“, räumte sie ein, „aber kann es wirklich so viel schlimmer sein, als das hier draußen?“

Sie wusste nicht was sie da redete. Sie war vom Leben müde und gezeichnet und suchte nach einem einfachen Ausweg aus dieser Situation, aber das hier war falsch. „Es sollte trotzdem meine eigene Entscheidung sein und für das hier habe ich mich nicht entschieden.“

„Offensichtlich und jetzt sieh nur, was es dir bringt.“

Wollte sie mir damit sagen, dass das hier auch noch meine eigene Schuld war? Bevor ich meinen Gedanken aussprechen konnte, kehrte sie mir den Rücken und verschwand wieder nach vorne in den Bus.

„Siehst du, nicht nur ich sehe es so.“

Darauf hatte ich erstmal einen Moment herumzukauen. Natürlich könnte ich sie weiter anschreien und meinem Unmut Luft machen, aber das würde nichts bringen. Im Moment konnte ich gar nichts tun, denn sie stellten die Regeln auf.

„Nun gut, im Moment hat es keinen großen Wert weiter auf dich einzureden. Du wirst mir sowieso erst glauben, wenn du es mit eigenen Augen gesehen hast.“ Dascha wartete, als hoffte sie, ich würde noch etwas sagen, aber da konnte sie lange warten. Sie seufzte. „Ich werde mal nachschauen, wie weit die Männer mit dem Essen sind.“ Sie ging und ließ mich mit meiner kleinen Schwester alleine.

„Du musst damit aufhören“, flüsterte Nikita eindringlich.

Ich spießte sie mit einem Blick auf, von dem sie sich nicht einschüchtern ließ. Stattdessen setzte sie sich neben mich aufs Bett und nahm meine Hand in ihre. Es war die mit der Handschelle. „Je mehr du dich wehrst, desto weniger Freiheiten werden sie dir gestatten.“

„Und was soll ich stattdessen tun? Mich ihren Regeln unterwerfen?“

„Wir tun was nötig ist.“

Sie hatte nicht unrecht, aber es blieben nur drei Tage. Drei Tage waren viel zu wenig Zeit, um genug Vertrauen aufzubauen, damit sie mich ohne Handschellen unbeobachtet ließen. Aber wenn ich so weiter machte, dann wurde ich nur wieder an das Bett gefesselt. Wie sollte ich dieses Spiel nur gewinnen, bevor sie uns nach Eden brachten? Die Situation schien ausweglos.

„Kiss.“ Nikita drückte meine Hand.

„Ich kann das nicht“, sagte ich leise. „Ich kann nicht einfach vergessen, was sie getan haben. Immer wenn ich einen von ihnen sehe, dann habe ich auch wieder Mama und Akiim vor Augen. Wenn ich ihnen nachgebe, verrate ich ihr Andenken.“

„Und was wird geschehen, wenn du ihnen nicht nachgibst?“

Diese Frage konnte und wollte ich nicht beantworten.

Nikita legte ihren Kopf an meine Schulter und kuschelte sich an mich. „Wir schaffen das schon, zusammen bekommen wir das hin.“

So fand Kit uns, als er eine halbe Stunde später in die Zelle kam und verkündete, dass das Essen fertig sei. Nikita sollte rauskommen und sich ein schönes Stück Fleisch aussuchen. Ich wollte nicht, dass sie ging, ich wollte sie nicht aus den Augen lassen und es passte mir gar nicht, dass er sie trotzdem mitnahm. Es war mir völlig egal, dass sie auch etwas zu Essen für mich aussuchen sollte und es mir dann bringen würde. Ich musste sie vor diesen Leuten schützen, aber wie sollte ich das tun, wenn sie nicht in meiner Nähe war?

Das versprochene Essen wurde mir nicht von Nikita gebracht, sondern von dem etwas untersetzten Mann, den Marshall und ich auf der Suche nach Nikita gesehen hatten. Meine Schwester blieb draußen bei den anderen.

Während mein Essen neben mir im Bett stand und langsam kalt wurde, beobachtete ich sie durch das große Fenster mit den anderen Leuten. Sie hatten sich um einen Tisch versammelt und auch wenn Nikita zurückhalten war, schien sie sich nicht unwohl zu fühlen. Das machte mir Sorgen.

Damals, an diesem schrecklichen Tag, war sie zu klein gewesen, um zu verstehen, was um sie herum vorgefallen war. Sie kannte die Geschehnisse nur aus meinen Erzählungen und da ich nicht gerne darüber sprach, wusste sie auch nur das Nötigste. Meine Erinnerungen waren nicht die ihren und so konnte sie vielleicht gar nicht verstehen, wie gefährlich diese Lügenmäuler wirklich waren. Ich musste sie von den Trackern fernhalten, bevor ihre Versprechungen sie blenden konnten.

Sobald die Mahlzeit beendet war, verstauten die Tracker ihre Sachen und Leute wieder in den Fahrzeugen und starteten die Motoren. Das verursachte auch das Summen, es kam von den fahrenden Wagen.

Als wir wieder unterwegs waren, kam Nikita grinsend zu mir nach hinten, doch ihr Lächeln verschwand recht schnell, als sie meinen Gesichtsausdruck sah. Den Rest des Tages ließ ich sie nicht mehr aus den Augen. Kit kam ein paar Mal nach hinten, um sich mit uns zu unterhalten, doch unsere einsilbigen Antworten, vergraulten ihn auch ziemlich schnell wieder.

Ich versuchte währenddessen weiter einen Fluchtplan zu entwickeln, doch egal auf welche Ideen ich kam, an irgendeiner Stelle scheiterten sie immer – meistens an der Tatsache, dass ich festgebunden war, wir uns in einem fahrenden Fahrzeug befanden und von vierzehn Trackern bewacht wurden.

Ich hörte auch zu und lernte. So erfuhr ich, dass die kleine Fahrzeuge Jeeps genannt wurden, das Mittlere Transporter und wie das große hieß, wusste ich ja schon. Ich erfuhr auch etwas über den Aufbau der Truppe und was sie auf dieser Reise bereits erlebt hatten. Doch wie sehr ich auch die Ohren spitzte, nicht von dem was sie sagen, half mir weiter, oder gab mir Hoffnung.

Als es draußen langsam dunkel wurde und die Tracker für die Nacht ihr Lager aufschlugen, wurde mir klar, dass wir bereits einen ganzen Tag in ihrer Gewalt waren und das Einzige was ich erreicht hatte, war, mich in Handschellen legen zu lassen. Unser Zuhause war nun viele hundert Kilometer entfernt und Eden ein ganzes Stück näher gerückt.

In dieser Nacht machte ich kaum ein Auge zu. Nicht nur weil ich allein und angekettet in dieser Zelle lag, es war die Angst vor dem Unbekannten, die mich am Schlafen hinderte. Die meiste Zeit der Nacht beobachtete ich die vier Wachposten im Lager. Entweder hatten sie die Zahl aufgestockt, weil sie eine Flucht von mir befürchteten, oder sie hatten von der letzten Nacht dazu gelernt. Als es mir dann endlich gelang die Augen zu schließen, dämmerte bereits der Morgen.

Ich erwachte nicht viel später durch das laute Lachen eines Kindes und musste mit Schrecken feststellen, dass nichts von dem was geschehen war, meiner blühenden Phantasie entsprungen war. Es war real. Ich war eine Gefangene der Tracker und ich hatte keine Ahnung, wie ich ihnen entkommen sollte.

Draußen hatten die Tracker bereits damit begonnen das Nachtlager abzubauen. Nikita tauchte mit Frühstück auf. Einen Teller reichte sie mir, während sie sich mit dem anderen neben mich setzte.

Mein Magen begann wieder zu knurren. Ich hatte nun fast zwei Tage nichts mehr gegessen und befand mich deswegen nun in einem Dilemma. Ich wollte nichts von den Trackern annehmen, aber wenn ich nichts aß, würde mich meine Kraft nach und nach verlassen. Wenn ich zu schwach wurde, würde eine Flucht unmöglich werden. Nur deswegen nahm ich widerwillig ein paar Bissen zu mir. Es waren irgendwelche Riegel und sie schmeckten wie Pappe, aber hinterher ging es mir eindeutig besser.

Während ich beobachtete, wie Nikita ihre Mahlzeit vertilgte, fiel mein Blick auf ihre Hüfte, dorthin, wo sie normalerweise ihr Beutel hing. Er war nicht da. Natürlich war er nicht da, denn sie hatte ihn bei ihrer Gefangennahme ja auch verloren.

Automatisch fasste ich an meinen Gürtel, aber auch dort war der Beutel nicht mehr. Die Tracker mussten ihn mir zusammen mit meiner Machete abgenommen haben. „Dein Beutel.“

„Wie bitte?“

„Dein Beutel. Ich habe ihn gefunden und sie haben ihn mir weggenommen.“

Nikita zuckte nur mit den Schultern und schob sich das letzte Stück ihres Riegels in den Mund.

Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Da drin war dein Schmetterling.“ Ein wertloses Stück Plunder, für das ich einen Fisch geopfert hatte, damit sie ein weiteres Teil für ihre kleine Sammlung hatte.

„Das ist nicht mehr wichtig.“

„Nicht mehr wichtig“, wiederholte ich ungläubig. Und das von der Person, die sonst mit Händen und Füßen um ihre Schätze kämpfte.

Sie stockte, zögerte kurz und seufzte dann. „In der Lage, in der wir uns befinden … was bedeutet da schon ein dummer, kleiner Schmetterling. Wir haben größere Sorgen, als diesen kleinen Tand.“

Da stimmte ich ihr zu, aber dass diese Worte von ihr kamen, beunruhigte mich schon ein wenig. Das war völlig untypisch für sie. Was nur geschah hier mit meiner kleinen Schwester?

Bevor ich darauf eine Antwort finden konnte, hörte ich von draußen ein paar Rufe. Kurz darauf stiegen die Tracker in die Fahrzeuge und ließen die Motoren an.

Sobald wir wieder unterwegs waren, kuschelte Nikita sich zu mir ins Bett. Ihre Nähe beruhigte mich ein bisschen, doch es konnte dieses Unbehagen nicht verscheuchen.

Als Kit uns so entdeckte, bot er uns ein wenig Unterhaltung an. Kein Gespräch, sondern eine Maschine, mit der wir uns beschäftigen konnten. Sie kam aus meinem Bett. In dem einen Moment war am Fußende meines Bettes noch eine glatte Fläche von vielleicht einer Hand Breite, dann berührte Kit einen Punkt an der Seite und ein großes Rechteck mit einem dunklen Bildschirm schob sich langsam in die Höhe.

Was dann geschah, war fast schon Zauberei. Als Kit das Gerät einschaltete, erschienen darauf bewegte Bilder. Menschen und Orte. Laut Kit konnte die Maschine ganze Geschichten zeigen. Was er dann aber für uns aussuchte, war etwas ganz anderes. Ein Märchen über seltsame Tiere, die wie Menschen auf zwei Beinen liefen und in einem Haus wohnten. Es ging um drei Käfer, die einem merkwürdig geformten Tier mit blauem Fell, ständig Streiche spielten und ihm sein Essen klauten. Kit nannte die bewegten Bilder einen Cartoon. Und Serie. Und Folgen. Er hatte mehre Begriffe benutzt und ich hatte nur mit halbem Ohr zugehört.

Obwohl ich die bewegten Bilder faszinieren fand und darüber staunte, hatte die Geschichte keine großen Unterhaltungswert für mich. Nikita jedoch schien sich zu amüsieren, denn sie lächelte die ganze Zeit und kicherte immer mal wieder.

Selbst als die Tracker zum Mittag wieder eine Pause machten, blieb Nikita bei mir. Sie hatte sich mit dem Rücken an meine angewinkelten Beine gelehnt und verfolgte interessiert das Geschehen auf dem Fernseher.

Gerade als die drei Käfer mit einer erbeuteten Hähnchenkeule, quer über den Bildschirm rannten, verfolgt von dem blauen Tier, wurde die Hecktür des Busses mit einem Ruck aufgerissen. Das kam so unerwartet, dass ich vor Schreck zusammenfuhr. Mein Kopf wirbelte herum, die Kette der Handschellen klirrte. Kit sprang eilig in den Bus, er wirkte angespannt.

Das letzte Mal hatte ich ihn gesehen, kurz nachdem die Wagenkolonne für die Pause angehalten hatte. Er hatte gelächelt und mir zugezwinkert und versprochen, bald mit etwas Essbarem zurückzukommen.

Zwischendurch hatte ich ihn durch das Fenster im Lager mit den anderen Trackern beobachtet, bis er plötzlich mit einer Handvoll Leuten davongestürmt war. Sie schienen es eilig gehabt zu haben.

Jetzt wirkte er nicht mehr amüsiert. Seine Mine war ernst, der Blick konzentriert, die Bewegungen effizient. Nicht mal, als ich ihm meine Machete an den Hals gehalten hatte, war sein Humor verschwunden. Etwas musste passiert sein, denn Essen hatte er auch keines dabei.

Er sah uns, warf dann einen schnellen Blick nach draußen und wandte sich dann meiner Schwester zu. „Nikita, geh nach vorne.“

„Was? Warum?“ Sie runzelte die Stirn. „Ist was passiert?“

„Jetzt Nikita“, forderte er ohne nähere Erklärung.

Nikita schien widersprechen zu wollen, seufzte dann aber nur und wollte sich erheben, doch ich ergriff ihren Arm und hielt sie fest.

„Du wirst meiner Schwester keine Befehle geben“, erklärte ich ihm.

Kit gab ein ungeduldiges Geräusch von sich. „Kismet, ich werde jetzt nicht mit dir darüber streiten. Nikita, geh bitte nach vorne, wir brauchen den Platz.“

Bevor ich ihm erklären konnte, dass er mir Nikita schon aus meinen kalten, toten Händen reißen musste, um sie von mir wegzubekommen, näherten sich von draußen aufgeregte Stimmen. Dascha befahl etwas, jemand anderes rief quer durch das Lager nach Sinead und dann kam eine Gruppe von drei Trackern in Sicht, die etwas Riesiges in ihrer Mitte trugen.

Jetzt sprang Nikita doch auf und ich hinderte sie auch nicht daran, als sie zur offenen Zellentür zurückwich, die Augen auf die Männer gerichtet.

Kit riss währenddessen die Decke vom anderen Bett und stürmte dann an Nikita vorbei in den vorderen Bereich des Busses.

Mein Blick blieb auf den Männern und ihrer Last. Das was sie da trugen, das war ein bewegungsloser Mensch. Nein, nicht nur ein Mensch, es war ein riesiger Mann und die Tracker hatten leichte Probleme, ihn durch die Tür zu bekommen.

„Pass auf seinen Kopf auf“, sagte der eine.

Ein anderer war vor Anstrengung bereits ganz rot im Gesicht.

Sie ächzten und stöhnten und dann hatten sie es geschafft

„Legt den Streuer vorsichtig aufs Bett.“

Streuner, sie benutzten das Wort, als seien wir eine andere Art von Menschen, etwas ohne Zuhause, das im Dreck lebt und deswegen weniger wert war als sie. Sie benutzten es, weil sie sich von uns abheben konnten. Wir waren Streuner und sie Edener. Von wegen, wir waren alles Menschen. Sie hielten sich für etwas Besseres und jedes Mal, wenn dieses Wort an mein Ohr drang, hasste ich es ein kleinen wenig mehr. Ich war nicht weniger wert, nur weil ich nicht genauso war wie sie.

„Mein Gott, ist der riesig.“

„Der hat eben immer schön seine Frühstücksflocken aufgegessen.“

Gemeinsam bugsierten sie ihn auf das Bett und wichen zurück. Erst jetzt konnte ich ihn richtig sehen. Dieser Mann war wirklich groß, mindestens sechs Fuß, vielleicht sogar noch größer. Seine Schultern waren so breit, dass sie fast die komplette breite des Bettes einnahmen. Seine Hüfte dagegen war äußerst schmal. Er wirkte fast wie ein muskulöses Dreieck. Schwarze Haare, olivfarbene Haut, Dreitagebart. Das alles war verpackt in einer einfachen Hose aus Tierhäuten. Keine Schuhe, kein Hemd.

Sinead tauchte in der Tür am Heck auf, Dascha direkt hinter sich. „Was ist hier los?“, fragte sie, als sie sich zu den Trackern in den schmalen Durchgang drängte. Langsam wurde es wirklich eng hier drinnen.

„Wir haben ihn gefunden“, sagte der gedrungene Kerl. „Er torkelte die Straße entlang. Als wir ihn ansprachen, wollte er uns angreifen und ist dann einfach in Ohnmacht gefallen.“

„Einfach so?“ Sinead beugte sich vor und legte ihre Hand an die Stirn des Riesen. Sein Gesicht war gerötet und ihm stand der Schweiß auf der Stirn.

„Einfach so“, stimmte Kit zu, als er neben Nikita in der Tür auftauchte. Er hatte die rote Tasche mit dem weißen Kreuz dabei

„Er hat Fieber.“ Vorsichtig strich Sinead dem Mann über eine Stelle am Arm. „Petechien“, murmelte sie und der leicht besorgte Ausdruck verfinsterte sich. „Alle die hier nicht gebraucht werden, sofort raus. Und holt mir Tucker. Kit, meine Tasche.“

Bewegung kam unter die Männer. Die drei, die den Riesen hereingetragen hatten, trollten sich nach draußen. Kit stellte die Tasche neben Sinead auf den Boden und öffnete sie für sie, während Sin den Mann konzentriert von oben bis unten zu untersuchen begann. Sie griff nach einem seltsamen Instrument, das sie ihm an die Stirn hielt.

Ein anderer Mann, viel älter als sie und Spindeldürr, stieg eilig in den Bus, warf einen Blick auf den Riesen und stürzte dann zur Tasche. Worte flogen von ihm zu Sinead. Beschleunigte Atmung, niedriger Blutdruck, Herzrasen. Sie schnitten dem Mann die Hose auf, sodass er nackt vor ihnen lag. An seinem Oberschenkel entblößten sie eine große, hässliche Wunde. Blaue Adern zogen sich wie ein Spinnennetz von dort über sein Bein und gelblicher Eiter verkrustete den schartigen Riss in der Haut. Selbst ich als Leihe erkannte sofort, dass die Wunde übel entzündet war.

Konzentriert begannen die beiden die Wunde zu säubern. Riefen sich weiterhin Dinge zu, wie Vitalfunktionen, Infusion, Antibiotika, Breitband-Penizillin und Antimykotikum.

Dascha bewachte die ganze Aktion wie ein Wachhund. Ihre Lippen waren fest zusammengedrückt. Ich hatte die Tracker noch nie so ernst und angespannt erlebt. Sie schienen eine kleine Ewigkeit zu brauchen, in der sie ihm alle möglichen Dinge injizierten und sich Werte zuriefen, mit denen ich nichts anfangen konnte.

Ich saß da, in meinem Bett und sah ihnen die ganze Zeit zu, nicht sicher, was ich von der Situation halten sollte. Der Mann war krank. Ohne jeden Zweifel ging es ihm wirklich schlecht und es machte den Eindruck, als wenn sie ihm helfen wollten. Doch es erschien mir recht unwahrscheinlich, dass er einfach so umgefallen war, genau dann, als die Tracker bei ihm aufgetaucht waren. Viel mehr vermutete ich, dass sie nachgeholfen hatten, was bedeutete, dass auch er nicht freiwillig hier war. Ich war hautnahe dabei, wie sie einen Mann entführten und ich konnte nichts dagegen tun.

Irgendwann stieß Sinead einen tiefen Seufzer aus, wischte sich über die Stirn und drehte sich dann zu Dascha um. „Das war es, mehr können wir hier nicht tun.“

„Weißt du was mit ihm los ist?“

Sie nicke. „Eine Sepsis, eine leichte. Ich weiß nicht warum er ohnmächtig geworden ist, würde aber auf Mangelernährung tippen.“

Der Kerl sah nicht unterernährt aus. Das bestärkte mich in meiner Vermutung, dass hier etwas nicht stimmte.

„Kommt er wieder in Ordnung?“

Sinead nickte. „Er ist gut in Form und wir haben ihn früh genug gefunden. Die Medikamente müssen erst wirken und das Fieber runter gehen, aber sobald er aufwacht, dürfte alles wieder in Ordnung kommen.“

Dascha richtete mit grimmiger Entschlossenheit ihren Blick auf den nackten Riesen. „Ein Glück für ihn, dass wir ihn gefunden haben.“

 

oOo

Kapitel 10

 

„… fünf Mauerringe halten sogar dem stärksten Sturm stand. Da kommt niemand durch, wenn wir es nicht erlauben. Das macht Eden so sicher“, erklärte Kit. „Und die Stadt wächst jeden Tag, weswegen die Despotin vor einem Jahr den Bau eines sechsten Ringes in die Wege geleitet hat. Wir brauchen mehr Platz um …“

Ich blendete Kits Lobeshymne, auf die Stadt und ihre Bewohner aus und begnügte mich damit, ihm mit meinem Blick ein Loch in den Hinterkopf zu bohren. Warum nur sprach Nikita schon wieder mit ihm? Ich könnte sie anschreien und es ihr verbieten, aber das würde nichts bringen. Die Tracker hatten die Zellentür geschlossen und uns so voneinander getrennt. Wenn ich jetzt einen Aufstand machte, wäre das nur zum Nachteil für mich.

Meine Lippen wurden schmal. Es war Abend und ich befand mich nun schon den zweiten Tag in den Händen der Tracker. Noch einen Tag, dann würden wir Eden erreichen und ich wusste absolut nicht, wie ich das verhindern sollte.

Meine Angst hatte mich seit dem Moment des Erwachens gelähmt. Es war dumm von mir gewesen, zu glauben, ich würde einen Ausweg finden, wenn diese Leute doch alle Trümpfe in der Hand hielten. Aber ich konnte auch nicht einfach aufgeben und ihnen den Sieg überlassen. Das wäre, als würde ich mich einfach in der Ecke zusammenrollen und auf den Tod warten. Das war nicht ich und das wollte ich auch nicht. Doch welche Möglichkeiten blieben mir noch?

In dem anderen Bett regte sich der Riese. Das hatte er in den letzten Stunden bereits ein paar Mal getan. Als stünde er kurz vor dem Aufwachen, schaffte es aber nicht das Bewusstsein wiederzuerlangen. Genauso war es gestern auch bei mir gewesen. Auch das sprach für ihre Falschheit und bestärkte mich noch in meiner Vermutung, dass er nicht einfach nur umgefallen war. Jemand musste nachgeholfen haben. Und nun würde er irgendwann erwachen und erkennen, dass er nicht mehr in sein Leben zurückkehren konnte. Dieser Feind ließ seine Beute nicht einfach ziehen.

Die Tracker hatten ihn mit den Gurten ans Bett gefesselt und eine Decke über ihn gebreitet. Meine Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. Das schien hier zum Standardprozedere zu gehören. Widerstand wurde hier eben nicht gerne gesehen. Wobei der Mann bisher noch gar keine Gelegenheit gehabt hatte, Widerstand zu leisten. Wahrscheinlich war es eher seine enorme Größe, die die Tracker einschüchterte. Und so wie sie ihn hergebracht hatten, wollten sie wohl erstmal auf Nummer sicher gehen.

Er sah auf jeden Fall schon besser aus, als noch vor ein paar Stunden. Sein Gesicht war nicht mehr so gerötet und seine Atmung hatte sich normalisiert. Was immer Sinead mit ihm getan hatte, es schien Früchte zu tragen. Die Frage aber blieb, warum sie es getan hatte. Welchen Wert hatte dieser Mann für die Menschen in Eden? Er war kräftig und vermutlich auch stark. Gesund würde er vermutlich einen guten Sklaven abgeben.

Die Vorstellung grauste mich, weil sie mich zu der Frage führte, welches Schicksal mich in Eden erwartete.

Nein, soweit durfte ich gar nicht denken. Ich musste mich darauf konzentrieren einen Fluchtweg zu finden. Mein Ziel war es zu verschwinden, bevor wir die Stadt erreichten und egal wie ausweglos die Situation im Moment noch wirkte, es musste einfach einen Weg geben. Ich musste ihn nur finden.

Wieder regte sich der Mann. Seine Augenlider zuckten und er verzog das Gesicht, als hätte er einen üblen Geruch in der Nase. Mit einem leisen Stöhnen drehte er den Kopf in meine Richtung. Er blinzelte, schloss die Augen aber gleich wieder, um sie vor dem Licht zu schützen. Es war zwar schon spät, doch die Dämmerung hatte gerade erst eingesetzt.

Ein seltsames Geräusch kam aus seiner Kehle.

Was sollte ich tun? Die Tracker rufen war keine Option. Die Situation würde auch so bereits beängstigend genug für ihn sein – das wusste ich aus eigener Erfahrung. Jetzt die Aufmerksamkeit seiner Entführer zu erregen, würde die ganze Sache für ihn nur noch schlimmer machen.

„Du musst ruhig sein“, flüsterte ich und warf einen wachsamen Blick durch das Gitter in den vorderen Bereich. Kit lachte laut und Sinead sang zusammen mit dem kleinen Jungen ein Lied. Von denen hatte noch keiner bemerkt, was hier hinten los war. „Wenn sie dich hören, dann kommen sie.“ Und dann würden sie was-weiß-ich mit ihm tun.

Der Mann stöhnte wieder und blinzelte vorsichtig in das Abendlicht. Unsere Blicke trafen sich und einen Moment wollte ich vor ihm zurückweichen. Seine Augen, sie waren schwarz. Zwei finstere Teiche, dessen Boden niemals vom Sonnenlicht erreicht wird. Erst blitzte Verwirrung in ihren auf, dann Angst. Sein Atem wurde hektischer und er versuchte sich vom Bett hochzustemmen, musste aber feststellen, dass er festgebunden war.

Wieder kam dieses seltsame Geräusch aus seiner Kehle, wie ein verängstigtes Tier, dass bereit war zuzuschlagen, weil man es in die Ecke gedrängt hatte. Mist, ich musste ihn beruhigen.

Ich wusste nicht warum ich das Verlangen danach hatte. Vielleicht weil ich selber in dieser Situation gewesen war und mir gewünscht hätte, jemand würde mich beruhigen. Doch statt Hilfe zu bekommen, hatten die Tracker mir ein Mittel gespritzt, das meine Gefühle verfälscht hatte. Das sollte ihm nicht auch passieren.

Mit einem weiteren wachsamen Blick in den vorderen Teil des Busses, schlug ich meine Decke zurück und kletterte aus dem Bett. Die Kette der Handschellen war nicht sehr lang, aber ich schaffte es mich in den Gang zu hocken, indem ich meinen Arm nach hinten Streckte. Die Kette war straff und es war nicht sehr angenehm, aber ich musste ihm doch irgendwie helfen. Riese oder nicht, er hatte Angst.

„Wie heißt du?“, fragte ich leise und legte ich eine Hand auf die Schulter. Seine Haut war noch immer warm vom Fieber.

Im Ersten Moment schreckte er vor mir zurück, doch dann machte ihn das Rasseln meiner Kette ihn auf die Handschellen aufmerksam. Er folgte mit den Augen meinen Handschellen von meinem Handgelenk bis zu der Stange an der Wand.

Meine Lippen wurden ein wenig schmaler. „Falls du dich das fragst, nein, ich bin auch nicht freiwillig hier.“

Sein Blick schoss hektisch von mir, zur Decke und weiter zu den Wänden. Er sah das Zellengitter und die Panik in seinen Augen wuchs.

„Tracker“, sagte ich leise und bekam damit sofort seine gesamte Aufmerksamkeit. „Sie haben dich heute Morgen hergebracht.“

Das schienen genau die falschen Worte gewesen zu sein – ich war in sowas einfach nicht gut. Statt sich zu beruhigen, hob und senkte seine Brust sich immer schneller. Er spannte die beeindruckenden Muskeln an und begann sich wieder gegen seine Gurte zu stemmen. Sein Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung.

„Das bringt nichts“, flüsterte ich eindringlich. „Du musst ruhig und kooperativ sein, damit sie dich wieder losmachen, sonst landest du genau wie ich an einer Kette und …“

Der Mann öffnete den Mund stieß ein wütendes Brüllen aus, das die Tracker auf keinen Fall überhört haben konnten. Doch der Schreck darüber war schon in der nächsten Sekunde Nebensache, denn etwas sprang mir ins Auge. Der Mann hatte keine Zunge. Da war nur noch ein kurzer Stummel, als hätte sie ihm jemand herausgeschnitten.

Wieder brüllte er und versuchte allein mit Muskelkraft frei zu kommen.

Die Zellentür wurde aufgerissen und Kit stürmte zusammen mit Sinead hinein. Er sah mich im Gang hocken, sah den Mann und warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. „Warum hast du uns nicht gerufen?“

Sinead schob sich an ihm vorbei und ging zum Bett. „Hey, ganz ruhig, du bist in Sicherheit, alles wird gut werden.“

Er riss den Mund auf und brüllte ein weiteres Mal. Die pure Wut schwang in diesem Laut mit.

Ich wich zurück und stieg rückwärts auf mein Bett. Nicht weil ich mich vor dem Mann fürchtete, sondern weil ich den Trackern nicht zu nahekommen wollte.

„Hey, wenn du dich so aufregst, ist das nicht gut für dich. Du bist noch immer nicht wieder gesund.“ Sinead streckte die Hand aus, als wollte sie ihn berühren. Daraufhin rastete der Mann völlig hin. Er brüllte, drehte und wandte sich. Die Decke über seinem Leib verrutschte und ich konnte sehen, wie die Gurte in seine Haut schnitten. Die Verschlüsse ächzten und dem Druck seiner Kraft, hielten aber.

„Ganz ruhig, hey, alles ist gut, niemand will dir etwas tun. Wir sind hier um dir zu helfen.“

Dascha tauchte neben Kit auf. Über ihrer Schulter hing die rote Tasche mit dem weißen Kreuz. Verdammt. „Stell ihn ruhig“, verlangte sie und reicht sie an Sinead weiter.

Der Mann biss die Zähne so fest zusammen, dass ich schon befürchtete, sie würden einfach brechen. Sie Sehnen an seinem Hals traten hervor und sein Gesicht war schon ganz rot vor Anstrengung.

„Ihr macht ihm Angst!“, fauchte ich sie an. Keiner beachtete mich.

Sin zog wieder diese Waffe aus der Tasche, ein Injektor, wie ich nun wusste und füllte sie mit einer Kapsel. Als sie sie jedoch an seinem Arm ansetzen wollte, wand der Mann sich noch heftiger. „Jemand muss ihn festhalten.“

Und natürlich war Kit sofort zur Stelle. Er stellte sich neben Sinead und drückte den Arm des Mannes fest auf das Bett, sodass ihm auch sein Gezappel nicht mehr halfen. „Mein Gott, ist der Bursche kräftig.“

Der Blick des Mannes traf mich. In seine Augen blitzte die blanke Panik.

Ich weiß nicht, was in diesem Moment über mich kam. Vielleicht war es einfach nur meine Angst, die sich nun Bahn brach, oder meine Unfähigkeit etwas für mich und Nikita zu tun. Vielleicht war es auch einfach nur diese völlige Hilflosigkeit, zu der sie den Mann verdammt hatten und dass sie glaubten, alles mit uns tun zu können, was sie wollten. Was es auch war, ich handelte ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken. In der einen Sekunde saß ich noch auf meinem Bett und sah mit an, wie Sinead den Injektor an den Arm des Mannes drückte und in der nächsten schnellte meine Bein nach vorne.

Ich traf Kit mit so viel Wucht gegen die Hüfte, dass er gegen Sin krachte und sie beide zu Boden gingen. Sinead landete auf der Tasche, Kits Kopf knallte gegen die Bettkante, bevor er auf seiner Kollegin landete.

„Kit!“ Dascha war sofort bei ihnen und erst als der hübsche Mann sich mit einem Stöhnen an den Kopf fasste, wurde mir klar, was ich da gerade getan hatte. Ich hatte einen Tracker angegriffen. Oh Gaia, wie hatte ich nur sowas Dummes tun können?

„Scheiße“, knurrte Kit und wälzte sich von Sinead. Diese Stöhnte leise und hielt sich die Seite. Offensichtlich hatte sie sich bei dem Sturz auch wehgetan.

Daschas Blick richtete sich auf mich und die Wut die ich darin sah, war mörderisch.

Am liebsten hätte ich leise gefiept und mich ganz klein gemacht. Stattdessen erwiderte ich ihren Blick mit eiskaltem Zorn und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie schnell mein Herz schlug. „Was du nicht willst, dass man dir tut, das füge auch keinem anderen zu.“

Daschas Augen wurden ein wenig schmaler.

„Wenn ihr glaubt, dass Ketten mich daran hindern, mich gegen euch zu wehren, dann habt ihr euch wohl getäuscht“, setzte ich noch drauf und konnte nur hoffen, dass mein Mut nicht mein Untergang sein würde.

Der Mann hatte aufgehört zu brüllen und beobachtete wachsam, was die Tracker nun taten.

Kit rappelte sich auf und humpelte auf dem linken Bein. Auch er schaute mich böse an. „Du hast einen verdammt harten Tritt.“

„Du stehst noch, also kann er nicht hart genug gewesen sein.“

„Es wäre besser für dich, wenn du jetzt den Mund hältst“, knurrte Dascha und half Sinead zurück auf die Beine. „Machst du sowas noch einmal, werden wir dich wieder festbinden.“

„Wenn ich sowas noch mal mache, werdet ihr hinterher nicht mehr aufstehen“, drohte ich und weigerte mich ihrem Starren auszuweichen. Ich wusste, die Sache konnte für mich übel nach hinten losgehen, aber ich hatte es satt, ängstlich in meinem Bett zu liegen, voller Sorge was die Zukunft für mich bereithielt.

Nikita tauchte im Türrahmen auf und schaute verwundert von einem zum anderen. „Was ist denn hier los?“

„Nur eine kleine Meinungsverschiedenheit“, murmelte Kit und hielt sich dabei die Hüfte. „Ich setzte mich mal einen Moment hin. Scheiße tut das weh.“ Er humpelte an Nikita vorbei und setzte sich auf den ersten Sitz, den er erreichen konnte.

Dascha warf mir noch einen warnenden Blick zu. Dann drehte sie sich blitzschnell um und hielt dem Riesen den Injektor an den Arm. Er brüllte auf, als das Beruhigungsmittel in seinen Kreislauf eindrang, aber es war bereits zu spät. Alles war so schnell gegangen. Ich wusste nicht mal, wie Dascha den Injektor in die Hand bekommen hatte. „Die Wagen müssten gleich halten, dann kümmern wir uns um das hier.“

Sinead nickte. „Ich werde nur noch kurz seine Vitalfunktionen überprüfen.“

„Tu das.“ Wieder richtete sich ihr Blick auf mich. „Und du benimmst dich jetzt.“

Ich antwortete nicht, was wohl auch eine Antwort war.

Auch Dascha befand, dass weitere Worte sinnlos waren. Sie kehrte mir einfach den Rücken und verließ die Zelle.

Nikita sah ihr stirnrunzelnd nach, bevor sie sich verunsichert an mich wandte. „Was hast du gemacht?“

„Meinem Unmut Ausdruck verliehen.“

Sie biss sich auf die Unterlippe, schaute noch einmal über ihre Schulter und setzte sich dann neben mich. „Das darfst du nicht“, flüsterte sie. „Ich will nicht, dass sie dir wehtun.“

Und ich hatte Angst davor, was sie tun würden, wenn ich mich nicht wehrte. Mein Blick glitt ab und richtete sich auf den Riesen, der gerade von Sinead untersucht wurde. Er wehrte sich nicht mehr, lag einfach nur mit leicht glasigen Augen da, während Sinead leise auf ihn einredete und dabei die Wunde an seinem Bein kontrollierte. In seinen Augen dämmerte das Verständnis. Langsam schien er zu verstehen, was mir bereits gestern klar vor Augen geführt worden war. Wir befanden uns in der Hand des Feindes und waren direkt auf dem Weg in die Stadt ohne Wiederkehr. Das Geräusch, das er machte, traf mich mitten in einem tiefen Teil meiner Psyche.

Ich griff nach Nikitas Hand und drückte sie ganz fest. Vierundzwanzig Stunden, das war alles was uns noch blieb. Es wurde Zeit endlich einen Weg hier raus zu finden. Wenn mir dieses Kunststück nicht gelang, war unser aller Leben verwirkt.

Aber ich würde nicht aufgeben. Es musste eine Möglichkeit geben die Ketten abzuwerfen. Vielleicht konnte der Riese mir ja dabei helfen. Vielleicht hatte ich in ihm ja einen Verbündeten gefunden. Er war immerhin ein großer, kräftiger Kerl und einen Mitstreiter zu haben, konnte nicht schaden.

Aber vorerst würde nichts dergleichen passieren. Sobald Sinead ihre Untersuchung abgeschlossen hatte, scheuchte sie Nikita aus der Zelle und verschloss diese dann. Mit meinem Angriff auf Kit hatte ich mir keinen Gefallen getan. Wenigstens blieb mir die kleine Befriedigung, ihm wehgetan zu haben.

Als die Sonne am Horizont verschwand und den Tag beendete, suchten die Tracker sich einen Platz für die Nacht. Dieses Mal hielten sie auf einer offenen Grasfläche, die so weit war, wie das Auge reichte. In der Ferne standen vereinzelt ein paar Bäume, aber das war auch schon alles.

Kit und Dascha kamen wieder, um ein Gespräch mit dem Mann zu führen. Leider erwies sich das als ein wenig schwer. Zum einen hatte der Mann keine Zunge, weswegen es eine sehr einseitige Unterhaltung war, zum anderen war er noch sturer als ich. Anstatt den Trackern zuzuhören, brüllte er sie die ganze Zeit nur an und begann sich wieder gegen seine Gurte zu wehren. Als Sinead später kam, um ihm etwas zu Essen zu geben, knurrte er wie ein wildes Tier und biss ihr fast einen Finger ab. Es endete damit, dass ich Sin den Teller wegnahm und den Riesen fragte, ob er das Essen von mir nahm. Nachdem er mit einem Nicken zugestimmt hatte, machte Sinead mir die Handschellen ab und schloss mich mit dem Mann in der Zelle ein.

Ich tat das nicht nur aus Herzensgüte, ich versprach mir auch etwas davon. Er war noch immer nicht gesund und musste daher essen. Außerdem wollte ich, dass er verstand, dass wir uns gegenseitig helfen mussten. Sprechen tat ich allerdings nicht viel, da ständig ein Tracker in der Nähe war.

Der Abend kam und ging, eine weitere schlaflose Nacht folge und machte einem verregneten Tag Platz. Draußen am Fenster zog die Landschaft an uns vorbei. Weite Wiesen, Felder und Weiden, abgelöst von zerfallenen Dörfern, zerstörten Städten und Ruinen voller vergessener Träume. Manchmal fuhren wir nur an ihnen vorbei, manchmal durch sie hindurch. Sie wechselten sich ab, mit schattigen Wäldchen dichter Bäume.

Teilweise waren die Straßen gut erhalten und wir fuhren so schnell, dass mir ein wenig mulmig wurde. Nicht mal auf den Rücken von Trotzkopf war ich so schnell vorwärtsgekommen. Dann wieder mussten wir sehr langsam fahren, um die Wagenkolonne zwischen heruntergekommenen Ruinen und zerfallenen Trümmerteilen hindurch zu navigieren. Kurz vor Mittag wurde der ganze Konvoi durch einen entwurzelten Baum aufgehalten, der quer über die Straße lag. Umfahren konnten wir ihn nicht, denn links und rechts war die Straße von den Überbleibseln einstiger Häuser blockiert. Umkehren und zurückfahren ging auch nicht. Die kleinen Wagen hätten es auf dem beengten Raum wahrscheinlich noch geschafft zu wenden, doch der Bus? Keine Chance. Und die Strecke war zu verworren und lang, um sie rückwärts in Angriff zu nehmen. Den Trackern blieb also gar nichts anderes übrig, als den Baum von der Straße zu schaffen, um weiter zu kommen. Dadurch verloren sie den Rest des Tages.

Als ich von dieser Misere erfuhr, machte sich Aufregung in mir breit. Das konnte die Chance sein, auf die ich gewartet hatte. Doch es ergab sich keine günstige, oder meinetwegen auch ungünstige, Gelegenheit, um meinen Entführern zu entkommen, denn sie ließen mich die ganze Zeit angekettet im Bus sitzen.

Mit jedem Kilometer, der an meinem Fenster vorbeirauschte, entfernte ich mich weiter von meinem Zuhause und kam damit Eden immer näher. Die Beklemmung in mich wuchs. Es gab keinen Ausweg. Am Abend des dritten Tages, war ich mittlerweile so verzweifelt, dass ich richtig Bauchschmerzen davon hatte. Dass Nikita schon wieder so vertraut mit Kit zusammensaß, machte die Situation auch nicht unbedingt besser.

Ich hatte Angst, dass die Tracker versuchten ihr eine Gehirnwäsche zu verpassten. Sie war erst fünfzehn Jahre und leicht beeinflussbar. Vielleicht war ich auch einfach nur ein wenig paranoid, wegen all der Geschichten, die mir über die Jahre zu Ohren gekommen waren. Andererseits war es diese Paranoider, die uns all die Jahre am Leben erhalten hatte. Wie dem auch sei, Nikita musste dringend dort weg. Nur hatte ich keine Möglichkeit das zu bewerkstelligen. So blieb mir mal wieder gar nichts anderes übrig, als in meinem Bett zu sitzen und tatenlos dabei zuzusehen, während draußen der Regen gegen die Fenster prasselte.

„Wie alt seid ihr eigentlich?“, wollte Kit wissen. Er saß wieder einmal mit dem Rücken zu mir, in einer der Sitznischen. Die Unterarme hatte er auf den Tisch gestützt, während er beobachtete, wie Nikita die Karten in ihrer Hand mischte. Ich kannte das Spiel nicht, das Kit ihr beigebracht hatte, aber Nikita schien es Spaß zu machen. Das war schon die vierte Runde.

„Ich bin letzten Herbst fünfzehn geworden. Kismet ist zweiundzwanzig.“

„Oha, ihr seid jünger als ich angenommen habe.“

Nikita grinste und gab die Karten aus. „Und du, wie alt bist du?“

„Rate mal.“

Ihr Mund verzog sich zu einer Schnute, als sie ihn nachdenklich von oben bis unten musterte. „Ende Dreißig?“

Kit riss den Kopf hoch. „Sehe ich wirklich sooo alt aus?“

Sie grinste völlig unbefangen. „Es geht.“

Der Bastard von Tracker tat so, als würde er sich ein Messer ins Herz rammen. „Ich bin gerade mal Einunddreißig, aber vielen Dank auch für die Kränkung meines Egos.“

Nikita lachte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein dein Ego so schnell kränken kann.“

„Langsam glaube ich, du hast einen völlig falschen Eindruck von mir.“

Vom anderen Bett gab es ein leises Brummen. Der Riese war immer noch mit den Gurten an das Bett geschnallt.

„Was ist los, mein Großer?“

Sein Blick wanderte von mir zu Nikita und dann wieder zurück zu mir. Er zog fragend eine Augenbraue hoch.

Ja, damit war natürlich alles klar. „Tut mir leid, ich weiß nicht, was du möchtest.“

Sein Mund verzog sich frustriert. Diese Sprachbarire zu überwinden, wenn man nicht mal die Hände frei hatte, war wirklich ein großes Problem. Ich hatte bereits versucht, mich mit ihm zu verständigen. Er verstand jedes Wort, aber mit seinen Antworten, war das so eine Sache. Alles was über ja und nein Antworten hinausging, war für uns beide entmutigend.

„Und? Wie haben du und deine Schwester euch durch die Welt geschlagen?“, fragte Kit und zog damit wieder meine Aufmerksamkeit auf sich.

„So wie die anderen es auch tun. Wir haben getan was wir mussten, um zu überleben.“

Er nahm seine Karten und begann sie in seiner Hand zu sortieren. „Wart ihr allein, oder gab es da noch jemanden anderen?“

Mir stellten sich alle Nackenhärchen auf. Das war kein kleines Gespräch zum Zeitvertreib, Kit horchte meine Schwester aus!

Nikitas Schultern wurden steif. „Unsere Eltern sind tot, falls du das meinst.“

Einen Moment sagte er gar nichts. Dann: „Das tut mir leid zu hören.“ Es hörte sich fast ehrlich an. Diese Tracker waren wirklich gute Schauspieler.

„Ist nicht so wichtig.“ Gleichgültig zuckte sie mit den Schultern, als wäre das nicht weiter von Bedeutung. „Mein Vater starb an einer Krankheit, als ich gerade mal ein Jahr war. Ich habe ihn also nie wirklich kennen gelernt.“

„Das ist schlimm. Ich selber kenne meinen Vater zwar nur flüchtig, aber zumindest weiß ich, wo ich ihn finden kann. Meine Mutter dagegen … naja, das ist ein Thema für sich.“ Er nahm eine seiner Karten und warf sie auf den Stapel in der Mitte. „Und deine Mutter? Was ist mir ihr?“

Du Mistkerl!

„Tot“, sagte Nikita kurz angebunden. „So ein paar Gauner haben sie und meinen großen Bruder umgebracht. Damals war ich vier.“ Sie senkte den Blick. „Kismet hat es gesehen“, fügte sie sehr leise hinzu.

Ich schloss die Augen und wehrte mich gegen die aufkommenden Erinnerungen. Das konnte ich jetzt wirklich nicht gebrauchen.

Nikita legte eine Karte ab, dann war Kit wieder an der Reihe. „Wie mir scheint, hat das Leben es mit euch beiden bisher nicht sehr gut gemeint.“

„Was einen nicht umbringt, macht einen stärker.“

„Wahrscheinlich.“ Er zog eine neue Karte und wartete auf ihren nächsten Zug. „Wie ging es mit euch danach weiter? Ich meine, ihr wart nur zwei kleine Kinder. Wie habt ihr überlebt?“

„Kiss war schon als Kind eine Überlebenskünstlerin“, antwortete Nikita ausweichend.

Na wenigstens besaß sie noch genug Verstand, um nicht all unsere Geheimnisse auszuplaudern.

Nur schien diese Antwort Kit nicht zufrieden zu stellen, also bohrte er weiter nach. „Wo habt ihr gelebt?“

„Hier und da. Was sich halt gerade so ergeben hat.“

Das stimmte. Zumindest am Anfang. Dann hatte Marshall uns entdeckt – und deswegen fast einen Arm verloren.

„Das heißt, ihr wart die ganze Zeit allein? Hab ihr euch keiner Gruppe angeschlossen?“

Wieder ein nichtssagendes Zucken mit den Schultern.

„Warum seid ihr nicht nach Eden gekommen? Dort wärt ihr sicher gewesen.“

„Das musst du wohl Kismet fragen. Ich war damals gerade mal vier, ich hatte keine Ahnung was um mich herum los war.“

„Ihr müsst ziemlich einsam gewesen sein.“

„Es geht. Wir sind ja nicht die einzigen Streuner hier draußen.“

Als sie dieses Wort benutzte, sträubten sich mir jedes einzelne Härchen im Nacken. Jetzt benutzte sie auch schon diesen Ausdruck.

„Das heißt, ihr beiden kennt noch andere Streuner?“

Nikita zögerte.

So, jetzt reichte es aber, Zeit für mich einzuschreiten. „Du glaubst wirklich, wir lassen uns entführen und beantworten dann auch noch all deine Fragen?“

Die beiden drehten sich überrascht zu mir herum, als seien sie erstaunt, dass ich auch noch da war und sprechen konnte.

Kit seufzte. „Wir haben niemanden entführt. Wir sind nicht die Bösen, Kismet.“

Ich klirrte demonstrativen mit der Kette meiner Handschellen.

Er zuckte mit den Schultern. „Vorsichtsmaßnahmen. Du bist nicht sehr kooperativ.“

„Oh Verzeihung. Wenn ich gefesselt und entführt werde, vergesse ich manchmal meine Manieren.“

Einen Moment hatte es den Anschein, als wollte Kit die Augen verdrehen.

„Kit hat mir gerade von Eden erzählt“, berichtete Nikita.

„In meinen Ohren hat es sich eher danach angehört, als würde er dich ausfragen.“ Der Vorwurf in meiner Stimme war volle Absicht.

„Wir haben ein Gespräch geführt“, erwiderte Kit schlicht. „Ich habe von mir erzählt und sie von euch.“

„Geschichten über dich und Eden? Ich hoffe du hast deine Lügen gut ausgeschmückt, um sie dem Kind so schmackhaft wie möglich zu machen.“

Nikita zog einen beleidigten Flunsch. Sie hasste es, wenn ich sie als Kind bezeichnete. In ihren Ohren war das schlicht und ergreifend eine Beleidigung, schließlich war sie seit dem letzten Herbst fünfzehn.

Kit ließ sich nicht unterkriegen. „Ich weiß was du denkst. Ich habe wirklich schon alles gehört. Von, wir fangen Streuner um sie zu versklaven, über, unmenschliche Experimente, bis hin zu satanistischen Ritualen, oder eben einfach nur, dass wir sie umbringen, weil wir so viel Spaß daran haben. Vor Kurzem hat mir sogar eine sehr schlagkräftige Streunerin vorgeworfen, wir seien Menschenjäger und Kannibalen.“ Seine Augen glänzten vor Erheiterung. „Alles Blödsinn sag ich euch.“

„Wenn es aber nun doch die Wahrheit wäre, würdest du es uns sicher nicht verraten.“

„Wahrscheinlich nicht.“ Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „Ihr werdet mir wohl einfach vertrauen müssen.“

Zur Antwort bekam er ein Schnauben von mir.

„Ich kann mir gut vorstellen wie schwer dir das fällt. Du hast dein ganzes Leben lang Geschichten gehört, die das Gegenteil von dem behaupten was ich dir jetzt sage. Natürlich …“

„Geschichten?“ Ich lachte scharf auf. „Es sind nicht die Gerüchte, die mich in meiner Überzeugung bestärken, sondern die Dinge, die ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe.“

„Du meinst Situationen, in denen wir Streuner auch gegen ihren Willen einsammeln, so wie deinen kleinen Freund da?“ Er beugte sich ein wenig vor. „Das tun wir nur zu ihrer eigenen Sicherheit – zu deiner Sicherheit und auch zu der deiner Schwester. Wir sind keine Zerstörer, wir retten unsere Zukunft.“

Natürlich. Alles für das Überleben. Darum hatten sie Nikita gefangen genommen und verpassten ihr seitdem eine Gehirnwäsche. Und auch nur deswegen hatten sie mich lahmgelegt und ans Bett gebunden. Ich konnte noch immer die Stelle fühlen, an der die Waffe mich getroffen hatte. Es war ein absolut erniedrigendes Erlebnis, einfach umzukippen und auf den dreckigen Boden zu klatschen, ohne sich dagegen wehren zu können. Fast so erniedrigend wie hier sitzen zu müssen und nichts dagegen tun zu können.

Kit seufzte. „Ich merke schon, auf diese Art komme ich bei dir nicht weiter.“

„Es gibt einen ganz einfachen Weg mich vom Gegenteil zu überzeugen.“

Ein wachsamer Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. „Ach ja? Und der wäre?“

„Lass mich und meine Schwester laufen. Zeig mir, dass ihr nicht die Monster seid, für die ich euch halte. Öffne einfach meine Fessel, gib mir meine Machete zurück und lass uns unbehelligt ziehen. Dann gebe ich deinen Worten vielleicht sogar eine Chance.“

Nikita spannte sich an, als bereitete sie sich schon mal auf die Flucht vor.

Er drückte die Lippen zusammen, als hätte er mit sowas bereits gerechnet. „Das werde ich nicht tun. Nicht weil ich böse bin, sondern weil ich es nicht bin.“

Ich schnaubte. Nichts anders hatte ich erwartet.

„Du wirst es schon noch verstehen. Wenn wir erst in Eden sind, kannst du gar nicht mehr anders, als mir zu glauben.“

„Willst du darauf wetten?“

Er schüttelte nur den Kopf über mein Verhalten und warf seine Karte achtlos auf den Tisch. „Ich werde mal was zu Essen und Wasser für euch besorgen. Sonst darf ich mir nachher wahrscheinlich noch anhören, ich lasse euch mir voller Absicht verhungern.“

Keiner sagte ein Wort, bis er aufgestanden und weiter nach vorne gegangen war. Erst als er außer Hörweite war, drehte Nikita sich wieder zu mir um. „Ich glaube, du hast ihn beleidigt.“

Als wenn mich das interessieren würde. „Du musst aufhören aus dem Nähkästchen zu plaudern. Die glauben, du seist leicht beeinflussbar, deswegen stellen sie dir all diese Fragen. Sie wollen die Aufenthaltsorte von anderen Menschen haben.“

Meine Schwester warf auch ihre Karten zu den anderen auf den Tisch. „Das weiß ich auch, ich bin nicht dumm. Sie können mir so viele Fragen stellen wie sie wollen, ich kann ihnen nichts verraten, denn ich weiß ja nichts.“

Natürlich wusste sie etwas, aber in unmittelbarer Nähe waren zu viele Leute, als dass sie hätte offen sprechen können. Es fiel mir schwer, aber ich musste darauf vertrauen, dass sie wusste, was sie tat und nichts und niemanden verraten würde. Da waren schließlich nicht nur Marshall und unsere Mischpoche. Wir kannten überall ein paar Leute und dann war da natürlich auch noch der Markt. Eine große Ansammlung von Menschen, die sich zwei Mal im Jahr trafen. Wenn die Tracker je davon erfuhren, wäre das ein gefundenes Fressen.

 

oOo

Kapitel 11

 

Die Weite breitete sich bis zum Horizont aus. Nichts als das smaragdgrüne Gras und der saphirblaue Himmel. Ein laues Lüftchen strich über die Halme und ließ sie sanft im Wind schaukeln.

Einsam und verlassen lag die Machete zwischen den grünen Halmen. Der Wind spielte mit dem gelben Band. Die scharfe Schneide blitzte im Sonnenlicht. Alles war ruhig, geradezu idyllisch. Nichts störte die Stille.

Meine kleine Hand wollte nach der Machete greifen, doch in dem Moment in dem ich sie berührte, begann sie zu beben und ich riss die Hand eilig zurück. Ein Schluchzen drang an meine Ohren. Auf der Suche nach dem Ursprung, drehte ich mich herum, doch es schien von überall zu kommen, vom Boden und vom Himmel, vom Gras und von der Luft. Das Schluchzen sprach von einer Verzweiflung, die sich tief in mein Herz bohrte und es zu zerreißen drohte.

Ich bekam Angst. Hier stimmte etwas nicht.

„Mama?“ Mein Ruf blieb ungehört, doch das Beben der Machete wurde stärker.

Plötzlich sickerte Blut aus den Tiefen. Erst war es nur ein dunkler Fleck, der sich langsam um die Machete herum ausbreitete. Aber es kam immer mehr, es sprudelte geradezu heraus, bis sich eine Lache um die Waffe gebildet hatte.

Das Blut lief über die Klinge und färbte sie rot. Es kam immer mehr, breitete sich zwischen den Grashalmen in alle Richtungen aus. Ich wollte zurücktreten, damit es mich nicht berührte, aber ich konnte mich nicht bewegen.

Mein kleines Herz schlug immer schneller, die Angst hatte mich in ihren Klauen. Das Blut berührte meine nackten Füße und in der glänzenden Oberfläche konnte ich meine Spiegelung erkennen. Nein, das war nicht ich, das war das Gesicht meiner Mutter und ihre toten Augen blickten mich direkt an. „Lauf.“

Ich riss die Augen auf und wusste einen Moment nicht wo ich war. Meine Finger hatten sich auf fast schmerzhafte Weise in die Matratze gegraben und mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ein Traum, das war nur ein Traum gewesen. Erleichtert schloss ich die Augen. Oh Gaia, warum nur konnte ich das nicht endlich vergessen?

Nicht weit von mir gab es ein leises Brummen. Als ich nicht darauf reagierte, wiederholte es sich. Ich öffnete die Augen wieder und begegnete dem fragenden Blick von dem Riesen. „Keine Sorge, mir geht es gut.“

Er sah nicht so aus, als würde er mir glauben. Vielleicht hatte ich ja im Schlaf gewimmert, oder so.

„Nur ein Traum“, sagte ich leise und setzte mich auf. Die Sonne hatte bereits ihren Höchsthand erreicht. Normalerweise schlief ich nie um diese Zeit, aber in den letzten Tagen war ich so gut wie gar nicht zur Ruhe gekommen. Eigentlich war es ein Wunder, dass mein Körper nicht schon früher die Segel gestrichen hatte. Lange konnte ich allerdings nicht weg gewesen sein.

Der Bus fuhr immer noch unaufhaltsam unserem Ziel entgegen. Nikita saß nach wie vor mit dem kleinen Jungen und Sinead an der Tischgruppe hinter der Zelle. Ich erschauderte, als ich daran dachte, was Dascha am Morgen verkündet hatte. Heute würden wir Eden erreichen. Und ich konnte nichts dagegen unternehmen.

Ich richtete den Blick aus dem Fenster. In der Ferne zogen vereinzelte Bäume und Ruinen vorbei. Dort wartete die Freiheit, unerreichbar für mich. Es war, als würde sie mich verhöhnen.

Kilometer um Kilometer hatte ich dabei zuschauen müssen, wie die Landschaft an unserem Konvoi vorbeiflog. Dunkle Ruinen die wie uralte Geisterschiffe auftauchten und wieder verschwanden. Ausgeweidete Lagerhäuser mit herausragenden Stahlträgern, ausgeschlachtete Autowracks, tückische Höhlen aus Beton, die früher sicher mal einen Sinn hatten, heute jedoch nur noch als Brutstätten wilder Tiere dienten. Nichts als Steine und vergessene Erinnerungen an längst vergangene Zeiten.

Unter dem Wagen knirschte und knackte es auf unserem Weg, über die zerbröckelnden Straßen. Überall rebellierte die Natur, angetrieben von der Zeit, alles zu überwuchern, was jemals von Menschenhand geschaffen worden war. Bäume so groß, dass ich ihre Spitzen nicht erkennen konnte, Wurzeln, die aus dem Erdboden brachen und uns das Vorankommen manchmal erschwerten. Doch leider schien nichts uns aufhalten zu können. Das trieb mich langsam aber sicher schier zur Verzweiflung.

Schritte nährten sich der Zelle. Die Tür wurde aufgeschoben. „Wir sind bald da“, verkündete Kit, als wäre das ein Grund zur Freude.

Ich starrte weiter resigniert aus dem Fenster, während in mir still die Wut zu brodeln begann. Ich hatte versagt. Eden war nicht mehr weit entfernt und sobald wir hinter den Mauern waren, würde es beinahe unmöglich werden, den Edenern zu entkommen. Verdammt, es war doch jetzt schon unmöglich! Mein Herz begann in der aufkeimenden Furcht wieder schneller zu schlagen.

„Kopf hoch“, sagte Kit, als wollte er mich aufmuntern. „Es wird alles gut werden.“

Einen Moment ließ ich die vorbeifliegende Landschaft aus den Augen und richtete meine Aufmerksamkeit auf ihn. Leider fand ich seinen Anblick nicht viel besser, als das, was ich draußen vor dem Fenster sah und schaute lieber wieder hinaus. Ich wollte es nicht riskieren wieder angegurtet zu werden, aber allein, wenn ich ihn anschaute, wurde ich wieder wütend und konnte nicht für mein Handeln garantieren. Es war keine richtige Aggression, es war die verzweifelte Angst, die sich mit jedem Kilometer, den wir uns vorwärtsbewegten, stärker in mir festsetzte und nicht gewillt war, in nahe Zukunft auch nur ein kleines Stückchen zu weichen.

Kit schien nicht aufgeben zu wollen. „Willst du etwas essen?“

Als wenn Essen diese Situation für mich irgendwie erträglicher machen könnte. „Ich habe keinen Hunger.“

„Kann ich verstehen. In Eden ist das Essen sowieso viel besser.“

In Nikitas Augen blitzte Interesse auf. „Was passiert denn, sobald wir in der Stadt sind?“

„Integration.“

„Hä?“

Kit lächelte. „Sobald wir die Stadt erreichen, werden wir euch und die anderen Streuner als erstes zum Aufnahmeinstitut auf der vierten Ebene bringen. Dort könnt ihr euch Waschen, bekommt saubere Kleidung und Essen und müsst einen kurzen Gesundheitscheck über euch ergehen lassen.“

Nikita schien ein Augenblick mit sich zu ringen, nicht sicher, welche Frage sie zuerst stellen sollte. Dann entschied sie sich für: „Vierte Ebene?“

„Der Stadtteil zwischen dem vierten und fünften Mauerring.“

Vierte und fünfte? Wie viele Mauern hatte diese Stadt denn bitte?

„Pass auf“, mischte sich Sinead auf Nikitas fragenden Blick hin ein. „Eden war ursprünglich nur ein kleiner Ort, mit ein paar hundert Menschen gewesen. Das war kurz vor der Wende gewesen.“

Damals, als die ganze Welt aus den Fugen geriet.

„Damals waren die Zeiten sehr unruhig“, erklärte Kit weiter. „Die Menschen kämpften ums Überleben und machten vor nichts und niemanden mehr halt. Darum wurde zum Schutz der Anwohner eine Mauer um Eden errichtet, die schon damals als unüberwindbar galt.“

„Und?“, fragte Nikita. „Ist sie das wirklich?“

„Ich weiß nicht. Ich habe es nie auf einen Versuch ankommen lassen. Aber wenn ich wirklich darauf ankommen lassen würde … sagen wir einfach mal so, ich glaube nichts ist unmöglich.“ Sin grinste sie an. „Wie dem auch sei. Nachdem der erste Ring errichtet wurde, kamen die Menschen, um dort Schutz zu suchen. Natürlich wurde der Platz sehr schnell sehr knapp und so begannen die Leute sich direkt vor der Mauer anzusiedeln und dort ihre Häuser zu errichten. Mit der Zeit wurden es so viele, dass man sich entschloss, noch einen weiteren Ring um die neu angesiedelten Menschen vor der Mauer zu bauen, um auch die Leute dort in Sicherheit zu bringen.“ Sie klickte mit ihren Fingernägeln auf den Tisch. „Aber so viele Menschen müssen natürlich auch versorgt werden, daher entwickelte man ein Konzept, um jeden Anwohner gerecht zu werden. Man legte Felder an, baute Unterkünfte, sorgte dafür, dass jeder eine Aufgabe hatte und seinen Beitrag leisten konnte. Die Stadt wuchs weiter. Heute verfügt sie über fünf Ringe und der sechste ist gerade mitten im Bau begriffen.“

„Fünf Ringe. Und überall leben Menschen?“

Dieses Mal war es Kit der antwortete. „Leben und arbeiten. In jedem Teil der Stadt sind andere Bereiche untergebracht. Auf der vierten Ebene befindet sich die Landwirtschaft. Bis vor kurzen waren dort auch noch die Quartiere der Tracker untergebracht, aber die hat man bereits mit ein paar anderen Einrichtungen auf die noch unfertige fünfte Ebene verlegt.“

„Andere Einrichtungen? Zum Beispiel die Aufnahmeinstitut?“

„Nein, das noch nicht.“ Lächelnd schüttelte Kit den Kopf, um seine Worte noch zu untermauern. „Wie du selber weißt, gibt es ein paar Streuner, die uns nicht ganz freiwillig begleiten.“

Nikita warf mir aus dem Augenwinkel einen kurzen Blick zu.

„Es wäre einfach nicht sinnvoll, sie an einen Ort zu bringen, an dem sie nicht sicher verwahrt sind“, fügte Sinead noch hinzu.

„Du meinst wohl, an dem sie leichter entkommen könnten“, murmelte ich vor mich hin und prägte mir seine Information ein. Vielleicht enthielten sie ja einen Hinweis, der mir später noch nützlich sein konnte.

Kit lächelte nur. „Das Aufnahmeinstitut wird erst auf die fünfte Ebene verlegt, wenn der sechste Ring fertiggestellt wurde. Aber das wird noch ein paar Monate dauern.“

Ah, dann brauchten sie die Sklaven wohl, um eine weitere unüberwindbare Mauer zu errichten. Ich warf einen Blick zu dem Riesen. Er hörte zu und auch ihm gefiel nicht, was ihm da an die Ohren drang.

„Und die anderen Ebenen?“, fragte Nikita. „Was ist da?“

„Hm mal überlegen.“ Kit setzte sich in Bewegung und ließ sich auf dem Platz neben Nikita sinken. So hatte er sowohl den Tisch, als auch die Zelle im Blick. „Auf der dritten Ebene wird viel Handel betrieben. Geschäfte, Märkte, alles was das Herz begehrt. Aber das ist nur ein kleiner Teil. Die meiste Fläche dort nutzen wir als Wohnfläche. Wir haben viele Menschen und die müssen ja auch irgendwo untergebracht werden. Die zweite Ebene ist ein reines Wohnviertel. Hochhäuser, kleine Hütten. Jeder verfügbare Platz dort wurde genutzt um Wohnraum zu schaffen. Auf der ersten Ebene befinden sich die Verwaltungsgebäude der Stadt und die medizinische Versorgung. Außerdem beherbergt diese Ebene den wohl größten Schatz der Menschheit.“

„Schatz?“ Nikita rutschte auf ihrem Platz ein wenig nach vorne. Ihre Augen blitzten begierig. „Was für ein Schatz?“

Kit schmunzelte. „Kinder.“

Ich horchte auf. In Eden gab es ein Viertel voller Kinder? Das war nicht möglich. Außerhalb meiner Familie, war ich in meinem ganzen Leben bisher nur einem einzigen Kind begegnet. Sie waren so selten, weil es einfach keine fruchtbaren Menschen mehr gab. Kits Worte konnten also nur eine Lüge sein.

Nikita wirkte enttäuscht.

„Nicht ganz das was du erwartet hast, was?“ Er schmunzelte.

„Kinder sind in Ordnung – denke ich.“

„Ja, das sind sie.“ Er beugte sich wieder ein wenig vor. „Der größte Schatz unserer Stadt sind die Kinder, aber das, was uns alle am Leben erhält, das ursprüngliche Eden, ist das eigentliche Herz unserer Stadt. Dort befindet sich auch der Wohnsitz der Despotin.“

„Sie ist gewissermaßen unsere Anführerin“, fügte Sinead zum leichteren Verständnis hinzu.

Mit einem Kopfnicken, stimmte Kit ihr zu. „Es wird vielleicht ein bisschen dauern, bis ihr euch zurechtfindet, aber jeder der nach Eden kommt, findet dort seinen Platz.“

„Ob er will oder nicht“, fügte ich bitter hinzu.

Etwas wie Mitgefühl, zeigte sich auf Kits Gesicht. „Es geschieht nur zu deinem Besten.“

Ich funkelte ihn an. „Wie kannst du dir die Freiheit herausnehmen, zu entscheiden, was für mich das Beste ist?“ Ja ich klang zickig und angriffslustig. Na und?

„Es ist die Erfahrung, die mir diese Freiheit gibt. Ich habe schon viele Menschen wie dich kennengelernt, Kismet. Auch du wirst einsichtig werden und am Ende dankbar sein.“

Das bezweifelte ich doch stark.

„Wann dürfen wir uns die Stadt anschauen?“, wollte Nikita wissen.

„Sobald man die Freigabe für euch erteilt. Wie bereits gesagt, erst kommen Kleinigkeiten wie duschen und essen. Dann die Untersuchung. Wir können euch nicht zu den anderen Menschen lassen, wenn ihr eine ansteckende Krankheit habt.“

Ja, weil das sein wertvolles Eden gefährden konnte. „Wie kommst du eigentlich darauf, dass wir bei alledem freiwillig mitmachen werden?“, fragte ich gerade heraus. „Ich kann mich verweigern.“

„Das würde ich dir nicht empfehlen.“

Da, das war eine eindeutige Drohung gewesen! Das erste Mal das seine Maske von Unschuld und Selbstlosigkeit bröckelte. Ich wollte mich sofort auf diesen Schwachpunkt stürzen, doch in dem Moment fragte Nikita: „Was ist das?“

Genau wie jeder andere – den Riesen einmal ausgenommen, denn der konnte sich ja nicht vom Fleck rühren – schauten wir links aus dem Fenster, dorthin, wohin Nikita zeigte.

Draußen erstreckte sich ein Feld, soweit das Auge reichte und drauf stand ein Meer aus riesigen, weißen Säulen. Unten Dick und oben dünn. Sie waren so hoch, dass ich das Gefühl bekam, sie würden gleich den Himmel streifen.

An der Spitze dieser Säulen befanden sich eine Art weiße Krone mit drei langen Segeln und diese drehten sich langsam. Doch das wirklich erstaunliche war, wie neu sie alle aussahen. Nichts schien kaputt oder eingestürzt zu sein.

Kit grinste über unsere erstaunten Blicke. „Das sind unsere Windräder“, erklärte er. „Der Wind treibt die Rotorblätter an und erzeugt damit Strom. Diese Energie wird dann an die Stadt weitergeleitet. Wir brauchen sie für Licht und Wärme und die ganze Technik in Eden.“

„Wie viele sind das?“, hörte ich mich fragen.

„Etwa zweihundert. Aber ohne unseren Staudamm und die Solaranlagen, würde die Energie nicht reichen.“

Zweihundert?! Wie viele Menschen waren nötig gewesen, um die alle zu errichten?

Unser Starren wurde unterbrochen, als Dascha nach hinten trat. Es folgten die schlimmsten Worte die mir seit langem zu Ohren gekommen waren.

„Wir sind gleich da.“

Mein Blick schnellte sofort nach vorne und richtete sich auf das, was mit rasender Geschwindigkeit auf uns zukam, eine hohe Mauer von ungeahnten Ausmaßen.

Mein Herz begann mit einer Geschwindigkeit zu schlagen, die sicher nicht gesund war. Und zu meinem Leidwesen musste ich gestehen, dass es nicht allein an der Angst lag. Da war noch etwas anderes, eine Spur von Aufregung. Sowohl im positiven, als auch im negativen Sinne. Wo kam die bitte plötzlich her?

Direkt vor uns erhoben sich die Stadttore von Eden. Sie waren groß, geradezu riesig. Fünfundzwanzig, vielleicht dreißig Fuß hoch, glatter, tadelloser Stahlbeton. Sauber, ohne Moosflechten, Rissen oder Unreinheiten. Dieser Beton war makellos. Sowas hatte ich noch nie gesehen.

Der Torbogen hatte noch keine Tore. War im Moment auch noch nicht nötig, da die Mauer auf der rechten Seite sich gerade mal im Anfangsstadion befand. Ein einfaches Gerüst, das bisher vielleicht hundert Fuß weit reichte. Auf der linken Seite dagegen hatte man die Mauer bereits hochgezogen. Ich sah sie in der Ferne eine Kurve schlagen und mit dem Horizont verschmelzen.

Eines allerdings hatten sie bereits fertig gestellt: Die Straße, auf der wir uns bewegten und auf direktem Wege in die Stadt führte.

Ich rutschte unbehaglich auf meinen Sitz herum, während Nikita sich die Nase an der Scheibe plattdrückte. Es war helllichter Tag, keine Wolke am Himmel, die Sonne schien, als wolle sie uns herzlich willkommen heißen. Beste Voraussetzung dafür, sich alles genau anschauen zu können.

Der Sechste Ring war eine riesige Baustelle. Da waren Maschinen mit Rädern, große Baufahrzeuge. Kein Rost, keine abgeblätterte Farbe und zerstörte Teile. Nichts an ihnen zeigte den Verfall, der in der restlichen Welt herrschte. Doch das Erstaunlichste war nicht der gute Zustand dieser Maschinen, sondern dass sie wirklich funktionierten. Sie fuhren von links nach rechts, schoben Erde von hier nach dort oder hoben schwere Stahlträger. Aber etwas ganz anderes war viel interessanter: Die Leute die sich auf dieser Baustelle bewegten.

„Sind das alles Menschen?“, fragte Nikita erstaunt.

Die beiden alten Männer und die rothaarige Frau, klebten mittlerweile auch mit den Gesichtern an den Fenstern. Selbst der Riese hatte den Kopf gedreht, aber aus seiner Position konnte er nur den Himmel sehen.

Kit lächelte. „Es ist nur ein kleiner Teil der Bevölkerung von Eden.“

Ein kleiner Teil? Das waren mindestens … ich wusste nicht wie viele es waren, aber noch nie in meinem Leben hatte ich so viele Menschen auf einem Fleck gesehen. Ich hatte nicht mal gewusst, dass es noch so viel von uns gab! Aber etwas an ihnen allen war seltsam: Ihre Haarfarben. Blau und grün und rot und bunt. Gestreift und gepunktet. Selbst die Bärte der Männer waren farbig.

„Wie viele Menschen leben in Eden?“, fragte Nikita und drehte sich ein wenig um die Baustelle im Auge behalten zu können, während wir an ihr vorbeifuhren und uns dann immer weiter von ihr entfernten.

„Die Zahlen schwanken immer ein bisschen, aber im Moment beherbergt die Stadt etwas mehr als vierzehntausend Bewohner.“

„Vierzehntausend?!“ Ja das war von mir gekommen und nein, ich hatte mein Erstaunen und Unglauben in diesem Moment nicht verbergen können.

Kit lächelte mich an. „Ja, so plus minus ein- zweihundert vielleicht. Die genauen Zahlen sind mir leider nicht bekannt.“

Ich wurde wieder misstrauisch. „So viele Menschen gibt es gar nicht mehr.“

„Oh du würdest dich wundern. Aber wenn man überlegt wie groß die Menschheit einst gewesen ist, dann ist dies nur ein kläglicher Rest.“

Vielleicht. Ich konnte es mir trotzdem nicht vorstellen. Vierzehntausend Menschen an ein und demselben Fleck? Und ich hatte immer geglaubt, Marshalls Gruppe mit fünf Leuten, sei schon groß.

Ein Geräusch näherte sich uns. Erst war es nur leise, dann wurde es lauter. Ich schaute aus dem Fenster um die Ursache herauszubekommen und sah etwas Großes, dass in einiger Entfernung über den Himmel flog. Es war kein Vogel, dafür war es zu groß. Außerdem waren Vögel nach meinen letzten Kenntnissen nicht aus Metall. Und sie machten auch nicht so einen Lärm.

„Guck mal, da fliegt was“, sagte der kleine Junge und zeigte durch das Fenster.

Sinead nickte. „Das ist ein Aero-Hub, ein solarbetriebenes Flugzeug. Wir nutzen es für weiter entfernte Missionen, oder wenn es sehr schnell gehen muss. Darin haben bis zu acht Personen Platz.“

Die Edener konnten sich auch durch die Luft bewegen? Ich wusste, dass das vor der Wende möglich gewesen war. Verdammt, ich lebte in einem Flugzeug, aber ich hatte noch nie eine solch riesige Maschine in der Luft gesehen. Und ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass ich es jemals sehen würde.

Langsam entfernte der Konvoi sich von der Baustelle und rollte über eine gerodete Fläche von vielleicht drei oder vier Kilometern. Dann wurde der Bus langsamer und hielt gleich darauf direkt hinter dem Transporter. Wir befanden uns vor einem weiteren Stadttor, der Eingang zur vierten Ebene. Und dieser Torbogen hatte bereits Tore. Sie waren verschlossen. Links und rechts von ihnen erhob sich der fünfte Ring von Eden. Unendlich hohe Mauern aus einwandfreiem Stahlbeton mit kleinen, schmalen Fenstern. Nein, keine Fenster, Schießscharten. Es war schwer zu erkennen, aber ich glaubte hinter ein paar von ihnen Bewegungen ausmachen zu können. Wachposten.

„Warum haben wir gehalten?“, wollte Nikita wissen. „Sind wir schon da?“

Dascha schüttelte den Kopf. „Die Tore müssen erst geöffnet werden, das dauert einen Moment.“

Aber dieser Moment ging viel zu schnell vorbei. Die beiden Jeeps setzten sich als erstes in Bewegung, der Transporter folgte ihnen und dann fuhr auch der Bus wieder an. Das Tor kam näher und ragte dann direkt vor uns auf.

Das war der Moment in dem mein Puls zu rasen begann, auch wenn ich versuchte es mir nicht anmerken zu lassen.

Ja, wir hatten bereits ein Tor durchfahren und auch einen Mauerring hinter uns zurückgelassen, aber diese waren unvollständig. Es wäre kein Problem gewesen sie zu überwinden. Der fünfte Ring dagegen bedeutete in der Falle zu sitzen. Sobald die Tore sich hinter mir schlossen, wäre ich eine Gefangene. Gut, das war ich auch jetzt schon, aber im Moment saß ich nur im Regen. Hinter diesen Mauern wäre ich in der Traufe. Das konnte ich nicht zulassen.

Mit plötzlicher Panik riss ich an meinen Handschellen. Es gab ein lautes Scheppern, als sie gegen die Stange knallten, die mich an Ort und Stelle festhielt. Alle im Wagen zuckten überrascht zusammen. Der Riese riss den Kopf herum.

Ich riss ein weiteres Mal daran.

Keiner der Tracker geriet auch nur in Versuchung, mich an meinem Tun zu hindern.

„Das wird nichts bringen“, erklärte Kit ruhig.

Ich ignorierte ihn und versuchte es ein weiteres Mal. Mir war klar, dass es vergebene Liebesmüh war, doch ich konnte das nicht einfach zulassen. Ich musste etwas unternehmen. Und so zerrte und zog ich an meinen Fesseln, während wir das Tor passierten und dem Verlauf der Straße ins Innere der vierten Ebene folgten.

„Kiss.“ Nikita legte mir eine Hand auf den Arm.

Ich starrte sie an, sah ihren ruhigen Blick. Ich hatte gar nicht mitbekommen, wie sie aufgestanden war und sich mir genähert hatte. Sie hatte keine Angst, natürlich nicht, sie hatte schließlich nicht gesehen was ich gesehen hatte. Sie war noch viel zu klein gewesen, kannte nur die Geschichten, die ihr ihr erzählt hatte, Gerüchte die in der freien Welt geflüstert wurden. Da war nichts was einen bleibenden Eindruck bei ihr hätte hinterlassen können. Sie sah nur ein neues Abenteuer, so wie sie es jeden Tag suchte, wenn sie durch die Ruinen strich.

Ich kniff die Augen zusammen, klammerte mich mit beiden Händen an die Stange und versuchte meine innere Ruhe wiederzufinden. Hier auszuflippen würde mir nicht helfen. Ich musste einen klaren Kopf bewahren, wach im Verstand und scharf im Blick. Ich durfte mir nichts entgehen lassen, wenn ich jemals einen Weg finden wollte, ihnen zu entkommen.

Ich rief mir Marshalls Devise in den Kopf. Ruhe und Geduld. Meine Zeit würde kommen. Aber nicht jetzt. Jetzt musste ich mich erstmal zusammenreißen, damit sie mich nicht wieder von Kopf bis Fuß verschnürten. Dann wäre ich wehrlos, völlig ausgeliefert. Und das mitten in Eden. Soweit durfte ich es nicht kommen lassen.

Reiß dich einfach zusammen, verdammt noch mal!

Während ich versuchte mich zu beruhigen und meinem eigenen Befehl zu folgen, brachte der Bus uns tiefer in die vierte Ebene hinein. Viel gab es nicht zu sehen. Riesige Felder und umzäunte Viehweiden, die Trotzkopfs Pferch wie einen schlechten Witz wirken ließen. Ich hatte noch nie welche gesehen, aber meine Mutter hatte uns oft Geschichten aus der Zeit vor der Wende erzählt.

Die Felder reichten von einer Mauer bis an die nächsten, nur unterbrochen von Straßen und gelegentlich einem Haus oder einem Stall. Ich glaubte Mais zu erkennen, auch wenn ich noch nie so viel davon auf einem Fleck gesehen hatte und Gerste. Dann waren da Rinder neben einer Weide, auf der kleine Wattebäusche grasten. Sie hatten eine entfernte Ähnlichkeit mit einer Ziege, waren weiß und wollig. Solche Tiere hatte ich noch nie gesehen. Menschen gab es hier jedoch nur wenige. Ein paar auf den Feldern. In der Ferne konnte ich einen Wagen erkennen, der neben einer Viehweide entlangfuhr. Er gehörte nicht zu unserem Konvoi.

Wir fuhren direkt auf die Mauer zu, die die dritte Ebene umschloss. Dieses Mal jedoch passierten wir das Tor nicht, sondern bogen kurz vorher auf der Straße nach rechts zu einer größeren Gebäudegruppe ab, die durch strategisch gepflanzte Bäume, das ganze Areal ein wenig von den Feldern und Viehweiden abschnitt – eine rein optische Täuschung, denn es gab keine Zäune.

Vor uns taten sich mehrere Gebäude auf. Ein großes in L-Form, das über drei Etagen verfügte. Daneben ein etwas Kleineres, rechteckiges. Dann noch ein langgezogenes, das höher war als die anderen beiden zusammen. Dahinter konnte ich noch ein paar erkennen, doch sie waren von den anderen so weit verborgen, dass ich nichts Genaueres sehen konnte. Aber sie alle hatten etwas gemeinsam. Stahlbeton, viel Glas und ein praktisch makelloses Äußeres.

Ein paar Tracker liefen außen am Gebäude vorbei. Einer von diesen Männern, hatte einen schwarzblau gestreiften Bart. Die Haare der Frau neben ihm, waren rosa. Sie waren wirklich rosa. Wie war das möglich? Die Antwort war ganz einfach, menschliche Experimente. Kein Mensch kam mit einer solchen Haarfarbe auf die Welt, außer man veränderte etwas Grundlegendes an ihm.

Ich starrte den Trackern noch immer hinterher, als unsere Wagenkolonne das L-förmige Gebäude umfuhr und von hinten auf etwas zuhielt, das mich entfernt an unseren Flugzeughangar erinnerte. Es war eine große Halle, die direkt an das große Gebäude anschloss. Im Gegensatz zu unserem Hangar, besaß dieser Gebäudeteil noch seine Tore und diese waren geschlossen.

Das hielt jedoch nicht lange an, denn als wir uns ihnen näherten, gab es ein akustisches Signal und rotierende Lichter an dem Gebäude begannen zu blinken.

Mein Herzschlag beschleunigte sich wieder, als die Tore sich langsam nach links und rechts aufschoben.

In dem anderen Bett begann der Riese sich in seinen Gurten zu winden. Bisher hatte er vielleicht nicht viel gesehen, aber diesem Gebäude waren wir so nahe, dass er selbst in seiner Position nun mitbekam, was direkt vor uns war. Er stieß ein seltsames Geräusch aus und zu der Wut und dem Hass in seinen Augen, gesellte sich nun auch noch Angst.

Immer weiter öffneten sich die Tore, wie der Rachen einer unheimlichen Bestie.

Ich wollte da nicht rein. Oh Gaia, ich wollte dort absolut nicht hinein, aber der erste Jeep setzte sich bereits in Bewegung und ließ sich von dem Gebäude verschlucken. Der Zweite folgte ihm direkt und dann verschwand auch der Transporter darin.

Meine Hände gruben sich in die weiche Matratze, als auch der Bus sich wieder in Bewegung setzte.

„Ist das nicht aufregend?“, fragte Sinead und der kleine Junge nickte, obwohl er sich an ihr festklammerte.

Nikitas Augen waren riesig.

Langsam fuhren wir durch die Tore.

Ich drückte mich soweit es ging, mit dem Rücken an die Wand, als könnte ich das Unausweichliche so noch ein wenig hinauszögern.

Die Tore waren groß genug, damit der Bus bequem hindurch passte. Er fuhr nur noch ein kleines Stück und hielt dann in einer Reihe neben den anderen Wagen unserer Kolonne.

„So, wir sind da“, verkündete Dascha.

Ich wirbelte im Sitzen herum und sah nach hinten zu den Toren, die sich nun langsam wieder schlossen. Ohne menschliche Hilfe schoben sie sich immer weiter zusammen, bis nur noch ein schmaler Streifen vom blauen Himmel zu sehen war. Doch auch der verschwand. Es gab wieder ein Signal. Dann waren die Tore geschlossen und ich in dem Gebäude gefangen.

Ich saß in der Falle.

 

oOo

Kapitel 12

 

„Meine Damen und Herren, wir sind endlich wieder zu Hause“, verkündete Dascha und erntete damit ein paar fröhliche Rufe, von den anderen Tracken. „An unsere Neuankömmlinge: Zeit auszusteigen. Nehmt alles mit was ihr braucht und sammelt euch dann bitte vor dem Bus.“

„Das ist so aufregend“, erklärte Sinead mit einem Strahlen im Gesicht und rutschte von der Sitzbank. Der kleine Junge folgte ihr und klammerte sich an ihre Hand. „Keine Angst“, beruhigte sie ihn und strich ihm in einer liebevollen Geste über den Kopf. „Alles wird gut, das verspreche ich. Jetzt beginnt dein neues Leben.“

Er nickte nur und ließ sich dann wortlos von ihr aus dem Bus bringen.

Auch die anderen Leute lösten ihre Blicke von den Scheiben und folgten Daschas Aufforderung. Die rothaarige Frau ging direkt zur Tür. Einer der Männer nahm noch etwas aus seinem Bett, bevor er ihr folgte. Der zweite Mann zögerte, ging dann aber auch zusammen mit Dascha nach draußen.

In mir machte sich ein sehr mulmiges Gefühl breit, als ich sah, wie Nikita sich von ihrem Platz erhob, um sich der Gruppe anzuschließen. Aber dann bewegte sie sich nicht mehr. Unschlüssig schaute sie von mir zu Dascha und dann wieder zurück.

„Keine Sorge, hier wird dir nichts passieren“, versicherte Kit ihr und drückte ihre Schulter.

Ich wollte ihn anschreien, dass er sie nicht anfassen sollte, aber etwas hielt mich zurück. Ich war jetzt auf ihrem Territorium und auch, wenn ich es nicht zugeben wollte, diese Tatsache verunsicherte mich.

Nikita wirkte nicht überzeugt, aber nach einem letzten Blick auf mich, zog sie die Schultern ein, als wollte sie kleiner wirken und folgte den andern nach draußen.

Ich schaute Nikita hinterher, beobachtete, wie sie den Bus verließ und erstmal stehen blieb. Ihr Blick ging nervös von einer Seite zur anderen. Damit waren jetzt nur noch der Riese, Kit und ich im Bus.

Das gefiel mir nicht. Ich wollte nicht, dass sie da draußen war und sich dem alleine stellen musste. Genauso wenig wie es mir gefiel, dass Kit in die Zelle kam und sich ans Fußende meines Bettes setzte.

„Hast du keine Angst, dass ich dich wieder trete?“

„Was wäre das Leben ohne ein wenig Risiko?“

Seine Art von Humor würde ich wohl nie verstehen. Vielleicht war das etwas, dass nur den Städtern zu eigen war.

„So, dann wollen wir mal zum geschäftlichen Teil kommen.“ Er lehnte sich vor und stützte seine Unterarme, in einer inzwischen vertrauten Geste, auf seinen Knien ab. „Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten“, erklärte er uns und hielt einen Finger hoch. „Nummer eins: Ich entferne alle bewegungseinschränkenden Maßnahmen und wir verlassen den Bus wie gesittete Leute. Dann werdet ihr mich in das Aufnahmeinstitut begleiten und tun was man euch sagt.“

Ich schnaubte. Der Riese gab ein ähnliches Geräusch von sich.

Kit ignorierte das und hob noch einen Finger. „Nummer zwei: Ihr könnt euch weiter wie zwei Wilde aufführen und euch nach Leibeskräften wehren, Zeter und Mordio brüllen und euren unrealistischen Phantasien weiter frönen. Dann bleiben eure Sicherungen dran. Ihr werdet trotzdem ins Aufnahmeinstitut gebracht und dort tun müssen, was wir euch sagen. Es wird dann nur leider unbequemer werden und eure Bewegungsfreiheit bleibt extrem einschränken.“

Ich kniff die Augen leicht zusammen. Eigentlich gab es da nur eines was ich tun konnte.

„Und wenn ihr jetzt auf die Idee kommt, euch friedlich zu geben, damit ich die Sicherungen entferne und dann eure neu erlangte Freiheit dazu nutzt und anzugreifen, hier ein Wort der Warnung: Dascha und ich sind hier nicht die einzigen Tracker. Das Aufnahmeinstitut ist sozusagen unser Hauptquartier. Wenn wir nicht draußen sind um Streuner zu suchen, leisten wir unseren Dienst hier. Das bedeutet, jeder Tracker, der nicht gerade auf einer Expeditionstour ist, befindet sich in diesem Gebäude.“ Er fixierte erst mich, dann den Riesen mit einem sehr eindringlichen Blick. „Um ganz deutlich zu werden, wir sind euch hier deutlich überlegen.“

Und damit hatte sich mein Vorhaben sofort wieder in Luft aufgelöst.

Ein Gefühl der Machtlosigkeit überkam mich. Ich versuchte es nicht zu zeigen, doch ich spürte wie meine Schultern nach vorne sackten und mein Mut sank.

„Wie entscheidet ihr euch?“

„Als wenn das noch wichtig wäre.“ Wie hatte es nur so weit kommen können? Seit elf Jahren hielt ich mich so weit wie möglich von Eden entfernt. Wir hatten unser Zuhaue extra in einer Gegend gesucht, die schon seit ewigen Zeiten nicht mehr im Fokus der Tracker gelegen hatte. Und doch war ich nun hier und hatte keinen blassen Schimmer, was ich nun tun sollte. Ich konnte mich ihnen nicht ergeben. Das ging einfach nicht.

„Es ist wichtig“, sagte Kit leise. „Ich weiß, dass du mir nicht glaubst, aber wir möchten, dass auch du dich hier wohlfühlst.“

Aber sicher doch. „Solange ich dabei tue was ihr von mir verlangt.“

„Wir verlangen nichts Menschenunwürdiges von dir, nur dass du dich zivilisiert benimmst. Nicht mehr und nicht weniger.“

Es wäre so schön gewesen, das glauben zu können, aber ich wusste es besser – viel besser. Ich hatte in die wahren Gesichter dieser Monster geblickt.

Im anderen Bett brüllte der Riese vor Wut auf und stemmte sich einmal mehr gegen seine Fesseln. Er wusste, dass das nichts brachte, aber was sonst sollte er tun?

„Dich brauche ich gar nicht erst fragen, du wirst uns auf jeden Fall Schwierigkeiten machen, oder Großer?“

Der Blick des Riesen war mörderisch. Er gab ein Geräusch der Wut von und wäre er nicht festgebunden gewesen, hätte er Kit wohl mit bloßen Händen den Hals umgedreht.

Kit seufzte. „Was ist mit dir, kann ich wenigstens an deine Vernunft appellieren?“

Er kannte die Antwort genauso gut wie ich, aber er wollte, dass ich es sagte. Dafür hasste ich ihn. „Nimm mir die Fesseln ab.“ Denn solange ich die trug, würde ich es niemals aus Eden hinausschaffen. Und Nikita brauchte mich, vielleicht mehr als jemals zuvor in ihrem Leben.

„Und du wirst dich benehmen und tun was wir sagen?“

Oh ja. Das was ich spürte war richtig brennender Hass. „Ja“, quetschte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und verachtete mich selbst dafür. Ich hatte nachgegeben. Natürlich nur um eine Chance zu bekommen, doch das zählte nur wenig.

„Gute Entscheidung.“ Zufrieden griff Kit nach meinem rechten Handgelenk und strich mit dem Handballen über die Verriegelung. „Du wirst es nicht bereuen, glaub mir.“ Die Schellen summten kurz. Dann klickte es und Kit konnte sie mir abnehmen.

Als er sie an eine Schlaufe an seinem Gürtel hängte, musste ich die Versuchung widerstehen, ihm einen Fausthieb zu verpassen. Stattdessen rieb ich mir über das Handgelenk. Ja, die Schellen waren zwar gepolstert, aber die Haut war trotzdem gerötet vom Scheuern.

„So.“ Kit erhob sich. „Ist doch gleich viel besser, oder?“

Ich sparte mir jede Erwiderung und rutschte vom Bett. Mein Rücken und meine Beine waren nach der langen Zwangshaltung ein wenig steif und kribbelten unangenehm, aber wenigstens blieb ich ohne Hilfe stehen.

Der Riese brummte und als ich mich nach ihm umsah, begegneten sich unsere Blicke. In seinen Augen funkelte der gleiche Hass, den auch ich verspürte.

„Was geschieht mit ihm?“

„Er wird reingebracht, sobald der Rest von euch so weit fertig ist.“

Fertig ist? „Was bedeutet das?“

„Um das zu erfahren, wirst du wohl den Bus verlassen müssen.“ Kit lächelte mich an und versuchte mir die Hand auf den Rücken zu legen, um mich aus der Zelle zuschieben. „Komm, die anderen …“

Ich wich ihm hastig aus. „Fass mich nicht an!“

„Okay.“ Er hob ergeben die Hände. „Ich werde dir nicht zu nahekommen. Versprochen.“

Als wenn ich etwas auf seine Versprechen geben würde. Mein Blick warnte ihn davor, mich noch einmal zu berühren. Dann drehte ich mich um und ging den Gang hinunter. Ich wollte Nikita nicht länger als nötig alleine lassen.

Hinter mir brüllte der Riese auf und einen Moment tat es mir leid, ihn alleine lassen zu müssen, aber ich musste zu meiner Schwester.

Sie stand mit den anderen ganz links in der Halle, vor einer großen Doppeltür mit Glasfenstern. Kit dirigierte mich wortlos in diese Richtung. Doch die Leute dort waren nicht die einzigen in der Halle. Mit einem lauten Signalton, schoben die großen Tore sich wieder auf und ein anderer Konvoi verließ nacheinander das Gebäude. Es gab auch noch andere Jeeps, Transporter und Busse, die halbe Halle war voll mit ihnen und überall liefen Tracker in grünen Tarnanzügen, mit dem Emblem vom Eden auf der Brust, herum. Kit hatte recht, zahlenmäßig war ich ihnen wirklich weit unterlegen. Plötzlich fühlte ich mich sehr verwundbar. Dieses Gefühl mochte ich nicht.

Die Gruppe an der Tür war sehr still, nur die Tracker unterhielten sich leise miteinander. Ohne einen von ihnen zu beachten, ging ich direkt zu Nikita, die nervös mit ihren Fingern spielte. Als ich mich neben sie stellte, huschte Erleichterung über ihr Gesicht.

„Da bist du ja.“

Ich nickte einfach nur, denn ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Stattdessen griff ich nach ihrer Hand, nicht sicher, ob ich sie oder mich selber damit ein wenig beruhigen wollte.

Mit Nikita und mir standen nun sechs Streuner vor der Tür und schienen auf etwas zu warten. Da war die rothaarige Frau. Sie hielt sich ein wenig abseits. Die beiden alten Männer, standen dicht beieinander gedrängt da, als würden sie Schutz suchen. Und dann gab es da noch den kleinen Jungen, der sich an Sineads Hand klammerte, die Augen groß vor Angst.

Der Anblick gab meiner Wut neue Nahrung. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, was die Tracker getan hatten, um an ihn heranzukommen.

„Du zitterst.“ Nikita schaute zu mir auf. „Ist dir kalt?“

„Nein“, knurrte ich und versuchte mich wieder unter Kontrolle zu bekommen, bevor Kit auffallen konnte, dass etwas nicht stimmte.

In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Aufnahmeinstitut. Sie wurde nicht aufgezogen, nein, sie schob sich von ganz alleine zur Seite und verschwand in der Wand. Es sah aus, als würde die Wand sie in sich aufsaugen. Dahinter kam eine Frau in Begleitung zweier uniformierter Tracker in Sicht. Sie hatte kurzes, feuerrotes Haar, das zu einem festen Knoten an den Kopf gebunden war und ihr strenges Gesicht dadurch noch kantiger wirken ließ. Ihr Gesicht war ziemlich auffällig geschminkt. Nicht übermäßig, sondern eher ausgefallen, oder ungewöhnlich. Sie war ein bisschen kleiner als ich, dürr. Ihr Körper steckte in einem eleganten olivfarbenen Jumpsuit, passend zu ihrer Schminke. An ihren Fingern blitzten mehrere Ringe. In ihrer linken Armbeuge hielt sie ein blaues Brett, dem sie keine Beachtung schenkte.

Langsam ließ sie den Blick über die Ausbeute der Tracker wandern und ließ dabei nicht erkennen, in welche Richtung ihre Gedanken glitten.

Brauchte sie auch nicht, ich konnte es mir bereits denken. So nobel und aufragend wie sie dort stand, das genaue Gegenteil von den zerlumpten Gestalten zu ihren Füßen. Sie hielt sich garantiert für etwas Besseres, als uns niedere Hinterwäldler, aus der unzivilisierten Wildnis. Vielleicht schätzte sie auch ab, wer von uns einen guten Sklaven abgeben würde und wen man besser zur Schlachtbank führte und von seinem Elend erlöste.

Diese Überlegung ließ mich schaudern, doch ich zwang mich ruhig zu bleiben. Meiner Furcht und der unbändigen Wut freien Lauf zu lassen, war im Moment keine Option, nicht wenn wir es hier heil herausschaffen wollten.

Nach einem langen Moment, in dem sie uns nur gemustert hatte, trat sie zwei Schritte vor. „Hallo alle zusammen. Ich freue mich, dass sie den Weg zu uns gefunden haben. Daher: Willkommen in der letzten Zuflucht der Menschheit, willkommen in der Stadt der Hoffnung und willkommen in Eden.“ Ihre Lippen verzogen sich leicht nach oben, als hätte sie einen Witz gemacht, den nur sie verstand. Doch dieser Ansatz eines Lächelns wirkte eher gezwungen als ehrlich, so als wäre es ihre Pflicht, uns mit einem Lächeln zu begrüßen. „Mein Name ist Anett Gersten. Ich spreche nicht nur für mich selbst, sondern auch im Namen unserer allseits geachteten Despotin Agnes Nazarova, wenn ich sage, was für eine Freude es ist, sie alle bei uns begrüßen zu dürfen.“

Hm, für meinen Geschmack betonte sie ein wenig zu oft, wie sehr sie sich über unseren Anblick freute.

„Heute beginnt für sie alle ein neuer – und wenn ich das so sagen darf – viel besserer Lebensabschnitt. Von nun an können sie ihre Vergangenheit hinter sich lassen und müssen nur offen für ihre aussichtsreiche Zukunft sein, in der nicht nur wir ihnen etwas geben können. Ich bin mir sicher, jeder einzelne von ihnen, wird in der vor uns liegenden Zeit, seinen eigenen angemessenen Beitrag zu einem harmonischen Zusammenleben leisten können und sich in das Leben dieser Stadt mit einbringen.“

Und ich war der Meinung, dass jedes Wort, das bisher ihren Mund verlassen hatte, eine wohldurchdachte Lüge war. Naja, bis auf den Teil mit dem Namen – vielleicht.

„Als persönliche Assistentin unserer Despotin, bin ich dafür verantwortlich, dass bei ihrer Ankunft alles zur allgemeinen Zufriedenheit verläuft. Um dies zu gewährleisten, folgen sie bitte den Anweisungen der Betreuer, die drinnen bereits auf sie warten. Man wird sie zu den Duschen bringen und ihnen anschießend frische Kleidung aushändigen. Danach wird man sie in den Speisesaal führen, wo sie nach Herzenslust schlemmen können, bis sie zu ihrem Interview abgeholt werden. Während ihrer Wartezeit können sie sich natürlich auch den Unterhaltungsmedien zuwenden. Sollten sie bei etwas Hilfe benötigen, oder eine Frage haben, stehen immer genug Betreuer bereit, die sich um ihre Anliegen kümmern werden. Auch ich werde die nächsten Stunden vor Ort sein. Bitte folgen sie den Anweisungen des Personals und halten sie sich an die Regeln des Hauses, um Zwischenfälle zu vermeiden. Wir wünschen keine Gewalt in unserem Haus. Im Speisesaal hängen Listen mit den Hausregeln aus. Da wahrscheinlich die wenigstens von Ihnen lesen können, wird man sie nachher gemeinsam mit ihnen durchgehen.“ Sie warf einen kurzen Blick auf ihr Brett, als müsste sie sich versichern, dass sie nichts vergessen hatte. „So, sie sind bestimmt alle müde von der Reise und können es kaum erwarten sich ein wenig auszuruhen. Darum will ich sie auch gar nicht länger aufhalten. Wir sehen uns sicher bald wieder.“

Ein paar der Tracker klatschen, einer pfiff sogar. Anett Gersten lächelte ihnen schmallippig zu und verschwand dann mit energisch wackelndem Po. Ich hätte nicht gedacht, dass jemand mit einem so dürren Po dermaßen damit wackeln könnte.

„Na dann mal los.“ Kit machte eine Kopfbewegung, die uns dazu aufforderte, ihm durch die Tür zu folgen. Ein paar der Tracker hatten sich bereits in Bewegung gesetzt und auch der kleine Junge und die rothaarige Frau setzten langsam einen Fuß vor den anderen. Ich jedoch zögerte. Wenn ich erstmal hinter dieser Tür war, käme ich nicht mehr so leicht hinaus – da war ich mir sicher.

Nikita jedoch folgte Kit in den Raum hinter der Tür und zog mich mit sich. Ich ließ es einfach geschehen. Im Moment würde es nichts bringen, sich zur Wehr zu setzen und ich brauche gerade sowieso all meine Kraft, um nicht einfach auszuflippen. Die ganze Situation war beängstigend. Es war ein Wunder, dass ich mich aufrecht halten konnte und meine Knie nicht vor Angst schlotterten.

Der Raum den wir betraten, war ein großer Empfangsbereich, mit einem gebogenen Tresen an der hinteren Wand. Dort stand eine Frau, mit kurzen grünen Haaren. Selbst ihre Wimpern und Augenbrauen waren grün und ihre Schminke gleich einer Kriegsbemalung. Auf ihrer Bluse prangte das Emblem von Eden.

Die Gruppe an Trackern, die mit uns gekommen war, stand bei ihr in einer Reihe an und gaben ihr nacheinander ihre Hände, über die sie ein Gerät gleiten ließ. Es piepte jedes Mal.

„Unsere Keychips werden gescannt“, erkälte Kit, als er meinen Blick sah. „Sky, registriert uns, damit man zu jeder Zeit weiß, wer alles in der Stadt ist.“

Wer war Sky? Die Frau mit den grünen Haaren? Ich fragte nicht nach. Im Moment wollte ich ein Gefühl für meine Umgebung bekommen.

Die Eingangszone war hell und schlicht gestaltet. Die Wände in einem solch blendenden Weiß, dass mir die Augen davon tränen wollten. Der halbrunde Tresen aus hellem Holz, zog sich fast über die komplette Länge der Wand. Links gab es eine kleine Sitzgruppe, mit einem Arrangement aus Blumen. Rechts am Tresen vorbei, führte ein Korridor weiter ins Innere des Gebäudes. Strategisch platzierte Bilder an den Wänden ließen ihn freundlich und einladend wirken. Der Raum wurde durch indirektes Licht erhellt.

Links von uns gab es eine große Glaswand mit Türen, die ins Freie führten. Ich konnte die Bäume und Wiesen dahinter sehen und es juckte mich in den Händen, sofort dorthin zulaufen, aber vermutlich waren diese Türen verschlossen. Und falls nicht, hätten sich sicher ein halbes Dutzend Tracker auf mich gestürzt, bevor ich auch nur einen Schritt in diese Richtung getan hätte. Meine Lippen wurden schmal.

Alles wirkte recht einladend.

Andererseits … vor ein paar Jahren hatte Marshall mir eine Pflanze mitgebracht, er nannte sie Sonnentau. Ich fand sie auf eine exotische Art sehr schön, doch diese Schönheit sollte nur darüber hinwegtäuschen, was sich in ihrem Inneren verbarg. Sie lebte nicht wie andere Pflanzen von Licht und Wasser, ihre Leibspeise waren Fliegen, die sich in den klebrigen Tentakeln ihrer Blätter verfingen.

So kam ich mir in diesem Moment auch vor, wie eine dumme Fliege, die in die klebrigen Sekrete einer Fleischfressenden Pflanze geraten war.

Was hatte ich heute nur wieder für eine blühende Phantasie.

Kit und Sinead standen wie zwei Wachposten bei uns, während Dascha sich ein Stück weiter mit vier Leuten unterhielt, die auch eine Art Uniform zu tragen schienen. Sie war rosa. Lockere Hosen und ein weites, unförmiges Hemd mit kurzen Ärmeln, das eine entfernte Ähnlichkeit mit meiner Tunika aufwies. Auch auf dieser Kleidung, prangte der stilisierter Baum in einem Kreis. Scheinbar musste jeder in dieser Stadt darauf aufmerksam machen, wohin er gehörte. Vielleicht war das aber auch nur ein modisches Accessoire, mit dem sie ihre Zugehörigkeit demonstrierten.

Ich spitzte die Ohren um zu lauschen, aber da nickte Dascha und kam dann mit der kleinen Gruppe auf uns zu. „Das sind Jasper, Vincent, Joulia und Greta.“ Sie zeigte nacheinander auf die entsprechende Person. „Alle vier gehören zu den bereits von Anett erwähnten Betreuern hier im Aufnahmeinstitut. Sie werden euch nun zu den Duschen begleiten. Bitte tut was sie euch sagen.“

Eine Blondine mit schwarzen Streifen im Haar, lächelte und lud uns mit einer ausladenden Handbewegung ein, ihr zu folgen. Dascha hatte sie Joulia genannt. „Hier entlang, wenn ich bitten darf.“

Die rothaarige Frau aus dem Bus, ließ sich nicht weiter bitten und setzte sich direkt in Bewegung. Die beiden Männer zögerten und der kleine Junge wollte ohne Sinead gar nicht gehen. Das entwickelte sich zu einem mittelstarken Drama, an dessen Ende Sinead versprach, im Speisesaal auf ihn zu warten. Er nahm trotzdem nur sehr widerwillig Joulias Hand. Dann wurde ihm zum Abschied auch noch der Kopf getätschelt. Wie einem braven Haustier.

Mehr waren wir für die doch sowieso nicht.

Der Knoten der Wut in meiner Brust wuchs ein Stück. Wenn das so weiterging, würde er bald platzen und eine riesige Sauerei hinterlassen, die zähflüssig von den Wänden tropfen würde.

Ich konnte es geradezu vor mir sehen.

„Bis dann.“ Nikita hob eine Hand, um sich von Kit zu verabschieden. Von mir bekam er nur einen bösen Blick, der ihn eigentlich das Fürchten lehren müsste.

Kit jedoch grinste nur. „Seid schön artig, ich will später keine Beschwerden hören.“

„Kommen sie bitte“, sprach der eine Mann mich an. Ich hatte seinen Namen schon wieder vergessen.

Äußerst widerwillig setzte ich mich in Bewegung und klammerte mich dabei geradezu an Nikita. Am liebsten wäre ich weggelaufen, aber im Moment ging es nur in eine Richtung und das war immer vorwärts.

Die Betreuer führten uns an dem Tresen vorbei in den seitlichen Korridor. Gegen meinen Willen musste ich staunen. Ich hatte schon oft Gebäude gesehen und mich aus den verschiedensten Gründen auch in ihnen aufgehalten, doch noch nie in meinem Leben hatte ich eines gesehen, das so intakt und sauber war, ja geradezu makellos. Der graue Teppich aus weichem Flaum, dämpfte jeden unserer Schritte. Die Wände waren weiß gestrichen. Überall hingen Bilder, die Szenen von Menschen zeigten. Die großen Gebäude im Hintergrund ließen darauf schließen, dass sie in der Stadt aufgenommen worden waren, aber sie wirkten alt. Ich konnte also nicht sagen, ob sie aus Eden stammten, oder aus einer Zeit, in der die Welt noch ein ganz anderes Gesicht hatte.

Hier gab es keine Fenster, aber links und rechts bogen eine Menge Türen ab. Was sich jedoch dahinter verbarg, konnte ich nicht sagen, da sie alle geschlossen waren.

„Nur noch durch die Tür, dann sind wir gleich da“, verkündete Joulia mit einem glücklichen Lächeln und meinte damit offensichtlich die doppelten Glastüren, am Ende des Korridors.

Einer der Männer erreichte sie als erstes, doch diese Tür ließ sich nicht durch drücken öffnen. An der Wand daneben gab es ein kleines Rechteck, mit einem roten Lämpchen. Es wirkte technisch. Einer der Betreuer trat dorthin und legte seine Hand darauf. Das rote Lämpchen wurde grün. Es gab ein Summen und dann schoben die Türen sich von ganz allein nach links und rechts auf.

„Elektronische Pneumatiktüren“, erklärte er auf den interessierten Blich der rothaarigen hin. „Sie schieben sich automatisch auf, wenn ein autorisierter Keychip über den Scanner gehalten wird.“ Er winkte uns nacheinander sehr geschäftig durch und machte dabei den Eindruck, als hätte er es eilig.

Was uns hinter der Tür erwartete, war ein, kleiner kahler Raum, in dem es nichts gab, außer ein paar langen Sitzbänken. Sie wirkten modern und bequem, aber auch ein wenig steril. Rechts befanden sich in der Wand zwei Türen nebeneinander, ansonsten gab es hier nichts. Keine Bilder, keine Pflanzen und auch keine Bilder an den Wänden.

Ich drängte Nikita ein wenig zur Seite, halb hinter mich und versuchte zu ignorieren, wie begierig sie alles in sich aufsog, während sie sich schutzsuchend an meinen Arm klammerte.

„So“, sagte Joulia, sobald wir alle drinnen waren und blendete uns ein weiteres Mal mit ihrem fröhlichen Lächeln. Man bekam wirklich den Eindruck, sie hätte die Sonne verschluckt, so sehr strahlte sie. „Hinter diesen Türen befinden sich die Desinfektionsduschen. Sie werden nun nacheinander von uns hineingebracht. Ein Betreuer steht für sie bereit, um sie durch den Vorgang zu führen. Links die Männer, rechts die Frauen. Wer macht den Anfang?“

Keiner rührte sich. Welch ein Wunder.

„Keine Sorge, es kann ihnen nichts passieren, das ist alles ganz harmlos und dient nur dazu, sie gründlich zu reinigen.“

Nikita schaute unsicher zu mir auf und hob dann eine Hand. „Ich fange an.“

„Nein“, sagte ich sofort und zog sie ein Stück von den Türen weg. „Bist du verrückt geworden?“

„Kiss.“ Sie warf einen kurzen Blick zu den Betreuern und beugte sich mir dann ein wenig entgegen. Ihre Stimme senkte sich. „Wenn wir nicht tun was sie sagen, weißt du was passiert.“

Ketten und Zwang. Nur machte dieses Wissen die Sache nicht viel besser.

„Wenn wir mitmachen und sie uns vertrauen …“ Sie ließ den Satz unbeendet, aber ich wusste auch so, was sie meinte. Wir waren ihre Gefangenen. Solange wir uns gegen sie wehrten, würden sie uns genaustens im Auge behalten. Um hier herauszukommen, mussten wir ihr Spielchen mitspielen, solange, bis sich für uns eine Chance ergab.

Nikita sah mir fest in den Augen. In ihrem Gesicht erkannte ich eine Entschlossenheit, die ich so nicht von ihr kannte. Natürlich hatte sie genauso viel Angst wie ich, aber sie würde tun was sie tun musste, bis wir einen Weg zurück in die Freiheit fanden. Und auch ich würde es tun müssen.

Ich biss die Kiefer so fest zusammen, dass es wehtat, zwang mich aber meinen Griff um ihre Hand zu lösen.

Sie nickte einmal und wandte sich dann wieder den Betreuern zu, die uns keinen Moment aus den Augen gelassen hatten. „Ich mache den Anfang.“

In Joulias Gesicht ging wieder die Sonne auf. „Sehr schön. Dann komm mal her. Greta wird dich hineinbegleiten und dir helfen. Du brauchst keine Angst haben.“

„Ich habe keine Angst“, versicherte sie und klang dabei so überzeugend, dass ich ihr geglaubt hätte, wenn ich sie nicht kennen würde.

„Na gut, dann wollen wir mal.“

Diese Greta winkte Nikita zu sich heran und nach einem kurzen Zögern, folgte meine kleine Schwester der Aufforderung.

Mir juckte es in den Fingern sie zu mir zurück zu reißen und schnellstens das Weite zu suchen, doch ich zwang mich still stehen zu bleiben und einfach dabei zuzuschauen, wie sie mit der Frau hinter der Tür verschwand. Wieder eine elektronische Pneumatiktür.

Sobald ich sie nicht mehr sah, stieg meine Nervosität und auch meine Sorge. Ich hatte keine Ahnung was hinter dieser Tür vor sich ging und das setzte mir zu.

Joulia schaffte es, mit ihrem Lächeln, auch einen der Männer dazu zu bewegen, sich hinter die andere Tür zu begeben. Er verschwand mit den beiden männlichen Betreuern, sodass wir mit ihr alleine in diesem Raum waren. Der Rest von uns verteilte sich auf den Bänken. Nur ich nicht. Ich lief nervös auf und ab und wartete darauf, dass sich die Tür wieder öffnete. Es schien eine kleine Ewigkeit zu dauern und als es dann so war, musste ich zu meinem Schrecken verstellen, dass es nicht Nikita war, die herauskam. Da war nur Greta. Der Raum hinter ihr war leer.

„Wo ist meine Schwester?“

„Im Wartezimmer hinter der Dusche.“ Greta musterte mich gründlich. Sie schien zu ahnen, dass ich nicht so harmlos war, wie der Rest der Gruppe. „Möchten sie als nächstes duschen? Danach können sie direkt zu ihr.“

Ich wollte ja sagen und auch nein. Und ich wollte sie schlagen. Stattdessen biss ich mir nur unschlüssig auf meine Unterlippe.

„Wenn du nicht willst.“ Die rothaarige Frau aus dem Bus, erhob sich von der Bank.

„Nein“, sagte ich sofort und ging entschlossen auf Greta zu. „Ich bin dran.“ Ich musste schnell wieder zu Nikita. Blieb nur zu hoffen, dass es sich hierbei nicht um eine Falle handelte und ich gerade offenen Auges in sie hineintrat.

„Na dann mal rein mit ihnen.“

Unbehaglich verschränke ich die Arme vor der Brust und trat langsam an ihr vorbei in einen kleinen, leeren Raum, in dem es nichts gab, außer einer weiteren Tür auf der anderen Seite. Links, in einer Einbuchtung, in der Wand, stand eine blaue Tonne. Daneben eine gelbe Box. Es war ziemlich warm in diesem Raum. Allein vom Stehen geriet ich in Versuchung zu schwitzen.

Greta trat hinter mir ein und verschloss die Tür, indem sie einen Schalter an der Wand drückte. Sie schob sich mit einem zischenden Geräusch zu und sperrte mich zusammen mit der Frau hier ein.

„Das wird nun folgendermaßen ablaufen“, sagte Greta und griff nach einem Gerät an der Wand. Es war flach und Rechteckig und erinnerte an das Brett, das die Frau am Eingang in der Armbeuge gehalten hatte. Die Oberfläche leuchtete schwach, als wäre darin ein Glühwürmchen gefangen. Sie nahm es einfach ab, stützte es auf ihrem Arm und begann mit einem Finger darauf herumzutippen. „Sie werden sich entkleiden und all ihre Sachen in die blaue Tonne werfen. Wir werden sie für sie entsorgen. Sollten sie Dinge bei sich tragen, die sie behalten möchten, dann legen sie sie bitte in die gelbe Box. Nach einer Überprüfung werden ihnen die Sachen später im Speisesaal wieder ausgehändigt. Name?“

Ich starrte sie wie eine Eule an – eine Eule, die gerade eine Kollision mit einem Baum hinter sich hatte.

„Wie ist ihr Name“, fragte Greta und betonte die einzelnen Worte so sehr, als würde sie mich für unterbelichtet halten.

„Kismet.“

Sie tippte wieder auf ihrem technischen Brett. „Nachname?“

„Habe ich nicht. Wo ist Nikita?“

„Im Wartezimmer hinter der Dusche, das habe ich ihnen bereits gesagt. Würden sie sich jetzt bitte entkleiden, damit wir dann weitermachen können?“

Am liebsten hätte ich nein gesagt, aber vorerst musste ich mich fügen.

Meine Tunika war eher dünn, doch sie vermittelte mir die Illusion von Schutz und daher widerstrebte es mir sehr sie abzulegen. Trotzdem griff ich nach dem Saum und zog sie mir über den Kopf. Dann trat ich widerwillig zu der Tonne und ließ sie hineinfallen. Mir war klar, dass ich sie nie wiedersehen würde. Die Städter würden sie sicher einfach verbrennen. Ihnen würde egal sein, wie lange Azra daran gesessen hatte, um sie mir zu machen.

Gänzlich unbekleidet hier zu stehen, bescherte mir ein Gefühl von Beklommenheit und Scheu. Ich fühlte mich hilflos und ausgeliefert. Die Leute in dieser Stadt taten wirklich alles, damit mein Hass auf sie wuchs.

Greta klebte das technische Brett wieder an die Wand und ging dann zu der anderen Tür. Wieder eine Pneumatiktür, die sie mithilfe eines anderen Schalters öffnete. „Treten sie bitte in den Kreis in der Mitte. Ich werde sie mithilfe der Sprechanlage durch den weiteren Vorgang führen.“

„Welchen Vorgang?“

„Waschen, Körperpflege. Hier haben sie einen Lappen, den werden sie gleich brauchen.“ Sie drückte mir einen Stofflappen in die Hand.

Dazu musste ich in einen Kreis treten? Normalerweise nahm ich dazu Wasser aus den Eimern, oder sprang einfach in den Fluss.

Greta wartete geduldig, während ich unbehaglich von einem Bein aufs andere trat. Ich brauchte einen Moment, um mich dazu durchzuringen, ihren Anweisungen zu folgen und auch dann trat ich nur zögernd durch die Tür in den nächsten Raum. Der Boden und die Wände dort waren seltsam glatt und kühl, obwohl der Raum selber sehr warm war.

Sobald ich die Schwelle hinter mir gelassen hatte, wurde der Raum hinter mir geschlossen. Ein summen. Dann blinkte ein rotes Lämpchen auf. Ich drückte gegen die Tür. Abgeschlossen. Ich war hier eingesperrt. In Ordnung, was war kein Grund in Panik zu verfallen. Ich musste nur ruhig bleiben.

Der Raum, in dem ich mich nun befand, war sehr klein. Wenn ich die Arme ausstreckte, konnte ich fast die Wände gleichzeitig berühren. Der Raum wirkte insgesamt seltsam. Boden, Wände und Decke schienen von einer Art dunklen Kunststoff überzogen zu sein. Keine Nahtstellen, als sei es aus einem Stück gegossen werden. Unter meinen Füßen fühlte der Boden sich leicht rau ein.

Treten sie bitte in den Kreis in der Mitte“, ertönte Gretas Stimme und ließ mich vor Schreck zusammenzucken. Sie war nicht mit im Raum und die Stimme klang blechern. Ihren Ursprung konnte ich nicht genau identifizieren, aber sie schien irgendwo von oben zu kommen.

Genau in der Mitte des Raums, war ein schwarzer Kreis, an dessen Außenrand viele kleine, aneinandergeriete Schlitze im Boden waren. Ich zögerte, stelle mich dann aber hinein.

„In der Decke und in den Wänden sind Düsen, aus denen gleich Wasser kommen wird. Wenn es ihnen zu warm oder zu kalt ist, sagen sie es mir, dann stelle ich die Temperatur nach ihren Wünschen ein.“

Ich schaute nach oben und zu den Wänden und kaum sichtbare Löcher in der glatten Oberfläche.

„Bitte schließen sie nun die Augen und erschrecken sie nicht. Auf drei starte ich den Vorgang. Eins, zwei, drei.“

Ich schloss gerade noch rechtzeitig die Augen, da erwischte mich auch schon ein warmer Sprühregen aus Wasser. Obwohl sie mich vorgewarnt hatte, stieß ich vor Schreck ein kleines Quietschen aus und sprang zur Seite. Mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb.

„Bitte bleiben sie in der Mitte stehen und bewegen sie sich nicht.“

Ich versuchte stillzuhalten. Hunderte kleiner Tropfen prasselten auf mich nieder. Warmes Wasser. Ich hatte bisher noch nie so warmes Wasser gespürt. Höchstens einen See, der von der Sonne erwärmt war. Es fühlte sich … gut an. Etwas in mir entspannte sich – ein ganz kleinen bisschen.

Das Vergnügen war jedoch nur von kurzer Dauer. Sobald ich nass war, schwand der Sprühregen einfach und ich stand nass und nackt in einem leeren Raum.

„Jetzt werde ich sie mit einem Gel einsprühen. Bitte nutzen sie den Lappen, um sich damit gründlich abzureiben. Bei drei geht es los. Ein, zwei, drei.“

Dieses Mal war ich vorgewarnt, aber es war kein Wasser was mich traf, sondern irgendwas Glitschiges, das ein wenig scharf roch. Ich tat was man mir gesagt hatte und rieb mich gründlich mit dem Lappen ab.

Dieser Vorgang wiederholte sich noch ein halbes Dutzend Mal, immer abwechselnd Wasser und dann irgendwas anderes. Für die Haut, für die Haare, für den Körper, gegen Bakterien. Nach der sechsten Runde fühlte ich mich so sauber, wie noch nie in meinem Leben und begann mich schon mich zu fragen, ob ich mir die Haut vom Körper schrubben sollte, als Greta verkündete, dass wir fertig waren.

„Gehen sie bitte zur hinteren Wand. Nehmen sie sich ein Handtuch zum Abtrocknen und einen Satz frischer Kleidung. Wenn sie sich angezogen haben, lasse ich sie in den nächsten Raum.“

„Und zu meiner Schwester“, sagte ich, obwohl ich mir gar nicht sicher war, ob sie mich überhaupt hören konnte.

„Und zu ihrer Schwerster“, stimmte sie mir zu. Also konnte sie mich doch hören.

Ich wandte mich der hinteren Wand zu und noch während ich mich fragte, wo da Kleidung sein sollte, schob sich eine Abdeckung zur Seite und offenbarte dahinter in flaches Regal.

„Ihren Lappen können sie in die blaue Box werfen.“

Die Blaue Box ganz unten im Regal. Ich ließ ihn dort hineinfallen. Der Lappen verschwand in einem dunklen Loch und war nicht mehr zu sehen. Das musste irgendeine Röhre sein. Zu klein, um hindurchzupassen. Ohne Nikita konnte ich sowieso nicht gehen. Also nahm ich mir ein Handtuch und trocknete mich ab. Auch das ließ ich in die Box fallen.

Die Kleidung hier schien in Einheitsgrößen zu sein. Es gab viele kleine Fächer und jedes war gefüllt mit einem Satz Kleidung. Ein weißes, langärmliges Hemd, luftiger Stoff, der locker meiner Gestalt herunterhing. Dazu gab es eine Hose aus dem gleichen weißen Stoff. Sie war lang und reichte mir bis auf die Füße. Der helle Stoff ließ meine braune Haut noch dunkler wirken. Das Bild einer Krähe im Winter erschien vor meinem inneren Auge. Ich schüttelte es ab.

Während ich noch dran arbeitete, mich an den Stoff auf meiner Haut zu gewöhnen, nahm ich die Stoffschuhe in meiner Hand genauer in Augenschein. Ich hatte noch nie Schuhe besessen. Ich brauchte sie nicht und unsere mageren Ressourcen konnten wir anderswo besser nutzen. Doch jetzt hielt ich sie in der Hand und man erwartete von mir, dass ich sie anzog. Aber ich konnte nicht. Es war albern, denn es waren nur Schuhe und dennoch sträubte sich alles in mir sie über die Füße zu ziehen. Als würde ich mich und alles woran ich glaubte, verraten, wenn ich in ein Stück Stoff schlüpfte.

Die Entscheidung, was ich tun sollte, wurde mir abgenommen, als die zweite Tür sich öffnete und mich aus dieser Kabine entließ. Es war ein weiterer kahler Raum, in dem es nichts gab, außer zwei Türen und ein paar Bänken. Auf einer davon saß Nikita mit nervösem Blick, sprang aber sofort auf, als sie mich kommen sah. Die Feuchtigkeit hatte ihr ihre Löwenmähne an den Kopf gedrückt und ließ sie noch viel jünger aussehen.

„Kiss!“ Sie stürmte zu mir und griff nach meinem Arm, während sich mir die Tür hinter mir von ganz alleine schloss.

Bei Gaias Güte, sie war wirklich hier. „Geht es dir gut? Haben sie dir was getan?“ Ich nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und begann dann ihre Arme zu untersuchen.

Sie schob mich weg. „Nein, ich war nur duschen. War das nicht phantastisch? Warmes Wasser und das auf Knopfdruck!“ Sie gab ein aufgeregtes Quietschen von sich, das ich so noch nie bei ihr gehört hatte. „Ich glaube, ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so gut gefühlt.“

Die Verzückung in ihrem Gesicht gefiel mir nicht. „Gewöhne dich nicht zu sehr an diesen Luxus, wir werden nicht lange bleiben“, flüsterte ich eindringlich und schaute mich nach dem Betreuer um, der ein technisches Brett in der Hand hielt und mit dem Finger darauf herumtippte. Sobald sich uns eine Möglichkeit bot, würde ich sie mir über die Schulter werfen und die verdammten Tracker würden von uns gerade noch eine Staubwolke am Horizont erblicken.

Etwas wie Enttäuschung blitzte in Nikitas Augen auf. Doch sie überspielte es mit einem breiten Lächeln. „Aber solange es anhält, kann ich es doch genießen. Außerdem, so wie du dich benimmst, werden sie dich vorerst nicht aus den Augen lassen. Ich dagegen werde mich schon bald frei bewegen können.“

Ich nahm sie scharf ins Auge, konnte aber nichts dagegen sagen, denn sie hatte Recht. Vielleicht sollte ich den Tracker auch ein wenig entgegenkommender sein. Natürlich nur um den Anschein zu erwecken.

„Kismet?“

Beim Ruf meines Namens, blickte ich mich nach dem Betreuer um.

„So, jetzt schauen sie bitte auf diesen Punkt.“ Er hob das Brett, sodass es zwischen uns in der Luft hing und deutete auf einen schwarzen Punkt auf der Rückseite. Ein grellweißes Licht blitzte auf und blendete mich einen Moment.

„Danke, das war es schon.“

Ich blinzelte, um die Lichtpunkte in meinem Sichtfeld zu vertreiben. Bei Gaias Zorn, wollten die mich erblinden lassen?

Nikita kicherte leise bei meinem Gesichtsausdruck.

„Was war das?“

„Ich habe nur ein Bild von ihnen gemacht. Hier, schauen sie.“ Der Mann drehte das Brett herum, sodass ich die andere Seite sehen konnte. Darauf war ein Bild von meinem Gesicht. „Sie sind wirklich sehr fotogen.“

Ich knurrte, schnappte mir Nikita und verzog mich mit ihr in die andere Ecke des Raumes.

„Das fühlt sich komisch an“, meinte Nikita und hüpfte auf der Stelle zweimal auf und ab.

Ich brauchte einen Moment um zu verstehen, dass sie die Kleidung meinte und sie Recht, es fühlte sich wirklich seltsam an. Nicht unangenehm, einfach nur ungewohnt.

„Besonders die Schuhe sind komisch, daran muss ich mich wohl erstmal gewöhnen.“

Warum? Warum wollte sie sich daran gewöhnen? Wir brauchten keine Schuhe, hatten sie noch nie gebraucht.

Nikita schaute zu den Latschen in meinen Händen. „Willst du deine den gar nicht anziehen?“

„Nein.“ Ich ließ sie an Ort und Stelle einfach fallen und setzte mich dann auf die Bank. Sie war gepolstert und wirklich bequem.

Etwas wie Bestürzung flackerte in Nikitas Augen. „Aber Kiss …“ Sie unterbrach sich, als ein Zischen das Öffnen einer Tür ankündigte. Es war einer der alten Männer, der nun sauber aus dem Raum neben meiner Dusche kam und sich nach einem kurzen Rundumblick auf einer der Bänke niederließ. Auch er wurde von dem Betreuer auf dem technischen Brett verewigt.

„Setzt dich zu mir“, wies ich Nikita an und nahm die dritte Tür in dem Raum in Augenschein. Diese hatte keinen Schalter, sondern einen Scanner. Bedeutete das, dass es dahinter ins Freie ging, oder würde uns diese Tür weiter in die Innereien dieses Gebäudes führen? Es musste doch einen Weg hier rausgeben. Doch leider wollte der sich mir nicht so einfach offenbaren. Daher blieb mir im Augenblick gar nichts anderes übrig, als abzuwarten, was als nächstes geschah.

Vorerst saßen wir jedoch nur da und warteten. Die rothaarige Frau kam als nächstes, dann der zweite Alte. Erst zum Schluss betrat auch der kleine Junge an der Hand von Joulia den Warteraum. Er war jetzt sauber und sah noch viel jünger und verängstigter aus. Wenn er sich noch fester an die Betreuerin klammerte, würde er sich seine kleinen Fingerchen brechen. Als dann auch noch die letzten beiden Betreuer bei uns waren, war unsere Gruppe wieder komplett.

Ein lautes Klatschen ließ uns mich zusammenzucken, doch es war nur Greta, die ihre Hände zusammengeschlagen hatte. „Wenn ich dann um ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte.“

Bitten. Fast hätte ich geschnaubt. Und wenn ich dieser Bitte nun nicht nachkam? Wenn ich mich nun sträubte? Dann würden sie mich wieder in Fesseln legen und zwingen, das zu tun, was sie wollten. Obwohl sie wahrscheinlich weiterhin behaupten würden, alles wäre nur zu meinem Besten.

Warum eigentlich? Warum taten sie überhaupt so, als wären sie die netten Leute von nebenan? Was sollte diese ganze Show? Glaubten sie damit unser Wohlwollen zu gewinnen? Unser Vertrauen? Hofften sie, dass wir auf diese Art leichter zu manipulieren wären?

Wenn ich mir Nikita anschaute, dann musste ich mir eingestehen, dass es wirklich das sein konnte. Alle waren freundlich zu meiner kleinen Schwester und sie ließ sich um den kleinen Finger wickeln. Naiv wie sie war, ließ sie sich von der Stadt beeindrucken, genoss es sogar. Ja, es war mir nicht entgangen. Dabei waren wir gerade mal eine Stunde hier. Wie würde es erst nach einem Tag sein? Oder wenn Nikita aufging, dass das alles nichts weiter als eine Maske war?

Ich hatte sie doch gewarnt – so oft. Ich musste mit ihr reden, so schnell wie möglich. Nur leider war das erst möglich, wenn wir nicht mehr unter Beobachtung standen.

Greta schaute einen nach dem anderen an, um sicher zu gehen, dass sie unsere Aufmerksamkeit hatte. „Bevor wir jetzt in den Speisesaal gehen, noch ein paar Worte zum weiteren Ablauf. Wir werden uns jetzt in den Speisesaal begeben, wo sie sich frei an unserem Buffet bedienen dürfen. Aber ein Wort der Warnung: Es kommt nicht selten vor, dass sich unsere Neuzugänge zu viel zumuten. Viele von ihnen sind übermäßige Nahrungszufuhr nicht gewohnt, deswegen übertreiben sie es beim ersten Mal bitte nicht. Bei uns gibt es genug Essen, um jeden von ihnen, für den Rest ihres Lebens, problemlos zu versorgen.“

Da kam ich nicht umhin mich zu fragen, wie lange der Rest unseres Lebens dauern würde.

Greta wartete einen Moment, bis sie der Meinung war, alle hätten verstanden. „Nach dem Essen bleiben sie bitte im Saal oder gehen in den angrenzenden Aufenthaltsraum. Ich und meine Kolleginnen werden auch vor Ort sein. Zwischendurch wird man sie abholen und zum Interview und Gesundheitscheck bringen.“

Wir glücklichen.

„Im Anschluss werden sie zurück in den Aufenthaltsraum gebracht, wo sie dann bis zum Abend, frei …“

RUMS!

Alle Köpfe drehte sich herum. Auch die der Betreuer. Etwas war gerade von innen gegen die Tür zur Dusche der Männer geknallt.

RUMS!

Ich erhob mich langsam und zog Nikita hinter mich. Meine Hand glitt zu meiner Hüfte, fand aber nur eine leere Stelle, wo eigentlich meine Machete sein sollte.

Es gab ein weiteres Krachen, dann ein Stöhnen, laut genug, dass es durch die Tür drang.

„Was zur Hölle …“, begann einer der Betreuer.

Die Tür öffnete sich mit einem Zischen. Ein Mann heulte in Schmerz auf und ließ den Laut in einem Stöhnen ausklingen. Eine Pranke von einer Hand schob sich durch den entstandenen Spalt und griff hektisch nach allen Seiten.

Alle wichen an die Wände zurück.

RUMS!

Die rothaarige Frau kreischte vor Schreck auf. Der kleine Junge klammerte sich schatzsuchend an Joulia.

Etwas krachte durch die Tür und dann stolperte ein nackter Riese in den Warteraum. Es war der Riese aus dem Bus! Hecktisch flitzte sein Blick von einer Seite zur anderen, dann entdeckte er die Tür gegenüber und war mit zwei Schritten dort. Seine Faust hämmerte dagegen. Als das nicht funktionierte, warf er sich mit der Schulter dagegen.

RUMS!

An seinem Bein floss Blut hinunter, seine Verletzung war wieder aufgegangen.

Aus der Dusche kamen aufgeregte Männerstimmen und im nächsten Moment stürmten vier Tracker durch die nun offene Tür.

Der Riese wirbele herum und stieß beim Anblick des Feindes ein Brüllen aus. Dann stürmte er auf den Gegner zu.

Einer der Tracker zog eine Waffe und schoss auf ihn. Der Riese wurde in die Brust getroffen, doch er hatte so viel Schwung, dass er trotzdem in die Gruppe der Tracker krachte. Drei von ihnen schafften es noch auf dem beengten Raum zur Seite auszuweichen, doch der vierte wurde einfach von ihm niedergemäht.

Der Riese hob eine riesige Faust und hämmerte sie dem Tracker direkt ins Gesicht. Es knirschte, dann spritzte Blut. Er hatte ihm die Nase gebrochen.

Ein anderer Tracker gab einen Schuss ab und traf den Riesen in der Schulter.

Der Riese fuhr herum, aber seine Bewegungen wurden träge. Er hob wieder eine Faust und holte damit aus, doch die Bewegung war nun sehr unkontrolliert. Er verfehlte sein Ziel nicht nur, der Schwung riss ihn auch nach vorne, sodass er mit dem Gesicht voran auf den Boden klatschte.

Angespannt sah ich dabei zu, wie er versuchte zurück auf die Beine zu kommen, doch die Kraft schien ihn zu verlassen. Seine Arme zitterten, dann brach er einfach zusammen und bewegte sich nicht mehr.

„Heilige Scheiße“, flüsterte Greta und hielt sich schockiert die Hand vor den Mund.

Heilige Scheiße, oh ja.

 

oOo

Kapitel 13

 

„Meine Damen und Herren, das Essen ist serviert.“ Schwungvoll betätigte Joulia einen Schalter an der Wand und vor uns öffneten sich die Türen zum Speisesaal. Noch vor unsrem erstem Schritt, schallten uns die Geräusche von Stimmen und das Klirren von Geschirr entgegen.

Es war wieder die rothaarige Frau, die sich hinter den Betreuern als erste in Bewegung setzte. Entweder sie hatte großen Hunger, oder sie konnte es kaum erwarten, in die Versklavung zu gehen.

Wir wurden von einem kleinen Saal, mit großen Fenstern, in Empfang genommen. Leider waren diese Fenster vergittert. Keine Möglichkeit schnell zu verschwinden. Meine Lippen wurden zu einem dünnen Strich.

Na was hast du denn erwartet? Eine Tür mit einem Schild: Hier winkt die Freiheit?

Wäre die Welt ein gerechter Ort, hätte so ein Schild hier auf mich gewartet. Nein, wäre die Welt ein gerechter Ort, wäre ich erst gar nicht erst hier gelandet. Aber wer Gerechtigkeit erwartete, der musste sich schon selber darum kümmern. So wie der Riese.

Ich konnte noch immer kaum glauben, was er getan hatte. Sich gegen Eden aufzulehnen war mutig, aber es war auch dumm gewesen. Zwar hatte er es geschafft, zwei Edener zu verletzen und niederzuschlagen, aber am Ende war er dennoch unterlegen gewesen.

Was sie jetzt wohl mit ihm taten? Kurz bevor man uns aus dem Warteraum getrieben hatte, waren ein paar Leute gekommen, um sich um die Angelegenheit zu kümmern. Das letzte was ich von ihm gesehen hatte, war wie man ihn auf eine Trage gehievt hatte. Er war immer noch bewusstlos gewesen. Ich hoffte für ihn, dass seine Courage ihn jetzt nicht das Genick brechen würde.

Das Stimmengewirr um mich herum machte mich darauf aufmerksam, dass wir nicht die einzigen vor Ort waren. Der Saal war in der Mitte durch mehrere große Torbögen, aus geriffeltem Milchglas, geteilt. Der anliegende Teil musste der Aufenthaltsraum sein. Von der Größe her war er ein Spiegelbild des Speisesaals, das war aber auch die einzige Gemeinsamkeit.

Wo dieser Teil hell und lichtdurchflutet war, herrschten dort vor allen Dingen dunkle Töne. Holzpaneele an den Wänden, Parkettfußboden – wenn auch etwas abgetreten – indirekte Wandbeleuchtung. Mehrere halbhohe Zierwände mit einer üppigen Bepflanzung obendrauf, sorgten in ein paar Ecken, für ein wenig Privatsphäre. Jedenfalls erweckte es den Anschein. Ich war nicht dumm genug, um zu glauben, dass hier irgendjemand Privatsphäre genießen konnte.

Im Aufenthaltsraum hielten sich fünf Leute auf, wenn ich da richtig sah. Hier, im Speisesaal, war wesentlich mehr los.

Im ganzen Raum verteilt standen quadratische Tische mit passenden Stühlen und ein Teil von ihnen war besetzt. Die Meisten waren, wie nicht anders zu erwarten, Tracker. Sie waren leicht an ihrer Kleidung zu erkennen. Aber neben ein paar anwesenden Betreuern, gab es auch einige Wenige, die uns ähnlicher waren, als ihnen. Nicht nur wegen der gleichen weißen Kleidung, die wir trugen. Es war ihre Ausstrahlung. Sie wirkten Erschöpft und müde vom Leben. Einer von diesen Leuten, ging mit einem Teller in der Hand, quer durch den Raum zu …

Meine Augen wurden groß. Sogar mein Mund öffnete sich vor Unglauben. Unter den Fenstern, in einer Reihe, standen lange Tafeln, die sich unter dem Gewicht der Speisen auf ihn, fast durchbogen.

„Siehst du das?“, fragte Nikita leise und zupfte dabei aufgeregt an meiner Kleidung. Ihre Augen waren riesig, der Anblick schien sie beinahe zu überwältigen.

In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so viel Essen auf einem Fleck gesehen – niemals. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich in meinem Leben so viel schon gegessen hatte. Töpfe und Pfannen waren zusammen mit dekorierten Tellern arrangiert worden. Warme und kalte Speisen. Und es duftete himmlisch.

Mir lief das Wasser im Mund zusammen.

„So“, sagte Greta. „Bedienen sie sich. Nehmen sie sich, was sie wollen und setzten sie sich. Wenn sie …“

„Sin!“, rief der kleine Junge plötzlich. Er riss sich von Joulia los, rannte quer durch den Raum und warf sich Sinead in die offenen Arme. Die Wucht riss sie fast von den Füßen

„Hey, nicht so stürmisch, die rennst mich ja gleich um.“

Das schien ihn nicht wirklich zu interessieren. Er klammerte sich an ihren Hals, als würde er befürchten, sie könnte sonst einfach wieder verschwinden. „Ich hab dich vermisst.“

Sinead lächelte und strich ihm liebevoll durch das saubere Haar. „Ich habe doch versprochen, dass wir uns gleich wieder sehen.“

„Kann ich jetzt für immer bei dir bleiben?“

Diese Frage schien sie für einen Moment aus dem Konzept zu bringen. Sie schaute geradezu bestürzt drein, bevor sie leise seufzte. „Ach Schatz, darüber haben wir doch schon gesprochen. Das geht nicht.“

Die Unterlippe des kleinen Jungen begann zu beben. Er schien gleich in Tränen ausbrechen zu wollen.

„Nein, guck mich nicht so an, damit brichst du mir das Herz.“ Sie nahm ihn tröstend in die Arme. „Wir finden eine ganz tolle Familie für dich, die dich ganz doll liebhaben wird. Wir beide können Freunde bleiben, aber ich bin viel zu oft in der Alten Welt unterwegs, um mich gut um dich kümmern zu können.“ In einer liebevollen Geste, strich sie ihm über den Rücken und löste seine Ärmchen dann von ihrem Hals. „Komm, lass uns erstmal etwas essen, ich bin schon kurz vor dem Verhungern. Du sicher auch.“

Er nickte zögernd, auch wenn ihm im Augenblick scheinbar nicht der Sinn nach Essen stand. Bei den anderen unserer Gruppe war das jedoch etwas anderes. Die rothaarige Frau war bereits am Buffet und hatte sich einen Berg Essen auf ihren Teller gehäuft. Die alten Männer dagegen schienen noch etwas unschlüssig und beobachteten erstmal, wie Sinead mit dem kleinen Jungen an das Buffet trat.

Ich hielt mich noch etwas zurück. Das alles gefiel mir einfach nicht. Ich verstand nicht warum die Tracker das machen. Was bezweckten sie mit ihrer Freundlichkeit?

„Komm schon, Kiss.“ Nikita machte sich von mir los und stürzte zu dem Essen. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Hier, im Maul der Bestie, würde ich sie unter keinen Umständen allein lassen.

Hinter der Tafel standen zwei Männer, die bereitwillig Auskunft erteilten, als Nikita sie nach den einzelnen Speisen befragte. Überwiegend Fingerfood, wie sie es nannten. Möhren-Streifen, dampfender Blumenkohl, aufgeschnittene Tomaten, grüner Salat und etwas, das sie als Zucchini bezeichneten. Es gab Obst wie Äpfel, Birnen und Schalen voller Beeren. Brot, Grieß, Kartoffeln und kleine weise Körner, die sie Reis nannten. Fettarmer Joghurt und Käse, wie ich ihn noch nie gesehen hatte.

In mehreren Kannen boten sie uns Fencheltee, Milch und Wasser an.

Nikita nahm sich von allem etwas und türmte das Essen zu einem Berg auf ihren Teller.

Ich verkniff es mir meine Hand auch nur nach einer einzigen Sache auszustrecken. Mein Magen konnte noch so sehr darauf bestehen, gefüllt zu werden, ich konnte nichts von diesen Speisen nehmen. Ich konnte einfach nicht. Selbst den Becher mit Wasser musste Nikita mir aufschwatzen, bevor ich meine Finger dazu überreden konnte, sich darum zu schließen. Sie selbst nahm sich Milch und trug ihre Beute dann zu einem Tisch in der Nähe der hinteren Wand.

Ich folgte ihr ein wenig langsamer und tastete den Raum gründlich mit den Augen ab, doch obwohl hier alles hell und einladend wirkte, gab es nur einen Weg hinaus und das war der, auf dem wir hineingekommen waren. Leider brachte mir das nicht viel, denn dort würde ich nur wieder in den Eingeweiden des Gebäudes landen.

„Komm schon Kiss“, drängte Nikita und ließ sich mit ihrer Beute auf einem der Stühle plumpsen.

Ich nahm gegenüber Platz und stellte mein Wasserglas vor mir auf den Tisch. Dann ließ ich meinen Blick wieder wachsam durch den Raum schweifen.

Nicht weit entfernt saß eine ältere Frau mit zwei Männern. Die drei sahen sich unheimlich ähnlich. Eine Mutter mit ihren beiden Söhnen? Ansonsten sah ich viele alte Menschen. Da war nur ein junges Pärchen und dann noch ein junger Mann, der ganz alleine in der Ecke saß. Ansonsten schienen die Menschen hier, sich alle  bereits in ihrer letzten Lebensphase zu befinden – abgesehen von den Trackern natürlich.

„Das ist verrückt, oder?“ Nikitas Finger schwebten über ihrem Teller, als könnte sie sich nicht entscheiden, was sie zuerst essen sollte. Dann viel ihre Wahl auf dieses Zucchinizeug. „So viele Menschen an einem Ort. Ich hätte nicht gedacht, dass ich sowas jemals sehen würde.“ Sie ließ das Essen in ihrem Mund verschwinden und verdrehte glücklich seufzend die Augen. „Das ist echt lecker.“

„Hmh.“ Ich achtete kaum auf sie. Hier war zu viel Bewegung, zu viel Chaos und einfach zu viel Betrieb. Überall gab es was zu sehen und das machte mich nervös. Ich war es nicht gewohnt, so viele Menschen um mich zu haben und ich musste ehrlich sagen, das gefiel mir nicht. Ich wusste gar nicht, auf wen ich mich zuerst konzentrieren sollte. Aus allen Ecken schien Gefahr zu drohen.

Natürlich drohte hier aus allen Ecken Gefahr, schließlich befanden wir uns nicht nur in Eden, sondern auch im Zuhause der Tracker. Das steigerte meine Unruhe immer weiter.

Ich musste mich auf diese Situation konzentrieren, durfte mich nicht ablenken lassen, aber bei so vielen Menschen war das gar nicht so einfach. Wie konnte man nur so leben?

„Du solltest das wirklich mal probieren.“ Nikita hielt mir einen Löffel mit diesen weißen Körnern unter die Nase.

„Nein danke, ich habe keinen Hunger.“ Was nur hatten die Tracker mit uns vor? Diese Frage würde mich noch verrückt machen, wenn ich nicht bald eine Antwort darauf bekam.

„Du hast seit Tagen kaum etwas gegessen. Du wirst bald einfach umfallen.“

Ich schloss für einen Moment die Augen. Sie für ihr Verhalten anzufahren, würde sie nur kränken und ansonsten gar nichts bringen. Nikita lebte für ihre Abenteuer, das hatte sie schon immer. Und Eden war wohl das größte Abenteuer ihres bisherigen Lebens. Vielleicht waren es gerade meine ganzen Schauergeschichten, die diese Stadt so anziehend auf sie wirken ließen. Die Faszination des Makabren sozusagen. Ich konnte nur hoffen, dass sie ihr Misstrauen nicht verlor und vorsichtig blieb, denn Eden war nicht das was es zu sein schien.

„Na los, iss was.“

Sie stierte mir solange ins Gesicht, bis ich ergeben seufzte und die kleinen weißen Körner in den Mund nahm. Das Zeug war weich und schien mehr oder weniger Geschmacksneutral zu sein. Es war leicht gewürzt, aber was genau es war, konnte ich nicht sagen. Sowas hatte ich jedenfalls noch nie gegessen.

„Schmeckt es ihnen?“

Bei der fremden Stimme zuckte mein Blick zur Seite.

Neben uns stand einer der Betreuerinnen. Joulia. In ihrem Arm hielt sie eines von diesen technischen Brettern, mit denen die hier scheinbar alle herumliefen. Sie lächelte. Irgendwie lächelten hier alle. Hoffentlich war das keine ansteckende Krankheit.

Sie musterte den leeren Platz vor mir auf dem Tisch. „Haben sie keinen Hunger?“

„Sie isst nie viel“, antwortete Nikita an meiner Stelle und schob sich noch einen Berg vom Reis in den Mund.

„Das ist schade. Aber vielleicht bekommen sie ja später noch Hunger.“

„Vielleicht“, murmelte ich unverbindlich und hoffte, dass sie damit wieder verschwinden würde.

Natürlich tat sie mir diesen Gefallen nicht – wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein.

„Ich wollte mich nur erkundigen, ob es ihnen gut geht und sie alles haben.“

Als ich den Mund erneut öffnen wollte, warf Nikita mir einen warnenden Blick zu. Fehlte nur noch das sie mir unterm Tisch gegen mein Schienbein trat. Ich klappte den Mund wieder zu.

Super, jetzt musste ich mich schon von einem pubertierenden Teenager in die Schranken weisen lassen.

„Uns geht es prima, es ist wie im Paradies.“ Ob sie den Sarkasmus in meiner Stimme bemerkte?

„Das freut mich zu hören.“

Nein, sie bemerkte es nicht.

„Kit hat gesagt, wir dürfen uns die Stadt ansehen, sobald man uns eine Freigabe erteilt hat.“ Nikita ließ ihre Finger über ihrem Teller rotieren und entschied sich dann für einen Möhrenstick. „Wie lange dauert es, bis wir sie bekommen?“

Joulias Lächeln hellte sich noch eine Spur auf. „Da kann es wohl jemand kaum erwarten, seine Zukunft kennenzulernen.“

Ihre Schultern zuckten in einer nichtssagenden Geste.

Was machte Nikita da? Versuchte sie nur etwas Konversion zu treiben, oder steckte mehr dahinter? Vielleicht sollte ich ihr ja mal unter dem Tisch gegen das Schienbein treten, um sie wieder ein wenig zu Vernunft zu bringen.

„Es wird leider noch ein wenig dauern“, sagte Joulia mit einem Bedauern in der Stimme, das ich ihr nicht abnahm. „Aber wenn alles gut läuft, werdet ihr schon morgen das Aufnahmeinstitut verlassen können. Diese Einrichtung ist nicht für einen längeren Aufenthalt gedacht und wir versuchen natürlich so schnell wie möglich den Richtigen Platz für unsere Neuzugänge zu finden.“

Nikita biss von ihrem Stick ab und wedelte dann damit herum. „Das hört sich toll an.“

Ein paar Tische weiter gab es einen kleinen Tumult. Eine alte Frau übergab sich lautstark und scheuchte die anderen an ihrem Tisch damit von ihren Stühlen. Da hatte wohl jemand die Warnung Betreuer in den Wind geschossen und sich maßlos überfressen.

Nikita nahm dieses Beispiel anschaulicher Maßlosigkeit als Warnung und schob ihren Teller von sich.

Zum ersten Mal verschwand Joulias Lächeln und verwandelte sich in leichte Besorgnis. „Bitte entschuldigt mich, darum muss ich mich kümmern.“ Sie wandte sich bereits ab, hielt dann aber noch einmal inne.

„Sie sollten sich wirklich etwas zu Essen holen, Kismet, es ist nicht gesund zu hungern und wir haben reichlich.“ Sie nickte Nikita zu und eilte dann zu der älteren Dame.

„Du solltest netter sein“, tadelte mich meine kleine Schwester, kaum dass sie außer Hörweite war.

Ich funkelte sie an. „Netter? Ist dir bewusst, wer diese Menschen sind? Hast du bisher auch nur einen Moment darüber nachgedacht, was es bedeutet hier zu sein? Das sind keine Freunde, Nikita, das sind Edener. Sie sehen vielleicht aus wie ganz normale Menschen, aber das sind sie nicht. Hast du die ganzen Geschichten vergessen?“

„Nein.“ Sie schob ein Stück Möhre auf ihrem Teller hin und her. „Aber vielleicht sind sie ja gar nicht so schlimm. Bisher waren sie nur nett gewesen und Geschichten werden gerne ausgeschmückt. Denk doch nur an Saad und seine …“

„Sei still!“ Hastig schaute ich mich um, aber niemand nahm unsere Anwesenheit auch nur zur Kenntnis. Ich beugte mich leicht über den Tisch. „Ich will nicht, dass du auch nur einen Namen aussprichst, solange wir hier sind, hast du das verstanden? Wenn sie auch nur ahnen, dass du etwas weißt, werden sie dich solange ausfragen, bis du ihnen die richtigen Antworten gibst.“ Und ich wollte nicht, dass Marshall, oder jemand anderes aus unserer Mischpoche, auch noch hier landete. Ich wollte überhaupt nicht, dass irgendjemand hier landete. Punkt.

„Keine Sorge, ich …“

„Das ist mein Ernst.“ Ich schaute nach links, dorthin wo Joulia der alten Frau an einen anderen Tisch half, während jemand anderes die Sauerei an ihrem Platz wegmachte. „Und du wirst niemanden gegenüber erwähnen, wer die Männer waren, die unsere Mutter getötet haben.“

„Ich bin ja nicht dumm.“

Nein, das war sie nicht, aber sie war von diesem Ort so fasziniert, dass ich befürchtete, sie würde in einem unbedachten Moment, einfach nicht darauf achten, was sie von sich gab. Es war jedoch wichtig, dass sie den Mund hielt. Wir wussten etwas über die Menschen in dieser Stadt, von dem ich mir sicher war, dass die Edener es nicht gutheißen würden, denn die dunkelsten und dreckigsten Geheimnisse blieben lieber im Verborgenen. Wer wusste schon was sie tun würden, wenn sie herausfanden, dass wir ein klares Bild davon hatten, welche Abgrund hinter ihrer falschen Fassade lauerte.

„Aber du hast dich dumm verhalten“, erklärte Nikita im Brustton der Überzeugung. „Wenn du so weitermachst, werden sie dir niemals vertrauen und wir sitzen hier bis in alle Ewigkeiten fest.“

Ich hasste Besserwisser – besonders dann, wenn sie auch noch Recht hatten. „Ich weiß“, gab ich zu.

Nikita fixierte mich noch einen Augenblick, dann schob sie ihren halbvollen Teller von sich und schaute sich im Raum um. Sie wirkte angespannt.

Vielleicht täuschte ich mich ja, vielleicht war sie über die Jahre hinweg ja eine viel bessere Schauspielerin geworden, als ich geglaubt hatte. Hatte ich vor kurzem nicht selber festgestellt, dass sie ein kleiner Manipulator war? Sie war in Täuschungen und Lügen weit besser als ich. Eine Fähigkeit, die ich an ihr bisher immer verabscheut hatte. Aber hier würde sie ihr vielleicht zu Gute kommen. Jetzt musste ich dieses Handwerk nur auch noch erlernen. Das Problem dabei war nur, dass ich Täuschungen hasste. Sie waren nichts für mich und ich konnte sie auch nicht gut. Nur leider hing jetzt unser Leben davon ab.

Ein paar Tische weiter erhob sich Sinead mit dem kleinen Jungen. Einer der Betreuer war bei ihnen und begleitete sie aus dem Raum. Ich runzelte sie Stirn. Wo wollten die mit dem Kind hin?

Nikita neben mir seufzte. Ihr Blick war durch die Torbögen gerichtet, zu den Leuten, die sich dort aufhielten. Einer von ihnen saß vor einem Fernseher und beobachtete interessiert die bewegten Bilder. „Wir könnten uns zu ihm setzten.“

„Warum willst du dich zu den anderen setzten?“ Alle hier wirkten so … zufrieden. Keiner machte den Eindruck, nicht freiwillig hier zu sein. Wahrscheinlich versteckten sie die widerspenstigen Leute. Würde ja auch einen schlechten Eindruck machen, wenn hier lauter Personen mit Handschellen und Fußfesseln durch die Gegend schlichen. Dann wäre der Ruf der barmherzigen Samariter ganz schnell dahin. Das mit dem Riesen, hätten wir sicher auch nicht sehen sollen.

„Weil ich hier sonst noch vor Langeweile sterbe.“

Andererseits, konnten sie es wirklich schaffen, die Maske der Täuschung, die ganze Zeit aufzubehalten? Irgendwann musste diesen Leuten doch klar werden, dass sie einer Lüge auf den Leim gegangen waren. Und was dann?

Willst du das wirklich wissen?

Da war ich mir nicht so sicher.

„Hörst du mir überhaupt zu?“ Als ich nicht reagierte, setzte Nikita sich auf. „Kismet!“

„Hm?“

„Ach vergiss es einfach.“ Sie erhob sich von ihrem Platz, doch bevor sie auch nur einen Schritt gegangen war, hatte ich sie am Handgelenk ergriffen.

„Was glaubst du wo du hingehst?“

„Ich will mich nur mal ein wenig umschauen.“

Umschauen? Gleich würde mich der Schlag treffen. Einfach so und dann wäre es vorbei. „Setzt dich Nikita.“

„Aber …“

„Setzten.“ Hm, so trotzig wie sie den Mund verzog, war das wohl ein wenig heftig gewesen. „Bitte“, fügte ich deswegen ein wenig sanfter hinzu.

Einen Moment schien sie sich schon aus Prinzip weigern zu wollen, doch dann seufzte sie ergeben und ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken. Allerdings entzog sie mir ihren Arm und verschränkte ihn starrköpfig vor der Brust.

Tief einatmen. „Wo sind wir hier?“

„Was?“

„Beantworte mir die Frage. Wo sind wir hier?“

„In Eden.“

Und noch einmal von Anfang an bitte. „Nein, wir sind hier in der Gewalt des Feindes.“

Fast hätte sie die Augen verdreht, ich sah es genau.

„Ich verstehe, dass dich das freundliche Getue und der ganze Luxus blenden. Ich verstehe auch deine Neugierde, doch du darfst niemals vergessen …“

„Pssst!“ Sie schlug mir quer über den Tisch die Hand auf den Mund.

Ich starrte sie an wie ein Frosch eine Fliege und zog ihre Hand weg. „Was soll das?“

„Wir bekommen Besuch.“

Um herauszufinden was sie meinte, musste ich mich um hundertachtzig drehen. Joulia kam mit einem breiten Lächeln direkt auf uns zu. Gut das wenigstens Nikita sie bemerkt hatte, bevor ich mich um Kopf und Kragen redete.

Als sie bei uns war, strahlte sie Nikita geradezu an. „So, wir wären dann bereit für sie.“

Meine Alarmsirenen schrillten los. „Bereit?“, fragte ich bevor Nikita auch nur einen Muskel bewegen konnte. „Was hast du mit ihr vor?“

Der feindselige Ton in meiner Stimme musste ihr aufgefallen sein, trotzdem ließ sie sich davon nicht einschüchtern und behielt ihr Lächeln tapfer bei. „Ich werde sie zu ihrem Termin bei Dr. Pirozzi bringen.“

„Ein Termin?“, fragte ich misstrauisch. „Bei einem Doktor?“

„Das Interview und die ärztliche Untersuchung“, erklärte sie. „Ich habe ihnen bereits davon erzählt, erinnern sie sich? Sie müssen anschließend auch noch bei unserer Ärztin vorstellig werden. Das gehört zum Protokoll und ist reine Routine. Wir wollen uns nur versichern, dass sie beide gesund sind, nichts worüber sie sich Sorgen machen müssten.“

„Dann gehe ich zuerst.“ Nicht das ich scharf darauf war – überhaupt nicht – aber ich würde Nikita nicht diesen Leuten aussetzen.

Nun verblasste ihr Lächeln ein wenig. „Das geht leider nicht. Das Protokoll verlangt genaue Einhaltung. Wir beginnen mit den jüngsten Neuzugängen und Nikita ist jünger als sie. Sie ist vor ihnen an der Reihe.“

Hatte Sinead deswegen den Saal mit dem kleinen Jungen verlassen?

„Sie sind wahrscheinlich als nächstes dran“, fügte sie noch hinzu.

„Wie beruhigend.“

Nikita nahm meine Hand und drückte sie leicht. „Es ist schon in Ordnung Kiss, mir passiert nichts.“

Und das Schlimmste an dieser Aussage? Sie schien es wirklich zu glauben. Ich konnte es in ihren Augen sehen. Sie war wachsam, aber sie hatte keine Angst. Ihre Neugierde überwog alles andere – auch ihren Instinkt, der für uns alle so überlebenswichtig war.

„Ich komme mit“, entschied ich.

„Nein, das ist …“, begann Joulia.

„Ich werde sie nicht allein lassen.“ Ich fixierte sie. Ich musste gehorchen? Den Anweisungen folgen? Das war nicht in Ordnung, aber vorerst würde ich mich fügen. In diesem Punkt allerdings würde ich nicht mit mir reden lassen. Wenn sie versuchen sollten mich von meiner Schwester zu trennen, würden sie Gewalt anwenden müssen. Nicht dass ich glaubte, sie wären dazu nicht in der Lage – diese Lektion hatte ich bereits gelernt.

In Erwartung einer Abfuhr, spannte ich mich an, doch Joulia schaute nur unschlüssig von mir zu Nikita und wieder zurück. „Warten sie bitte einen Moment.“

Misstrauisch verfolgte ich, wie sie uns den Rücken kehrte und dann quer durch den Raum zu Greta ging. Die Frauen wechselten ein paar Worte und richteten den Blick dann auf uns. Aus der Entfernung konnte ich nicht hören, was sie besprachen, aber ich sah, wie Greta einmal nickte und dann zu einem Tisch mit zwei weiblichen Trackern ging, die nur Gläser vor sich auf dem Tisch stehen hatten.

„Was macht sie?“, fragte Nikita leise.

Ich schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung.“ Aber egal was das werden sollte, sie würden es nicht schaffen, mich von meiner kleinen Schwester zu trennen.

Greta sagte etwas zu den beiden Trackern, woraufhin diese nickten und sich von ihren Stühlen erhoben. Alle meine Muskeln spannten sich gleichzeitig an, als ich die drei auf uns zukommen sah. Joulia allerdings kehrte nicht zurück, sie setzte sich in der Ecke an einen Tisch und beschäftigte sich mit ihrem Brett.

Greta war die erste, die uns erreichte. Die beiden Tracker standen wie zwei Schatten hinter ihr. „Joulia hat gesagt, sie würden ihre Schwester gerne zu ihrem Termin begleiten.“

So konnte man es auch umschreiben. „Ich werde sie nicht alleine gehen lassen.“

„Leider müssen wir jedem eine gewisse Privatsphäre zugestehen. Sowohl das Gespräch, als auch die anschließende Untersuchung sind vertraulich. Aber wenn sie darauf bestehen, dürfen sie Nikita begleiten, wenn sie versprechen, sich zu benehmen und im Wartebereich vor dem Untersuchungsraum Platz nehmen.“

Ich kniff die Augen leicht zusammen. „Das heißt, ich darf mitgehen?“

„Ja, aber sie müssen draußen warten.“ Von diesem Punkt schien sie nicht abrücken zu wollen.

„Kiss.“ Nikita schaute mich sehr eindringlich an. Ihr Blick sandte mir eine eindeutige Nachricht. Ich musste Vertrauen vorgaukeln, wenn wir hier jemals wieder herauskommen wollten. „Das ist so in Ordnung.“

Ich biss die Zähne zusammen. Das passte mir absolut nicht, doch im Moment war alles noch so unsicher, dass ich nichts dagegen tun konnte. „Gut, ich warte draußen.“

„Sehr schön.“ Greta schenkte mir ein kleines Lächeln. „Diese beiden Damen werden sie begleiten, um sicher zu gehen, dass es keine Probleme geben wird.“

Verstanden. Irgendwoher wussten sie, dass ich nicht ganz freiwillig hier war und Probleme machen könnte. Wahrscheinlich hatten Kit oder Dascha es ihnen gesagt und jetzt stellen sie zwei Wachhunde auf, die aufpassen sollten, dass ich nicht aus der Reihe tanzte. „Das wird es nicht“, versicherte ich.

„Dann werde ich die Damen nun ihrem Termin überlassen.“ Greta nickte den Trackern zu und verschwand.

Die kleinere der beiden Frauen, eine Brünette mit kleiner Stupsnase, winkte uns mit der Hand hinter sich her. „Na dann kommt mal, es ist nicht weit.“

Ob sie es glaubte oder nicht, das war in meinen Ohren nichts Positives. Trotzdem erhob ich mich und schnappte mir Nikitas Hand, sobald auch sie aufgestanden war.

Die beiden Tracker übernahmen die Führung.

Wir verließen den Saal auf den gleichen Weg, auf dem wir hineingelangt waren. Durch die große Doppeltür ging es in einen weitläufigen Korridor. Es ging eine Treppe hoch, zweimal mal nach links und dann durch eine einfache Tür. Diese Tür wurde wieder mithilfe eines Scanners geöffnet.

Die fehlende Selbständigkeit dieser Menschen war wirklich seltsam. Sie waren hier so abhängig von ihrer Technik, dass sie es nicht einmal schafften, eine Tür ohne sie zu öffnen. Wie konnten sie nur das dominierende Volk auf dieser Welt sein? Das war mir unbegreiflich.

Der Raum, der uns empfing, besaß eine große, gemütliche Sitzecke, bestehend aus einem ledernen Ecksofa und zwei passenden Sessel, die sich um einen gläsernen Tisch drapierten. Die weißen Wände waren mit schwarzweiß Photographien von Menschen dekoriert und vor den hohen Fenstern hingen stabile Gitter.

Mit Nikita an der Hand, trat ich auf den weichen Teppich und richtete meinen Blick auf die einzige, andere Tür in diesem Raum. Alles war so sauber und … steril. Allein durch die Umgebung fühlte ich mich unwohl. Das hier war alles so ganz anders als das was mir lieb war.

Die stupsnasige Trackerin ging zu der Tür und klopfte dagegen, während sich hinter uns der Raum verschloss und hier einsperrte. Es dauerte einen Moment, dann wurde sie von einer Frau in weißer Schwesterntracht mit grünem Haar geöffnet. Nein, das war gar nicht seltsam.

„Ich bringe Nikita zu ihrem Termin“, erklärte die Stupsnase.

Woher wusste die, wie meine Schwester hieß?

Die grünhaarige öffnete die Tür weiter, wodurch das Emblem von Eden auf ihrer Brust sichtbar wurde. Sie schaute sich nach mir und Nikita um und lächelte. „Oh, wollte da jemand unbedingt zusammenbleiben?“

„Kismet wird im Vorraum warten, bis sie an der Reihe ist.“

„Na dann.“ Grünschopf trat einen Schritt zurück und machte eine einladende Handbewegung. „Immer rein, in die gute Stube.“

Nikita zögerte und schaute unsicher zu mir auf. Doch dann trat die gleiche Entschlossenheit in ihr Gesicht, die sich dort schon vor der Dusche gezeigt hatte. „Das geht bestimmt ganz schnell“, versicherte sie mir.

Ich nickte, auch wenn ich mir da gar nicht so sicher war und gab ihre Hand frei. Das letzte was ich von ihr sah, war ihr unsicheres Lächeln, dann wurde die Tür geschlossen und ich war mit den beiden Trackern alleine.

Da ich nichts Besseres zu tun hatte und die beiden Frauen ein Gespräch miteinander begannen, dem ich mich nicht anschließen wollte, setzte ich mich auf den Sessel unter dem Fenster und starrte die Tür an, hinter der Nikita sich befand. So hatte ich alle Türen und Tracker im Blick.

Ich wollte da hinein, um zu erfahren, was sie mit ihr taten, aber das durfte ich nicht. Zwar hatte man mir die Handschellen abgenommen, dennoch waren mir die Hände gebunden. Nur ein falscher Schritt und es würde mich teuer zu stehen kommen. Ich war also zum Nichtstun verdammt und das zerrte an meinen Nerven.

An der Wand hing ein Zeitmesser, die mich mit ihrem Ticken ganz verrückt machte. Am liebsten hätte ich das Teil heruntergerissen und aus dem Fenster geworfen.

Das Gespräch der beiden Frauen war weder besonders spannend, noch sehr informativ. Ich lauschte ihnen zwar mit einem halben Ohr, aber zu wissen, welches Training sie zurzeit absolvierten und welches die passende Nahrung dazu war, um den Kalorienhaushalt einzuhalten, war nicht im Mindesten hilfreich. Ich brauchte einen Weg um hier rauszukommen.

Mann, ich musste aufhören im Kreis zu denken.

Um mich abzulenken, studierte ich die Bilder an der Wand. Sie waren … eindrucksvoll. Es waren immer nur einzelne Teile des Körpers zu sehen. Das Kinn, zusammen mit einem sinnlichen Mund, der halb geöffnet war. Zwei Hände, die sich zärtlich berührten. Ein halber Frauenrücken.

Gerade als ich zu entscheiden versuchte, ob der Hintern auf dem Bild neben dem Fenster einem Mann oder einer Frau gehörte, gab es ein kurzes Summen und die Tür, durch die wir gekommen waren, schob sich mit einem Zischen in die Wand.

Sofort wurde ich wieder wachsam, doch es war nur Kit, der da hineingeschlendert kam und mich frech angrinste. „So sieht man sich wieder.“

Ich schwieg und hielt mein Gesicht ausdruckslos.

Er hatte sich umgezogen und seine Uniform gegen Freizeitkleidung getauscht. Sein Haar war leicht feucht, so als käme er gerade aus der Dusche. „Bist du auch schön artig gewesen?“

Als er die Hand nach mir ausstreckte, als wollte er meinen Kopf tätscheln, wich ich aus und schlug sie weg. „Fass mich an und du verlierst deinen Arm.“

Er öffnete den Mund, doch die größere der beiden Frauen sagte: „Lass sie in Ruhe, sonst bekommst du einen Tritt in den Hintern.“

Sein Grinsen wurde noch breiter. „Ich liebe es, wenn du so herrisch bist.“ Er schlenderte zu den beiden Freuen hinüber.

Die Große verschränkte die Arme vor der Brust. „Was willst du hier?“

„Ich wollte meiner kleinen Sasha nur Bescheid sagen, dass ich wieder da bin.“ Er legte einen Arm um die Schultern der Stupsnase. „Und schauen wie es ihr geht.“

Die Wangen der Stupsnase röteten sich leicht, aber sie schob seinen Arm nicht fort. „Seit wann bin ich deine Sasha?“

Seine Antwort blendete ich aus und wandte mich lieber wieder dem Bild zu. Ich hatte kein Interesse daran, Kit bei seiner Liebeswerbung zu beobachten. Ja zugegeben, er war ein verdammt gutaussehender Mann, aber er war vor allen Dingen ein Tracker und nichts konnte diesen gravierenden Makel ausgleichen. Er war ein Monster und würde immer eines bleiben. Noch dazu hatte er einen ziemlich schrägen Sinn für Humor, den ich absolut verabscheute.

Als das Summen der Tür eine viertel Stunde später wieder ertönte, warf ich nur einen mäßig interessierten Blick in die Richtung. Es war schon wieder Kit, nur …

Moment mal. Meine Augen wurden riesig. Wie konnte Kit durch die Tür kommen, wenn er drüben bei den beiden Frauen stand?

Im ersten Moment verstand ich nicht, was meine Augen mir da zu vermitteln versuchten. Der Mann der da kam, sah haargenau aus wie der Tracker, von der Statur, über das hübsche Gesicht, bis hin zu den Babyblauen Augen. Nur seine Haare waren ein wenig kürzer als Kits.

„Ah, da bist du ja.“ Der Fremde nickte mir im Vorbeigehen freundlich zu und vergaß mich im nächsten Moment gleich wieder. „Ich habe dich schon überall gesucht.“

„Du hast mich gefunden.“

Nervös huschten meine Augen von einem zum anderen, auf der Suche nach einem Unterschied, aber sie sahen beide genau gleich aus. Als wären sie … geklont worden.

Dieser Gedanke ließ mich erstarren. Bevor ich überhaupt wusste, was ich da tat, übernahmen meine Instinkte die Kontrolle und ich riss eines der Bilder von der Wand, um mich damit auf die Tracker zu stürzen.

 

oOo

Kapitel 14

 

Das Bild krachte der größeren der beiden Frauen auf den Kopf und zersplitterte in tausend Teile. Sie sank stöhnend und ohne die kleinste Gegenwehr zu Boden. Der Kitklon wich zur Seite aus, während ich Kits Überraschung ausnutzte und ihm einen heftigen Stoß vor die Brust versetzte. Er landete auf dem Hintern.

„Nikita!“, schrie ich und wollte zu der Tür, hinter der sich meine Schwester befand. Adrenalin jagte in meinen Blutkreislauf und mein Herz trommelte wie wild. Ich tackelte die Stupsnase gegen die nächste Wand, als sie versuchte, nach mir zu greifen. Ich musste unbedingt zu meiner Schwester.

Sie hatten gelogen. Ich hatte es gewusst und mich trotzdem auf ihr Spielchen eingelassen. Und jetzt schwebte Nikita wahrscheinlich in Lebensgefahr. Wer wusste schon, was ihr in diesem Augenblick widerfuhr?

Etwas Hartes krachte heftig gegen meine Schläfe und brachte mich aus dem Gleichgewicht. Ein ganzes Universum explodierte vor meinem inneren Auge. Benommen und nach Halt suchen, um nicht zu Boden zu stürzen, torkelte ich zur Seite. Zwei starke Arme packten mich und im nächsten Moment wurde ich mit dem Gesicht voran, gegen die nächste Wand gedrückt.

„Verdammte Scheiße, was ist denn plötzlich in dich gefahren?“, wollte Kit wissen. Seine Stimme war direkt an meinem Ohr. Er war es, der mich festhielt.

Mein Versuch, nach hinten auszutreten und ihm mit ein bisschen Glück das Bein zu brechen, ging ins Leere.

„Hör auf damit!“

„Nikita!“, schrie ich wieder. Mein Kopf schmerzte und mir war schwindlig. Doch die Panik summte so stark in meinen Adern, dass ich darauf im Moment nicht achtete.

„Lass den Scheiß“, knurrte Kit und drückte meine Arme, bis an die Schmerzgrenze, nach oben. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien.

Die Tür wurde aufgerissen und die Frau mit den grünen Haaren kam heraus. „Was ist denn hier los?“

„Das wüsste ich auch gerne.“ Kit griff meine Arme mit einer Hand und packte mit der anderen meinen Nacken, als ich versuchte, meinen Kopf gegen seine Nase zu schmettern. „Jetzt hör endlich auf mit dem Mist, was ist los mit dir?“

„Kiss?“ Auch Nikita steckte den Kopf aus dem Raum, wurde jedoch nicht herausgelassen. Die grünhaarige Frau versperrte ihr den Weg. „Was macht ihr da mit …“ Sie verstummte und bekam große Augen, als sie den zweiten Kit erblickte. In einem scharfen Atemzug sog sie die Luft an. „Ein Klon.“

„Ein Klon?“ Das kam von dem Klon.

„Ja, ein verdammter Scheißklon!“, fauchte ich. „Das ist der Beweis!“

„Beweis?“ Kit klang verwirrt.

„Für eure Experimente!“

Der Klon zog bei meinem Worten erstaunt eine Augenbraue hoch. „Klon? Ich bin doch viel Hübscher als Kit. Und auch viel Intelligenter.“

„Sehr witzig“, knurrte Kit und grunzte, als ich ihn mit der Ferse am Schienbein erwischte.

„Kit, lass sie los, ich glaube, ich weiß, was das Problem ist.“

„Bist du verrückt?“

„Nein, nur sehr scharfsinnig.“

Kit veränderte seine Position leicht, dann fluchte er leise und plötzlich war ich frei.

Ich wirbelte sofort herum, bereit es mit ihnen allen aufzunehmen, doch die drei Tracker standen nun wieder und hielten alle ihre Schlagstöcke bereit. Was es das was mich am Kopf getroffen hatte?

„Benimm dich“, warnte Kit. Die Drohung war glasklar.

Ich warf einen panischen Blick zu Nikita, die scheinbar auch nicht wusste, was sie tun sollte und wich einen Schritt zur Seite, weg von den Tracken – und leider auch von Nikita. Unter meinem Fuß zerbrach Glas und schnitt mir in die Ferse. Ich merkte es kaum.

Der Klon hob besänftigend die Hände. „Ganz ruhig, du brauchst keine Angst haben. Ich bin kein Klon. Mein Name ist Killian, Kit und ich sind Zwillinge.“

„Zwillinge?“

„Zwillinge“, bestätigte Kit. Er war ruhig, aber äußerst wachsam. Auch den beiden anderen Trackern sah man die Anspannung an.

„In Eden gibt es sehr viele Mehrlingsgeburten“, erklärte Killian und trat vorsichtig einen Schritt näher. „Wir haben uns die Erhaltung der Menschheit zur Aufgabe gemacht und nutzen dazu alle uns bekannten Möglichkeiten. Die In-vitro-Fertilisation ist dabei eine unserer gängigsten Methoden, denn sie ermöglicht es uns, mehrere befruchtete Eizellen in die Gebärmutter einzubetten. Wir haben auch noch andere Verfahren. Sie alle zielen darauf ab, möglichst viele Säuglinge zur Welt zu bringen.“

Ich schaute unsicher zwischen ihm und Kit hin und her.

„Wir sind nicht das Ergebnis wissenschaftlicher und unethischer Experimente, sondern stammen aus einem Zuchtprojekt. Wir sind gar nicht in der Lage einen Menschen zu klonen.“

Er wirkte ehrlich und offen, doch ich wäre dumm, wenn ich ihm auch eines seiner Worte glauben würde, ganz egal wie logisch es klang. Und was meinte er mit Zuchtprojekt?

„Ich habe noch einen Zwillingsbruder“, erklärte die große Frau und ließ ihren Schlagstock leicht sinken. „Und Sasha ist ein Drilling.“

Ich schaute zu der Grünhaarigen.

„Ich bin Einzelkind.“ Sie lächelte.

In Ordnung, das war … ich war mir nicht ganz sicher wie das war. Vielleicht seltsam? Oder doch eher Bizarr? Theoretisch wusste ich natürlich, was ein Zwilling war, aber ich war noch nie einem begegnet.

„Also bist du nicht Kits Klon?“, fragte Nikita vorsichtig.

Lächelnd schüttelte Killian den Kopf. „Nein, bin ich nicht. Ich bin nur ein Zwilling. Genaugenommen ist Kit mein kleiner Bruder. Er kam dreizehn Minuten nach mir auf die Welt. Er ist das kleine, verhätschelte Nesthäkchen.“

Kit warf seinem Bruder einen finsteren Blick zu.

„Du siehst also, alles ist in Ordnung.“ Killian ließ langsam die Hände sinken, so als hätte er Angst, eine schnelle Bewegung könne mich wieder in Panik versetzten. So unrecht hatte er damit wahrscheinlich gar nicht.

Ich schaute zu Nikita. „Geht es dir gut?“

„Ja.“ Sie nickte, um ihre Antwort zu untermalen. „Wir haben nur ein Gespräch geführt, als wir hier draußen den Lärm hörten.“

Mein Blick glitt einmal an ihr hoch und runter. Sie schien wirklich unversehrt zu sein. Trotzdem summte das Adrenalin noch immer in meinem Körper.

„Wie wäre es, wenn wir unsere Waffen wegstecken und uns hinsetzen, damit wir uns alle ein wenig beruhigen können.“ Killian sah mich direkt an. „Das war nur ein dummes Missverständnis, niemanden wird etwas passieren.“

Niemanden würde etwas passieren? Warum fühlte ich mich dann immer noch wie ein in die Ecke getriebenes Tier?

„Ist schon gut, Kiss“, sagte Nikita. „Du hast sie doch gehört, alles ist in Ordnung.“

In Ordnung?! Am liebsten hätte ich sie angeschrien und gefragt was mit ihr los war. Nichts an dieser Situation war in Ordnung. Wir waren ihre Gefangenen und wenn wir nur darüber nachdachten, uns zu wehren, würden sie uns schon in eine Zwangsjacke stecken. Aber mir blieb gar nichts anderes übrig, als zu nicken und so zu tun, als wäre ich mit allem einverstanden. Und setzten sollte ich mich vermutlich auch, mir war immer noch leicht schwindlig.

„Dann habt ihr das hier draußen jetzt im Griff?“, erkundigte sich die Grünhaarige.

Kit nickte. „Wie Killian sagt, nur ein Missverständnis.“

„Okay, dann können wir ja weiter machen. Nikita?“

Auch Nikita nickte und verschwand dann mit einem letzten Blick auf mich wieder in dem Raum. Die Frau wollte die Tür gerade wieder schließen, als Killian „Moment“, rief und dann auch noch in den Raum eilte. Dann war ich erneut mit den Trackern allein. Sie wirkten noch immer sehr angespannt.

Ich versuchte mich selbst davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung war, hob dann meinen Fuß und zog die Glasscherbe von dem Bilderrahmen aus der Sohle.

„Uh“, machte Kit und steckte seinen Schlagstock zurück an seinen Gürtel. „Das tut sicher weh.“

Das tat es in der Tat, aber das würde ich mir nicht anmerken lassen. Ich ließ die Scherbe einfach zu den anderen auf den Boden fallen und humpelte dann hinüber zur Couch. Mit meinem Fuß hinterließ ich blutige Abdrücke auf dem Teppich.

„Warte, ich helfe dir.“ Kit machte einen Schritt auf mich zu, doch mein Todesblick brachte ihn gleich wieder zum Stehen. „Dann mach es eben allein.“ Er ging zu seiner Kollegin, um sich ihren Kopf anzuschauen. Das Bild musste sie ziemlich hart getroffen haben.

Ich ließ mich auf das Sofa sinken und stützte den Kopf in die Hände. Alles tat mir weh. Meine Arme, mein Fuß, mein Schädel. Bei Gaias Zorn, diese Kopfschmerzen waren wirklich schrecklich.

Ein leises Zischen kündete davon, dass eine Tür geöffnet wurde. Schritte näherten sich mir und gleich darauf erschienen zwei Füße in meinem Sichtfeld.

„Darf ich sie behandeln?“

Ich hob den Kopf und sah den Klon von mir. Nein, kein Klon, ein Zwilling. Killian. Er trug ein graues Hemd und schwarze Stoffhosen. Seine Augen waren neugierig und freundlich. In seiner Hand hielt er ein silbernes Tablett mit medizinischen Utensilien und einem Glas Wasser darauf.

„Sie haben eine Platzwunde am Kopf und wenn ich mir den Teppich ansehe, dann bluten sie wohl auch am Fuß. Wenn sie es erlauben, würde ich mich gerne um ihre Verletzungen kümmern.“

Ich kniff die Augen leicht zusammen. „Warum? Was interessiert es dich?“

„Man könnte wohl sagen, ich habe ein schlechtes Gewissen, denn das Missverständnis kam nur durch mein Auftauchen zustande.“

Dem konnte ich nicht widersprechen. Andererseits war es ein Wunder, dass ich nicht schon vorher ausgeflippt war. Der Stress setzte mir bereits seit Tagen zu. Es war klar gewesen, dass es irgendwann passierte.

Killian stand abwartend da. Er drängte mich nicht.

„Was wenn ich nein sage?“

„Dann werde ich sie in Ruhe lassen und mit meinem schlechten Gewissen leben müssen.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln. „Es geht ganz schnell und wird auch nicht wehtun.“

Sein schlechtes Gewissen war mir völlig egal, aber diese Kopfschmerzen waren brutal und ich merkte, wie das Blut an meiner Schläfe hinab lief. Der Tag war gerade mal zur Hälfte vorbei und ich wusste nicht, was heute noch auf mich zukam. Ich musste zu jeder Zeit in Topform sein.

„Bitte.“

Ich warf einen Blick zu Kit und den beiden Frauen. Sie beobachteten uns wachsam, mischten sich aber nicht ein. Die drei konnten mir gefährlich werden, dieser Killian jedoch schien aus einem anderen Holz. Er wirkte nicht wie ein Tracker. Trotzdem zögerte ich.

Wäre er Azra, oder Marshall, würde ich ihn ohne Bedenken an mich heranlassen, aber er war keiner von ihnen. Er war der Feind, ganz egal wie nett er tat. Darum konnte es auch nur eine Antwort geben. „Nein.“

Offensichtlich hatte er mit einer anderen Antwort gerechnet, denn einen Moment schien er aus dem Konzept gebracht. Doch dann stellte er das Tablett vor mir auf den Tisch und trat wieder einen Schritt zurück. „Möchten sie es alleine machen? Ich kann ihnen sagen, was sie tun müssen und komme ihnen dabei auch nicht zu nahe.“

Es schien ihm wirklich wichtig, meine Verletzungen zu versorgen. Ich wollte das eigentlich auch und jetzt hatte er mir eine Möglichkeit geboten, wie ich es tun konnte, ohne ihn an mich heranlassen zu müssen. Wortlos beugte ich mich vor und nahm mir einen Wattebausch, den ich mir gegen die Schläfe drückte. Es brannte und ich zischte.

Killian griff nach vorne, als wollte er mir helfen, riss sich dann aber zusammen und nahm stattdessen mit einigem Abstand neben mir Platz. „Nehmen sie das Spray“, sagte er und deutete auf einen silbernen Zylinder, der klein genug war, um in meine Hand zu passen. „Sprühen sie es sich auf die Wunde, das betäubt den Schmerz.“

Ich zögerte, griff dann aber mit meiner freien Hand danach und mir das Ding anzusehen. Es fühlte sich kühl an.

„Oben ist ein Knopf, den sie drücken müssen. Die Öffnung ist an der Seite, da kommt das Alfentanil heraus. Sie müssen …“

„Das was?“

„Das Mittel, das den Schmerz betäubt.“

Ich drückte Probeweise auf den Knopf und ein feiner Sprühfilm stob in die Luft. Mit einem misstrauischen Blick auf ihn, nahm ich den Wattebausch weg, drehte den Zylinder und sprühte mir damit gegen den Kopf. Es landete auf meiner Nase.

Killian schmunzelte.

Der zweite Sprühstoß landete auf meiner Stirn. Näher dran, aber noch immer nicht getroffen. Ich brauchte noch zwei weitere Versuche, um mein Ziel zu finden. Im ersten Moment brannte es, aber dann ließ der Schmerz schnell nach und ich konnte mir wieder den Wattebausch draufdrücken.

Killian sah aus, als wollte er mir die Arbeit abnehmen. Es schien ihn wirklich etwas auszumachen, eine blutende Frau neben sich zu haben.

Ich seufzte. „In Ordnung, mach du es.“ Alleine würde ich dafür eine Ewigkeit brauchen, falls ich es überhaupt schaffte. Und wenn er irgendwas seltsames tat, konnte ich ihm immer noch meine Faust ins Gesicht schlagen.

Im ersten Moment wirkte Killian einfach nur überrascht, doch dann lächelte er wieder dieses halbe Lächeln, rückte etwas näher und streckte die Hand nach dem Tablett aus.

Ich hielt ganz still, als er mir den Wattebausch abnahm und mein Gesicht leicht drehte, um sich die Sache näher anzusehen. „Das ist gar nicht so schlimm“, erklärte er und wischte das Blut mit einem Tuch weg.

Bei seiner Berührung, spannten sich alle meine Muskeln an, doch er achtete darauf, mich so wenig wie möglich zu anzufassen. Entweder spürte er, dass ich das nicht wollte, oder er hatte verstanden, dass es nicht schlau war, mir zu nahe zu kommen. Vermutlich letzteres.

„Es wird wahrscheinlich eine kleine Narbe zurückbleiben.“ Er tauschte das Tuch gegen ein anderes Spray aus und gab einen Sprühstoß auf meine Wunde. „Aber wie hat meine Adoptivmutter immer gesagt? Jede Narbe ist eine Auszeichnung für einen kleinen Krieger.“ Sein Mundwinkel zuckte. „Damals war ich allerdings noch ein kleiner Junge gewesen, also weiß ich nicht, ob das hier passt.“

Ich sagte nichts, ich hatte kein Interesse an einem Gespräch mit ihm. Viel wichtiger fand ich die Frage, wie lange Nikita noch in diesem Raum festgehalten wurde.

Vorsichtig tupfte er ein weiteres Mal um die Wunde herum, dann nahm er einen kleinen Streifen zur Hand und klebte ihn darüber. „So, das dürfte erstmal genügen. Hier, schlucken sie diese Tablette, das hilft gegen die Kopfschmerzen.“ Er nahm eine kleine Pille von dem Tablett und ließ sie in meine Hand fallen. Dann schob er mich auch noch das Glas Wasser zu.

„Ich dachte, das Spray wäre gegen die Schmerzen.“ Ja, das war Misstrauen in meiner Stimme.

Seine Augen lachten mich an. „Das war für den oberflächlichen Schmerz. Die Tablette ist gegen das Brummen in ihrem Kopf.“ Er begann damit einige Sachen auf dem Tablett hin und her zu schieben und einige Wattebäuche mit einem Spray einzusprühen. „Wie heißen sie eigentlich?“

„Das weißt du nicht?“ Ich schmiss mir die Tablette in den Mund und nahm einen großzügigen Schluck Wasser, um sie hinunter zu spülen. Sie wollte mir trotzdem auf halbem Wege nach unten in der Kehle stecken bleiben.

Killian schaute mich überrascht an. „Woher soll ich das wissen?“

„Irgendwie scheinen das hier doch alle zu wissen.“

„Ja, die Angestellten, die hier Zugang auf die Datenbank haben. Ich arbeite hier nicht, ich habe nur nach meinem Bruder gesucht.“

„Tja, dann frag ihn doch nach meinem Namen“, murrte ich. Was war denn jetzt schon wieder eine Datenbank und warum wusste man meinen Namen, wenn man dazu Zugang hatte? Ich mochte es nicht besonders, wenn ich mir dumm vorkam, aber hier hatte ich immer mehr das Gefühl, gar nichts zu verstehen und dass, obwohl wir doch die gleiche Sprache sprachen.

Jemand anderes hätte jetzt wohl die Augen verdreht, oder genervt geseufzt, er nicht. Er lächelte weiter, ja seine Augen funkelten beinahe vor Begeisterung, so als würde er mich interessant finden. „Geben sie mir ihren Fuß?“

„Meinen Fuß.“

„Um die Schnittwunde zu versorgen.“

„Das werde ich wohl noch alleine hinbekommen“, knurrte ich und nahm mir, was ich dafür brauchte. Der sollte bloß nicht zu nahekommen. Nicht nochmal.

Bei meinem scharfen Ton, hob er ergeben die Hände. „Ich wollte nur behilflich sein.“

„Geh einfach weg.“

Er zögerte. Anscheinend wollte er nicht einfach gehen, aber dann nickte er und erhob sich. „Wie sie möchten. Ich wünsche ihnen noch viel Glück.“ Da er scheinbar nicht damit rechnete, von mir eine Erwiderung zu bekommen, drehte er sich zu seinem Bruder herum. „Kit, hast du einen Moment Zeit?“

„Klar.“ Mit einem verschmitzten Lächeln beugte er sich vor und gab der Stupsnase ein Küsschen auf die Wange. „Wir sehen uns dann heute Abend.“

„Ich kann es kaum erwarten.“

„Das glaube ich dir sogar.“ Er zwinkerte ihr zu und verschwand dann zusammen mit Killian nach draußen. Dabei bedachte dieser Killian mich mit einem verdammt viel zu intensiven Blick. Es war fast, als versuchte er, mich zu durchleuchten. Sie beide nebeneinander zu sehen, fand ich verstörend irritierend. Sie sahen sich so ähnlich. Hoffentlich musste ich keine der beiden jemals wieder sehen. Wenn man allerdings mein momentanes Glück beachtete, dann war das wohl eine vergebene Hoffnung.

Seufzend machte ich mich daran, den Schnitt in meinem Fußballen zu versorgen. Er war nicht sehr tief, trotzdem würde es die nächsten Tage unangenehm sein, darauf zu laufen.

Ich war gerade damit fertig und überlegte, ob ich vielleicht noch einen Schluck von dem Wasser trinken sollte, als sich endlich die andere Tür öffnete und Nikita herauskam. Ihre Wangen waren leicht gerötet und sie rieb sich ein paar Mal über den Handballen. Bei mir gingen sofort die Alarmsirenen los. „Was ist passiert?“

Ihre Wagen verdunkelten sich noch ein wenig, aber sie lächelte. „Nur eine Untersuchung, nichts Schlimmes.“ Sie bemerkte den Klebestreifen an meiner Stirn. „Ist bei dir alles in Ordnung?“

Mit einem Nicken erhob ich mich von meinem Platz und ging zu ihr hinüber. Dabei entging mir nicht, wie die beiden Tracker sich anspannten. Die Große legte sogar ihre Hand auf ihren Schlagstock. Ich ignoriere sie beide. „Was haben sie darin mit dir gemacht?“

Nikita schaffte es noch den Mund zu öffnen, aber da erschien auch schon die Frau mit den grünen Haaren hinter ihr. „Die Frau Doktor wäre dann breit für sie.“

Da sie mich anschaute, meinte sie wohl auch mich. Leider bescherten mir diese wenigen Worte, ein extrem mulmiges Gefühl.

Nach allem was ich die letzten Tage ertragen hatte, sollte man nicht glauben, dass dieser kurze Satz noch groß ins Gewicht fiel, aber so war es. Eine Untersuchung durch einen Arzt konnte etwas sehr Persönliches sein. Ich würde mich anfassen lassen müssen. Freiwillig. Ich wollte das nicht. Und dennoch setzte ich mich zögernd in Bewegung, als die Frau zur Seite trat, um mir den Weg frei zu machen. Nachdem was ich gerade getan hatte, blieb mir gar nichts anderes übrig, wenn ich die Situation für mich und Nikita nicht noch schlimmer machen wollte. Also betrat ich den Raum. Je kooperativer ich sein würde, desto schneller würde die Bewachung nachlassen. So zumindest die Theorie.

Vor ein paar Jahren hatte Marshall mich mal zu einem Arzt, zwei Tagesreisen von uns entfernt, bringen müssen. Ich hatte mich bei der Jagd auf ein paar Wildschweine am Oberschenkel verletzt. Eine rostige Stange hatte mir im Vorbeirennen die Haut aufgerissen. Die Folge war eine Entzündung und die Befürchtung, dass ich mein Bein verlieren würde. Ich hatte mein Bein behalten, aber etwas von meinem Muskelgewebe eingebüßt.

Dieser Arzt, zu dem Marshall mich damals brachte, hatte mich in seinem eigenen Schlafzimmer behandelt. Ein kleiner, schäbiger Raum voller Gerümpel. Ein Bett aus Stroh und ein schiefes Regalbrett mit selbstgemachten Arzneien. Dazu etwas, das wie ein scharfkantiger Löffel mit angelaufenen Rostflecken aussah, mit dem er meine Wunde ausgekratzt hatte. So arbeiteten die Ärzte und Heiler in der freien Welt.

Das hier war nicht nur etwas anderes, es war aus einer ganz anderen Dimension.

Der Raum war quadratisch, große, milchige Fenster, kalte Wände und Böden. Die Wände wurden von Schränken und Anrichten aus Edelstahl dekoriert. Eine bequeme Liege stand an der Wand, daneben ein seltsamer mechanischer Stuhl mit komischen Halterungen. Tiegel und Gläser. Instrumente die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Alles blitzblank. Staub, Dreck und Unordnung hatten hier Hausverbot.

Neben der Tür standen zwei Stühle. Vor dem Fenster ein großer Schreibtisch mit einer Maschine, Papieren und Stiften darauf.

Hinter dem Schreibtisch saß eine Frau. Klein, rundlich und mit gelbschwarzem Haar. Ich blinzelte, aber das half nichts, die Haarfarbe blieb. Sie war gelb mit schwarzen Streifen. Mit dem Körperbau dazu, wirkte sie auf mich wie eine dicke Hummel. Was war nur mit den Menschen in dieser Stadt los?

Sie trug einen weißen Kittel, der natürlich auch mit dem Emblem von Eden versehen war.

Als ich vorsichtig und wachsam in den Raum trat, erhob sie sich mit einem freundlichen Lächeln von ihrem Platz und zeigte auf den Stuhl, vor dem Schreibtisch. „Nur keine Scheu, kommen sie, setzen sie sich.“

Ich war nicht scheu, ich war nur wachsam. Und als die grünhaarige Frau die Tür schloss, bekam ich auch noch ein sehr mulmiges Gefühl. Dieser Ort gefiel mir noch viel weniger, als alles andere, was ich bisher von Eden gesehen hatte.

„Sie brauchen keine Angst haben“, erklärte mir die Grünhaarige und wollte mir wohl beruhigend eine Hand auf die Schulter legen.

Ich wich ihr aus und warf ihr einen warnenden Blick zu, der sie das Fürchten lehren sollte. Sobald ich sicher war, dass sie die Botschaft verstanden hatte, ließ ich mich mit verschränkten Armen auf den Stuhl sinken. Dabei fixierte ich die Frau Doktor, mit einem wie ich hoffte, tödlichen Blick – nein, sie fiel leider nicht leblos um. Ich musste wirklich an meine Ausstrahlung arbeiten, so ging das ja mal gar nicht.

„Es freut mich sie kennenzulernen.“ Die Hummel schenkte mir noch ein Lächeln und setzte sich dann selber wieder. „Ich bin Dr. Magarete Pirozzi und zuständig für die Erstuntersuchung.“ Sie begann mit den Fingern auf verschiedene Stellen der Tischplatte herumzutippen, woraufhin diese anfingen zu Leuchten. Ja wirklich, die Oberfläche begann an manchen Stellen schwach zu leuchten und es entstanden Vierecke darauf, ähnlich wie bei einem Fernseher. Darauf standen in dichten Reihen Buchstaben und Worte, doch selbst wenn mein Leben davon abhängen würde, könnte ich sie nicht lesen. Ich hatte das nie gelernt.

Was ich jedoch erkannte, war das Foto, das der Betreuer nach dem Duschen von meinem Gesicht gemacht hatte. Nur stand es aus meiner Sicht auf dem Kopf.

„Ich werde nun eine körperliche Untersuchung vornehmen. Harn- und Blutproben nehmen und da es sich bei ihnen um Frauen handelt, zusätzlich noch eine kurze gynäkologische Untersuchung machen.“ Sie schob ein paar dieser virtuellen Zettel vor sich hin und her und richtete ihren Blick dann zielsicher auf mich. „Aber bevor wir damit beginnen, möchte ich mich erstmal ein wenig mit ihnen unterhalten.“

Aha, unterhalten. Wenn das genauso eine Unterhaltung werden würde, wie mit Kit im Bus, konnte ich mich ja schon mal auf etwas freuen. Aber wenigstens würde eine Unterhaltung nicht wehtun.

„Am besten wir fangen erstmal mit etwas einfachem an. Hier steht, ihr Name ist Kismet. Nikita sagte mir, sie sind ihre leibliche Schwester.“

War das jetzt eine Frage? Ich wartete einfach ab.

„Sie sagte auch, dass es in ihrer Familie einmal einen Nachnamen gegeben hatte, aber sie kannte ihn nicht. Wissen sie ihn?“

„Wozu brauche ich einen Nachnamen?“

„Brauchen tun sie ihn vielleicht nicht, aber bei manchen Streunern ist es Tradition, ihn trotzdem an ihre Nachkommen weiterzugeben. Wenn wir ihn haben, können wir nachsehen, ob sie entfernte Verwandte in der Stadt haben.“

Verwandte? In dieser Stadt? Das war ausgeschlossen. Keiner meiner Vorfahren hätte sich jemals diesen Schlächtern angeschlossen. „Ich lege keinen Wert auf irgendwelche Verwandte, die du aus was-weiß-ich für Gründen aus dem Hut zauberst.“ Und wie der Nachname meiner Familie früher lautete, ging sie nichts an.

Bei meiner Feindseligkeit, ging ihre rechte Augenbraue ein Stück nach Oben. „Das heißt, sie kennen ihn nicht.“

„Der Nachname meiner Familie, ist zusammen mit meiner Mutter gestorben.“ Als wenn ich diesen Bastarden irgendetwas über meine Familiengeschichte erzählen würde.

Eine stille Musterung, dann tippte die Ärztin mit den Fingern auf der Tischplatte. Das virtuelle Bild vor ihr veränderte sich ein wenig, sie fügte Buchstaben und Worte zum Text hinzu. „In Ordnung, kein Nachname. Ist nicht so schlimm. Wenn es ihr Wunsch ist, können wir ihnen zu gegebener Zeit einen Wunschnachnamen geben und ihren Verwandtschaftsgrad können wir auch mit der DNA-Analyse klären.“

„Wie kommst du überhaupt darauf, dass wir hier Verwandtschaft haben?“, wollte ich wissen.

„Das ist eine ganz einfache, mathematische Rechnung. Es gibt nicht mehr viele Menschen in diesem Land und noch weniger die sich fortpflanzen können. Vielleicht sind ja bereits früher Streuner, die entfernt mit ihnen verwandt sind, nach Eden gekommen. Für unsere Forschung und die Erhaltung brauchen wir diese Daten. Wir wollen den Genpool doch sauber halten.“

Ich verstand die Worte, die sie da von sich gab nur zum Teil, der Sinn entzog sich mir aber völlig. Was war ein Genpool?

Kaum das sie mit Tippen fertig war, richtete sich ihr Blick wieder auf mich. „Wie alt sind sie?“

„Zweiundzwanzig.“

„Kennen sie ihr genaues Geburtsdatum?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Das war uns nie wichtig.“

„Dann vielleicht den Monat?“ Wieder tippte sie etwas.

Was sollten diese Fragen? „Winter.“

„Winter“, wiederholte sie und verzog leicht das Gesicht. „Geht das etwas genauer?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Meine Mutter erzählte immer, ich sei am kältesten Tag des Jahres geboren worden.“

„Der kälteste Tag des Jahres?“ Ihre Finger begannen schneller zu tippen. „Dann können wir vielleicht sogar das genaue Datum ermitteln. Unsere Datenbank ist sehr umfangreich. Wir zeichnen alles auf, auch meteorologische Daten.“

Aha.

„In Ordnung, dann weiter. Geburtsort?“

„Im Wald.“

Dr. Pirozzi verzog gequält da Gesicht. „Vielleicht ein wenig genauer?“

„Der Wald in dem ich aufgewachsen bin?“ In der kleinen Hütte darin, wo ich mit meinen Eltern und meinen Geschwistern gelebt hatte, bis die Monster kamen. Ich hatte mich geirrt, ein Gespräch konnte doch wehtun.

„Okay, also nicht.“ Wieder bewegten sich ihre Finger. Was gab es da nur so viel zu schreiben? „Dann … wo haben sie die letzten Jahre gelebt?“

Als wenn ich ihr das verraten würde. Das hier war keine einfache Unterhaltung, das hier war ein getarntes Verhör und ich musste sehr genau aufpassen, was ich sagte. „Der Ort hat keinen Namen.“

„Können sie ihn dann vielleicht ein wenig beschreiben?“

Aber sicher doch. „Es ist ein altes Gebäude, in der Nähe eines Flusses.“

„Das ist ziemlich wage. Nikita sagte, ihr Zuhause läge am Rande einer verlassenen Stadt.“

Verdammt, Nikita.

„Die Stadt, in der die Tracker sie aufgegriffen haben?“

„Aufgegriffen?“ Mein Stachelkleid richtete sich auf. „Ich wurde nicht einfach aufgegriffen.“ Das letzte Wort betonte ich sehr stark. „Die Tracker haben mich und meine Schwester entführt, gefesselt und dann gegen unseren Willen hergebracht.“

Mit jedem meiner Worte zog Dr. Pirozzi ihre Augenbrauen näher zusammen – auch sie waren gelb. „Wir entführen keine Menschen.“

„Dann habe ich mir die letzten Tage, angekettet in einem Bus, also nur eingebildet und das alles ist nichts weiter als ein böser Traum. Ich muss also nur aufwachen und alles ist wieder so wie es sein sollte.“

Dr. Pirozzi legte die Hände flach auf den Tisch und atmete einmal tief durch. „Wir sind eine Zuflucht, Kismet, kein Gefängnis. Ich weiß nicht unter welchen Umständen man sie hergebracht hat, aber ich kann ihnen versichern, dass alles was unternommen wurde, nur zu ihrem besten war.“

Ich schnaubte und lehnte mich auf meinem Stuhl zurück. „Irgendwie sagen hier alle das gleiche.“

„Weil es stimmt.“

Aber sicher. Hier war alles in bester Ordnung und meine Alpträume entsprangen allen meiner lebhaften Phantasie. Was da doch für verdorbene Abgründe in meinem Geist lauerten. „Nichts an diesem Ort stimmt, alles ist nur eine falsche Fassade, auch dieses Gespräch. Vielleicht hältst du mich für dumm, aber mir ist bewusst, dass das hier ein Verhör ist.“

„Das ist kein Verhör. Ich stelle diese Fragen wegen der Registrierung und Zuteilung. Wir wissen gerne, wer und wie viele Menschen sich in Eden aufhalten. Und außerdem müssen wir noch entscheiden, was genau mit ihnen geschehen soll.“

Wie entschieden sie das? Warfen sie eine Münze?

Manchmal war es wirklich gut, dass mich keiner denken hören konnte. „Was genau verstehst du unter Zuteilung?“

„Ihre Zukunft.“ Sie rutschte etwas auf ihrem Stuhl herum und lehnte sich dann mit den Unterarmen auf den Tisch. „Jeder Mensch in Eden hat eine Aufgabe. Wir machen Test und entscheiden nach den Fähigkeiten, für welchen Bereich jemand geeignet ist. Darin wird er dann ausgebildet, um ein nützliches und anerkanntes Mitglied der Gesellschaft zu werden.“

„Das heißt, ihr werdet mir vorschreiben, was ich zu tun haben.“

„Nun ja … ja.“

Ich beugte mich vor und imitierte ihre Halten. Das hatte ich als Kind sehr oft getan, um Marshall zu irritieren. Und da Dr. Pirozzi sich nun zurücklehnte, funktionierte das wohl auch bei anderen Menschen. „Und wenn ich mit dieser Zuteilung nicht einverstanden bin?“

„Die Wünsche der Menschen werden natürlich berücksichtigt. Leider können wir sie nicht immer bedenken, aber wir geben uns Mühe.“

Mühe. Alles klar. „Und wenn mir diese Zuteilung so wenig gefällt, dass ich mich weigere?“

„Wenn es wirklich nicht geht, dann muss die betreffende Person anders eingesetzt werden, aber es ist wichtig, erstmal alles auszuprobieren.“

„Damit hast du meine Frage nicht beantwortet.“ Ich neigte den Kopf leicht zu Seite. „Was wird geschehen, wenn ich die ach-so-wichtige Aufgabe verweigere?“

„Sowas passiert wirklich sehr selten.“

„Hör auf mir auszuweichen und beantworte meine Frage.“ Ja mir war bewusst, wer hier eigentlich die Zügel in der Hand hielt, aber Dr. Pirozzi schien ein schwaches Glied in der Eden-Kette zu sein und ich hatte absolut kein schlechtes Gewissen, das auszunutzen.

Sie seufzte. „Man wird ihnen eine andere Aufgabe zuteilen.“

„Und wenn ich auch diese verweigere. Und jede andere die man mir gibt?“

Für einen Moment blieb meiner Ärztin stumm. „Es werden Mittel und Wege gesucht, die einen dazu bringen, die Anforderungen zu erfüllen. Jeder in Eden muss sich nützlich machen, so funktioniert diese Gesellschaft nun einmal.“

Hatte ich es mir doch gedacht. „Deutlich gesagt, bedeutet das, friss oder stirb.“

Dr. Pirozzi und ich starrten uns an.

„Was keine neunmalkluge Erwiderung?“ Nein ich konnte es mir nicht verkneifen, noch ein wenig tiefer zu sticheln.

Dr. Pirozzi schüttelte den Kopf. „Nun gut, ich denke so bringt das nichts.“

Das erste Mal das wir einer Meinung waren.

„Kommen wir zum eigentlichen Thema zurück.“

Oder auch nicht.

„Wie würden sie ihren Charakter beschreiben? Was sind ihre Stärken, was für Schwächen haben sie? Welche Fähigkeiten zeichnen sie aus?“

Meine Stärken? Beharrlichkeit und Geduld. Wenn ich ein Ziel vor Augen hatte, ließ ich mich nicht mehr so leicht davon abbringen. Meine Schwächen? Meine Schwester, aber das würde ich ihr sicher nicht unter die Nase reiben. Und meine Fähigkeiten? Ich lernte schnell und konnte das Gelernte dann auch umsetzen. War das eine Fähigkeit, oder doch eher eine Stärke? War eigentlich auch egal, denn nichts von dem würde ich laut aussprechen.

Ich lehnte mich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Die neue Kleidung zu tragen, war immer noch ein seltsames Gefühl. „Finde es doch heraus.“

Dr. Pirozzi seufzte. „Sie sind ein schwieriger Mensch.“

Nein, eigentlich war ich das nicht. Aber all das hier machte mir Angst und der Schmerz in meinem Kopf war noch immer präsent. Es war sicherer sich angriffslustig zu geben, als verängstigt in der Ecke zu kauern.

„Nun gut, wie sie meinen.“ Sie begann die virtuellen Papiere vor sich hin und her zu schieben. „Laut der vorgehenden Beurteilung, fallen sie in Kategorie zwei. Diese Einschätzung teile ich. Wir werden später sehen, ob ich das bestätigen können.“

„Kategorie zwei?“

„Das bedeutet, dass sie jung und gesund sind.“

Wollte ich wissen, welche Kategorien noch zur Auswahl standen? Wahrscheinlich nicht. Aber es würde mich trotzdem interessieren, was das für mich bedeutete.

„Amalia, können sie bitte einen Keychip vorbereiten?“

„Aber natürlich.“

Die grünhaarige Frau war die ganze Zeit so still gewesen, dass ich sie beinahe vergessen hatte. Doch jetzt beobachtete ich, wie sie einen verschlossenen Glasschrank in der Ecke ansteuerte und ihm eine kleine weiße Schachtel entnahm.

 „Hat man sie bereits über den Keychip und Skye aufgeklärt?“, wollte Dr. Pirozzi von mir wissen.

Die weiße Schachtel landeten auf einem silbernen Tablett, zusammen mit ein paar anderen Utensilien. Eine durchsichtige Lösung in einer kleinen Flasche, Wattebäusche, Pflaster. Daneben legte sie noch ein kleines Gerät.

„Mit dem Keychip öffnet man die Schlösser an den Handschellen und kann die Waffen benutzen.“

Dr. Pirozzi verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln. „Das ist nur eine Möglichkeit, sie zu nutzen. Vieles in dieser Stadt funktioniert elektronisch. Es ist ein sehr ausgeklügeltes System, auf das jeder Mensch in dieser Stadt durch den sogenannten Schlüssel Zugriff hat. Danke.“ Der letzte Teil war an die Grünhaarige gerichtet, die das silberne Tablett neben ihr auf den Schreibstich stellte.

Dr. Pirozzi hob die kleine Schachtel auf und entnahm ihr etwas, dass mich an die Spritzen denken ließ. Nur schien man in dieser hier nichts einfüllen zu können. „Dieser Schlüssel erlaubt es uns, die für uns autorisierten Daten und auch Gegenstände zu nutzen. Sie können damit beispielsweise Türen öffnen und schließen und Daten wie Bilder, Filme oder Dokumente abrufen.“

„Jede Tür?“ Nein ich konnte mich nicht zurück halten, das zu fragen. Mist.

Pirozzis Mundwinkel zuckte. „Natürlich nicht. Nur Türen für die sie berechtigt sind. Die Nutzung ist ziemlich umfangreich, darum werden sie darin noch geschult und mit allem vertraut gemacht, um das System optimal nutzen zu können.“

Sie hielt die seltsame Spritze hoch, entfernte die Kappe und zeigte sie mir. „Hier drinnen ist ein kleiner Chip enthalten, der Keychip. Ich werde ihn ihnen unter der Haut in deiner Hand injizieren. Er wird sie nicht stören und in keiner Weise beeinträchtigen. Dafür wird er ihnen das Leben hier einfacher machen.“

Meine Muskeln spannten sich an. Sie wollten mir ihre Technologie einpflanzen?

Ich erinnerte mich an den Augenblick, als Nikita aus diesem Raum gekommen war. Sie hatte sich auffallend über den Handballen gerieben. Oh Gaia. „Hast du das auch bei Nikita gemacht?“

„Ja. Jeder Mensch in Eden besitzt seinen persönlichen Keychip und ist damit im System.“

Verdammt.

Sie legte die Spritzte zurück in die offene Schachtel, nahm einen Wattebausch und tränkte ihn mit der klaren Flüssigkeit aus dem Fläschchen. „Am Anfang werden sie ihn vielleicht noch merken, aber das geht schnell vorbei.“ Sie reichte mir ihre Hand und erwartete offensichtlich, dass ich ihr meine gab.

Alles in mir Sträubte sich.

Ich musste kooperieren. Ich musste Vertrauen erringen, um Freiheit zu erlangen. „Was macht das Teil mit mir?“

„Gar nichts. Wie ich bereits sagte, es ist nichts weiter als ein einfacher Schlüssel, der ihre Zugangsdaten für das System speichert.“

Wenn ich das nur glauben könnte.

„Kismet, mit ihrer Verzögerung machen sie es uns allen nur unnötig schwer.“

„Ich mache es dir schwer?“ Fast hätte ich gelacht. „Du bist es doch, die mich gegen meinen Willen zu Dingen bringen will, für die ich nicht bereit bin.“

„Ich folge nur dem Protokoll“, war ihre schlichte Erwiderung. Die hatten hier wohl immer etwas parat, was ihr Handeln in ihren Augen rechtfertigte.

Ich schloss die Augen. Vertrauen. Nicht ich musste ihnen vertrauen, sondern sie mir. Ich musste das tun, daran führte kein Weg vorbei. Sonst würde ich mich bald in Handschellen wiederfinden und meine Freiheit würde noch weiter in die Ferne rücken.

Du kannst das, du schaffst das! Es tut nicht mal weh!

Dabei hätte ich lieber ein paar Schmerzen, als mich darauf einzulassen.

Widerwillig streckte ich die Hand aus. Mein ganzer Körper spannte sich an, doch ich zwang mich still sitzen zu bleiben, als sie nach meiner Hand griff und meinen Handballen reinigte. Dieser Chip, er war ein Schlüssel. Mit ihm würde ich Türen öffnen können, Türen die meine Freiheit bedeuten konnten. Ich musste nur stillhalten und ihn mir einpflanzen lassen.

Der Wattebausch war kühl. Gleich darauf spürte ich einen Stich in meiner Hand, im fleischigen Teil zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann war es auch schon vorbei.

„So, das war doch gar nicht so schlimm, oder?“ Dr. Pirozzi legte die Spritze zur Seite und nahm das kleine Gerät zur Hand. Es piepste leise, als sie es über meinen Handballen führte. Sie reichte das Gerät an Amalia weiter, die sofort damit begann, irgendwas davon abzulesen und es auf der Oberfläche des Schreibtisches einzutippen.

Ich drückte meine Faust gegen meine Brust und versuchte den kleinen Fremdkörper darin zu ignorieren.

Nun war Eden in mir drin.

Und vorläufig konnte ich nichts dagegen tun.

 

oOo

Kapitel 15

 

„Es ist zwar erstmal nur für eine Nacht, aber fühlt euch ganz wie Zuhause.“

Mein finsterer Blick war meine einzige Erwiderung. Nikita aber stieß einen Freudenschrei aus und stürzte sich in das Zimmer, das Joulia soeben für uns geöffnet hatte.

„Wow, wow, wow! Kiss, das muss du dir anschauen! Betten, das sind richtige Betten!“

Ich machte einen vorsichtigen Schritt hinein.

Das Zimmer war klein. Wände, Boden und Decke, alles weiß. Links und rechts an den Wänden war jeweils ein Bett. Das weiße Gestellt schien aus Plastik oder einem anderen harten Kunststoff zu sein. Dicke Matratzen, weiche Decken und flauschige Kissen. An den Fußenden der Betten standen zwei Kommoden aus dem gleichen Material wie die Bettgestelle. Direkt gegenüber lag eine weitere Tür. Alles wurde von einem indirekten künstlichen Licht beleuchtet, das von den Wänden selber auszugehen schien. Sonst gab es hier nichts, nicht mal Fenster. Aber die brauchte ich auch gar nicht, um zu wissen, dass es mittlerweile später Abend war.

„Dort drüben ist das Bad“, erklärte Joulia und zeigte auf die geschlossene Tür. „In den Kommoden findet ihr Nachtwäsche und frisch Sachen für morgen. Zahnbürste, Haarbürste und Duschzeug liegen auch darin.“

Nikita machte sich bereits über die linke Kommode her und zog eine Schublade nach der anderen raus. Sie wühlte in jedem Fach herum und zog dann etwas heraus, das wie Schuhe aus dünnem Stoff aussah. Fragend drehte sie sich zu Joulia. „Was ist das?“

„Socken.“ Unsere Begleiterin lupfte ihr Hosenbein, um uns ihren Fuß zu zeigen. Sie trug Socken. Sie steckten mit dem Fuß zusammen in ihrem Schuhwerk. „So ist das angenehmer zu tragen.“

Sofort ließ Nikita sich auf das linke Bett fallen und zog die Socken über.

„Wenn einer von ihnen noch etwas braucht“, erklärte Joulia weiter, „dann haltet euren Keychip über diese Konsole.“ Sie zeigte auf einen viereckigen Rahmen, der direkt neben der Tür in der Wand eingelassen war. Ein Plastikgehäuse mit Glasfläche. Daneben hing ein längliches Teil, für das ich keinen Namen hatte. „Sie aktivieren die Konsole einfach, indem sie einmal über den Bildschirm streichen.“ Sie führte es vor. Das Glas erwachte mit einem sanften Leuchten zum Leben.

„Hallo, wie kann ich behilflich sein?“, fragte eine blecherne Frauenstimme.

„Das ist Skye, System Key for your Eden. Die Stimme des Edensystem.“ Sie sagte das so, als wollte sie uns damit jemand ganz besonderen vorstellen.

Auf dem Bildschirm erschienen sechs kleine Bildchen. Sie alle schienen gemalt zu sein.

Das erste zeigte eine grobe Darstellung von einer Gabel und einem Messer. Daneben waren zwei Masken, eine lachend, eine traurig. Das letzte Zeichen in dieser Reihe war ein Bett mit drei Zickzacklinien darüber. Das erste in der nächsten Reihe war ein Kreuz. Dann ein Fragezeichen und als letztes ein Strich mit einem Punkt darüber.

„Da viele der Streuner Analphabeten sind, wurden die Icons im Aufnahmeinstitut vereinfacht“, erklärte sie. „Das erste bedeutet essen. Wenn einer von ihnen Hunger hat, einfach mit dem Finger drauf tippen und sobald es klingelt, einfach diesen Höher abnehmen.“ Sie nahm das längliche Teil neben dem Bildschirm von der Wand und hielt es sich zu Vorführungszwecken ans Ohr. „Über den Hörer können sie sich mit anderen Menschen unterhalten, auch wenn sie sich nicht hier in diesem Raum befinden.“

Von so einer Technologie hatte mir Azra einmal erzählt. Früher, vor der Wende, hatte wohl jeder Mensch diese Hörer benutzt. Aber Azra hatte sie anders genannt, nur wusste ich nicht mehr wie.

Joulia hing den Hörer wieder zurück an die Wand. „Das Symbol mit den Masken dient der Unterhaltung.“ Sie tippte darauf.

„Sie haben Unterhaltung gewählt.“

Hinter mir erklang ein leises Summen. Als ich mich umdrehte, sah ich gerade noch, wie aus den Fußenden der Betten rechteckige Platten herausfuhren. Flackernde Bilder bewegten sich darüber. Fernsehgeräte.

„Wow“, sagte Nikita beinahe ehrfürchtig und trat vorsichtig darauf zu.

„Fernsehen.“ Joulia schmunzelte über Nikitas Begeisterung. „Sie können die Screens durch tippen auf den oberen Rand wieder einfahren lassen.“ Sie führte es vor, indem sie einen oben antippte. „Oder indem sie das Icon auf dem Bildschirm berühren. Dann verschwinden beide wieder in der Versenkung.“

„Das ist wie im Bus, nur war der Bildschirm da kleiner“, bemerkte Nikita.

„Das Bettsymbol ist für das Licht“, sagte Joulia und tippte darauf.

„Gute Nacht, ich wünsche angenehme Träume.“

Augenblicklich wurde es dunkel im Raum. Nur ein schwacher Schimmer vom Bett-Icon blieb zurück. „Um das Licht wieder einzuschalten, einfach noch einmal das Icon berühren.“ Sie führte es vor und es wurde wieder hell.

„Guten Morgen. Ich hoffe sie haben gut geschlafen.“

„Das Kreuz“, erklärte sie weiter, „ist für den Notfall. Wenn einer von ihnen Hilfe braucht, drücken sie einfach darauf und augenblicklich wird jemand zu ihnen kommen. Das Fragezeichen daneben ist für andere Anliegen und natürlich für Fragen. Wenn sie etwas beschäftigt, einfach antippen und sobald der Hörer klingelt, abnehmen.“ Sie zeigte auf das letzte Zeichen. „Das ist das Symbol für Informationen. Falls es sie interessiert, können sie hier alles über Eden und seine Geschichte erfahren. Es sind viele Bilder dabei, die man sich ansehen kann, aber auch reichlich Text. Wenn sie also nicht lesen können, dann solltest sie besser auf das Unterhaltung-Icon zurückgreifen.“

Nikita nickte, um ihr zu zeigen, dass sie alles verstanden hatte.

Joulia wartete einen Augenblick auf eine Reaktion von mir, gab es dann jedoch sehr schnell wieder auf. „Um die Badezimmertür zu öffnen, einfach den Schalter daneben drücken, dann öffnet sie sich von alleine.“ Sie legte ihren Finger an ihr Kinn. „Ich glaube das war erstmal alles, außer einer von ihnen hat noch Fragen.“

Ja, wo ist der Notausgang?

Grinsend schüttelte Nikita den Kopf. „Nein, im Moment nicht. Ich glaube, das waren für den Anfang erstmal genug Informationen.“

Joulia lächelte strahlend. „Wenn das so ist, dann werde ich mich nun verabschieden. Morgen früh wird jemand kommen und sie beide zum Frühstück zu bringen. Nach dem Frühstück wird man sie über alles Weitere in Kenntnis setzen.“

„Alles weitere?“, fragte ich misstrauisch.

„Die Auswertung ihrer Untersuchungen und Interviews. Sie werden erfahren, was genau mit ihnen geschehen wird.“

Bei diesen Worten richteten sich die Härchen auf meinen Armen auf. Ich erinnerte mich nur zu gut an die Untersuchung bei Dr. Pirozzi und das nicht nur, weil sie erst ein paar Stunden zurück lag. Das sie mir den Keychip eingepflanzt hatte, war mit Abstand das Schlimmste, was sie mir angetan hatte, aber die Untersuchung war auch nichts, was nach einer Wiederholung schrie.

Angefangen hatte es mit einer Begutachtung meiner Haut, die sich nach Auffälligkeiten, oder Veränderungen abgesucht hatte, die auf Krankheiten hinweisen konnten. Dann befasste sie sich mit der Beweglichkeit meines Halses und tastete ihn ab. Tastuntersuchung der Lymphknoten. Untersuchung des Herzens. Pulsmessung. Abhören der Lunge. Abtasten des Bauches. Prüfung der Gelenke auf Beweglichkeit. Beurteilung der Wirbelsäule. Untersuchung der Zähne und des Zahnfleisches. Rauf auf eine Waage, Größe ausmessen. Untersuchung der Augen. Erbkrankheiten in deiner Familiengeschichte.

Dann hatte sie noch alle möglichen Körperflüssigkeiten von mir haben wollen. Blut für das Labor, eine Harnprobe und zu guter Letzt, hatte sie mir mit einem Stäbchen im Mund herumgestochert. Es war für eine DNA-Analyse gedacht.

Dann durfte ich mir noch anhören, dass ich zwar körperlich in guter Form sei, aber unterernährt war und ich dringend bei einem Zahnarzt vorstellig werden sollte, bevor sie mir eine Handvoll Impfungen gegen alle möglichen Krankheiten verpasste.

Was mich jedoch am Meisten gedemütigt hatte, war die gynäkologische Untersuchung gewesen. Das Wissen, nichts dagegen tun zu können, war wohl das Schlimmste, an dieser Situation gewesen. Ich wusste nicht, wann in meinem Leben ich mich das letzte Mal so unwohl in meiner Haut gefühlt hatte.

„Wenn sie beide dann jetzt nichts mehr brauchen, wünsche ich den Damen eine gute Nacht. Versuchen sie ein wenig zu schlafen, morgen wird wieder ein anstrengender Tag.“

Wie sollte ich bei dieser Aussicht bitte gut schlafen?

Joulia nickte uns noch einmal zu, dann trat sie auf den Flur und schloss die Tür von außen.

„Wow, das ist einfach …“

„Schhht!“, machte ich und ließ Nikita damit augenblicklich wieder verstummen. Ich horchte auf Schritte, die sich von uns entfernten, aber da war nichts. Kein Geräusch drang durch die Tür. Wahrscheinlich war sie genau wie die Wände einfach zu dick.

Ich wartete noch ein bisschen, dann trat ich an die Tür und sah mir den kleinen Scanner daneben an. Um die Tür zu öffnen, musste ich einfach die Hand darauflegen. Zumindest hatte das bei den anderen Türen immer funktioniert.

Ich öffnete und schloss ungeduldig meine Faust. Den kleinen Keychip konnte ich bei jeder Bewegung spüren. Es war nicht schmerzhaft oder unangenehm, ich spürte einfach, dass er da war. Dann wagte ich einen Versuch, legte meine Hand auf die glatte Oberfläche.

Nichts passierte.

Ich drückte gegen die Tür. Sie blieb geschlossen. Wahrscheinlich, weil ich weder ein Tracker, noch ein Betreuer war. „Wir sind eingesperrt.“

„Das war doch klar gewesen.“ Nikita ging zu der andren Tür und versuchte sie mit dem Schalter zu öffnen. Sie schob sich problemlos zur Seite und offenbarte den Blick ins Innere. Ihre Augen wurden wieder groß. „Das musst du dir anschauen.“

Ich musste vieles, aber das gehörte sicher nicht dazu. Stattdessen nahm ich den Bildschirm neben der Tür näher in Augenschein.

Das ist das Symbol für Informationen. Falls es sie interessiert, können sie hier alles über Eden und seine Geschichte erfahren.

Und das würde mir vielleicht einen Weg hier raus zeigen. Während ich das Icon berührte, verschwand Nikita im Bad, um sich dort alles anzuschauen.

Der Bildschirm flackerte. Dann war er erfüllt von einer Liste mit vielen Worten.

Mist. Joulia hatte uns ja schon gewarnt, dass ich würde lesen müssen. Aber das konnte ich nicht. Genau wie Nikita hatte ich es nie gelernt. Um zu überleben, brauchte ich es nicht.

Aber vielleicht musste ich gar nicht wissen was da stand. Die Frau hatte gesagt, es gäbe auch viele Bilder. Wenn ich nun eines der Wörter berührte, würde ich vielleicht ein Bild bekommen, das mir helfen konnte.

Nachdenklich strich ich mit dem Finger über die Liste, versuchte zu erraten, welches davon das Beste war.

Die Liste bewegte sich.

Überrascht riss ich die Hand zurück. Jetzt standen dort andere Worte. Ich strich nochmal darüber. Wieder bewegte sich die Liste. Nach oben oder nach unten, je nachdem, wohin in meinen Finger bewegte. Mir wurde schnell klar, wie unendlich lang diese Liste war. Wie sollte ich da nur das richtige Wort herausfinden?

Los komm schon, vertrau auf deine Intuition.

Ich schaute mir die Worte an und tippte dann versuchsweise auf eines.

Wieder flackerte der Bildschirm. Neue Worte, ein großes Bild und oben in der Ecke ein kleiner roter Pfeil. War der vorher auch schon da gewesen?

Ich bewegte meinen Finger über den Bildschirm, bis ich das ganze Bild sehen konnte. Es zeigte eine Gruppe von Menschen vor einem Gebäude. Im Hintergrund konnte ich einen der Mauerringe erkennen. Ansonsten war das Bild nichtssagend. Nur lächelnde Gesichter von ein paar Fremden.

Weiter unten fand ich ein weiteres Bild. Eine kleine Stadt an den Klippen des endlosen Ozeans, unter einem bewölkten Himmel. Ein Mauerring war um die Stadt gezogen, davor nur ein paar vereinzelte Hütten und kleine Verschläge. Das musste ein altes Foto von Eden sein, bevor sie mit ihren ganzen Abscheulichkeiten angefangen hatten.

„Kiss!“ Nikita kam zurück ins Zimmer gestürzt, eine kleine Flasche zwischen den Fingern, die sie mir in die Hand drückte. „Hier, das musst du mal riechen. Das duftet phantastisch!“ Ohne darauf zu warten ob ich ihrer Anweisung folgte, stürzte sie sich wieder begeistert auf die Kommode. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir hier sind.“ Sie schlug eine Schublade zu und riss die nächste auf. Darin lag Papier. Und Stifte. Ich hatte noch nie solche Stifte gesehen.

„Dir ist klar, dass wir nicht lange bleiben werden?“, fragte ich leise. Ihr Verhalten ängstigte mich langsam wirklich. Die Begeisterung in ihrer Stimme und ihrem Handeln machte mir Sorgen. Das sollte nicht so sein.

„Umso wichtiger, dass ich jetzt alles auskoste.“ Sie schlug die Schublade zu und ließ sich auf das linke Bett fallen. „Das ist sooo weich und das duftet so gut.“ Sie vergrub ihre Nase im Kissen. „Das reinste Paradies.“

„Ein Paradies, das wir teuer bezahlen müssen.“

Nikita lachte auf. „Bezahlen? Das alles hier ist umsonst! Sie wollen nichts von uns – gar nichts. Das ist ja das Tolle!“

„Sie wollen uns. Wir bezahlen mit unserer Freiheit und unserem Leben.“

„Hier haben wir auch Freiheit. Und Sicherheit. Und jede Menge Essen. Hier müssen wir keine Angst mehr haben. Hier …“ Sie verstummte plötzlich, als würde ihr aufgehen, was sie da sagte.

Ich fixierte sie und konnte mich des kalten Gefühls in meiner Brust nicht erwehren. Natürlich gefiel ihr der Luxus an diesem Ort. Es war ganz anders als alles was sie in ihrem Leben bisher kennengelernt hatte. Hier war das Leben leichter. Aber der Preis war zu hoch. Eden nahm einem den Willen, die Würde und die Freiheit. „Ist es das was du willst?“, fragte ich sie leise. „Unterwerfung?“

Nikita zog eine Augenbraue hoch. „Niemand unterwirft uns hier.“

„Wie kannst du nur so blind sein?“ Ich ließ die kleine Flasche fallen, ging zum Bett und kniete mich vor meine Schwester. „Wie kannst du nur glauben, dass all dies nicht seinem Preis haben wird? Nichts von dem hier ist umsonst. Es ist alles eine Täuschung, ein Köder, mit dem sie uns verführen wollen, um die Macht über uns zu bekommen. Ist es das was du willst? Das andere dir sagen was du zu tun hast? Jeden deiner Schritte überwachen? Mit dir tun, was auch immer sie wollen?“

Sie öffnete den Mund, schloss ihn dann aber ganz schnell wieder.

„Genau das wird passieren, Nikita.“ Meine Worte waren sehr eindringlich. Sie musste verstehen, was ich sagte.

„Das kannst du gar nicht wissen.“

Es war als hätte man bei ihr mit einer Gehirnwäsche begonnen und diese zeigte bereits die ersten Erfolge. Ich musste sie daran erinnern, was wirklich hinter diesen Mauern lauerte. „Die Menschen sind nicht nett, niemand tut etwas ohne etwas dafür zu wollen. Das weißt du.“

Sie schwieg.

„Verstehst du was hier geschieht?“, versuchte ich es mit einem anderen Ansatz. „Dieses Gespräch vorhin, das war kein Vorstellungsgespräch, das war ein Verhör, in dem es allein darum ging so viele Informationen wie möglich aus uns herauszuquetschen. Sie wollen weitere Menschen in die Stadt holen und glauben, wir seien der Schlüssel dazu. Wir wissen, wo es andere Clans und Mischpochen gibt. Wie kennen den Markt, wissen wann und wo er stattfindet. Das sind Informationen, die sie niemals haben dürfen.“

Sie schallte in ihren Trotzmodus. „Du hältst mich für dumm, oder? Ich habe nichts Wichtiges verraten. Keine Sorge, Marshall, Azra und Balic sind in Sicherheit.“

„Sag ihre Namen nicht, solange wir hier sind.“ Nicht nur, dass der Gedanke an sie schmerzte, wir konnten uns auch nicht sicher sein, dass sie nicht zuhörten. In der Dusche hatte ich es doch erlebt. Niemand war bei mir im Raum gewesen und trotzdem hatte Greta verstanden, was ich gesagt hatte.

Nikita senkte den Kopf. Ihr Finger strich über eine Falte in ihrem Hosenbein.

Vielleicht drang ich ja endlich zu ihr durch. „Erinnerst du dich noch an all die Geschichten die ich dir erzählt habe? Weißt du noch was Mama und Akiim passiert ist?“ Ich griff nach ihrer Hand und sah ihr fest in die Augen. „Hast du vergessen wer sie getötet hat?“

Ihre Hand verkrampfte sich.

Ich wollte sie nicht quälen, aber ich durfte nicht zulassen, dass sie sich in all diesen Täuschungen verlor. Ich durfte sie nicht vergessen lassen, sie musste sich erinnern. „Hast du vergessen was sie getan haben?“ Als sie nicht antwortete, schlug ich neben ihr aufs Bett und ließ sie damit zusammenzucken. „Hast du es vergessen?!“

„Nein.“ Das Wort war kaum mehr als ein Flüstern.

„Und das darfst du auch nicht. Du darfst niemals vergessen, was Eden uns angetan hat.“

Sie drückte ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. „Ich war damals doch so klein gewesen, ich kann mich gar nicht mehr erinnern.“

„Aber ich!“ Ich fuhr auf und wandte mich von ihr ab. „Ich danke dem Schicksal, dass ihre Taten dich nachts nicht wachhalten, aber ich höre noch heute ihre Schreie.“

„Aber die Männer von damals …“

„Monster, keine Männer!“ Ich kniff mir mit den Fingern in den Nasenrücken.

„Es ist elf Jahre her.“

„Soll ich es deswegen vergessen? Soll ich unsere Familie vergessen? Und was ist mit unseren Leuten? Was ist mit Marshall? Sollen wir auch sie einfach vergessen und uns dieser Farce der Menschheit ergeben?“

Nikita zögerte. Sie wich meinem Blick aus. Ihre Finger bohrten sich in den weichen Stoff der Decke. „Nein“, sagte sie dann leise.

„Nein“, wiederholte ich zustimmend. „Eden ist der Feind, das darfst du niemals vergessen.“

„Ich weiß.“

In diesem Augenblick war ich mir nicht sicher ob sie es wirklich wusste. Ihr ganzes Leben lang war sie beschützt worden. Niemand hatte jemals ein Unheil an sie herankommen lassen. Und sie war noch so jung, naiv und leicht beeinflussbar.

Sie sah so verloren aus, wie sie da auf diesem Bett saß.

Ich musste uns hier rausholen. Egal wie, ich musste sie schnellstmöglich hier wegbringen, denn mit jedem Moment der Verzögerung, würde sie dem Einfluss dieses Ortes mehr erliegen. Die Verlockungen waren einfach zu groß. Sie würde sich Eden ergeben.

Meine Mutter war gestorben in dem Versuch uns von hier fern zu halten und ich würde ihr Andenken nun nicht beschmutzen, indem ich Nikita an eine Lüge verlor. Ich würde sie beschützen.

Die Erschöpfung legte sich wie ein Schleier über mich. Ich rieb mir durch das Gesicht, aber das bescherte mir auch keine neuen Eingebungen. „Geh schlafen. Es ist spät und heute werden wir eh nichts mehr unternehmen können.“ Nicht solange wir in diesem Raum eingesperrt waren und sich die Tracker vor der Tür stapelten. Außerdem brauchten wir die Energie. Wenn sich uns die Gelegenheit auf eine Flucht bot, mussten wir fit und ausgeruht sein.

Nikita zog die Beine ins Bett und zerrte an der Decke, bis sie darunter lag. „Kiss?“

„Ja?“ Ich ging zu der Konsole und berührte das Icon, das das Licht löschte, Augenblicklich wurde es dunkel.

„Glaubst du wirklich, wir finden einen Weg nach Hause?“

„Ja“, sagte ich voller Überzeugung. „Vielleicht wird es ein paar Tage dauern, aber ich werde einen Weg finden.“ Ich würde alles daransetzen, um dieses Ziel zu erreichen. Ihre Mauern mochten hoch und zahlreich sein, aber Eden würde nicht unser Grab werden. Das wusste ich zu verhindern.

 

oOo

Kapitel 16

 

Der Morgenappell bestand aus einem farbenfrohen Frühstück, wie ich es mir in meinen kühnsten Träumen nicht zu wagen vorstellte. Makellosesten Früchte, liebevoll arrangiert. Etwas das sich Müsli nannte und in verschiedenen Varianten angerichtet worden war. Brotaufstriche, Käse. Marmelade hatte ich schon einmal gegessen, doch das braune Zeug war mir völlig unbekannt und Honig gab es bei uns nur zu besonderen Anlässen. Honig, sie hatten hier wirklich Honig und davon sogar reichlich. Ich konnte es kaum glauben. Verschiedene Teesorten, Säfte und einfaches Wasser.

Aber es war etwas ganz anderes, was meine Augen auf die Größe von Untertassen wachsen ließ: Servierplatten voller Aufschnitt. Wurst und Speck – das war Fleisch, echtes Fleisch, und zwar Unmengen davon! Ich brauchte einen Moment, um mich von diesem Anblick zu erholen.

Natürlich kannte ich Fleisch. Ich war nicht selten auf der Jagd, um welches zu beschaffen. Doch diese Mengen … das war beinahe unglaublich. Wie viele Jäger hatten ausrücken müssen, damit sich unter der Menge an Essen sogar der Tisch durchbog? Und wie lange könnte ich unsere Mischpoche wohl damit ernähren? Wahrscheinlich nicht so lange, wenn ich genau darüber nachdachte. Das Meiste von diesem Zeug war verderblich und würde schon schimmeln, lange bevor es auf unserem Teller landen konnte.

„Willst du wieder nichts essen?“ Nikita schaute auf den Haufen an Essen, der sich bereits auf ihrem Teller türmte, zuckte dann mit den Schultern und häufte sich noch mehr auf.

Mein Magen knurrte. Diese verdammten Gerüche in der Luft waren aber auch verlockend. „Nicht wirklich.“ Denn damit würde ich etwas von Eden annehmen. Ich würde in ihrer Schuld stehen und das wollte ich auf gar keinen Fall. Eher würden Schweine fliegen lernen.

Andererseits, wie lange würde ich noch bei Kräften bleiben, wenn ich mich weiterhin weigerte, eine manierliche Mahlzeit zu mir nehmen? Es konnte noch Tage dauern, bis ich einen Weg aus dieser Falle fand, da würde es mir nicht helfen, schwach und Wehrlos zu sein. Ich brauchte meine ganze Energie um uns hier rauszubringen.

Zwiespältig stand ich da und starrte die Lebensmittel an, als würden sie mir jeden Moment ins Gesicht springen und auch gegen meinen Willen in meinen Mund kriechen. Es passte mir nicht, trotzdem gewannen die Vernunft und mein Überlebenswille.

Schau, fliegende Schweine!

Wie lustig.

Es war fast, als würde ich neben mir stehen und mich selber dabei beobachten, wie ich zögernd einen der Teller von dem Stapel nahm und die Speisen etwas genauer unter die Lupe nahm. Was nur sollte ich davon nehmen? Eine so große Auswahl war ich einfach nicht gewohnt. Genaugenommen fand ich es irritierend. Nach welchen Kriterien sollte man sich hier nur entscheiden?

„Hier, probiere das.“ Ohne auf meinen Zuspruch zu warten, legte Nikita mir eine orangene Frucht mit rotem Fruchtfleisch auf den Teller – sie war mir völlig unbekannt. Und als ich weiter zögerte, gesellten sich dank ihrer Hilfe noch Brot, Wurst und Rührei dazu. Als sie mir dann auch noch einen Becher mit weißem zähflüssigem Inhalt auftun wollte, musste ich sie stoppen. Ich wusste schon jetzt kaum wie ich das alles in mich hineinbekommen sollte.

Als wir uns von dem Buffet abwandten und einen Tisch weiter hinten ansteuerten, stellte ich fest, dass die Menge an Essen auf meinem Teller noch lange nicht mit dem Berg auf Nikitas mithalten konnte. Er war so voll, dass die Speisen links und rechts drohten Bekanntschaft mit dem Boden zu machen. Sie bemerkte es nicht mal, als sie sich einen Platz ganz hinten an der Wand suchte.

Stirnrunzelnd stellte ich meinen Teller zu ihrem auf den Tisch und ließ mich zeitgleich mit ihr auf den Stuhl sinken. Es gefiel mir nicht, dass sie so verschwenderisch war. Sie hatte gelernt sparsam zu sein. Essen war immer knapp und so eine Völlerei passte gar nicht zu ihr.

Und es war nicht nur das Essen, auch die Art wie sie sich darauf stürzte. Als hätte sie seit Tagen nichts mehr zu sich genommen. Es erinnerte mich an die Zeit, als wir noch ganz klein waren und wir uns mehrere Monate hatten ganz alleine durchschlagen müssen. Die Zeit nachdem unsere Mutter …

„Was ist?“, fragte sie mit vollem Mund und blickte von ihrem Berg auf.

Ich zögerte einen Moment, winkte dann aber einfach ab. „Nur Gedanken“, sagte ich leise, nahm mir aber vor, sie später noch einmal darauf anzusprechen, wenn nicht so viele Fremde in der Nähe waren. Wir waren noch nicht mal einen Tag hier und sie nahm das alles schon wie selbstverständlich. Das beunruhigte mich doch ein wenig.

Naja, mehr als nur ein wenig, wenn ich ehrlich war.

Seufz.

Der Speisesaal war gut gefüllt. Alle die gestern mit uns hier angekommen waren, saßen bereits beim Essen – auch die Tracker. Nur der Riese fehlte und ich fragte mich erneut, was sie mit ihm getan hatten. Ich sah Dascha und auch Sinead, die mit dem kleinen Jungen an einem Tisch in der Nähe des Buffets saß und ihm aufmerksam zuhörte. Von Kit dagegen fand ich keine Spur.

Es waren auch einige Leute anwesend, die ich nicht von der Reise hier her kannte. Der größte Teil von ihnen stammte eindeutig aus Eden, nur die wenigsten schienen von außerhalb der Mauern zu kommen. An ihrer Kleidung waren sie leicht auseinander zu halten. Oder auch daran, dass die einen sehr ausgemergelt wirkten, wohingegen die anderen wohl genährt waren.

Die Geräusche von gemurmelten Unterhaltungen und klapperndem Besteck, erfüllten zusammen mit den Gerüchen nach essen den ganzen Saal. Es war eine seltsame Atmosphäre. So überladen und fremd. Ich fühlte mich hier nicht sehr wohl und das lag nicht nur an der Art, wie ich hier gelandet war, oder der Gesellschaft, die uns umgab. Ich mochte einfach keine großen Menschenansammlungen, die Einsamkeit war mir lieber.

Unseren Reisebegleitern schien diese Umstellung keinerlei Probleme zu bereiten. Mittlerweile sahen sie ganz anders aus als bei unserer Ankunft. Sauber, gepflegt, nicht mehr ganz so ausgezerrt. Und das nach nur einer Nacht. Einer unruhigen Nacht – zumindest in meinem Fall.

In den dunklen Stunden hatte ich nicht ein Auge zugetan. Nikita war schon kurz nach unserem Gespräch eingeschlafen, während ich wieder vor dem Monitor gestanden hatte und anhand von Bildern versucht hatte, einen Ausweg aus unserer Situation zu finden. Es war mir nicht gelungen. All die Aufnahmen hatten im Grunde nichts weiter, als die Geschichte der Stadt und deren Aufbau gezeigt. Nichts davon hatte mir auch nur den geringsten Anhaltspunkt geliefert, wie ich dieser ganzen Farce hier ganz schnell entkommen konnte. Ganz im Gegenteil, dieser Ort war eine Festung.

Die Erkenntnis, dass ich vorerst zum Nichtstun verdammt war, hatte mich ins Bett getrieben, doch an Schlaf war nicht zu denken gewesen.

„Solche habe ich hier noch gar nicht gesehen.“

Ich folgte Nikitas Blickrichtung zum Eingang des Speisesaals und entdecke vier Männer in grauer Uniformen. Hätte die Kleidung nicht bereits ausgereicht, hätte ich spätestens an dem Emblem auf ihren Jacken erkannt, dass diese Männer Edener waren.

„Es gibt hier sicher eine Menge, was du noch nicht gesehen hast.“ Und mit ein bisschen Glück, würde es auch so bleiben.

Ich nahm meine Gabel und schaufelte etwas von dem Rührei auf das trockene Brot. Ein Biss ließ das Ganze zu einem geschmacklosen, breiigen Matsch, zwischen meinen Zähnen werden, den ich nur mit einem Schluck Wasser, meine Speiseröhre hinunter bekam. Nein, ich wollte wirklich nichts essen, aber ich musste und deswegen nahm ich sogleich tapfer einen weiteren Bissen zu mir.

Während ich mit Kauen beschäftigt war, gesellte Joulia sich zu den Männern. Genau wie gestern, trug sie auch heute, diese rosafarbene Schwesternuniform und das Strahlelächeln. Dafür war ihr Haar dieses Mal nicht offen, sondern zu einem Pferdeschwanz am Hinterkopf gebunden. Sie sprachen miteinander, aber da sie praktisch am anderen Ende des Raumes waren, konnte ich natürlich kein Wort verstehen.

Bist du dir sicher, dass du überhaupt hören möchtest, was sie zu sagen haben?

Wahrscheinlich nicht.

„Was meinst du, was die wollen?“, fragte Nikita.

„Keine Ahnung.“ Das restliche Brot landete in meinem Mund und wurde lustlos von einer Backe in die andere geschoben. Dabei beobachtete ich, wie einer der Männer, eines von diesen technischen Brettern, an Joulia überreichte. Egal was dort zu sehen war, es schien sofort ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. Ein paar Worte wurden gewechselt, Joulia nickte mehrmals und zeigte dann zum Tisch von Sinead.

Zwei der Männer trennten sich von der Gruppe und gingen zu ihr und dem kleinen Jungen hinüber. Sie wechselten ein paar Worte mit Sin, dann erhoben sich alle und marschierten aus dem Raum.

Ein ungutes Gefühl überkam mich, das sich noch verstärkte, als Joulia sich mit den beiden verbliebenen Männern in Bewegung setzen und direkt auf unseren Tisch zusteuerten. Meine Muskeln spannten sich an.

Als unsere Betreuerin, direkt vor unserem Tisch stehen blieb und uns anstrahlte, als wäre sie eine Glücksfee, drohte der zähflüssige Klumpen in meinem Mund, in meiner Kehle stecken zu bleiben.

Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht. „Ich hoffe ich störe nicht.“

Aber Großmutter, was hast du nur für große und glänzend Zähne?

„Natürlich nicht.“ Nikita erwiderte ihr Lächeln und ich erstickte fast an meinem Bissen. Ein Glück, dass ich mein Wasserglas noch nicht leergetrunken hatte. So vermied ich es auch, eine unangebrachte Erwiderung vom Stapel zu lassen.

„Das freut mich zu hören. Ich weiß, die erste Nacht ist immer ein wenig Nervenaufreibend, aber wir sind bemüht, es allen so bequem wie möglich zu machen und die ganze Prozedur nicht unnötig hinauszuzögern. Darum möchte ich ihnen auch ohne großes Aufheben diese zwei Herren vorstellen. Sie sind Yards.“

Sie sprach nicht zu uns, ihre Worte waren allein an Nikita gerichtet. Langsam stellte ich mein Glas zurück auf den Tisch und nahm die beiden Kerle genauer unter Augenschein. Sie trugen an der Hüfte einen Gürtel mit Handschellen, Schlagstöcken und Waffen. Genau wie die Tracker, nur wirkten diese beiden hier viel steifer.

„Was sind Yards?“, wollte Nikita wissen. Sie wirkte wirklich interessiert.

„Man könnte sie wohl als Wächter, oder Wachposten beschreiben. Sie sorgen hier in Eden für die Einhaltung der Gesetzte.“

Irgendwie klang das in meinen Ohren alarmierend. „Und was wollen die beiden Muskelberge hier?“, fragte ich misstrauisch. Und das lag nicht nur an den Männern, die wie zwei Wachhunde hinter Joulia standen. Sie fixierten mich, als rechneten sie mit Problemen meinerseits.

Joulias Lächeln geriet ein wenig ins Schwanken, als sie ihre Aufmerksamkeit tapfer auf mich richtete. In meiner Gegenwart, schien sie sich nicht besonders wohl zu fühlen. „Sie sind gekommen, um Nikita auf dem nächsten Schritt in ihre Zukunft zu begleiten.“

„Was genau willst du damit sagen?“, wollte ich wissen.

„Ach komm schon Kiss“, unterbrach Nikita mich und erhob sich von ihrem Platz. „Das wird aufregend!“

„Nikita“, sagte ich warnend, doch sie tat einfach so, als würde sie das halb geknurrte Wort nicht hören.

„Ich will damit sagen, Nikita wurde für gesund befunden. Damit ist es für sie an der Zeit, das Aufnahmeinstitut zu verlassen.“

Meine Alarmieren schrillten los. Sie sprach nur von Nikita, nicht von mir. „Das hört sich fast so an, als würde man uns trennen wollen.“

„Es gibt für jeden in Eden seinen Platz“, erwiderte sie ausweichend.

Meine Anspannung wuchs.

Nikitas Begeisterung bekam einen kleinen Dämpfer. „Sie wollen nur mich mitnehmen?“ Sie warf mir einen unsicheren Blick zu. „Und was ist mit Kiss?“

„Kismet muss noch ein wenig hierbleiben, aber keine Sorge …“

„Nein!“ Das Wort knallte wie ein Peitschenhieb. Gleichzeitig sprang ich auf die Füße. Mein Stuhl kippte mit einem Bums um. Ich packte meine Schwester und riss sie hinter mich. „Ihr trennt uns nicht!“ Ich hatte es doch gewusst, aber das würde ich nicht zulassen! Wenn ich sie Nikita fortbringen ließe, würde ich sie vermutlich nicht wiedersehen. Das konnte ich nicht riskieren.

Ein paar Anwesende ließen ihr Essen für einen Moment ruhen, um zu schauen, was der Trubel sollte. Viele der neugierigen Blicke gehörten zu Trackern. Die Yards traten zeitgleich einen Schritt nach vorne.

„Kismet“, begann Joulia. „Seien sie doch vernünftig. Niemand hier will ihnen oder …“

„Vernünftig?!“ Ich lachte scharf auf und drängte Nikita gleichzeitig rückwärts. „Ich habe diesen ganzen Mist mitgemacht, aber das geht zu weit. Ich werde nicht zulassen, dass sie uns trennen!“

„Es ist doch nicht für lange“, versuchte Joulia mich zu beschwichtigen. Dabei bemerkte ich sehr wohl, wie die Yards bedrohlich näher rückten. „Sie können Nikita schon heute Abend wiedersehen, wenn sie das möchten.“

Mein Blick huschte von einem zum anderen. Drei gegen zwei, aber da waren noch die ganzen Tracker im Saal. Da brauchte ich mir erst gar keine Chancen ausrechnen, nicht solange ich keine Waffe hatte. Selbst mit Waffe sahen meine Chancen nicht sehr gut aus. Trotzdem, ich konnte das nicht erlauben.

„Kiss“, sagte Nikita. „Hör auf damit, die wollen uns nichts Böses.“

„Du kannst nicht wissen was sie wollen.“

Ich überlegte, wie weit wir kommen würden, wenn wir einfach losrannten. Nikita und ich waren schnell. Um in den Ruinen der freien Welt zu überleben, musste man schnell sein. Wir befanden uns innerhalb eines Gebäudes. Hier gab es so viele Feinde. Unsere Chance war praktisch nicht vorhanden, aber was hatten wir schon zu verlieren?

Meine Muskeln spannten sich an, bereit jederzeit loszulegen. Mein Atem wurde ruhiger, während Adrenalin begann durch meine Adern zu jagen.

„Kismet. Ich bitte sie, machen sie …“

„Lauf!“, brüllte ich Nikita an. Gleichzeitig wirbelte ich herum und versetzte ihr einen Stoß.

Nikita war von der Aktion so überrascht, dass sie über ihre eigenen Füße stolperte, noch während ich den ersten Schritt machte. Sie landete auf dem Hintern und riss mich mit sich zu Boden. Schon in der nächsten Sekunde spürte ich Hände, die mich an den Armen packten und von ihr fortrissen.

„Nein!“, schrie ich und versuchte mich aus ihrem Griff zu befreien. Einem trat ich so fest gegen das Schienbein, dass er fluchte und zurücktaumelte. Dem anderen versetzte ich mit dem Ellenbogen einen Hieb in die Magengegend.

Leider half das nicht. Man verdrehte mir einfach den Arm auf den Rücken, wirbelte mich herum und dann wurde ich mit dem Gesicht voran auf unseren Tisch gedrückt. Es klirrte, als die Teller mit dem Essen herunterfielen und auf dem Boden zerschellten.

Ich zischte vor Schmerz.

„Lasst sie!“, rief Nikita. Zwei Tracker hatten sich ihrer angenommen und versuchten sie nun von mir wegzuzerren. „Hey, ihr tut ihr weh!“

Ich trat blind nach hinten aus und stöhnte, als mir der Arm noch höher gedrückt wurde und man mich damit zwang auf die Zehenspitzen zu gehen, damit er nicht aus dem Gelenk sprang. Ich spürte wie sie meine Sehnen überspannten und mein Knochen sich bedrohlich bog. Als ich nicht länger gegen den Schmerz atmen konnte, kroch ein Schrei über meine Lippen.

„Nehmt eure dreckigen Pfoten von ihr!“, fauchte Nikita und wehrte sich heftiger gegen ihre Peiniger. „Lasst sie los!“

„Ja“, sagte Joulia. „Lasst sie los.“

Der Druck auf meinen Arm verringerte sich, aber der Griff blieb.

„Ich soll sie loslassen?“, fragte eine männliche Stimme nahe bei meinem Ohr. „Bist du noch ganz dicht?“

„Ich wiederhole mich nur sehr ungern. Lasst sie los, sie beide.“

Ich spürte den Mann hinter mir zögern, aber dann nahm er tatsächlich die Hände von mir.

Noch in der Sekunde in der er den Griff löste, drehte ich mich schwungvoll herum und stieß ihn von mir. Er hatte wohl damit gerechnet, aber nicht damit wie schnell ich war. Darum verlor das Gleichgewicht und knallte schmerzhaft auf den Rücken. Ich holte mit dem Fuß aus, wollte nach ihm treten, aber da hörte ich ein vertrautes Klicken. Drei Leute richteten ihre Waffen auf mich. Ich war von Trackern umzingelt.

„Genug jetzt.“ Joulias Stimme war mit einem Mal stahlhart. Nichts war mehr von der verunsicherten Frau übrig, als sie ihren strengen Blick über die Tracker gleiten ließ. „Das ist für alle Beteiligten eine schwierige Situation und wir müssen sie nicht noch schwieriger machen.“ Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich. „Bitte Kismet, machen sie es sich nicht noch schwerer. Alles wird gut werden, das kann ich ihnen versprechen.“

„Du solltest mit deinen Versprechen nicht so freigiebig sein, besonders wenn du sie nicht halten kannst!“

Schwer atmend drückte ich mich mit dem Rücken an den Tisch, versuchte einen Ausweg zu finden. Es gab keinen, sie waren einfach zu viele.

„Kiss“, sagte Nikita leise. Sie trat vor mich, sodass sie mir den Blick auf den Feind verstellte. „Hör auf zu kämpfen, bitte.“ Sie schlang ihre Arme um mich. Für die anderen musste es wie eine ganz normale Umarmung aussehen, doch so brachte sie unbemerkt ihren Mund an mein Ohr, um Worte zu flüstern, die nicht für neugierige Zuschauer bestimmt waren. „Vergiss nicht unseren Plan. Lass mich gehen.“

Ich schloss die Augen und versuchte mein Herz zur Ruhe zu zwingen. Ihm gefielen Nikitas Worte genauso wenig wie mir.

„Nur so gewinnen wir ihr Vertrauen.“

Richtig, anpassen, einfügen, den Anschein wahren. Sie mussten glauben, dass wir uns ihren Regeln unterwarfen, nur so würde sich uns eine Gelegenheit eröffnen, die uns hier herausbrachte.

Obwohl das alles sehr logisch klang, wollte ich Nikita nicht gehen lassen. Wenn ich sie aus den Augen ließ, konnte ich nicht mehr auf sie aufpassen. Wer wusste schon, was sie mit ihr tun würden?

„Und wenn dir etwas passiert?“, fragte ich leise. Das würde ich mir niemals verzeihen können.

„Ich kann eine Weile auf mich allein aufpassen. Es ist ja nicht für lange. Außerdem hatte ich eine gute Lehrmeisterin.“

Nur leider hatte ich sie auf eine solche Situation niemals vorbereitet, einfach weil ich nie im Leben damit gerechnet hätte, dass wir uns einmal in den Klauen von Eden befinden würden. Die Welt war ohne diesen Gedanken schon grausam genug.

Als Nikita sich wieder von mir löste, schlug ich die Augen auf und blickte direkt in ihre.

„In Ordnung?“

Woher nahm sie nur ihr maßloses Vertrauen?

„Es wird schon nicht so schlimm werden“, erklärte Nikita und nahm meine Hand. „Sieh es einfach als Abenteuer, ein weiterer Schritt auf dem Weg zu unserem Ziel.“

Unser Ziel Eden zu verlassen. Ich durfte mich nicht sträuben. Ich musste ihr Vertrauen gewinnen, denn nur darüber führte unser Weg in die Freiheit. Es widerstrebte mir zutiefst, aber es gab keinen anderen Ausweg.

„Kiss?“

Ich nickte. Widerwillig. Und mit einem sehr beklemmenden Gefühl. Mein mageres Frühstück verwandelte sich dabei in harte Klumpen, die mir schwer im Magen lagen. „Pass auf dich auf.“

„Natürlich tu ich das. Und wenn wir uns nachher sehen, haben wir beide sicher tolle Geschichten, die wir uns erzählen können.“ Sie lächelte schief und trat dann rückwärts von mir zurück. „Bis später dann. Und denk immer daran, Vertrauen.“

Während ich dastand und tatenlos dabei zusah, wie sie Nikita fortbrachten, wurden die harten Klumpen in meinem Magen zu Granitbrocken.

Fast jeden Tag hatte ich zugesehen, wie Nikita fortging. Durch die Ruinen zu stromern, war ein fester Bestandteil ihres Lebens. Als sie noch klein gewesen war, hatte ich sie immer begleitet, aber mit den Jahren brauchte sie meine Gesellschaft bei ihren Streifzügen nicht mehr. Nein, sie wollte sie nicht mehr. Sie wollte unabhängig sein und zeigen, dass sie alt genug war, um auf sich allein aufzupassen.

Nur widerwillig hatte ich gelernt das zuzulassen und nichts zu tun, wenn sie unsere Zuflucht verließ. Aber in meinem ganzen Leben war es mir noch nie so schwergefallen, wie in diesem Moment, sie ziehen zu lassen. Ich konnte mich einfach nicht des Gefühls erwehren, damit einen großen Fehler zu begehen. Die Angst sie vielleicht nie wieder zu sehen, fraß sich durch meinen ganzen Körper und ich musste all meine Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht einen weiteren törichten Rettungsversuch zu unternehmen, denn Nikita hatte Recht. Der einzige Weg hier raus, führe über das Vertrauen der Edener. Oder wenigsten einen sehr viel besseren Plan, als einfach kopflos loszurennen. Daher tat ich auch nichts, als sie eingekesselt von den beiden Yards, den Ausgang ansteuerte. Selbst als sie nach einem letzten Lächeln in meine Richtung aus dem Saal verschwand, blieb ich einfach ungerührt stehen. Dann war sie einfach weg und ich hatte es nicht verhindert.

Ein Gefühl der Leere machte sich in mir breit und ließ mein Herz schwer werden.

Du tust das richtige.

Da war ich mir nicht so sicher.

Als Joulia näherkam, wich ich zur Seite. „Das war die richtige Entscheidung“, lobte sie mich, als sei ich ein kleines Kind, dem man bei richtigem Verhalten, eine Belohnung zukommen ließ. „Sie werden es nicht bereuen.“

Der Blick des Todes, brachte ihr Lächeln gleich wieder ein wenig ins Schwanken, doch sie schien beschlossen zu haben, sich davon nicht verunsichern zu lassen und machte sich wieder an ihre Aufgaben.

Die Tracker gingen zurück an ihre Tische, um ihre Mahlzeit zu beenden und die neugierigen Schwachköpfe, die sich den Edenern ausgeliefert hatten, widmeten sich wieder ihren eigenen Angelegenheiten.

Eine Putzkolonne traf ein und beseitigte das Chaos, das mein Fluchtversuch zur Folge gehabt hatte und mir ließ man gar nicht groß Zeit, über das Geschehene nachzudenken. Greta tauchte auf und brachte mich zu weiteren Untersuchungen zu Dr. Magarete Pirozzi. Man versicherte mir zwar, dass ich abgesehen von ein paar kleinen Mängeln kerngesund war, dennoch seien weitere Untersuchungen äußerst bedeutsam und von entscheidender Wichtigkeit.

Sie taten etwas, dass sie als Sonographie bezeichneten und nahmen dann weitere Proben von Blut und Speichel. Außerdem maßen sie meine Körpertemperatur, nahmen mein BMI – keine Ahnung was das war – und taten noch weitere Dinge, um mich bis auf die Knochen zu durchleuchten.

Erst zur Mittagszeit entließen sie mich für eine kurze Pause, die ich wieder im Speisesaal verbrachte. Dieses Mal jedoch konnte ich mich nicht davon überzeugen, etwas zu essen. Ich sah nur immer wieder, wie Nikita zwischen diesen beiden Yards mit einem unsicheren Lächeln den Saal verließ.

Während ich dort saß und versuchte nicht durchzudrehen, kam eine neue Gruppe Menschen an. Ihren großen Augen und knurrenden Mägen zufolge, waren sie frisch in Eden eingetroffen. Sieben weitere Menschen, die ihnen in die Falle gegangen waren. Ich war viel zu sehr mit mir selber beschäftigt, als mich darüber aufzuregen.

Kurz bevor der Mittagstisch geschlossen wurde, tauchte eine Gruppe von sechs weiteren Yards auf, die die rothaarige Frau und die beiden alten Männer, die mit mir hier angekommen waren, mitnahmen. Kurz darauf war ich die Einzige, die noch von unserer Gruppe übrig war. Aus irgendeinem Grund wollten sie mich weiter im Aufnahmeinstitut haben. Vermutlich, um mich weiterhin mit ihren Gerätschaften zu piken und zu malträtieren.

Auf dem Nachmittag wurde ich für eine weitere Runde in Dr. Pirozzis Behandlungsraum gebracht. Ich ließ alles kommentarlos über mich ergehen und sagte mir immer wieder, dass ich Vertrauen aufbauen musste. Nur so würde ich mit Nikita von hier verschwinden können. Dieses Mantra half mir den Tag zu überstehen.

Als ich am Abend in den Speisesaal trat, erwartete mich eine Überraschung, in Form einer einsamen Gestalt: Der Riese. Sie hatten ihn nicht getötet. Das bedeutete dann wohl, dass sie ihn noch für irgendwas brauchten.

Bewacht von drei Tracken, saß er in der Mitte des Saals, ganz alleine an einem Tisch, einen Teller mit Essen vor sich, in dem er grimmig herumstocherte. Er strahlte Aggression ab, Wut und die Bereitschaft zur Gewalt. Ein Mann, den man draußen vor den Toren der Stadt, gerne zum Freund hatte, aber niemals zum Feind.

Hier drinnen jedoch mieden die Leute ihn. Die eine Hälfte der Anwesenden, tat so, als würde er nicht existieren, die andere hielt Abstand und hoffte, dass er ihre Existenz nicht zur Kenntnis nahm. Seine schiere Größe schüchterte sie ein und ließ die anwesenden Tracker wachsam sein. Es war kaum möglich, sich auf einem Stuhl kleiner zu machen, aber die Leute in seiner Nähe versuchten es trotzdem.

Trotz seiner Größe und seiner Ausstrahlung, wirkte er hier in diesem Saal auf mich einsam, als wäre er ein Aussätziger.

Unsere Blicke begegneten sich, als ich zum Buffet ging und mir etwas von dem Essen nahm. Nicht weil ich Hunger hatte, sondern weil man es von mir erwartete. Dann stand ich einen Moment unschlüssig da und wusste nicht wohin mit mir. Nikita hatte sich immer an den Tisch hinten in der Ecke gesetzt, aber ohne sie wollte ich dort nicht Platz nehmen.

Mein Blick fiel wieder auf den Riesen. Allein sein Anblick wirkte einschüchternd, doch ich hatte zwei Tage angekettet neben ihm im Bus verbracht und ihn sogar gefüttert. Er war gefährlich, doch nicht für mich. Außerdem bot mir seine Gesellschaft die Gelegenheit, meine Gedanken auf etwas anderes als Nikita zu fokussieren.

Als ich mich dem Tisch mit meinem Teller näherte, wurden die drei Aufpasser wachsamer, doch sie hinderten mich nicht daran, den Stuhl unter dem Tisch hervorzuziehen und mich neben ihn zu setzen.

Sein grimmiger Blick schnellte sofort zu mir, wurde aber weicher, als er mich erkannte. Er brummte leise, als wollte er mich begrüßen und stocherte dann weiter in dem Essen auf seinem Teller herum.

„Du lebst noch“, murmelte ich.

Dieses Mal bekam ich ein unwirsches Knurren. Er bewegte die Hand, um seine Gabel zu benutzen. Es klirrte leise und jetzt bemerkte ich etwas, das mir bisher entgangen war. Der Riese saß nicht einfach nur am Tisch, er war gefesselt. Seine Handgelenke waren durch zwei Ketten mit einem Gurt um seinen Bauch verbunden, genau wie seine Füße. Zwar konnte er Essen und Sitzen, doch seine Bewegungsfreiheit war stark eingeschränkt. Sollte er versuchen zu rennen, oder jemanden anzugreifen, würde er sich nur selber ein Bein stellen und wie ein gefällter Baum zu Boden krachen.

Er war verschnürt, wie ein Schwerverbrecher.

Mein Ausdruck verfinsterte sich. Wie konnten die Edener nur behaupten, das alles würde zu unserem Wohle geschehen und dann sowas tun? Das war Menschenunwürdig. Niemand sollte gefesselt werden, nur weil er sich weigerte, sich dem Feind zu unterwerfen.

Der Riese brummte leise und schob sich dann die gefüllte Gabel in den Mund.

Ich hatte nicht den leisesten Schimmer, was er mir damit sagen wollte, aber wenn ich seine Mine richtig deutete, war er mit der Gesamtsituation nicht besonders zufrieden. Natürlich war er das nicht. Wer würde sich schon darüber freuen, erst verschleppt und dann in Ketten gelegt zu werden?

Grimmig nahm ich meine Gabel zur Hand und schaufelte etwas von dem Zeug auf meinem Teller in meinen Mund. Ich hatte keine Ahnung was ich da aß und schmeckte auch kaum etwas. Ich nahm es nur zu mir, um den Motor am Laufen zu halten.

Schweigend saßen wir nebeneinander und leerten unsere Teller. Naja, er leerte seinen, ich schaffte gerade mal die Hälfte und schob den Rest dann von mir.

Weiter hinten im Raum lachte eine Frau aus vollem Halse. Sie gehörte nicht zu den Städtern und trotzdem wirkte sie glücklich. Ich konnte diese Menschen einfach nicht verstehen. Störte es sie denn so gar nicht, ihre Leben für ein wenig Bequemlichkeit zu verkaufen?

Wieder brummte der Riese, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen und zog dann fragen eine Augenbraue nach oben, als wollte er wissen, was mich so beschäftigte.

Ich schüttelte nur den Kopf. Dabei fiel mein Blick wieder auf die Handfesseln. Sie waren gepolstert, aber rundherum war die Haut trotzdem wund und aufgescheuert. Er hatte versucht sich davon zu befreien und war dabei nicht allzu sanft mit sich umgegangen.

Sachte legte ich meine Hand an die Rötung und strich mit dem Finger vorsichtig darüber.

Der Riese erstarrte erst und hielt dann ganz still, doch er entzog sich mir auch nicht. Vielleicht war er sowas einfach nicht gewohnt. Ich wusste nichts über ihn. Vielleicht kam er aus einem großen Clan, vielleicht lebte er aber auch schon seit Jahren allein. So ungewöhnlich wäre das nicht.

„Du musst damit aufhören, dich gegen sie zu wehren“, murmelte ich leise genug, damit nur er mich verstehen konnte.

Seine Hand ballte sich zur Faust. Er hatte wirklich eine riesige Pranke.

Ich zog meine Hand zurück. „Je mehr du dich gegen sie wehrst, desto enger werden deine Fesseln werden.“ Meine Stimme war nur ein Flüstern. „Gewinne ihr Vertrauen, lass sie glauben, du wärst einsichtig, tu was sie verlangen. Nur dann werden sie dir die Fesseln abnehmen. Wenn sie dir vertrauen, werden sie unvorsichtig und wenn sie unvorsichtig werden, wirst du einen Weg finden, ihnen zu entkommen.“ Es war der gleiche Rat, den Nikita mir gegeben hatte und ich wollte, dass auch er freikam. Vielleicht weil er genauso unfreiwillig hier war, wie meine Schwester und ich.

Der Riese erwiderte meinen Blick.

„Solange du die Fesseln trägst, bleibst du ihr Gefangener.“

Seine Lippen verzogen sich zu einem Zähnefletschen. Wäre er ein Tier, hätten sich ihm nun die Nackenhaare gesträubt. Dann richtete sein blick sich auf meine Stirn. Er nickte in die Richtung und zog dann fragend die Augenbraue hoch.

Ich verstand ihn auch ohne Worte. „Ein Missverständnis“, erklärte ich. „Ihre Schlagstöcke sind hart.“

Seine Mine verfinsterte sich.

Als ich im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm, drehte ich den Kopf und entdecke Joulia, die quer durch den Raum ging.

„Entschuldige mich bitte, ich muss noch etwas erledigen.“ Ich erhob mich von meinem Platz und lief ihr hinterher. Es missfiel mir, sie um etwas zu bitten, doch wie bei vielem anderen, blieb mir im Moment keine andere Wahl. „Joulia?“

Bei meinem Ruf blieb die Betreuerin stehen und drehte sich zu mir um. Einen Moment wirkte sie überrascht, doch dann war das Lächeln wieder auf ihren Lippen. „Brauchen sie etwas?“

„Meine Schwester. Du hast gesagt, ich kann sie heute noch sehen.“ Und mittlerweile war es schon Abend und ich hatte keine Lust noch länger zu warten.

Ihre Lippen gingen noch ein wenig höher. „Aber natürlich. Möchten sie jetzt gleich mit ihr sprechen?“

War die Frage ernst gemeint? „Ja.“

„Dann folgen sie mir. Nikita wird sich sicher freuen, sie zu sehen.“

 

oOo

Kapitel 17

 

„Wo ist Nikita?“, wollte ich wissen und schaute mich misstrauisch in dem kleinen Raum um. Ein Schreibtisch dominierte die Mitte und die Wände waren alle mit hohen Regalen und Schränken vollgestellt. Wer jedoch auffallend fehlte, war meine kleine Schwester. Dabei hatte Joulia mich doch hierhergebracht, damit ich mit ihr sprechen konnte.

„Nur einen Moment bitte.“ Joulia umrundete den Schreibtisch und nahm auf dem Stuhl dahinter Platz. Das technische Brett, das sie immer bei sich trug, wurde am Rand abgelegt und dann begann sie mit den Fingern auf der Oberfläche des Schreibtisches herumzutippen. Die Platte war leicht angeschrägt, neigte sich Joulia entgegen.

Ich blieb wachsam an der geschlossenen Tür stehen und beobachtete, was sie tat. Als ihre Finger aufhörten sich zu bewegen, ertönte ein leises klingeln. Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass es vom Tisch kam. Als das Klingeln endete, wurde es von einer männlichen Stimme ersetzt.

„Hallo?“

„Guten Abend, Dimitri. Ich hoffe ich störe nicht.“

„Joulia.“ In der Stimme klang echte Freude mit. „Sie stören mich niemals. Was kann ich zu dieser späten Stunde für sie tun?“

Neugierig trat ich näher an den Schreibstich heran, bis ich darauf das virtuelle Bild eines Mannes sah. Er stand auf dem Kopf und es war kaum mehr als das Gesicht zu sehen. Brille, Kinnbart, dunkles Haar, nichtssagende Gesichtszüge. Ich schätzte ihn auf Anfang vierzig.

„Ihr habt heute einen Neuzugang bekommen, ein Mädchen namens Nikita.“

„Ja, die Kleine ist hier. Was ist mit ihr?“

Ich ging um den Schreibtisch herum, bis ich hinter Joulia stand. Jetzt war das Gesicht des Mannes nicht mehr falsch herum.

Dimitris Augen bewegten sich und auf einmal hatte ich das Gefühl, er sah mich direkt an. Das war unheimlich.

„Ihre Schwester ist hier und würde gerne mit ihr sprechen. Ich habe es ihr versprochen. Wenn es also nicht zu viele Umstände macht, könnten sie sie an die Komkon holen?“

Sein Blick huschte zurück zu Joulia. Konnte er uns wirklich sehen? Aus dem Schreibtisch heraus? Wie ging das? „Ah, die berüchtigte Kismet. Nikita hat schon viel von ihr erzählt. Wenn ihr einen Moment Zeit habt, sie ist gerade unten und macht sich mit dem Screen vertraut.“

„Natürlich, wir warten solange.“

„Bin gleich zurück.“ Der Mann verschwand aus dem Bild und es war nur noch eine weiße Wand zu sehen, an der Dutzende von farbigen Kinderzeichnungen hingen.

Joulia lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Das war Dimitri, er ist der Leiter des Kinderhauses. Er ist dafür verantwortlich, dass unsere jüngsten zu jeder Zeit gut versorgt sind. Nikita ist bei ihm in wirklich guten Händen.“

Ich runzelte die Stirn. „Kann er uns wirklich sehen?“

Ihr Lächeln wurde ein wenig breiter. „Aber sicher.“

„Wie?“

„Technologie macht es möglich.“ Sie beugte sich ein wenig vor und tippte auf einen kleinen runden Punkt, an der oberen Schreibtischkante. „Das ist eine Kamera. Dieses kleine Gerät nimmt uns auf und übermittelt unser Bild in Echtzeit. Digitale Datenverarbeitung “

Ich hatte absolut gar nichts verstanden. Ich kam mir erneut wie in kleines Dummerchen vor und das ärgerte mich. Also ignorierte ich sie einfach, schaute zur Tür und wartete auf Nikita. Sie kam, aber nicht so wie ich es geglaubt hatte. Sie Erschien auf dem Bildschirm.

„Kiss!“

Meine Mine verfinsterte sich. Sie ließen mich Nikita sehen, aber nur durch dieses Datending, nicht persönlich. Ich hätte gleich wissen müssen, dass ihre Versprechen eine Täuschung enthielten. Wie sollte ich mich so ihrer Unversehrtheit versichern?

„Geht es dir gut?“, fragte Nikita, als sie meinen verbissenen Gesichtsausdruck bemerkte.

„Ja“, sagte ich und trat näher an den Schreibtisch heran, um sie besser sehen zu können. Sie trug andere Kleidung, als heute Morgen. Ein blaues Hemd ohne Ärmel, das sehr eng anlag und eine kurze, schwarze Hose. Sie wirkte … aufgedreht und kein bisschen verängstigt. Ich war mir nicht sicher, ob das gut oder schlecht war. Natürlich wollte ich nicht, dass es ihr schlecht ging, aber der Gedanke, dass sie glücklich war, weil sie auf die Täuschungen dieser Menschen hereinfiel, ängstigte mich. „Wie geht es dir, wo bist du?“

„Ich bin im Kinderhaus. Hier leben die Kinder, die noch keine Familien gefunden haben.“ Sie glühte beinahe vor Freude. „Es ist echt toll hier.“

Das glaubte ich ihr gerne. Es war toll, solange, bis die Edener ihr wahres Gesicht zeigten. Dann würde es vieles sein, aber sicher nicht mehr toll.

„Ich habe mein eigenes Zimmer bekommen, mit einem Bett und Schrank und Schreibtisch und jeder Menge Kleidung. Siehst du?“ Sie drehte sich einmal im Kreis, sodass ich sie von allen Seiten bewundern konnte. „Dann haben wir etwas gekocht, das sich Spagetti nennt. Das war super lecker und oh! Ich werde bald in die Schule gehen, da lerne ich dann lesen und schreiben!“

Das war nicht ganz so grauenvoll, wie ich es mir den ganzen Tag über immer wieder ausgemalt hatte. Gefallen tat es mir trotzdem nicht. „Und dir geht es gut?“

„Ja Kiss, mir geht es super.“ Sie klang ein wenig genervt.

Gerne hätte ich ihr eine Standpauke gehalten, aber wir hatten Zuhörer. Ich konnte nur hoffen, dass all das nur gespielt war und sie auf sich Acht geben würde, bis ich sie kommen kam. Aber eine kleine Erinnerung konnte schon nicht schaden. „Das freut mich. Hauptsache du denkst immer daran, was ich dir gestern gesagt habe.“

Ihre Fröhlichkeit fiel ein wenig in sich zusammen und sie wurde ernst. „Das werde ich nicht vergessen, niemals, vertrau mir.“

Also war es doch nur gespielt. Puh, das zu hören, war eine kleine Erleichterung. „Ich will nur, dass du vorsichtig bist und auf dich aufpasst.“

„Mir wird nichts passieren. Die Menschen hier sind echt nett und mit den anderen Kindern komme ich ganz gut klar.“

„Das ist gut.“

Sie grinste mich an. „Sei nicht immer so eine Glucke, ich werde schon … Moment.“ Sie drehte den Kopf zur Seite, als wäre sie angesprochen worden. Ich hörte eine männliche Stimme, konnte aber nicht verstehen, was sie sagte. Nikita nickte einmal und dann noch einmal und wandte sich mir dann wieder zu. „Du Kiss, ich muss gehen, Dimitri will mir noch was auf dem Screen zeigen, bevor er nach Hause geht.“

„Was? Warte.“ Das konnte doch nicht ihr Ernst sein. Wir sprachen vielleicht seit fünf Minuten miteinander und sie wollte schon wieder weg? „Kann das nicht warten?“

Sie zögerte, warf einen Blick zur Seite, als würde da jemand stehen und wurde dann sehr ernst. „Nein, das kann nicht warten.“ Ihr Blick war eindringlich, als wollte sie mir eine unterschwellige Botschaft schicken.

Ich runzelte die Stirn. War vielleicht doch nicht alles so in Ordnung, wie sie mich glauben lassen wollte? Verdammt, es war echt schwierig, wenn man nicht offen sprechen konnte, weil man von allen Seiten belauscht wurde.

„Du weißt doch noch, was ich beim Abschied zu dir gesagt habe?“

Vertrauen aufbauen, einfügen, anpassen. Es gab Regeln, an die sowohl sie, als auch ich mich halten musste. Und dieser Regeln verlangten es im Moment von ihr, das Gespräch mit mir zu beenden. Ich knirschte mit den Zähen, nickte aber. „Schlaf gut und pass auf dich auf.“

„Mache ich. Nacht.“ Sie trat einen Schritt zurück, schaute zur Seite und das virtuelle Fenster auf dem Schreibtisch verschwand einfach.

Ich starrte auf die Stelle, an der eben noch ihr Gesicht zu sehen war und kam nicht gegen die Sorge an, die immer weiter in mir anschwoll. Irgendetwas stimmte da nicht. Wurde sie vielleicht dazu gezwungen so zu tun, als würde es ihr gut gehen? Aber zu welchem Zweck? Und wenn es so war, was war dann in Wirklichkeit bei ihr los?

„Sehen sie, Nikita geht es gut.“

Ich wandte mich Joulia zu. Meine Mine war wie aus Stein und ließ ihr Lächeln ein kleinen wenig verblassen. „Was ist dieses Screen?“ Vielleicht war es wichtig, wenn Nikita sich jetzt noch damit befassen musste.

Joulias Lächeln erhellte sich wieder ein wenig. „Das ist ein Screen.“ Sie zog das technische Brett ein wenig näher und zeigte es mir. „Es ist eine verbesserte und technisch ausgeklügeltere Version vom früheren Tablet PC.“

Das sagte mir rein gar nichts. Ich starrte das Ding an.

„Das ist wie dieser Schreibtisch, nur in klein“, sagte sie und deutete auf das Möbelstück.

Nein, das half mir auch nicht besonders bei der Verständigung.

„Gut, der Digital-Desk kann noch einiges mehr, aber im Grunde wird beides zum gleichen Zweck benutzt. Datenverarbeitung, Kommunikation, Handel, Technik, Wirtschaft, Wissenschaft, Verwaltung. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Im Grunde kann man damit alles machen, was man sich nur vorstellen kann. Natürlich nur auf virtueller Ebene.“

Was virtuell bedeutete, wusste ich. Aber virtuell beinhaltete auch die Möglichkeit der Täuschung. Bedeutete das, ich hatte gar nicht wirklich mit Nikita gesprochen?

„Sie sehen nicht sehr glücklich aus.“

„Was hast du erwartet, dass ich Freudensprünge mache? Du hast versprochen, ich könnte meine Schwester sehen, stattdessen bekam ich nur ein Bild auf einem Tisch.“

Joulia seufzte. Es war wohl das erste Mal, dass ihr Lächeln aus ihrem Gesicht verschwand. „Kismet, ich weiß das muss schwer für sie sein, aber das Aufnahmeinstitut ist kein Ort für Kinder. Dort wo Nikita jetzt ist, hat sie es viel besser als hier. Wollen sie denn nicht, dass es ihrer Schwester gut geht?“

Du mieses Stück. „Uns ging es sehr gut, doch dann kamen die Tracker und brachten und hier her.“

Joulia sah aus, als hätte sie am liebsten erneut geseufzt. Stattdessen schnappte sie sich ihren Screen und erhob sich von ihrem Stuhl. „Kommen sie, ich bringe sie jetzt auf ihr Zimmer.“

Auch eine Art das Gespräch zu beenden, um unangenehmen Fragen auszuweichen.

Ich hätte mich weigern können. Ich hätte einen Aufstand machen können. Ich hätte schreien und um mich schlagen können, doch nichts davon hätte mir im Moment geholfen. Darum blieb ich einfach stumm und ließ mich von ihr in das Zimmer bringen, in dem ich schon die letzte Nacht verbracht hatte.

Ich mochte diesen Ort nicht, aber ohne Nikita war es noch schlimmer als zuvor. Den ganzen Tag hatte ich mich immer irgendwie ablenken können, doch nun war ich ganz allein und die Angst vor dem was noch auf mich wartete, riss und zerrte wie ein Ungeheuer an mir.

In dieser Nacht tat ich kein Auge zu. Meine Gedanken wollten keine Ruhe geben und die Sorge um Nikita fraß mich beinahe auf. Es war so ruhig. Kein Schnarchen von Balic, kein Herumgewälze auf einem anderen Lager. Die Melodie der Nacht drang nicht an diesen Ort vor. Nicht mal die leisen Atemzüge von Nikita. Ich mochte die Einsamkeit, doch das hier war anders. Es war Isolierung.

Am nächsten Morgen schlürfte ich völlig übernächtigt in den Speisesaal. Ich war so müde, dass ich aufpassen musste, nicht über meine eigenen Füße zu stolpern.

Der Saal war wieder gut gefüllt, hauptsächlich mit Angestellten des Aufnahmeinstituts. Von den Menschen, die außerhalb dieser Mauern geboren worden waren, war nur eine Handvoll anwesend. Der Riese war nicht dabei. Da der Mann kaum zu übersehen war, konnte ich das auf den ersten Blick feststellen. Trotzdem schaute ich mich noch ein zweites Mal um. Nein, klein Riese.

Was war geschehen? Wurde er auch weggebracht, so wie Nikita? Wahrscheinlich würde ich es nie erfahren.

Ich vertrieb den Riesen aus meinen Gedanken, schlürfte zum Buffet hinüber und ließ das Angebot einen Moment auf mich wirken. Leider hatte ich keinen großen Appetit, weswegen ich mir nur ein Glas mit Wasser nahm und mich damit an einen der freien Tische in der Mitte setzte.

Was sie wohl heute mit mir tun würden? Ich war nun schon den dritten Tag in Eden und hatte immer noch keinen Plan, wie ich von hier verschwinden konnte. Ich wusste ja nicht mal, wie ich aus dem Gebäude entkam. Überall waren diese Pneumatiktüren, die nur die Betreuer und Tracker öffnen konnten. Und dann war Nikita auch noch an einem ganz anderen Ort. Um von hier zu verschwinden, musste ich erstmal aus dem Aufnahmeinstitut entkommen, dann Nikita auswendig machen, sie holen und erst dann konnte ich gehen. Falls ich überhaupt einen Weg fand.

Mit jedem Tag den ich länger hier war, schien der Pfad in die Freiheit, weiter in die Ferne zu rücken. Es war, als gäbe es da eine Metallfessel, die sich immer enger um mich zusammenzog. Wenn ich nicht aufpasste, würde sie mich noch zerquetschen.

Als neben mir Ketten klirrten, blickte ich auf. Und auf. Und noch weiter auf. Der Riese stellte seinen Teller neben mir auf den Tisch, zog dann den Stuhl hervor und ließ sich vorsichtig darauf sinken. Die Ketten schienen wirklich hinderlich zu sein.

In seinem Gepäck hatte er auch wieder die drei Tracker, die sich wachsam hinter ihm aufstellten. Er war also nicht weggebracht worden.

Sobald er saß, brummte er zur Begrüßung.

Ich brummte zurück. Ich war so müde, dass meine Zunge sich nicht vom Gaumen lösen wollte.

Der Mundwinkel des Riesen zuckte, als würde er sich amüsieren.

„Da scheint aber jemand gute Laune zu haben.“

Dafür bekam ich einen bösen Blick.

Ich musterte ihn. Seine Handgelenke waren nicht mehr so stark gerötet, wie gestern Abend noch. Auch der fiebrige Glanz in seinen Augen warn verschwunden. Er sah insgesamt besser aus, nicht mehr so krank, wie bei unserer ersten Begegnung. „Wie geht es deinem Bein?“

Die Hand, die er gerade gehoben hatte, um sich ein Stück Apfel von seinem Teller zu nehmen, hielt auf halbem Wege inne. Er machte eine wage Bewegung damit und reckte anschließend den Daumen in die Höhe.

Ich überlegte. So la la und gut? „Besser?“

Er nickte, nahm sich einen Apfelspalt und schob ihn sich in einem Stück in den Mund. Das frische Obst knackte geräuschvoll beim Kauen.

„Das ist gut.“ Ich strich mit dem Finger über den Rand meines Wasserglases und seufzte leise.

Er brummte fragend.

„Ich will hier weg“, murmelte ich. „Ich hasse diesen Ort und das was sie tun. Ich hasse sie für das, was sie getan haben.“ Für den ganzen Schmerz in meiner Kindheit, für den Verlust meiner Familie und für die Alpträume, die mich noch immer des Nachts heimsuchen.

„Hm“, machte der Riese.

Ich wandte ihm den Kopf zu. „Ich wüsste zu gerne deinen Namen.“ Irgendwie war es blöd, ihn immer als den Riesen zu bezeichnen. Das wäre, als würde jeder mich die Schwarze nennen, nur weil ich dunkle Hautfarbe habe. Oder Marshall den Bärtigen. Ein Mensch war mehr als nur ein Merkmal seines Aussehens.

Der Riese hob einen Finger und kramte dann in seiner Hosentasche herum. Als seine Hand wieder zum Vorschein kam, hatte er einen Stapel kleiner, gelber Zettel und einen Stift darin. Er schrieb etwas auf den obersten Zettel und schob mir den Block dann zu. Darauf waren vier Buchstaben, soviel erkannte ich. Er konnte schreiben, wow. Nur leider änderte das nicht viel an unserer Kommunikationshürde.

„Tut mir leid, ich kann nicht lesen.“

Er runzelte die Stirn, zog den Block wieder zu sich und riss das oberste Blatt ab, das er achtlos an den Tellerrand klebte. Dann beugte er sich konzentriert über den Block und ließ den Stift in schnellen Linien immer wieder über das Papier gleiten.

Ich beugte mich ein wenig vor, um zu sehen was er tat. Er zeichnete etwas. Es dauerte einen Moment, aber dann schob er mir den Block wieder zu.

Es war eine grobe Skizze von einem Wolf, sogar eine sehr gute. Die Figur war nur angedeutet, aber man erkannte klar, was es sein sollte. „Du bist ja ein richtiger Künstler.“

Seine Wangen nahmen einen leichten Rotschimmer an. Er tippte mit dem Finger erst auf die Skizze und dann auf seine Brust.

„Wolf?“, fragte ich. „Dein Name ist Wolf?“

Er nickte.

„Dann kannst du ja froh sein, dass du nicht Erik oder Bernd heißt. Das wäre sicher viel schwieriger zu zeichnen.“

Wolf nahm den Block wieder an sich, klebte die Wolfsskizze zu dem anderen Zettel an den Teller und begann wieder zu zeichnen.

Ich nahm einen Schluck von meinem Wasser und wartete geduldig. Als er fertig war, riss er den obersten Zettel wieder ab und klebte ihn vor meiner Nase auf den Tisch. Dieses Mal hatte er drei Menschen gemalt. Einen Mann, eine Frau und ein Kind. Es war wieder nur eine Skizze, aber sie war so detailgetreu, dass ich nur staunen konnte. Hinter dieser kleinen Kritzelei, steckte richtiges Talent.

Wolf zeigte auf das Kind, dann auf sich, dann zeigte er auf die Frau, den Wolfskopf und wieder auf sich.

„Moment.“ Dieses Mal musste ich ein wenig nachdenken. „Das ist eine Familie.“

Er nickte.

„Du bist das Kind?“

Wieder ein nicken.

Dann sollte die Frau sicher seine Mutter darstellen. Seine Mutter, der Wolfskopf und er. Hm. „Deine Mutter hat dir den Namen gegeben?“

Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, bevor er noch einmal nickte.

Diese Art der Verständigung war zwar ein wenig schwierig, aber besser als gar nichts.

Ich schob den Zettel von mir. „Ich würde dich ja nach deiner Mutter fragen, aber es ist wahrscheinlich besser, wenn wir hier nicht über die Familie sprechen.“ Oder irgendjemanden, den wir kannten. Hier waren viel zu viele Leute und einige beobachteten uns bereits neugierig. Allen voran die drei Tracker, die unweit Wache standen und jede Bewegung von Wolf genaustens im Auge behielten. Wahrscheinlich konnten sie nicht verstehen, warum mich seine Gegenwart nicht abschreckte. Oder ihn meine.

Wolf beugte sich wieder vor und ließ den Stift erneut über das Papier gleiten. Dieses Mal brauchte er länger. Seine Augenbrauen waren zusammengezogen und seine Lippen leicht gespitzt. Ich konnte auch nicht sehen, was er da zeichnete, da sein Arm den kleinen Block verdeckte.

Als er mir dann den obersten Zettel vor die Nase legte, weiteten sich meine Augen vor Überraschung. Das was ich da vor mir hatte, war ein skizziertes Porträt von Nikita. Die strahlenden Augen, die kleine Nase, der lächelnde Mund, bis hin zu ihrem krausen Wuschelkopf, das war original meine kleine Schwester. „Oh Gaia“; murmelte ich und strich mit dem Finger über die Wangenpartie auf der Zeichnung. „Wie hast du das gemacht?“

Er zuckte mit den Schultern. Die Ketten rasselten leise.

„Darf ich das behalten?“

Er nickte, zeigte dann auf Nikitas Bild und hob fragend eine Augenbraue.

„Wo sie ist?“

Sein Kopf ging hoch und runter.

Ich seufzte. „Die Yards haben sie gestern abgeholt und ins Kinderhaus gebracht. Das zumindest hat man mir erzählt. Ich weiß nicht, ob das stimmt.“

Seine Mine verfinsterte sich grimmig. Er schaute kurz zu den Trackern und es war ein Wunder, dass sie bei diesem Blick nicht einfach das Zeitliche segneten.

Dieses Mal verstand ich ihn ganz ohne Worte oder Zeichnungen. In ihm schwelte der gleiche Hass wie in mir. Ich konnte nicht sagen, ob die Edener ihm auch jemanden genommen hatten, der ihm sehr wichtig war, oder ob er einfach nur das hasste, wofür sie standen, doch von seiner Seite aus, würde es niemals Sympathien geben. Diese Menschen waren der Feind und sie würden es auch immer bleiben.

Wolf nahm einen weiteren Apfelspalt von seinem Teller, doch anstatt ihn sich in den Mund zu schieben, zögerte er einen Moment und bot ihn dann mir an.

Ich schenkte ihm ein kleines Lächeln, nahm ihn und biss ein Stück ab. Er war süß und knackig und ich lecke mir die Lippen, um den Saft aufzufangen.

Wolf beobachtete mich ganz genau, senkte dann aber eilig den Kopf, als sei er bei etwas unanständigem erwischt worden und nahm sich selber noch ein Stück, das er mit abgewandtem Kopf grimmig kaute.

Nanu, warum auf einmal so schüchtern? „Du hast nicht oft mit anderen Menschen zu tun, oder?“

Er warf einen vorsichtigen Blick in meine Richtung und schüttelte dann ganz leicht den Kopf.

Das hatte ich mir gedacht. „Du lebst alleine.“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Trotzdem nickte er.

„Ich bin auch gerne allein. Ich meine, ich liebe meine Schwester, aber die Einsamkeit hat auch etwas Magisches. Hier“, ich machte eine ausladende Handbewegung, „das ist zu viel. Zu viele Menschen, zu viel Lärm. Man versteht seine eigenen Gedanken gar nicht mehr.“

Sein Kopf bewegte sich, als wüsste er ganz genau wovon ich sprach. Wahrscheinlich wusste er es wirklich. Wenn er allein gewesen war, mussten diese vielen Leute ja geradezu eine Reizüberflutung für ihn bedeuten. Ich hatte ja wenigstens noch Marshall und die anderen.

Marshall. Der Gedanke an ihn zog meine Stimmung gleich wieder runter. Was er wohl gerade tat? Das Letzte was ich von ihm gesehen hatte, war, wie er hinter dem Mauerresten gehockt hatte, um mir Deckung zu geben.

Die Tracker hatten ihn offensichtlich nicht bemerkt, sonst wäre er nun auch hier. Wahrscheinlich machte er sich jetzt Vorwürfe, dass er mich nicht von meinem Vorhaben abgehalten hatte und er deswegen zwei Töchter verloren hatte. Dabei konnte er doch gar nichts dafür. Er wusste so gut wie ich, dass mich nichts hätte davon abhalten können, Nikita zur Rettung zu eilen. Leider ließen sich Logik und Verstand manchmal schwer mit den Gefühlen vereinen. Das Ganze war nicht seine Schuld, es war meine Schuld, denn ich hatte versagt.

Eine zögerliche Berührung an der Schulter, ließ mich den Kopf drehen. Wolf schaute mich fragend und auch ein wenig besorgt an.

„Mir geht es gut“, sagte ich. „Ich habe nur gerade an jemanden gedacht.“ Da ich nicht laut darüber sprechen konnte, zeichnete ich mit dem Finger einen Kreis um den Zettel mit der Familie. Zwar war ich weder mit Marschall, noch mit Azra oder Balic verwand, aber sie waren trotzdem meine Familie.

Plötzlich drehte Wolf den Kopf nach links. Der Ausdruck in seinem Gesicht wurde grimmig.

Ich streckte den Hals, um zu nachzusehen, was er entdeckt hatte und bemerkte Joulia, die zusammen mit zwei Männern im Kielsog, in unsere Richtung kam. Ich ging zumindest davon aus, dass es sich bei den zwei Personen um Männer handelte. Mit Sicherheit konnte ich es allerdings nicht sagen, denn sie trugen beide Helme mit verdunkelten Visieren auf dem Kopf. Die beiden Kerle wirkten insgesamt ein wenig unheilvoll. Nicht nur weil man ihre Gesichter nicht sehen konnte, ihre ganze Aufmachung strahlte eine gewisse Bedrohlichkeit aus.

Die Uniformen in denen sie steckten, waren von einem tiefen Schwarz. Hosen, aus stabilem Stoff. Dicke Westen, voller Taschen. Handschuhe und festes Schuhwerk. Schlagstock, Handschellen und eine Waffe, aber diese Waffe sah anders aus, als die der Tracker und der Yards. Sie war größer und irgendwie massiver. Und jedes ihrer Ausrüstungsteile, trug das Emblem von Eden.

Wolf ließ seine Hand von meiner Schulter rutschen und setzte sich ein wenig anders hin, aber genau wie ich, ließ er die drei nicht aus den Augen. Wie sie da auf uns zukamen, hatte es etwas Unheilvolles. Das Lächeln auf Joulias Lippen war heute so strahlend, dass selbst das bedrohlich wirkte.

Vielleicht hatte ich aber auch einfach nur zu wenig Schlaf gehabt.

Ich nahm mein Wasserglas und nippte leicht daran, als sie uns erreichten.

„Guten Morgen“, begrüßte sie uns. Es war kaum zu glauben, aber ihr Lächeln wurde noch eine Spur strahlender. Ja sie blendete mich geradezu damit. Wenn ich nicht aufpasste, würde ich noch erblinden. „Ich hoffe sie haben gut geschlafen.“

„Nein.“

„Das tut mir leid zu hören, aber ich habe gute Nachrichten für sie. Ihre Ergebnisse sind da und sie sind einfach phantastisch!“

Wenn sie etwas für phantastisch befand, würde es mir ganz sicher nicht gefallen. Das war ein ganz einfaches Gleichnis. „Aha. Und was bedeutet das?“ Ich stellte mein Glas zurück auf den Tisch und warf einen Blick auf die beiden Hampelmänner im Hintergrund. Es war wirklich irritierend, ihre Gesichter nicht sehen zu können.

„Das bedeutet, dass sie nun mit mir mitkommen. Die beiden Herren werden und begleiten und dann werden sie alles über ihre Zuteilung erfahren.

Die Zuteilung. Der Gedanke ließ mich innerlich verkrampfen. Meine Schultern versteiften sich. Das waren keine guten Nachrichten – nicht für mich. Egal was sie sich für mich ausgedacht hatten, es würde mir sicher nicht gefallen. „Wie sieht diese Zuteilung aus?“

„Ich bin nicht befugt, mit ihnen darüber zu sprechen. Aber keine Sorge, wir bringen sie nun direkt zu Frau Gersten, dort werden sie alles wichtige Erfahren.“

Frau Gersten? Den Namen hatte ich doch schon mal irgendwo gehört. War das nicht die Dame, die uns bei unserer Ankunft in Eden begrüßt hatte?  

Eigentlich war das gar nicht wichtig, denn vor mir offenbarte sich nun ein ganz anderes Problem. Sie hatten etwas für mich geplant und ich wusste nicht was. Nicht nur das, sie wollte es mir offenbar auch nicht sagen, was sicher nichts Gutes für mich bedeuten konnte. Natürlich konnte ich einfach mit ihnen mitgehen und würde es erfahren, was mich erwartete, doch ich musste ehrlich gestehen, ich fürchtete mich vor diesem Schritt. Darum blieb ich auch wie festgewachsen sitzen, als Joulia mich mit einer Handbewegung dazu aufforderte, mich zu erheben. Ich überlegte sogar, ob mir ein Sprung durch die Fenster gelingen würde.

Mit den Gittern davor vermutlich nicht.

„Kismet, bitte“, versuchte Joulia es noch einmal. „Es wird Zeit für sie, einen Einblick in ihre Zukunft zu bekommen und ich möchte sie nicht dazu zwingen müssen.“

„Aber du wirst es tun, wenn ich mich weigere.“

Eine Antwort brauchte sie mir nicht geben, denn wir kannten sie beide.

Wolf brummte leise und es wirkte nicht allzu freundlich. Mist, wenn er sich jetzt auch noch einmischte, konnte das nur in eine Katastrophe enden – sowohl für ihn, als auch für mich.

Mit zusammengebissenen Kiefern und angespannten Muskeln, erhob ich mich von meinem Stuhl. Ich nahm mir die Skizze von Nikita und ließ sie in meiner Hosentasche verschwinden, bevor ich Wolf eine Hand auf die Schulter legte und sie leicht drückte. Gaia, der Kerl hatte echt Muskeln. „Pass auf dich auf und mach den Leuten nicht zu viele Scherereien.“

Er erwiderte meinen Blick mit gleicher Intensität. Die Botschaft war bei ihm angekommen, Vertrauen aufbauen. Vielleicht würde man uns nun trennen, aber wir würden beide einen Weg aus dieser Stadt finden.

Ich ließ die Hand sinken und wandte mich meinen Peinigern zu. „Wir können gehen.“

Da strahlte sie wieder. „Schön. Dann folgen sie mir. Es ist nicht weit.“

Was in meinen Ohren auch keine gute Nachricht war.

Ich warf Wolf noch einen letzten Blick zu und folgte ihr dann. Die beiden wandelnden Waffenarsenale, flankierten mich von beiden Seiten. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich bewachten. Aber nicht so wie Wolf, nicht weil sie befürchteten, ich könnte etwas Unüberlegtes tun. Es machte eher den Eindruck, als wollten die beiden mich beschützen.

Irgendwie schräg.

„Wer sind die beiden Muskelberge?“

„Das sind Gardisten.“ Joulia führte mich aus dem Speisesaal hinaus in den Korridor. „Sie sind hier, um für ihre Sicherheit zu sorgen.“

Ich hatte mich also nicht geirrt. Irgendwie machte es das nicht unbedingt besser. „Vor was muss ich denn beschützt werden?“

„Vor nichts. Es ist einfach nur eine Sicherheitsmaßnahme. Bei ihnen müssen wir uns streng ans Protokoll halten. Kommen sie, hier geht es lang.“ Sie winkte mich nach rechts und dann eine Treppe hinauf. Heute Morgen schien sie wirklich gute Laune zu haben. Noch mehr als sonst. „Frau Gersten ist extra wegen ihnen ins Aufnahmeinstitut gekommen. Um sie vorzubereiten.“

„Vorbereiten? Auf was?“

„Auf ihre Zukunft.“

Ja, jetzt war natürlich alles klar. Ich seufzte und folgte ihr die Treppe hinauf in die zweite Etage. Dort hielt Joulia auf eine Tür am Ende des Korridors zu. Ein goldenes Schild mit eingravierten Schriftzeichen prangte darauf, aber ich hätte beim besten Willen nicht sagen können, was die Worte und Zeichen besagten.

Joulia hob die Hand, doch bevor sie den Schalter neben der Tür betätigte, hielt sie noch mal inne. „Ein gut gemeinter Rat für sie: Benehmen sie sich und zeigen sie ein wenig Respekt. Es ist nicht klug die Frau in diesem Büro zu verärgern.“ Damit drückte sie auf den Knopf.

 

oOo

Kapitel 18

 

Mit einem leisen Zischen, schob sich die elektronische Pneumatiktür, in die Wand und gab den Weg in das Büro dahinter frei. Joulia trat ohne ein Wort hinein und mir blieb gar nichts anderes übrig, als ihr zu folgen, denn die bedrohlichen Muskelberge hinter mir, verstellten mir jede Fluchtmöglichkeit.

Das Zimmer war sehr schlicht. Ein offenes und modernes Büro im minimalistischen Stil. Sehr ordentlich und sehr spartanisch. Das Auffälligste in diesem Raum war wohl die dürre Gestalt hinter dem Schreibtisch.

Genau wie bei unserer Begrüßung vor zwei Tagen, war ihr kurzes, feuerrotes Haar, wieder zu einem festen Knoten an ihren Kopf gebunden. Auch die auffällige Kriegsbemalung dekorierte wieder ihr Gesicht. Allerdings trug sie dieses Mal keinen olivfarbenen Jumpsuit, sondern ein dunkelblaues Kleid, dessen strenger Schnitt sie älter wirken ließ, als sie wirklich war.

Anett Gersten.

Sobald wir in das Büro traten, hob sich ihr Blick von dem Digital-Desk und richtete sich auf uns.

„Joulia, das wurde aber auch Zeit.“

„Entschuldigen sie die Verspätung, ich wollte Kismet erst noch aufessen lassen. Das ist Frühstück schließlich die wichtigste Mahlzeit des Tages, wie wir alle wissen.“

Was redete sie da? Ich hatte gar nichts gefrühstückt. Na gut, ich hatte ein Stück Apfel gegessen, aber das hatte sie gar nicht mitbekommen.

Die Männer drängten hinter mir auch in den Raum, damit sich die Tür hinter ihnen schließen konnte. Dadurch war ich gezwungen, ein paar Schritte weiter in den Raum zu machen, wenn ich nicht mir ihnen kuscheln wollte.

Mit der Intensität eines Falken, richtete sich der Blick von Frau Gersten auf mich. „Sie sind dann also Kismet, der Diamant unter den Glasperlen.“

Ähm … was?

„Bitte setzen sie sich.“ Sie zeigte auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch.

Ich rührte mich nicht vom Fleck. Das ungute Gefühl, das mich beim Auftauchend er Gardisten erfasste hatte, erreichte gerade einen neuen Höhepunkt. So wie sie mich anguckte, fühlte ich mich absolut nicht wohl.

Frau Gersten tippte einmal ungeduldig mit dem Finger auf die Platte, da bekam ich auch schon einen unerwarteten Stoß in den Rücken, der mich nach vorne taumeln ließ.

„Dir wurde gerade ein Platz angeboten“, erklärte mir eine dumpfe Stimme hinter einem Visier.

Am liebsten hätte ich ihm einen Kinnhaken verpasst, aber etwas an dieser Frau war so irritierend, dass ich nicht glaubte damit durchkommen zu können. Wenn ich mich bei ihr verweigerte, war ein Stoß in den Rücken wohl noch das kleinste Übel, dass mir widerfahren konnte. Außerdem war es sehr schwierig, jemand mit einem Helm einen Kinnhaken zu verpassen. Daher trat ich unter den prüfenden und wachsamen Blicken der Anwesenden, zu dem mir angebotenen Stuhl und ließ mich mit verschränkten Armen darauf nieder.

„So ist schon besser.“ Frau Gersten richtete ihren Blick auf die Tischplatte und begann auf den Lichtern herumzutippen. Vor ihr fuhr ein Rechteck schräg aus der Oberfläche. Ein Bildschirm.

„Mein Name ist Anett Gersten und ich bin die persönliche Assistentin von Agnes Nazarova“, erklärte sie ohne ihre Finger von den Tasten zu nehmen.

Ob ich ihr erklären sollte, dass ich ein ausgezeichnetes Gedächtnis hatte und mir Namen merken konnte? Vermutlich wäre das im Moment keine gute Idee.

„Wissen sie, was diesen Ort zu so etwas Besonderem macht?“

„Ihr seid die Einzigen, die Leute von den Straßen entführen können und sich dann hinter einer Mauer verstecken, wo man sie nicht zur Rechenschaft ziehen kann?“

Joulia warf mir einen warnenden Blick zu. Ich ignorierte sie.

Die Mundwinkel der Assistentin, verzogen sich zu der Maske eines Lächelns. „Wir verstecken uns nicht. Die Mauern dieser Stadt sind dazu gedacht, das Leben, das wir erschaffen, zu schützen. Eden ist ein Ort an dem die Menschheit gedeiht. Im Rest der Welt sterben wir aus. Es ist sowohl ein Segen für sie, als auch für alle anderen Streuner der Alten Welt, dass wir uns die Mühe machen, euch zu finden und hier her zu bringen.“ Ihre Finger verharrten an Ort und Stelle, als sie zu mir aufblickte. „In ihrem speziellen Fall, ist es sogar ein Segen für die Stadt und die gesamte Menschheit, dass wir sie gefunden haben. Sie sind wertvoller als sie ahnen.“

Ein Segen? Ich? Wollte die mich verarschen? „Ich habe keine Ahnung wovon du sprichst.“

„Natürlich nicht. In den Augen der Streuner sind wir ja nur Barbaren. Für die wahren Ziele von Eden seid ihr blind. Aber dieser Ort ist nicht das Tor in die schreckliche Unterwelt, wie viele von euch behaupten. Wir haben eine sehr wichtige Aufgabe.“

Ich konnte es mich gerade noch so verkneifen zu schnauben. Doch meine Augen spiegelten meine Gedanken.

„Sie glauben mir nicht.“ Wieder zupfte dieses schmallippige Lächeln an ihren Mundwinkeln. „Nun gut, dann werde ich ihnen nun erzählen, was Eden zu so etwas Besonderem macht. Diese Stadt existierte schon lange vor der Wende. Damals war es nur ein kleiner Ort am Meer, völlig unbedeutend, für die Menschheitsgeschichte. Nach der Wende jedoch wurde er zu einer Zuflucht. Die Menschen kamen hier her, um bei Ihresgleichen Schutz zu suchen. Über viele Jahrzehnte hinweg wuchsen wir, doch auch vor uns hat das Virus keinen Halt gemacht.“

Virus?

„Doch es dauerte weitere zwanzig Jahre, bis den Menschen dieser Stadt das klar wurde. So blühend dieser Ort nach der Wende auch war, so leise und kriechend fiel nun der Tod über uns her. Vor nun knapp siebzig Jahren entwickelten ein paar Ärzte ein Konzept zur Replikation der Menschheit. Nicht mehr viele Frauen und Männer waren fruchtbar, aber es gab sie noch und gibt sie auch heute noch. Mit ihrer Hilfe wurde das Projekt Eden geschaffen, ein Konzept, dass das Aussterben der Menschen verhindert. Wissen sie was In-vitro-Fertilisation ist?“

Ich zögerte, weil ich eigentlich nicht reagieren wollte, schüttelte dann aber widerstrebend den Kopf.

„Das ist nicht schlimm, ihr Arzt wird ihnen das alles noch genauer erklären. Was ich eigentlich sagen will: Die Aufgabe Edens ist es die Menschheit zu erhalten.“

„Indem ihr die Leute von den Straßen entführt?“

„Nein, indem wir sie züchten.“

Moment, hatte ich gerade richtig gehört? Die züchteten hier Menschen?

„Wir haben viele Ärzte und Wissenschaftler in Eden. Über die Hälfte von ihnen sind damit beschäftigt, ein Heilmittel gegen das Virus zu finden – wenn bislang auch noch ohne Erfolg. Alle anderen haben sich der Aufgabe der Stadt verschrieben. Die wenigen fruchtbaren Menschen, die es noch gibt, sind die Adams und Evas der heutigen Zeit. Sie gebären ihr Leben lang Kinder, um das Überleben …“

„Moment. Willst du damit sagen, dass die Leute in dieser Stadt, ununterbrochen Kinder bekommen? Wie Zuchtvieh?“

„Ja, genau das tun die Evas in Eden. Und damit erhalten sie uns alle.“

Dazu fiel mir wirklich nichts mehr ein. Die Leute hier hatten doch einen Sprung in der Schüssel. Das war ja noch schlimmer als die Sache mit dem Klonen, sie beuteten die Menschen aus. Ich hatte keine Kinder und kannte auch niemanden der welche besaß, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass es gut für eine Frau war, jedes Jahr einen Wurf Welpen in die Welt zu setzten.

„Und nun sind auch sie eine Eva, Kismet.“

Diese Worte brauchten einen Moment, bis ihre Bedeutung in mein Hirn drang. Aber als sie kam, war das wie ein Schlag mitten ins Gesicht. „Ich?! Ich soll eine Zuchtstute werden?!“

„Schreien sie bitte nicht so, es gibt keinen Grund die Stimme zu erheben.“ Sie begann wieder auf der Schreibtischplatte zu tippen. „Ihre Ergebnisse sind eindeutig. Genau wie jeder andere Mensch auf dieser Welt, tragen auch sie den Mortiferus-Virus in sich, doch sie sind einer der äußerst seltenen Fälle, in denen es sich nicht auf deine Fortpflanzungsorgane auswirkt. Sie sind gewissermaßen immun dagegen und damit etwas Besonderes.“

Ich konnte kaum glauben was diese Hexe da von sich gab. „Du spinnst wohl!“ Bei Gaias Zorn, das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein.

Ihre Mundwinkel sanken herab. „Ich verbitte mir diesen vulgären Ton. Falls sie sich darum sorgen, wie sie all diese Kinder großziehen sollen, dann kann ich sie beruhigen. Ihre Aufgabe besteht ausschließlich darin, sie zu gebären. Danach kommen sie in geschulte Hände, die sich liebevoll um unsere Schätzte kümmern.“

„Du glaubst das ist mein Problem?!“ Nun konnte ich nicht mehr an mich halten und lachte auf. Das war einfach nur lächerlich. „Selbst wenn es stimmen sollte, was deine komischen Tests sagen und ich Kinder kriegen könnte, so werde ich mich sicher nicht von einem Haufen Kerle begatten lassen und deren Brut in diese Welt setzen!“

„Das ist auch gar nicht nötig.“ Sie begann wieder zu tippen. „Wir haben alternative Methoden zur Befruchtung, die sogar viel effizienter sind und bessere Ergebnis erzielen. Außerdem …“

Ich sprang so schnell vom Stuhl auf, dass er umkippte und auf den Boden knallte. Es war mir egal, genauso egal wie der warnende Blick von dieser selbsternannten Menschenretterin. „Da mache ich nicht mit!“

„Ob sie nun wollen oder nicht, sie werden sich fügen – das steht gar nicht zur Debatte.“

Sie würden mich zwingen. Wenn ich mich weigerte, würden sie alles in ihrer Machtstehende tun, um mich zu zwingen, ihren Vorstellungen zu folgen. Vor meinem inneren Auge erschienen Bilder wie ich eingesperrt in einem Raum saß und Männer über mich herfielen. Ich sah wie sie mich zwangen, ein Kind nach dem anderen zu bekommen, damit ihre abscheuliche Vorstellung von der Zukunft gesichert war. „Das könnt ihr nicht machen.“ Ich wich vom Schreibtisch zurück und sah mich nach einem Fluchtweg um. Das war viel schlimmer, als alles, was ich mir bisher ausgemalt hatte.

Ich hatte nie darüber nachgedacht Kinder zu bekommen, einfach weil ich davon ausgegangen war, dass ich es nicht konnte. Aber der Gedanke daran, dazu gezwungen zu werden und sie dann auch noch hergeben zu müssen, um neue zu machen … das war ein Bild, das mein Herz zu zerquetschen drohte.

Das war das Schicksal, das Eden sich für mich ausgedacht hatte. Mein Herz begann immer schneller zu schlagen. Was ich spürte war keine Angst, es war eine Mischung aus Panik und ohnmächtiger Wut.

„Setzen sie sich wieder hin, Kismet“, verlangte Frau Gersten.

Ich schüttelte den Kopf und wich noch weiter vor ihr zurück. „Das kannst du vergessen!“

„Setzen sie sich.“ In ihre Stimme hatte sich ein leises knurren geschlichen.

„Nein!“ Ich wirbelte herum und rannte direkt in den größeren der beiden Gardisten. Als ich versuchte nach ihm zu treten, schlang er die Arme um mich und hob mich einfach vom Boden hoch. „Nein!“, schrie ich und wand mich in seinem Griff. „Das könnt ihr nicht machen! Ich lasse mich nicht zwingen!“

„Du solltest dankbar sein“, grollte der Mann mir ins Ohr und trug mich zurück zum Schreibtisch.

„Dankbar?! Seid ihr hier alle verrückt?!“

Joulia trat vor, um meinen Stuhl wieder aufzustellen.

Ich strampelte und wand mich. Als der Mann versuchte mich zurück auf den Stuhl zu setzten, trat ich ihn ein weiteres Mal um, sodass Joulia ihn erneut aufstellen musste. Der andere Mann musste sich auch noch einschalten. Erst gemeinsam schafften sie es mich zurück auf den Stuhl zu drücken.

„Wenn sie sich nicht ein wenig zusammenreißen, dann werde ich anordnen, ihnen ein Beruhigungsmittel zu geben.“

Beruhigungsmittel? Dann wäre ich unfähig mich zu wehren, ihnen völlig ausgeliefert. Nun verwandelte sich meine Wut in Angst, denn ich wusste sie würden es tun. Hier gab es niemanden, der sie daran hindern konnte, niemanden, der sie daran hindern würde. Ich war ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

In meinen Augen stieg ein lange verlorenes Gefühl auf, ein leichtes Brennen, der Vorbote von Tränen. Meine Wehrversuche erschlaffen. Ich schlang die Arme um mich selbst. Doch das trügerische Gefühl von Sicherheit wollte sich nicht einstellen.

„So ist es schon besser.“ Die Assistentin der Despotin begann wieder zu tippen. „Wo war ich stehen geblieben, bevor ich so rüde unterbrochen wurde?“, fragte sie keinen bestimmten im Raum.

„Sie wollten gerade von alternativen Befruchtungsmethoden erzählen“, half Joulia ihr aus.

„Ach ja. Eigentlich wollte ich damit nur deutlich machen, dass Männer für den Akt der Fortpflanzung nicht mehr nötig sind. Wenn sie also eine Abneigung gegen das Zusammensein mit dem anderen Geschlecht hegen, wird das kein Problem darstellen. Wir erfüllen unseren Evas jeden Wunsch, denn Frauen sind die Zukunft. Ein Mann kann eine Nation zeugen, doch sterben die Frauen, stirbt auch das Leben. Was genau das bedeutet, werden sie bei dem ihnen zugewiesenen Arzt erfahren. Ich habe mir bereits erlaubt, einen Termin für sie zu buchen. Ihr Arzt wird sie nicht nur in allen Fragen betreuen, er wird außerdem ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens werden, also sollten sie sich mit ihm gut stellen. “

Ich musste schlucken.

„Ihre Aufgabe hier ist ziemlich einfacher Natur. Ihre einzige Pflicht wird es sein, sich ihrer Aufgabe zu widmen. Das bedeutete, dass sie ihre Termine wahrnehmen, den Anweisungen ihres Arztes folgen und es sich ansonsten gutgehen lassen. Das Herz von Eden bietet den Adams und Evas eine breite Palette von Freizeitgestaltung und Zerstreuungen. Das ist ein Ausgleich dafür, dass es ihnen aus Sicherheitsgründen verboten ist, diesen Teil der Stadt zu verlassen und unters gemeine Volk zu gehen.“

Verboten. Das hieß, ich war hier eingesperrt. „Du bist ein schrecklicher Mensch.“

„Ein schrecklicher Mensch wäre ich nur dann, wenn ich das Aussterben der Menschheit zulassen würde, obwohl es in meiner Macht steht, etwas dagegen zu unternehmen.“

Aber es stand nicht in ihrer Macht. Sie war nicht in der Lage Kinder zu bekommen, ich schon. Ihr Beitrag zu dem Ganzen war, mich zu dem zu zwingen, was ihr nicht möglich war. „Du hast keine Ahnung was du mir damit antust.“

Ihre Finger verharrten schwebend über den Tasten. „Damit mögen sie recht haben, aber ich betreue das Projekt Eden bereits seit vierzehn Jahren und habe damit einen ziemlich guten Einblick in die ganze Angelegenheit. Darum weiß ich auch sehr genau, was wir bisher erreicht haben und was wir noch erreichen können. Kinder sind die Zukunft der Menschheit.“

Kinder. Sie züchteten Kinder, damit sie mit ihnen neue Kinder züchten konnten. Ich bekam eine Gänsehaut.

„Sie brauchen jetzt auch nicht so tun, als würde ich etwas Menschenunwürdiges von ihnen verlangen. Das Leben ist dazu gedacht sich fortzupflanzen und zu vermehren. So hat die Natur uns geschaffen.“

„Aber nicht auf diese erniedrigende Art.“

„Wenn sie diese Ehre als erniedrigend empfinden, können sie mir nur leidtun. Es ist nichts Erniedrigendes daran, Leben zu schenken.“ Sie lehnte sich zurück und drapierte ihren Körper sorgfältig in ihrem Stuhl. „Sie müssen verstehen Kismet, die Menschheit braucht Leute wie sie, um fortbestehen zu können. Das Konzept Eden unterstützt nur den natürlichen Werdegang und gibt uns eine klare Linie vor, nach der wir handeln können.“

„Aber wer gibt euch das Recht so zu handeln?“

Sie schaute mich einen Moment an, überging diese Frage dann jedoch. „Ihnen wurde ein Zimmer im Turm der Evas zugeteilt, das sie später am Tag beziehen werden. Um sie in ihrer Anfangszeit zu unterstützen, haben wir ihnen eine Betreuerin zugewiesen.“

Mein Blick schnellte zu Joulia, doch die schüttelte den Kopf. „Nicht ich. Mein Platz ist hier.“

„Sie dürfen sich im Herz von Eden frei bewegen“, fuhr Frau Gersten fort. „Besuche der Adams im Turm der Evas sind ausdrücklich verboten. Wenn sie die Gesellschaft eines Mannes wünschen, können sie sich mit ihnen in den öffentlichen Bereichen, oder in der Siedlung des Herzens treffen. Die Adams stehen ihnen jederzeit nach ihren Wünschen zur Verfügung.“

Als mir die Bedeutung ihrer Worte aufging, wurde mir schlecht.

„Über ihr Konto haben sie außerdem Zugriff auf das Verzeichnis der Adams, komplett mit ihren Stammbäumen, Steckbriefen und Vorzügen. Wenn sie einmal ein wenig Zeit erübrigen können, sollten sie sich damit beschäftigen. Außerdem werden sie einem Schulungskurs zugeteilt, in dem sie alles über das Leben in Eden lernen. Können sie lesen?“

Ich hatte kaum noch die Kraft den Kopf zu schütteln.

„Wenn das so ist, werden wir ihnen statt einem Schulungskurs, wohl besser einen Hauslehrer zur Verfügung stellen. Es ist nicht schlimm, dass sie Analphabet sind, doch wenn sie des Wortes mächtig sind, haben sie es viel leichter.“

Was vermutlich so viel hieß, wie, dass ich es lernen musste, ob ich nun wollte oder nicht. Ich stand kurz davor in Tränen auszubrechen.

„Haben sie vielleicht noch Fragen oder Wünsche, die sie jetzt geklärt haben möchten?“

„Ich will zu meiner Schwester“, sagte ich leise.

„Sie werden ihre Schwester sehen können, sobald wir dafür einen Termin in ihrem Kalender finden. Sprechen sie ihre Betreuerin darauf an, sie wird das für sie in die Wege leiten.“ Als jegliche Reaktion von meiner Seite ausblieb, beugte sich Anett ein wenig in meine Richtung. Ihre Augen glänzten begeistert. „Seien sie dankbar, Kismet. Evas sind selten und Wertvoll, sie sind die Mütter der Menschheit. Eine Eva zu sein, bedeutet eine Königin zu sein.“

Ich wollte keine Königin sein, ich wollte die Zeit zurückdrehen, bis meine Welt wieder in Ordnung war.

Frau Gersten hob ihr Handgelenk, um einen Blick auf den Zeitmesser daran zu werfen. „Nun denn, wenn es keine weiteren Fragen gibt, sollten wir langsam aufbrechen. Ich habe noch einiges zu tun, genau wie sie.“ Sie erhob sich von ihrem Stuhl, strich ihr Kleid glatt und nahm eine Tasche vom Boden. „Joulia, sie können dann gehen, ich kümmere mich um alles weitere.“

„Natürlich.“ Sie lächelte mich noch einmal an. „Ich wünsche ihnen viel Glück, Kismet.“

Wollte sie mich verarschen? Glück würde für mich bedeuten, von diesem Ort fliehen zu können, doch das hatte sicher keinen von den Anwesenden für mich im Sinn.

Joulia verabschiedete sich mit einem Nicken und ging dann hinaus.

Frau Gersten umrundete den Schreibtisch und blieb dann neben mir stehen. „Nun kommen sie, ich habe einen straffen Zeitplan.“

Ich wollte nicht. Ich wollte schreien und um mich treten. Scheiß auf anpassen und Vertrauen aufbauen, aber als ich mich nicht rührte, machten die Gardisten einen bedrohlichen Schritt auf mich zu. Wenn ich mich nicht freiwillig fügte, würden sie mich notfalls mit Gewalt dazu bringen, ihrer Version von einer glorreichen Zukunft zu folgen.

Ich durfte mich nicht verweigern. Wenn sie mir wieder Fesseln anlegten, würde das alles nur noch schwerer für mich werden. Nur wenn ich ihr Spielchen mitspielte, würde ich das bisschen Freiheit, das mir geblieben war, für meine eigenen Ziele nutzen können. Trotz dieses Wissens, fiel es mir unheimlich schwer, mich zu erheben. Meine Beine wollten mir einfach nicht gehorchen.

Sei stark, du schaffst das. Mach einfach mit und am Ende winkt die Freiheit.

Es war nur ein schwacher Trost, doch es war alles, was ich im Augenblick hatte.

Sehr langsam stand ich unter den wachsamen Blicken der Anwesenden auf.

„Na bitte.“ Frau Gersten lief an mir vorbei zur Tür. „Folgen sie mir.“

Das tat ich. Erst zögernd, doch da sich die beiden Fragmente der Finsternis direkt hinter mir anschlossen, war ich gezwungen, ein gewisses Tempo an den Tag zu legen, wenn ich nicht einfach niedergewalzt werden wollte. Wobei sie mich vermutlich nicht einfach überrennen, sondern eher packen würden, um mich hinter ihnen herzuschleifen.

Anett Gersten führte uns einmal quer durch das Gebäude, bis wir unten den Eingangsbereich erreichten, den ich schon bei meiner Ankunft gesehen hatte. Aber dieses Mal nutzten wir nicht dir Tür zum Fuhrpark, sondern gingen direkt auf die großen Glastüren zu, die zwar Freiheit versprachen, dieses Versprechen aber niemals würden halten können.

Es war wieder ein Scanner von Nöten, um uns aus dem Gebäude zu bringen und als ich durch die Tür in den strahlenden Sonnentag trat, spürte ich zum ersten Mal seit Tagen wieder eine zarte Brise auf der Haut. Es war keine Wolke am Himmel und bereits jetzt konnte ich die bevorstehende Hitze des Tages spüren.

Vor dem Gebäude befand sich ein kleiner Platz, an dem ein begrünter Parkplatz angeschlossen war. Die Büsche hier waren seltsam. Gerade und eckig, als wären sie in eine Form gepresst worden.

Hier draußen waren nur wenige Menschen unterwegs, doch immer noch mehr, als mir lieb war. Keiner von ihnen hatte einen Blick für uns übrig, sie alle schienen sehr beschäftigt zu sein.

Frau Gersten führte uns zu einem schwarzen Fahrzeug, das ganz anders aussah, als die aus der Kolonne der Tracker. Schnittiger, moderner und ohne den kleinsten Krümel von Staub. Der schwarze Lack glänzte im Sonnenlicht. Auf dem ersten Blick hatte er zwar vier Reifen, aber keinen Weg ins Innere. Man musste schon sehr genau hinschauen, um die Türen zu erkennen, so nahtlos verschmolzen sie mit dem Rest der Karosserie.

„Wohin werde ich gebracht?“

„Dorthin wo alle unsere Evas leben, zum Sichersten Ort, den Eden zu bieten hat.“ Mit der Hand drückte sie gegen den Wagen und eine grifflose Tür schwang auf. „Und jetzt kommen sie, es ist höchste Zeit, man erwartet sie bereits.“

Ich wollte nicht. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und wäre so weit gerannt, wie mich meine Beine trugen, doch die beiden Finsterlinge umringten mich bedrohlich. Durch die Visiere konnte ich ihre Gesichter nicht erkennen, doch ihre Körpersprache konnte ich durchaus lesen. Entweder ist setzte mich freiwillig in den Wagen, oder sie würden nachhelfen. So oder so, ich würde mit diesem Wagen fahren.

Da ich nicht wollte, dass sie mich anfassten, erdolchte ich sie mit einem Blick und setzte mich widerstrebend auf die Rückbank des Fahrzeugs. Einer der Gardisten schob sich neben mich in den Wagen, der andere nahm hinter dem Lenkrad Platz. Frau Gersten ließ sich auf den Beifahrersitz nieder und holte einen Screen aus der Tasche hervor, mit dem sie sich sogleich zu beschäftigen begann.

Das Zuschlagen der Tür hatte etwas Endgültiges an sich und das beklemmende Gefühl drückte mir die Brust zusammen. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf meine Atmung. Wenn ich jetzt ausrastete, wäre damit niemanden geholfen. Ganz im Gegenteil, es würde meine beschissene Situation nur noch viel schwieriger machen. Ich musste mir immer wieder vor Augen führen, dass ich für den Moment das richtige tat. Sie konnten mich schließlich nicht vierundzwanzig Stunden am Tag im Auge behalten. Meine Gelegenheit würde kommen, ich musste mich nur zusammenreißen und in Geduld üben.

Weil das ja immer so gut funktioniert.

Klappe.

Der Motor wurde gestartet und dann fuhren wir. Hoffentlich hatte ich keinen Fehler begangen.

Der Gardist lenkte den Wagen vom Parkplatz hinunter auf die Straße, auf der ich vor zwei Tagen nach Eden gebracht worden war. Nur fuhren wir nicht die gleiche Strecke, die wir gekommen waren, sondern in die andere Richtung, tiefer in die Windungen von Eden hinein.

Weite Felder flogen an uns vorbei. Der vierte Mauerring rückte immer näher, bis wir ein hohes Tor erreichten, das mit einer großen, schwarzen Ziffer versehen war. Es war verschlossen, doch nach einer kurzen Kontrolle, bei der ein Yard von Anett und mir die Keychips scannte, wurden wir hindurch gewunken. Die Gardisten, wie ich bemerkte, blieben von dieser Kontrolle unbehelligt. Genauso war es am nächsten und auch an dem darauffolgenden Tor. Auf schnurgerader Linie, fuhren wir die Hauptstraße der Stadt entlang.

Wir kamen an Häusern vorbei, große und kleine Gebäude, belebte Straßen voller Menschen die ihrem Alltag nachgingen. So viele Menschen.

Ich hatte nicht mal gewusst, dass es von uns noch so viele gab. Männer und Frauen, Alte und Junge und vereinzelt auch mal ein Kind. Außerdem sah ich Autos, solche wie das in dem ich saß. Ich entdeckte sogar ein paar Leute mit Hunden. Diese jedoch sahen ganz anders aus, als Phantomhunde. Sie waren kleiner, manche mit hängenden Ohren, manche mit einem langen Fell und alle an einer Leine.

Die Gebäude waren alle genauso wie das Aufnahmeinstitut. Sauber, gepflegt, neu. Da war kein rissiger Putz, keine bröckelnden Fassaden, keine überwucherten Türmer und rostigen Stahlskelette. Alles sauber und ordentlich, mit einer gut durchdachten Struktur, der sich nicht mal ein kleines Grasbüschel in die Quere zu stellen wagte, nur hin und wieder ein strategisch gepflanzter Baum, oder kleine, grüne Inseln.

Ich fühlte mich mit jeder Sekunde unwohler. Hier passte ich nicht rein. Dieser Stadt wirkte unwirklich, völlig anders als alles was ich kannte, wie ein Traum – oder ein Alptraum.

Während der Fahrt wurde nicht gesprochen. Niemand erklärte mir, wo genau ich mich befand, oder was mich an meinem Ziel erwartete und ich fragte auch nicht. Das musste ich eigentlich auch gar nicht, denn mir wurde doch ausführlich erklärt, was vor mir lag.

Sie wollten, dass ich Kinder für sie gebar. Sie wollten mich irgendwelchen Männern ausliefern, damit ich von ihnen schwanger wurde. Meine Finger krampften sich in meinem Schoß. Wie nur hatte das alles so schiefgehen können? Ich hatte mich immer an die Regeln gehalten, hatte ein verborgenes und unscheinbares Leben geführt, aber das alles hatte nichts gebracht. Nur ein einziger Augenblick, hatte alles verändert und geblieben war nichts außer der Ungewissheit vor dem, was mich erwartete.

Ein paar der Orte, an denen wir vorbeifuhren, erkannte ich anhand der Bilder wieder, die ich in der ersten Nacht auf dem Bildschirm in unserem Zimmer gesehen hatte. Eine Straße folgte der anderen. Eine endlose Abfolge des immer gleichen Bildes. Die Stadt erschien mir nicht sehr groß, doch das Erstaunliche war, das wirklich überall Menschen waren. Menschen mit knalligen Farben in Haaren, Augenbrauen, Wimpern und Bärten. Viele der Frauen trugen auffälliges Makeup, wie eine zweite Haut. Ja, ich sah selbst ein paar Männer, die sich diesem Trend angeschlossen hatten.

Kurz bevor wir das nächste Tor erreichten, bemerkt ich zu unserer linken ein großes Gebäude, mit zwei Türmen. Oben an den Spitzen wehten Flaggen mit dem Zeichen von Eden. Ein stilisierter Baum in einem Kreis. Die Flaggen waren rot, es wirkte fast wie getrocknetes Blut.

Ich bekam eine Gänsehaut. Solche Gedanken waren im Moment nicht hilfreich.

Fröstelnd setzte ich mich auf meinem Platz zurecht und richtete den Blick nach vorne. Der Wagen verlangsamte sich und vor uns ragte ein weiteres Tor auf.

Dieses hier war jedoch nicht nur größer als die anderen, es wirkte auch massiver und der Wall, der den Bereich dahinter schütze, war ein ganzes Stück höher. Das Ganze wirkte nicht nur bedrohlich, bei dem Anblick schrie in mir etwas laut und deutlich: Gefahr! Es war wirklich schwer ruhig sitzen zu bleiben und eine stoische Mine beizubehalten. Aber ich durfte ihnen nicht zeigen, wie sehr mich das alles ängstigte. Ich musste eine Mauer um mich errichten, die sie nicht durchbrechen konnten.

Oh Gaia, wie sollte mir das gelingen?

Der Wagen wurde langsamer und hielt direkt vor dem Tor. Bei den letzten beiden Toren hatte es immer eine kurze Warteschlange hinter ein paar anderen Autos gegeben, aber hier waren wir die einzigen.

Bei den beiden Wachstuben zu beiden Seiten des Tores, befand sich ein doppeltes Aufgebot an Yards, die uns wachsam entgegensahen. Der Anblick ließ meine sowieso schon angespannten Muskeln beinahe vibrieren.

Ein Mann mit einer Hand an der Waffe, schlenderte zu unserem Wagen. Der Gardist hinter dem Lenkrad ließ das Fenster herunter und begrüßte den Yard mit einem Nicken. „Morgen.“

„Anliegen?“ Die Frage war kurz und knapp und ließ keinen Raum für Höflichkeiten.

„Anett Gersten begleitet eine neue Eva. Kismet, kein Nachname.“

Der Blick des Yards ging zur Rückbank. „Eine Streunerin.“

„Frisch aus dem Aufnahmeinstitut“, bestätigte der Gardist.

„Könnten wir das Prozedere ein wenig beschleunigen“, schaltete sich Anett ein. „Ich habe heute noch einiges zu tun.“

„Natürlich.“ Der Mann nahm ein Gerät von seinem Gürtel, dass ich bereits als Kontrollscanner erkannte. Damit lass er sowohl Anetts, als auch meinen Keychip. Er las die digitale Anzeige auf der Rückseite und egal was dort stand, es schien ihn zufrieden zu stellen, denn er nickte. „Sie können passieren“, erklärte er dann und trat von dem Wagen zurück.

Der Gardist fuhr das Fenster wieder nach oben, um die Hitze auszusperren. Der Yard gab mit dem Arm ein Zeichen und vor uns öffnete sich das Tor ins Heiligtum der Stadt.

 

oOo

Kapitel 19

 

Langsam fuhr der Wagen wieder an, passierte das Tor und bracht uns in einen Teil der Stadt, der ganz anders aussah, als das, was ich bisher gesehen hatte. Die sauberen Straßen und gepflegten Gebäude aus Stahl, Beton und Glas, wichen einer futuristischen Vorstadtsiedlung in einer prachtvollen Oase. Die innovativen Häuser, besaßen klare, gerade Linien, Flachdächer und große Fenster. Sie hatten weiße Fassaden, aber nicht aus Holz oder Stein, nein, sie schienen aus einem anderen Material gemacht worden zu sein, aber welches, konnte ich nicht sagen. Modern und offen, waren es keine einfachen Rechtecke. Es waren miteinander verwobene Kästen, eingebettet in weitläufigen Gärten mit steinernen Terrassen, glasklaren Swimmingpools und einem Meer aus exotischen Pflanzen. Jedes Haus sah ein wenig anders aus und jeder Garten war individuell gestaltet.

Da war ein Haus, das sah aus, als hätte man drei Bauklötze zu einem wackligen Turm gestapelt. Bei einem andern hatte man zwei Quadrate ineinandergeschoben. Und das an dem wir gerade vorbeifuhren, hatte unten ein kleines Rechteck und oben drauf ein großes. Wäre nicht das viele Grün und die üppigen Farben der Blumen, hätte all das ein wenig steril gewirkt.

Das beeindruckendste Gebäude, war jedoch das, das alle anderen dominierte: Ein Wolkenkratzer, genau in der Mitte der City. Riesengroß ragte er aus dem Meer der Häuser, wie ein stummer Wächter, in den Himmel.

„Bringen sie uns bitte zu Finns Bistro“, bat Anett, ohne den Blick von ihrem Screen zu nehmen. „Dort treffen wir uns mit Frau Capps.“

Der Gardist nickte und passte seinen Kurs an, indem er auf eine andere Straße einbog.

Die Wohnhäuser und der Turm, waren jedoch nicht die einzigen Gebäude, die ich entdeckte. Im Westen gab es einen großen Gebäudekomplex, doch aus dieser Entfernung konnte ich nicht sagen, wozu er diente. Auch im Osten gab es ein großes, rundes Gebäude, das etwas höher aufragte, als die umliegenden Häuser.

Was ich jedoch kaum sah, waren Menschen. Hier schienen sie nicht so zahlreich vertreten zu sein, wie im Rest der Stadt. Es fuhren auch viel weniger Autos auf den Straßen. Erst als wir uns dem großen Gebäude im Osten näherten, änderte sich das. Dieses Bauwerk war groß, hoch und von einem ganzen Straßenzug umringt. Es war sozusagen der Mittelpunkt des Blocks.

Läden reihten sich zu beiden Seiten der Straßen aneinander. Menschen liefen auf den Gehwegen und schauten sich die Auslagen in den Schaufenstern an. Es war nur eine kleine Betriebsamkeit, wenn man es mit dem Rest der Stadt verglich und dennoch pulsierte hier das Leben.

Ich sah auch Kinder. Kleine Kinder und große Kinder. Es waren nicht viele, aber sie waren da.

Der Gardist fuhr unseren Wagen nur ein kurzes Stück die Straße hinauf und hielt dann vor einem flachen Gebäude, vor dem mehrere Tische und Stühle unter großen Sonnensegeln gruppiert waren.

„Na endlich.“ Anett ließ ihren Screen wieder in der Tasche verschwinden und stieg aus dem Wagen. Die Gardisten taten es ihr gleich. Ich zögerte. Mit einem Mal schlug mein Herz mir wieder bis zum Halse. Ich gab es nicht gerne zu, aber ich hatte Angst vor dem, was mich dort draußen erwartete.

Als neben mir die Tür aufgerissen wurde, zuckte ich leicht zusammen.

„Aussteigen“, forderte der Gardist.

In Ordnung, bleib ganz ruhig, zeig ihnen nicht, dass du Angst hast.

Mit wild schlagendem Herzen, schwang ich die Beine aus dem Wagen und stieg aus. Im Wagen war es angenehm kühl gewesen, hier draußen spürte ich sofort wieder die Hitze des Tages. Und die ganzen Eindrücke, die von allen Seiten auf mich eindrangen, waren fast überwältigend.

Links von mir hörte ich das klingende Lachen einer Frau. Es gehörte zu einer älteren Brünetten in einem kurzen Kleid, die mit drei weiteren Frauen an einem Tisch saß. Sie alle hatten Teller mit seltsamen Speisen vor sich. Weiter hinten lief eine blonde Frau mit einem abwesenden Ausdruck im Gesicht. Sie hatte sich in dem Arm eines Mannes eingeharkt und schien eher über den Gehweg zu schweben als zu laufen. Und ihr Bauch … er war kugelrund.

Einen Moment stand ich da, beobachtete sie und fragte mich ob sie krank war, oder zu viel gegessen hatte. Erst die schützende Geste ihrer Hand, die sie auf ihren Leib legte, macht mir klar, dass ich völlig falsch lag. Die Frau war nicht krank, sie war schwanger.

Der Anblick nahm mich im Moment der Erkenntnis so gefangen, dass ich die Augen nicht abwenden konnte. Seit meine Mutter damals mit Nikita schwanger gewesen war, hatte ich keine Frau mehr gesehen, die ein Kind erwartete. Das war mittlerweile so lange her, dass ich mich kaum noch daran erinnern konnte. Das hatte etwas Faszinierendes.

„Kismet, kommen sie bitte“, rief Anett ungeduldig.

Ich warf einen kurzen Blick in ihre Richtung und setzte ich dann langsam in Bewegung. Dabei schaute ich wieder zu der schwangeren Frau. Sie war nicht allein unterwegs. Bei ihr war ein viel jüngerer Mann, bei dem sie sich untergehakt hatte. Im ersten Moment glaubte ich, dass es Kit sei, aber die Frisur stimmte nicht. Das war nicht der Tracker, sondern der nicht-Klon. Killian hatte er sich genannt.

„Kismet“, rief Anett wieder, dieses Mal schon ungeduldiger.

Ich riss meinen Blick von der Schwangeren und dem Zwillingsbruder los und trat mit meinem Bewacher im Nacken zu Anett auf den Gehsteig.

„Ich glaube, ich habe bereits erwähnt, dass ich heute nicht so viel Zeit habe. Es wäre also nett, wenn sie aufhören würden zu trödeln und meine Zeit zu verplempern.“

Es fiel mir wirklich schwer, ihr nicht zu erklären, was ich alles nett finden würde, als sie mir den Rücken kehrte und mit energischen Schritten auf das Gebäude mit den Tischen zuging.

Außer dem Tisch mit den vier Frauen, war noch ein weiter von einer einzelnen Frau mit kurzem, bunten Haar besetzt. Wirklich, ihr Haar war bunt, wie ein Regenbogen in Pastelfarben. Und da Anett direkt auf sie zuhielt, war sie wohl auch unser Ziel.

Als ich der Assistentin folgte, spürte ich die neugierigen Blicke der anderen Frauen auf mir. Sie musterten mich und tuschelten dann leise miteinander. Ich beachtete sie gar nicht. Im Moment hatte ich weitaus größere Probleme, als ein paar Tratschtanten.

„Frau Capps“, sprach Anett den Regenbogen an.

Die Dame am Tisch ließ den Screen in ihrer Hand sinken und schaute auf. Sie war älter als ich vermutet hatte. Mitte vierzig, vielleicht sogar noch älter. Groß mit fülligen Hüften und einer enormen Oberweite. Wenn sie gut zielte, konnte sie jemanden damit erschlagen. Das Gesicht war fast dreieckig, das Kinn sehr spitz und die bunt geschminkten Lippen, herzförmig. Sie trug eine schwarze Hose und eine luftige Bluse und begrüßte uns mit einem Lächeln.

„Frau Gersten.“ Frau Capps legte ihren Screen nieder und reichte Anett zur Begrüßung die Hand. Dann richtete sich ihr Blick auf mich. „Dann nehme ich mal an, sie sind Kismet.“

Da das hier scheinbar sowieso schon alle wussten, gab es für mich keinen Grund dies zu bestätigen.

Anett jedoch schien etwas an meinem Verhalten auszusetzen zu haben. „Entschuldigen sie bitte ihre unhöfliche Art. Kismet ist ein wenig schwierig.“

Ich kniff die Augen leicht zusammen. Ich hatte noch gar nicht damit begonnen, schwierig zu sein.

„Aber nicht doch.“ Frau Capps schlug die langen Beine übereinander. „Das hier ist alles noch neu für sie. Alles fremd und beängstigend. Ich kann das verstehen.“

Das bezweifelte ich.

„Nun gut.“ Anett wandte sich mir zu. „Das ist Frau Capps. Sie wird ihnen bei ihrer Eingewöhnung hier behilflich sein und sie mit unserer Kultur und der Stadt vertraut machen. Im Grunde wird sie sie und ihr Leben hier managen, solange bis sie dazu allein in der Lage sind.“

Der pastellfarbene Regenbogen nickte mir lächelnd zu. „Sie können mich Carrie nennen, Liebes, das machen hier alle.“

Ein Wachhund mit einem mütterlichen Lächeln. Das war gar nicht gruselig.

Anett warf einen kurzen Blick auf den Zeitmesser an ihrem Handgelenk. „Ich muss dann auch dringend weiter. Sie haben alle relevanten Informationen?“

Carrie nickte.

„Gut, dann übergebe ich sie ihrer Obhut. Passen sie gut auf sie auf und wenn sie Probleme macht, dann benachrichtigen sie mich.“

„Wir werden schon klarkommen“, sagte Carrie zuversichtlich.

„Daran hege ich keinen Zweifel.“ Anett nickte mir noch einmal zu, drehte sich dann ohne ein weiteres Wort um und stieg mit einem der Gardisten wieder in den Wagen. So schnell wie die beiden losfuhren, konnten sie es scheinbar gar nicht erwarten, von mir wegzukommen.

Der andere Gardist blieb jedoch wachsam wie ein Schatten hinter mir stehen. Ich beäugte ihn misstrauisch.

„Kommen sie Kismet, setzten sie sich zu mir, vor unserem ersten Termin haben wir noch Zeit uns ein wenig kennenzulernen.“

Ich wollte mich nicht setzen, ich wollte schreiend davonlaufen, aber mit dem Mann in schwarz in meinem Rücken käme ich vermutlich nicht mal einen Fuß weit. Also fügte ich mich erneut in mein Schicksal und ließ mich ihr gegenüber am Tisch nieder.

Sie musterte mich so gründlich, dass ich mich beinahe durchleuchtet vorkam. „Sie sind also unsere neue Eva.“

„Und du bist also meine Betreuerin.“

„Betreuerin?“ Sie lachte glockenhell auf. „Ich bin doch keine Pflegekraft, ich bin eine Lebensmanagerin. Ich helfe Streunern bei der Eingliederung in unsere Gesellschaft. Und es ist mir wahrlich eine Ehre, einer Eva zu unterstützen. Wir hatten schon seit siebzehn Jahren keine Eva aus der Alten Welt mehr.“

Es fiel mir wirklich schwer, nicht mit den Zähnen zu knirschen. „Wenn du Streunern so gerne hilfst, dann dürfte dir sicher auch bekannt sein, dass wir es nicht mögen, als Streuner bezeichnet zu werden.“

Ihr Grinsen wurde ein wenig breiter. „Sie haben eine scharfe Zunge. Gut.“

Meinte sie das ernst, oder nicht? Besser ich hielt einfach den Mund.

„Das alles hier muss für sie noch ziemlich überwältigend sein, aber keine Sorge, ich werde ihnen helfen, sich in allen Lebenslagen zurechtzufinden. Das ist immerhin mein Job, nicht wahr?“

Wenn man ihren Worten glauben durfte, dann ja. Erst jetzt, als ich ihr gegenübersaß, bemerkte ich, dass sie nirgendwo auf ihrer Kleidung das Zeichen von Eden trug.

„Ihr Erscheinen hätte zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können, denn in zwei Tagen findet eine Gala zu ehren von Agnes Nazarovas zweiundachtzigsten Geburtstag statt und jede bedeutende Persönlichkeit in dieser Stadt, wird dort zugegen sein. Sie müssen wissen, Agnes Nazarova ist die Despotin der Stadt und ein großes Vorbild für jeden von uns.“ Sie gab einen Seufzer von sich, als würde allein der Gedanke an die Despotin sie mit Freude erfüllen. Das nannte man dann wohl Heldenverehrung. „Leider ist die Zeit zu knapp, um noch ein angemessenes Kleid zu diesem Anlass für sie anfertigen zu lassen, aber keine Sorge, ich habe für dieses Problem bereits eine Lösung parat.“

Da war ich mir sicher.

„Wir gehen später einfach zu Victorine und schauen mal, was sie noch auf Lager hat. Dort werden wir sicher etwas für sie finden. Natürlich wird es noch geändert und angepasst werden müssen, aber naja, das kriegen wir sicher alles hin. Verlassen sie sich nur auf mich, Liebes, ich werde das schon alles regeln und dann werden sie auf der Gala die Massen verzaubern.“ Sie zog ihren Screen heran und begann mit dem Finger darauf herumzutippen. „Bei der Gelegenheit können wir auch gleich ihre Maße nehmen lassen, damit Victorine genug Zeit hat, ihnen ein adäquates Kleid zu schneidern. Das Fest ist zwar erst in ein paar Wochen, aber die Schneider haben immer viel zu tun und wäre nicht ratsam, es bis zum letzten Moment hinauszuzögern.“

„Fest?“

Ihre Stirn runzelte sich ganz leicht, aber dann schien ihr ein Licht aufzugehen. „Entschuldigung, das können sie ja noch gar nicht wissen. Ich spreche vom Elysium-Fest, eine Parade quer durch die Stadt, zu Ehren unserer Evas und Adams.“

Was war eine Parade? Und was sollte hier zu Ehren bedeuten? Hieß das, die Menschen hier huldigten ihr verqueres Treiben auch noch mit einem großen Fest, auf dem sie die Leute, die sie ausbeuteten, zur Schau stellten? Das war geradezu abartig.

„Schauen sie nicht so“, verlangte Carrie, die meinen Ekel wohl von meinem Gesicht ablesen konnte „Es wird ihnen Spaß machen, sie werden schon sehen.“

Das bezweifle ich.

„Ich habe auch schon einen Termin bei Victorine gemacht, leider hat sie erst heute Nachmittag etwas frei, aber das ist nicht weiter schlimm, wir haben heute noch genug anderes zu tun.“

Erwartete sie jetzt Freudensprünge?

„Als erstes gehen wir zu Sue. Sie ist eine wahre Künstlerin, was das Aussehen angeht. Außerdem habe ich für heute bereits Termine bei einem Zahnarzt und unserem Ernährungsspezialisten gemacht. Morgen werde ich sie zu Dr. Vark begleiten und sie anschließend ihrem Privatlehrer vorstellen.“ Sie runzelte die Stirn, wischte auf ihrem Bildschirm herum und schüttelte dann den Kopf. „Das alles wird wirklich sehr knapp. Wir müssen ja auch noch mindestens eine Anprobe dazwischenschieben und dann noch die Vorbereitungen für die Gala.“

Wow, die Leute hier verloren wirklich keine Zeit. Aber wenn ich diesen ganzen Mist vorerst mitmachte, konnten sie mich auch ein wenig entgegenkommen. „Ich will meine Schwester sehen.“

Carrie hob den Kopf. „Ihre Schwester? Ah, ja, davon habe ich in ihrem Dossier gelesen.“ Sie senkte den Blick wieder. „Leider werden wir das heute wohl nicht mehr schaffen, wir haben einen straffen Zeitplan, aber wir können es sicher einrichten, dass sie sie später noch über die Komkon kontaktieren können.“

„Komkon?“

„Kommunikationskonsole. Wir tätigen einen Anruf. Dann können Sie mit ihr sprechen.“

„Sowas wie der Digital-Desk?“

„Ja genau.“

Ich knirschte mit den Zähnen. Ich wollte keine virtuelle Version von meiner Schwester sehen, ich wollte sie treffen.

„So, wir sollten dann auch langsam aufbrechen.“ Sie leerte das Glas vor sich und stand dann mit dem Screen im Arm auf. „Unser erster Halt heute ist der Beautysalon Factory. Er gehört Sue, einer wirklich netten Dame.“ Sie wartete, bis auch ich mich erhoben hatte, dann setzte sie sich in Bewegung. Der Gardist folgte uns wie ein Schatten. „Sie ist sicher schon sehr gespannt darauf sie kennenzulernen.“

„Das beruht nicht auf Gegenseitigkeit.“

Carrie bedachte mich mit einem nachsichtigen Lächeln, während sie auf den Gehsteig trat und uns nach rechts lenkte. „Wie finden sie unsere Stadt bisher? Sie haben sicher noch nicht viel davon gesehen.“

Jetzt nur nichts Feindseliges sagen. „Laut.“

Sie gab ein bellendes Lachen von sich. „Oh, ich habe ja schon vieles gehört. Eindrucksvoll, anders, wunderlich, aber laut ist neu.“

„Es ist laut.“

„Wahrscheinlich. Aber Eden hat weitaus mehr zu bieten, als nur die Lautstärke. Wie sie sicher bereits wissen, befinden wir uns hier im inneren Kreis. Er ist nicht nur das Zentrum von Eden, er ist das Herz der ganzen Stadt und der wohl am besten gesicherte Ort in diesem Land. Niemand kommt hier rein oder raus, solange wir es nicht erlauben.“ Sie sagte das mit solchem Stolz, als würde sie mir damit einen riesigen Gefallen tun. Ich jedoch sah nur meine Fluchtmöglichkeiten mit einem Winken davonfliegen. „Der Durchmesser von Edens Zentrum beträgt genau zwei Komma fünf sieben Kilometer und die Mauern die uns umgeben, bestehen aus hochwertigem Stahlbeton, mit einer Höhe von neun Metern und einem Durchmesser von drei Metern. Da kommt wirklich niemand rüber.“

Meine Fluchtmöglichkeiten winkten mir nicht nur zu, sie machten sich auch noch mit einem Kichern über mich lustig.

„Das Herz beherbergt zurzeit hundertachtundvierzig aktive Adams und hundertzweiundsechzig aktive Evas. Und mit ihnen werden es nun hundertdreiundsechzig sein.“

So wie sie mich anschaute, erwartete sie vermutlich zur Belohnung einen Keks von mir. Dabei konnte sie froh sein, wenn ich ihr kein Bein stellte und sie mit einem Schlag in den Rücken zu Boden beförderte.

Auf der anderen Straßenseite lief ein Mann mit zwei Frauen entlang. Alle drei starrten mich an, als wäre mir ein zweiter Kopf gewachsen, auf dem ein Geweih aus Dornenranken mit Rosenblüten saß. Ich stierte so finster zurück, dass sie ganz spontan beschlossen, sich lieber wieder mit ihren eigenen Angelegenheiten zu beschäftigen.

„Wir sind gleich da“, erklärte Carrie und deutete mit dem Finger auf einen Laden, zwei Geschäfte weiter. Er hatte eine offene Glasfassade, mit einem großen Schild darüber. Die geschwungenen Buchstaben konnte ich nicht lesen, aber ich ging einfach mal stark davon aus, dass dort Factory stand.

In den Schaufenstern hingen Bilder und Plakate von schönen Frauen. Das Ganze war in rosa und weiß dekoriert. Es sah hübsch auch. Und ziemlich künstlich.

Carrie ging voraus und die Tür öffnete sich wie von Zauberhand vor ihr. Es war, als wüsste die Tür, dass wir kamen.

Als Carrie meinen misstrauischen Blick sah, lächelte sie ein wenig. „Automatische Türen, sie funktionieren mit Bewegungsmeldern.“

Was das Ganze natürlich absolut logisch machte.

Ich beäugte die Tür misstrauisch, als ich hindurchtrat. Ein kleines Glöckchen kündigte unsere Ankunft an. Zumindest hörte ich ein Glöckchen, sehen tat ich keines.

Direkt hinter der Tür stand ein kleiner Empfangstresen, dahinter verteilten sich jede Menge Stühle vor großen Spiegeln. Ein paar der Stühle waren besetzt. Drei Frauen und ein Mann. Hinter ihnen tummelten sich ein paar Leute in gleichen Uniformen, die sich scheinbar um ihre Haare und die Schminke kümmerten. Neun Leute insgesamt und sie alle richteten ihre Blicke auf mich, als ich hinter Carrie in den Laden trat.

Hatten die alle nichts Besseres zu tun, als mich ständig anzuglotzen? Ich versuchte sie nicht zu beachten, verschränkte einfach die Arme vor der Brust und starrte stur geradeaus.

Aus dem Hinterzimmer kam eine kleine Frau mit einem leichten Überbiss geeilt. Ihr Haar flog in einer zartrosa Wolke hinter ihr her. „Carrie“, begrüßte sie meine Betreuerin, tat dann etwas, dass eine Umarmung ohne Berührung ähnelte und hauchte ein Küsschen in die Luft. „Ich habe ihrer Ankunft schon freudig entgegengefiebert.“

Carrie machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. „Es war wohl nicht mein Besuch, den sie erwartet haben, sie wollen doch bloß ein neues Objekt zwischen ihre Finger bekommen.“

„Wie recht sie haben.“ Ihre Augen fanden mich. „Ist sie das?“

„Das ist Kismet.“

Die beiden Frauen starren mich an, wie einen seltenen Vogel.

Ja guckt nur, dann passiert gleich was.

„Sie ist eine Augenweide“, sagte die kleine Frau.

„Sie wird ein leuchtender Stern sein, wenn sie mit ihr fertig sind.“

„Das wird sie.“ Sie reichte mir ihre Hand. „Ich bin Sue, die Besitzerin der Factory und ich werde mich heute um sie kümmern.“

Ich starrte ihre Hand an, tat aber ansonsten nichts.

Sue wartete einen Moment und ließ ihre Hand dann etwas unbehaglich wieder sinken.

„Kismet ist im Moment noch ein wenig schüchtern“, erklärte Carrie.

Sie nickte. „Das ist verständlich. Aber keine Sorge, ich werde mich gut um sie kümmern. Wenn sie hier rausgehen, werden sie glänzen, wie ein neuer Penni.“ Sie versuchte mir eine Hand auf den Arm zu legen, doch ich wich so schnell vor ihr zurück, dass ich mit dem Rücken fast gegen meinen muskelbepackten Schatten stieß.

„Nicht anfassen.“ Um meine Worte zu unterstreichen, funkelte ich sie noch mal warnend an. Damit war die Botschaft hoffentlich bei ihr angekommen.

Etwas verunsichert schaute Sue von mir zu Carrie und wieder zurück. Es schien sie eine enorme Kraft zu kosten, ihr Lächeln wiederzufinden. „Tut mir leid, ich wollte ihnen nicht zu nahetreten.“

Unangenehmes Schweigen breitete sich zwischen uns aus. Nur das Tuscheln der anderen Kunden war zu hören.

„In Ordnung“, sagte Carrie und klatschte in die Hände. „Am besten wir fangen gleich an. Kismet muss heute noch bei ein paar anderen Leuten vorstellig werden.“

„Natürlich.“ Sue trat einen Schritt zurück und kehrte uns dann den Rücken. „Bitte folgen sie mir, ich habe extra Raum Eins für sie freigehalten.“

Raum Eins entpuppte sich als ein geschmackvoll eingerichtetes Zimmer, mit einer bequemen, freistehenden Liege. Es gab alle möglichen Tinkturen, Cremes und Fläschchen in Regalen, mit denen ich nichts anfangen konnte und einen weiteren Stuhl vor einem großen Spiegel. Die Gerätschaften auf den Ablageflächen wirkten neu und gepflegt, sagten mir aber rein gar nichts. Alles war in einem zarten rosa gehalten, genau wie das Haar von Sue. Sie mochte die Farbe wohl.

„Bitte setzten sie sich doch“, forderte Sue mich auf und zeigte dabei auf den Stuhl.

Nach einem Moment des Zögerns, folgte ich ihrer Aufforderung. Der Stuhl war überraschend bequem. Leider half mir das nicht, mein Wohlbefinden zu steigern. Erstrecht nicht, als ich mein Spiegelbild betrachtete. Ich wirkte erschöpft und abgehärmt. Meine Hautfarbe war blasser als sonst und unter meinen Augen, hattes sich dunkle Ringe eingenistet. Außerdem schien dieser verkniffene Zug um meinem Mund sich festgefahren zu haben. Diese Stadt machte mich kaputt.

Sue stellte sich hinter mich und hob die Hände, als wollte sie mir damit in die Haare fassen, überlegte es sich dann aber anders und ließ sie einfach auf die Rückenlehne fallen. „Haben sie einen bestimmten Wunsch?“

Ob ich einen Wunsch hatte? „Gebt mir meine Schwester und lasst uns gehen.“

Carrie schnalzte mit der Zunge. Ein missbilligender Ton. „Ich denke, eine Rundumbehandlung wäre das Sinnvollste. Pediküre, Maniküre, Haare, Augenbrauen, Haarentfernung, Makeup. Vielleicht noch Microdermabrasion und eine schöne Gesichtsbehandlung. Sie wissen schon, das volle Verwöhnprogramm.“

„Das wird einige Zeit in Anspruch nehmen.“ Sue traute sich nun doch eine Hand zu heben und vorsichtig an einer Strähne meines Haares zu zupfen. „Die Blessur an ihrer Schläfe kann ich mit Leichtigkeit abdecken, aber diese Frisur, sie ist einfach schrecklich. Ich könne ihre Haare färben. Was halten Sie davon?“

Was hatte sie denn gegen meine Haare? „Mit meinen Haaren ist alles in Ordnung.“

„Sie sehen aus, als hätten Sie sie mit einem Messer heruntergesäbelt.“

Das war nicht ich, das war Azra gewesen, aber das ging sie nichts an. „Und?“

„Um wirklich etwas damit anstellen zu können, müssten sie sie ein wenig auswachsen lassen. So kann ich sie nur ordentlich machen. Und diese Augenringe, wir müssen unbedingt etwas gegen diese Augenringe unternehmen.“

Vermutlich würde Schlaf helfen. Dürfte nicht mehr allzu lange dauern. Noch ein paar Nächte wie die Letzte und ich würde irgendwann einfach umkippen.

„Tuen sie, was sie für richtig halten“, sagte Carrie und ließ sich in der Ecke auf einem Stuhl nieder. „Ich habe reichlich Zeit für diesen Termin eingeplant.“

Sue rieb sich begierig die Hände. „Das wollte ich hören.“

Ich wurde gar nicht gefragt und wie sich gleich darauf herausstellte, interessierte sich hier auch niemanden meine Meinung. Carrie gab vor, was getan werden musste und ich war gezwungen still zu halten und alles über mich ergehen zu lassen. Freiwillig. Ich hasste jeden Moment.

Sue machte aus meinen Haaren eine Frisur, kümmerte sich um Finger- und Fußnägel und schmierte mir alle möglichen Sachen ins Gesicht, bis ich wie eine Blumenwiese roch.

Ein paar der Dinge die sie tat, empfand ich gegen meinen Willen ein kleinen wenig angenehm, aber bei anderen hätte ich ihr am liebsten den Kopf abgerissen. Warum bitte durfte ich an meinen Beinen keine Haare mehr haben? Und wenn sie meinem Gesicht mit dieser Pinzette noch einmal zu nahekam, würde ich ihr das Ding tief in den Hintern schieben.

Als sie dann mit dem Makeup kam und mir das Gesicht genauso bunt malen wollte, wie den ganzen anderen Frauen, drohte ich ihr mit ernstzunehmenden körperlichen Schmerzen. Ich war wohl energisch genug, um sie von der Glaubhaftigkeit meiner Worte zu überzeugen, denn es wurde gemeinschaftlich beschlossen, dass Makeup vorläufig nicht unbedingt nötig war. Trotzdem dauerte es Stunden, bis sie endlich von mir abließ und zufrieden erklärte, wir seien für heute fertig.

Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Ich sah frischer, irgendwie leuchtender aus. Ja sie hatte es sogar geschafft, die Platzwunde an meiner Schläfe verschwinden zu lassen, aber ich fühlte mich geschunden und malträtiert und hatte die ganze Zeit so viel mit den Zähnen geknirscht, dass mir jetzt der Kiefer schmerzte. Außerdem knurrte mein Magen und leichte Kopfschmerzen kündeten sich an. Der Schlafmangel verlangte langsam nach Tribut. Darum rieb ich mir auch die Schläfen, als wir endlich die Factory, mit meinem schwarzen Schatten auf den Fersen, verließen.

„Die nächsten beiden Termine werden nicht so lange dauern“, erklärte Carrie und tippte wieder auf ihrem Screen herum. Das sie dabei nicht über ihre eigenen Füße stolperte und auch nirgendwo gegen lief, musste an der jahrelangen Übung liegen. „Wir müssen dort nach vorne, Liebes, dort ist eine Haltestelle für den Fahrdienst.“ Sie deutete auf ein großes, blaues Schild am Straßenrand, auf dem ein Zeichen mit zwei Längsstrichen war, die durch einen Querstrich miteinander verbunden waren. „Die Strecke ist viel zu weit, um sie zu laufen, besonders bei so einem Wetter.“

Also, ich fand das Wetter recht angenehm, aber wie ich bereits mehr als einmal festgestellt hatte, wurde ich ja nicht gefragt. Also trottete ich ihr mit verschränkten Armen hinterher und versuchte dabei die gaffenden Blicke der anderen Menschen nicht zu beachten. Es war wirklich unangenehm, von allen so angestarrte zu werden. Hatten die denn nichts Besseres zu tun?

Krampfhaft darum bemüht, die Existenz der ganzen Menschen auszublenden, hielt ich meinen Blick starr auf meine Füße gerichtet und bemerkte so weder die Ladentür, die sich öffnete, noch den Mann mit dem Kind an der Hand, der dort hinaustrat. Nicht bis ich direkt in ihn hinein lief.

„Pass doch auf“, knurrte er, während ich rasch einen Schritt zurückwich. Er war groß, einen halben Kopf größer als ich. Seine Haut war sonnengebräunt und seine braunen Haare sehr kurz geschnitten. Er war gut durchtrainiert und sein Kinn wurde von einem sorgfältig gestutzten Ziegenbart geziert. Das Auffälligste in seinem Gesicht waren jedoch die drei langen Narben, die sich quer über sein linkes Auge bis auf seine Wange zogen. Das linke Auge war blind, das rechte braun, mit einem gereizten Funkeln darin. Die Gesamtheit seiner Erscheinung, war eindeutig feindselig. „Was glotzt du so blöd?“

Automatisch ging meine Haltung in den Abwehrmodus.

Carrie Seufzte. „Sawyer, bitte, ein wenig Höflichkeit könnten ihren Umgangsformen wirklich nicht schaden.“

Er machte eine Geste mit seinen Fingern, deren Bedeutung sich mir nicht erschloss und marschierte dann mit einem finsteren Blick in meine Richtung, an uns vorbei. Das kleine Mädchen an seiner Hand, musterte mich im Weggehen neugierig. Sie drückte etwas an ihre magere Brust. Es war klein, weiß und flauschig, aber was genau es war, konnte ich nicht erkennen.

Carrie schüttelte missbilligend den Kopf. „Bitte entschuldigen sie Sawyer, er ist … ein schwieriger Mann.“

Einen Moment hatte ich den Eindruck, sie hatte eigentlich etwas ganz anderes sagen wollen, sich dann aber für eine höfliche Variante entschieden. Mein Interesse galt jedoch dem Laden, aus dem er gerade gekommen war. Das große Schaufenster des farbenfrohen Geschäfts, zeigte eine große Bandbreite an Zuckerwerk. Ich erkannte Kekse in edlen Schachteln und Bonbons in Gläsern und kleinen Tüten. Kleine, unförmige Klumpen aus einer dunkeln Substanz. Vermutlich war sie essbar, aber ich hatte keine Ahnung, was das war. Es erinnerte mich an das braune Zeug, dass es auch am Frühstücksbuffet im Aufnahmeinstitut gegeben hatte.

„Dafür haben wir im Moment leider keine Zeit“, erklärte Carrie mit einem bedauernden Blick und deutete mit dem Arm Richtung Haltestelle. „Wenn sie wollen, können wir später noch einmal herkommen, aber jetzt müssen wir uns beeilen, um noch rechtzeitig zu ihrem Termin bei ihrem Zahnarzt zu kommen.“

„Warum sollte ich noch mal herkommen wollen?“

Sie öffnete den Mund, schüttele dann aber duldsam den Kopf und machte mit der Hand eine Geste Richtung Haltestelle. „Kommen sie, Kismet, wir müssen uns ein wenig sputen.“

Ich ergab mich meinem Schicksal.

Wir bestiegen einen blauen Wagen des sogenannten Fahrdienstes. Laut Carrie gab es überall in Edens Herz solche Haltestellen mit blauen Schildern und dort warteten immer Autos, die einen von A nach B brachten. Unser B entpuppte sich als Fahrt quer durch die City, bis zu einem großen Gebäudekomplex, das auffaltende Ähnlichkeit mit dem Aufnahmeinstitut hatte. Allerdings wirkte es hier nicht ganz so steril. Alles war üppiger bepflanzt und die Leute die hier herumliefen, wirkten nicht so steif. Ich sah zwar auch ein paar Uniformierte, doch waren es hauptsächlich Gardisten und sie machten auch nur einen kleinen Teil der Anwesenden aus. Die meisten Menschen hier sahen normal aus. Frauen in hübschen Kleidern, zwei davon sogar mit dicken Bäuchen – noch mehr schwangere. Männer in kurzen Hosen und Kinder. Auch hier gab es Kinder. Es waren immer noch nicht sehr viele, aber allein heute hatte ich bereits mehr Kinder gesehen, als in meinem gesamten bisherigen Leben.

Carrie erzähle die ganze Fahrt über von Eden und seinen Attraktionen. Sie hörte auch nicht damit auf, als der Fahrdienst uns bei dem Gebäudekomplex absetzte. Laut ihren Angaben, handelte es sich dabei um das City-Hospiz, oder auch Ärztezentrum, ein Ort, der Heilung und des neuen Lebens. Hier erblickte jeder Mensch von Eden das Licht der Welt und hier sorgte man auch dafür, dass jede Menge Kinder geboren werden konnten. Hier erschuf man Leben. Dies war der Ursprung ihrer unmenschlichen Machenschaften.

Ich bekam eine Gänsehaut.

Die Türen zum Eingangsbereich, waren wie die bei der Factory. Sie wusste das wir kommen und machte für uns automatisch den Weg frei. Ich fand das immer noch sehr seltsam. Alles hier erinnerte mich an das Aufnahmeinstitut und dieser Eindruck verflüchtigte sich auch nicht, als wir in den Empfangsbereich traten. Individualität und Vielfalt waren hier wohl fehl am Platz. Genau wie alle anderen Gebäude, war es erstklassig in Schuss gehalten, sauber und elegant. Aber bar jeder Kreativität.

Mein erster Termin fand bei einer Frau statt, die meine Zähne begutachtete. Es fiel mir unglaublich schwer, ihr nicht in die Hand zu beißen, als sie ihre Finger in meinen Mund steckte und mir erklärte, dass ich für einen Streuner sehr schöne Zähne hatte. Ein wenig Zahnstein und Karies und zwei kleine Löcher, das war schon alles.

Anschließend führte sie mit mir ein langes Gespräch über Zahnhygiene und die Behandlung, die laut ihrer Aussage, bei mir nötig war. Es wurde direkt ein neuer Termin für die nächste Woche vereinbart. Carrie war zufrieden und ich wurde nicht gefragt.

Danach ging es zum Ernährungsspezialisten, der sich praktischerweise im selben Haus befand. Auch er untersuchte mich und setzte sich anschließend mit mir zusammen, um ein langes Gespräch über meine Ernährung zu führen. Laut ihm war ich für meine Körpergröße viel zu mager und das musste dringend geändert werden. Ich war immerhin eine Eva und musste daher bei bester Gesundheit sein. Er würde Carrie einen vorläufigen Ernährungsplan für mich schicken, der nach und nach angepasst werden würde. Zu diesem Zweck wurde direkt ein neuer Termin für nächste Woche, für mich anberaumt. Langsam entwickelte ich wirklich eine Abneigung, gegen andere Menschen.

Als wir das City-Hospiz am frühen Nachmittag verließen, waren meine Kopfschmerzen schlimmer geworden und ich hätte ein Mord dafür begannen, endlich meine Ruhe zu haben. Leider hatte Carrie andere Pläne und so stiegen wir wieder in einen blauen Wagen des Fahrdienstes und fuhren zurück zu der Ladenstraße, mit dem großen, runden Gebäude in der Mitte. Carrie nannte es das Freizeitcenter. Dort verbrachten die Adams und Evas ihre freie Zeit, gingen in die Sauna, oder zur Massage, oder trafen sich einfach im Club, um ein wenig Zeit miteinander zu verbringen.

Sie erzählte noch viel mehr, doch ich hörte nur mit halbem Ohr zu, denn nichts von dem was sie sagte, oder mich sehen ließ, half mir dabei einen Weg aus diesem Abgrund zu finden. Außerdem hatte ich langsam das Gefühl, dass mein Kopf demnächst explodieren würde. Daher war ich auch nicht besonders erfreut, als wir ins NoName gingen, dem Bistro, in dem wir uns am Morgen kennengelernt hatten. Aber laut Carrie war es an der Zeit für ein kleines Mittagessen, da dieser Tag noch lange nicht zu Ende war.

Das Mittagessen empfand ich jedoch als äußerst anstrengend. Während ich in dem herumstocherte, was Carrie mir bestellt hatte, spüre ich, wie ich von allen Seiten wie eine Kuriosität beobachtet wurde. Überall waren die gleichen neugierigen Blicke und das leise Getuschel. Ich kam mir wie eine Aussätzige vor. Zumindest war das wenige Essen, das ich zu mir nahm, war in Ordnung.

Danach gingen wir in einen Laden, der sich Fancy nannte. Eine Modeboutique mit zugehöriger Schneiderei, die Victorine gehörte. Sie war eine ältere, knurrige Frau, die mich die ganze Zeit herumkommandierte. Sie entschied auch, welches Kleid ich bei der Gala der Despotin tragen sollte und dass ich die Kleidung aus dem Aufnahmeinstitut sofort auszog und etwas aus ihrem Sortiment nahm. Sie würde es nicht erlauben, dass ich in dieser Kleidung ihren Laden verließ.

Ich rief mir immer wieder in Erinnerung, dass ich Vertrauen aufbauen musste, wenn ich einen Weg aus dieser Falle finden wollte und ließ alles anstandslos über mich ergehen. Die Kleidung aus dem Aufnahmeinstitut war mir sowieso egal, nur die kleine Skizze, die ich von Wolf bekommen hatte, die ließ ich nicht zurück.

Nachdem meine Maße genommen worden waren und auch sonst alles geklärt war, neigte sich der Tag bereits dem Abend zu. Carrie brachte mich wieder zur Haltestelle des Fahrdienstes und dann machten wir uns auf den Weg zur letzten Station des Tages: Den Turm der Evas.

Da er so hoch über die Stadt aufragte, konnte ich die ganze Fahrt über beobachten, wie wir uns ihn näherten. Während wir durch die Straßen gefahren wurden, verschwand er immer mal wieder kurz, wegen eines Baumes, oder eines Hauses, das den Blick darauf verstellte, doch dann bogen wir auf die Hauptstraße, die direkt zu ihm führte. Die Häuser und Gärten endeten abrupt und wir fanden uns in einem opulenten Park wieder, der den Turm, mit seiner grünen Pracht, von allen Seiten umschloss.

Wie überall in Eden, war auch hier die Pflanzenwelt gezähmt und kultiviert worden. Kein Grashalm wagte es über die Abgrenzungen hinaus zu wachsen. Keine Blume ragte über die säuberlich angelegten Beete hinaus und kein Baum tanzte aus der Reihe.

Die Fahrt durch den Park dauerte vielleicht zwei Minuten, dann eröffnete sich vor uns ein großer Vorplatz mit einem eindrucksvollen Springbrunnen. In der Mitte war eine gläserne Kugel, die zu schweben schien. Das Wasser plätscherte über sie hinüber, in die flache Schale unter ihr. Es sah hübsch aus.

Der Fahrer des Fahrdienstes umkreiste den Brunnen und hielt dann direkt vor der großen Freitreppe, die zum Eingang des Wolkenkratzers führte.

„So, dann wollen wir mal ihre Suite in Augenschein nehmen. Ich hoffe sie sind schon genauso aufgeregt wie ich.“

Das konnte ich nicht gerade behaupten. Dennoch tat ich es ihr gleich und stieg aus dem Wagen.

Obwohl der Tag sich bereits dem Abend geneigt hatte, war es noch nicht merklich kühler geworden, doch die leichte Brise, die mich umwehte, war überaus angenehm. Ich legte meinen Kopf in den Nacken, um an dem Turm emporzuschauen. Dieses Gebäude war wirklich verdammt hoch.

Carrie gesellte sich an meine Seite und folgte meinem Blick die Fassade hinauf. „Beeindruckend, nicht wahr?“

Das war es in der Tat, aber das würde ich nicht laut zugeben.

„Zweiundvierzig Etagen, Achtundsiebzig Suiten und in den beiden oberen Stockwerken, das Penthouse der Despotin.“

Ich hatte weder eine Ahnung, was eine Suite, noch ein Penthouse war und das ärgerte mich. Ich konnte gar nicht mehr zählen, wie oft ich mir heute bereits dumm vorgekommen war.

„So, dann wollen wir mal.“ Carrie lächelte mich an und übernahm dann die Führung. Ich folgte ihr die Treppe hinauf.

Vor uns waren wieder solche Türen, die unser Kommen ahnten und sich ganz alleine öffneten. Ob ich mich wohl irgendwann daran gewöhnen würde? Es fühlte sich einfach falsch an.

Das innere war kühl, hell und offen. In jeder Ecke standen Pflanzen in Töpfen. Wie auch im Aufnahmeinstitut gab es hier einen großen geschwungenen Tresen mit drei Leuten dahinter. Aber sie beachteten unser Kommen gar nicht.

„Der Zutritt für Männer in den Turm ist stark beschränkt und nur mit einer schriftlichen Einwilligung der Despotin gestattet“, erklärte Carrie, als wir in den Eingangsbereich traten.

Äh, was? „Was bedeutet das?“

„Das bedeutet, dass der Turm nur für Frauen zugänglich ist, Liebes. Er ist ein Rückzugsort für die Evas, etwas das nur ihnen allein gehört. Natürlich kann es vorkommen, dass auch mal ein Mann den Turm betreten muss, zum Beispiel Handwerker, Ärzte, oder Gardisten, aber das muss vorher immer mit der Despotin abgesprochen werden.“

Die Despotin schien hier ja eine Menge Macht zu besitzen. Ja, die Frau war hier scheinbar so was wie der Anführer von allen. Eine Idee reifte in meinem Kopf heran. Wenn ich sie überzeugen konnte, mich und Nikita gehen zu lassen, würden die anderen sich sicher fügen, oder?

Der Erfolg dieser Idee war verschwindend gering, aber ich war mittlerweile so verzweifelt, dass ich alles in Betracht ziehen würde. Doch um mein Vorhaben überhaupt in die Tat umsetzen zu können, musste ich dieser Frau erst mal leibhaftig begegnen. „Können wir zu dieser Despotin gehen?“

„Jetzt?“ Carrie schaute einen Moment verblüfft, dann grinste sie wieder. „Agnes Nazarova ist eine vielbeschäftigte Frau, die im Moment leider keine Zeit für sie hat, aber keine Sorge, sie werden sie eher früher als später kennenlernen. Frau Nazarova engagiert sich sehr stark für unsere Evas und hat immer ein offenes Ohr für sie.“

Das hörte sich für mich an, als wollte sie mich einfach nur vertrösten.

Ob es nun daran lag, dass mein Schatten ein Mann war, oder ein Gardist, als die Türen sich hinter uns wieder schlossen, blieb er draußen. Ein Wachhund weniger. Nicht das ich glaubte, das würde mir im Moment etwas bringen.

Carrie führte mich quer durch den Raum, auf die andere Seite. Dort ragte ein gläserner Schacht den ganzen Turm hinauf. Um ihn herum wand sich eine Treppe, die die einzelnen Stockwerke miteinander verband. Ich starrte durch das Glas nach oben. Man, das war wirklich ziemlich hoch. Ich war mir nicht sicher, ob ich schon einmal ein so hohes Gebäude gesehen hatte.

„Sobald sie sich etwas eingelebt haben, werde ich eine Auswahl an Assistentinnen für sie vorbereiten.“ An dem Glasschacht gab es zwei übereinanderliegende Knöpfe, von denen sie auf den oberen drückte. Dann standen wir einfach nur da und schienen auf etwas zu warten.

„Assistentin?“

„Natürlich. Ich bin nur für die Eingliederung verantwortlich, nicht für die alltäglichen Dinge des Lebens. Ihrer Assistentin fallen andere Aufgabenbereiche zu. Wie zum Beispiel ihre Wäsche, das Einkaufen oder der Haushalt allgemein. Sie ist auch für die Planung ihrer Termine zuständig. Im Moment werden sie sie vermutlich noch nicht groß brauchen, aber wenn ihre ersten Kinder auf der Welt sind, werden sie dankbar für sie sein.“

Als wenn ich diesen Menschen hier irgendwelche Kinder gebären würde. „Ich will keine Assistentin.“

„Lieber ein Assistent?“ Carrie runzelte die Stirn. „Das ist ungewöhnlich. Normalerweise bekommen Evas Frauen als Unterstützung. Für einen Mann müsste ich eine Sondergenehmigung bei der Despotin einholen.“

 Etwas bewegte sich den Schacht hinunter, genau auf uns zu.

„Ich will keines von beiden.“

„Ach Unsinn.“ Carrie winke ab, als hätte sie es mit einer lästigen Fliege zu tun. „Sie wissen noch gar nicht, was sie brauchen werden. Aber keine Sorge Liebes, ich kümmere mich um alles.“

Genau, darauf hatte ich es angelegt. Es war wirklich schwer, nicht zu seufzen.

Das Ding im Schacht glitt immer tiefer, wurde dann langsamer und hielt dann direkt vor uns an. Türen öffneten sich und gaben den Blick auf einen kleinen Raum aus Glas und Metall frei.

„So, dann wollen wir mal.“ Carrie trat in den Raum und sah mich dann erwartungsvoll an.

Ich zögerte. Ein unbehagliches Gefühl machte sich in mir breit. Ich wollte da nicht hinein.

„Kommen sie, Liebes, das ist nur ein Aufzug. Er wird uns zu ihrer Suite bringen.“

Das war zwar nicht besonders verlockend, aber im Moment lebte ich nach der Divise, Vertrauen aufbauen. Also atmete ich noch einmal tief durch und trat dann in den kleinen Raum.

„Ihre Suite liegt in der siebten Etage. Um zu ihr zu gelangen, müssen sie diesen Knopf drücken.“ Sie zeigte es mir und gleich darauf schlossen die Türen sich.

Mein Herz begann ein wenig schneller zu schlagen, das war für meinen Geschmack ein wenig eng. Von irgendwo her drang leise Musik an mein Ohr.

Als der kleine Raum sich plötzlich in Bewegung setzte, drückte ich mich vor Schreck gegen die Wand, während mein Blick hektisch von einer Seite zur anderen flog. Der Raum bewegte sich wirklich. Durch die Glaswände konnte ich sehen, wie er uns in die Höhe fuhr.

„Es besteht kein Grund zur Furcht“, versuchte Carrie mich zu beschwichtigen. „Dieser Fahrstuhl ist absolut sicher.“

Ich kniff die Augen zusammen und versuchte ruhig zu atmen. Ein kleiner Raum der fahren konnte? Das musste nach dem Prinzip eines Flaschenzugs funktionieren. Irgendwo stand also jemand und zog uns hinauf. Hoffentlich stürzten wir nicht ab.

Die Fahrt in diesem Fahrstuhl dauerte nicht lange und fand mit einem Pling ein abruptes Ende. Die Türen glitten wieder auf und gaben den Blick auf einen hellen Korridor frei.

Dieses Mal wartete ich nicht erst auf eine Aufforderung, nein, ich war sogar die erste die aus dem kleinen Raum floh.

„Sie werden sich schon noch daran gewöhnen“, erklärte Carrie, als sie zu mir auf den kleinen Flur trat.

Welchen Grund sollte ich haben mich daran zu gewöhnen? Ich hatte nicht vor lange zu bleiben. Aber das behielt ich besser für mich. Obwohl das ja nicht wirklich ein Geheimnis war, wenn man genauer darüber nachdachte. Auf jeden Fall würde ich nie wieder in dieses Ding einsteigen.

„So, das ist ihre Etage.“

Ein kleiner Flur. Gegenüber des Fahrstuhls war ein großes Gemälde an der Wand. Es zeigte eine idyllische Landschaft, mit einem großen Baum als Miteilpunkt. Unter dem Baum saßen ein Mann und eine Frau und überall um sie herum, tummelten sich die unterschiedlichsten Tiere. Ein paar erkannte ich, aber die Meisten konnte ich nicht benennen.

Links und rechts im Flur, gab es jeweils eine Tür. Carrie steuerte die Linke an. „Das ist ihre Suite. Ihre Nachbarin ist Celeste, eine sehr nette Dame. Kommen sie her.“ Sie winkte mich zu sich heran und zeigte dann auf ein elektronisches Feld neben der Tür. „Legen sie ihre Hand hier rauf, dann öffnet sich die Tür. Das Schloss ist auf ihren Keychip eingestellt.“

Ich legte meine Hand auf das Feld und die Tür verschwand mit einem leisen Flüstern in der Wand. Dahinter eröffnete sich mir ein großer, heller Raum, den Carrie vor mir betrat. Ich folgte ihr nur zögernd.

Die Mitte des Raums wurde von einer dick gepolsterten Wohnlandschaft dominiert, die auf einem flauschigen, weißen Läufer stand. Hauchzarte Vorhänge schwebten wie Wolken vor den kristallklaren Fenstern. Das Mobiliar bestand aus heller Eiche, so elegant und leicht, dass es schien, als würde es über dem polierten Holzboden schweben. Im hinteren Teil gab es eine offene Küche und insgesamt vier Türen führten in andere Zimmer.

„Das ist die Küche und dort finden Sie das Badezimmer.“ Carrie zeigte auf eine Wand aus Milchglas, die strategisch geschickt von klaren Streifen unterbrochen war. Die Tür stand offen, sodass ich dahinter die unberührte Badewanne erkennen konnte. Ein dreigeteilter Spiegel nahm fast eine Wand ein. Dusche, Waschbecken, Toilette. Alles elegant, hell und farblich aufeinander abgestimmt.

„Büro, Kinderzimmer und hier haben wir das Schlafzimmer.“ Sie ging zu einer einzelnen Tür an der Seite. Durch den Ausschnitt des Türrahmens erkannte ich ein riesiges Bett, dass den größten Teil des Zimmers einnahm. „Es gibt einen begehbaren Kleiderschrank, der bereits für sie ausgestattet wurde. Alles was sie darin finden, können sie zu ihrer freien Wahl nutzen.“

Frei, was für ein Witz. Ich schlang die Arme um mich selber. Plötzlich bekam ich unglaubliches Heimweh, noch viel mehr, als bisher. Ich wollte nicht hier sein, ich wollte nach Hause und diesen ganzen Alptraum vergessen.

Carrie ging geschäftig umher, überprüfte den Inhalt der Schränke und einen Monitor mit Anzeigen an der Wand und schien gar nicht zu merken, dass ich keine Luftsprünge machte.

„Die Evas und Adams treffen sich am Abend immer im Paradise, um den Tag ausklingen zu lassen. Sie sollten sich ihnen anschließen. Das stärkt die Gemeinschaft und gibt ihnen die Chance, sie alle kennenzulernen. Sie sind sicher schon alle wahnsinnig neugierig auf sie.“

Jetzt noch mal raus zu den ganzen Menschen? Das war in meinen Augen nichts Erstrebenswertes. „Eigentlich würde ich lieber hierbleiben.“ Naja, eigentlich würde ich am liebsten ganz und gar aus dieser Stadt verschwinden.

„Oh, natürlich, das verstehe ich. Sie haben einen aufregenden und anstrengenden Tag hinter sich. Für heute sollten wir es vermutlich wirklich gut sein lassen.“ Sie schloss den Kühlschrank und richtete ihre Aufmerksamkeit auf mich. „Falls sie noch Hunger bekommen, es ist genug da. Möchten sie, dass man ihnen morgen früh das Frühstück bringt, oder möchten sie sich selber etwas zubereiten. Wahlweise könnte ich sie auch abholen und mit ihnen Frühstücken gehen.“

Um mich wieder von allen angaffen zu lassen? Nein danke. „Ich komme schon zurecht.“

„Das ist eine gute Einstellung.“ Sie kam um den Küchentresen herum und trat zu mir. Kurz hob sie die Hand, als wollte sie meine Schulter tätscheln, ließ sie dann aber wohlweislich wieder sinken. „Wenn sie dann nichts mehr brauchen, werde ich sie für heute sich selbst überlassen.“

„Ich habe zweiundzwanzig Jahre ohne dich überlebt, da werde ich wohl auch diese eine Nacht schaffen.“

„Wie sie meinen. Dann wünsche ich ihnen einen erholsamen Schlaf.“

Als wenn ich in diesem Nest würde schlafen können.

Sie schien noch einen Moment auf einen Abschied von mir zu warten und als der ausblieb, seufzte sie und verließ die Suite. Erst als sie gegangen war, bemerkte ich, dass sie mich nicht hatte mit Nikita sprechen lassen.

 

oOo

Kapitel 20

 

Die Unterkunft, die man mir im Turm der Evas zugeteilt hatte, war ein einziger Traum. Ich hasste sie vom ersten Moment an. Ich hasste die großen Fenster mit den langen Vorhängen, ich hasste das butterweiche Bett mit der kuscheligen Decke, ich hasste die ganzen seltsamen Geräte an den Wänden und in den Schränken, die laut Carrie zu meiner Unterhaltung gedacht waren und auch die bequeme Wohnlandschaft. Und das schöne Bad, das hasste ich auch.

Das war nicht mein Zuhause, ich wollte hier nicht sein. Und doch stand ich nun in dem begehbaren Kleiderschrank und schaute mir die Kleidung darin an. Röcke, Kleider, Hosen und Blusen aus den feinsten Stoffen. Alles in verschiedenen Farben. Die Sachen aus dem Aufnahmeinstitut, waren bereits von einer Qualität gewesen, wie sie mir vorher noch nicht untergekommen war, aber dies hier übertraf alles, was ich kannte.

Ich zog eine Schublade auf und entnahm ihr etwas, bei dem ich zuerst nicht wusste, wohin damit. Nach einiger Überlegung kam ich zu dem Schluss, dass man es sich wohl über die Brüste zog. Doch der Sinn erschloss sich mir nicht, denn es verdeckte kaum etwas. Würde ich damit hinaus in die Sonne gehen, böte es meiner Haut keinen Schutz. Und in Winter würde es mich sicher nicht warmhalten.

Allerdings war es hübsch, fein gearbeitet. In einem tiefen Rot. Einen Moment überlegte ich dieses Kleidungsstück anzuziehen, doch dann fragte ich mich, was ich hier eigentlich tat. Das war ein Teil aus Eden, es sollte mir nicht gefallen. Nichts von den Dingen hier sollte das.

Wütend auf mich und diesen Ort, schleuderte ich das Teil von mir und ließ mich dann schwer auf die Kante meines Bettes sinken. Nein, nicht mein Bett, das Bett. Ich ließ mich auf die Kante des Bettes sinken. Das war nicht meines. Nicht von den Dingen hier gehörte mir.

Wie hatte es nur so weit kommen können? Was nur hatte ich verbrochen, um so ein Schicksal zu verdienen? Ich sollte wie am Band Kinder kriegen? Das war doch krank! Wie konnten die Menschen in dieser Stadt nur glauben, dass darin die Rettung der Menschheit lag? Diese Idee war völlig absurd. Uns gegenseitig auszunutzen, war doch nicht die Lösung der Probleme. Genaugenommen verdienten wir es auszusterben, wenn wir uns nicht mal gegenseitig respektieren konnten – von der Natur ganz zu schweigen.

Ich musste hier raus. Die einzige Möglichkeit diesem Schicksal zu entkommen, war, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Aber ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wie ich das anstellen sollte. Und dann war da auch noch Nikita.

Vorgestern Abend hatte ich mit ihr über die Komkonfunktion des Digital-Desk gesprochen und es hatte mir Angst gemacht. Es war nicht das gewesen, was sie gesagt hatte, sondern wie sie es gesagt hatte. Eden hatte Eindruck auf sie gemacht und langsam verfiel sie den Verlockungen, die dieser Ort bot. Das durfte ich nicht zulassen, ich musste sie von hier fortbringen.

„Komm schon, denk nach, es muss eine Lösung geben.“ Vielleicht sollte ich mir eine Waffe besorgen, das sollte nicht allzu schwierig sein. Dann könnte ich jemanden als Geisel nehmen und ihn zwingen mich erst zu Nikita zu bringen und uns dann hier raus zu holen. Immer vorausgesetzt, ich konnte eine Waffe finden, die bei mir auch funktionieren würde.

Ein Messer, ich konnte ein Messer benutzen.

Nur hörte sich doch einer mal den Mist an, den mein Hirn da fabrizierte. Eine Geisel. Als ob eine Geisel ausreichen würde, mich aus dem Herzen der Stadt zu bringen. Dazu war ich nach Anetts Aussage viel zu wertvoll. Auch mit zehn Geiseln würden sie mich und Nikita nicht ziehen lassen.

Frustriert erhob ich mich und begann unruhig im Schlafzimmer auf und ab zu laufen. Ich war noch nie der große Denker, oder ein außergewöhnlicher Stratege gewesen. Marshall hatte bei uns immer den Ton angegeben und ich war seinem Wort gefolgt. Das hatte für uns beide gut funktioniert. Jetzt war ich auf mich allein Gestellt. Und bis jetzt hatte ich das nicht sehr gut hinbekommen.

Hätte ich doch nur besser aufgepasst, nachdem ich Kit die Machete an die Kehle gehalten hatte. Wenn ich doch nur …

Ein Klopfen an meiner Tür riss mich aus meinen Gedanken.

Ich blieb ganz still und lauschte auf Geräusche aus dem Hausflur, doch ich hörte nichts. Einen Moment war ich unsicher was ich tun sollte. Die Tür konnte ich nicht öffnen, sie war verschlossen – ich hatte es gleich nachdem Carrie gegangen war, überprüft. Aber ein Klopfen bedeutete um Eintritt zu bitten. Ich wollte niemanden bei mir haben.

Wieder klopfte es. „Hier ist Carrie, darf ich reinkommen?“

Ich wurde wirklich um Erlaubnis gefragt? Fast hätte ich darüber gelacht.

Als ich wieder nicht reagierte, gab es ein leises Flüstern von der Mechanik der Tür. Ich steckte meinen Kopf aus dem Schlafzimmer und sah wie eine Frau mit pastellfarbenen Regenbogenhaar, langsam und äußerst wachsam die Suite betrat.

„Kismet?“

Ich starrte sie nur stumm an.

Sie bemerkte mich an der Schlafzimmertür und atmete erleichtert auf. „Ich habe angeklopft, aber als keine Antwort kam, dachte ich, es wäre besser nachzuschauen, ob auch alles in Ordnung ist.“

„Du meinst wohl, du wolltest schauen, ob ich nicht einfach verschwunden bin.“

„Verschwunden?“ Ihre Mundwinkel zuckten. „Tut mir leid ihnen das sagen zu müssen Liebes, aber das ist völlig ausgeschlossen.“ Sie wartete nicht weiter auf eine Einladung meinerseits, sondern trat näher auf mich zu. Dabei musterte sie mich gründlich. „Aber Menschen wie sie tun manchmal unüberlegte Dinge, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlen.“

Unüberlegte Dinge? „Was? Angst, dass ich mir selber etwas antue?“

„Solche Dinge sind schon geschehen.“ Sie bemerkte das Kleidungsstück für die Brust hinter mir auf dem Boden. „Haben sie versucht es anzuziehen?“

„Nein. Es erfüllt keinen Nutzen.“

„Oh doch, das tut es sehr wohl.“ Wieder musterte sie mich. „Das ist Unterwäsche, ein Büstenhalter, oder auch BH. Er sorgt für besseren Halt.“

Ihre Worte ließen mich schnauben. „Kein Interesse.“

„Das ist sehr schade, aber sie sollten sich trotzdem langsam etwas anziehen, wir sollten uns bald auf dem Weg machen, sonst kommen wir noch zu spät.“

Ich schaute an mir herunter. „Ich habe doch etwas an.“ Es war das blaue Kleid, das ich gestern bei Victorine bekommen hatte.

„Aber das haben sie bereits gestern getragen.“ Sie drängte sich an mir vorbei ins Schlafzimmer, klaubte auf dem Weg den Büstenhalter vom Boden auf und ging dann schnurstracks in den begehbaren Kleiderschrank. „In der Alten Welt ist für die Menschen normal, mehrere Tage die selber Kleidung zu tragen, aber hier in Eden ziehen wir uns jeden Tag etwas Sauberes an. Getragene Kleidung riecht streng und ist unhygienisch.“

Jeden Tag? „Aber wer soll denn die ganze Wäsche waschen?“

„Mehrmals die Woche kommt ein Wäscheservice ins Herz und bringt die verdreckte Wäsche auf Ebene drei. Dort kümmert man sich dann darum.“ Sie schob die Bügel vor sich hin und her und zog dann ein gelbes Sommerkleid mit einem asymmetrischen Schnitt heraus. „Sie haben ein so exquisites Sortiment erhalten, das sollten sie unbedingt nutzen. Es wäre geradezu ein Verbrechen, die Sachen im Schrank zu lassen.“

Schweigend schaute ich dabei zu, wie sie noch ein paar andere Dinge aus dem Schrank suchte und dann alles säuberlich auf meinem Bett ausbreitete.

„Hier, ziehen sie das an.“

Bei dem Befehlston, sträubte sich etwas in mir. Am liebsten hätte ich ihr den ganzen Mist ins Gesicht geworfen und sie anschließend aus dem Fenster geschubst. Doch leider galten heute noch die gleichen Regeln wie gestern. Also schluckte ich meine Wut herunter, verbannte sie in den hintersten Teil meines Selbst und zog mir das blaue Kleid über den Kopf.

Carrie beobachtete mich ganz genau dabei, wie ich zum Bett ging, die Auswahl beäugte und mir dann das gelbe Kleid nahm. „Was ist mit Unterwäsche?“

„Sowas brauche ich nicht.“ Sowas hatte ich noch nie gebraucht, warum also sollte ich das jetzt ändern?

Sie seufzte, um mir zu zeigen, wie sehr sie unter meinem Verhalten litt. „Haben sie schon etwas gefrühstückt?“

„Ja.“ Das hatte ich zwar nicht, aber das ging sie nichts an. Sie konnte mich schließlich nicht zwingen, etwas zu essen.

Carrie schien mir nicht zu glauben, beließ es aber dabei. „Wollen wir dann, Liebes?“, fragte sie, sobald das gelbe Kleid ordentlich an meinem Leib hing.

Die Frage brachte mich ein wenig aus dem Konzept. „Was wollen wir?“

„Losgehen.“ Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht und ließ sie um Jahre jünger wirken. „Wir müssen uns langsam auf dem Weg machen, sonst kommen wir zu spät zu ihrem Termin.“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und bewegte mich nicht vom Fleck. Mir war klar, dass meine Verweigerung nicht viel bringen würde, aber ich konnte trotzdem nicht einfach mit ihr gehen. Das wäre, als würde ich mich ihrem Willen unterwerfen. „Sie haben gestern versprochen, dass ich Nikita sehen darf und sind dann einfach verschwunden.“

„Oh, das tut mir leid, das habe ich ganz vergessen.“

„Ich will sie jetzt sehen.“

„Dafür haben wir im Moment leider keine Zeit. Sie können heute Abend mit ihr sprechen.“

„So wie gestern Abend?“

„Nein, ich werde es mir gleich notieren, damit ich es nicht wieder vergessen, aber jetzt müssen wir wirklich erstmal gehen.“

Von wegen, noch mal würde ich mich nicht vertrösten lassen. „Ich will Nikita sehen. Jetzt.“

„Ihre Schwester wird um diese Uhrzeit im Unterricht sitzen. Ich kann sie dort nicht einfach herausholen. Sie werden bis heute Abend warten müssen.“

Ich bewegte mich nicht vom Fleck.

Einen Moment dachte sie nach, dann holte sie ihren Screen aus der Tasche und tippte etwas darauf ein. „Ich kann mir vorstellen, dass ihre Situation nicht ganz einfach für sie ist. Ich bin über die Umstände ihres Aufenthalts hier informiert und weiß, dass sie nicht freiwillig nach Eden gekommen sind. Daher möchte ich ihnen ihre Eingewöhnung hier so leicht wie möglich machen. Wenn ihr Verhalten jedoch meinen Anweisungen zuwiderläuft, habe ich die Befugnis, Schritte einzuleiten, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen.“

„Du meinst, du wirst mich zwingen – notfalls auch mit Gewalt.“

Sie lächelte nur – das war irgendwie gruselig. „Ihr Arzt erwartet sie.“ Sie trat zurück in den Hauptraum, öffnete dort die Wohnungstür und wartete. „Die Entscheidung liegt bei ihnen.“

Die Entscheidung meine Prinzipien über Bord zu werfen, oder mich unter Zwang zu meinem ach so wichtigen Termin bringen zu lassen – wahrscheinlich auch noch in Fesseln. Ich wusste nicht welche der beiden Optionen demütiger war. Allein die Vernunft brachte mich dazu, mich selbständig in Bewegung zu setzten. Um mehr Bewegungsfreiheit zu erlangen, musste ich ihr Vertrauen gewinnen und das würde ich nicht, wenn ich mich gegen alles mit Händen und Füßen sträubte.

„Stur und dennoch einsichtig, das zeugt von Intelligenz.“ Als ich an ihr vorbei aus dem Zimmer trat, fiel ihr Blick auf meine Füße. „Wollen Sie gar keine Schuhe anziehen?“

„Schuhe sind unnötiger Tand.“ Die brauchte man nur im Winter.

„Aber nein Liebes, sie können ein sehr modisches Accessoire sein.“ Sie schloss die Tür zu meinen Räumen und führte mich dann zum Aufzug. Da ich mich an das unangenehme Gefühl von gestern nur zu gut erinnerte, blieb ich ein paar Schritte entfernt stehen.

„Gibt es keinen anderen Weg nach unten?“ Ich wollte da wirklich nicht noch mal rein.

„Wir sind hier in der siebenten Etage.“

„Das heißt nein?“

„Naja.“ Sie schaute zu der Treppe, die den gläsernen Schacht wie eine Schlange umschlang. „Wir können auch die Treppen nehmen.“

„Treppen hört sich gut an.“

Carrie warf einen sehnsüchtigen Blick auf die geschlossenen Türen des Fahrstuhls, seufzte dann ergeben und wandte sich der Treppe zu.

Sieben Etagen waren nicht viel, besonders nicht, wenn es nach unten ging, doch meine Begleiterin schien nicht oft, oder sogar freiwillig Treppen zu steigen. Sie bewegte sich langsam und ich hielt sich die ganze Zeit am Handlauf fest. Das konnte nur an ihren seltsamen, hochhackigen Schuhen liegen. Modisches Accessoire? Von wegen. So wie sie sich bewegte, hatte ich recht, das war nichts weiter als unnötiger Tand, der einem das Leben schwer machte.

Sobald wir die Eingangshalle erreichten, staunte ich nicht schlecht, als ich sah, was sich dort vor dem Tresen tummelte. Zwei Frauen mit fünf Kindern – fünf! Keines von den Kleinen schien älter als drei oder vier Jahre zu sein. Dieser Anblick war mir unbegreiflich.

Carrie grüßte die beiden Frauen mit Namen und deutete mir dann Richtung Tür vorzugehen. Da ich sie ja nicht enttäuschen wollte, folgte ich ihren Anweisungen, setzte mich in Bewegung und ließ mich von ihr hinausbegleiten. Ein Wagen vom Fahrdienst erwartete uns bereits. Das wusste ich, weil Carrie in direkt ansteuerte.

Sie hatte es eilig, aber ich ließ mich nicht drängen. Ich folgte ihr nur langsam und verdeutlichte damit meinen stummen Protest gegen sie und alles, was mit Eden zu tun hatte. Dabei bemerkte ich zwei Gardisten, die in der Nähe der Freitreppe standen und sich miteinander unterhielten. Eine von ihnen war eine Frau. Das ließ sich sehr leicht erkennen, da beide ihre Helme abgenommen hatten und nun unter ihren Armen trugen.

Ein weiterer Gardist stand beim Wagen und schien offensichtlich auf uns zu warten.

„Kommen sie, Liebes, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“

Blieb nur zu hoffen, dass dieser Tag nicht genauso ablaufen würde wie der gestrige.

Während der Fahrt, erzählte Carrie mir ein wenig über die Geschichte von Eden. Früher war das Herz genauso wie der Rest der Stadt gewesen. Wohnhäuser, Amtsgebäude, Einkaufsläden. Doch mit der Entstehung des Projekts Eden, hatte man sich dazu entschlossen, diesen Teil der Stadt komplett umzugestalten, um eine Oase für die wichtigsten Menschen dieser Welt zu erschaffen.

„Natürlich hat die Fertigstellung viele Jahre gedauert, doch das Ergebnis kann sich sehen lassen, meinen sie nicht auch?“

Um ehrlich zu sein, hatte ich keine Meinung dazu, aber da sie offensichtlich auf eine Erwiderung wartete, brummte ich leise.

„Die Adams wohnen nicht im Turm. Man kam zu dem Schluss, dass die Evas einen Rückzugsort vor ihrer männlichen Antithese brauchen.“

Anti-was?

„Gleichzeitig hatten die Männer sich aber auch dafür ausgesprochen, nicht wie die Hühner in einem Stall zusammengepfercht zu werden, daher wurden überall im inneren Ring diese Häuser für sie errichtet. Natürlich können auch Evas diese Häuser beziehen, wenn sie das wünschen. Wie sie sehen, berücksichtigen wir die Wünsche unserer Bewohner.“

„Außer den Wunsch nach Freiheit“, gab ich bitter zu bedenken.

„Es gibt viele Arten von Freiheit. Auch hier können sie sie finden, sie müssen sich nur darauf einlassen.“

Das bezweifelte ich doch stark. Es gab nur eine wahre Freiheit und die lag außerhalb dieser Mauern. In der letzten Nacht hatte ich das besonders stark gespürt. Ich war kein sehr gefühlsbetonter Mensch und Tränen vergoss ich nur selten, aber gestern hatte ich es nicht mehr geschafft, mich zusammen zu reißen und im Schutz der Dunkelheit bitterlich geweint.

Wenn ich nur daran dachte, zog sich meine Brust schon wieder schmerzlich zusammen, doch ich machte mit diesem Gefühlsklumpen das gleiche wie mit meiner Wut, ich schluckte sie einfach hinunter. Niemand hier würde meine Schwäche sehen.

Unser Ziel war wieder das City-Hospiz und sobald wir den Wagen verließen, scheuchte Carrie mich eilig in das Gebäude. Sie erklärte mir, dass wir im Nordflügel in den dritten Stock fahren mussten, doch das mit dem Fahren erledigte sich von selbst, sobald mir aufging, dass damit eine weitere Fahrt in einem dieser Aufzüge gemeint war. Zu Carries Leidwesen bestand ich darauf, die Treppe zu nehmen und stellte mit Genugtuung fest, dass ihre Schuhe ihr den Aufstieg nicht ganz einfach machten.

Durch das Treppenhaus ging es in einem belebten Korridor. Auf unserem Weg zum Warteraum zählte ich siebzehn Menschen und musste wieder staunen, wie viele es von ihnen hier gab. Die meisten von ihnen schienen hier zu arbeiten. Eine jedoch war schwanger und eine andere trug ein neugeborenes Baby in den Armen. Es war mir noch immer unverständlich, wie das möglich war.

Der Warteraum in dem wir Platz nahmen, war bis auf uns leer. Carrie setzte sich in einen der bequemen Sessel und beschäftigte sich mit ihrem Screen. Der Gardist bezog an der Tür Posten. Ich verlegte mich darauf am Fenster zu stehen und hinaus zu schauen. Eines musste ich leider zugeben, die Begrünung war wirklich wunderschön. Leider fehlte der gezähmten Natur das wilde Herz, das ich so liebte.

Es dauerte nicht lange, bis die Tür zur Praxis geöffnet wurde. Eine ältere Frau schob eine deutliche Kugel vor sich her. Auch sie war schwanger. „Bis nächste Woche“, sagte sie zu der Person in Raum, nickte mir und Carrie dann lächelnd zu und verschwand aus dem Wartebereich.

Obwohl ich nicht besonders scharf auf das war, was nun unweigerlich kommen wurde, drehte ich mich vom Fenster weg und beobachtete, wie ein großgewachsener blonder Mann mit babyblauen Augen, in den Türrahmen trat und bei meinem Anblick zu lächeln begann.

Ich runzelte die Stirn. Was machte Kit hier?

„Guten Morgen, schön dass sie es geschafft haben. Carrie.“ Er nickte meiner Begleiterin zu.

Nein, das war nicht Kit, die Stimme war falsch. Außerdem war das Haar ein wenig kürzer und Kit hatte auch niemals einen weißen Kittel getragen. Das war wieder der Klon.

Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. „Wenn sie dann soweit sind, können sie hereinkommen.“

Ich zögerte.

„Nun gehen sie schon, Liebes. Killian ist nicht nur ein sehr guter Arzt, er ist auch einer der nettesten Männer, die ich in meinem Leben kennenlernen durfte.“

Glaubte sie wirklich, ich würde auf ihr Wort vertrauen? Sie musste mich wirklich für sehr dumm halten.

„Ich werde so lange hier draußen auf dich warten.“

Auch das machte diese Situation für mich nicht angenehmer. Wenn ich nur an die letzten Untersuchungen dachte, graute es mich bereits vor dem, was mich in dem Raum erwartete. Um mich in Bewegung zu setzten, musste ich mir einen Ruck geben und mich daran erinnern, warum ich das hier tat. Vertrauten, Vertrauen, Vertrauen. Wie ein Mantra wiederholte ich dieses Wort immer wieder, als ich in den Behandlungsraum trat.

„Nur keine Scheu.“ Der Klon schloss die Tür und wies dann zu dem Platz vor seinem Schreibtisch. „Setzten sie sich doch, dann können wir uns ein wenig unterhalten.“

Unterhalten? Mehr wollte er nicht? Bei dieser Einrichtung konnte ich mir das nicht wirklich vorstellen. Es sah ähnlich aus wie bei Dr. Pirozzi, gleichzeitig aber moderner. Es gab auch weitaus mehr Geräte, als im Aufnahmeinstitut. Nein, an diesem Ort würde ich mich ganz sicher nicht wohlfühlen.

Der Arzt trat mit einem Lächeln an mir vorbei und ließ sich auf dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch nieder. Dabei musterte er mein Gesicht sehr gründlich. „Die Platzwunde sieht besser aus. Haben Sie noch Kopfschmerzen?“

Automatisch griff ich mir an die Schläfe und fuhr mit dem Finger über die Verletzung. Drumherum hatte sich die Haut zu einem eindrucksvollen Bluterguss verfärbt. „Mir geht es gut.“

„Das freut mich zu hören.“ Er verschränkte die Hände vor sich auf dem Schreibtisch. „Wir sind uns zwar schon begegnet, aber ich möchte mich noch einmal ganz förmlich bei ihnen vorstellen. Mein Name ist Dr. Killian Vark und ich werde ab heute der für sie zuständige Arzt sein.“ Er machte eine kurze Pause. „Möchten sie, dass ich sie Sieze, oder kann ich ihnen auch das Du anbieten?“

Als wenn es hier irgendjemand interessierte, was ich wollte. Ich verkniff mir den Kommentar und setzte mich einfach schweigend auf den freien Stuhl, vor dem Schreibtisch.

Er wartete einen Augenblick. „Wir können auch bei dem Sie bleiben, wenn ihnen das lieber ist.“

Was, er erwartete wirklich eine Antwort von mir? Mir drängte sich die Frage auf, was er damit bezweckte. „Es ist mir egal“, erklärte ich ausweichend und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich fühlte mich hier absolut unwohl.

Der Klon schien das zu bemerken. „Dann nehmen wir das Du, das ist persönlicher. Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?“

Wieder wartete er solange, bis ich mit einem Kopfschütteln verneinte.

„Nun gut.“ Er verschränkte die Hände vor sich auf der Tischplatte. „Deine Unterlagen wurden mir bereits heute Morgen zugespielt, um mich mit deinem Fall vertraut zu machen. Es ist ein großes Glück für uns, dich gefunden zu haben.“

Ich warf ihm einen finsteren Blick zu.

„Wahrscheinlich ist das hier nicht ganz einfach für dich. Ich kann mir nicht vorstellen, wie du dich fühlen musst, aber ich kann deine Abneigung gegen uns nachvollziehen. Es muss schwer sein, aus allem herausgerissen zu werden, was einem vertraut und lieb ist.“

Was sollte das werden? Glaubte er mit dem Gelaber Sympathiepunkte zu gewinnen? Da biss er bei mir aber auf einen Granitfelsen.

Killian wartete einen Moment, ob ich etwas dazu zu sagen hatte. Als dem nicht so war, fuhr er fort. „Unter diesen Umständen, ist es nicht ganz einfach, eine Vertrauensbasis zwischen uns beiden zu finden, aber genau das ist sehr wichtig. Nicht nur für mich, auch für dich – besonders für dich. Deswegen halte ich für den Anfang ein Gespräch für unsere beste Option. Wir können einander ein wenig kennenlernen.“

Ich schnaubte abfällig. „Wozu?“

„Es könnte dir helfen zu verstehen, dass ich weder dein Feind bin, noch ein böser Mensch.“

Aber sicher doch.

Er wartete auf eine Reaktion, die jedoch ausblieb und setzte dann erneut an. „Hat man dir in der Zwischenzeit erklärt, warum du hier bist?“

„Ich soll ein Haufen Babys produzieren, die mir dann auch noch direkt nach der Geburt weggenommen werden.“

„Das ist nur zum Teil richtig. Niemand wird dir deine Babys wegnehmen. Alle Evas haben Zugang zu ihren Kindern und nehmen an ihrem Leben Teil. Da die Erziehung jedoch sehr anstrengend sein kann – besonders bei so einer Vielzahl an Nachwuchs – wird man dir Unterstützung zur Seite stellen, um dir die Arbeit abzunehmen. Aber niemand wird dich von deinem Babys trennen, wenn du das nicht möchtest.“

Das hatte sich bei Anett aber noch ganz anders angehört.

„Vielleicht sollten wir anders beginnen. Weißt du warum wir das tun?“

„Ihr glaubt damit die Menschheit erhalten zu können.“

„Ja, wir bekämpfen damit die Ausrottung durch das Mortiferus-Virus. Das ist doch ein Nobler Gedanke, oder?“

Da war es wieder, das gleiche hatte auch schon Anett gesagt. „Was für ein Virus?“

Erstaunt hob er eine Augenbraue. „Du weißt nichts von dem Mortiferus-Virus?“

„Hätte ich sonst gefragt?“

Er musterte mich. „Warum glaubst du, stirbt die Menschheit aus?“

Das wusste ja wohl jedes Kind. „Weil die Menschen die Natur zu sehr ausgebeutet haben. In der Zwischenzeit sieht Gaia uns als Parasiten an und das ist ihre Art, sich von uns zu befreien.“

Killians Mundwinkel zuckte. „Ich habe zwar schon eine Vielzahl von Theorien der Streuner gehört, aber die ist mir neu. Und was du da sagst, ist außerdem falsch. Das Aussterben unserer Rasse hat nichts mit der Natur zu tun, es ist das Ergebnis menschlicher Arroganz. Wir haben uns der Welt so überlegen gefühlt und sie so sehr manipuliert, dass es nun auf uns zurückfällt.“

In meinem Gesicht standen drei große Fragezeichen.

„Pass auf. Im Mai des Jahres 2037, wurde in einem Forschungslabor an der Küste von Shanghai ein Virus entwickelt, das die Überpopulation von Wild eindämmen sollte. Dieses Virus befand sich noch im Entwicklungsstadion, als es einen Anschlag auf das Labor gegeben hat, der das Virus freisetzte. Daraufhin befiel es jede Art von Säugetieren – auch den Menschen – und führte zu Missbildungen der inneren Fortpflanzungsorgane.“

Was?

„Ich versuche es dir mal vereinfacht zu erklären. Der Mortiferus-Virus befällt Zellen, indem er sein Genmaterial in den Kern der Wirtszelle einfügt. Seine bevorzugten Wirtszellen sind Stammzellen. Bei einer Meiose sorgt dies dafür, dass neue Geschlechtszellen – also Eizellen und Samenzellen – mit zu hohen Chromosomensätzen entstehen. Wenn eine solche Geschlechtszelle eine andere befruchtet, oder von einer anderen Geschlechtszelle befruchtet wird, kommt es zu Missbildungen der Geschlechtsorgane, sowohl primär, als auch sekundär, was dazu führt, dass unfruchtbare Kinder geboren werden. Da der Virus in der Regel jedoch nicht jede Zelle im Wirtskörper befällt, gibt es geringfügige Ausnahmen, in den auch gesunde Babys von infizierten Personen geboren werden. Leider verfügen sie über keine Immunität und auch wenn sie selber nicht befallen sind, so tragen sie das Mortiferus-Virus in sich und geben es so mit sehr begrenzten Ausnahmen an die nächste Generation weiter, die zu neunundneunzig Prozent auch wieder unfruchtbar sein wird.“

Ich sagte das nicht gerne, aber: Hä?!

„Bei fruchtbaren Menschen setzt sich der Mortiferus-Virus normalerweise nur an gesunden Zellen fest, zum Beispiel Blutzellen, bleibt jedoch inaktiv. Außer im eben genannten Fall, wenn er sich an eine Stamm- beziehungsweise, Geschlechtszelle gesetzt hat. Somit wird er durch das Blut der Mutter an den Embryo übertragen, wo er sich wie ein normaler Virus verhält und sich dort seiner Natur entsprechend ganz normal vermehrt.“

Nein, diese zusätzliche Erklärung half mir auch nicht dabei, die Erleuchtung zu erringen.

„Du hast kein Wort von dem verstanden, was ich gesagt habe, oder?“

„Doch. Das Virus ist böse und rottet uns aus.“

Killian verzog das Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. „Ein Virus ist nicht böse, es folgt nur seiner Natur.“ Einen Moment senkte er nachdenklich das Gesicht. „Das Virus sorgt für Missbildungen der inneren Fortpflanzungsorgane von Säugetieren, weswegen eine Schwangerschaft oder Trächtigkeit bei neunundneunzig Prozent ausgeschlossen ist. Es gibt jedoch einige wenige Frauen und Männer, die von dem Mortiferus-Virus verschont geblieben sind. Durch die Erbanlagen der Eltern tragen sie es zwar trotzdem in sich und vererben es selber auch weiter, werden davon aber nicht selber befallen. Diese Menschen können Kinder bekommen, von denen die Meisten zwar unfruchtbar sind, jedoch auch sie Ausnahmen zur Welt bringen.“

„Ausnahmen wie mich.“

Er nickte und schien erfreut, dass ich ihn nun endlich verstanden hatte. „Deswegen bist du so etwas Besonderes.“

Ich schnaubte. „Meine Theorie klingt einleuchtender.“

Killian gluckste leise. „Am besten lassen wir das einfach. Es gibt sowieso wichtigere Dinge, über die wir uns unterhalten sollten.“

Erst als er das sagte, bemerkte ich, wie sehr ich mich bei dem kurzen Gespräch entspannt hatte, denn nun verkrampfte sich wieder alles in mir. Ich wollte nicht über wichtigere Dinge sprechen, das konnte nur zu meinem Nachteil sein. Und erst recht wollte ich mich nicht entspannen.

„Ich denke, wir sollten mit ein paar einfachen Fragen beginnen. Dr. Pirozzi hat dir zwar schon einige gestellt, aber ich würde mir gerne selber ein eigenes Bild von dir machen. In Ordnung?“

„Warum fragst du? Ich habe ja sowieso keine Wahl.“

„Da ich um deine Situation weiß, hast du bei mir einen gewissen Spielraum. Es war mein Ernst gewesen, als ich sagte, dass wir zwischen uns eine Vertrauensbasis schaffen müssen und die werde ich nicht gefährden, indem ich dich zu etwas dränge, zu dem du noch nicht bereit bist.“

Ich schnaubte. „Aber sicher doch.“

„Versuchen wir es doch einfach mal.“ Er begann auf seiner Tischplatte zu tippen. Auch er arbeitete mit einem Digital-Desk. Einen Moment war er darauf konzentriert, dann runzelte er die Stirn. „Das ist ja seltsam.“

„Was?“

„Ein Teil deiner Daten ist unter Verschluss.“

Ja, super, jetzt hatte ich natürlich den vollen Durchblick. „Was bedeutet das?“

„Das nur ausgewählte Personen berechtigt sind, diese abzurufen. Das ist nicht so außergewöhnlich, aber als dein Arzt müsste ich Zugang zu diesen Daten haben.“

„Was für Daten?“

„Deine DNA-Analyse.“ Er schüttelte ganz leicht den Kopf, während seine Finger weiter auf der Oberfläche herumtippten. „Das muss ein Fehler sein. Egal, um zu arbeiten, brachen wir diese Daten nicht.“

Wie schade.

„Fangen wir erstmal mit einer einfachen Frage an.  Weißt du etwas über Erbkrankheiten in deiner Familie? Morbus Wilson? Engelmann-Syndrom? Oder auch MPS?“

Also langsam bekam ich das Gefühl, diese Menschen hier sprachen eine ganze andere Sprache als ich. Anders konnte ich mir die vielen Fremdworte nicht erklären. „Ich kenne keinen dieser Begriffe.“

„Ist deine Familie besonders anfällig für irgendwelche Krankheiten? Demenz zum Beispiel, oder auch Diabetes?“

„Das weiß ich nicht. Bis auf meine Schwester ist meine ganze Familie tot.“

Killian nickte verstehend und tippte etwas auf seinem Bildschirm ein. „Leider ist dieses Unwissen bei Streunern sehr weit verbreitet. Daher werden wir dich auf alles testen müssen, was bedeutete, dass ich dir nachher ein bisschen Blut abnehmen muss.“

„Das hat Dr. Pirozzi schon getan – mehrmals.“

„Das war nur für den kleinen Test. Ich brauche noch ein großes Blutbild und teste auch auf andere Dinge als sie. Sollte es Auffälligkeiten geben, werde wir uns gegebenenfalls auch noch mit deinem Gewebe beschäftigen müssen.“ Er schaute wieder von seinem Bildschirm auf. „Aber das machen wir später. Jetzt würde ich gerne noch ein paar andere Dinge von dir in Erfahrung bringen. Warst du in deinem Leben schon einmal ernstlich erkrankt gewesen?“

„Nichts das sich nicht mit einer Mütze voll Schlaf hat heilen lassen.“ Naja, abgesehen von der Entzündung an meinem Bein.

„Die guten alten Hausmittelchen helfen manchmal einfach am besten.“ Killians Mundwinkel zuckte. „Weiter im Text: Hattest du schon einmal Geschlechtsverkehr?“

„Du meinst Sex.“

Er nickte.

Bei dieser Frage würde ich unruhig. „Wozu willst du das wissen?“

„Ich brauche diese Informationen, damit ich weiß, womit ich arbeiten muss. Bis du noch völlig unerfahren, oder hast du bereits erste Erfahrungen sammeln können. Du bist noch sehr jung, ich kann also nicht ausschließen, dass Männer dir in dieser Beziehung noch fremd sind. Den Unterlagen deiner Untersuchung kann ich nur entnehmen, dass du medizinisch gesehen, keine Jungfrau mehr bist, aber dafür kann es eine Vielzahl von Gründen geben.“ Er wartete einen Moment und fügte dann hinzu. „Es ist wichtig für mich das zu wissen.“

Verdammt. Ich wollte ihm das nicht sagen, es ging ihn nichts an. Andererseits was konnte er mit dieser Information schon groß anfangen? Ich konzentrierte mich auf das aufgedruckte Emblem auf seinem Kittel, um ihm nicht in die Augen schauen zu müssen. „Ja, ich hatte schon Sex.“

„Freiwillig?“

Diese Frage brachte mich ins Stocken.

„In der Alten Welt geht es nicht immer gesittet zu, das ist mir wohl bewusst. Ich kenne einige Frauen, bei denen es zu ungewollten Übergriffen kam und …“

„Kein Mann würde es wagen mich gegen meinen Willen anzufassen, Marshall würde ihn jagen, ausweiden und dann zusehen, wie er zu seinen Füßen verrottet!“, fauchte ich ihn an. Dass er es auch nur wagte sowas zu denken. Als wenn …

Ich stockte.

Oh nein, ich war doch gerade nicht wirklich so dumm gewesen, Marshalls Namen zu nennen, oder? Das konnte einfach nicht sein.

„Das sollte kein Angriff sein, ich versuche mir nur ein Bild von dir zu machen.“ Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und legte das Kinn in die Hände. „Deinen Worten entnehme ich, dass du fest liiert bist?“

Was sollte ich darauf jetzt antworten? „War das jetzt eine Frage?“

Er nickte.

Ich biss mir auf die Unterlippe und wandte den Blick ab. Dieses Gespräch war mir unangenehm, aber ich musste mich kooperativ zeigen. Und das kotzte mich ehrlich gesagt ziemlich an. Und warum bei Gaias Zorn, ging er nicht darauf ein, was ich ihm gerade verraten hatte? Glaubte er mich so noch weiter aushorchen zu können? Verdammt. „Ich war zwanzig, als … bei meinem ersten Mal. Wir waren nie ein Paar, aber wir haben einander oft genossen.“ Aber ich würde ihm nicht verraten, dass hier von zwei verschiedenen Männern die Rede war.

„Du hast ihn sehr gerne.“

Dafür bekam er einen giftigen Blick, der ihn aus irgendeinem Grund lächeln ließ.

„Du hattest also regelmäßig Geschlechtsverkehr?“

Ich nickte unwillig.

„Wann das letzte Mal?“

Diese Frage ließ mich schlucken. Das war bei Taavins letztem Besuch gewesen. Danach hatte ich überlegt, die Sache zwischen uns zu beenden, weil es langsam zu kompliziert wurde. War das wirklich erst zehn Tage her? Es kam mir vor, als wären seitdem Jahre vergangen. Wie gerne würde ich wieder an diesen Punkt zurückkehren, als mein größtes Problem Taavins Anhänglichkeit und Nikitas Leichtsinn gewesen waren.

„Kismet?“

Ich schlang meine Arme fester um mich. „Ein paar Tage.“

Killian löste die Hände unter seinem Kinn und begann wieder zu tippen. „Macht dir der Koitus manchmal zu schaffen?“

„Was?“

„Hast du manchmal Schmerzen beim Geschlechtsverkehr?“

Ach so. „Nur einmal und das war …“ Wäre ich so hellhäutig wie er, würde ich nun feuerrot anlaufen. So spürte ich einfach nur, wie meine Wangen heiß wurden.

Der Herr Doktor hörte mit dem Tippen auf und musterte mich. „Das war was?“

Das war so demütigend. „Das möchte ich nicht sagen.“

„Das ist in Ordnung, aber du solltest wissen, dass du mit mir über alles reden kannst. Ich werde dich nicht verurteilen.“

Glaubte er wirklich, dass ich ihm nun erzählen würde, wie Taavin einmal zu stürmisch gewesen war und sein Ziel verfehlt hatte? Der Kerl lebte in einer Märchenwelt.

Er seufzte, als würde es ihn belasten, dass ich nicht absolut offen zu ihm war. „War dieser Marshall dein einziger Geschlechtspartner?“

Ein Nicken reichte hier als Antwort, die Wahrheit ging ihn nämlich nichts an. Marshall und ich, das war lächerlich.

„Hast du mit ihm ein Kind?“

Ob ich … ich lachte auf. „Bis gestern war mir nicht einmal klar, dass ich fähig bin, Kinder zu bekommen.“

„Also nicht.“ Wieder begann er zu tippen.

Was nur schrieben diese Leute ständig auf ihren Maschinen?

„Kannst du mit dem Begriff Frauenzyklus etwas anfangen?“

„Ja.“

„Das ist gut.“ Er lächelte mich kurz an. „Dann kannst du mir auch sicher sagen, wie regelmäßig dein Zyklus ist.“

Würden diese Erniedrigungen irgendwann ein Ende finden? „Regelmäßig.“

„Monatlich?“

„Ja.“

Er nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. „Wann hattest du deine letzte Periode?“

„Ist schon ein paar Tage her.“

„Du weißt es also nicht genau?“

„Nein.“

„Nun gut, dann werden wir deinen nächsten Eisprung auf andere Weise klären müssen.“ Wieder verschränkte er die Hände auf den Tisch und lächelte mich an. „Na siehst du, für den Anfang war das doch gar nicht so schlimm gewesen.“

Das vielleicht nicht, aber entwürdigend. „Heißt das die Fragestunde ist jetzt beendet?“

„Vorläufig.“

Dem Himmel sei Dank. „Dann kann ich jetzt gehen?“

„Nun mal nicht so schnell.“ Sein perlweißes Lächeln blitzte auf. „Jetzt kommen wir zu der eigentlichen Untersuchung. Ultraschall, Vaginaluntersuchung und …“

„Aber das habe ich doch schon machen müssen!“

Ein Lächeln verrutschte ein wenig. „Ich weiß, dass es ungewohnt und unangenehm für dich sein muss, doch regelmäßige Untersuchungen sind ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit.“

Unserer Arbeit. Das triefte doch nur so vor Hohn.

„Daher möchte ich dich bitten, dich untenrum frei zu machen.“

„Nein.“ Das Wort war raus, bevor ich näher darüber nachdenken konnte. Aber ich wollte das nicht, nicht schon wieder.

„Kismet, es wäre wirklich …“

„Bitte“, unterbrach ich ihn und hasste mich selber dafür, dass ich so weinerlich klang. „Ich will das nicht.“

„Solange du mich als deinen Feind ansiehst, wird es dir nicht leichtfallen, dich mir zu öffnen.“ Killian musterte mich einen Augenblick und seufzte dann ergeben. „Nun gut. Für diese Art der Behandlung ist Vertrauen zwischen Arzt und Patient sehr wichtig. Ich werde niemand zu etwas zwingen, dass er nicht möchte. Aber nicht jeder Tokologe hier denkt so wie ich, daher sei gewarnt: Wenn die Despotin die Geduld mit dir verliert, dann wird sie befehlen, die notwendige Behandlung an dir durchzuführen – notfalls auch gegen deinen Willen. Darum solltest du dir schnell im Klaren darüber werden, wie dein Leben hier verlaufen soll.“

„Ich will hier nicht leben. Ich will nach Hause.“

Mitleid trat in seine Augen. „Es tut mir leid, dass du so empfindest, aber das hier ist nun dein Zuhause und es führt kein Weg an deiner Zukunft vorbei.“

Zumindest nicht, solange ich keinen Ausweg gefunden hatte. Aber das würde ich noch, darauf konnte er Gift nehmen. „Sind wir dann fertig?“

„Noch nicht ganz. Ich werde die gynäkologische Untersuchung für heute ausfallen lassen, weil du mir sehr deutlich zeigst, wie unwohl du dich dabei fühlen würdest, aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Wir werden einen Neuen Termin ausmachen, damit wir das dann vielleicht nachholen können.“

Ein neuer Termin, wie unerwartet. „Vielleicht?“

„Naja, ich kann nur hoffen, dass du dich bei unserem nächsten Treffen dazu bereit fühlst.“

Wohl kaum, aber das behielt ich lieber für mich. „Dann sind wir jetzt also doch fertig?“

„Du kannst es wohl kaum erwarten mich zu verlassen.“

Wollte er darauf wirklich eine Antwort?

Er seufzte leise. „Ich fürchte, wir haben noch ein paar Kleinigkeiten zu besprechen.“

Noch mehr reden? Diese Quallen würden wohl niemals ein Ende finden. „Was jetzt noch?“

Er lächelte wieder. „Was Eden für dich geplant hat, ist dir ja nun schon bekannt, doch ich gehe nicht davon aus, dass man dir in der Zwischenzeit deine Möglichkeiten aufgezeigt hat, oder?“

„Möglichkeiten?“ Hieß das, ich konnte mich dem Ganzen doch noch entziehen? Ich richtete mich ein wenig gerade auf.

„Ja, Möglichkeiten. Hast du bereits Zeit gefunden, dich mit dem Verzeichnis der Adams vertraut zu machen?“

Was hatte das mit meinen Möglichkeiten zu tun? „Nein.“ Aber so wie alle darauf drängten, wurde ich langsam neugierig darauf – eine ungesunde Neugierde.

„Hm, in Ordnung. Hat man dich bereits über das System aufgeklärt?“

„Nein.“

„Okay, pass auf. Über dein Konto, kannst du auf das Verzeichnis der Adams zugreifen. Dort sind alle fruchtbaren Männer vertreten, die zu einer Fortpflanzung mit dir zugelassen sind. Da du nicht aus Eden stammst und damit kein Blutverhältnis zu den ansässigen Adams hast, kannst du wahrscheinlich aus dem ganzen Pool wählen.“

„Das sind meine Möglichkeiten?“ Aus vielen Kerlen einen auszuwählen?

„Nein, dazu komme ich gleich. Was ich dir jetzt sage, hat mit dem Edensystem zu tun. Die Wahl eines Partners kannst du anhand deiner Vorlieben auswählen. In seltenen Fällen werden dir geeignete Partner zugeteilt. Das ergibt sich aus der Kompatibilität eures gemeinsamen Erbguts. Erfolgreiche Kopulation können zu Wiederholungen des Koitus mit einem bestimmten Partner führen.“

„Erfolgreiche Kopulation wie in fruchtbares Baby?“

Er nickte. „Ganz genau. Wir sind immer auf der Suche nach dem besten Genmaterial. Aber ich schweife gerade zu sehr vom Thema ab. Das Edensystem gibt vor, dass du dir deinen Partner selber aussuchen kannst. Du kannst ihn aufsuchen, um den Geschlechtsverkehr zu vollziehen. Und hier kommen deinen Möglichkeiten. Nicht alle Frauen wünschen den normalen Koitus. Wir haben da zum Beispiel Mila. In der Zwischenzeit ist sie eine der älteren Evas, doch in ihren jungen Jahren hat sie sich verliebt. Nicht in einen Adam, sondern in den Besitzer der kleinen Bistros in der Einkaufsmeile. Danach konnte sie den Geschlechtsverkehr mit keinem Mann mehr vollziehen – naja, mit keinem außer Finn. Darum lässt sie sich seitdem nur noch durch In-vitro-Fertilisation befruchten. Das macht es für beide einfacher.“

„Das heißt, dieser Finn ist nicht fruchtbar?“

„Nein, er ist kein Adam. Unsere Adams und Evas haben bereits eine sehr wichtige Aufgabe, sie dürfen nicht auch noch arbeiten. Das könnte zu Stress führen und Stress ist Gift für unser Konzept.“

„Und dieses Invitroding? Was ist das?“

„Die In-vitro-Fertilisation ist eine künstliche Befruchtung. Das ist ein kleiner Eingriff, bei dem dir Eizellen entnommen werden, die wir künstlich in einer Petrischale befruchten. Die erfolgreich befruchteten Eizellen setzten wir dann in deine Gebärmutter ein, wo sie heranreifen können. Diese Methode wird im Edensystem sogar bevorzugt, da sie zusammen mit Hormontherapien eine weitaus höhere Geburtenrate erzielt.“

Höhere Geburtenrate. Mehrlingsgeburten. Darum rannten hier also so viele Klone herum.

„Außerdem bietet diese Methode noch einen weiteren Vorteil. In unseren Lagern befindet sich kryokonserviertes Sperma, oder auch Gefriersperma, von bereits verstorbenen Männern. Solltest du dich für diesen Weg entscheiden, kannst du den Vater aus einem weitaus größeren Pool aussuchen.“

Wenn ich das jetzt richtig verstanden hatte, bot er mir das Sperma von toten Männern an? Wie abartig war das denn bitte? „Das heißt, meine Möglichkeiten sind die Wahl zwischen der Befruchtung durch einen Mann und der einer Maschine?“

„Die In-vitro-Fertilisation wird nicht von einer Maschine durchgeführt, aber ja.“

Ich legte den Kopf in den Nacken und blinzelte hinauf zur Decke. Plötzlich war mir nach Heulen zumute. Das waren keine Möglichkeiten – nicht wirklich. Aber es passte deutlich zu dem, was ich hier bisher erlebt hatte. Alles musste unter Kontrolle gehalten werden, selbst die einfachsten Vorgänge des Lebens.

„Das war jetzt ziemlich viel auf einmal, hm? Ich kann mir wahrscheinlich gar nicht vorstellen wie das alles hier auf dich wirken muss und wie du dich jetzt fühlst.“

Ich schloss die Augen. „War es das jetzt?“

„Lass mich dir noch ein wenig Blut abnehmen, dann kannst du gehen.“

Das war zwar kein Sieg, aber wenigsten würde ich dann endlich von ihm wegkommen.

 

oOo

Kapitel 21

 

„Ich sage ja nur, dass es unhöflich ist, einfach so zu verschwinden. Ein kurzer Abschied tut nicht weh.“

Ohne Carrie auch nur eines Blickes zu würdigen, stieß ich die Tür auf und stieg aus dem Wagen, auf den belebten Gehsteig der Einkaufsmeile. Ich hatte wirklich keine Lust mehr ihren Tiraden zu lauschen. Wen interessierte es schon, ob ich mich bei Dr. Vark verabschiedet hatte, bevor ich aus seiner Praxis gestürmt war? Mich sicher nicht.

Mir schwirrte immer noch der Kopf, von allem, was ich bei ihm gehört hatte. Während es Blutabnehmers hatte er noch weitergeredet. Er hatte über Vorbehandlung, Befruchtung und Hormontherapie gesprochen und mich außerdem mehrmals dazu angehalten, regelmäßige Mahlzeiten zu mir zu nehmen. Dann hatte er mich auch noch ein Vitaminpräparat gespritzt. Flucht war die einzig logische Folge gewesen, sonst würde er mir vermutlich noch immer ein Ohr abkauen.

Auch Carrie und der Gardist verließen den Wagen, wobei die eine sich neben mich stellte und der andere ein wenig im Hintergrund blieb. Gemeinsam starrten wir das Gebäude vor uns an. Es war groß, wirklich groß. Nicht unbedingt hoch, aber sehr breit, wobei die runde Form das Auge dazu verleitete, es als massiger wahrzunehmen, als es eigentlich war.

Die Außenfassade bestand zu großen Teilen aus Glas und Beton und wirkte ein wenig unscheinbar. Der Eingang dagegen war mit Pflanzen dekoriert, die seltsam unecht wirkten.

Wir standen vor dem Eingang des Freizeitcenters, wo ich laut Carrie, nicht nur meinen Hauslehrer kennenlernen würde, sondern auch Unterricht erhielt. Hoffentlich war dieser Kerl ein wenig wortkarger als Dr. Killian Vark.

„Kommen sie, Liebes, wir wollen doch nicht zu spät kommen.“

„Schließ nicht von dir auf andere“, murmelte ich, folgte ihr aber durch die automatische Tür in das Freizeitcenter.

Ein fremdartiger Klangteppich empfing mich. Hohl und hallend schien er von der hohen Glaskuppel abzuprallen, sich zu verzerren und in alle Richtungen zu schallen. Die Geräusche von Wasser, Stimmen und Bewegungen, vermengten sich.

Wie nicht anders zu erwarten, war das Innere des Freizeitcenters groß. Ein gutes Dutzend ovaler Torbögen, reiten sich, in einem modernen Design, an der Außenwand aneinander. Jeder schien ein Zugang zu einem anderen Bereich des Centers zu sein.

Eine offene Galerie in der ersten Etage, führte einmal um den Innenraum herum und erlaubte den Blick auf normale Türen, in einem ähnlichen Stil wie die Torbögen. Naja, normal für Eden.

Das alles wirkte recht eindrucksvoll, doch das wahre Juwel dieser Einrichtung, war die grüne Oase in der Mitte. Ein asymmetrischer Koiteich – teilweise aus Glas, damit man die prächtigen Kois darin sehen konnte – bildete den Mittelpunkt. Drumherum wuchs eine farbenfrohe Begrünung, mit Pflanzen, die mir zum Großteil unbekannt waren. Blühende, exotische Blumen. Weit gespreizte Fahne und kleine Bäume mit riesigen Blättern. Es war wirklich atemberaubend.

Wie magisch, wurde ich davon angezogen, doch Carrie drängte mich an diesem Gebilde vorbei nach rechts. „Mit dem Bau des Freizeitcenters wurde im Jahr 2337 begonnen“, erklärte sie, während sie eiligen Schritts ihrem Ziel entgegenstrebte. „In den oberen Etagen befinden sich Geschäftsräume der Verwaltung, Konferenzräume und auch das Büro von Agnes Nazarova. Hier unten finden sie ein großes Freizeitangebot, wie zum Beispiel das Spa, den Club und natürlich die öffentliche Bibliothek. Und die ist nun unser Ziel.“

Wie sie das sagte, sollte ich vermutlich beeindruckt sein. Zu ihrem, oder auch meinem, Leidwesen, wusste ich nicht, was eine Bibliothek war. Das änderte sich jedoch, als wir durch einen der Torbögen traten.

Die hallenden Geräusche wichen einer bedrückenden Stille, die man nur wagte im Flüsterton zu durchbrechen. Dann traten wir in ein modernes Gewölbe aus weißem Stein, in dem sich unzählige, hohe Regale mit Glasfronten aneinanderreihten. Und sie alle waren gefüllt mit Büchern. Das mussten tausende von Büchern sein. Sowas hatte ich noch nie gesehen.

„Eindrucksvoll, nicht wahr?“

Erst als Carrie mich ansprach, wurde mir bewusst, dass ich stehen geblieben war. „Ich hatte keine Ahnung, dass es so viele Bücher gibt.“ Jede Menge Brennmaterial, das uns im Winter wärmen konnte.

Carrie lächelte nachsichtig. „Das sind nur die Reste, die die Archäologen aus der Alten Welt haben retten können.“ Sie setzte sich wieder in Bewegung und schien einfach davon auszugehen, dass ich ihr folgte. Da mein Anhängsel direkt hinter mir war, behielt sie damit auch recht. „Ein paar dieser Bücher waren bereits vor der Wende alt. Heute sind sie ein Teil unserer Geschichte.“ Carrie führte mich gezielt zwischen ein paar Regalen hindurch.

Ich hörte ihr nur mit einem halben Ohr zu. Ich würde es niemals offen zugeben, aber dieser Ort war wirklich beeindruckend.

„Da ein Großteil der Bücher digitalisiert wurde, hat die Bibliothek hauptsächlich einen historischen Wert. Nur sehr wenige Menschen finden sich heute noch hier ein. Warum sollte man auch in alten, staubigen Büchern lesen, wenn man alles fein säuberlich auf seinem Screen lesen kann? Außerdem werden die Bücher so vor weiteren Schäden bewahrt. So, gleich da vorne ist es.“

Da vorne entpuppte sich als ein schlichtes Büro mit vollgestopften Regalen und einem großen Digital-Desk in der Raummitte. Was jedoch fehlte, war der Hauslehrer.

„Hier wird dein Unterricht stattfinden“, erklärte Carrie, ging zu dem Schreibtisch und begann auf der Oberfläche zu tippen. Schwache Lichter glühten überall dort auf, wo sie ihn berührte. „Im Herzen gibt es keinen Schulen, aber es ist wichtig, dass sie die Gemeinschaft kennenlernen und das ist nicht möglich, wenn sie sich in ihrer Suite verkriechen. Hier sind sie ungestört, aber nicht von der Außenwelt abgeschnitten.“

Eigentlich hätte ich ihr widersprechen müssen, denn soweit ich das gesehen hatte, waren wir die einzigen Besucher der Bibliothek, aber das wäre vermutlich nur zu meinem Nachteil gewesen. Es hatte mir schon gereicht, gestern auf der Terrasse des Bistros NoName zu sitzen und von allen angestarrt zu werden. Nein, ein einsamer und abgeschiedener Ort war mir wirklich lieber.

„Dieser Desk ist zwar schon ein etwas älteres Model, aber für Lehrzwecken reicht er vollkommen aus. Das Model in ihrem Arbeitszimmer ist natürlich auf dem aktuellen Stand und wenn sie …“

Ein Klopfen an der offenen Tür, unterbrach uns.

Ich drehte mich herum und bemerkte einen jungen Mann, der sich dort unsicher herumdrückte und offensichtlich nicht wusste ob er einen Schritt vortreten oder doch lieber zurückweichen sollte.

Carrie richtete sich auf. „Cameron, da sind sie ja. Kommen sie herein.“ Sie winkte ihn auffordernd zu sich.

Dieser Cameron schien nicht unbedingt gewillt, in den Raum zu kommen. Er bewegte sich so vorsichtig und leise, als würde er befürchten, ein wildes Tier stürzt sich auf ihn, sollte er zu viel Lärm machen. Wahrscheinlich war ich in seinen Augen dieses wilde Tier.

Der Gedanke ließ auf meinen Lippen den Schatten eines Lächelns entstehen.

Zeig noch ein paar Zähne, dann rennt er vielleicht schreiend vor dir davon.

„Das ist Cameron Suorsa“, stellte Carrie ihn mir vor und begann wieder auf dem Desk zu tippen. „Er wird ab heute ihr Hauslehrer sein. Sag Hallo, Cameron.“

Ob er etwas sagte hörte ich nicht. Ich sah wie sich seine Lippen bewegten und er schüchtern eine Hand hob.

„Seien sie nett zu ihm.“ Carrie bedachte mich für einen Moment mit einem mahnenden Blick und widmete sich dann wieder Aufgabe – worin auch immer diese bestand. „Cameron ist Referendar an unserer Schule und hat sich bereit erklärt, ihnen sowohl die schriftliche Sprache, als auch den Umgang mit Skye beizubringen. Hören sie ihm gut zu, von ihm können sie viel lernen.“

„Ich habe kein Interesse daran, irgendwas zu lernen. Alles was ich wissen muss, weiß ich bereits.“

Carrie hielt inne. „Können sie ihren Namen schreiben?“

Das konnte ich nicht und das wusste sie sehr wohl. „Schreiben hilft mir auch nicht, wenn ich da draußen bin und versuche, das Abendessen zu beschaffen.“

„Dort draußen hilft es ihnen vielleicht nicht, aber hier drinnen schon.“ Sie berührte ein rotes Leuchten und richtete sich dann auf. „Vergessen sie nicht, Begünstigungen sind ein Privileg und kein Recht.“

Im Klartext: Tu was man dir sagt, oder lebe mit den Konsequenzen.

Ich funkelte den Kerl an der Tür an, als sei er schuld an meiner Situation. Dabei bemerkte ich erst wie jung er noch aussah. Sein Körperbau war eher schmächtig, das Gesicht länglich und an den Wangen erkannte man noch ein wenig Babyspeck. Das dunkle Haar stand ihm vom Kopf ab und schimmerte in blau und violett. Seine braunen Augen waren ein Stück weit zu groß für sein Gesicht und gaben einen Ausdruck von ständigem Erstaunen. Auf der Nase trug er eine dicke Brille.

Über seiner Schulter hing eine Tasche mit einem langen Schulterriemen, der das weiße Hemd an seinem Arm zerknitterte.

„Wie alt bist du?“, wollte ich von ihm wissen.

Aufgeschreckt riss er die Augen noch weiter auf. Erst da bemerkte ich, dass er auf die Platzwunde an meiner Schläfe gestarrt hatte. „Ähm … neun, ich meine, ich bin neunzehn.“

„Cameron, stottern sie hier nicht so herum“, befahl Carrie. „Sie sind hier der Lehrer und damit die höchste Autorität im Raum. Benehmen sie sich auch so.“

Ein nervöses Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. „Jawohl, Frau Capps.“

Dafür bekam nun er ein missbilligendes Schnalzen.

Ha, ich war also nicht die Einzige, bei der sie das tat.

Neunzehn. „Er ist junger als ich.“

„Und dennoch scheint er mir viel Intelligenter zu sein.

Heute hatte sie es aber wirklich auf mich abgesehen. „Nur weil jemand lesen und schreiben kann, zeugt das noch lange nicht von einer höheren Intelligenz.“

„Sparen sie sich ihre Seitenhiebe und machen sie sich lieber an die Arbeit. Heute wird noch einiges an Arbeit auf sie zukommen.“

Mein Mund öffnete sich für eine schlagfertige Erwiderung, doch bevor ich sie aussprechen konnte, schaltete sich mein Hirn wieder ein. Ich durfte nicht widerborstig sein, genauso wenig wie ich mein Ziel aus den Augen verlieren durfte. Darum blieb mir gar nichts anderes übrig als die Stacheln anzulegen. „Na dann, womit fangen wir an?“

Aufgeschreckt davon, dass ich ihn direkt ansprach, schaute er schnell zu Carrie, als bräuchte er jemand, der ihm das Händchen hielt. „Ähm … ich denke es ist am besten … wir sollten damit anfangen, ihnen die Bedienung ihres Screens und dem Digital-Desk beizubringen. Und natürlich die Handhabung mit Skye und ihrem privaten und öffentlichen Konto.“ Wieder ein kurzer Blick zu Carrie, als erhoffte er sich von ich Unterstützung, oder wenigstens Bestätigung. Doch die kramte nur in ihrer übergroßen Handtasche herum. „Dort sind die Lernprogramme drauf, mit denen sie … naja, lesen und schreiben lernen können“, endete er ein wenig lahm.

Oh je, langsam bekam ich das Gefühl, er hätte Angst vor mir. Oder einfach nur Panik davor, etwas falsch zu machen. Toller Lehrer.

„Den Screen habe ich hier“, verkündete Carrie. Sie zog eine flache, rechteckige Schachtel aus der Tasche und legte sie vor sich auf den Schreibtisch. „Das neuste Model, frisch aus der Fabrik. Ich bin richtig neidisch.“

Ich trat näher an den Tisch, um mir das Ding genauer anzusehen. Es war eine ungeöffnete, flache Pappschachtel, mit dem Bild eines in Szene gesetzten, eingeschalteten Screens darauf. Wenn ich selber so ein Ding besaß, würde ich vielleicht verstehen, warum die Menschen hier alle ständig auf diesem Ding herumtippten. Also nahm den Deckel ab und holte das kleine, flache Gerät heraus. Es sah ziemlich schlicht aus, unscheinbar, ganz anders als das von Carrie, das mit grünen Schmucksteinen auf der Rückseite verziert war.

„Am besten setzen sie sich mit Cameron an den Desk. Ich werde mich dort hinten in die Ecke verziehen und sie nicht stören.“

Und wahrscheinlich wollte sie für diesen Gefallen auch noch gelobt werden.

Na gut, dann wollten wir mal nicht den schwierigen Schüler spielen.

Während Carrie sich auf eine Bank an der Tür niederließ, zog ich mir einen Stuhl an den Tisch und machte es mir darauf bequem. Dann schaute ich erwartungsvoll zu Cameron.

Als würde er erst jetzt merken, dass das sein Stichwort gewesen war, trat er zögernd neben mich an den Schreibtisch. Dabei schenkte er mir ein unsicheres Lächeln. Er schnappte sich einen zweiten Stuhl und zog ihn über den Boden an den Schreibtisch. Dabei kratzte er mit den Stuhlbeinen so ungünstig über den Boden, dass es ein kreischendes Geräusch gab. Ich war nicht die Einzige im Raum, die dabei zusammenzuckte.

Camerons Ohren röteten sich leicht. Er hob den Stuhl, trug ihn neben mich und ließ ihn etwas zu laut auf den Boden knallen. Scheinbar war er ein wenig tollpatschig.

„Also ich mache das hier zum ersten Mal. Es … es gehört zu meiner Ausbildung“, erklärte er und verfehlte fast seinen Stuhl, als er sich daraufsetzen wollte. Die Rötung wurde noch eine Nuance tiefer. „Also … ich will nur sagen, seien sie mir nicht böse, wenn nicht gleich alles klappt.“

Wortlos schob ich ihm meinen Screen vor die Nase. „Dann zeig mal was du kannst, Herr Hauslehrer.“

„Okay … ähm.“ Er griff danach, überlegte es sich dann aber anders und schob ihn zurück zu mir. „Nein, wir machen es anders. Ich mache es ihnen an meinem Screen vor und sie machen es einfach nach, in Ordnung?“

Ein nichtssagendes Schulterzucken.

Cameron zog seine Tasche auf den Schoß und holte dort seinen eigenen Screen heraus. Er war blau mit einem abstrakten Muster darauf. Es sah aus, als würden sich da tausende von Fäden umeinander kringeln.

„Also passen sie auf.“ Er legte den Screen vor sich auf den Tisch, genau neben meinen. „Hier ist der Knopf zum Einschalten. Da drücken sie einfach drauf.“ Er machte es vor.

Der kleine Computer erwachte zum Leben und begrüßte ihn mit Skyes Stimme.

„Willkommen zurück, Meister, ich bin wie immer stets zu Diensten.“

Camerons Ohren wurden Puterrot. Sie begannen regelrecht zu glühen. Die Röte kroch sogar über seinen Hals. „Könnten wir bitte so tun, als hätten sie das nicht gehört?“

Und in diesem Moment kam es einfach über mich. Trotz der ganzen Scheiße in der ich steckte, trotzt der Schwierigkeiten, die mit jedem neuen Tag größer wurden und trotz dem Knoten in meiner Brust, der sich einfach nicht lockern wollte. Ich lachte auf. Es einfach so aus mir heraus.

Grinsend drückte ich bei meinem eigenen Gerät auf den Startknopf. Es dauerte ein wenig länger bis es hochgefahren war, doch auch ich wurde von Skye begrüßt.

„Willkommen. Wie kann ich behilflich sein?“

„Hm, deine Begrüßung hat mir besser gefallen.“

„Das lässt sich einstellen“, nuschelte er immer noch verlegen und beugt sich ein wenig zu mir rüber. „Ihr Bildschirm sieht anders aus als meiner. Das liegt unter anderem daran, dass sie ihren Screen gerade zum ersten Mal gestartet haben und er noch nicht personalisiert wurde. Das bedeutet, wir müssen bei ihrem erst noch ein paar Sachen einstellen, bevor sie damit arbeiten können.“

Und das tat er dann. Er erklärte jeden Schritt, den er vornahm und dass ich davon auch noch die Hälfte verstand, machte mich schon ein kleinen wenig stolz. Die Einstellungen die er vornahm, hatten mit Energiesparmodus, Standby, Sicherheit und Layout zu tun. Dann begann er damit die Lernprogramme zu installieren und mir ihre Funktionen vorzuführen.

Nach einer Stunde wusste ich was ein Touchscreen war, wie man das Gerät an- und ausschaltete, in den Standby-Modus wechselte und Programme startete, oder sie wahlweise beendete. Auch wie ich das Gerät neu starten konnte, sollte es einmal abstürzen. Er zeigte mir wie ich Zugriff auf das Datennetz von Eden nehmen konnte und auch wie ich über den kleinen Scanner am unten Rand auf meine eigenen Daten zugreifen konnte – dafür brauchte ich nur meinen Keychip.

Nach zwei Stunden hatte er mir die Grundprinzipien der Lernprogramme gezeigt und mir den Buchstaben A beigebracht – sowohl in groß als auch in klein. Nebenbei erklärte er mir noch kleine Funktionen, wie Skyes Stimme. Durch die Berührung eines Icons konnte ich sie aktivieren, oder eben auch deaktivieren. Ich konnte sie dazu benutzen, mir Texte vorlesen zu lassen, oder einfache Anfragen zu bearbeiten.

Je mehr Zeit verstrich, desto mehr fand er sich in seinem Element ein und ich musste zugeben, dass er gar kein so schlechter Lehrer war. Er war ausdauernd und erklärte mir auch alles fünfmal, wenn es sein musste, ohne dabei seine Geduld mit mir zu verlieren. Er erklärte mir das Alphabet und auch, dass Skye mir die Buchstaben ansagte, wenn ich darauf tippte.

Es gab dann noch mal einen kurzen kritischen Moment, als Carrie sich von ihrem Platz erhob und verkündete, sie würde kurz für alle etwas zu Essen besorgen, da sie hier im Moment eh nicht gebraucht wurde.

Als die Tür sich hinter ihr schloss, stieß er beinahe seinen Screen vom Tisch, nur um sich beim Auffangen das Knie zu stoßen und seine Brille zu verlieren. Die nächsten Minuten stotterte er herum und verhaspelte sich ein paar Mal. Aber nur solange bis er feststellte, dass es keinen Unterschied machte, ob Carrie anwesend war oder nicht.

In der dritten Stunde wollte er mir meinen Namen beibringen. „Ich werde ihn ihnen aufschreiben und abspeichern, dann können sie ihn auch üben, wenn ich nicht dabei bin.“

„Vorausgesetzt ich möchte ihn üben.“

„Ähm … ja … ich meine …“

„Warum hast du dir diesen Job ausgesucht?“, unterbrach ich ihn. „Du scheinst dich in deiner Haut nicht wirklich wohlzufühlen.“

Er schwieg einen Moment. „Naja, ich muss noch meine praktische Zeit voll bekommen. Mir wurde diese Stelle hier angeboten und ich dachte mir, es ist einfacher mit einem erwachsenen zu arbeiten, als mit kleinen Kindern.“

Ich hatte keine Ahnung, was er mit praktischer Zeit meinte, aber das war es auch gar nicht gewesen, was ich wissen wollte. „Nein, ich meine, warum willst du Lehrer werden?“

Er machte den Mund auf, schloss ihn aber genauso schnell wieder und runzelte die Stirn. Beim zweiten Versuch klappte es besser. „Ich habe mir das nicht ausgesucht. Ich habe wie jeder andere mit sechzehn einen Berufstest gemacht und der hat ergeben, dass ich mich mit meinen Fähigkeiten am besten als Lehrer eigne.“

Nun war es an mir die Stirn zu runzeln. „Das heißt, du willst das eigentlich gar nicht?“

„Ich mache das, was ich am besten kann.“

Das war nicht wirklich eine Antwort und doch sagte es mir genug um meine eigentliche Frage zu beantworten. Selbst Einheimischen wurde gesagt, was sie zu tun hatten. Aber im Gegensatz zu mir akzeptierten sie es einfach, ohne noch einmal nachzufragen. Warum nur? Wollte von diesen Menschen hier denn niemand eigene Entscheidungen treffen? Es konnte doch wirklich nicht so viel besser sein, sich sein ganzes Leben diktieren zu lassen.

„Und deswegen sollten wir jetzt auch besser weiter machen. Ich will ihnen nämlich noch den Umgang mit dem Digital-Desk erklären und Carrie müsste auch bald zurück sein.“

Das war sie in der Tat und sie brachte Unmengen an Essen mit. Es roch köstlich und für eine kurze Mittagspause, unterbrachen wir den Unterricht. Carrie und Cameron unterhielten sich, während ich nur wenig zu mir nahm. Es widerstrebte mir noch immer, die Gaben von Eden anzunehmen, doch mich selber auszuhungern, wäre kontraproduktiv. Ich musste essen, um gesund und fit zu bleiben. Und ich musste diese Farce vorerst mitmachen, wenn sich Besserung einstellen sollte. Nur aus diesem Grund, gab ich mich folgsam und war weiterhin die artige Schülerin, während der Zorn noch immer in mir brodelte. Nur die Aussicht darauf, heute Abend mit Nikita sprechen zu dürfen, veranlasste mich dazu ruhig zu bleiben.

Wir saßen noch mehrere Stunden in dem Büro, ohne das uns irgendjemand störte. Erst am Abend verkündete Cameron, dass es an der Zeit war, den Unterricht für heute zu beenden – aber wir würden uns schon bald wiedersehen.

Ich war einfach nur froh, endlich gehen zu können. Ich wollte mit Nikita sprechen, doch Carrie machte meinen Plänen einen Strich durch die Rechnung, kaum dass wir wieder unter der großen Glaskuppel des Freizeitcenters traten. „Mit ihrer Schwester können sie später noch sprechen, jetzt haben sie noch etwas anderes vor.“

Noch mehr Termine? „Ich habe keine Lust auf etwas anderes.“

Zwei Männer liefen an uns vorbei und beäugten mich neugierig. Sie waren nicht die einzigen Leute hier. Das Freizeitcenter war jetzt doppelt so voll, wie noch heute Mittag. Das gefiel mir nicht. Konnten die Leute nicht endlich aufhören, mich ständig anzustarren?

„Sie werden ihre Meinung schon ändern, wenn sie unser Ziel erst sehen.“ So beschwingt wie sie sich bewegte, schien sie wirklich zu glauben, was sie da sagte.

„Du hast es versprochen.“

„Und ich halte meine Versprechen, aber trotzdem werden sie nun zu einem kleinen Abstecher ins Paradise gehen.“

„Paradise?“

„Der Club Paradise“, spezifizierte sie. „Ein Ort, um gesehen zu werden und Geselligkeiten zu pflegen. Ich habe ihnen bereits gestern Abend davon erzählt. Die Evas und Adams treffen sich allabendlich dort, um gemeinschaftlich den Tag ausklingen zu lassen. Es ist gut für sie, wenn sie sich ihnen anschließen. Das stärkt die Bindung.“

„Ich will keine Bindung, ich will meine Schwester sehen.“

„Das werden sie, sobald dieser Abend zu meiner Zufriedenheit beendet wurde.“

Ich knirschte mit den Zähnen. Das hatte sie gehört.

„Es wird ihnen Spaß machen, das versichere ich ihnen.“ Sie drängte mich nach rechts, zu einem Torbogen ziemlich in der Mitte.

Nein, das würde es nicht, aber ich konnte im Augenblick nichts dagegen machen, denn sie saß am längeren Hebel. Wenn ich nicht tat was sie wollte, würde sie mir Nikita verweigern. Das war reine Erpressung und ich war völlig machtlos etwas dagegen zu unternehmen.

Innerlich bebte ich vor Wut, als ich ihr zu diesem Club folgte. Ein paar Frauen, kamen tratschend von der Seite und erreichten den Durchgang zur gleichen Zeit wie wir. Ihre neugierigen Blicke heizten meinen Zorn weiter an. Was gab es da nur ständig zu glotzen?

„Nun schauen sie nicht so finster“, mahnte Carrie und ließ die Frauen vorgehen. „Da bekommt man ja Angst, sie würden einem gleich ins Gesicht springen.“

Was durchaus eine gute Einschätzung der Lage war. Vielleicht würden die Leute dann das Interesse an mir verlieren. Oder mich töten. Wie ich es auch drehte und wendete, ich konnte vorläufig nicht gewinnen.

Am Ende des kurzen Durchgangs, befand sich wieder eine automatische Tür, die sich bei unserem Näherkommen einladend öffnete. Schon bevor ich die Räumlichkeiten dahinter betrat, drang leise Musik an meine Ohren, etwas Rhythmisches, das zum Tanzen einlud.

Carrie lächelte mich vielsagend an und betrat den Laden als erstes. Ich folgte ihr mit weitaus weniger Begeisterung und trat in das Paradise.

Das Erste was ins Auge fiel, war der künstliche Wasserfall in der Raummitte. Doch es war kein Wasserfall im eigentlichen Sinne. Dieser hier war kreisrund, vielleicht fünf Fuß Durchmesser und bestand aus einer glatten Wand, an der das Wasser herablief. Ein Regal aus Glas, in dem viele Flaschen aufgereiht waren, umschlang ihn. Durch Licht, Spiegel und optischer Täuschung, erweckte es den Eindruck, als würden die Flaschen im Wasser stehen, doch als eine Frau in Kellneruniform nach einer griff, wurde mir klar, dass die Flaschen davorstanden.

Um den Wasserfall herum, schlängelte sich eine asymmetrische Bar, die mit tropischen Pflanzen und Blumen dekoriert war. Auch die Barhocker davor, waren diesen Stil gehalten.

Im Raum verteilt gab es überall Tischgruppen und Sitznischen, die äußerst gut besucht waren. In der Ecke stand etwas, das mich an ein Auto ohne Karosserie erinnerte und wo gerade zwei Männer miteinander herumalberten. Weiter vorne gab es große Tische, auf denen die Leute Kugeln mit langen Stöcken herumschubsten. Und überall waren Menschen, alles war voll mit ihnen.

Die jüngsten schienen in meinem Alter zu sein und die ältesten mussten sich mit Gehilfen fortbewegen. Keine Kinder.

Dieser Ort führte es mir deutlich vor Augen, in Eden blühte das Leben.

In der Nähe der Bar gab es einen Tisch mit zwei Frauen und drei Männern, die meine Ankunft bemerkt hatten und mich aufmerksam musterten. Als sie dann anfingen miteinander zu tuscheln, waren ihre Blicke dabei auf mich gerichtet.

„Soll ich sie ihnen vorstellen?“, fragte Carrie.

Dafür gab es von mir nur ein ganz klares: „Nein.“

Sie seufzte mal wieder. „In Ordnung, sie machen das schon. Und wenn sie schon dabei sind, vielleicht finden sie hier ja noch eine Begleitung für die Gala morgen.“

Mein Schweigen war ihr wohl Antwort genug. Konnten die endlich aufhören, mich so anzustarren?

„Wenn sie etwas zu Essen, oder zu trinken haben möchten, gehen sie einfach an die Bar, oder warten sie, bis einer der Kellner auf sie zukommt. Und nun gehen sie, setzten sie sich zu den anderen und schließen sie ein paar Bekanntschaften. Ich werde mich solange einfach dort drüben an die Bar setzen und ihnen nicht in die Quere kommen.“

Das wäre aber das erste Mal, seit ich sie kannte.

Carrie wartete noch einen Augenblick, als erwartete sie eine Reaktion von mir. Als diese Ausblieb, schüttelte sie frustriert den Kopf und tat das, was sie angekündigt hatte: Sie setzte sich an die Bar.

Ich stand einfach nur da und wusste nicht recht was ich tun sollte. Mich zu diesen Leuten zu setzten, kam gar nicht in Frage, aber dabei einfach hier stehen zu bleiben, kam ich mir nur dämlich vor. Ich öffnete und schloss die Hände, in der Hoffnung, mich damit irgendwie von meinem Unwohlsein zu befreien. Fast jeder im Raum starrte mich an. Die wenigen Ausnahmen, die es nicht taten, wurden von den anderen auf mich aufmerksam gemacht, so dass sie es am Ende auch taten.

In Ordnung, ich musste etwas tun. Nicht nur um Carrie zufrieden zu stellen, sondern auch, um von meinen Gaffern wegzukommen. Ich würde mich einfach in irgendeiner Ecke niederlassen und meine Zeit absitzen, bis ich endlich gehen konnte.

Bemüht die Existenz der anderen nicht wahrzunehmen, machte ich einen Rundgang und musste zu meiner Bestürzung feststellen, dass wirklich alle Tische besetzt waren. Ich war schon kurz davor, mich einfach irgendwo in einer schattigen Ecke an die Wand zu lehnen, als ich eine gepolsterte Fensterbank entdeckte. Keine Tische oder Stühle in der Nähe, keine Menschen, nur ein paar Pflanzen in zwei großen Blumentöpfen. Das war perfekt. So war ich anwesend, gleichzeitig musste ich mich aber nicht mit diesen Leuten abgeben.

Mit diesem Ziel vor Augen, bewegte ich mich durch den Raum. Dabei kam ich an einem Tisch mit vier Frauen vorbei.

„Hallo“, sprach die eine mich an und lächelte freundlich. Sie war blond und schon etwas älter. Ich hatte sie bereits gestern im NoName gesehen. Sie hatte am anderen Tisch auf der Terrasse gesessen. „Ich bin Moa, möchtest du dich nicht zu uns setzten?“

Alle Frauen schauen mich erwartungsvoll an.

Das musste ich jetzt nett und diplomatisch angehen. „Nein“, sagte ich und ging ohne auf ihre Reaktionen zu warten, an ihnen vorbei zur Fensterbank.

Die Polster dort waren dick und mehrere grüne Kissen, sorgten für einen bequemen Komfort im Rücken. Ich machte es mir dort gemütlich, schwang die Beine hoch und richtete meinen Blick durch das Fenster nach draußen. Von hier aus hatte ich einen wunderschönen Ausblick, auf den Koiteich inmitten der grünen Oase. Doch so sehr ich mich darum bemühte, ich schaffte es nicht die anderen Gäste auszublenden. Sie waren überall und ich spürte, wie sich mich beobachteten. Das fand ich unerträglich.

Die Gruppe, die mit den Stöcken die Kugeln herumschubste, sah immer wieder interessiert zu mir rüber, genau wie die beiden Männer, die gerade aus einem Flur im hinteren Teil des Ladens kamen. Nur die beiden Männer, in den karosserielosen Autos, hatten kein Interesse an mir. Ihre Blicke waren auf den großen Bildschirm vor sich an der Wand gerichtet, während sie hektisch an den Lenkrädern drehten.

Moment, der Linke war doch der Typ mit dem kleinen Mädchen, in den ich gestern hineingelaufen war. Wie hatte Carrie ihn noch gleich genannt? Savo? Sayed? Saven? Oh Gaia, warum gab es hier nur so viele Menschen, wer sollte sich denn die ganzen Namen merken?

Ein Geräusch, wie ein hohes Quäken, lenkte meine Aufmerksamkeit auf den Boden vor der Fensterbank. Dort saß ein Tier. Es hatte einen runden Kopf, spitze Ohren und einen langen Schwanz, den es um seinen eleganten Körper gelegt hatte. Das Fell war seidig weich und von einem intensivem graublau. Es wirkte nicht gefährlich.

Wir starrten uns an. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was es war, sowas hatte ich noch nie gesehen. Irgendwas Katzenartiges? Aber so klein?

Wieder gab das Tier dieses seltsame Quäken von sich und machte dann einen Satz zu mir auf die Fensterbank.

Vor Schreck zuckte ich zurück und knallte dabei ziemlich schmerzhaft mit dem Kopf gegen die Wand, doch das Tier stand nur neben mir und schaute mich erwartungsvoll an.

„Das findest du wohl witzig“, knurrte ich und schaute mich im Raum um, weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte – ihm vielleicht einen Tritt verpassen, damit es mich in Ruhe ließ? Dabei bemerkte ich, dass sich noch andere von diesen Tieren im Laden befanden. Ein schwarzweiß geflecktes, lief quer durch den Raum. Ein ganz schwarzes saß hinten bei den Blumentöpfen und sondierte die Umgebung. Ein rotes mit längerem Fell hatte es sich auf dem Schoß eines Mannes bequem gemacht und ließ sich genüsslich von ihm streicheln.

Mit einem weiteren Quäken, holte sich das blaugraue Tier meine Aufmerksamkeit zurück und starrte mich weiterhin auffordernd an.

„Ich werde dich ganz sicher nicht streicheln.“

Das Tier kniff die Augen leicht zusammen, als wollte es sagen: „Na das werden wir ja noch sehen.“ Sein Schwanz zuckte leicht, dann setzte es sich hin, hob eine Pfote an die kurze Schnauze und begann daran zu lecken. Dabei stierte es mich weiter an. Diese Augen … das war irgendwie gruselig.

Plötzlich drang ein grausiges Quietschen und Scharren an meine Ohren, bei dem nicht nur ich das Gesicht verzog. Das laute Getöse kam von einem großen Clubsessel, der quer durch den Raum gezogen wurde. Wer das war, entzog sich mir, denn ich sah nur einen hochgereckten Hintern, der sich rückwärts auf mich zu bewegte. Wenn ich von der Form der Beine und der Größe ausging, war es wohl eine Frau, die sich ziemlich anstrengte, das Ding vom Fleck zu bekommen.

Das Geräusch machte mir Zahnschmerzen und endete erst, als der Sessel schräg neben meiner Fensterbank zum Halten kam.

„Puh“, machte eine Frau mit einer ziemlich hohen Stimme, wischte sich einmal mit der Hand über die Stirn und ließ sich dann erschöpft in den Sessel fallen. „Das war anstrengend. Aber erzähl das bloß nicht meinem Arzt, der würde mir den Kopf abreißen.“

Ich blinzelte. Die Frau war jung, jünger als ich und ihre Frisur war … interessant. An den Seiten ausrasiert und oben und hinten fransig. Außerdem war es blau mit schwarzen Spitzen. Ihr Gesicht war sehr feminin, kleine Nase, Schmollmund und braune Augen. Das Gesicht war in blauen Mustern geschminkt. Dynamische Linien, die ihren Augen, einen mysteriösen Hauch verliehen. Es sah hübsch aus.

Und sie war schwanger. Das konnte ich sehr gut sehen, denn ihre Hose saß ihr sehr knapp auf den Hüften und ihr Oberteil reichte ihr gerade mal über den Busen. Sie war noch nicht so weit fortgeschritten, wie die anderen Schwangeren, die ich gesehen hatte, aber bei ihr zeigte sich bereits eine deutliche Kugel.

Etwas an ihr kam mir bekannt vor, wie eine verschwommene Erinnerung, die von Nebel verhüllt war. Es war wie ein Jucken im Hirn. Das war zutiefst skurril. Ich wusste genau, dass ich dieser Frau noch nie über den Weg gelaufen war und trotzdem konnte ich dieses seltsame Gefühl von Vertrautheit nicht abschütteln.

Die Frau musterte mich viel zu intensiv. So in Augenschein genommen zu werden gefiel mir nicht. Es fühlte sich an, als würde sie in meine Intimsphäre eindringen.

Als sie dann grinste, wirkte ihr Gesicht nicht mehr mysteriös, sondern nur noch jung und frech – fast so wie Nikita. „Hi, mein Name ist Roxana, aber du kannst mich ruhig Roxy nennen, das machen alle.“ Sie verzog leicht das Gesicht. „Genaugenommen kann ich es nicht ausstehen, wenn mich jemand Roxana nennt, also Roxy, Roxy ist gut.“

Ich blinzelte nur einmal und fragte mich, was ich tun musste, damit sie wieder verschwand.

„Alsooo“, sagte sie sehr langgezogen. „Da du scheinbar zu schüchtern bist, dich uns zu näheren, dachte ich mir, ich komme zu dir und sage Hallo.“

„Ich bin nicht schüchtern“, sagte ich und beobachtete das Tier, als es zu Roxy auf den Sessel sprang und es sich auf ihrem dicken Bauch bequem machte. Sie hob pflichtbewusst eine Hand und begann es zu streicheln. „Ich will nur nichts mit euch zu tun haben, also geh wieder weg.“

Ihre Hand verharrte mitten in der Bewegung und ihre Augen wurden ein kleinen Wenig größer. „Wow“, sagte sie. „Das war mal offen und direkt.“ Ihr Blick rutschte ein kleinen wenig höher. „Woher hast du die Platzwunde? Das sieht echt übel aus.“

Irgendwie war mir danach diese Frage zu beantworten, einfach nur, um ihre Reaktion zu sehen. „Ein Tracker hat mich mit einem Schlagstock geschlagen.“ Dass ich der Frau vorher ein Bild über den Schädel gezogen hatte, ließ ich geflissentlich unter den Tisch fallen.

Ihre Augen wurden fast kugelrund. „Ein Tracker hat dich geschlagen?“ Sie schien wirklich aufrichtig entsetzt. „Ich hoffe, du hast es ihm mit gleicher Münze heimgezahlt.“

So mehr oder weniger, leider waren sie in der Überzahl gewesen.

Das Tier auf ihrem Schoß, gab plötzlich ein seltsames Geräusch von sich, ein Knattern, nur irgendwie melodischer.

„Das ist Blue“, erklärte Roxy, als sie meinen Blick bemerkte. „Sie ist ziemlich eigensinnig, aber ein sehr guter Menschenkenner. Sie geht nur zu netten Leuten.“

„Dann ist es kaputt, denn es ist zu mir gekommen.“

„Es?“ Sie gab ein glockenhelles Lachen von sich. „Das ist kein Es, das ist eine Katze. Hast du noch nie eine Katze gesehen?“

„Nicht in der Größe.“ Ich hatte erst zwei Mal in meinem Leben eine Katze gesehen. Einmal einen Luchs und einmal einen Löwen. Der war aber bereits tot und schon halb skelettiert gewesen, als ich ihn entdeckt hatte.

Roxy musterte mich erneut. „Tut mir leid, wenn ich ein wenig aufdringlich bin, aber man sieht hier so selten ein neues Gesicht. Das du jetzt hier bist, ist einfach aufregend.“ Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. „Wie heißt du eigentlich?“

Was interessierte es sie? „Warum gehst du nicht wieder weg?“

„Weil jeder Mensch eine Freundin brauch.“ Sie strahlte mich an. „Und ich habe beschlossen, deine Freundin zu werden.“

Bevor ich mir über den Sinn dieser Worte genauere Gedanken machen konnte, kam von den Tischen mit den Kugeln und Stöcken lautes Gejohle. Dieser Kerl, in den in gestern hineingelaufen war, stand nun bei der Gruppe. Eine Frau mit kurzem, schwarzen Haar, hatte einen Finger in seinen Hosenbund geharkt und ihn daran zu sich herangezogen, um ihn die Lippen auf den Mund zu drücken. Es sah aus, als würden die beiden sich gegenseitig auffressen.

Roxy verzog angesichts dieser Zurschaustellung das Gesicht. Dann rief sie so laut durch den Raum, dass es auch die Musik übertönte: „Sucht euch ein Zimmer, das hier ist ein anständiger Laden!“

Der Mann mit dem blinden Auge löste sich aus dem Kuss und grinste zu ihr rüber. Dann schob er die Schwarzhaarige weg, schnappte sich einen der langen Stöcke und machte sich daran, eine der Kugeln damit anzustoßen.

Ein anderer Mann, mit blonden Locken und eindeutig asiatischer Herkunft, der nur wenig älter sein konnte als ich, winkte Roxy zu den Tischen hinüber. Sie stellte sich dumm, hob eine Hand und winkte zurück.

Der blonde Lockenkopf verdrehte die Augen und winkte sie erneut zu sich – nun schon ein kleinen wenig ungeduldiger.

„Mein Typ wird verlangt.“ Roxy setzte die Katze neben sich und erhob sich aus dem Sessel. „Willst du mitmachen?“

Was mitmachen? „Nein.“

Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schien es sich dann aber anders zu überlegen und zuckte nur mit den schmalen Schultern. „Wenn du es dir noch anders überlegst, wir sind da drüben und würden uns freuen, wenn du dich uns anschließt.“

„Das wird nicht passieren.“

„Das werden wir noch sehen.“ Sie zwinkerte mir verspielt zu und gesellte sich dann zu der kleinen Gruppe, wo der Mann mit dem blinden Auge – verdammt, wie hieß der noch gleich? – ihr seinen Stock überreichte. Dann richtete er seinen unergründlichen Blick einen Moment auf mich, solange bis Roxy etwas sagte und ihn damit zum Lachen brachte.

Es war so seltsam, diese Leute dort zu sehen, sie waren so anders, als alles was ich kannte. Nicht nur ihre Kleidung und die seltsamen Haarfarben, es war ihr ganzes Gebaren. Sie wirkten wie Kinder, unbekümmert, gedankenlos und ein kleinen bisschen verzogen.

Ein Gewicht senke sich vorsichtig auf meine Beine. Die graublaue Katze Blue, kletterte mit eigensinniger Ruhe auf meinen Schoß und machte es sich darauf bequem. Ihr blick war die pure Herausforderung, als wollte sie fragen: „Na, was willst du jetzt dagegen unternehmen?“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich werde dich trotzdem nicht streicheln.“

 

oOo

Kapitel 22

 

„Einen Moment, ich gehe sie schnell holen.“

Ich nickte, denn etwas anders blieb mir gar nicht übrig. Während Dimitri, der Leiter des Kinderhauses, aus dem aus dem Bild verschwand, tippte ich ungeduldig mit dem Finger auf den Rand des Digital-Desk. Laut Carrie konnte ich solche Videoanrufe auch über den Screen, oder dem Komkon führen, aber nachdem wir endlich den Club Paradise verlassen hatten und in meine Suite zurückgekehrt waren, hatte sie mir gezeigt, wie ich solche Anrufe auf meinem Schreibtisch führen konnte. Dieses Gerät hatte einfach den größten Bildschirm.

Nun war ich allein, zum ersten Mal an diesem Tag und obwohl ich die Stille eigentlich liebte und es genoss allein zu sein, fühlte ich mich im Moment nur einsam und verloren. Ein weiterer Tag war vergangen und ich war meinem Ziel kein Stück nähergekommen. Stattdessen hatte ich das Gefühl, mit jedem Moment, den ich länger hier war, tiefer in ihr Netz zu geraten und ein kleinen wenig von mir zu verlieren.

Ich vermisste Marshall. Ich vermisste Azra und Balic und ich vermisste auch meinen Trotzkopf. Doch am allermeisten vermisste ich die Gesellschaft meiner kleinen Schwester. Es waren bisher nur zwei Tage, aber ich war bisher noch nie so lange von Nikita getrennt gewesen, ohne eine Möglichkeit zu haben, sie aufzusuchen.

Ich wollte nach Hause, ich wollte mein Leben zurück. Wenn es mir möglich wäre, würde ich einfach die Zeit zurückdrehen und dieses ganze Drama verhindern. Doch würde ich wirklich über eine solche Fähigkeit verfügen, hätte ich das schon von einer sehr langen Zeit getan.

Während ich meinen trüben Gedanken nachhing, ohne auch nur einen mickrigen Einfall zu haben, wie ich diese Farce beenden konnte, erschien Nikitas Gesicht mit einem strahlenden Lächeln auf dem Bildschirm.

„Kiss! Oh Gaia, da bist du ja, ich habe mir schon Sorgen gemacht, als ich nichts von dir gehört habe. Dimitri meinte zwar, du hättest einfach nur viel zu tun, aber ich habe dich vermisst.“

Es war albern, aber auf einmal hatte ich einen Kloß im Hals. „Ich habe dich auch vermisst“, sagte ich, während ich die Einzelheiten ihres Gesichts in mich aufsog. Sie wirkte ein wenig besorgt, aber unverletzt. Und ihr Gesicht war geschminkt. Weiße Striche und Schnörkel die ihre Haut noch dunkler wirken ließen. Wäre da nicht noch immer ihr ungebändigtes Haar, hätte ich sie glatt für eine Fremde halten können. Für einen Städter.

Bei diesem Gedanken bekam ich eine Gänsehaut.

Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wir erschrocken ich über das bisschen Farbe war. „Geht es dir gut? Sie haben dir nichts getan, oder?“

„Nein, alle sind freundlich zu mir. Morgen machen sie einen Test mit mir, um meinen Wissensstand zu prüfen und dann kann ich mit den anderen Kindern in die Schule gehen. Gestern haben sie auch schon angefangen mir lesen und schreiben beizubringen. Ich kann jetzt meinen Namen schreiben, ist das nicht toll?“ Sie wirkte so aufgeregt und glücklich, während sie das sagte.

Ich hätte ihr gerne den Kopf gewaschen. Natürlich war es nichts Schlechtes, lesen zu können, doch immer, wenn sie diesen Ton anschlug, rebellierte etwa tief in mir. Sie ließ sich zu sehr auf diese Sache ein und das war gefährlich – für sie. „Es kann nie schaden, etwas neues zu lernen“, sagte ich deswegen ausweichend.

Sie grinste zufrieden. „Und was hast du so gemacht? Sie wollten mir nicht sagen wo sie dich hingebracht haben, nur dass es sehr bedeutend ist.“

Da war es wieder, das Verlangen mit den Zähnen zu knirschen. „Nichts an diesem Ort ist von Bedeutung.“

Diese Worte verpassten ihrer Laune einen kleinen Dämpfer. „Natürlich nicht, aber du weißt schon was ich meine.“

Natürlich wusste ich das. Der große Stolz von Eden. Doch meine Laune nun an ihr auszulassen, würde niemanden von uns etwas bringen.

„Sie haben mich ins Herz von Eden gebracht.“

„Zu den Evas?“ Nikita schaute mich mit großen Augen an. „Aber dort dürfen doch nur ausgebildete Angestellte hinein. Und …“ Sie unterbrach sich selber, als ihr mit einem Mal etwas klar wurde. „Du bist fruchtbar.“

„So scheint es, ja.“ Ich tippte wieder mit dem Finger auf die Kante des Desk. „Und deswegen müssen wir hier auch so schnell wie möglich verschwinden.“

„Aber Cosmo hat gesagt, die Evas und Adams sind die Könige dieser Stadt. Ihnen wird jeder Wunsch von den Lippen abgelesen und sie bekommen alles was sie wollen.“

Wer war Cosmo? „Nein, nicht alles und deswegen ist es umso wichtiger, hier schnell zu verschwinden. Hast du eine Möglichkeit gefunden?“

„Nein.“ Ihr Blick senkte sich, als wäre es ihr unangenehm, mir das gestehen zu müssen. „Ich glaub nicht, dass man hier so leicht rauskommt.“

„Das versuchen sie dir einzureden.“ Wenn ich nur daran dachte, was Carrie mir alles erklärt hatte, um mich von der Unüberwindbarkeit ihrer Mauern zu überzeugen. Wer wusste schon, was sie Nikita alles in den Kopf gesetzt hatten. „Du darfst dich von ihren Lügen nicht täuschen lassen. Im Moment wirkt vielleicht alles ausweglos, aber das wird nicht so bleiben, du darfst nur nicht aufgeben.“ Denn dann wäre alles verloren.

Nikita wagte es noch immer nicht, mir wieder in die Augen zu schauen. Sie spielte mit irgendwas an ihrem Handgelenk herum. Es war aus wie ein kleines Gerät, das an einem Armband befestigt war, doch was es war, konnte ich nicht sagen.

„Wäre es denn wirklich so schlimm, hier zu leben?“, fragte sie sehr leise.

Entsetzen packte mich und einen Moment wusste ich weder was ich denken, noch was ich sagen sollte. Meine Zähne auseinander zu bekommen, verlangte mir eine enorme Anstrengung ab. „Sag mir, dass das ein Scherz war.“

„Ich meine ja nur. So schlimm ist es doch gar nicht und bisher waren alle nett zu uns. Sie …“

„Nett?!“ Ich war fassungslos. Es fehlte nicht mehr viel, dann hätte ich mit den Fäusten auf den Desk geschlagen. „Sie haben mich verschnürt wie ein Paket hierhergebracht und jetzt wollen sie mich zwingen, einen Berg Babys in die Welt zu setzten. Das findest du nett?“

„Nein, ich …“ Sie biss sich auf die Unterlippe und wich wieder meinem Blick aus.

Ruhig bleiben, sie jetzt anzuschreien, würde nichts bringen. „Niki, diese Leute hier sind nur solange nett zu dir, wie sie bekommen, was sie wollen. Sobald du anfängst aus der Reihe zu tanzen, werden sie dir ihr wahres Gesicht zeigen. Willst du wirklich den Rest deines Lebens unter der Kontrolle anderer Menschen stehen?“

Da war ein Zögern, aber dann schüttelte sie den Kopf. Doch dieser kurze Moment der Unschlüssigkeit, löse ein kaum gekanntes Entsetzen in mir aus. Sie war noch so jung und so leicht beeinflussbar und Eden tat alles, um sie hier zu behalten.

„Gut“, sagte ich leise, auch wenn alles in mir danach verlangte, sofort zu ihr zu eilen und sie von hier fortzubringen. Ich musste ruhig bleiben. Solange ich noch keinen Ausweg gefunden hatte, mussten wir uns natürlich verhalten. Doch die Angst fraß sich in meine Seele. Wenn es zu lange dauerte, würde ich Nikita an die Städter verlieren, das wusste ich mit Gewissheit. Natürlich konnte ich mich auch täuschen, aber mein Gefühl trug mich selten und im Augenblick hatte ich schreckliche Angst sie zu verlieren. Diese Welt war bunt, schillernd und neu. Doch der Preis hier zu bleiben, war einfach zu hoch.

Das Schweigen, das sich zwischen uns ausbreitete war neu und unangenehm. Ich durfte nicht vergessen, dass sie immer noch ein Kind war. Genau wie ich musste sie Angst haben und dies war ihre Art einen Weg zu finden, um mit dieser Angst umzugehen. Vielleicht wäre es im Moment besser das Thema zu wechseln, also begann ich sie nach ihrem Tag auszufragen. Was sie getan und was sie gegessen hatte. Ich wollte wissen, was das für Menschen bei ihr waren und auch, wenn sie alles haarklein erzählte, so kehrte die Unbeschwertheit von Vorher nicht zurück.

Wir unterhielten uns lange und beendeten das Gespräch erst, als dieser Dimitri auftauchte und verkündete, Nikita müsste ins Bett.

Es gefiel mir nicht, dass ein Fremder die Macht besaß, meine kleinen Schwester Befehle zu erteilen. Natürlich war sie ein Kind und brauchte Regeln, aber weder er, noch jemand anderes in dieser Stadt, hatte das Recht, diese aufzustellen. Und dennoch blieb mir gar nichts anderes übrig, als es zuzulassen.

In dieser Nacht schlief ich zum ersten Mal seit vielen Tagen wieder. Es war ein unruhiger Schlaf, voll von Bildern aus meiner Vergangenheit, die sich mit der Gegenwart vermischten. In dieser Nacht waren es nicht die Schreie meines toten Bruders, die mich aus dem Schlaf rissen, es war die Verzweiflung meiner kleinen Schwester, die mich schweißgebadet in die Wirklichkeit zurückholten, als draußen vor den Fenstern gerade mal der Morgen anbrach.

Leider endete meine Tortur nicht mit dem Erwachen. Die ersten Stunden des Tages verbrachte ich damit, unruhig in meinem Zimmer hin und her zu laufen. Ich versuchte mich abzulenken, indem ich die ganze Suite untersuchte, mir etwas zu Essen nahm und sogar die Dusche benutzte.

Als Carrie später auftauchte, fuhr sie mich zusammen mit einem Gardisten im Schlepptau in die Bibliothek des Freizeitcenters, wo ich eine weitere Sitzung mit Cameron verbrachte.

Erst am Nachmittag wurde ich vom Unterricht erlöst, aber nur, um mich kurz darauf ein weiteres Mal in dem Beautysalon Factory von Sue wiederzufinden, um mich für die Geburtstagsgala von Agnes Nazarova herauszuputzen. Carrie hatte schon den ganzen Tag kein anderes Gesprächsthema gehabt und da war sie auch nicht die Einzige.

Als ich den Salon vor zwei Tagen aufgesucht hatte, war er gut besucht gewesen, heute jedoch war er voll. Jeder freie Platz war von Frauen besetzt. Über die Hälfte von ihnen hatte ich gestern im Paradise gesehen. Auch diese Roxy war da und winkte mir von ihrem Stuhl aus zu, während ein Mann sich um ihre Haare kümmerte.

Ich ignorierte sie einfach und hielt mich hinter Carrie, die uns gerade für meinen Termin anmeldete.

Dieses Mal war es nicht Sue, die uns in Empfang nahm, sondern eine füllige Frau mit einem netten Großmutterlächeln. Ich wurde auch nicht in einen separaten Raum gebracht, sondern auf einen Stuhl an der hinteren Wand gesetzt. Links und rechts von mir saßen noch andere Frauen, die immer wieder einen neugierigen Blick in meine Richtung warfen.

Ich tat so, als würde ich es nicht bemerkten, während ich in den wohl größten Spiegel blickte, den ich je gesehen hatte.

„Wir haben zwar nicht viel Zeit, aber ich könnte ihre Haare färben.“ Die ältere Frau zupfte an einer einzelnen Strähne, ohne darauf zu achten, dass mir das missfiel. „Damit würden sie nicht mehr so blass wirken.“

„Kein Färben“, knurrte ich. Ich würde es zu verhindern wissen, dass sie mich zu eine von ihnen machten.

Die Frau seufzte, als hätte ich sie damit in ihrer Ehre verletzt. „Also gut, nur Makeup. Haben Sie irgendwelche Wünsche?“

Wünsche? Klar, jede Menge sogar. „Kein Makeup.“

Carrie gab ein missbilligendes Schnalzen von sich. „Ihr Kleid ist schwarz, mit weißer Spitze. Das Makeup sollte darauf abgestimmt sein. Moment, ich habe hier ein Bild davon.“ Sie holte ihr Screen hervor, tippte ein paar Mal darauf herum und zeigte es der Frau.

Diese schaute es sich einen Moment an und nickte dann. „In Ordnung, da habe ich schon ein paar Ideen.“ Sie griff wieder in mein Haar und zupfte daran. Es war wirklich schwer, sie dafür nicht anzuknurren. „Lassen sie mich nur machen, dann werden sie heute Abend strahlen, wie ein aufgehender Stern.“

„Ich kann es kaum erwarten.“ Der Sarkasmus in meine Stimme, entging beiden Frauen völlig.

Während die Frau sich, mit ihrer Ausrüstung bewaffnet, über mein Gesicht und meine Haare hermachte, blieb Carrie mit dem Gesicht auf ihrem Screen kleben. Dabei waren ihre Lippen gespitzt und ihre Stirn gerunzelt, als sei sie dabei, ein schweres Problem zu lösen. „Schon wieder eine Absage“, murmelte sie.

„Probleme?“, fragte die Frau, während sie mit einem Kamm vorsichtig durch meine Haare fuhr.

„So kurz vor der Gala, finde ich einfach keine Begleitung für Kismet.“

Die Frau nickte. „Die Adams haben natürlich alle schon jemanden, den sie ausführen und es gibt viel weniger Adams als Evas.“

Carrie seufzte und ließ den Sreen sinken. „Genau das ist mein Problem. Ich bin kurz davor eine Anfrage in den Chat zu stellen.“

Die Frau auf dem Stuhl links neben mir, gab ein empörtes Geräusch von sich. Es war die Frau, die mich gestern im Paradise an ihren Tisch eingeladen hatte, diese Moa. „Das können sie nicht machen, sie ist eine Eva.“

Die Frau rechts neben mir nickte zustimmend. „Das wäre unschicklich.“

„Ich könne meinen Sohn fragen“, überlege Moa. „Er wäre sicher dazu bereit, sich ihrer anzunehmen.“

Ich runzelte die Stirn. Was bitte ging hier vor? „Begleitung?“

„Ein Mann, der Sie auf die Gala begleitet“, erklärte Carrie. „Es ist unangebracht auf einer solchen Veranstaltung allein aufzutauchen.“

„Außerdem macht es in Begleitung viel mehr Spaß“, fügte die Frau rechts neben mir hinzu.

Oh was? Nein. „Ich soll da auch noch mit irgendeinem Kerl hingehen?“ Und was dann? Diese Frage wollte ich lieber nicht genauer erörtern.

„Nicht irgendein Kerl“, versuchte Moa mich zu beruhigen. „Ein Mann, dessen Gesellschaft du genießt, am besten jemanden, den du magst.“

„Hier in Eden?“ Fast hätte ich gelacht, aber es wäre kein fröhlicher Laut geworden. In dieser Stadt gab es keinen Mann, den ich mochte. Nein, Moment, das stimmte so nicht, es gab einen, nur einen einzigen. Naja, mögen war vielleicht zu viel gesagt, dafür kannte ich ihn nicht gut genug, aber gegen ihn empfand ich wenigstens keine Ablehnung. „Dann will ich mit Wolf gehen.“ Wenn sie mir schon einen Mann vor die Nase setzten, dann wenigstens einen, den ich mir selber aussuchte.

Carrie runzelte wieder die Stirn. Dabei flogen ihre Finger nur so über den Bildschirm ihres Screens. „Ich kenne niemanden mit diesem Namen.“

„Wolf ist der Mann, der zusammen mit mir hergebracht wurde. Er hat keine Zunge.“

Die Frau rechts von mir riss erschrocken die Augen auf. „Er hat keine Zunge?“

„Bitte nicht bewegen“, wurde sie von der Frau getadelt, die gerade mit ihrem Gesicht beschäftigt war.

Ich ignorierte sie und beobachtete Carrie durch den Spiegel.

„Ein Streuner“, murmelte sie und dann wurden ihre Augen ein wenig größer. „Nein, das geht nicht.“

„Warum nicht?“

„Weil er noch nicht freigegeben wurde, er befindet sich noch im Aufnahmeinstitut und er ist … nein, er ist keine passende Begleitung.“

Wenn ich jetzt wieder anfangen würde mit den Zähnen zu knirschen, hätte ich wohl bald keine mehr. „Und wen soll ich dann kriegen? Vielleicht Cameron?“

Carries Augen leuchteten auf. „Das ist eine vorzügliche Idee. Ich werde ihn sofort fragen, ob er sich dazu bereiterklären würde.“

Hätte ich doch nur meinen Mund gehalten.

Eine Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Ich hatte gerade die Lippen gespitzt, während ein Pinsel vorsichtig über meinen Mund fuhr, als Carrie erklärte: „Cameron wird heute Abend zu ihrer Verfügung stehen.“

Hatte ich mal wieder ein Glück.

Die Frau griff nach einem anderen Pinsel, an dem irgendwas Silbernes klebte. Als sie sich damit meinem Gesicht nährte, zuckte ich mit dem Kopf zurück. „Muss das sein?“ Ich hatte kein Interesse daran, für irgendein Fest zu funkeln.

„Sie sind eine Eva, eine neue Eva, jeder Blick wird heute auf sie gerichtet sein, also ja, es muss sein.“

„Aber mich werden doch auch so schon alle anstarren. Geht das nicht vielleicht auch ein wenig dezenter?“

„Nein, heute nicht.“ Damit war das Thema erledigt und ich wurde in einen schillernden Kometen verwandelt. Danach ersparte ich mir jeden weiteren Versuch eines Protestes, denn es würde sowieso nichts bringen. Ich saß einfach nur da und schwieg, während mein Gesicht hinter der Schminke verschwand und mich in eine Fremde verwandelte.

Als wir endlich fertig waren, war es schon fast Abend, aber bevor wir uns auf den Weg zu dem Ereignis des Jahres machten, auf das die ganze Stadt sich bereits zu freuen schien, wurde ich noch ins Fancy von Victorine gebracht, um mein Kleid anzuziehen. Dort war mindestens so viel los wie in dem Beautysalon, aber wenigstens wurde ich hier in ein Separee geführt, sodass ich mich der neugierigen Blicke entziehen konnte. Kurz darauf fand ich mich vor einem Spiegel wieder und erkannte mich selbst nicht wieder.

Das asymmetrische Kleid war schwarz mit einem diagonalen Träger. Bis zu den Hüften lag es eng an und fiel dann in einem weiten Schwung bis auf den Boden. Über die Brust, rund um die Taille, bis knapp zu meinen Oberschenkeln, schlang sich eine Stickerei aus weißer Spitze um meinen Körper und ließ meine Erscheinung anmutig und elegant wirken.

Die dunkel geschminkten Augen und die silbernen Verzierungen in meinem Gesicht, gaben mir etwas Geheimnisvolles, ja fast Anonymes. Auch die Platzwunde war wieder unter der Schminke verschwunden. Mit dem Kleid zusammen, wirkte das Makeup in meinem Gesicht wie eine Maske. Fremdartig, nicht mehr ich, ein anderer Mensch, ein Mensch aus Eden, ein Städter.

Als ich mich so sah, fühle ich mich so verloren. Am liebsten hätte ich den Spiegel kurz und klein geschlagen, bis ein Regen aus Scherben dieses Bild verschwinden ließ.

„Wunderschön“, sagte Carrie und trat neben mich. „Sie sehen wirklich atemberaubend aus.“

Ich wollte nicht atemberaubend aussehen, ich wollte etwas zurück, um mich wieder wie ich zu fühlen. „Ich will Nikita sehen.“

Carrie warf einen Blick auf ihren Zeitmesser. „Dafür bleibt uns leider keine Zeit mehr, aber sie können sie heute Abend über das Komkon …“

„Nein“, unterbrach ich sie und wandte mich ihr zu. „Ich will nicht durch eine Maschine mit ihr sprechen, ich will sie treffen. Hört auf mich von ihr fern zu halten.“

„Niemand hält sie von ihr fern, aber heute haben wir keine Zeit mehr für ein persönliches Treffen. Morgen allerdings habe ich bereits einen Termin anberaumt. Wenn sie sich heute gut benehmen, wird man Nikita morgen zu ihnen bringen.“

Ich biss die Zähne so fest zusammen, dass mein Kiefer davon schmerzte. Nicht jetzt, nicht heute, vielleicht niemals. Ich hätte Nikita niemals aus den Augen lassen dürfen. Ich hätte kämpfen müssen, damit sie bei mir blieb. Aber das hatte ich nicht. Ich hatte mich auf dieses dumme Spielchen eingelassen, nur für die vage Hoffnung auf einen Ausweg und nun konnte ich nichts anderes tun, als mich zu fügen.

 

oOo

Kapitel 23

 

Der Eingang zum Freizeitcenter war festlich geschmückt. Ein Bogen mit goldenen und weißen Ballons überspannte ihn und war mit vergoldeten Blüten und abstrakten Fahnen dekoriert.

Vor dem Eingang hielt eine unaufhörliche Flut an Autos, die die Gäste in Scharren auf den roten Teppich entließen, der sie direkt in das Gebäude führte. Männer in Anzügen nahmen die Gäste in Empfang, halfen ihnen beim Aussteigen und hielten ihnen die Türen offen. All diesem Lächeln und zuvorkommendem Verhalten auszuweichen, erwies sich als unmöglich. Ich versuchte es trotzdem und wies jede helfende Hand ab, was mir mal wieder ein missbilligendes Schnalzen von Carrie einbrachte.

„Es ist nun wirklich nicht zu viel verlangt, ein wenig höflich zu sein“, tadelte sie mich, als wir es endlich in die große Vorhalle mit der Glaskuppel geschafft hatten. Auch hier tummelten sich die Menschen und strebten eifrig ihrem Ziel entgegen. Frauen in eleganten Abendkleidern, Männer in überteuerten Anzügen, jeder einzelne festlich herausgeputzt.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte mich möglichst hinter Carrie zu halten, um nicht versehentlich mit einem dieser Leute zusammenzustoßen. Einer war mir vorhin schon auf den Fuß getreten und anstatt sich zu entschuldigen, hatte man sich nur darüber gewundert, dass ich Barfuß war. So viel zum Thema Höflichkeit.

Carrie reckte den Hals und versuchte über die vielen Menschen hinweg etwas zu sehen. „Haben sie Cameron schon irgendwo entdeckt?“

Hatte ich, er stand direkt neben dem Koiteich, auch in einem dieser edlen, schwarzen Anzüge und hielt seinerseits nach uns Ausschau. Aber ich sah keinen Grund ihr das mitzuteilen. Jede Verzögerung war ein Pluspunkt für mich, denn je länger wir hier draußen waren, desto weniger Zeit würde ich im Festsaal verbringen müssen.

„Ach, da ist er ja.“

Damit war meine Verzögerungstaktik wohl gescheitert. Fügsam folgte ich Carrie hinüber an den Koiteich, mein ständiger Schatten in respektablen Abstand direkt hinter mir. Ich konnte mich wirklich keinen Schritt bewegen, ohne diesen Gardisten im Schlepptau zu haben.

„Cameron“, rief Carrie und erschreckte den jungen Mann damit so sehr, dass er zu uns herumwirbelte und dabei fast noch über seine Füße stolperte. Einen Moment sah es wirklich so aus, als würde er rückwärts in den Teich fallen, aber dann fing er sich wieder und bedachte uns mit einem verlegenen Blick.

„Guten Abend“, grüßte er uns.

Carrie musterte ihn einmal von oben bis unten und nickte dann zufrieden. „Vielen Dank, dass sie sich zur Verfügung gestellt haben.“

„Ach, dafür müssen sie sich nicht bedanken, ich hatte heute eh nichts Besseres zu tun.“ Sein Blick richtete sich auf mich und ein vorsichtiges Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. „Sie sehen hübsch aus.“ Dann schien ihm aufzugehen, was er da gerade gesagt hatte. Seine Ohren wurden rot und er rückte eilig seine Brille zurecht, als könnte er sich so hinter ihr verstecken.

Oh Mann, da konnte man ja nur Mitleid bekommen. „Danke.“

„So.“ Carrie schlug sich einmal in die Hand. „Genug der Begrüßungen, es wird Zeit sich auf den Weg zu machen. Cameron, seien sie ein Galan und Kismet, benehmen sie sich. Ich will hinterher keine Klagen über ihr Verhalten hören.“

Ich merkte auf. „Du kommst nicht mit?“

„Ich werde anwesend sein, aber im Hintergrund bleiben. Sie sind eine erwachsene Frau und schlagen sich sehr gut. Es wird also nicht nötig sein, ihnen das Händchen zu halten.“

Deswegen hatte ich gar nicht gefragt, aber nett zu wissen, wie sie über mich dachte.

Cameron reichte mir zögernd seinen Arm. Ich hatte bei den anderen Paaren gesehen, wie die Frauen sich bei den Männern untergehakt hatten und nun erwartete er das offensichtlich auch von mir. Auf keinen Fall.

„Ich laufe allein“, erklärte ich.

„Oh.“ Etwas verunsichert ließ Cameron seinen Arm wieder sinken und warf einen kurzen Blick zu Carrie, doch die interessierte sich mal wieder nur für ihren Screen. „Dann … dann sollten wir wohl einfach hinein gehen.“

Ja, das sollten wir wohl und mit ein bisschen Glück, würde es nicht so schlimm werden, wie ich mir das im Moment noch vorstellte.

Ach, wem versuchte ich hier eigentlich etwas vorzumachen? Dieser Abend würde der Horror werden. Schon jetzt wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass der Abend bereits vorbei wäre. Diese viele Menschen, wie konnten die Leute nur so leben? Das war fürchterlich. Da blieb nur zu hoffen, dass es möglichst schnell vorbei war.

Zusammen mit dem Strom der anderen Menschen, ließen wir uns in den hinteren Bereich des Freizeitcenters treiben. Der Festsaal lag hinter dem Torbogen in der Mitte und auch er war mit Ballons und vergoldeten Pflanzen, festlich geschmückt.

Da so viele Leute hineinwollten, hatte sich eine kurze Schlange gebildet, in der auch wir uns anstellen mussten. Ein Einlasser, winkte die Leute nacheinander hinein, aber es verschaffte den Paaren vor und hinter uns trotzdem die Zeit, mich anzustarren und leise zu tuscheln.

Ich presste die Lippen fest aufeinander, um nicht ausfallend zu werden.

„Ich habe einen Bruder“, sagte Cameron plötzlich und als ich ihn ansah, röteten sich seine Ohren erneut. „Als er gehört hat, dass ich eine Einladung für die Gala habe, wurde er ziemlich neidisch.“

Ein weiteres Paar durfte in den Festsaal, blieben noch zwei vor uns.

„Und warum erzählst du mir das?“

„Ich weiß nicht. Ich dachte du … ich meine sie, ich dachte sie …“ Er holte einmal tief Luft und verstummte dann einfach.

Seufz. „Ich beiße nicht. Ich hasse dich, genau wie jeden anderen Menschen an diesem Ort, aber ich werde dich nicht plötzlich angreifen und niederschlagen.“ Besonders, weil ich mir dann vorkommen würde, als hätte ich ein kleines, harmloses Küken vermöbelt.

Cameron schwieg solange, bis nur noch ein Paar vor uns war. „Sie wirken so angespannt“, wagte er sehr leise zu sagen. „Ich wollte sie nur ein wenig ablenken.“

Das war nett gemeint, aber zwecklos. Und Geschichten über seinen Bruder würden mich sicher nicht zu einer plötzlichen Einsicht bringen, die mich all das Erlebte vergessen ließ. „Es ist wohl besser für dich, wenn du dir nicht deinen Kopf über mich zerbrichst.“

Das Paar vor uns wurde hindurch gewunken und von einem Mann in Empfang genommen, der sie in den Festsaal führte.

Schon von hier konnte ich sehen, wie voll der Saal war. Links und rechts gab es große Fensterfronten und an der hinteren Wand eine große Bühne, die mit Genlanden, Lichterketten und vergoldeten Pflanzen dekoriert war.

Von der Decke hingen wirklich eindrucksvolle Kronleuchter und auf einer Empore standen Musiker, die die Gäste mit ihren Instrumenten unterhielten.

Der größte Teil des Raumes wurde von runden Tischen eingenommen, die sich um eine große Freifläche in der Mitte gruppierten. Mehr als die Hälfte davon war bereits besetzt und so wie es aussah, würden sie heute noch alle voll werden.

Als wir an der Reihe waren und von einer Frau in einem schlichten Abendkleid in den Saal geführt wurden, bemerkte ich, dass die hintere Wand auf der Bühne ein riesiger Bildschirm war. Im Moment zeigte er ein Baby in den Armen seiner Mutter, doch das Bild wechselte alle paar Sekunden, von einem Foto zum nächsten. Erst lächelte mir ein Junge mit Zahnlücke von der Leinwand entgegen, gleich darauf eine junge, blonde Frau mit einem auffälligen Muttermal am Kinn, das wie eine Bohne aussah. Dann kam das Bild von zwei Männern, der eine mit Bart, der andere mit Glatze.

Ich wandte mich ab und schaute mich weiter um. 

Links von mir lachte ein Mann. Überall um mich herum waren Stimmen zu hören. Die Frauen wirkten mit ihrer Schminke, als trugen sie alle Masken. Selbst einige der Männer trugen diese Kriegsbemalung, nur viel dezenter. Zusammen mit dem Licht und dem ganzen Ambiente, ergab das eine seltsame Atmosphäre.

Mit jedem weiteren Schritt, den ich machte, fühlte ich mich in meiner Haut unwohler. Ich gehörte nicht an diesen Ort und würde es wohl niemals tun.

„Hier entlang bitte“, sagte die Frau und führte uns an einigen Tischen vorbei. „Ihre Plätze sind gleich dort vorne.“

Sie brachte uns an einen Tisch, an dem bereits zwei Leute saßen. Ich kannte sie beide. Der eine war Killian, mein Arzt. Die Frau neben ihn hatte ich zwar noch nicht kennengelernt, aber bereits in seiner Gesellschaft gesehen. Es war die ältere, blonde Frau, mit dem dicken Babybauch, die in seiner Begleitung, durch die Ladenstraße spaziert war. Und genau wie vor zwei Tagen, wirkte sie auch jetzt ein kleinen wenig entrückt.

„Das hier sind ihre Plätze. Ich wünsche ihnen viel Vergnügen.“ Unsere Führerin lächelte uns an und ging dann wieder ihrer Wege.

„Kismet.“ Killian Gesicht erhellte sich bei meinem Anblick. „Wie schön dich hier zu sehen. Du siehst bezaubernd aus.“ So wie er das sagte und mich dabei betrachtete, schien er das wirklich ehrlich zu meinen.

Ich wandte mich dem von ihm am weitesten entfernten Stuhl zu und wollte mich dorthin setzen.

„Nein“, sagte Cameron und sofort wurden seine Ohren wieder rot. „Ich meine, ihr Platz ist hier drüben.“ Er ging um den Tisch herum und zog den Stuhl direkt neben Killian hervor.

Ich schaute erst den einen, dann den anderen Stuhl an. „Und warum kann ich nicht hier sitzen?“

„Weil das mein Stuhl ist“, erklärte eine melodische Frauenstimme direkt hinter mir.

Als ich mich umdrehte, stand da eine großgewachsene Blondine, die wirklich bildschön aussah. Lange Beine, schmale Taille, ein wirklich feminines Gesicht mit einem umwerfenden Augenaufschlag. Das goldene Abendkleid mit dem langen Beinschlitz, klebte wie eine zweite Haut an ihrem Körper. Es besaß keine Träger und entblößte viel von ihrem Dekolletee, ohne dabei anstößig oder schamlos zu wirken. Ich glaubte nicht, schon jemals eine so wunderschöne Frau gesehen zu haben – nicht mal hier zwischen all den Menschen in dieser Stadt.

„Die Plätze sind ausgeschildert, hier.“ Sie griff an mir vorbei zu einem kleinen Schild, oberhalb des Tellers und hielt es mir vor die Nase. „Das ist mein Name, also ist das hier auch mein Platz.“ Ihre Stimme war äußerst herablassend.

„Lija“, sagte der Mann in ihrer Begleitung mahnend. Genau wie ich war er dunkelhäutig. „Benimm dich.“

Sie beachtete den Mann nicht. „Wenn du also nun so nett wärst Platz zu machen, damit ich mich setzen kann.“

„Wie langweilig muss dein Leben doch sein, um einen solchen Aufstand wegen eines einfachen Stuhls zu machen.“ Ich ging zu dem mir zugedachten Stuhl und setzte mich darauf, ohne einen von den anderen am Tisch zu beachten.

Cameron ließ sich neben mir nieder. Er schien sich in seiner Haut nicht wohlzufühlen. Seine Hände griffen nervös nach der Stoffserviette und begannen nervös daran herumzufummel.

„Wie ist es dir ergangen?“, fragte Killian.

Ich schaute zu ihm auf, ließ meinen Blick dann aber zu der Frau neben ihm gleiten. Sie wirkte wie eine zarte Blume aus einer anderen Welt, die beim kleinsten Windhauch brechen würde.

„Wie unhöflich von mir. Kismet, darf ich dir vorstellen, das ist meine Mutter, Olive Vark.“

„Was ist mit dir?“, fragte ich sie direkt. Sie wirkte so abwesend, als wäre sie gar nicht richtig da. Ihr Blick war verklärt und ihre Hand strich wie unter Zwang immer wieder über ihren dicken Bauch. Dabei wirkte sie aber nicht unglücklich, nur gedankenlos.

Die Frau antwortete nicht. Ja sie schien mich nicht mal zu hören.

Ein liebevoller Ausdruck machte sich auf Killians Gesicht breit. „Meine Mutter ist … anders. Kurz bevor sie zur Eva wurde, hatte sie einen Badeunfall, bei dem sie fast ertrunken ist. Die Ärzte schafften es sie wieder ins Leben zurück zu holen, aber ihr Hirn hatte bereits einen unwiderruflichen Schaden genommen. Die meiste Zeit ihres Lebens weiß sie gar nicht so genau, was um sie herum vor sich geht. Man könnte sagen, sie lebt in ihrer eigenen Welt.“

„Sag doch einfach, dass sie nicht mehr ganz richtig im Kopf ist.“

Killians Lippen wurden schmal.

„Lija!“

Lija schaute den Mann neben ihr unschuldig an. „Was denn? Ich sage doch nur die Wahrheit.“

„Sowas kannst du?“ Eine weitere Frau tauchte am Tisch auf. Roxy. Sie trug ein blaues, rückenfreies Abendkleid, aus einem leichten Stoff und befand sich in Begleitung von dem blonden Lockenkopf mit dem asiatischen Einschlag, den ich gestern bereits im Paradise gesehen hatte. „Und ich dachte immer, du kannst nur Gift verspritzen. Danke.“ Der letzte Teil richtete sich an ihren Begleiter, der ihr den Stuhl unter Tisch hervorgezogen hatte. „Glaub nichts von dem, was diese Frau sagt“, wandte sie sich dann direkt an mich. „Sie ist ein Biest.“

„Na du musst es ja wissen.“ Lija schien sich nicht angegriffen zu fühlen.

Ich wäre am liebsten aufgestanden und einfach gegangen. Das hier war absolut nicht meine Welt.

Der blonde Lockenkopf setzte sich auf den letzten freien Stuhl und lächelte mich dann an. „Wir müssen ja einen tollen, ersten Eindruck auf dich machen. Ich bin übrigens Tican.“ Er reichte mir die Hand über den Tisch hinweg. „Und du musst Kismet sein.“

Ich schaute die Hand an, machte aber keine Anstalten, sie zu ergreifen. Warum nur wollen alle ständig, dass ich ihre Hände anfasste? „Scheint so“, murmelte ich und wandte den Blick ab. Der Saal war in den letzten Minuten deutlich voller geworden. Aber es waren nicht nur Gäste anwesend. Da waren auch eine Vielzahl an Kellnern, Yards und Gardisten, die überall herumliefen.

An unserem Nebentisch saß ein Mann, der nur noch einen Arm hatte. Über seine Kehle zogen sich mehrere lange Narben. Und er fixierte mich mit einem so intensiven Blick, dass es schon unangenehm war. Nicht mal mein böses Starren brachte ihn dazu, den Blick abzuwenden.

Tican ließ die Hand zwar sinken, ließ sich von meinem Verhalten aber nicht entmutigen. „Alle sind neugierig auf unseren Neuzugang, die geheimnisvolle und ungewöhnliche Schönheit, aus der staubigen Ödnis der Ruinen.“

Staubige Ödnis? War er schon jemals vor den Toren dieser Mauern gewesen? Dort blühte das Leben. Aber wahrscheinlich verstanden diese Menschen das nicht, weil für sie nur die Menschen wichtig waren.

„Schönheit?“ Lija verzog das angewidert das Gesicht. „Nur weil sie heute ein hübsches Kleid trägt, ist sie nicht plötzlich ein anderer Mensch. Alle Streuner haben Makel. Schau dir Sawyers Gesicht an, oder Jósas Arm.“ In ihrem Blick lag eine klare Herausforderung. „Wo versteckst du deine Narben?“

„Lija“, schimpfte der dunkelhäutige Mann. Auch die anderen am Tisch wirkten empört. Roxy schien sich sogar geradezu für sie zu schämen.

Auf meinen Lippen dagegen breitete sich ein Lächeln aus.

Das war wohl nicht die Reaktion, die Lija erwartet hatte. Ihre glatte Stirn legte sich in kleine Falten. „Was ist daran so lustig?“

„Nichts. Ich finde dich einfach nur armselig. Das Aussehen macht den Menschen nicht hässlich, es ist sein Charakter.“

„Boom“, machte Roxy und schlug mit der Hand auf den Tisch. „Treffer, versenkt.“

Ich hatte keine Ahnung was sie damit meinte, aber die angespannte Stimmung am Tisch verflüchtigte sich mit einem Schlag. Selbst Lija schmunzelte.

Ich verstand diese Leute wirklich nicht.

Nachdem das erste Eis nun gebrochen war, entwickelte sich am Tisch ein entspanntes Gespräch, an dem ich mich so gut wie gar nicht beteiligte. Zwar versuchten sie mich immer wieder mit einzubeziehen, aber ich hielt es lieber wie Olive und kümmerte mich um meine eigenen Sachen. Das gab mir auch die Gelegenheit mich weiter im Saal umzuschauen.

Die meisten Tische waren in der Zwischenzeit besetzt und überall unterhielten sich Leute, in feiner Abendradrobe, angeregt miteinander.

Auf der Bühne wurden nun Bilder von einem kleinen Mädchen gezeigt. Man konnte ihr dabei zuschauen, wie sie in Zeitraffer von einem Baby zu einem fröhlichen Kind und dann zu einer hübschen Frau heranreifte, die immer ein Lächeln auf den Lippen hatte.

Das etwas zu hohe Lachen einer Frau zog meine Aufmerksamkeit auf einen der hinteren Tische. Dort saß eine Frau in einem roten Abendkleid mit durchscheinender Spitze. Das schwarze Haar kam mir bekannt vor, doch erst als ich den Mann neben ihr sah, wusste ich wieder, wer das war. Die schwarzhaarige Frau, die gestern im Paradise herumgeknutscht hatte. Der Mann neben ihr war der Kerl mit dem blinden Auge – ich konnte mich immer noch nicht an seinen Namen erinnern.

Sie saß ziemlich eng bei ihm und hatte die Hand auf seine Brust gelegt, während er sich ganz entspannt mit einem anderen Mann am Tisch unterhielt.

Irgendwie fand ich das Bild ziemlich aufdringlich. Die Frau schien ihrem Begleiter am liebsten auf den Schoß klettern zu wollen, während er sich ihrer Existenz kaum bewusst war.

Als hätte er meinen Blick gespürt, drehte er auf einmal den Kopf und starrte mir quer durch den Raum direkt in die Augen. Seine Lippen verzogen sich zu einem arroganten Lächeln und sein abfälliger Hohn traf mich. Er fand mich lächerlich. Es war ziemlich abwegig, das alles in einen einzigen Blick hineinzuinterpretieren, aber genau das vermittelte er.

Ich schaute finster zurück. Wenn hier einer lächerlich war, dann er. Saß da wie ein Gigolo und ließ sich die ganze Zeit betatschen.

„Wenn es nicht bald etwas zu Essen gibt, dann sterbe ich vor Hunger“, quengelte Roxy und nahm einen äußerst wehleidigen Gesichtsausdruck an.

Tican lächelte nachsichtig. „Hast du vorher nichts gegessen?“

„Natürlich nicht. Ich wollte mir schließlich hier den Magen vollschlagen.“

„Dann bist du selber schuld“, sagte der dunkelhäutige Mann. In der Zwischenzeit wusste ich, dass er Joshua hieß.

Cameron saß unbehaglich neben mir. Er hatte die ganze Zeit noch weniger gesprochen als ich und schien sich hier genauso unwohl zu fühlen wie ich.

Als mit einem Mal das Orchester aufhörte zu spielen, wurde es an den Tischen merklich ruhiger. Auf der Bühne stand eine Frau in einem grünen Kleid, das wie ein Stern funkelte, sobald sie sich auch nur ein wenig bewegte. Ich brauchte einen Moment, um sie als Anett zu erkennen. In dem Kleid wirkte sie heute so … weiblich, ganz anders als bei unseren anderen Begegnungen.

„Wenn ich um ihre Aufmerksam bitten dürfte?“, sprach sie in ein kleines Gerät in ihrer Hand. Ihre Stimme klang dadurch viel lauter und schien von überall im Raum widerzuhallen.

Ich schaute mich unruhig um, während die Stimmen um mich herum alle verstummten und sich jeder einzelne im Raum auf die Bühne konzentrierte. Stimmen von den Wänden, Eden wurde wirklich mit jeder Sekunde seltsamer.

„Vielen Dank.“ Anett ließ ihren Blick einmal über die Versammelten gleiten und hob das Gerät dann wieder an ihre Lippen. „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste, Festlichkeiten gibt es im Jahr sehr viele, so nimmt man manche von ihnen kaum noch wahr. Doch es gibt Feste, die sind indes etwas sehr Besonderes. Sie gehören zu den Höhepunkten eines jeden von uns. Heute ist einer dieser bedeutungsschweren Tage. Darum freut es mich umso mehr, dass sie alle in so großer Zahl erschien sind, um diesen ganz besonderen Tag gemeinsam zu feiern.“

Verhaltener Applaus erklang. Roxy hob die Hand vor den Mund und gähnte.

„Heute, vor nun genau zweiundachtzig Jahren, erblickte Agnes Nazarova, in einer stürmischen Augustnacht, das Licht der Welt. Damals hatte noch niemand eine Ahnung, welch große Bedeutung diese Frau einmal für die gesamte Menschheit haben würde. An jenem Tag war sie ein unschuldiges Kind, heute ist sie eine Mutter, eine Führerin, eine Kämpferin und eine Vorreiterin, an der wir alle uns ein Beispiel nehmen sollten. Sie ist eine Frau mit Visionen, die uns alle in die Zukunft führen wird, darum nun bitte einen Applaus für das Geburtstagskind Agnes Nazarova.“

Dieses Mal brandete größerer Beifall auf. Der ganze Saal war erfüllt mit zustimmendem Applaus. Selbst Olive schien sich einen Moment aus ihrer Traumwelt zu lösen, um zu erfahren, was um sie herum los war. Das führte dazu, dass Killian ihr sofort beruhigend eine Hand auf den Arm legte und ihr leise etwas zuflüsterte.

Ich konzentrierte mich auf die Bühne. Ein kleiner Teil von mir war gespannt auf die Frau, die hier alle so beeindruckte und das nicht nur, weil sie vielleicht meine Fahrkarte aus meiner Gefangenschaft war. Wenn ich sie überzeugen konnte uns gehen zu lassen, würde dieser ganze Spuk endlich enden.

Von der Seite her, kam eine alte – wirklich alte – und vertrocknete Frau, auf einem Gehstock gestützt, auf die Bühne. Trotz der vielen Jahre die sie schon auf dem Buckel haben musste, war ihre Haltung aufrecht und selbstischer. Ihr langes Haar war schlohweiß und fiel ihr in einem geflochtenen Zopf über die Schulter. Krähenfüße umgaben die alten Augen und das ausgezehrte Gesicht. Ihre Haut war faltig und fleckig, die Hand mit der sie sich auf ihren Gehstock stützte knochig und vom Alter gezeichnet. Ihre Ausstrahlung war mächtig, unbeugsam, wie ein Berg inmitten eines tobenden Sturmes. Ein enger, faltenloser Rock fiel ihr bis zu den Knöcheln. Der Rest war in eine helle Bluse gehüllt. Sie hätte zerbrechlich wirken müssen, aber das tat sie nicht. Sie war … unbeugsam. Und kalt.

Neben mir knurrte Roxys Magen sehr fordernd. Alle sahen sie an.

„Was denn?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich habe doch gesagt, ich habe Hunger.“

Tican schüttelte nur grinsend den Kopf.

Auf der Bühne sagte Anett etwas zu Agnes und überreichte ihr dann das Gerät, in das sie immer hineingesprochen hatte. Dann zog sie sich an den Rand zurück und überließ dem Geburtstagskind das Feld.

Ein majestätischer Blick glitt über uns alle hinweg. „Als mein Leben begann, wurde ich als ein Wunder gepriesen.“ Ihre kratzige Stimme scheuerte wie Sand über Glas. „Die Geburt eines Kindes war zu dieser Zeit etwas sehr Seltenes geworden und jedes neue Leben wurde mit einem großen Fest gefeiert. Doch die Geburt eines einzigen Kindes war nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, vergänglich und unbedeutend in einer Welt, in der wir zum Aussterben verurteilt waren.“

Ähm … joa, das war wohl eher eine düstere Ansprache.

„Ich war zwölf Jahre alt, als das Projekt Eden, von hochdekorierten Forschern und Wissenschaftlern, zum ersten Mal dem damaligen Stadtrat präsentiert wurde, doch es brauchte noch viele Jahre harter Arbeit und die Überwindung von Tradition, Moral und Ethik, um es wirklich zu etablieren.“ Sie machte eine kurze Pause, als wollte sie es auskosten, dass alle im Saal zu ihr hinauf guckten. „Mit achtzehn Jahren entschloss ich mich dazu, mich dem Eden-Projekt anzuschließen, um für den Erhalt der Menschheit zu kämpfen. Wir waren einst ein stolzes Volk, das diesen Planeten dominierte und ich bin noch heute davon überzeugt, dass wir es wieder sein können, wenn wir den Richtlinien einer neuen Welt folgen.“

Ein ziemlich kämpferischer Appell.

„Ich bin nun seit mittlerweile vierundsechzig Jahren Teil unseres Projekts und kann auf eine lange Bahn von Erfolgen zurückblicken, von denen diese Stadt nicht wenige mir zu verdanken hat. Unsere Stadt ist gewachsen, die Menschheit gesundet. Jeder Geburtstag eines Jeden von uns, ist ein weiterer Erfolg unserer Geschichte und nicht nur ich, jeder einzelne von uns ist Teil dieses Erfolgs. Doch dürfen wir uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen. Wir haben bereits viel erreicht, aber ich weiß, dass wir noch viel mehr erreichen können. Wenn wir zusammenhalten, werden wir wieder das sein, was wir einst waren: Eine blühende Zivilisation mit einer grandiosen Zukunft.“

Wieder wurde geklatscht. Tican stieß sogar einen Pfiff aus, während Roxy laut „Yeah!“, rief.

Ich zog meine Stirn kraus und musterte die Menschen um mich herum. Sie schienen alle wirklich an das zu glauben, was diese Frau sagte. Dabei schien ihnen gar nicht klar zu sein, dass sie sich damit selber auslieferten. Konnten sie wirklich alle von diesen Worten überzeugt sein?

„Zum Abschluss möchte ich jedem einzelnen von ihnen für ihr Kommen und auch für ihre Mitwirkung an unserem gemeinsamen Traum danken. Das Leben hat uns einen herben Schlag versetzt, aber wir haben uns wie der Phönix aus der Asche erhoben und werden auf unseren Schwingen neue Höhen erreichen. Danke.“

Erneuter Beifall brandete auf, während Agnes Nazarova ein Stück zurücktrat und das Gerät wieder Anett übergab. Damit waren die Reden aber noch nicht beendet. Es traten weitere Menschen auf die Bühne, die Agnes zum Geburtstag gratulierten, ihre Erfolge priesen und sich positiv zum Eden-Projekt aussprachen.

Ich konnte das nicht verstehen. Sie schienen alle so glücklich, unter der ihnen auferlegten Isolation. Wie konnten sie nur? Strebten sie denn gar nicht nach anderem? Dies hier konnte doch nicht alles sein, was sie sich wünschten.

Neben mir gähnte Cameron dezent und Roxy quengelte bereits, dass sie sich demnächst selbst verdauen würde, wenn sie nicht bald etwas zwischen die Zähne bekam. Dann kam die Erlösung, als die Reden endlich beendet wurden und Anett lautstark verkündetet, dass man nun das Essen servieren würde – naja, die Erlösung für Roxy. Das Orchester begann wieder zu spielen und eine ganze Armee von Kellnern schwärmte aus, um die Gäste zu bedienen.

„Endlich“, sagte Roxy, als eine Vorspeise vor ihr abgestellt wurde. Ihre Augen leuchteten begierig auf. „Essen.“

„Frauen, bringt eure Kinder in Sicherheit“, murmelte Tican. „Die Raubtierfütterung hat begonnen.“

„Ha ha, sehr witzig.“

Ich musterte den Teller vor meiner Nase, nicht sicher was das sein sollte.

„Jakobsmuscheln an Kartoffelsalat“, verkündete der Kellner und verschwand genauso schnell, wie er gekommen war.

Ich probierte einen kleinen Bissen und spukte ihn sofort wieder aus. Das war echt eklig. Wie konnten die anderen das nur essen?

Es folgte eine Spargelsuppe mit Krabben und zum Hauptgang gab es gebratenen Lachs an Basilikumlemon Schaum und Brokkoli. Nichts davon traf wirklich meinen Geschmack. Ich schob das Essen auf meinem Teller hauptsächlich hin und her, während sich das Gespräch um mich herum entspannte.

Am Ende wurde etwas serviert, das sich Bananen-Roulade nannte. Das war lecker.

Das Essen ging zu Ende. An einigen der anderen Tische, erhoben sich die Leute und versammelten sich paarweise in der Mitte, um zu der Musik zu tanzen.

Roxy lehnte sich mit einem zufriedenen „Puh“ zurück und streichelte sich den dicken Bauch. „Das hat gutgetan.“

„Lass es dir eine Lehre sein“, sagte Tican und stibitze sich etwas von Roxys Resten.

Killian versuchte unterdessen seine Mutter dazu zu bekommen, ein Stück von ihrem Nachtisch zu essen, doch sie lächele einfach nur versonnen.

„Es ist so schwer den Richtigen zu finden“, sagte sie sehr leise. Ihre Stimme klang irgendwie ätherisch, als sei sie von einer anderen Welt.

„Den Richtigen?“, fragte Killian und legte die Gabel zurück auf den Teller. Er schien es aufgegeben zu haben.

„Den richtigen Namen.“ Gedankenverloren strich sie über ihren runden Bauch. Ihr Blick war in eine Welt gerichtet, die für uns andere nicht einsehbar war. „Es gibt so viele schönen Namen für Jungen, aber welcher ist der Richtige? Das ist eine schwere Entscheidung, schließlich muss er sein ganzes Leben damit leben. Sein Name wird in prägen.“

Da war schon irgendwie etwas Wahres dran.

„Es wird also ein Junge?“, fragte Joshua. Er war mit Worten so sparsam, dass man leicht vergessen konnte, dass er auch noch da war.

Überrascht schaute sie auf, als wäre ihr dieser Gedanke noch gar nicht gekommen. Und ihre Augen. Sie hatte so strahlen blaue Augen, wie ein wolkenloser Himmel. Zeitlos, vom Alter völlig vergessen. „Ich es weiß nicht.“

„Hast du denn schon einen Namen für ein Mädchen?“ Wollte Roxy wissen.

Plötzlich begann Olive zu lächeln und wirkte damit zum ersten Mal, als Teil dieser Welt. „Das weißt du doch.“

„Was weiß ich?“

„Hast du es etwa vergessen?“ Sie beugte sich vor und bemerkte dabei nicht einmal, dass ihr Kleid fast im Essen landete. Killian musste schnell ihren Teller zur Seite ziehen, um das gute Stück nicht vor Schmutz zu retten. „Nia und Lia?“

„Ähm …“

Ohne zu blinzeln starrte sie plötzlich mich an. Das fand ich ausgesprochen irritierend.

Lija machte ein abfälliges Geräusch. „Ich werde wohl nie verstehen, warum ihr immer wieder versucht, euch mit ihr wie mit einem normalen Menschen zu unterhalten. Ihr müsst doch mittlerweile mitbekommen haben, dass das sinnlos ist.“

Joshua gab einen leidgeprüften Seufzer von sich, während Killian sie mit einem bösen Blick bedachte.

„Also, ich bekomme ein Mädchen“, erklärte Roxy. „Ich wollte sie Emilia nennen, zu Ehren meiner Großmutter.“

„Das ist ein hübscher Name“, sagte Killian.

„Was sagst du dazu?“, fragte Roxy.

Ich brauchte einen Moment um zu verstehen, dass ich gemeint war. Zu ihrem Pech hatte ich kein Interesse daran, mich an diesem Gespräch beteiligen.

„Ach komm schon“, jammerte Roxy. „Raus mit der Sprache, ich will auch deine Meinung wissen.“

Na gut, was konnte es schon schaden? „Ich halte nichts davon, dem Baby den Namen einer toten Frau zu geben.“

„Warum?“

„Damit beschwört man das Leben einer Toten auf das Baby herab. Es wird von Geburt an gezeichnet sein.“

Dem folgte einen Moment verblüfftes Schweigen.

„Ja aber wenn es ein gutes Leben war?“

„Sie ist jetzt tot, oder?“

„Ja, aber doch nur, weil sie schon sehr alt war und … krank.“ Den letzten Teil sagte Roxy leiser, so als wollte sie die Worte eigentlich gar nicht aus ihrem Mund lassen.

Und deswegen gab man einem Baby nur seltene und unbekannte Namen. Verstorbene und auch Erinnerungen an sie, sollte man in Ehren halten, aber es war niemals eine gute Idee, Altlasten auf ein neues Leben zu übertragen.

Roxy stieß einen tiefen Seufzer aus. „Toll, jetzt will ich das Baby nicht mehr so nennen.“

Killian versuchte die Situation mit einem Lächeln aufzulockern. „Da sieht man es mal wieder, das Leben außerhalb unserer Mauern ist eine ganz andere Kultur.“

„Eine Kultur, die nicht besonders erstrebenswert ist“, bemerkte Lija.“

„Also ich weiß nicht, ich würde ja gerne mal dort hinaus gehen.“ Roxy stützte ihren Kopf in ihre Hand und ihr Blick nahm einen verträumten Ausdruck an. „Es gibt in der Stadt Reisetouren in die Alte Welt, die man buchen kann, aber uns ist es ja verboten, die Stadt zu verlassen. Man sieht es nicht einmal gerne, wenn wir uns aus dem Herz von Eden hinauswagen.“

Herz? Dies hier war kein Herz, das war ein Gefängnis. Nicht mal die freundliche Gestaltung konnte mich über diese Tatsache hinwegtäuschen.

„Ein Ausflug in die Ruinen ist sicher ein bisschen was anderes, als dort draußen zu leben“, bemerkte Tican.

„Also ich sehe keinen Grund, warum ich Eden verlassen sollte.“ Lija verzog das Gesicht so angewidert, als würde ihr etwas Ekliges unter der Nase kleben. „Was gibt es da draußen schon außer Dreck, Müll und verfaulte Ruinen?“

„Freiheit.“ Mir wurde erst bewusst, dass ich das gesagt hatte, als sie die gesamte Aufmerksamkeit des Tisches auf mich richtete. Da war mein Mund wohl schneller als mein Gehirn gewesen und nun hatte ich den Salat. Alle starrten mich an, als würden sie auf weitere Worte warten.

Zum Glück rettete mich Lija mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Wir haben hier drinnen eine Menge Freiheiten, dazu müssen wir nicht wie Streuner im Staub kriechen.“

Miststück. „Du hast keine Ahnung, wovon du redest. Ihr lebt vielleicht in Luxus, wo euch jeder Wunsch in den Arsch geblasen wird, aber es ist ein Käfig, wie von einem hübschen, gehorsamen Haustier. Ein goldener Käfig, möge er noch so sehr glänzen, ist immer noch ein Käfig. Keiner von euch weiß, was das Wort Freiheit wirklich bedeutet, denn ihr seid Gefangene hinter diesen Mauern.“

Schweigen Runde zwei. So wie sie mich anschauten, konnte man glatt glauben, ich hätte sie mit meinen Worten schockiert.

„Jeder Mensch hat eine andere Sicht auf die Welt“, sagte Killian und wischte sich die Hände an seiner Serviette ab. „Was der eine als Unsinn abtut, ist für den anderen überlebenswichtig.“

„Unsere Mauern sind aber kein Unsinn“, bemerkte Joshua. „Sie bieten uns Schutz und Sicherheit. Vielleicht gefallen uns nicht immer alle Regeln, die man uns auferlegt, aber alles geschieht zu einem guten Zweck. Im Zusammenleben mit anderen, muss man eben auch mal Abstriche machen.“

Dieses Gespräch war sinnlos. Genauso gut hätte man sich mit einer Wand unterhalten können, die wäre genauso einsichtig gewesen.

Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl herum, während die anderen über die Vor- und Nachteile eines Lebens hinter Mauern debattierten und überlegte, wie ich mich unbemerkt aus dem Staub machen konnte. Dieses ganze Fest war reine Zeitverschwendung und mit meiner Teilnahme, hatte ich nur einen weiteren Tag geopfert, der nun unwiderruflich verloren war. Meine Zeit hätte ich wirklich besser nutzen können.

Außerdem war die Gesellschaft sehr fragwürdig. Ihre Einstellung, ja ihr ganzes Denken, war so verquer und unlogisch, dass es einfach nur verkehrt wirkte. Es war, als würden ihnen ihre Gedanken von jemand anderem diktiert werden und sie nahmen es einfach anstandslos hin.

Killian beugte sich beugte sich leicht zu mir hinüber. „Du siehst aus, als würdest du jeden Moment die Flucht ergreifen wollen.“

Mein Blick zuckte zu ihm, aber auch wenn ich über seine Erkenntnis erschrocken war, so ließ ich mir nichts anmerken.

„Es muss ziemlich überwältigend sein, mit so vielen Menschen ein Fest zu besuchen, wenn man es nicht kennt.“ Er zögerte kurz. „Vielleicht auch ein wenig gruselig.“

Das war es in der Tat, aber hauptsächlich wegen der Begleitumstände. „Ich komme klar.“

Er lächelte. „Kannst du tanzen?“

„Tanzen?“ Mein Blick huschte zur Tanzfläche, wo eine ganze Anzahl von Paaren sich zu amüsieren schien. Dabei streifte mein Blick eine Frau mit Regenbogenhaar. Carrie. Sie saß ziemlich weit hinten und beobachte mich. Hatte sie da schon die ganze Zeit gesessen? Das war es, was ich wirklich gruselig fand. Immer und überall waren irgendwelche Blicke auf mich gerichtet, die auf den kleinsten Fehler von mir lauerten, um sich darauf zu stürzen.

Killian, der nichts davon ahnte, was in meinem Kopf los war, hielt mir eine Hand hin. „Würdest du mir die Ehre eines Tanzes mit dir erweisen?“

Mein erster Impuls war es, ihm zu erklären, wohin er sich diese Bitte stecken konnte, aber dann huschte mein Blick wieder zu Carrie. Sie hatte verlangt, dass ich mich einfügte. Dies war der Preis, um meine Schwester sehen zu dürfen. Ich wusste nicht, ob dies nur eine weitere Lüge war, aber solange auch nur die kleinste Hoffnung bestand, durfte ich nicht ablehnen. „Ich kann nicht so tanzen.“

„Das musst du auch nicht. Es geht nur darum sich ein wenig zu amüsieren.“

Mist. Ich schaute nach rechts. „Was ist mit Cameron.“

Aufgeschreckt davon, dass er direkt angesprochen wurde, richtete meine Begleitung sich etwas gerader auf und schaute sich um, als würde er jederzeit mit einem Angriff rechnen. „Ich möchte nicht tanzen. Gehen sie nur.“

Das hatte ich zwar nicht gemeint, aber das jetzt in aller Deutlichkeit zu erklären, wäre für keinen der Beteiligten Hilfreich.

Killian erhob sich von seinem Platz und reichte mir erneut seine Hand. „Wenn ich dich dann bitten dürfte?“

Ich wollte nicht. Und trotzdem erwischte ich mich dabei, wie ich mich ebenfalls erhob. Seine Hand jedoch ignorierte ich, ich konnte alleine laufen.

Killian schien sich davon nicht entmutigen zu lassen. Er lächelte nur, während er mir den Weg wies und sich dann mit mir zusammen zwischen den Tischen hindurch zur Tanzfläche schlängelte.

„Warum werde ich eigentlich nicht zum Tanzen aufgefordert?“, hörte ich Roxy hinter mir fragen.

„Weil du nicht tanzen kannst“, antwortete Tican. „Du stampfst wie ein Elefant und trampelst dabei alles nieder, was dir im Weg ist. Meistens meine Füße. Au!“

„Das hast du verdient.“

Killian brachte mich an den Rand der Tanzfläche, stellte sich vor mich und hob die Arme.

Ich schaute nur unsicher von ihm zu den anderen. Die Leute waren eng beieinander und lagen sich in den Armen. Ich wollte ihn nicht berühren.

„Ich muss dich nicht anfassen, wenn du das nicht möchtest“, sagte er, als könne er meine Gedanken lesen. Dann ließ er die Hände wieder sinken. „Wir können auch so tanzen, oder einfach nur hier stehen und ein wenig in den Hüften wiegen.“

Das klang gut. Also verschränkte ich die Arme und schunkele nur ein wenig auf der Stelle hin und her.

„Ich weiß, ich habe das heute schon gesagt, aber du siehst heute wirklich hübsch aus.“ Auch er wiege sich ein wenig. „Diese Augen, exotisch wie die Nacht.“

Ich schaute ihn nur stumm an.

„Wie geht es deiner Platzwunde? Unter dem Makeup ist sie nicht mehr zu sehen.“

Ich würde wohl nicht um ein paar Worte herumkommen. „Sie verheilt.“

„Und dein Fuß?“

Was sollten diese Fragen? „Auch er verheilt.“

„Das freut mich zu hören.“ Einen Moment schwieg er. Er schien nach weiteren Worten zu suchen. „Ich habe mich gefreut, dich heute Abend hier zu sehen. Normalerweise wäre ich zu einer solchen Veranstaltung gar nicht zugelassen worden, aber meine Mutter ist eine Eva und als solche, muss sie anwesend sein.“

Ich warf einen kurzen Blick zum Tisch, wo Olive noch immer mit verklärtem Blick saß.

„Sie hat Pfleger und Betreuer, die sich im Alltag um sie kümmern, aber sie schätzt meine Gesellschaft. Ich kann sie beruhigen, wenn es sein muss, darum begleite ich sie, wann immer ich die Zeit dafür finde.“

„Ist sie gefährlich?“

„Für andere? Nein.“ Killian schüttelte den Kopf. „Sie kann sich nur nicht um sich selber kümmern. Sie ist wie ein kleines Kind, dass man ständig im Auge behalten muss, damit es sich nicht wehtut.“

„Und dann soll sie selber Kinder bekommen?“ Das erschien mir ziemlich dumm. Wenn sie sich nicht um sich selber kümmern konnte, wie sollte sie sich dann um jemand anderen kümmern? Müßige Frage, schließlich wurde einem hier die Last der Nachkommen direkt nach der Geburt abgenommen – egal ob man wollte oder nicht.

„Sie ist eine Eva“, sagte Killian, als würde das alles erklären. „Sie ist wichtig für …“

„Dr. Vark“, unterbrach ihn eine krächzende Reibeisenstimme.

Sowohl Killian, als auch ich, drehten uns nach ihr um. Agnes Nazarova stand neben uns auf ihrem Stock gestützt.

„Despotin Nazarova.“ Killian neigte seinen Kopf zu einer halben Verbeugung. „Ich gratuliere ihnen herzlichst zu ihrem Geburtstag.“

„Vielen Dank.“ Ihr Blick richtete sich auf mich. Unter diesem Blick bekam ich eine Gänsehaut – aber nicht von der guten Sorte. „Ich würde mich gerne einen Moment mit ihrer Tanzpartnerin unterhalten. Allein.“

„Natürlich.“ Wieder neigte Killian sein Kopf ganz leicht. Dann bedachte er mich mit einem kurzen Blick und verkündete. „Ich werde uns etwas zu trinken holen.“

„Tun sie das.“

Killian wirkte nicht sehr zufrieden, verließ aber mit einem aufmunternden Lächeln in meine Richtung, die Tanzfläche.

„Folgen sie mir“, befahl Agnes, kehrte mir den Rücken und machte sich auf ihren Stock gestützt auf den Weg in den hinteren Teil des Saals.

Mir gefiel es gar nicht so herumkommandiert zu werden und ich musste mir auf die Zunge beißen, um meinen Mund geschlossen zu halten. Das gelang mir auch nur, weil es sicher nicht ratsam war, ausgerechnet diese Frau zu verärgern. Also schluckte ich alles herunter und folgte ihr zu einem abseitsstehenden Tisch, der ein wenig Privatsphäre versprach, ohne sich damit von den Feierlichkeiten abzuspalten.

Agnes ließ sich auf dem rechten Stuhl nieder. Dabei wirkte sie nicht nur würdevoll, sondern auch noch erhaben. Ich hatte das Gefühl, selbst wenn sie in einem Misthaufen sitzen würde, hinge noch die Königswürde an ihr.

Sobald ich mich ihr gegenüber niedergelassen hatte, musterte sie mich wie einen wertvollen Schatz, begierig und habsüchtig. Als sei ich ein Preis für etwas, das ich nicht verstand.

„Sie sind also Kismet.“

Etwas an dem wie sie meinen Namen aussprach, ließ mir die Härchen im Nacken zu Berge stehen. Instinktiv wollte ich zurückweichen, aber im Sitzen war das gar nicht so einfach.

„Es ist nicht sehr höflich, stumm dazusitzen, wenn man angesprochen wurde. Aber nun gut, dies alles ist noch sehr neu für sie, daher werde ich ihnen ihr Verhalten ausnahmsweise verzeihen.“

Wie nobel und anständig von ihr.

„In der Zwischenzeit dürften sie ein Einblick in das Leben hier in Eden und in ihre Zukunft erhalten haben.“

Oh ja. Alle Städter waren verzogene Kleinkinder, die einen Wutanfall bekamen, wenn es nicht nach ihrer Nase lief.

„Haben sie dazu gar nichts zu sagen?“

„Ich weiß nicht, was du hören willst.“

„Ihre Meinung, und bitte duzen sie mich nicht.“

„Meine Meinung?“ Fast hätte ich geschnaubt. „Ich habe keine Meinung, aber ich habe eine Bitte.“

„So?“ Sie zog die Augenbrauen ein wenig höher. „Ich höre.“

Das musste ich jetzt sehr sorgfältig angehen. „Ich weiß, die Arbeit, die du und auch alle anderen hier machen ist wichtig.“

„So, wissen sie das?“

Ich ließ mich von ihr nicht aus dem Konzept bringen. Ich hatte nur diese eine Chance und davon hing viel ab. „Aber weder ich noch Nikita gehören hier her. Wir sind nicht wie die Menschen in dieser Stadt und ich glaube, es wäre für alle Beteiligten das Beste, wenn Nikita und ich wieder gehen dürften.“

Agnes Augen blitzten auf. „Ich habe bereits gehört, dass sie einige Schwierigkeiten damit haben, sich zu intrigieren. Natürlich ist es für sie eine Umstellung, sich auf dieses neue Leben einzulassen, aber auch wenn sie das jetzt noch nicht so sehen, werden sie sich schon daran gewöhnen.“

Das war so gar nicht das, was ich hören wollte. Aber ich musste ruhig bleiben. Hier jetzt auszuflippen, würde nichts bringen. „Ich glaube nicht, dass ich oder Nikita uns an dieses Leben gewöhnen werden, denn es ist nicht das was wir wollen.“

Ihre dünnen Lippen verzogen sich zum Ansatz eines Lächelns, doch es war nicht freundlich gemeint. „Meine Tage, in denen ich Kinder in diese Welt gesetzt habe, sind vorbei, aber genau wie sie nun eine sind, war auch ich eine Eva. Als Evas haben wir eine Verantwortung gegenüber der Menschheit. Es geht nicht darum, was wir wollen, es geht um das, was wir sind und was wir tun können. Wir haben eine Pflicht zu erfüllen, sie genauso wie ich. Wir sind kein kläglicher Rest, wir sind die zweite Chance. Das ist unsere letzte Chance und ich werde alle mir zur Verfügung stehenden Mittel verwenden, um sie zu nutzen. Ich habe in meinem Leben viele Opfer gebracht, um an diesen Punkt zu gelangen.“ In ihren Augen glomm etwas auf, das ich nicht deuten konnte. „Und sie Kismet, sind nun ein wichtiger Teil unserer Zukunftsvision.“

„Und wenn ich nicht Teil dieser Vision sein will?“

„Ich habe Mittel und Wege, um ihre Meinung zu ändern.“ Sie beugte sich mir ein wenig entgegen, als wollte sie mir etwas Vertrauliches anvertrauen. „Und ich werde alles einsetzen, was nötig ist, um unsere Ziele zu erreichen.“

Nur das ihre Ziele nicht die meinen waren. Ich sprach es nicht aus und das war auch gar nicht nötig. Sie schien genau zu wissen, was in meinem Kopf vor sich ging. Und dieser Blick, mit dem sie mich dabei bedachte … es lief mir eiskalt den Rücken herunter. Diese Frau mochte alt sein, aber sie war gefährlich. Und sie würde weder mich, noch Nikita gehen lassen.

Während ich meine Möglichkeiten schwinden sah, nährte sich uns von der Seite eine blonde Frau in einem hellen Abendkleid. Ich musste zwei Mal hinschauen, um in dieser eleganten Frau Dascha zu erkennen. Ohne ihre Trackeruniform sah sie ganz anders aus.

„Hallo Mutter“, begrüßte Dascha die uralte Frau und beugte vor ihr respektvoll ihr Haupt. „Ich hoffe es geht dir gut.“

Mutter? Das war Daschas Mutter?! Die Frau war so alt, die könnte ihre Urgroßmutter sein.

„Ich bin noch nicht tot, falls es das ist was du meinst.“ Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und bedachte ihre Tochter mit einem Hochmut, der viele Jahre Übung erforderte. „Es wird noch ein Weilchen dauern, bis du meine Grabrede halten kannst.“

Dascha drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und senkte den Blick. „Das habe ich nicht gemeint.“

„Natürlich nicht.“ Sie machte mit der Hand eine Bewegung, als wollte sie eine lästige Fliege verscheuchen. „Warum belästigst du mich? Ich bin gerade beschäftigt.“

Wow, das war mal eine liebevolle Mutter. Aber was konnte man schon erwarten, wenn man zu den eigenen Kindern keine Beziehung aufbaute, weil sie einem direkt nach der Geburt weggenommen wurden?

„Frau Gersten sucht nach dir. Es ist gleich Zeit für den Auftritt der Kinder. Sie wollen dir ein Geschenk überreichen.“

Agnes schien nicht zu gefallen, was Dascha zu sagen hatte. Offensichtlich war sie noch nicht mit mir fertig gewesen. Trotzdem gab sie ein „Nun gut“ von sich und erhob sich für eine Frau ihres Alters recht agil. „Dann muss das wohl sein. Kismet, wird setzen unsere Unterhaltung beizeiten fort. Bis dahin sind sie vielleicht einsichtig geworden und haben ihre destruktive Einstellung überdacht.“

Darauf konnte sie lange warten.

„Ich wünsche ihnen noch viel Spaß auf meiner Feier.“ Das schmallippige Lächeln erreichte ihre Augen nicht. Dann ließ sie mich zurück und stolzierte hoch erhobenen Hauptes durch die Menge. Dascha warf mir noch einen kurzen Blick zu, bevor sie ihrer Mutter folgte.

Mir dagegen war jetzt noch weniger zum Feiern zumute, als bisher. Ich wollte hier einfach nur noch weg. Nicht nur aus dem Festsaal, ich wollte weg aus Eden. Ja, klar, das war mal etwas ganz Neues, aber in diesem Moment spürte ich den Drang zur Flucht, stärker als jemals zuvor. Irgendwo in mir hatte ich wirklich die Hoffnung gehabt, ein Gespräch mit der Despotin, würde mir Türen öffnen, doch nun hatte ich das Gefühl, sie wären fester verschlossen als jemals zuvor. Agnes Nazarova würde weder mich noch Nikita ziehen lassen.

„Was hast du angestellt, um jetzt schon ihren Unmut auf dich zu ziehen?“

Ich drehte mich nach der Stimme um und entdeckte den Mann mit dem Blinden Auge – wenn ich mich nur daran erinnern könnte, wie der hieß – keine zwei Meter neben mir, wie er lässig mit verschränkten Armen an einem dekorierten Stützpfeiler lehnte. „Ich weiß nicht was du meinst.“

Er stieß sich von der Säule ab und kam mit geschmeidiger Lässigkeit auf mich zugeschlendert. Dann blieb er so dicht vor mir stehen, dass ich den Kopf in den Nacken legen musste, um zu ihm hochzuschauen. „Die Frau ist ein Gletscher, der gerade eine neue Eiszeit eingeläutet hat.“ Ein Grinsen zupfte an seinem Mundwinkel. „Mit Anspielungen kommt man bei dir vermutlich nicht weiter. Um diese zu verstehen, muss man über eine gewisse Intelligenz verfügen.“

Was war denn mit ihm falsch? „Ich bin nicht dumm.“

„Ach nein? Dann bist du wohl nur naiv. Du kannst nicht wirklich geglaubt haben, sie würde dich gehen lassen, nur weil du sie nett darum bittest. Für sie bist du nur ein kleiner Käfer, den sie unter ihrer Sohle zertreten kann.“

Seine Worte trieben mich in die Defensive, doch bevor ich etwas Schlagfertiges darauf erwidern konnte, rief nicht weit von uns entfernt eine Frau „Sawyer!“, woraufhin der Mann sich nach ihr umdrehte.

Richtig, sein Name war Sawyer.

Die Frau mit dem kurzen, schwarzen Haar kam zu uns und schmiegte sich an Sawyer, als wollte sie ihr Revier markieren. „Komm schon, ich will tanzen.“

„Dein Wunsch ist mir wie immer Befehl.“ Er hakte die Frau bei sich unter und kehrte mir dem Rücken. Im Weggehen sagte er noch: „Bis dann, kleiner Käfer.“

Meine Hände schlossen sich zu Fäusten. In mir begann ein Vulkan an Gefühlen zu brodeln, der kurz vor dem Ausbruch stand. Ich hatte das Gefühl, aus voller Kehle zu schreien, aber niemand schien mich zu hören. Ein einzelner Tropfen, in einem riesigen Ozean, zu unbedeutend, als dass man ihn beachten müsste. Aber dieser Tropfen würde sich nicht unterkriegen lassen. Ich würde nicht brechen, ganz egal was sie taten oder sagten. Ich würde mich nicht in eine Form pressen lassen, in die ich nicht passte, denn dann würde ich nicht nur meine Freiheit, sondern meine gesamte Identität verlieren. Das würde nicht passieren. Niemals.

 

oOo

Kapitel 24

 

„Kiss!“ Mit weit ausgebreiteten Armen, überwand Nikita die wenigen Meter, die uns voneinander trennten und schlang ihre Arme dann so fest um meinen Hals, dass sie mich fast erwürgte. Hätte ich sie nicht so sehr vermisst, hätte ich mich vielleicht beschwert, aber so drückte ich sie einfach nur an mich und wollte sie nie wieder loslassen.

„Ist es nicht unglaublich hier?“, fragte sie und ließ ein wenig von mir ab. „Du musst mir alles erzählen, was du erlebt hast. Cosmo sagt, die Geburtstagsgala der Despotin ist das Event des Jahres und alle waren voll neidisch, dass du hingehen durftest.“

Wer waren alle?

Aus dem Wagen, aus dem Nikita eben geradezu gesprungen war, stieg Dimitri, der Leiter des Kinderhauses und kam gemächlichen Schrittes auf uns zu.

Wir standen vor dem Turm der Evas. Mein Unterricht für heute war vorbei und bis heute Abend, wenn ich wieder ins Paradise musste, um Geselligkeiten zu pflegen, durfte ich endlich Nikita sehen. Ich hatte kaum noch daran geglaubt, dass dieses Treffen jemals zustande kommen würde, nachdem ich immer vertröstet worden war, doch nun war ich hier und sie war hier und ich ignorierte sowohl Carrie, als auch Dimitri. Ich war einfach nur glücklich, sie endlich wieder bei mir zu haben.

„Die Gala war eigentlich gar nicht so toll“, sagte ich, weil ich dieses Thema möglichst schnell abwiegeln wollte. Bis in die frühen Morgenstunden hatte ich dableiben müssen. Mir war nun wirklich nicht danach, mich schon wieder damit befassen zu müssen. Stattdessen schaute ich mir Nikita genauer an. Heute trug sie einen einteiligen, schulterfreien Hosenanzug in einem satten Rotton. Ein goldener Gürtel hing locker um ihre Hüfte und das kleine Gerät in ihrer Hand wirkte völlig fehl am Platz. In diesem Moment sah sie so sehr nach eine von ihnen aus, so integriert, dass es mich fröstelte. Das Einzige was noch an meine Schwester erinnerte, war ihr wilder Afro. „Behandeln sie dich gut?“

„Natürlich tun wir das“, antwortete Dimitri für sie. Er hatte die Freitreppe erreicht und stand nun neben uns. „Kinder sind wichtig. Es ist egal woher sie stammen, wir würden niemals etwas tun, dass ihnen schaden könnte.“

„Gut zu wissen.“ Nur schade für ihn, dass ich ihm kein Wort glaubte.

„Nikita?“ Dimitri wandte sich direkt an sie. „Würdest du uns einen Moment entschuldigen? Ich würde gerne ein paar Worte mit deiner Schwester wechseln.“

„Oh.“ Nikita löste sich von mir und schaute von einem zum anderen. „Klar, ich warte einfach dort drüben.“

„Es wird sicher nicht lange dauern, Liebes“, fügte Carrie noch mit einem Lächeln hinzu.

Nikita schenkte mir ein schiefes Grinsen, dann ging sie hinüber zum Brunnen, wo sie sich auf den Rand setzte und mit der Hand durch das klare Wasser glitt.

Ich beobachtete sie einen Moment, bevor ich die Arme vor der Brust verschränkte und abwartend dastand.

Dimitri blieb völlig entspannt, als wäre er voll und ganz in seinem Element. „Nikita ist ein tolles Mädchen.“

„Das weiß ich.“

„Oh, eine Klugscheißerin. Wenn sie das wissen, dann wissen sie sicher auch, was ich sonst noch sagen wollte.“

Warum war ich eine Klugscheißerin, wenn ich ihm zustimmte?

„Nicht? Dann wäre es äußerst nett von ihnen, wenn sie mich aussprechen lassen würden. Also, was ich sagen wollte, Nikita ist ein gutes Mädchen. Sie ist intelligent, aufgeschlossen und charismatisch. Zwar ist sie erst seit wenigen Tagen bei uns, doch ihr guter Wille zeichnet sich bereits jetzt deutlich ab. Natürlich hat sie noch ein paar Schwierigkeiten, was nicht anders zu erwarten war, wenn man bedenkt, woher sie kommt, aber wenn sie so weiter macht, steht einer guten Entwicklung nichts im Weg.“

Worauf wollte er hinaus?

„Eines allerdings bereitet mir Sorgen. Immer wenn sie mit ihnen gesprochen hat, ist sie anschließend sehr in sich gekehrt und zieht sich von den anderen zurück.“

„Sie vermisst einfach ihre Schwester“, mischte Carrie sich ein. „Die beiden haben ein sehr enges Verhältnis.“

„Das stimmt. Nur deswegen habe ich diesem Treffen zugestimmt. Nikita braucht sie. Sie sind in ihrem Leben eine wichtige Bezugsperson und es würde ihr schaden, wenn ich den Kontakt verbieten müsste.“

„Verbieten?“ Was zum Henker? „Was willst du damit sagen?“

„Nikita braucht sie, es ist wichtig, dass sie ihre Unterstützung erhält, aber ich werde es nicht dulden, wenn sie sich ihrer Entwicklung in den Weg stellen.“

„Nicht dulden?“

„Als Eva sind sie nicht unantastbar, nicht wenn es um unsere Kinder geht.“ Er neigte ganz leicht den Kopf. „Ich werde Nikita gegen sechs wieder abholen. Einen schönen Tag wünsche ich ihnen.“ Damit drehte er sich um und ging zurück zu dem wartenden Wagen.

Ich konnte ihm nur nachstarren und mich fragen, was das gerade gewesen war.

„Sie sollten sich mit Dimitri gut stellen, sonst könnte er ihnen das Leben sehr schwer machen“, erklärte Carrie, sobald der Wagen gestartet wurde.

„Das geht noch schwerer?“

„Er könnte sie von Nikita fernhalten, wenn er das für das Beste für sie hält. Dazu muss er nur ein Gutachten erstellen, das besagt, sie würden einer positiven Entwicklung ihrer Schwester im Weg stehen. Da sie sich bisher nicht sehr gut eingegliedert haben, wäre das für ihn nicht weiter schwer. Niemand würde ihm widersprechen.“

„Was?!“ Das war doch wohl ein schlechter Scherz. „Aber ich habe doch gar nichts gemacht. Ich habe kaum zwei Worte gesagt!“

„Das ist richtig, aber sie waren aufmüpfig und das mag er nicht.“

„Aufmüpfig? Weil ich ihm zugestimmt habe?“

Sie warf mir einen kurzen Blick zu. „Dimitri hat sein eigenes Weltbild von Ordnung und mag es gar nicht, wenn man ihn das durcheinander bringt. Dies hier ist seine Domäne, seine Regeln. Die Despotin hört auf ihn, deswegen sollten sie auf meinen Rat hören. Ich versuche ihnen zu helfen und nicht ihnen das Leben noch schwerer zu machen.“

Aber natürlich. „Niemand versucht mir hier irgendwas einfach zu machen“, erwiderte ich bitter.

„Das kommt ihnen nur so vor, weil sie sich nicht auf Eden einlassen. Etwas in ihnen sperrt sich dagegen. Deswegen bin ich da. Ich werde ihnen helfen.“

Auf diese Art der Hilfe konnte ich dankend verzichten. Sie wollte mich nur zu einer weiteren Marionette dieser Stadt machen. Eine hirnlose Figur, die man nach Belieben lenken konnte, ohne dass sie einen Gedanken an die Richtigkeit ihrer Taten verschwendete. Leider würden sie bei mir da auf Granit beißen. Ich war nicht wie die Menschen hier, ich war ganz anders.

Mit grimmiger Mine drehte ich mich zum Brunnen herum und winkte Nikita zu mir. Sie kam angesprungen, wie ein kleines Reh.

„Was wollte Dimitri?“

Mir drohen. Schade, dass ich das vor Carrie nicht laut aussprechen durfte. „Er hat mir nur gesagt, dass er dich mag und dass er dich später wieder abholen wird.“

So wie Nikita mich anschaute, glaubte sie mir kein Wort. Wahrscheinlich hatte sie den Ton in meiner Stimme wahrgenommen. „Okay. Und was machen wir jetzt?“

Okay? Seit wann benutzte sie dieses Wort? Das hatte ich noch nie aus ihrem Mund gehört. „Wir gehen hoch. Ich zeige dir meine Suite.“

„Dann werde ich mich jetzt erstmal verabschieden. Ich bin dann um sechs wieder da.“ Carrie nickte uns beiden zu und ging dann hinüber zum Fahrdienst.

Ich nahm Nikitas Hand und wandte mich dem Eingang zu. Dabei bemerkte ich einen weißen Lieferwagen, der seitlich am Gebäude parkte. Ein paar Leute verluden große Container mit Wäsche. Carrie hatte ja davon erzählt.

Der Gardist, mein ewiger Schatten, beobachtete genau, wie wir die Freitreppe hinaufstiegen. Befürchtete er etwa, wir könnten uns sonst einfach in Luft auflösen? Ich ignorierte ihn. Die ständigen Blicke der anderen waren mittlerweile so allgegenwärtig, dass ich kaum noch darauf einging. Wahrscheinlich härtete ich langsam einfach ab.

„Sagst du mir jetzt, was Dimitri gesagt hat?“

Die automatischen Türen öffneten sich und ich schob Nikita hinein. „Dass ich dir keine Flausen in den Kopf setzten soll.“

Sie verdrehte die Augen, als wollte sie sagen, alle Erwachsenen waren doch gleich. „Oh, hier schau mal, das habe ich bekommen.“ Sie hielt mir ihr Handgelenk vor die Nase und präsentierte mir einen … hm, es hatte Ähnlichkeit mit einem Zeitmesser. „Das ist eine Survival-Uhr. Damit kann ich Musik machen und …“

„Die Zeit ablesen?“

Ein breites Grinsen. „Das ist auch eine Funktion.“ Sie tippte auf einen der Knöpfe und die Uhr wechselte ihre Farbe von Schwarz zu rot. „Sie ändert nicht wirklich ihre Farbe, das machen die Leuchtioden darin. Cosmo hat es mir erklärt.“

„Aha.“

„Und hier.“ Sie drückte einen weiteren Knopf, woraufhin irgendeine Scheußlichkeit von Musik aus dem Teil plärrte. „Das ist der neueste Hit von der Gruppe Nemesis One. Alle lieben diese Band.“

Oh Himmel, was nur redete sie da für ein dummes Zeug? „Wer ist Cosmo?“

Sie steuerte den Aufzug an, aber ich drängte sie Richtung Treppe. Ich fand es noch immer unheimlich, mich in einen kleinen Raum zu begeben, der sich von alleine bewege. Und die siebente Etage war ja auch nicht allzu hoch.

„Cosmo ist mein Kumpel. Er ist hier geboren und erklärt mir alles, wenn ich etwas nicht verstehe. Das alles hier ist so unglaublich aufregend, findest du nicht auch? Sie werden mit mir Test machen, um herauszufinden, für welchen Bereich ich am besten geeignet bin. Ich werde Lesen und Schreiben lernen und dann bekomme ich eine Ausbildung entsprechend meiner Fähigkeiten. Natürlich mache ich diesen Test erst mit sechzehn, aber ich lerne jetzt schon dafür.“

Einen Moment glaubte ich mich täuschen zu müssen. Das konnte nicht wirklich Freude sein, die ich da in ihrer Stimme hörte.

„Ich bin so gespannt darauf zu erfahren, für was ich mich am besten eigne. Ich habe so viel erfahren. Das alles ist so …“

„Nikita.“

„Ja? Ach so, äh, ja. Was hast du heute so gemacht?“

Ich schüttelte den Kopf, versicherte mich mit einem schnellen Blick, dass wir allein waren und zog sie weiter die Treppe hinauf.

„Hey, zerr nicht so an mir.“

„Wie kommst du darauf, dass du hier mit sechzehn irgendeinen dummen Test machen wirst? Das ist noch fast ein Jahr. Bis dahin sind wir schon lange verschwunden.“

„Das weiß ich doch.“ Es hätte nicht mehr viel gefehlt, dann hätte sie die Augen verdreht. „Ich passe mich im Moment einfach nur an. Das gleiche solltest du auch machen, erinnerst du dich?“ Sie befreite sich von meinem Griff und stapfte an mir vorbei.

 Ich war mir nicht sicher, ob sie das ernst meinte, oder ob sie mich das nur glauben lassen wollte. Dieser Ort hatte sie schwer beindruckt, das hörte ich jedem ihrer Worte an. Aber vielleicht täuschte ich mich auch, weil ich Angst hatte. Ich sah Gespenster, wo keine waren. Ich musste ihr einfach vertrauen.

„Welche Etage müssen wir?“

„Siebente.“

Sie stöhnte. „Wir hätten den Fahrstuhl nehmen sollen.“

Auf keinen Fall.

Wir erreichten mein Stockwerk auch ohne Aufzug und Nikita war sofort hellauf begeistert von meiner Suite. Sie durchsuchte jedes Zimmer, öffnete jeden Schrank und stibitzte sich etwas von dem Essen, bevor sie in meinem begehbaren Kleiderschrank endete und sich meine Kleidung ansah. „So tolle Sachen habe ich nicht bekommen.“ Sie hielt eine schulterfreie Bluse in der Hand und musterte sich damit vor dem mannhohen Spiegel. „Meinst du, ich kann mir das ausleihen?“

„Wenn du willst.“ Ich lehnte am Türrahmen und beobachtete sie mit Argusaugen. Dieses Verhalten, das war das Mädchen, das ich kannte, immer auf der Suche nach einem neuen Schatz.

„Ich habe einen Lehrfilm über die Wende gesehen. Wusstest du, dass der Untergang der Menschheit gar nichts mit Gaia zu tun hat, sondern auf einen Virus zurückzuführen ist?“

„Ist mir zu Ohren gekommen.“

Sie legte die Bluse zur Seite und zog ein kurzes Kleid hervor. „Ist das nicht verrückt? Alle Streuner irren sich.“

Dieses eine Wort versetzte mir einen Schlag. Sie hatte uns Streuner genannt, schon wieder. Nein, nicht uns, sie hatte die Menschen außerhalb dieser Mauern Streuner genannt, als wären wir nun etwas Anderes, etwas viel Besseres.

„Damals ist es ziemlich heftig zur Sache gegangen. Anfangs hat keiner so recht verstanden, was da los war und als sie es dann merkten, war es schon zu spät. Wusstest du, dass fast die Hälfte der Menschheit gar nicht dem Virus zum Opfer gefallen ist, sondern aus den daraus resultierenden Kriegen? Als die Ressourcen knapp wurden, haben alle gegeneinander gekämpft, um das zu bekommen, was noch übrig war.“

„Nein, das war mir nicht bewusst.“ Glaubte sie wirklich, wir seien nun anders, weil wir in Eden waren? Warum sprach sie die ganze Zeit über das Leben hier, anstatt zu fragen, wie wir entkommen konnten?

„Oh, das habe ich dir ja noch gar nicht erzählt, sie wollen mich in das Eltern-Programm aufnehmen.“ Sie hängte das Kleid zurück und tauschte es gegen ein anderes aus.

Ich schaute sie fragend an. „Das was?“

„Das Eltern-Programm. Das ist …“ Sie wedelte mit einer Hand, wähnend sie nach den richtigen Worten suchte. „Pass auf. Die Evas bekommen viel zu viele Kinder, um sich um alle kümmern zu können, darum bleiben nur die fruchtbaren bei ihnen. Die anderen gehen ins Kinderhaus. Aber für Kinder ist es immer besser, wenn sie in einer Familie aufwachsen. In der Stadt gibt es viele Leute, die gerne Kinder hätten, aber keine bekommen können, weil sie ja unfruchtbar sind. Die können sich beim Kinderhaus bewerben und dann bekommen sie da ein Kind und ziehen es wie ihr eigenes auf.“

Ich blinzelte.

„Alle Kinder finden meist in den ersten Wochen nach ihrer Geburt eine neue Familie in der Stadt, nur die fruchtbaren Babys bleiben bei ihren Müttern um Herz. Deswegen gibt es im Kinderhaus außer mir, im Moment auch nur sechs andere Kinder. Alles Streuner wie ich. Die Kinder aus Eden gehen nur nach der Schule ins Kinderhaus, wenn ihre Eltern noch arbeiten. Cosmo hat auch eine Familie und ist nur nachmittags da.“

Oh Gaia, sie konnte nicht wirklich das meinen, was ich glaubte aus ihren Worten heraus zu hören.

„Kinder wie ich, müssen erst eine Eingewöhnungszeit hinter sich bringen, bevor sie ins Eltern-Programm aufgenommen werden. Das sind meistens ein paar Wochen. Wenn ich die absolviert habe, dann bekomme auch ich neue Eltern und ziehe in die Stadt. Ist das nicht ein tolles System? So ist allen geholfen.“

Eiskaltes Entsetzen packte mich. „Sag mir, dass das ein Scherz sein soll.“

Nikita hob den Blick von dem Kleid in ihrer Hand und erst jetzt schien ihr klar zu werden, was sie da gerade gesagt hatte. „Ich sage ja nicht, dass ich eine neue Familie will, ich wollte dir nur sagen, was sie für mich geplant haben.“

Ich glaubte ihr nicht und mir das einzugestehen, war wohl das Schlimmste an dieser Situation.

Natürlich war es hier drinnen etwas ganz anderes, als dort draußen, vor den Mauern. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, die kleinen Vorteile hier nicht ein wenig zu genießen. Aber jede noch so kleine Gabe in dieser Stadt – sei es nun das Essen, das warme Wasser, oder das weiche Bett – war mit einem dicken, fetten Preisschild versehen und ich war nicht bereit, diesen Preis zu bezahlen. Nicht wenn deswegen alles auf dem Spiel stand, was ich liebte und ich deswegen Zwängen unterlag, gegen die ich nicht aufbegehren durfte.

In diesem Moment wurde mir etwas deutlich klar: Ich würde Nikita verlieren. Vielleicht nicht heute und vielleicht nicht morgen, aber früher oder später würde ich sie an die Stadt und die Menschen hier verlieren. Ihre Begeisterung von diesem Ort und seinen Wundern, machte mir das nur allzu bewusst. Ich musste etwas unternehmen und zwar ganz dringend, doch im Moment waren mir die Hände gebunden. Was also sollte ich tun?

Diese Frage beschäftigte mich den ganzen Nachmittag. Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie besorgt ich war und schaffte es sogar zu lächeln, als Dimitri sie am Abend wieder abholte, doch das ungute Gefühl wollte einfach nicht verschwinden.

Als ich wenig später wieder im Paradise auf der Fensterbank saß und durch das Fenster hindurch den Koiteich unter der Glaskuppel beobachtete, war ich einer Lösung keinen Schritt nähergekommen. Ich musste endlich aktiv werden. Nur herumzusitzen und auf eine Gelegenheit zu hoffen, brachte nichts. Aber wo sollte ich ansetzen? Ich verstand von Eden und seinen Sicherheitsvorkehrungen einfach zu wenig, um mir einen halbwegs guten Fluchtplan zu entsinnen. Wenn ich doch nur …

„Hey du.“

Vor Schreck zuckte ich zusammen und stieß mir auch noch den Ellenbogen am Fenster, als ich herumwirbelte. Neben mir stand Roxy mit einem breiten Grinsen. Heute trug sie eine kurze Hose und ein so langes Hemd, dass die Hose darunter fast verschwand.

„Hast du Lust mit uns mitzuspielen?“ Sie nickte mit dem Kopf zu den Tischen mit den Kugeln und Stöcken, an dem Sawyer und Tican standen und uns beobachteten. „Uns fehlt noch ein Mitspieler.“ Sie wirkte ziemlich optimistisch.

Zu ihrem Pech, musste ich ihrem Optimismus einen herben Dämpfer verpassen. „Ich habe keine Lust auf ein sinnloses Spiel, dessen einziger Inhalt darin besteht, den Leuten wertvolle Lebenszeit zu stehlen.“

Das hatten die beiden Männer an dem Tisch natürlich vernommen, nur war Sawyer der Einzige, der sich zu einer Erwiderung herabließ – zu einer sehr gehässigen. „Du hast vollkommen recht, sich die ganze Zeit selbst zu bemitleiden und depressiv durchs Fenster zu starren, ist viel sinnvoller, um sein Leben zu verschwenden.“

Mein Schnauben sagte alles. Als wenn ich mich mit so einem Blödsinn ködern lassen würde. Außerdem war mir seine Meinung, genau wie die aller anderen, völlig egal.

Roxy jedoch warf ihrem Freund einen bösen Blick zu, der ihm wohl mitteilte, dass er die Klappe halten sollte, wenn er nichts Konstruktives beizutragen hatte. „Ignoriere Sawyer und mach einfach mit. Komm schon, du wirst sehen, es wird dir Spaß machen.“

Das bezweifelte ich.

„Du verschwendest deine Zeit“, ließ Sawyer sie wissen. „Sie kennt die Regeln nicht und hat Angst zu verlieren. Sie ist einfach feige.“

Feige? Bei diesem Wort stellten sich mir die Sprichwörtlichen Stacheln auf. Ich funkelte ihn an. „Ich bin nicht feige, nur weil ich euer bescheuertes Spiel nicht mitspielen will.“

„Wenn du dir das einreden willst, habe ich damit kein Problem. Komm schon Roxy, überlass sie ihrem Selbstmitleid und lass uns weiterspielen.“

Selbstmitleid? Dieser Mistkerl. Gestern beleidigte er mich und heute bezeichnete er mich auch noch als Feigling. Dem würde ich eine Lektion verpassen, die er so schnell nicht vergaß. „In Ordnung, ich spiele mit.“ Ich schwang die Beine von der Fensterbank. „Zeig mir wie das geht.“

Roxy gab ein Quietschen von sich und klatschte mit einem kleinen Hüpfer in die Hände. „Super. Komm mit, es ist ganz einfach.“ Sie griff nach meiner Hand, aber ich wich sofort aus. Mitspielen? Das konnte ich noch verschmerzen, aber ich würde mich nicht von ihr anfassen lassen.

Von meiner Abfuhr ließ Roxy sich nicht entmutigen. Sie tänzelte einfach neben mir her, bis wir den Tisch erreicht hatten. „Also“, sagte sie. „Das ist Billard.“ Und dann erklärte sie mir die Regeln.

Ich hörte aufmerksam zu. Es klang nicht weiter kompliziert. Eigentlich musste man nur gut zielen und dabei die Strecke der Kugeln beachten, ähnlich wie beim Bogenschießen. Das sollte ich hinbekommen.

Die erste Runde spielte Sawyer gegen Tican, damit ich mir ein Bild von dem Spiel machen konnte. Danach waren Roxy und ich an der Reihe. Ich nahm meine Position ein und führte den Queue über meine Finger, genauso wie sie es mir gezeigt hatten. Die weiße Kugel fand ihr Ziel, hüpfte dann aber vom Tisch.

„War ja klar gewesen“, murmelte Sawyer gehässig.

Ich warf ihm einen bösen Blick zu.

„Ach lass dir nichts einreden,“, sagte Roxy und rammte Sawyer nicht allzu sanft den Ellenbogen in die Seite. „Für dein erstes Mal, war es gar nicht so schlecht.“

„Doch, war es“, widersprach ich. Ich brauchte keinen Zuspruch von ihr, was ich brauchte war, ein Gefühl für die Materie zu bekommen. Im ersten Spiel jedoch hatte ich damit noch so meine Schwierigkeiten. Im zweiten lief es schon besser, aber gegen Sawyer hatte ich keine Chance.

Danach stand ich an der Seite und schaute Roxy und Tican dabei zu, wie sie sich ein hochdramatisches Duell lieferten. Es schien ihnen wirklich Spaß zu machen.

„Du bist ein Streuner.“

Ich runzelte die Stirn und schaute nach links. Sawyer hatte sich direkt neben mich gestellt. Die Narben in seinem Gesicht waren leicht erhaben. Woher er die wohl hatte?

„Ich sehe es in deinen Augen. Die Wildheit, das Verlagen nach Freiheit.“ Er trat einen Schritt auf mich zu, was mich unwillkürlich zurückweichen ließ. „Dein ungebrochener Widerstand.“

Hä? „Das siehst du alles in meinen Augen?“

„Nö. Agnes hat mir gesagt, dass du ein Streuner bist. Aber es war interessant deinen blöden Gesichtsausdruck zu sehen.“ Er musterte mich. Dann verzogen seine Lippen sich zu einem herablassenden Lächeln. Die Arroganz schien ihm geradezu aus jeder Pore zu triefen. „Du hast doch nicht etwa Angst vor mir?“

„Warum sollte ich vor einem Städter Angst haben? Wegen deiner Narben? Tut mir leid dir das sagen zu müssen, aber ich habe schon weitaus furchterregendere Dinge gesehen.“ Ja, auch ich konnte herablassend sein.

Roxy gab ein Quieken von sich und führte ein kleinen Siegestanz auf, als sie eine Kugel in der Seitentasche versenkte.

„Ich bin kein Städter.“

Es dauerte einen Moment, bis die Bedeutung dieser Worte bis zu mir durchdrang. Kein Städter. Aber wenn er nicht hier in Eden geboren worden war, dann bedeutete das … „Du stammst aus der freien Welt.“ Er war wie ich. Ein kleiner Hoffnungsschimmer glomm in mir auf. Vielleicht konnte er mir helfen zu entkommen.

Nun mal langsam. Nur weil du unfreiwillig hier bist, muss das noch lange nicht für ihn gelten. Es war traurig mir das eingestehen zu müssen, doch es war die Wahrheit. Nicht alle von uns waren unter Zwang in die Stadt gebracht worden.

Die Eindringlichkeit in Sawyers Blick nahm zu. Er wirkte entspannt, aber auch wachsam. „Du bist nicht freiwillig hier.“

Diese Feststellung bedarf keiner Erwiderung.

„Erzähl mir, wie du in ihre Fänge geraten bist.“

Wow, da war aber jemand herrisch. „Ich reagiere allergisch auf Befehle.“

„Hast du versucht zu entkommen?“

Was? Von der Geschwindigkeit seiner Themenwechsel konnte man ja ein Schleudertrauma bekommen. Noch dazu ließ mich diese Direktheit misstrauisch werden. „Es gibt keinen Weg Eden zu entkommen.“

„Das war es nicht was ich gefragt habe.“ Er drehte sich zu mir herum und fixierte mich. Das blinde Auge war dabei irgendwie irritieren. „Du willst nicht hier sein, du hasst Eden. Und versuch jetzt nicht es zu bestreiten, ich habe gehört, was du gestern zu Agnes gesagt hast. Als sie dir eine Abfuhr erteilt hat, sahst du so aus, als würdest du ihr gerne an die Kehle springen.“

Als wieder ein Quietschen von Roxy kam, drehte ich mich zu ihr um.

„Es hat gerade getreten.“ Sie packte Ticans Hand und legte sie sich, ungeachtet des Queue, auf den Bauch. „Spürst du es?“

Er grinste und nickte.

Als sie meinen Blick bemerkte, erklärte sie. „Ich bin im siebenten Monat und das kleine Mäuschen ist schon ziemlich lebhaft. Willst du auch mal fühlen?“

„Nein.“ Die Antwort war raus, bevor ich darüber nachdenken konnte. Ein Baby im Mutterleib zu fühlen? Diese Vorstellung hatte etwas seltsam Faszinierendes, aber etwas in mir sträubte sich dagegen. Sie schien glücklich mit ihrer Schwangerschaft und trotzdem würde sie ihr Kind nach der Geburt weggeben und es anderen Menschen anvertrauen.

Nur wenn es unfruchtbar ist.

Was es nicht wirklich besser machte.

„Seit ihr irgendwann mit dem Gefummel fertig?“, fragte Sawyer. „Ich würde gerne auch noch mal an die Reihe kommen.“

Roxy verdrehte gekonnt die Augen und hob ihren Queue.

„Hey, ich bin dran“, protestierte Tican und schob sie zur Seite.

Ich stand da und fragte mich, was ich hier eigentlich trieb. Was scherte es mich, ob Sawyer mich für einen Feigling hielt? Was interessierte es mich, was sie mit ihren Kindern taten? Warum nur ließ ich mich immer tiefer in diese Welt hineinziehen? Das war nicht meins, das war nicht ich. Ich musste Mauern um mich herum errichten, um mich von all dem Abzuschotten. Ich musste aufhören, mich ablenken zu lassen und endlich etwas unternehmen.

„Also.“ langsam drehte Sawyer den Queue in seinen Händen hin und her. Die Bewegung hatte etwas Lauerndes. „Hast du versucht zu entkommen?“

Misstrauisch verengte ich die Augen. Das war jetzt schon das zweite Mal, dass er mir diese Frage stellte. Was bezweckte er damit? Wollte er mich aushorchen? Vielleicht hatte man ihn auf mich angesetzt, um weitere Informationen aus mir herauszubekommen. Als wenn ich auf so einen billigen Trick hereinfallen würde. „Natürlich nicht.“

„Wirklich nicht?“ Er beugte sich mir entgegen und kam mir dabei so nahe, dass ich mir mehr als nur bedrängt vorkam. „Los, sag schon.“

„Wenn du nicht zurückweichst, werde ich dir wehtun.“

„Das will ich sehen.“ Sein Gesicht kam noch näher, so nahe, dass unsere Nasenspitzen sich fast berührten. Sein Geruch stieg mir in die Nase, herb, männlich. Ich weigerte mich auch nur ein Stück zurückzuweichen. „Wenn du dich dem Regime unterwirfst, hast du gar nicht den Mumm zuzuschlagen.“

Wollte er mich herausfordern? „Geh weg.“

„Zwing mich doch, Baby.“

In Ordnung, er wollte es so. Ich schlug zu. Leider hatte er wohl damit gerechnet, denn er fing mich am Handgelenk ab und hielt mich fest.

„Also doch nicht so brav“, murmelte er.

„Lass mich sofort los.“ Meine Stimme klang eisig.

„Du hast das Zauberwort vergessen.“

Bastard!

„Du hast mir noch immer noch geantwortet.“ Sein Blick war durchdringend. „Hast du versucht Eden zu entkommen? Oder bist du eine artige, kleine Eva, die für alle ihre Beine breit machen wird?“

„Ich werde niemals eine Eva sein“, knurrte ich und riss mit einem Ruck meine Hand aus seinem Griff. „Und wenn du mir noch einmal zu nahetrittst, wirst du in Zukunft nur noch Sopran singen.“ Ich ließ den Queue an Ort und Stelle fallen, drehte mich um und kehrte auf meinen Platz auf der Fensterbank zurück.

 

oOo

Kapitel 25

 

Ich hätte mich von ihm nicht provozieren lassen dürfen, das war einfach nur dumm gewesen. Ihm so direkt zu sagen, dass ich niemals eine Eva sein würde, könnte mir das Genick brechen. Aber als er mich festgehalten hatte, war mein Temperament einfach mit mir durchgegangen und jetzt war es zu spät. Am liebsten hätte ich geknurrt. Stattdessen saß ich einfach nur auf dieser dummen Fensterbank und geißelte mich selber.

Roxy und Tican spielten noch immer Billard, aber Sawyer hatte sich in der Zwischenzeit zu diesem Autosimulator Fight Car Racing gesetzt, in dem es wohl nur darum ging, möglichst schnell, möglichst viele Autos, auf möglichst kreative Weise zu schrotten.

Die schwarzhaarige Frau war auch wieder da. Sie war nach ihrer Ankunft direkt zu Sawyer gegangen und nun stand sie hinter ihm, beobachtete sein Spiel und kraulte ihm dabei die ganze Zeit den Nacken. Also mich würde es ja stören, wenn ununterbrochen jemand an mir herumfummeln würde. Dummer Sawyer, dummes, Spiel, dumme Stadt.

Ich seufzte, zog die Beine an die Brust und schlang die Arme darum. So konnte es nicht weitergehen. Seit einer Woche befand ich mich nun in der Gewalt meiner Peiniger und anstatt einen Ausweg zu finden, bohrten sich ihre Klauen immer tiefer in meinen Leib. Sie zerrten und rissen an mir und ich war völlig machtlos dagegen. Das war wie Treibsand. Ich konnte Kämpfen und mich wehren, doch egal was ich versuchte, ich wurde immer tiefer gezogen. Wenn mir nicht langsam etwas einfiel, würde ich noch darin versinken.

„Darf ich mich zu dir setzten?“

Ich brauchte nicht aufschauen, um zu wissen, dass es Killian war. Natürlich hatte ich gewusst, dass er hier war. Ich hatte vor einer halben Stunde gesehen, wie er zusammen mit seiner Mutter und einem Betreuer den Club betreten hatte, mich aber nicht weiter darum gekümmert. Es war das Beste, wenn ich möglichst viel Abstand zwischen mir und den Menschen an diesem Ort, hielt.

„Kismet?“

„Warum?“

„Du wirkst so alleine.“

Ich richtete meine Augen auf ihn, bevor ich sie langsam durch den großen Raum gleiten ließ. Über lachende und schwatzende Menschen. Über die Männer beim Billiardetisch und die Frauen in der Ecke, die in eine tiefe Diskussion stecken zu schiene. Ich sah zu Olive, die allein in einer Ecke saß und mit verträumtem Blick ihren dicken Bauch streichelte. Nicht unweit von ihr entfernt saß ihr Betreuer und behielt sie genau im Auge.

Seufzend richtete ich meinen Blick wieder aufs Fenster, ohne wirklich etwas zu sehen. „Hier ist man niemals allein. Ganz egal wohin ich gehe, überall sind Menschen.“

Killian zögerte, setzte sich dann aber in den Sessel neben der Fensterbank. Heute trug er einen lässigen Anzug. An seinem Hemd standen die obersten Knöpfe offen. „Du lässt das klingen, als sei es etwas Schlechtes.“

Das war es auch. Vielleicht konnte er das anders sehen, aber ständig all diese Menschen um sich zu haben, hatte etwas sehr Beunruhigendes. Ich fühlte mich einfach nicht wohl dabei, immer und überall das Gefühl zu haben, unter Beobachtung zu stehen. Wie Marshall einmal zu mir gesagt hatte, ich war ein einzelgängerischer Wolf, der die Einsamkeit genoss. „Dort wo ich lebte, gab es eine alte Brücke. Sie ist schon vor langer Zeit eingestürzt und kaum noch als das zu erkennen, was sie einmal war. Es führt nur eine einzige Straße dorthin und die ist so kaputt und von Pflanzen überwuchert, dass sie darunter fast verschwindet. Dort gibt es nichts. Wenn ich mich an die Kante der Brücke setze, ist da nichts außer der Natur, soweit das Auge reicht.“ Für einen Moment schloss ich die Augen und wünschte mir, genau in diesem Moment, dort sein zu können. „Besonders nachts ist es dort so ruhig und verlassen, als befände ich mich in einer anderen Welt. Die Nacht hat etwas Magisches.“

Killian schwieg. Entweder dachte er über meine Worte nach, oder er wusste einfach nicht, was er dazu sagen sollte. Für ihn war es wahrscheinlich unverständlich, wie ich so einen wilden Ort der Zivilisation dieser Stadt vorziehen konnte.

Als er dann jedoch aufstand und mir die Hand reichte, überraschte er mich damit. „Komm mit mir.“

Ich sollte mit ihm kommen? Das altbekannte Gefühl von Misstrauen stieg in mir auf. „Wohin?“

Um seine Lippen erschien ein kleines Lächeln. „Um das zu erfahren, wirst du mir folgen müssen.“ In seinem Blick lag fast so etwas wie eine Herausforderung.

Ich zögerte. Zum einen, weil ich nicht wusste, was er vorhatte und zum anderen, weil ich im Moment keine Gesellschaft wollte. Ich wollte allein sein – wobei allein in diesem Zusammenhang ein relativer Begriff war.

„Was hast du schon zu verlieren?“

Puh, das könnte eine lange Liste werden, an dessen obersten Ende Nikita stand. Wieder glitt mein Blick nach drüben zu der verträumten Frau. „Was ist mit Olive?“

„Im Moment brauch sie mich nicht, ihr geht es gut und man passt auf sie auf.“ Er hielt mir seine Hand ein wenig nachdrücklicher hin. „Na komm schon, gib dir einen Ruck. Ich verspreche dir, es wird dir gefallen.“

Das bezweifelte ich. Allerdings bot mir ein Ausflug mit Killian eine gute Ausrede, um von hier zu verschwinden. Dann brauchte ich weder Sawyers selbstzufriedenes Grinsen zu sehen, noch musste ich mich mit Roxys fragenden Blicken auseinandersetzen. Wahrscheinlich war es überall besser, als hier weiter auf dem Präsentierteller zu sitzen.

Mit einem tiefen Seufzer schwang ich die Beine von der Fensterbank, ignorierte seine Hand und erhob mich ohne seine Hilfe. „Zeig mir, was mir gefallen würde.“

Er lächelte. „Nur einen Moment noch.“ Eilig ging er hinüber zu Olives Betreuer und wechselte ein paar Worte mit ihm. Dann ging er noch zu seiner Mutter und gab ihr einen Kuss auf den Kopf. Sie schien es gar nicht zu bemerken.

Wie es wohl war, die meiste Zeit seines Lebens gar nicht zu verstehen, was um einen herum los war? Bei dem Gedanken schauderte ich. Sowas wollte ich nie erleben.

Als Killian sich wieder aufrichtete, winkte er mich zu sich und wir verließen gemeinsam das Paradise. Es war noch gar nicht so spät, doch der August neigte sich bereits dem Ende zu und die Tage wurden langsam wieder kürzer. Als wir aus dem Freizeitcenter ins Freie traten, war es noch warm vom Tag, doch in der Ferne dämmerte es bereits. Nicht mehr lange und die Nacht würde sich wie eine Decke über uns legen.

„Wir müssen ein Stück laufen, ich hoffe das stört dich nicht.“

Ich zuckte mit den Achseln. Ich war es gewohnt, viel und weit zu laufen. Nichts an diesem Ort würde ich als lange Strecke bezeichnen.

Er lächelte fröhlich. „Na dann komm, ich denke, es würde dir gefallen.“

Ich warf einen Blick über die Schulter und wie nicht anders zu erwarten, waren Carrie und der Gardist nicht weit hinter mir. Auch egal. Es war immer noch besser, als weiter in diesem Club zu sitzen, also schloss ich mich Killian an.

„Wie war dein Tag gewesen?“

Lang. Das Treffen mit Nikita hing mir immer noch nach. Ich hatte mich so gefreut sie zu sehen, aber jetzt machte ich mir nur noch Sorgen um sie. „Ich will nicht darüber sprechen.“

„Wir müssen nicht reden, wenn du nicht möchtest.“ Er lächelte schief. „Ich bin die Ruhe gewohnt, meine Mutter spricht auch nicht viel, wenn ich mit ihr zusammen bin.“ Es klang ein kleinen wenig wehmütig und auch etwas resigniert. Es musste schwer für ihn sein.

Zwei Schritte lang schwiegen wir, dann fragte ich: „Erkennt deine Mutter dich überhaupt?“

Einen Moment blieb er still, so als müsste er sich seine Worte erst zurechtlegen. „Meine Mutter erkennt mich als Killian, aber ich bezweifle, dass sie weiß, dass ich ihr Sohn bin.“

Sie erkannte ihn also bloß als Mann, der nett zu ihr war und sich um sie kümmerte. „Stört dich das gar nicht?“

„Nicht so, wie du vielleicht denkst. Du musst verstehen, sie hat keines ihrer Kinder selber aufgezogen, sie weiß wahrscheinlich nicht mal, dass sie welche hat. Bei jeder Schwangerschaft denkt sie, es wäre ihr erstes Baby. Sie versteht nicht, was um sie herum vor sich geht.“

„Das ist ja … scheußlich.“ Das war, als würde man einem tauben Menschen sagen, folge dem Geräusch, oder einem Blinden, geh auf das Licht zu. Das war unmenschlich. Und es bestärkte mich in meiner Abneigung gegen Eden und allem, was damit zu tun hatte.

„Es ist nicht so schlimm, wie du glaubst. Alle ihre Kinder sind in liebevollen Familien aufgewachsen. Kit und ich sind als Babys sogar in dieselbe Familie gekommen. Wenn man es so betrachtet, habe ich sowohl eine Mutter, als auch einen Vater, sie sind nur nicht die gleichen Menschen, die mich zur Welt gebracht haben.“

Da hatte er mich wohl missverstanden. „Du warst also in diesem Eltern-Programm?“

„Jedes Kind kommt in dieses Programm. Naja, außer die fruchtbaren Kinder, die verbleiben im Herz von Eden.“ Er warf mir von der Seite einen Blick zu, bevor wir eine Straße überquerten und dann an einem Flachbau mit großem Garten nach links abbogen. „Das muss für dich schwer zu verstehen sein. Du bist sicher bei deinen leiblichen Eltern aufgewachsen.“

Vorsicht, Alarm, lass dich bloß nicht aushorchen. „Nein“, sagte ich kurz angebunden.

Der abweisende Ton in meiner Stimme war ihm wohl nicht entgangen. Er überlegte offensichtlich, ob er eine weitere Frage zu dem Thema stellen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Gut so, aus mir würde er sowieso nichts rausbekommen. „Hattest du denn eine schöne Kindheit?“

Ja, bis zu dem Tag, als Eden meine Familie zerstörte. „Spielt das eine Rolle? Sie ist vorbei und nichts kann sie mir zurückgeben.“ Das kam schärfer heraus, als ich beabsichtige hatte. Ich presste die Lippen aufeinander.

„Ich war ein problematisches Kind. Ich war oft in Schlägereien verwickelt und hatte Schwierigkeiten damit, meine Wut im Zaun zu halten.“

„Du?“

„Schwer zu glauben, nicht wahr?“ An seinen Lippen zupfte ein selbstironisches Lächeln. „Aber es stimmt. Früher stand ich im ständigen Konkurrenzkampf mit Kit. Es war nichts, was er oder meine Eltern falsch gemacht haben, es lag an mir.“

„Eifersucht?“

„Unter anderem. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass jeder Mensch anders und auf seine Art einzigartig ist.“

„Und heute ist das anders?“

Er grinste mich schelmisch an. „Heute bin ich das gute Kind. Komm, wir müssen hier entlang.“

Wir mussten noch zwei Straßenzüge weiterlaufen, bevor Killian mich in eine weitläufige Parkanlage führte. Wie auch alles andere in Eden, waren die Grünflächen ordentlich gepflegt und kein Grashalm wagte es sich aus der Reihe zu tanzen. Es gab Steinbänke unter Bäumen und moderne Skulpturen, die keinen Sinn ergaben. Ein paar vereinzelte Fußgänger, machten einen abendlichen Spaziergang.

Hier war es ruhig und friedlich und auch wenn es nicht mein Zuhause war, so hatte ich seit vielen Tagen zum ersten Mal das Gefühl, wieder ein wenig freier atmen zu können. Wäre Killian nicht der der er war, hätte ich mich vielleicht bei ihm bedankt.

Doch die weitläufigen Flächen des Parks waren gar nicht unser Ziel. Während Killian mir weitere Einzelheiten aus seiner Kindheit erzählte, führte er mich tiefer in die Grünanalgen hinein, bis wir einen Rosengarten mit Bögen und dichten Büschen erreichten. Er war in Kreisen angelegt, sodass einem der Blick ins Innere erst gelang, wenn man schon ein Stück weit hineingegangen war. Dann offenbarte sich einem ein kleiner Platz mit einem großen Brunnen im Mittelpunkt.

Im Brunnen stand die lebensgroße Statur einer jungen Frau, die sich lächelnd und mit weit ausgebreiteten Armen im Kreis drehte. Das lange Kleid, das sie umfloss, passte sich dabei ihrer Bewegung an, sodass es fast echt wirkte.

Ich ließ mich auf dem Rand des Brunnens nieder. Mein Finger glitt über die glatte Wasseroberfläche. Kleine Kreise bildeten sich und breiteten sich Wellenförmig nach allen Seiten aus.

„Ich weiß es ist keine alte Brücke, aber es ist ziemlich einsam hier. Ein guter Ort, um sich hin und wieder ein wenig zurückzuziehen und seine Gedanken ordnen zu können. Auch bei Nacht.“

Nein, es war nicht dir Brücke. Und auch die Vegetation war eine ganz andere. Die Rosen waren kunstvoll arrangiert, die Büsche zurechtgestutzt und der große Baum neben der Bank, war dort offensichtlich nur als Sonnenschutz gepflanzt worden. Es hatte nichts Natürliches. Hier wirkte alles so künstlich. Und zwischen den Büschen und Bäumen konnte ich noch immer die Mauern und die Stadt mit ihren Lichtern sehen.

Doch er hatte sich Gedanken gemacht, er wollte mir eine Freude machen, oder seine Hilfe anbieten – warum auch immer. Irgendwas in mir drängte dazu, diese kleine Gabe zu würdigen und darum hielt ich meinen Mund und konzentrierte mich stattdessen auf die Statur, die den Mittelpunkt dieses kleinen Eckchens bildete. „Wer ist das?“

„Sophia Scheper. Als sie noch lebte, war sie die beste Freundin von Agnes Nazarova gewesen. Sie starb bei der Geburt ihrer ersten und einzigen Tochter.“

„Das ist traurig.“

Killian setzte sich in Bewegung und ließ sich auf der Bank neben dem großen Baum nieder. „Sie und Agnes sind damals gemeinsam dem Eden-Projekt beigetreten und wenn man den Gerüchten trauen kann, dann hat Agnes sie geliebt. Nach ihrem Tod ließ die Despotin ihr zu Ehren diesen Rosengarten mit der Statur errichten. Es ist ein Ort des Andenkens und der Erinnerung.“

Ein Grabmal. Ich schaute zu der Statur auf. Zu ihrer Lebzeit, musste diese Frau hübsch gewesen sein und wenn es wirklich ein Spiegel ihres Lebens war, hatte sie ein fröhliches Wesen gehabt. Kaum zu glauben, dass so jemand mit der eiskalten Frau befreundet gewesen sein sollte, der ich gestern begegnet war.

„Aber Agnes kommt nie hier her.“

„Warum nicht?“

Er zuckte mit den Schultern. „Wer weiß? Vielleicht schmerzt sie die Erinnerung.“

Dieses Gefühl kannte ich nur allzu gut.

„Nun gut.“ Killian erhob sich wieder. „Ich werde dich dann jetzt allein lassen. Vielleicht findest du hier ja ein wenig Ruhe.“

Ja, vielleicht. Es war auf jeden Fall besser, als das Paradise.

„Gute Nacht, Kismet.“

„Nacht.“ Ich schaute ihm hinterher, als er den Rosengarten verließ. Allein war ich trotzdem nicht. Carrie hatte sich mit ihrem Screen etwas abseits auf eine der Bänke gesetzt und unter dem Rosenbogen, halb verdeckt in den Schatten, stand mein Gardist.

Der Kerl war echt unheimlich. Er folgte mir seit Tagen, sobald ich auch nur einen Fuß aus dem Turm der Evas setzte und hatte bisher noch kein einziges Wort mit mir gesprochen. Aber warum wunderte mich das? Die Menschen hier waren alle irgendwie seltsam.

Seufzend ließ ich meine Finger durch das klare Wasser gleiten. Dieser Ort war wirklich schön, eine kleine, ruhige Oase, inmitten des ständigen Chaos. Es war nicht das was ich wollte, doch es war besser als gar nichts. Mein altes Leben würde nicht so einfach morgen wieder an die Tür klopfen. Ich musste etwas dafür tun, aktiv werden, strategisch vorgehen. Zuallererst mal musste ich mir über das klar werden, womit ich arbeiten musste. Mauern die kaum zu überwinden waren, Tore die sich nur mit Zugangsberechtigung öffnen ließen und ständige Aufpasser, die mich nur in meiner Suite aus den Augen ließen. Nichts davon war besonders ermutigen. Noch dazu kam, dass Nikita sich an einem anderen Ort aufhielt. Im Moment schien es wirklich so, als würde ich nur hier rauskommen, wenn sich mir ein glücklicher Zufall ergab.

Aber ich wollte nicht mehr länger warten, ich musste etwas tun, um die mir auferlegten Fesseln loszuwerden. Leider wollte der rettende Einfall nicht kommen, egal wie lange ich auch an diesem Brunnen saß und über das Problem nachgrübelte. Auch nachts im Bett, oder am nächsten Vormittag, als ich auf der Suche nach einer Lösung durch das Herz wanderte, konnte ich dieses Problem nicht lösen. Das Einzige, was mir gelang, war Zusehens frustrierter zu werden.

Als ich mich gegen Mittag bei Killian in seinem Behandlungsraum eingefunden hatte, und dabei zuschaute, wie seine Augen konzentriert über die Zeilen auf seinem Digital-Desk wanderten, war ich keinen Schritt weiter. Dafür hatte ich aber mittlerweile leichte Kopfschmerzen vom andauernden Grübeln und ziemlich schlechte Laune.

Den ganzen Vormittag hatte ich damit verbracht, den inneren Stadtring abzulaufen. Jetzt wusste ich, dass ich es mit mehr als nur Mauern und Toren zu tun hatte. Oben drauf patrouillierten Yards und die Tore waren schwer bewacht. Natürlich war ich nicht allein gewesen. Carrie hatte mich begleitet und es sich scheinbar zu Aufgabe gemacht, mir alles genauestens zu erklären. So wusste ich nun, dass ich nicht nur Yards und Mauern überwinden musste, um aus Eden rauszukommen, sondern auch noch Sicherheitscodes und elektronische Zugangsgenehmigungen brauchte, um die Tore passieren zu können.

Ich glaube, sie hatte mir das nur erzählt, um meinen Kampfgeist zu zermalmen. Wenn ich keine Hoffnung auf Flucht hatte, würde ich mich eher fügen. Aber da hatte sie auf die Falsche gesetzt. Seit ich gestern zusehen musste, wie Nikita zu Dimitri in den Wagen gestiegen war, um zurück zum Kinderhaus zu fahren, war ich entschlossener denn je, von hier zu verschwinden. Und deswegen galt jetzt auch die Devise der fügsamen Eva. Solange ich auf Schritt und Tritt verfolgt wurde und man mir kein Vertrauen entgegenbrachte, würde ich es sehr schwer haben, hier wegzukommen. Meine einzige Chance war, mehr Freiraum und genau deswegen würde ich nun das Undenkbare tun. Ich würde ihnen erlauben mit mir zu machen was sie wollten. Wenn sie glaubten, dass ich mich mit meinem Schicksal abfand, würden sie diese Zwangsjacke lockern – darauf setzte ich, egal wie erniedrigend es werden würde. Solange ich nur verhindern konnte, dass ich befruchtet wurde, würde ich alles andere in Kauf nehmen – ich tat es für Nikita und für unsere Freiheit.

Es dauerte noch etwas, bis Killian mit seiner Lektüre fertig war und von dem Desk aufblickte. Sein Blick ruhte warm und wohlwollend auf mir. „Die Ergebnisse deiner Bluttests waren sehr zufriedenstellend. Aufgrund dessen, würde ich heute gerne mit der Hormontherapie beginnen.“

„Dann solltest du das wohl machen.“

Killian hob erstaunt eine Augenbraue. Dann zuckte sein Mundwinkel nach oben. „Ich freue mich, das von dir zu hören.“

„Es hat ja doch keinen Zweck sich gegen all das zu wehren. Und Vielleicht …“ Ich atmete gespielt tief ein, als müsste ich mich selber überwinden. „Vielleicht ist es hier ja auch gar nicht so schlecht. Nikita jedenfalls scheint es hier zu gefallen.“ Die letzten Worte waren sehr leise und ich konnte den bitten Ton darin nicht ganz unterdrücken.

„Es freut mich, dass du zu dieser Einsicht gelangt bist. Kann ich dann davon ausgehen, dass ich heute auch die notwendige Untersuchung vornehmen darf?“

Das Nein lag mir schon auf den Lippen. Ein Blick auf den gynäkologischen Stuhl verstärkte es sogar noch, doch ich verbot mir es auszusprechen und zwang mich zu einem Nicken. „Ich denke schon.“

Kritisch musterte Killian mich. „Ich möchte dir nichts unterstellen, aber woher kommt der plötzliche Sinneswandel? Ich meine, bei unserem letzten Termin, hast du dich noch mit Händen und Füßen gewehrt.“

„Ich habe mich nicht gewehrt.“

„Ich habe den Widerwillen die ganze Zeit in deinen Augen gesehen und auch jetzt ist er nicht verschwunden“, widersprach Killian mir. „Und doch sagst du nun, dass du mit uns zusammenarbeiten möchtest. Das ist unlogisch.“

Mit dieser Frage hatte ich bereits gerechnet. Zwar nicht von ihm, aber ich hatte mir eine ganz einfache Antwort zurechtgelegt – eine glaubwürdige Antwort, die sie einfach nicht anzweifeln konnten. „Nikita“, sagte ich leise. „Sie fühlt sich hier wohl, sie möchte hier leben.“ Die Furcht um die Wahrheit in meinem Worten, ließ mich schlucken. „Ich würde niemals etwas tun, was sie unglücklich macht und ich könnte sie nie im Stich lassen.“

„Dann tust du das also für deine Schwester.“

„Sie ist alle was ich habe.“

Ein Schatten von Mitleid legte sich über sein Gesicht. „So denkst du vielleicht jetzt noch, aber solltest du es wirklich schaffen, dich zu öffnen und dein neues Leben zu akzeptieren, dann wirst du sehr schnell feststellen, dass es auch hier Menschen gibt, die dich mit offenen Armen empfangen.“

Ich verkniff mir mein abfälliges Schnauben und murmelte stattdessen: „Ich werde es mir merken.“

„Nun gut, dann wollen wir mal zum eigentlichen Thema kommen.“ Er tippte ein paar Mal auf den Desk und schob die einzelnen Fenster zur Seite, um sie noch im Blick zu haben. „Ich werde dir heute ein paar Vitaminpräparate mitgeben und noch eine Blutuntersuchung machen. Außerdem werde ich dir eine Hormonspritze geben. So können wir deinen Eisprung künstlich herbeiführen.“

Ich runzelte die Stirn. „Das heißt ich muss nicht auf den Stuhl?“

„Doch. Natürlich nur sofern du dich dazu bereit erklärst. Nach wie vor gilt, ich werde dich zu nichts zwingen – darauf hast du mein Wort.“

Das Seltsame? Ich glaubte ihn. Er war ein Fremder, ja sogar der Feind. Und doch gab es da einen kleinen Teil in mir, der seinen Worten Glauben schenkte. Das war absurd und noch dazu gefährlich. Ich durfte ihm nicht vertrauen – keinem Städter. „In Ordnung.“ Unbehaglich glitt mein Blick wieder zu dem Stuhl. „Willst du es jetzt machen?“

„Wenn du dich dafür bereit fühlst, sehr gerne.“

Das war ein merkwürdiges Gespräch. „Also gut.“ Etwas unsicher erhob ich mich von meinem Platz, blieb dann aber einfach stehen.

„Du kannst hinter den Raumteiler gehen und dich dort unten herum frei machen. Dann setzt du dich einfach auf den Stuhl.“

„So wie bei Dr. Pirozzi.“ Mein Unwohlsein stieg, als ich mich hinter den zusammenklappbaren Raumteiler stelle und den langen grünen Rock abstreifte, den ich heute Morgen angezogen hatte. Bei meinem Griff in den Kleiderschrank, hatte ich einfach irgendwas herausgezogen und wenn ich ehrlich war, mochte ich Hosen auch nicht besonders. Ich hatte mein Leben lang immer nur lange Hemden und Tuniken getragen, es fühlte sich komisch an, meine Beine zu bedecken – naja, außer im Winter, wenn es wirklich kalt war. Jetzt allerdings stieg das mulmige Gefühl, als ich den Rock fallen ließ und hüllenlos zu dem Stuhl ging. Ich war weder scheu oder schamhaft, aber … naja, ich würde mich in eine offene und mehr oder weniger schutzlosen Lage begeben. Das behagte mir nicht.

Etwas unsicher setzte ich mich in den Stuhl und wartete dann.

„Leg deine Beine bitte in die Halterungen.“ Killian legte ein paar Dinge auf einem Beistelltisch bereit, zog sich Handschuhe über und setzte sich dann auf den Hocker vor mich. „Nur keine Scheu, du hast nichts was ich nicht schon gesehen habe. Und ich werde vorsichtig sein.“

Ich kam seiner Aufforderung nur zögernd nach. Diese Position war mir unangenehm, ich fand es einfach demütigend. Hab dich nicht so, du musst da jetzt durch! Ich sollte dringend üben, mir selber Mut zu machen.

Killian begann mit der Untersuchung. „Was hast du heute gemacht?“

Wollte er mich jetzt aushorchen? „Nichts Besonderes.“

„Noch niemanden kennengelernt?“

Ich schloss die Augen wünschte mich ganz weit weg. „Ich kenne Carrie.“

Er schnaubte. „Ich meinte eigentlich, ob du jemanden kennengelernt hast, mit dem du dich gut verstehen könntest.“

Ich dachte an Roxy und auch an Sawyer und Tican. „Nein, niemanden.“

Er griff nach einem kleinen Instrument. Gleich darauf spürte ich es an meinem Körper. „Und sonst, hast du dich vielleicht schon mit einem der Adams näher bekannt gemacht?“

„Ich habe sie gesehen, die laufen hier ja überall herum.“

Ein leises Lachen. „Das ist schon mal ein Anfang. Ich hoffe dir ist bewusst, dass du dich mit ihnen unterhalten kannst.“

„Ja, ich weiß.“

„Aber du bist noch nicht so weit. Das wird jetzt einen Moment unangenehm werden.“

Und das wurde es dann auch. Er drückte da herum, dann drückte er auch noch auf meinem Bauch herum und dann zog er eine Maschine mit einem langen Starb an den Untersuchungsstuhl ran. Den kannte ich schon von Dr. Pirozzi und ich mochte ihn nicht. „Du machst das sehr gut.“

Diese Mal konnte ich das Schnauben nicht zurückhalten. „Ich mache gar nichts, ich liege hier einfach nur rum und starre die Decke an.“

„Aber das machst du sehr gut.“ Ein kurzes Lächeln, dann konzentrierte er sich wieder auf seine Arbeit.

Ich versuchte auszublenden, was auch immer er da tat. „Bist du gestern zu deiner Mutter zurückgegangen?“

„Ja.“ Er schaute kurz zu mir auf. „Ich habe noch ein Weilchen mit ihr im Paradise gesessen. Es ist wichtig für sie, auch die alltäglichen Dinge mitzumachen. Sie soll ich nicht ausgeschlossen fühlen.“

Ich zögerte, weil ich mir nicht sicher war, ob ich das wirklich wissen wollte. „Wie viele Kinder hat sie eigentlich?“

„Bis jetzt habe ich achtundzwanzig Geschwister. Naja, die meisten davon sind nur Halbgeschwister.“

„Achtundzwanzig?!“ Das war doch wohl ein Scherz!

„Meine Mutter ist seit dreißig Jahren eine Eva. Sie hatte öfters Mehrlingsgeburten gehabt. Aber das ist bald vorbei. Sie ist nun zum letzten Mal schwanger, dann ist sie zu alt zum Kinderkriegen. Geburten und Schwangerschaften sind für eine Frau sehr ansengend. Weitere Schwangerschaften wären für ihre Gesundheit sehr gefährlich.“

Oh Himmel, dreißig Jahre lang Kinder kriegen. „Und das hat sie freiwillig gemacht?“

Killian zögerte und senkte den Kopf so, dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte. „Du hast sie kennengelernt, dir muss klar sein, dass sie solche Entscheidungen nicht selber treffen kann. Deswegen wurde sie auch künstlich befruchtet.“ Er entfernte dieses komische Gerät und begann wieder mit seiner Tastuntersuchung. „Meine Mutter ist nur eine von vielen Evas. In Edens Herz leben im Moment hundertzweiundsechzig aktive Evas. Mit dir zusammen jetzt sogar hundertdreiundsechzig und sie alle gehen ihrer Aufgabe freiwillig nach. Kein Zwang.“

Ich wusste nicht ob ich das wirklich beruhigender fand. „Aber mich würde man zwingen, wenn ich mich weigere.“ Es war vielleicht nicht sonderlich schlau das zu sagen, aber ich konnte einfach nicht anders.

„Die Welt ist leider nicht immer das, was wir uns wünschten.“ Er blickte auf und rutschte auf seinem Stuhl zurück. „So, du kannst dich jetzt wieder anziehen.“

„Gaia sei Dank.“ Ich sprang so eilig von dem Stuhl, dass ich wegrutschte und mich hastig an der Halterung festhielt, um nicht mit dem Gesicht voran auf den Boden zu klatschen. Leider stellte ich mich dabei so ungeschickt an, dass ich mir den kleinen Finger umknickte. Ich zischte.

Killian griff hastig in meine Richtung, als wollte er mich vor dem Sturz bewahren, merkte dann aber, dass seine Hilfe nicht benötigt wurde und zog die Hände wieder zurück. „Hast du dir wehgetan?“

„Mir geht es gut.“ Ich schüttelte meine Hand aus, um den Schmerz zu vertreiben, verschwand hastig hinter dem Raumteiler und schlüpfte zügig zurück in meinen Rock. Mein Finger pochte. Mist, und er schwoll auch schon an. Das war so typisch. Das Glück war im Moment wirklich nicht auf meiner Seite.

Missmutig und mit schmerzendem Finger, aber wenigstens wieder bekleidet, kam ich hinter dem Raumteiler hervor und setze mich zurück auf meinen Platz am Schreibtisch.

Killian hatte sich in der Zwischenzeit wieder auf seinem Stuhl niedergelassen und trug etwas auf dem Desk ein.

„Soweit sieht alles in Ordnung aus. Du musst nur noch ein wenig zunehmen, dann bist du die perfekte Kandidatin für das Eden-Projekt.“

Wie bereits gesagt, das Glück machte einen weiten Bogen um mich. „Und was bedeutet das jetzt für mich?“

„Das Bedeutet, dass deiner Laufbahn als Eva soweit nichts im Wege steht und wir vielleicht sogar schon deinen nächsten Eisprung nutzen können, um …“ Er stutzte, als er bemerkte wie ich meinen schmerzenden Finger massierte. „Alles in Ordnung?“

„Hab ihn mir umgeknickt.“ Ich ließ ihn die leichte Schwellung sehen. „Nicht so schlimm.“

„Aber auch nicht so gut.“ Er erhob sich von seinem Platz und holte eine kleine Tube aus einem der Hängeschränke. Dann kam er zu mir und lehnte er sich neben mir an die Tischkante. „Gib mir deine Hand.“

Ich zögerte, erinnerte mich aber sehr schnell wieder daran, dass ich kooperativ sein wollte.

„Das ist eine einfache Sportsalbe.“ Er drückte einen Streifen auf seine Hand und verrieb sie dann vorsichtig auf meinem kleinen Finger. „Sie kühlt und lässt die Schwellung zurückgehen.“

„Marshall hat mir bei sowas immer einen Kräuterumschlag gemacht.“

„Dieser Marshall scheint dir viel zu bedeuten,“

Daraufhin drückte ich meine Lippen fest zusammen.

Er ließ sich nicht anmerken, dass es er bemerkte, massierte die Salbe nur weiter ein. „Weißt du was ärztliche Schweigepflicht ist?“

Ich zögerte, schüttelte dann aber dann doch den Kopf. So oft wie ich seine Fragen verneinen musste, kam ich mir langsam ganz schön dumm vor.

„Es bedeutet, dass alles, was während unserer Termine besprochen wird, unter uns bleibt. Das Gesetz verbietet es mir, Dritten davon zu berichten.“

Mein Misstrauen konnte ich nicht abschütteln. „Und du hältst dich natürlich daran.“

„Würde ich es nicht tun, könnte ich meine Zulassung verlieren.“ Er gab meine Hand wieder frei, schraubte die Tube zu und ließ seinen Blick auf mir ruhen. „Im Allgemein wende ich dieses Gesetz auf alles an, was ich im Rahmen meiner Berufsausübung erfahre. Wie man das nun auslegt, ist eine Sache der Interpretation. Manche Ärzte beschränken es nur auf Behandlungen und Krankheiten des Patienten. Ich erweitere es immer auf die ganze Sitzung. Das heißt, ganz egal was du mir anvertraust, es wird diesen Raum nicht verlassen.“

Das konnte ich nicht glauben. „Warum?“

Er musterte mich noch einen langen Moment mit seinen blauen Augen, dann erhob er sich und verstaute die Salbe wieder an ihrem Platz im Schrank. „Ich weiß um die Notwendigkeit unserer Arbeit und ich verstehe auch warum wir manches so handhaben, wie wir es tun, aber das heißt noch lange nicht, dass ich mit allem einverstanden sein muss.“ Er zog ein Tablett heran, auf der er die Ausrüstung für die Blutabnahme bereitlegte. Dann trug er es zu mir an den Schreibtisch. „Deine Lage ist außergewöhnlich schwierig. Es ist richtig, dass sie dich dazu bewegen wollen, eine Eva zu sein, doch ihre Handhabung der Situation ist falsch.“

„Du findest also ich sollte eine Eva sein?“

„Ja.“ Er griff nach einem Wattebausch, tränkte es mit einer Flüssigkeit und wischte mir dann über die Armbeuge. „Aber ich finde auch, es sollte deine eigene Entscheidung sein. Unter Zwang ist noch nie etwas Gutes entstanden.“

Nun war es an mir ihn zu mustern. Ich kam nicht umhin mich zu fragen, ob seine Worte ehrlich gemeint waren, oder es doch nur ein Trick war, mit dem er mein Vertrauen erschleichen wollte. Andererseits hatte er bis jetzt noch nichts getan, dass diesen Eindruck verstärken würde.

Aber eigentlich war es auch völlig egal, ob er es ehrlich meinte oder nicht. Ich durfte weder ihm noch einem anderen in dieser Stadt vertrauen. Der Feind verbarg sein finsteres Gesicht gerne hinter einer freundlichen Maske. Das hatte ich bitter lernen müssen. Trotzdem sagte ich: „Danke“, und meinte es zu meiner Überraschung auch so. Außer mir war er der erste Mensch hier, der die Fehler in diesem dummen System sah. Und auch wenn er sich ihm nicht widersetzte, so dehnte er es im Rahmen seiner Möglichkeiten.

Als er mir die Spritze in den Arm bohrte, fiel ihm sein blondes Haar in die Augen. Es war ein wenig kürzer als das von Kit und er war auch nicht ganz so durchtrainiert. Seine Züge wirkten straffer. Ja, die beiden sahen sich zum Verwechseln ähnlich, aber bei genauerer Betrachtung, konnte ich die Unterschiede zwischen ihnen erkennen.

Ich war vielleicht nie der Stratege gewesen, aber eine gute Beobachtungsgabe hatte ich schon immer gehabt. Und Killian hatte etwas an sich, was Kit entschieden fehlte.

Als er mir die Nadel aus dem Arm zog und mich anlächelte, bemerkte ich erst, wie ich ihn anstarrte. Verärgert über mich selber und meinen Moment der Schwäche, schaltete ich sofort wieder in Abwehrmodus um. „Sind wir dann fertig? Kann ich gehen?“

„Eine Spritze noch, dann bist du für heute von mir befreit.

Ich sprang sofort vom Stuhl auf. „Gut, dann …“

„Deinen nächsten Termin, werde ich direkt an Carrie weiterleiten. Sie wird dich ja noch eine Weile betreuen, also kann sie solche Sachen auch für dich regeln.“

„Nächster Termin? Aber ich dachte wir sind dann fertig.“

„Für Heute, ja.“ Er verpackte das Röhrchen mit meinem Blut in einer kleinen Tüte und beschriftete sie. „Aber ich habe dir bereits gesagt, dass wir uns regelmäßig sehen werden. So verlangt es das Protokoll.“

Natürlich, wie hatte mir das nur entfallen können. Mit meiner Bereitschaft mitzuarbeiten, hatte ich mich freiwillig zu einem Teil des Projekts gemacht. Und bis ich einen Ausweg fand, würde ich das durchziehen müssen. „Na kann ich mich ja auf etwas freuen.“

„Also ich freue mich darauf.“

Wenigstens einer von uns beiden.

 

oOo

Kapitel 26

 

Rechteckig, handlich, unscheinbar. Seit geschlagenen zehn Minuten starrte ich nun schon auf meinen Screen. Das blinkende Icon in der Mitte, schien mir zuzuzwinkern und mich verlocken zu wollen, meinen Finger darauf zu legen, um es endlich zu aktivieren.

Carrie hatte sich vor gut einer viertel Stunde nach meinen Fortschritten bei Cameron erkundigt, das Screen aus meinem Schreibtisch geholt und es mit den Worten „das solltest du dir langsam mal anschauen“ auf meinen Couchtisch gelegt. „Du brauchst dafür auch nicht lesen können, es reagiert auf deine Stimme.“

Das wusste ich bereits, denn auch wenn ich heute bei Cameron nichts weiter als meinen Namen geübt hatte, war es doch bereits die vierte Lerneinheit gewesen, die ich mit ihm hatte verbringen müssen.

Die Lektion zur Einführung in die gängige Datenverarbeitung in Eden hatte ich bereits in unserer ersten Stunde bekommen und auch wenn ich alles andere als ein Genie auf diesem Gebiet war, so fand ich mich in der Zwischenzeit damit doch ganz gut zurecht.

Der Gedanke bereitete mir Magenschmerzen. Ich wollte mich nicht damit zurechtfinden müssen, ich wollte einfach nur weg von hier, aber jetzt war ich mittlerweile schon sechs Tage in Eden und auf Flucht noch immer keine Aussicht. Sie behielten mich viel zu genau im Auge.

Und jetzt auch noch das: Carrie wollte, dass ich mich mit dem Verzeichnis der Adams auseinandersetzte.

Nun saß ich im Schneidersitz auf meiner Designercouch, den Screen vor mir auf dem Tisch und schaute es an, als sei es giftig und würde mir jeden Moment ins Gesicht springen. Ich wusste nicht recht was ich tun sollte. Was würde es bringen, wenn ich mir das anschaute? Andererseits, was konnte schon Schlimmes passieren, wenn ich einen Blick darauf warf? Das war schließlich alles, was man von mir erwartete. Und vorerst musste ich noch tun, was man von mir verlangte.

Ach, scheiß drauf. Bevor ich es mir noch einmal anders überlegen konnte, drückte ich das Icon in der Mitte. Sofort erwachte das Gerät zum Leben.

„Willkommen im Hauptmenü von Projekt Eden“, begrüßte mich das Gerät mit der blechernen Frauenstimme von Skye und zeigte mir eine Liste von Worten an. „Was möchten sie wählen?“

„Äh …“ Wie unterhielt man sich mit einer Maschine?

„Begriff Äh ist in der Datenbank nicht enthalten. Was möchten sie wählen?“

Das ging ja mal voll in die Hose. „Ich soll mir das Verzeichnis der Adams anschauen. Kannst du mir das zeigen?“

„Suchbegriff zu lang. Definieren sie ihn. Was möchten sie wählen?“

Gut, das war langsam frustrierend. Aber bitte, wenn es zu lang war. „Verzeichnis der Adams.“

„Sie haben das Verzeichnis der Adams gewählt.“ Der Screen flackerte und änderte dann sein Bild. Anstatt der Liste an Worten, war dort nun eine Liste von kleinen Fotos zu sehen, hinter denen Worte standen. Vermutlich die Namen. „Verzeichnis der Adams. Nennen sie ihren Namen, um Zugriff auf die für sie geeigneten Kandidaten zu erhalten.“

Geeignete Kandidaten. Diese beiden Worte trieben mir glatt die Galle in die Kehle. „Kismet“, sagte ich leise.

„Kismet. Eva Nummer Zweihundertsiebenunddreißig. Status: Inaktiv.“

Inaktiv? Und warum Zweihundertsiebenunddreißig? Erst heute Mittag, hatte Killian mir doch gesagt, dass es nur knapp über sechzig waren. Vielleicht zählte das System ja auch die mit, die bereits ausgeschieden waren. Oder die Mädchen, die noch zu jung für den aktiven Dienst waren. Oh Himmel, wie sich das anhörte.

„Bitte wählen sie.“

Das Bild hatte sich nicht geändert. Wahrscheinlich, weil all diese Männer dort für mich geeignet waren.

Ich strich über den Screen und schüttelte gleichzeitig den Kopf über mich selber. Noch vor ein paar Tagen, hatte ich nicht mal gewusst, dass das Wort Screen eine Bedeutung hatte, und jetzt benutzte ich es schon ganz selbstverständlich. Eden begann jetzt schon mich zu verändern.

„Bitte wählen sie.“

„Ja ja.“ Man, jetzt wurde das Gerät schon ungeduldig. Das wurde immer verrückter.

Da ich im Prinzip kleinen Plan von dem hatte, was ich hier tat, scrollte ich die Liste einmal hoch und runter und tippte dann einfach auf irgendein Bild.

„Alexander Fenton“, erklärte mir das Gerät und zeigte mir eine Großaufnahme von einem älteren Mann mit olivfarbener Haut und mandelförmigen Augen. Er hatte eine Glatze, Lachfältchen und ein wenig Speck auf den Hüften. „Neunundvierzig Jahre. Sieben fruchtbare Nachkommen. Blutgruppe AB Positiv. Berechnete. Kompatibilität liegt bei 76 Prozent.“

Das war … ich war mir nicht ganz sicher, wie das war, noch was ich mit diesen Informationen anfangen sollte.

An der Seite blinkte ein Pfeil. Ich drückte einfach mal rauf und gelangte wieder zurück in das Menü mit den kleinen Bildern. Das hatte ich zwar nicht gewollt, aber nun gut.

„Bitte wählen sie.“

Auf gut Glück – wobei ich nicht sagen konnte, worin in diesem Fall das Glück lag – wählte ich ein weiteres Bild nach dem Zufallsprinzip aus. Was bedeutete: ich schloss die Augen und tippte blind einfach irgendwo auf den Bildschirm.

Dieses Mal lächelte mir ein dunkelhäutiger Mann entgegen.

„Joshua Soor“, erklärte Skye. „Dreißig Jahre. Zwei fruchtbare Nachkommen. Blutgruppe A Negativ. Berechne. Kompatibilität liegt bei 89 Prozent.“

Den kannte ich schon, der hatte bei der Gala mit an meinem Tisch gesessen. Allerdings wusste ich nicht, was ich mit diesen Informationen jetzt anfangen sollte. Das Ganze war einfach nur Blödsinn.

Wieder blinkte der Pfeil in der Ecke, doch dieses Mal scrollte ich noch ein wenig herunter und tippte auf ein Wort, das dicker geschrieben war, als die anderen.

„Entwicklungsgang“, las Skye mir vor.

Entwicklungsgang. Was ich mir wohl darunter vorstellen konnte? Das herauszufinden war nicht weiter schwer, nicht mal mit meinem begrenzten Wissen. Ich markierte einfach einen kleinen Teil des nachfolgenden Textes und ließ ihn mir von Skye vorlesen.

„Joshua ist einer der wenigen Adams unserer Geschichte, die aus der Alten Welt in den Schutz der Stadt Eden traten.“

Was? Der Kerl kam von außerhalb? Ich hörte mit neuem Interesse zu.

„Im Alter von zwei Jahren, wurde er von eine Gruppe Tracker in den entlegenen Teilen des Ostens in einem schwer apathischen Zustand aufgefunden. Dehydriert und mit schweren Blessuren brachten die Tracker den Jungen in die Obhut der Ärzte, wo er über ein Jahr verbleiben musste, um sich von dem Übergriff, der ihn in diesen Zustand brachte, wieder zu erholen. Mit achtzehn Jahren trat er seinen Dienst als …“

Skyes Stimme verstummte und ich brauchte einen Moment um herauszufinden, warum. Der von mir markierte Text war zu ende. Also markierte ich noch die letzten drei Zeilen dieses Abschnitts.

„Mit achtzehn Jahren trat er seinen Dienst als Adam zum Wohle der Stadt an. Bis heute verzeichnet er zwei fruchtbare Nachkommen. Jean McClanahan brachte mit Hilfe seines Erbguts den zukünftigen Adam Raoul McClanahan zur Welt. Olive Vark brachte mit Hilfe seines Erbguts den zukünftigen Adam Domenico Vark zur Welt.“

Olive hatte einen Sohn mit ihm? Das war irgendwie … grotesk. Wie konnte überhaupt ein Mann mit ihr Kinder haben? Nach Killians Worten, hatte Olive ihren Hirnschaden bereits gehabt, bevor sie eine aktive Eva wurde. Je mehr ich darüber nachdachte, desto unbegreiflicher wurde mir die ganze Angelegenheit.

Nur ging es hier gerade nicht um Olive, hier ging es um Joshua. Allerdings würde ich aus diesem Text nichts weiter über diesen Mann in Erfahrung bringen können. Das hier waren nur Fakten, vermischt mit ein wenig Lebensgeschichte. Eben das, was die Städter für interessant hielten. Mich allerdings interessierte etwas völlig anderes. War dieser Joshua freiwillig hier, oder würde er sich vielleicht als Verbündeter zur Flucht eignen?

Um das zu erfahren, müsste ich ihn aufsuchen und in ein Gespräch verwickeln. Das war riskant. Er war mit zwei Jahren hierhergekommen, vermutlich erinnerte er sich nicht mal an sein früheres Leben. Es wäre wahrscheinlich nicht besonders schlau, ihn direkt darauf anzusprechen. Aber ihn vorsichtig aushorchen, könnte sich vielleicht als Glücksfall entpuppen.

Ich behielt diesen Gedanken im Hinterkopf, während ich mir noch ein paar andere Textstellen verlesen ließ. Leider waren sie nicht viel interessanter, als die bereits errungenen Erkenntnisse. Auch die Bilder waren nicht besonders interessant, also verließ ich letztendlich, mithilfe des Pfeils, seine Datei.

Gleichgültig fuhr ich mit den Fingern wieder über die Liste, bis mir ein Bild ins Auge stach. Ich zögerte einen Moment, drückte dann aber doch.

„Sawyer Bennett. Achtundzwanzig Jahre. Ein fruchtbarer Nachkomme. Blutgruppe Null Negativ. Kompatibilität liegt bei 82 Prozent.“

Ein finster dreinschauendes Gesicht blickte mir entgegen. Kleiner Kinnbart. Sein Haar war von einem so dunklen braun, dass es fast schwarz wirkte. Sein braunes Auge wirkte hart, so als hätte es das Leben nicht gut mit ihm gemeint und um seine vollen Lippen spielte ein arroganter und abweisender Zug. Auf dem Bild wirkte er jünger, aber auch hier stachen das blinde Auge und die langen Narben deutlich hervor.

Er sah nicht im klassischen Sinne gut aus. Dafür war seine Nase ein wenig zu spitz und der Kiefer eine Spur zu markant, aber er hatte durchaus etwas an sich, was einen auch mal zu einem zweiten Blick verleiten konnte.

Na sieh mal einer an, Sawyer war ein Adam. Eigentlich hätte mir das in der Zwischenzeit klar sein sollen, denn er lebte im Herzen von Eden. Joshua war ja schließlich auch einer und Tican vermutlich auch und die drei hingen öfter zusammen herum. Aber ich hatte bisher nicht darüber nachgedacht, welche Männer, denen ich bisher begegnet war, fruchtbar sein konnten. Killian und Cameron gehörten ja offensichtlich nicht zum Club, denn sie hatten beide Jobs und im Herzen lebten nicht nur Leute, die sich fortpflanzen konnten.

Ich musterte das Foto. Ob die Frauen freiwillig zu ihm gingen? Allein schon das Bild strahlte eine Düsternis aus, die mich schaudern ließ. Nicht mal zehn Pferde würden es schaffen, mich in sein Haus zu bekommen. Aber zumindest die schwarzhaarige Frau musste einen Narren an ihm gefressen haben, so oft, wie ich sie sich in seiner Näher herumtrieb.

Ich scrollte ein wenig durch sein Profil. Neben viel Text entdeckte ich mehrere Bilder. Fotos von Veranstaltungen. Frauen, Männer und Kinder. Sawyer war auf jedem einzelnen zu finden, aber er saß immer abseits von den anderen.

Ich tippte auf die Bildunterschrift zu einem Foto, wo der Mann mit einem kleinen, brünetten Mädchen auf einer Decke saß.

„Kinderfest im Jahr 2369. Sawyer Bennett und mit seiner fünfjährigen Tochter Salia Vark.“

Vark? Hatte das Teil wirklich gerade Vark gesagt? Wie in Dr. Killian Vark? Oder auch Kit Vark? Ich tippte noch einmal drauf um sicher zu gehen.

„Kinderfest im Jahr 2369. Sawyer Bennett und mit seiner fünfjährigen Tochter Salia Vark.“

Tatsächlich. Hieß das, dieses Mädchen war mit den beiden Männern verwandt?

Warum wunderte mich das überhaupt? So wie die sich hier paarten, sollte es mich eher wundern, dass nicht alle Städter miteinander verwandt waren.

Das brachte doch nichts. Missgelaunt verließ ich das Verzeichnis und sprang wieder zurück ins Hauptmenü. Ich konnte ja noch ein bisschen schreiben üben, das würde Cameron sicher freuen. Aber … wozu eigentlich?

Während ich noch unentschlossen auf den Bildschirm starrte, sprang mir ein Icon ins Auge, dass ich bisher noch nicht kannte. Ein Apfel auf einem grünen Hintergrund. Ich tippte einfach mal rauf.

Der Bildschirm veränderte sich. Ein großer Baum erschien, an dessen Ästen wie Äpfel Wörter hingen. Ich markierte die Überschrift und ließ sie mir von Skye vorlesen.

„Elysium“, sagte sie nur und in meinem Magen zog sich wieder alles zusammen. Das Fest von dem Carrie erzählt hatte.

Ich wusste nicht genau wann es stattfand, doch so wie ich die Tyrannen dieser Stadt kannte, würde ich auf jeden Fall daran teilnehmen müssen. Ein Fest, auf dem ich zur Schau gestellt werden sollte. Schon wieder.

Ich wollte hier weg. Ich wollte hier so dringend weg, dass es beinahe wegtat. Ich wollte zu Marshall und meinem alten Leben zurückkehren. Ich wollte wieder durch die Wildnis streifen, Jagen gehen und Fische fangen. Ich wollte, dass das alles endlich ein Ende hatte.

Als mich plötzlich ein Klopfen an meiner Tür aus meinen Überlegungen riss, griff ich instinktiv nach der Machete an meiner Hüfte, nur um festzustellen, dass sie nicht an ihrem Platz war. Natürlich nicht. Sie hatten sie mir ja weggenommen und so wie es aussah, würde ich sie so schnell auch nicht wieder zurückbekommen. Wobei es wahrscheinlicher war, dass ich sie niemals zurückbekommen würde.

Ein weiteres Klopfen ließ mich die Augen misstrauisch verengen.

„Kismet?“

Die feste Stimme die durch die Tür drang, war mir wohl bekannt. Carrie.

Diese Frau gehörte an die obere Spitze der Liste an Leuten, die ich im Moment am wenigsten sehen wollte. Nein, streicht das. Außer Nikita wollte ich heute überhaupt niemanden mehr sehen. Aber heute hatte ich keinen Termin mehr für ein Treffen mit meiner Schwester bekommen. Angeblich würde es ihre Eingewöhnung stören, wenn sie zu oft zu mir gebracht werden würde.

Als es ein drittes Mal klopfte, erinnerte ich mich daran, dass ich ja entgegenkommend sein musste und erhob mich von der Couch. Das Zimmer war schnell durchquert und als ich die Tür öffnete, erwartete mich die nächste Überraschung – und zwar keine von der Guten Sorte. Carrie war nicht allein gekommen. Hinter ihr Stand Agnes und wartete ungeduldig auf Einlass.

„Ich weiß, es ist schon spät, Liebes, aber Frau Nazarova würde sich gerne mit ihnen unterhalten. Es wird auch nicht lange dauern.“

Warum ließ sie es klingen, als wenn ich ablehnen könnte?  Im Grunde blieb mir doch gar keine andere Wahl, als zur Seite zu treten und die beiden hinein zu lassen.

Agnes betrat den Raum, als wäre es ihrer. Sie wartete gar nicht erst auf meine Einladung, rauschte einfach auf ihrem Gehstock an mir vorbei, ließ ihren Blick einmal durchs Zimmer gleiten und setzte sich dann mit majestätischer Anmut auf die Couchgarnitur. Man könnte glatt meinen, sie hätte auf einem Thron platzgenommen, so würdevoll stelle sie ihren Gehstock zur Seite und verschränkte die Hände im Schoß.

Heute trug sie ganz ähnliche Kleidung wie auf ihrer Gala, nur das ihr weißes Haar dieses Mal zu einem strengen Knoten nach hinten gebunden war. Es stand ihr nicht besonders gut, weil sie so nur noch knochiger wirkte. „Setzen sie sich zu mir Kismet, ich habe nicht viel Zeit.“

Dann verschwende sie doch nicht an mich. Ich hielt den Mund und kam ihrer Aufforderung nach. Allerdings ließ ich großzügigen Platz zwischen uns beiden.

„Ich habe heute mit Frau Capps gesprochen.“

War das jetzt gut oder schlecht?

„Sie hat mir erzählt, sie wollen sich uns nun doch anschließen.“

Diese Tatsache schien sich ja schnell rumzusprechen. Aber ich war nicht dumm, ich wusste, dass ich auf der Hut sein musste – bei Agnes noch mehr als bei den anderen. „Ich möchte es versuchen.“

„Versuchen?“

Jetzt musste ich wohl wieder meine einstudierte Geschichte zum Besten geben. „Mir gefällt es noch immer nicht, dass ich hier praktisch eingesperrt bin und auch nicht auf welche Art man mich hergebracht hat, aber Nikita möchte hierbleiben und um ihretwillen, werde ich versuchen, mich mit meiner Situation arrangieren.“ Das klang doch glaubwürdig. Hoffte ich.

„Ihre kleine Schwester, sie machen das also für sie.“

„Sie ist der wichtigste Mensch in meinem Leben und ich will, dass sie glücklich ist.“

„Oh ja, die Bande der Familie. Bei Zeiten kann sie doch recht hinderlich sein.“

Bitte?

Carrie, die neben der Tür stehen geblieben war, erweckte den Anschein, als wollte sie sich unsichtbar machen.

„In ihrem Fall jedoch, scheinen sie sich als hilfreich zu erweisen. Dann kann ich davon ausgehen, dass sie es ehrlich meinen und sie nicht versuchen, mich zu hintergehen?“

„Ich kann nicht versprechen, dass mir alles auf Anhieb gelingen wird, aber ich werde mich bemühen.“

„Zumindest solange ihre Schwester sich sicher in unserer Obhut befindet.“

Wie sie das sagte, gefiel mir ganz und gar nicht. Es war nicht allein ihr Ton, sondern die Bedeutung hinter den Worten. In meinen Ohren klang das nach einer versteckten Drohung. Tu was wir sagen, denn wir haben deine Schwester und wir können dafür sorgen, dass du sie nie wiedersiehst.

Ich zwang mich dazu auf meinem Platz sitzen zu bleiben, den Handgreiflichkeiten und Todesdrohungen waren sicher nicht hilfreich. Trotzdem war es nun mit der Entspannung vorbei.

„Ich beglückwünsche sie jedenfalls zu ihrer Entscheidung. Wir brauchen Frauen wie sie.“

„Evas.“

Sie nickte. „Das ist auch der Grund meines Besuchs. Als Despotin und einer der ältesten Evas dieser Stadt, obliegt es mir, den Nachwuchs einzuweisen.“

„Dr. Vark hat mir schon einiges erklärt.“

„Aber wahrscheinlich nur den medizinischen Unsinn.“ Sie winkte ab, als sei das völlig unbedeutend. „Eine Eva zu sein bedeutet viel mehr, als alle zwei Jahre Kinder ein die Welt zu setzen. Auch die Einstellung ist sehr wichtig. Kinder wünschen sich eine Beziehung zu ihren Eltern und einer Mutter fällt es nie leicht, sich von ihrem Kind zu trennen. Deswegen dürfen wir niemals das Ziel unserer Arbeit aus den Augen verlieren.“

„Aber … Dr. Vark hat gesagt, dass ich meine Babys behalten darf.“ Hatte er etwa gelogen? Ein kleiner fester Knoten bildete sich in meinem Magen

„Niemand kann ihnen ihre Kinder wegnehmen, sie sind die Mutter und sie haben das Vorrecht auf sie, aber bei so viel Nachwuchs werden sie Hilfe brauchen. Wir hatten schon Mütter, die acht Kinder in nur einer Schwangerschaft zur Welt gebracht haben.“

Acht?!

„Natürlich sind das nur Ausnahmen – meisten werden ein bis drei Kinder geboren – aber durch die Hormontherapie und die In-vitro-Fertilisation, kann das durchaus geschehen. Sagen wir, sie bekommen bei ihrer ersten Schwangerschaft drei Babys, bei der zweiten zwei und bei der dritten wieder drei. Innerhalb von sechs Jahren hätten sie also acht Kleinkinder, die alle um ihre Aufmerksamkeit buhlen. Glauben sie, sie würden das alleine schaffen? Besonders, wenn sie zusätzlich auch noch zum vierten Mal schwanger sind?“

„Ich … ich weiß nicht.“

„Nein würden sie nicht. Deswegen haben wir das Pflege- und Betreuungspersonal und auch das Eltern-Programm. Sie helfen ihnen nicht nur, sie unterstützen auch die Erziehung und nehmen ihnen einen Großteil der Arbeit ab. Die Kinder wachsen in dem Wissen auf, dass sie eine Mutter haben, die sie liebt, auch wenn es nicht die Frau ist, die sie zur Welt gebracht hat. Natürlich steht es ihnen trotzdem frei, sie jederzeit zu sehen. Nur ein Anruf und man wird sie ihnen bringen. Aber da es ihre eigentliche Aufgabe sein wird, neue Kinder in die Welt zu setzen, werden sie nicht immer Zeit für sie haben, auch wenn sie das möchten.“

Das hörte sich schrecklich an. „Und wenn ich es allein versuchen möchte?“

„Sie können es gerne versuchen, aber ich verspreche ihnen, sie werden scheitern.“

Na das waren doch mal aufmunternde Worte.

„Jedes Jahr erblicken bei uns durchschnittlich achtzig Babys das Licht der Welt. Wenn man das mit den Daten aus früheren Zeiten vergleicht, ist das nichts, doch für uns ist es ein Anfang, denn mit jedem Jahr werden neue fruchtbare Menschen geboren. Als dieses Projekt vor knapp siebzig Jahren begann, haben wir mit einem Dutzend Adams und Evas begonnen. In der Zwischenzeit ist die Zahl weit darüber hinausgewachsen. Natürlich sind ein paar von ihnen Streunern, doch durch uns haben sie eine Zukunft bekommen. Das ist etwas, das die Alte Welt ihnen nicht bieten kann.“

„Das heißt, unter den Evas, gibt es außer mir noch weitere Frauen aus den Ruinen?“

„Nein.“ Sie lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Dabei fiel ihr Blick kurz auf den kleinen Zettel auf meinem Tisch. Es war die Skizze, die Wolf von Nikita angefertigt hatte. In der Zwischenzeit hatte sie vom vielen Anfassen schon Eselsohren und Knitterfalten. „Die letzte fruchtbare Frau unter den Streunern, wurde lange vor dem Projekt entdeckt. Die Menschen außerhalb unserer Mauern sperren sie weg und hüten sie wie Gold.“

Das kam mir irgendwie bekannt vor. Nur waren es nicht die Leute in der freien Welt, die das taten.

„Du bist seit vielen Jahren die erste die zu uns gefunden hat. Allerdings gibt es unter den Adams vier Männer, die in der Alten Welt geboren wurden.“

„Und sie sind alle freiwillig hergekommen?“

„Einer von ihnen wurde als Baby vor unseren Toren abgelegt. Zwei andere wurden gefunden, als sie noch Kinder waren. Und Jósa Nyék suchte Zuflucht bei uns.“

Jósa Nyék. Diesen Namen sollte ich mir merken. Wenn er wirklich auch ein Streuner war, dann konnte er mir vielleicht helfen. Andererseits war er freiwillig herkommen. Damit war er sofort wieder von meiner Liste potentieller Verbündeter gestrichen.

„Sie alle haben frisches Blut in das Projekt gebracht und sind seit dem sehr oft Väter geworden.“

Ja, von Kindern, die man ihnen mehr oder weniger weggenommen hatte. Agnes und Killian konnten das formulieren wie sie wollten, unterm Strich waren Evas nur Brutmaschinen, die jede Menge Babys in die Welt setzen sollten.

„Es gefällt dir nicht was ich sage.“

Erschrocken blickte ich auf.

„Vielleicht hast du dir vorgenommen, dich uns anzuschließen, doch du bist noch nicht davon überzeugt.“

„Ich werde mir Mühe geben. Das verspreche ich.“ Oh ja, diese Lüge kam mir sehr leicht über die Lippen.

„Wissen sie eigentlich, wie besonders wir beide sind, Kismet? Wir leben nicht nur im Herzen von Eden, wir sind das Herz von Eden. Ohne uns wäre all das nicht möglich, ohne uns könnte man die Menschheit nicht retten.“

„Ohne uns und die Adams.“

Sie schnaubte. „Die Adams sind entbehrlich. Um hundert Frauen zu befruchten bedarf es nur eines Mannes. Doch was würden die Menschen tun, wenn es hundert Männer geben würde, aber nur eine Frau?“

„Aussterben.“ So wie die Natur es mittlerweile für uns vorgesehen hatte. „Es tut mir leid. Ich verstehe was du sagst und auch was es bedeutet, aber ich muss das erst noch … ich weiß nicht, verinnerlichen? Das ist alles noch so neu. Ich kenne das einfach nicht, dass alles so kontrolliert abläuft. Ich finde das … merkwürdig.“

„Sie sollen mich nicht duzten und nein es ist nicht merkwürdig, es ist das, was der Mensch seit jeher getan hat, die absolute Kontrolle. Wir müssen sie immer haben. Wir können es uns nicht erlauben, dass man sie uns entzieht, denn das wäre unser Untergang.“

„Ja wahrscheinlich, aber …“

Ein Klopfen an der Tür unterbrach mich.

Carrie wartete auf ein kurzes Nicken von Agnes und ließ dann eine hochgewachsene Frau mit hellbrauner Haut hinein. Sie trug die graue Uniform der Yards mit dem Emblem von Eden auf der Brust.

„Entschuldigen sie die Störung Despotin Nazarova, aber einer der Spähtrupps wurde wieder überfallen.“

Spähtrupps? Ich horchte auf. Und was hieß hier wieder überfallen? „Was für Späher?“

Agnes musterte mich einen Moment kühl. „Eine Gruppe der Tracker.“

Ah, die Menschenfänger. Mein Mitleid hielt sich sofort in Grenzen.

Die Despotin wandte sich wieder der Frau zu. „Gab es Verletzte?“

„Nur geringfügig.“

„In Ordnung. Warten sie in meinem Büro, ich komme gleich nach.“

Sie nickte und verabschiedete sich dann wieder.

Mich jedoch hatte ihr auftauchen nachdenklich gemacht. Es gab nur zwei Sorten von Menschen außerhalb dieser Mauern. Die Einen hielten sich von den Trackern und Eden möglichst weit fern und die anderen kamen auf der Suche nach Hilfe zu ihnen. Keine der beiden Gruppen würde auf die Idee kommen sie anzugreifen. Darum stellte sich mir jetzt die Frage: „Wer überfällt denn Tracker von Eden?“

„Wer schon. Unbedeutende Streuner.“

Nein, das kaufte ich ihr nicht ab. Natürlich konnte ich mich auch irren, aber … irgendwas passte bei dieser Aussage nicht ins Bild.

„Sie sollten sich darüber nicht weiter den Kopf zerbrechen, Kismet, diese Angelegenheit geht sie nichts an.“

Jetzt wurde ich erst recht misstrauisch. Trotzdem sage ich „In Ordnung“, denn ich musste ja noch immer den Schein wahren.

„Da sich nun eine dringende Angelegenheit aufgetan hat, sollten wir schnellstens fortfahren. Haben sie sich schon über ihre Möglichkeiten der Eingliederung kundig gemacht?“

Das konnte ich ruhigen Gewissens verneinen.

„Im Herz von Eden werden verschiedene soziale Gruppen angeboten. Der Bücherclub, Kunst, das Mediennetz oder auch Kurse zur Bildung. Viele der Anwohner nehmen diese Angebote wahr. Sie fördern nicht nur ihre Integration, sie bieten ihnen auch soziale Kontakte, die sie unbedingt aufbauen sollten. Der Beruf der Eva kann sehr auslaugend sein, da ist es wichtig, immer zu wissen, dass da andere Menschen sind, die einen unterstützen.“

Und noch schneller dafür sorgen konnten, dass man mir eine Gehirnwäsche verpasste. Natürlich sagte ich das nicht, sondern nickte nur artig.

„Eigentlich wollte ich noch ein paar andere Dinge mit ihnen besprechen. Aber die Zeit drängt.“ Sie warf einen demonstrativen Blick auf den Zeitmesser an ihrem Handgelenk, griff dann nach ihrem Gehstock und erhob sich von der Couch. „Wegen der Gruppen und Kurse können sie sich mit Frau Capps kurzschließen, sie wird ihnen alles Wichtige …“

Erneut klopfte es an meiner Tür.

Agnes warf ihr einen gereizten Blick zu. Sie mochte es wohl nicht unterbrochen zu werden. Wahrscheinlich öffnete Carrie die Tür deswegen so schnell, gerade als der Ankömmling die freie Hand hob, um erneut zu klopfen. Es war Killian.

„Dr. Vark“, sagte Agnes und musterte ihn mit einem hochmütigen Blick. „Wie kommen wir zu der Ehre?“

Mit einem Lausbubenlächeln auf den Lippen, ließ Killian seine Hand wieder sinken. „Ich wollte nur kurz nach Kismet schauen.“

„Warum?“ Sie musterte mich misstrauisch.

„Wegen ihrem Finger.“ Er grinste etwas verlegen. „Die Putzkolonne hat den Boden in meiner Praxis wohl etwas zu gut gebohnert. Sie ist ausgerutscht und hat sich den Finger umgeknickt.“ Ohne eine Einladung abzuwarten, trat er an Carrie vorbei, durchquerte den Raum und stellte seine Tasche neben der Skizze von Wolf auf meinen Tisch. „Ich war gerade im Haus, da dachte ich, es könnte nicht schaden, kurz vorbeizuschauen.“

„Sie waren bei Olive.“

Er nickte, wobei mir der verkniffene Zug um seinen Mund nicht entging. „Es ging ihr nicht gut.“

„Dann können wir ja dankbar dafür sein, dass es sie gibt. Wenn sie mich nun entschuldigen, es warten dringende Angelegenheiten auf mich.“ Entschlossen wandte sie uns den Rücken zu und marschierte eilends aus dem Raum. Carrie folgte ihr auf dem Fuße. Dann schloss die Tür sich hinter ihnen mit einem leisen Zischen.

Killian wartete einen Augenblick, dann beugte er sich mir leicht entgegen, ohne die Tür aus den Augen zu lassen und flüsterte. „Also, irgendwie finde ich sie ja gruselig.“

Ich konnte es nicht verhindern. Mein Mundwinkel zuckte und dann lächelte ich. Als ich es bemerkte, hörte ich damit sofort wieder auf. Bei allem was Gaia heilig war, wie war das denn gerade passiert?

„Früher als ich noch klein war, habe ich immer geglaubt, sie trinkt das Blut von kleinen Kindern. Kit hatte mir das erzählt.“ Er grinste verschmitzt. „Ich hatte immer schreckliche Angst vor ihr.“

Ich lachte. Es kam so plötzlich über meine Lippen, dass ich halb erschrak und es mir gerade noch so verkneifen konnte mir die Hände auf den Mund zu klatschen. Was war bloß in mich gefahren?

Kilian lächelte, parkte seinen Hintern auf meinem Tisch und streckte mir die Hand entgegen. „Gib mir deine Hand.“

Ich zögerte. Nicht nur weil ich mich über mein eigenes Verhalten wunderte, sondern auch, weil er so tat, als hätte er jedes Recht dazu, das zu verlangen.

Dass er hier war, fand ich irgendwie seltsam. Er trug nicht mal seinen weißen Arztkittel, nur normale Kleidung. Das ließ ihn irgendwie zugänglicher wirken, nicht so autoritär, sondern ganz normal.

„Bitte“, fügte er noch hinzu, ohne den Augenkontakt zwischen uns zu brechen.

Ach zum Henker. Was war nur mit mir los, dass ich ihn nicht sofort vor die Tür setzten wollte? „Meiner Hand geht es gut“, sagte ich ausweichend und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Da ich hier der Arzt bin, solltest du es mir wohl überlassen, das zu beurteilen. Meinst du nicht auch?“

„Aber wenn es nicht schmerzt, kann ich doch wohl davon ausgehen, dass alle in Ordnung ist.“

„Aber was machst du, wenn es morgen wieder schmerzt? Da bin ich dann nicht da, um dir zu helfen. Jetzt allerdings sitze ich direkt vor dir und es macht überhaupt keine Mühe.“

Wahrscheinlich nicht. Und außerdem war das für mich die Gelegenheit, die brave Eva zu spielen. Agnes wollte, dass ich mich eingliederte? Da konnte ich genauso gut mit meinem Arzt beginnen. Sicher würde auch er ihr von meinem Betragen berichten. Es konnte auf jeden Fall nicht schaden. Daher gab ich mich mit einem übertriebenen Seufzer geschlagen und legte meine Hand in seine.

„Danke.“ Sein Griff war sanft und als er meinen kleinen Finger unter die Lupe nahm, ging er sehr vorsichtig dabei um. „Tut das weh?“ Er bog meinen Finger vorsichtig hin und her.

Ich schüttelte den Kopf. „Nö, alles Bestens, habe ich doch gesagt.“

„Gutes Heilfleisch.“ Es dauerte einen Moment bis er meine Hand wieder freigab. „Trotzdem, falls du noch Beschwerden haben solltest, komm einfach bei mir in der Praxis vorbei. Meine Tür steht für dich jederzeit offen.“

Ein sehr abfälliger Spruch lag mir bereits auf den Lippen, als ich mich erinnerte, artig zu sein. „Jederzeit? Dieses Angebot könntest du noch bereuen.“

Sein Lächeln wurde breiter. „Ich stehe zu meinem Wort.“ Er deutete auf den Platz neben mich. „Darf ich?“

Es brauchte eine paar Sekunden, bis mir klar wurde, dass er sich neben mich setzten wollte. Ich zögerte. Hatte er etwa vor länger zu bleiben? Warum? „Klar“, sagte ich und versuchte dabei mein Misstrauen aus meiner Stimme herauszuhalten. Immer nett, immer freundlich. Ich war so ein richtig positives Menschenkind.

Killian erhob sich vom Tisch und ließ sich dann mit einem erleichterten Ausatmen neben mich plumpsen. „Ah, das ist schon besser.“

„Anstrengender Tag?“

„Wahrscheinlich nicht so anstrengend wie deiner.“

Dieses Mal musste ich das Lächeln auf meine Lippen zwingen. „Es war in Ordnung.“

„So siehst du aber nicht aus“, sagte er leise.

Ich schwieg. Was sollte ich darauf auch antworten? Die Wahrheit konnte ich ihm nicht sagen und eine Lüge hätte er mir im Moment wohl nicht abgekauft.

Der Moment der Stille zog sich hin. Killian schien nach Worten zu suchen. Warum nur ging er nicht einfach wieder?

„Und?“, fragte er dann und nickte zur Tür. „Was hat die alte Schreckschraube von dir gewollt?“

„Du meinst, abgesehen davon sich wichtig zu machen?“ Meine Schultern zuckten gleichgültig. „Ich glaube, sie wollte mir beibringen, was es bedeutet eine Eva zu sein und mir erklären, dass ich mich in die Gesellschaft eingliedern soll.“ Der letzte Teil kam ein wenig abfälliger rüber, als er eigentlich sollte. Vorsichtig spähte ich zu Killian. War mein Spiel jetzt aufgeflogen?

„Ja, bei er Frau muss immer alles sofort passieren. Sie versteht einfach nicht, dass es Dinge gibt, die Zeit brauchen.“ Er legte den Kopf auf die Lehne und grinste mich an. „Dabei sollte man doch meinen, in ihrem Alter, wüsste sie, was Geduld ist.“

„Altersstarrsinn.“

„Das könnte eine Erklärung sein.“

Ich zog die Beine an die Brust und legte mein Kinn darauf. Dabei versuchte ich das Schmunzeln meiner Lippen zu verbergen. Es fiel mir viel zu leicht, mich mit ihm zu unterhalten. Aber viel schlimmer fand ich, dass seine Anwesenheit gar nicht so abstoßen war, wie sie sollte. Es war jetzt nicht so, dass ich seine Gesellschaft genoss, doch wenn er noch ein paar Minuten bliebe, würde ich das ohne zu murren akzeptieren können.

Oh Gaia, was dachte ich da nur? Seine Anwesenheit war absolut nicht erwünscht, das durfte ich nicht vergessen. Aber wo er schon mal hier, konnte ich doch versuchen, ihn ein wenig auszuhorchen. Scheinbar war er ja gewillt sich mit mir zu unterhalten. Ich musste das Gespräch nur unbemerkt in die richtige Richtung lenken. „Eden ist so ganz anders als ich es mir vorgestellt habe.“

„So? Wie war den deine Vorstellung?“

„Weißt du was die Hölle ist?“

„Natürlich, das weiß doch jeder.“

Ach wirklich? Ich hatte davon erst vor ein paar Jahren von Azra erfahren. Sie trug ein Kreuz an einer Kette um den Hals. Es war sehr filigran und uralt. Ein Relikt aus der Zeit vor der Wende. Sie erzählte immer wieder die Geschichte ihres Glaubens, von Gott im Himmel und dem Teufel in der Hölle. In ihrer Tasche trug sie immer ein völlig zerlesenes Buch mit sich herum. Es enthielt keine Worte, nur Bilder. Sie hatte nie erzählt, woher sie es hatte. „Ich habe mal ein Bild gesehen. Ein Meer aus Feuer, in dem leidvoll geplagte Seelen in Schmerz und Kummer schreien. Um sie herum tanzen Schatten, böse Wesen mit hässlichen Fratzen, die sich an dem Leid der anderen erfreuen.“

Killian zog eine Augenbraue hoch. „Und du hast geglaubt, Eden ist genauso wie dieses Bild?“ Er grinste.

„Natürlich nicht“, sagte ich beleidigt. Ich war ja nicht völlig verblödet. „Nur wenn ich an Eden gedacht habe, hatte ich immer dieses Bild im Kopf. Ein Ort voll Kummer und Leid, an dem sich Monster am Elend der anderen ergötzen.“

„Du hattest wohl wirklich nicht den besten Eindruck von uns.“

„Leider habe ich das immer noch nicht“, sagte ich leise und blickte dann gespielt erschrocken auf. „Tut mir leid, das war nicht so gemeint.“

„Schon gut. Ich verstehe schon.“

„Es ist nur so …“ Pause einlegen. Noch ein Moment warten, um Worte ringen. Okay, das war genug. „Ich konnte immer gehen wohin ich wollte. Es gab nichts und niemanden der mich aufhalten konnte. Endlose Horizonte und Freiheit soweit das Auge reichte. Aber hier … überall sind Türen, Mauern und Schlösser. Ich komme mir vor wie in einer Falle.“

„Das muss hart sein.“

„Wenn ich nur hin und wieder raus könnte.“ Komm schon, beiß an. „Aber Agnes hat gesagt, dass es Evas untersagt ist, die Herz der Stadt zu verlassen.“

„Ja, diese Regel ist zu eurer Sicherheit.“

Sicherheit, gutes Stichwort. „Aber jede Sicherheit weißt Lücken auf.“

Killians Mundwinkel zuckte. „Versuchst du gerade mich auszuhorchen?“

„Was?!“ Streite alles ab! „Natürlich nicht.“

„Doch, ich glaube, genau das versuchst du.“

Musste er bei dieser Feststellung so belustigt aussehen? „Worüber sollte ich dich den ausfragen wollen? Einen ärztlichen Rat bekomme ich ja auch so.“

Er gab ein leises Lachen von sich. „Okay, ich werde es dir einfach machen.“

„Was einfach machen?“

„Ah, die Ahnungslose. Ich bin nicht auf den Kopf gefallen, Kismet. Und mir ist durchaus bewusst, dass du noch immer einen Weg suchst, von hier zu entkommen. Natürlich glaube ich dir, dass du nichts tun würdest, was deine Schwester unglücklich macht, aber ich kenne deine Schwester nicht und weiß nicht, ob sie sich hier wirklich wohlfühlt, oder ob du das nur erfunden hast.“

Nein, dieser Teil entsprach der Wahrheit – leider. „Sie fühlt sich hier wohl“, erklärte ich leise. „Für sie ist das alles ein großes Abenteuer.“

„Und das gefällt dir nicht.“

Ich überlegte einen Moment, was ich darauf antworten sollte. Im Prinzip hatte er mich ja schon durchschaut, was mir ganz und gar nicht gefiel. Ich konnte alles auf eine Karte setzen und hoffen. Schlimmer konnte es ja kaum noch werden, oder? Andererseits konnten sie mir Nikita wegnehmen. Daher sagte ich: „Ich komme zurecht.“

„Nun gut, ich verstehe, dass du nicht offen zu mir sein kannst. Ich bin ein Fremder und noch dazu der Feind, aber bitte vergiss nicht, ich meine es gut mit dir.“

„Ich weiß.“

„Da bin ich mir nicht so sicher.“

Wahrscheinlich, weil ich es auch nicht so meinte.

Killian streckte mir seine Hand entgegen. „Gib mir mal deine Hand.“

„Du hast dir meinen Finger doch schon angesehen.“

„Nicht die Hand, die andere. Ich will dir etwas erklären. Bitte.“

Ich wollte nicht. Und trotzdem tat ich es, schließlich musste ich noch immer die artige Eva spielen, denn es konnte ja durchaus sein, dass er nur so tat, als hätte er mich durchschaut, in Wirklichkeit aber gar keine Ahnung hatte. Man, das wurde langsam kompliziert.

Die Finger seiner anderen Hand strichen über meinen Handballen, bis sie den kleinen Knubbel unter der Haut fanden. „Dein Keychip.“

„Du hast ihn mir eingesetzt.“

Er nickte. „Er ist dein Zugang zu allem wofür du berechtigt bist.“

„Ich weiß, Cameron hat es mir bereits erklärt.“ Ich zog meine Hand zurück und versteckte zwischen meinen Knien. Wie er mir über die Haut gestrichen hatte, konnte ich noch immer fühlen. Das gefiel mir nicht. „Ich kann Türen öffnen und Daten abrufen.“

„Der Keychip ist viel mehr als das. Er ist dein Schlüssel zur Stadt, doch welches Schloss du damit öffnen kannst, entscheidest nicht du, sondern die Despotin.“ Er lehnte sich auf dem Platz zurück. „Alle Menschen in Eden sind einer Kategorie zugeteilt und je nach Kategorie, erhältst du den Zugriff auf das System. Die Despotin erteilt die Zugangsberechtigungen, sowohl für Türen, als auch für Daten. Eine Eva kann nur Türen innerhalb der City öffnen. Versuchst du eine Tür zu öffnen, für die du keine Befugnis hast, passiert im besten Fall gar nichts. Im schlimmsten löst du mit deinem Versuch einen Alarm aus, woraufhin es passieren kann, dass du festgenommen wirst. Und was dann geschieht, kannst du dir sicherlich vorstellen.“

„Zwang.“ Ja ich klang verbittert.

„Ich erzähle dir das nicht, weil ich dich verunsichern will, es ist einfach eine Warnung. Ich möchte nicht, dass du unnötig in Schwierigkeiten gerätst.“

Ich schnaubte. „Ach nein? Warum nicht?“

„Vielleicht mag ich dich ja.“

Das bezweifelte ich doch stark.

„Schau mich nicht so an. Trotz deiner Stacheln bist du ein nettes Mädchen.“

Ein abfälliges Lachen kam mir über die Lippen. „Da sieht man mal wie fremd ich dir bin. Niemand der mich kennt, würde mich als nett bezeichnet.“

Seine Mundwinkel zuckten. „So wie du das aussprichst, könnte man glatt glauben, ich hätte dich beleidigt.“

„Vielleicht ist das ja auch so.“ Ein kleines Lächeln zupfte an meinen Mundwinkel. Sofort verbot ich es mir wieder. Verdammt, warum nur lächelte ich den ganzen Abend immer wieder? Er war verflucht noch mal der Feind! Das konnte ich doch nicht ständig vergessen. Ich musste aufhören die Nette zu spielen und ihn in seine Schranken weisen. Nein, natürlich durfte ich nicht damit aufhören, doch ich durfte nicht erlauben, dass … naja, das hier halt. Diese Nettigkeiten. Ich durfte mir nicht erlauben, auch nur einen Hauch von Zuneigung für ihn zuzulassen. Das wäre sonst mein Untergang.

„Mir würde nicht im Traum einfallen dich zu beleidigen“, erklärte Killian, ohne den Umschwung meiner Laune zu bemerken. „Kit hat mir erzählt, was für einen kräftigen Tritt du hast. Dieser Erfahrung würde ich doch gerne entgehen.“

„Ja, viele Männer können es nicht ertragen, von einer Frau fertiggemacht zu werden.“

Von meinem scharfen Ton überrascht, legte sich seine Stirn in Falten. „Ja, wahrscheinlich, immerhin sind wir doch das starke Geschlecht.“

„Ja, so sagt man.“

Die kalte Distanziertheit, die plötzlich von mir ausging, verwirrte ihn. „Habe ich etwas Falsches gesagt?“

„Du solltest gehen, ich bin müde.“

Killian bewegte sich nicht vom Fleck, stattdessen musterte er mich und schien in Gedanken unser Gespräch noch einmal durchzugehen. „Weißt du Kismet, es ist nicht schlimm, wenn du eine gewisse Sympathie für mich entwickelst. Menschliche Bindungen sind wichtig und …“

Damit, dass ich mich erhob, schnitt ich ihm das Wort ab. „Geh jetzt. Und komm nicht wieder.“

Wir lieferten uns ein stummes Blickduell, das Killian mit einem Seufzen beendete. „Ich danke dir für den Abend“, sagte er und erhob sich. „Vielleicht können wir das ja mal wieder machen.“

„Das glaub ich nicht.“ Um meine Worte zu unterstreichen, verschränkte ich noch die Arme vor der Brust.

Killian schien noch etwas sagen zu wollen, nahm dann aber einfach still seine Tasche und ging zur Tür. „Gute Nacht, Kismet“, sagte er noch, dann war ich wieder alleine.

Und ich blieb zurück und verfluchte mich innerlich dafür, wie ich mit ihm umgegangen war. Es war nicht richtig. Ich durfte ihn nicht so an mich heranlassen, nicht mal während meines Spieles. Es war viel zu einfach, sich mit ihm zu unterhalten und sich in seiner Gesellschaft wohl zu fühlen. Das erste Mal seit meiner Ankunft hier, war ich halbwegs entspannt gewesen. Das war nicht gut. Es war gefährlich zu vergessen wer Killian war. Ein Kind von Eden, auch wenn er nicht mit allen Ansichten übereinstimmte und … verdammt noch mal, was tat ich da? Ich sollte keine Entschuldigungen suchen, die ihn gleich wieder sympathetischer wirken ließen. Ich sollte gar nicht über ihn nachdenken. Aus den Augen, aus dem Sinn, so hieß es doch.

Na dann beschäftige dich doch einfach mit wichtigeren Dingen.

Gute Idee. Eine wichtige Information hatte Killian mir nämlich geliefert. In seinen Worten war es eine Warnung gewesen, doch mich könnte es auf meinem Weg zur Lösung meines Problems ein Stück weiterbringen. Die Keychips konnten mich durch jede Tür bringen – immer vorausgesetzt, man besaß die Zugangsberechtigung und die erhielt man von einer einzigen Person in Eden.

Ein vager Plan nahm in meinem Kopf Gestalt an. Der Schlüssel zu allem war Agnes.

 

oOo

Kapitel 27

 

Die Faust zum Klopfen erhoben, atmete ich noch einmal tief durch und versuchte meinen Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen. Leider weigerte dieser sich beständig meinem Willen zu gehorchen. Mit jedem Schritt dem ich der Tür nähergekommen war, hatte er sich sogar noch ein wenig beschleunigt. Sehr ärgerlich. Zum Glück sah man mir meine Aufregung nicht an.

Ich hatte mich aus meinem Zimmer gestohlen und mit meinem ewigen Anhängsel, dem Gardisten, einen Wagen des Fahrdienstes bestiegen, noch bevor Carrie am Morgen auftauchen konnte. Wahrscheinlich suchte sie jetzt überall nach mir, aber das war mir völlig egal. Hierbei konnte ich sie und ihre Kommentare nicht gebrauchen. Der Versuch Agnes auf meine Seite zu ziehen, oblag ganz alleine mir.

Das Büro im Freizeitcenter auswendig zu machen, war nicht weiter schwer. Von Carrie hatte ich ja schon gewusst, dass es sich in der ersten Etage befand und nachdem ich jemanden nach dem genauen Standort gefragt hatte, war ich auf diese Tür, mit dem goldenen Schild, verwiesen worden. Blieb nur zu hoffen, dass Agnes sich im Moment auch hinter dieser Tür befand.

Noch ein letzter, tiefer Atemzug, dann ließ ich meine Faust zwei Mal gegen das Holz knallen.

Bis das „Herein“ kam, musste ich nicht lange warten.

Na dann mal los.

Als ich durch die Tür in das Büro trat, blieb ich erstmal erstaunt stehen. Wow. Ich wusste nicht, womit ich gerechnet hatte, aber damit ganz sicher nicht.

Die Wand zum Korridor war mit Regalen voller Bücher zugestellt. Das mussten hunderte von Büchern sein.

Rechts und links, mitten im dem Raum, waren hohe, halbrunde Glasbehälter von jeweils sechs Fuß Länge. Sie reichten mir bis knapp zum Kinn. Das Wasser darin war kristallklar. Steine und Pflanzen dekorierten es. Dazwischen tummelten sich Schwärme von kleinen, bunten Fischen.

Warum holte sich jemand lebendige Fische ins Haus? Und dann auch noch so kleine? Die würden nicht einmal einen Bissen abgeben.

Das Prunkstück dieses Raumes war jedoch der große Schreibtisch. Er war nicht aus Holz, und auch nicht aus Metall. Ich konnte das Material nicht bestimmen. Tief schwarz, ohne die kleinste Naht. Massiv mit einer polierten Oberfläche. Schwache Lichter leuchteten auf der Oberfläche. Ein Digital-Deks – ein sehr eindrucksvoller.

Halb verborgen, hinter dem einen Wasserbecken, stand eine ausladende Sitzgruppe, aus schwarzen Polstermöbeln.

Doch was mich in diesem Raum wirklich gefangen nahm, war das riesige Bild an der Wand dahinter. Es zeigte einen wunderschönen Baum im Sonnenlicht, inmitten eines farbenfrohen Gartens. Zwei Menschen knieten zwischen den Wurzeln und schauten hinauf in die Baumkrone, die voller saftiger Äpfel war – ein Mann und eine Frau. Sie waren nackt und wunderschön, mit ihrer Alabasterhaut. Um den Baumstamm wand sich elegant eine Schlange.

Auf dem Schreibtisch stand eine kleine Büste, die das Motiv aufgriff.

„Adam und Eva im Garten Eden, unter dem Baum des Lebens.“

Agnes kratzige Stimme riss mich aus meiner Bewunderung. Ich strafte die Schultern und versuchte mich selbstbewusst, aber auch ein wenig unterwürfig, zu geben. Leider geriet mein Plan augenblicklich ins Trudeln, denn Agnes war nicht allein, so wie ich gehofft hatte.

Die Despotin saß hinter ihrem Schreibtisch. Links und rechts von ihr standen zwei Gardisten und taten, als würden sie zur Einrichtung gehören. Daneben auf der Couch lümmelte Sawyer sich sichtlich gelangweilt. Sein Blick auf mich war nur von mäßigem Interesse, dann legte er den Kopf zurück in den Nacken und starrte zur Decke hinauf.

„Kismet.“ Agnes richtete sich ein wenig auf. „Was kann ich für sie tun?“

„Ähm … ich würde gerne etwas mit dir – ich meine, mit ihnen – besprechen.“ Ohne Zuhörer, wenn es möglich war.

„Ist es dringend?“

„Naja, nein, nicht wirklich.“ Jedenfalls nicht nach ihrer Auffassung. Für mich war es das durchaus.

„Dann müssen sie sich noch ein wenig gedulden. Setzen sie sich doch.“

Ich schaute von der Sitzecke zu dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch und entschied mich dann für den ledernen Sessel. Zwar war Warten nicht das was mir vorgeschwebt hatte, aber manchmal musste man die Dinge eben nehmen, wie sie kamen. Und ich hatte ganz sicher nicht vor, in Sawyers Gegenwart, über mein Anliegen zu sprechen.

„Und nun wieder zu ihnen.“ Sie tippte auf der Oberfläche ihres Schreibtisches herum, den Blick auf das virtuelle Fenster gerichtet. „Es geht einfach nicht, dass sie Celeste die Tür vor der Nase zuschlagen. Sie sind verpflichtet ihr zu dienen.“

Er winkte so gelangweilt ab, als hätte er es mit einer lästigen Fliege zu tun.

„Es ist mir Ernst, Herr Bennett.“

„Es ist ihnen immer Ernst, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass sie nicht empfänglich war. Ich bin verpflichtet sie zu schwängern und nicht ihrem tristen Dasein ein wenig Farbe zu verleihen.“ Er ließ den Kopf zur Seite rollen. „Wenn sie nur ´nen bisschen vögeln will, soll sie zu jemand anderem gehen.“

„Sie sind ihr Favorit und …“

„Ist mir egal.“

Agnes Lippen wurden zu einer dünnen Linie. „Sie kennen die Regeln, die Entscheidungsgewalt liegt nicht bei ihnen. Wenn Celeste das nächste Mal zu ihnen kommt, werden sie ihr wie ein Gentleman die Tür öffnen und sie in ihr Haus bitten.“

„Bekomme ich auch eine Strafpredigt, wenn ich keinen hoch bekomme? Sie ist nämlich nicht gerade der Bringer.“

Ihre Augen verengten sich leicht. Gleich würde sie damit Pfeile verschießen. „Sie sind erfahren genug, um auch für einen solchen Fall eine Lösung parat zu haben.“

„Ja klar, ich bin voll der Hecht.“

Das überhörte sie einfach. „Außerdem erwarte ich, dass sie sich bei ihr für ihr Verhalten zu entschuldigen.“

Er schnaubte. „Sonst noch etwas?“

„Ja. Shae hat ihnen wohl schon mehrere Anfragen für einen Termin gesandt, die sie allesamt ignoriert haben.“

„Ich habe keine Anfrage erhalten.“

„Doch, haben sie. Ich habe ihr Konto überprüft. Vielleicht solltest sie das hin und wieder auch mal tun.“

„Wenn sie etwas will, soll sie einfach zu mir kommen.“

Oh ja, ich glaube da kam bereits der erste Pfeil geflogen.

„Kümmern sie sich darum“, verlangte Agnes streng. „Eine weitere Beschwerde wird weitaus unangenehmere Konsequenzen nach sich ziehen.“

„Was? Wollen sie mich etwa kastrieren lassen? Ich kann mir weitaus schlimmeres vorstellen.“

Wenn ich mir das so anhörte, war ich hier wohl nicht die Einzige, die mit ihrem Job nicht ganz so zufrieden war, wie die Despotin es gerne hätte.

„Ich werde mich nicht wiederholen, Herr Bennett.“

„Ja ja, schon klar.“

Sichtlich verärgert beugte Agnes sich ein wenig vor. „Sie können gehen.“

„Na endlich.“ Schwungvoll, als hätte er nur darauf gewartet, erhob er sich von der Couch und machte dann eine übertrieben gestenreiche Verbeugung. „Es war mir wie immer eine Ehre hier zu sein.“

„Übertreibe sie es nicht, meine Geduld mit ihnen hat auch Mal ein Ende.“

„Vielleicht ist es genau das worauf ich hoffe“, murrte er und drehte sich herum. Dabei bemerkte er, wie ich ihn beobachtete. „Na, genug geglotzt, oder brauchst du noch ein Foto?“

„Von dir?“ Ich hob eine Augenbraue. „Klar, dann habe ich etwas womit ich mir den Hintern abwischen kann.“

Ein Blinzeln, ein Schnauben, dann verließ er wortlos das Büro, ohne die Tür hinter sich zu schließen.

Agnes seufzte. „Würdest sie bitte?“

Nein, eigentlich wollte ich nicht ihr Laufbursche sein, aber da ich mich gut mit ihr stellen musste, erhob ich mich und schloss die Bürotür, bevor ich mich ihr gegenüber auf dem Stuhl niederließ. Dabei ärgerte ich mich darüber, dass die Gardisten sich nicht von der Stelle bewegt hatten.

„Ich habe nicht viel Zeit, also kommen sie bitte gleich zum Punkt“, erklärte Agnes, ohne ihre Finger von dem Desk zu nehmen.

„Ja, in Ordnung.“ Ich hatte mir ganz genau überlegt, wie ich das am besten angehen sollte. Agnes bevorzugte wahrscheinlich tüchtige Menschen, Leute die ihr nie widersprachen und den Boden küssten, auf dem sie sich bewegte. Ob ich das alles hinbekam, wusste ich nicht, aber ich würde es versuchen, denn davon hing alles ab. Nur unsere beiden Zuhörer machten mich ein wenig nervös. Ignorier sie! „Ich weiß, ich bin noch nicht so lange hier, aber ich spüre deutlich wie ruhelos ich bin, einfach weil ich kaum etwas zu tun habe. Draußen in den Ruinen hat mein Tag früh begonnen und erst spät geendet. Ich war praktisch jede Minute beschäftigt gewesen. Aber hier … hier kann ich nichts tun.“

„Ich habe ihnen gestern Möglichkeiten aufgezeigt, wie sie sich beschäftigen können.“

„Ja ich weiß, aber ich denke nicht, dass etwas davon das Richtige für mich wäre. Deswegen habe ich gehofft, du könntest – ich meine, sie könnten mir vielleicht Arbeit geben.“

„Ihnen wurde bereits eine Arbeit zugeteilt, sie sind eine Eva.“

„Ich meine Zusätzlich, etwas das mich beschäftigt hält.“

Agnes stellte das Tippen ein und blickt mich aus ihren alten Augen scharf an. „Evas arbeiten nicht. Ihr einziger Daseinszweck, ist die Erhaltung der Menschheit.“

„Es muss ja auch keine große Arbeit sein, nur was Kleines. Ich könnte – was weiß ich – ich könnte ihnen ja im Büro helfen.“

Ein abfälliger Zug erschien um ihren Mundwinkel. „Das bezweifle ich. Sie können ja noch nicht einmal lesen.“ Sie wandte sich wieder dem Desk zu. „Das wäre die Mindestanforderung für eine Anstellung in meinem Büro.“

Mist, das hatte ich nicht bedacht. Lesen war nie wichtig für mich gewesen. So schnell konnte sich das ändern. „Gibt es dann vielleicht etwas anderes das ich tun könnte? Man muss doch sicher nicht bei jeder Aufgabe lesen und schreiben können, oder?“

Erst reagierte sie nicht, doch dann hob sie langsam den Blick und nahm mich ins Visier. „Es gibt da vielleicht wirklich eine Aufgabe, die sie übernehmen könnten. Nur ein paar Stunden am Tag.“

„Ja, das hört sich gut an.“

„Nun gut.“ Sie griff zur Seite und drückte auf einem Knopf an der Kante des Desk. Ein Summen ertönte.

„Ja?“, erklang es direkt aus dem Schreibtisch heraus. Nein, nicht aus dem Schreibtisch, aus einem eingebauten Lautsprecher.

Agnes drückte noch mal auf den Knopf. „Anett, würden sie einen Augenblick in mein Büro kommen?“

„Natürlich.“

Die Despotin verschränkte ihre Finger miteinander und legte sie auf den Tisch. „Ich werde sie Frau Gersten anvertrauen, sie wird sie zu ihrem Arbeitsplatz bringen.“

Was?! Aber nein, so war das nicht geplant gewesen! Ich wollte direkt mit Agnes zusammenarbeiten, nur so konnte es funktionieren.

Mein Mund war bereits dabei sich zu öffnen, um ihr zu widersprechen, als ich es mir anders überlegte. Ich musste fügsam sein und gehorchen. Wiederworte waren sicher nichts, was sie gutheißen würde. Als persönliche Assistentin würde Anett sicher oft in Agnes Nähe sein und damit hoffentlich auch ich. Noch war also nicht alles verloren, ich musste mich nur ruhig verhalten.

Ich hatte den Gedanken kaum zu Ende geführt, als Anett ohne anklopfen im Büro erschien. Sie schaute kurz mich an, konzentrierte sich dann aber auf Agnes. „Was kann ich für sie tun?“

„Kismet hat um eine Anstellung gebeten, da sie sich von unserem Angebot unterfordert fühlt und da ist mir eingefallen, dass Herr Hemmelt einen Antrag auf Unterstützung gestellt hat.“

Herr Hemmelt? Wer zum Henker war Herr Hemmelt?

Anett nickte verstehend. „In Ordnung, dann werde ich sie gleich nach unten bringen.“

„Tun sie das.“ Und sofort galt Agnes‘ ganze Konzentration wieder ihrem Desk.

Nach unten? Was hieß nach unten? Ich wollte hier oben bleiben, in Agnes Nähe. Sie war es schließlich die, die Zugangsdaten zuteilte.

„Kommen sie Kismet, ich werde Herr Hemmelt vorstellen.“

Ich zögerte. Das hier lief ganz und gar nicht nach Plan. Aber eine Verweigerung würden meine bisherigen Erfolge zu kalter Asche werden lassen. Ich durfte das hier jetzt nicht in den Sand setzten. Vielleicht bot sich ja später noch eine Gelegenheit, jetzt musste ich erstmal weiter mitspielen. Agnes‘ Vertrauen konnte ich mir auf diese Art vielleicht immer noch erschleichen. Mit diesen Gedanken blieb mir gar nichts anderes übrig, als mich zu erheben und Anett hinaus auf den Korridor zu folgen.

Dort stoppte ich einen kurzen Moment, denn ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, erneut auf Sawyer zu treffen. Er lehnte an der Wand und fixierte mich mit einem seltsam eindringlichen Blick. Der Ausdruck in seinem Gesicht hatte etwas Arrogantes und Herablassendes. Als hielte er sich für etwas Besseres.

Als ich seinem Blick nicht auswich, verzogen seine Lippen sich zu einem verächtlichen Lächeln.

Anett Gersten bemerkte erst nach ein paar Schritten, dass ich stehen geblieben war. „Kismet, kommen sie, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“

„Ja, natürlich.“

„Ja, lauf nur, Baby, sei eine artige, kleine Sklavin“, murmelte Sawyer so leise, dass nur ich ihn verstehen konnte.

Bevor ich ihm den Rücken kehrte, bekam er noch einen giftigen Blick von mir.

Wenig begeistert folgte ich Anett hinunter ins Erdgeschoss. Sie hatte einen zügigen Schritt und wirkte dabei so steif, als würde sie jeden Moment einfach in der Mitte durchbrechen. Ein paar Besucher des Centers schauten uns schaulustig hinterher, aber die meisten hatten sich in der Zwischenzeit offensichtlich an meinen Anblick gewöhnt und fanden mich nicht mehr interessant genug, um jeden meiner Schritte mit Stielaugen zu verfolgen.

Zu meiner Überraschung brachte Anett mich nicht in ein Büro, sondern schlug den Weg zum Paradise ein. Auch um diese Zeit war er schon gut Besucht. Und da waren auch wieder die neugierigen Blicke, die mich auf meinem Gang durch den Laden begleiteten.

Anett führte mich zugigen Schritts in den hinteren Teil des Clubs, zu einem Büro mit offener Tür. Der Raum war nicht annähernd so modern eingerichtet, wie Agnes Büro. Er war kleiner und wirkte ein wenig vollgestopft. Als meine Begleiterin mit den Knöcheln gegen den Türrahmen klopfte, schaute ein recht korpulenter Mann hinter dem Schreibtisch auf. Er hatte dicke Wurstfinger und die Knöpfe an seinem Hemd spannten über dem Bauch. Sein Haar war braun und ziemlich dicht und als er Anett sah, breitete sich ein herzliches Lächeln auf seinen Lippen auf. „Schwesterchen.“

Schwesterchen, wirklich? Der Mann sah Anett so ähnlich, wie ich meinem Trotzkopf.

„Archie.“ Anett hielt ihre kühle Fassade aufrecht, kein Funken von Herzlichkeit. „Du hattest um eine Aushilfe für die Frühtheke gebeten.“

„Ja.“ Sein Lächeln wurde noch breiter, als sein Blick sich auf mich richtete. „Gehe ich recht in der Annahme, dass diese junge Dame gewillt ist, mich hier ein wenig zu unterstützen?“

„Das tust du.“ Anett drehte sich so, dass sie uns beide im Blick hatte. „Das ist Kismet. Im Moment ist sie noch eine inaktive Eva und bist ihr Dienst beginnt, möchte sie sich anderweitig ein wenig nützlich machen.“

„Das ist eine ausgesprochen gute Nachricht für mich.“

Für mich war das eine ausgesprochen schlechte Nachricht. Das hier hatte absolut nichts mit Agnes zu tun und wie es aussah, auch nicht mit Anett. Viel mehr bekam ich langsam das Gefühl, mir im Paradise einen Job als Kellner geangelt zu haben.

Mit einem Ächzen erhob Archie sich von seinem Stuhl und quetschte seinen massigen Leib dann durch den schmalen Spalt zwischen Schreibtisch und Schrank hindurch, um zu uns zu gelangen. Dann strahlte er mich an und reichte mir die Hand. „Hi, ich bin Archie. Es freut mich dich kennen zu lernen. Ich darf dich doch duzen, oder? Hier nehmen wir es mit der Etikette nicht so genau.“ Er lachte, als hätte er einen Witz gemacht.

„Das geht in Ordnung.“ Äußerst widerwillig nahm ich seine Hand und schüttelte sie einmal. Egal wie sehr es mir auch missfiel, ich durfte nicht aus der Rolle fallen.

„Na dann.“ Er versetzte mir einen Schlag auf die Schulter, die mich einen Schritt nach vorne taumeln ließ und drängte sich dann an mir vorbei zur Tür hinaus. „Dann komm mal mit. Ich zeige dir was du zu tun hast und wo alles steht und dann kann es auch schon losgehen.“

Super. Das war einfach nur fantastisch. Ich konnte mir ein Grummeln nicht verkneifen. „Agnes hat etwas gegen mich“, murmelte ich leise. Aber scheinbar nicht leise genug, den Anett hörte es.

„Ich verbitte mir, dass sie so von unserer Despotin sprechen. Diese Aufgabe ist für sie sehr weise gewählt.“

Aber sicher doch. „Das ist einfach nur eine Aufgabe, um mich aus dem Weg zu haben, damit ich sie nicht weiter behelligen kann.“ Das genaue Gegenteil von dem was ich geplant hatte.

„Nun hören sie mir mal zu. Jeder Mensch hat seine Aufgabe, seinen Zweck in der Gemeinschaft. Körperliche Arbeit ist nicht weniger wert als geistige. Darum ist auch keiner besser oder schlechter als der andere. Alle verdienen das Gleiche, ob nun finanziell oder ethisch. Unsere Despotin weiß das und handelt danach.“

Da musste ich widersprechen. „Die Despotin ist bessergestellt. Und auch die Evas sind bessergestellt. Und die Adams und Kinder.“ So viel hatte ich bereits gelernt.

„Adams sind nicht bessergestellt. Sie sind wie alle anderen, eben nur … mit einem Zusatz.“

Aha, Zusatz. So nannte man Fruchtbarkeit neuerdings also.

„Und Kinder und Evas … sie sind unser größter Schatz, unsere Zukunft, die Zukunft der Menschheit. Sie sind das Herz, das uns alle zusammenhält.“

Ach, und deswegen durften Evas in Gold baden und der Rest im Dreck schlafen? Sehr logisch. „Und die Despotin?“ Mit dieser Frage begab ich mich auf dünnes Eis, das war mir sehr wohl bewusst. Trotzdem musste ich sie stellen.

Anette schürzte ihre Lippen leicht. „Die Despotin war selber einmal eine Eva. Sie ist nicht nur unser Vorstand und die Frau, die all das möglich gemacht hat, sie ist eine Pionierin, eine Frau mit Zukunftsvisionen.“

Oh ha, wie ihre Augen leuchteten. Da war sie wieder, die Heldenverehrung. „Aber ein Mensch aus den Ruinen ist weniger wert als einer aus Eden“, fügte ich wachsam hinzu. „Man würde keiner anderen Eva eine solche Aufgabe übertragen.“

Daraufhin bekam ich nur einen scharfen Blick, aber sie widersprach wenigsten nicht. Genaugenommen sagte sie überhaupt nichts dazu. „Besser sie folgen Archie, er hat sicher eine Menge Arbeit für sie.“

Da sah man es mal wieder, planen war absolut nicht mein Ding. Aber die Suppe hatte ich mir nun mal eingebrockt und jetzt musste ich sie auch auslöffeln.

Zu meinem Glück entpuppte sich die Arbeit bei Archie als recht angenehm. Er war ein lustiger Zeitgenosse, der gern und viel lachte und auch wenn ich seine Art von Humor nicht teilte und mein Plan gescheitert war, so hätte ich es weitaus schlimmer treffen können.

Ich sollte am Morgen arbeiten, wenn die Leute zum Frühstücken kamen. Aber ich würde nicht wie die anderen Kellner von einem Tisch zum anderen rennen, um die Gäste zu bedienen. Ich musste hinterm Tresen bleiben und Getränke ausgeben. Dann zeigte Archie mir noch das Lager und die Mülltonnen am Hintereingang. Ein ruhmreicher Job, der mir Ansehen und Ehre einbringen würde. Es fehlte nicht mehr viel und ich hätte geknurrt.

Ungefähr eine halbe Stunde nachdem mein glorreicher Plan so brillant gescheitert war, spürte Carrie mich auf und hatte fast genauso schlechte Laune wie ich. Sie nahm es mir echt übel, dass ich sie so einfach hintergangen hatte. Zur Strafe zerrte sie mich den ganzen Tag von einem Termin zum nächsten und war den ganzen Tag verstimmt.

Die Sonne war bereits untergegangen und hatte der aufkeimenden Nacht Platz gemacht, als ich den Tag endlich hinter mich bringen konnte und an die Freitreppe zum Turm der Evas trat.

Fröstelnd zog ich die Strickjacke enger um meine Schultern und ließ meinen Blick hinauf in den nächtlichen Himmel wandern. Es waren die gleichen Sterne, die auch zuhause des Nachts immer über mir gefunkelt hatten, doch hier, an diesem fremden Ort, wirkten auch sie wie Fremde.

„Also Liebes, ich werde mich dann jetzt verabschieden. Den Weg hinein finden sie ja sicher allein.“

„Das werde ich wohl gerade noch so schaffen.“

Carrie schnalzte missbilligend über meine altklugen Worte.

„Und denken sie daran, morgen früh auf mich zu warten, sonst wird das ernsthafte Konsequenzen für sie haben. Sie sind noch nicht so weit, um sich allein zurechtzufinden.“

Dafür, dass ich noch nicht so weit war, hatte ich es heute aber gut alleine gemeistert. Ich hatte es sogar geschafft mir einen Job zu angeln, den ich gar nicht wollte.

Als sie mir den Rücken kehrte und den Weg zurückging, den sie gerade erst gekommen war, musste ich wirklich überlegen, ob sie das mit den Konsequenzen ernst gemeint hatte. Zuzutrauen wäre es ihr. Ihr und jedem anderen Edener würde ich sogar noch weitaus mehr zutrauen. Es würde mich nicht mal wunden, wenn sie mich an eine Kette legen und in irgendeinem Keller festbinden würden.

Langsam spürte ich, wie das Gewicht der Last, mich niederzudrücken drohte. Es waren nicht nur Carrie und Agnes, es war vor allem Nikita. Bis vor zwanzig Minuten, hatten wir zusammen im Paradise gesessen und jeder Moment mit ihr zusammen, hatte meine Sorge um sie nur wachsen lassen. Dieser Ort begann sie zu verändern.

Es war nicht nur ihr Äußeres, die Kleidung die sie trug, oder die Dinge, die sie plötzlich begeisterten, es war vor allen Dingen ihr Verhalten. All die Maschinen und elektronischen Geräte wirkten unglaublich anziehend auf sie. Es verging kaum eine Minute, in der sie nicht an ihrer Survival-Uhr herumspielte, oder sich eine andere technische Spielerei zur Hand nahm. Den Autosimulator im Paradise hatte sie praktisch die ganze Zeit belegt gehabt. Ihre Weltansicht schien sich von Minute zu Minute weiter zu verändern. Doch wirklich schockiert hatte mich ein Satz, den sie völlig nebenbei von sich gegeben hatte.

„Die Streuner wissen gar nicht, was sie hier alles verpassen.“ Nur dieser kleine Satz, dem man im Normalfall kaum eine Bedeutung beimessen würde. Aber mir war es sofort aufgefallen. Sie hatte die Streuner gesagt, nicht wir Streuner, oder wir Menschen aus den Ruinen. Sie begann sich selber als Edener zu betrachten. Und ich schaffte es einfach nicht, einen Ausweg aus dieser vertrackten Situation zu finden.

Mutlos ließ ich mich auf die Stufen vor dem Turm sinken. Ich hatte noch keine Ambitionen hinein zu gehen. Wenn Marshall nur hier wäre, er wüsste nicht nur Rat, er könnte mir auch ganz genau sagen, was ich zu tun hätte. Alles was ich bisher allein in Angriff genommen hatte, war nicht nur am Ziel vorbeigeschossen, sondern praktisch in die entgegengesetzte Richtig davongezischt.

Ich war einfach nicht gut in sowas.

Hinter mir öffnete sich die Tür zum Turm. Ich hörte es, genau wie die schweren Schritte die folgten, achtete aber nicht weiter darauf. Das Problem das vor mir lag, war einfach zu wichtig. Ich musste eine Lösung dafür finden, eine vernünftige und auch durchführbare. Etwas das mich nicht noch tiefer in die Scheiße zog und mich endlich …

„Hallo Kismet.“

Bei der Stimme spannten sich meine Schultern an. Killian, natürlich. Dass jetzt auch noch mein selbsternannter bester Freund auftauchte, passte perfekt.

„Habe ich dich so sehr verärgert, dass du mich nicht einmal mehr mit mir sprechen möchtest?“

„Ich wüsste nicht, was es zwischen uns zu besprechen gibt.“

„Für den Anfang könntest du mir einen guten Abend wünschen.“ Als ich darauf nichts sagte, setzte er sich schweigend neben mich.

Ich brachte sofort Abstand zwischen uns.

Killian lachte leise. „Ich bin nicht ansteckend, Kismet.“

Aber gesund bist du für mich auch nicht. „Ich habe dir nichts zu sagen.“

„Das finde ich schade, wo wir uns bisher doch so gut verstanden haben.“ Er wartete auf eine Reaktion meinerseits, die ich ihm natürlich verwehrte. „Darf ich mir deine Hand noch einmal anschauen? Ich will nur sichergehen, dass mit ihr alles in Ordnung ist.“

„Mit geht es bestens.“

„Ich sollte trotzdem …“

„Geh weg, Killian. Ich will nichts mit dir zu tun haben.“

„Da ich dein Arzt bin, wird das schwer umzusetzen sein.“ Seine Kleidung raschelte. „Warum sitzt du hier so allein auf den kalten Stufen?“ Warten. „Drinnen ist es doch viel angenehmer.“

Oh Gaia, warum ließ er mich nicht einfach in Ruhe?

Als ich darauf nichts erwiderte, ergriff er erneut das Wort: „Ich war gerade bei meiner Mutter. Ich schaue jeden Abend nach ihr. Sie brauch das und da Kit nie Zeit für sie hat, muss ich das übernehmen.“

Muss. Bei diesem Wort stellten sich mir die Stacheln auf. „Sei froh, dass du noch eine Mutter hast, nach der du schauen kannst. Ich konnte meine nicht mal zu Grabe tragen.“

Für einen Moment blieb Killian ruhig. „Es tut mir leid, es war taktlos von mir, es so auszudrücken. Natürlich liebe ich meine Mutter, aber manchmal ist sie halt einfach … schwierig. Heute war wieder so ein Tag.“

Wollte er jetzt Mitleid von mir haben? Da konnte er aber lange warten.

„Du hast gesagt, du seist nicht bei deinen Eltern aufgewachsen“, sagte er einen Augenblick später leise. „Wahrscheinlich ist es für dich deswegen so schwer, das zu verstehen.“

„Oh, ich verstehe sehr gut. Ich habe meine Eltern verloren, aber ich habe Marshall. Er ist nicht mein Vater, aber ich würde seine Gegenwart niemals als Bürde sehen.“

Killians Lippen wurden ein wenig schmaler. „Ich bin nicht perfekt, Kismet, ich habe Fehler und auch wenn dein Marshall dir viel bedeutet, so ist er mit Sicherheit auch kein Heiliger.“

Das hatte er jetzt nicht gesagt. „Er war es, der mich und Nikita gerettet hat, nachdem Eden mein Leben zerstört hat“, zischte ich ihn an.

Ein kleines Runzeln erschien auf seiner Stirn. „Eden zerstört keine Leben, wir erschaffen es.“

Fast hätte ich aufgelacht. „Erzähl das mal meiner toten Mutter.“

Er richtete sich ein wenig gerade auf. Seine Augen zeigten Verwirrung. „Ich weiß nicht was dir widerfahren ist, aber ich kann dir versichern, dass Eden damit nicht zu tun hatte.“

Also, das glaubte ich jetzt nicht. „Willst du behaupten, dass ich lüge?“

„Nein, nur dass du vielleicht etwas durcheinanderbringst, oder falsch verstanden hast. Aus deinen Unterlagen weiß ich, dass du deine Mutter in sehr jungen Jahren verloren hast. Damals hattest du sicher Angst und warst von dem Erlebten verstört. In einem solchen Zustand kann es leicht passieren, Tatsachen falsch zu interpretieren.“

Falsch interpretieren? Du Bastard! „Ich weiß sehr genau was ich gesehen habe. Es waren Männer in den Uniformen der Tracker. Diese Uniformen sind unverkennbar!“

„Die Tracker sind keine Menschenschlechter.“

„Das behauptest du!“

Das brachte Killian einen Moment zum Nachdenken. Dann sagte er sehr vorsichtig: „Manchmal erinnern wir uns durch ein Trauma an Dinge, die nicht real sind. Ein Trauma verzerrt unsere Erinnerung und spielt unserem Verstand Streiche. Ich weiß ehrlich nicht, was dir damals widerfahren ist, aber vielleicht solltest du die Möglichkeit in Betracht ziehen, dich getäuscht zu haben. Wenn es nur die Uniformen sind, die deinen Hass auf diesen Ort schüren, solltest du überlegen, ob es nicht Streuner waren, die sich Uniformen der Tracker angeeignet haben. Ich weiß von mehreren Fällen, in denen das schon geschehen ist.“

Ich funkelte ihn an. Dieses Thema weiter mit ihm zu besprechen war Sinnlos. Ich wusste genau was ich gesehen hatte, aber dieser Kerl war von Eden so verblendet, dass er die Wahrheit nicht mal erkennen würde, wenn sie ihm ins Gesicht springen würde. „Ich habe kein Trauma, ich habe Alpträume. Die Tracker aus Eden haben meine Mutter getötet und nun werden meine Schwester und ich von dieser Stadt im Namen der Menschheit versklavt!“

Killian seufzte. „Kismet, ich … “

„Erzähl mir nicht wieder, dass ich mir da was einbilde! Ich weiß genau was ich gesehen habe!“ Ich stand auf und funkelte ihn an. „Eden beendete meine Kindheit. Ich sehe es noch heute ganz genau vor mir und nichts was du sagst …“

Das Kacken eines Zweiges ließ mich herumfahren. Dort, gerade noch so im Lichtkegel der Straßenlaterne, lehnte eine Gestalt am Baum, den Blick ungewandt auf mich gerichtet. Sawyer. Klar. Jetzt fehlte eigentlich nur noch Agnes, dann wäre unsere illustre Runde perfekt. „Was glotzt du so blöd?!“, fauchte ich ihn an.

Er antwortete nicht, starrte nur stumm weiter.

„Verpiss dich!“

„Kismet“, versuchte Killian mich zu beruhigen. „Vielleicht solltest du dich wieder setzten und …“

„Zu dir?“ Ich lachte scharf auf. „Es gibt nichts was ich dir noch zu sagen hätte, also lass mich endlich in Ruhe!“

Da keiner der beiden Männer den Anschein erweckte, sich in der nächsten Sekunden verkrümeln zu wollen, war ich es, die sie einfach stehen ließ und in den Turm verschwand. Das Spiel der braven Eva war heute einfach nicht mehr drinnen. Nichts hatte geklappt – gar nichts.

Plötzlich überkam mich ein solches Heimweh, dass ich am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre. Ich wollte nach Hause, ich wollte mein Leben zurückhaben. Scheinheilige Freundlichkeiten von irgendwelchen wichtigtuerischen Ärzten, oder seltsamen Blicke von kleinen, arroganten Bastarden, brauchte ich nicht. Genauso wenig wie eine alte Frau, die sich als Schöpfer aufspielte und mein Leben bestimmen wollte.

Hätte ich Nikita doch niemals erlaubt, das Flugzeug zu verlassen, alles wäre anders gekommen. Aber nun war ich hier, völlig auf mich allein gestellt. Ich wusste, dass niemand kommen würde um mich zu retten. Nicht weil ich allen egal war, sondern weil es viel zu gefährlich war. Würde Marshall bei dem Versuch mich hier rauszuholen etwas passieren, könnte ich das weder ihm noch mir selber verzeihen. Um zu überleben, mussten wir stark sein, Schwäche konnten wir uns nicht leisten.

Aber dies hier war ein Moment der Schwäche, ein Augenblick des Selbstmitleids, den ich mir eigentlich gar nicht leisten konnte. Ich musste stark bleiben, das Trugbild aufrechterhalten, denn nur dann würde es mir gelingen dieser Falle zu entkommen.

Morgen. Morgen würde ich wieder stark sein und allen das Bild zeigen, dass sie sehen wollten. Heute wollte ich mich nur noch in meinem Zimmer verstecken und alles und jeden ausblenden. Ich schaffte es eben nicht immer stark zu sein – dafür war ich zu schwach.

 

oOo

Kapitel 28

 

Als wäre ein Regenbogen explodiert und hätte die Fetzen seines Gewebes über mein ganzes Zimmer verteilt, so sah es hier aus. Der komplette Inhalt meines Kleiderschrankes lag verstreut auf meinem Fußboden, meinem Bett, dem Schreibtisch … ja ein Teil hing sogar halb über dem großen Spiegel in der Ecke. Manche von den Stücken hatte ich zerrissen, andere nur mit aller Kraft durch die Gegend gefeuert. Ich hatte mich nicht beherrschen können. Das Gefühl mit dem ich heute aufgewacht war, hatte gedroht, mich zu ersticken und das war der einzige Weg gewesen, meinem Frust und der Machtlosigkeit Ausdruck zu verleihen, bevor ich einfach platzte und als ekliger Schmierfleck an den Wänden endete. Der wäre mit Sicherheit nicht so farbenprächtig gewesen.

Nun jedoch saß ich kraftlos inmitten von diesem Durcheinander aus Röcken und Spitzenunterwäsche und wusste einfach nicht wohin mit mir. Die Kraft war einfach aus meinen Gliedern gewichen. Ich schaffte es nicht einmal den Kopf zu heben, als es an der Tür klopfte.

Mir doch egal, wer da war, sollte er doch einfach wieder verschwinden. Sie alle sollten einfach verschwinden und verrecken. Nur leider öffnete sich die Tür zu meiner Suite, als ich auch nach dem dritten Klopfen nicht reagierte. Ich musste gar nicht raten, um zu wissen, wer das war, nur Carrie hatte außer mir Zugang zu diesen Räumen.

Schritte bewegten sich durch den Nebenraum. „Kismet?“

„Was?!“, fauchte ich. Unerwünschter Besuch war im Augenblick das Letzte, was ich brauchte.

So wie Carrie im Türrahmen auftauchte und über das farbenfrohe Chaos in meinem Schlafzimmer missbilligen schnalzte, war ihr das allerdings völlig egal. „Also wirklich Kismet, sie sind doch kein kleines Kind mehr.“ Resolut trat sie in den Raum und begann damit die einzelnen Stücke vom Boden aufzuklauben. Dabei war es ihr völlig egal, dass sie von mir angefunkelt wurde. „Es gibt bessere Strategien überflüssige Energie abzubauen. Ein Wutanfall ist nun wirklich keine Lösung. “

„Ich hatte keinen Wutanfall.“

„Nennen sie es, wie sie wollen. Eine solche Unordnung zu veranstalten, ist jedenfalls keine Lösung.“ Sie hob eine Hose auf und wollte sie zusammenlegen. Dabei bemerkte sie jedoch den eingerissenen Schritt. Obwohl beinahe-durchgerissen hier besser passte. Sie seufzte und legte die Hose auf dem Bett ab. „Ich werde das in Ordnung bringen lassen, während sie auf Arbeit sind.“

Super, neue Munition für einen weiteren Verzweiflungsakt. Da konnte ich mich ja auf etwas freuen.

„Wenn sie dann so weit sind, müssen wir uns auf den Weg machen, sonst kommen sie noch zu spät zu ihrer Schicht.“

Als wenn es darauf ankommen würde. Selbst wenn ich mich nun dazu entschloss, nie wieder ins Paradise zu gehen, glaubte ich nicht, dass es ernsthafte Konsequenzen haben würde, schließlich war das nichts weiter als eine Beschäftigungstherapie. Aber leider galt nach wie vor, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und auch wenn es keine schlimmen Folgen haben würde, so würde es mir doch zum Nachteil gereichen. Also tat ich das, was ich auch schon die letzten Tage getan hatte: Ich schluckte all meinen Ärger und die Frustration hinunter, verbannte sie in einen tiefen Teil von mir und machte mich zusammen mit Carrie auf den Weg ins Paradise.

Zu meiner Überraschung, wartete heute kein Gardist vor der Tür, um mich durch die Stadt zu begleiten.

„Der Gardist war nie dazu gedacht, auf sie aufzupassen. Er sollte nur dafür sorgen, dass sie nicht unüberlegt handeln und unbedacht jemanden angreifen“, erklärte Carrie, als wir in den Wagen des Fahrdienstes stiegen.

„Was, dachtet ihr, ich würde versuchen, euch abzuschlachten?“

„Es sind schon seltsamere Dinge geschehen.“

 Trotz allen Widrigkeiten, schien mein Plan, ihr Vertrauen zu erschleichen, endlich Früchte zu tragen. Die Fesseln lockerten sich. Nach meinem Befinden jedoch viel zu langsam. Trotzdem, ein Sieg, mochte er noch so klein sein, war ein Sieg.

Als ich im Paradise ankam, war noch nicht viel los, doch sobald ich den Laden betrat, wurde ich wieder von neugierigen Blicken verfolgt. Nicht weil ich die Neue war, sondern weil ich mich hinter den Tresen begab und damit begann, ein paar Gläser zu reinigen. Für die Leute hier war es schon etwas Befremdliches, eine Eva arbeiten zu sehen.

Anfangs stand Archie mir noch zur Seite und beaufsichtigte mich, doch nach einer guten Stunde war er der Überzeugung, mich alleine lassen zu können und verschwand nach hinten in sein Büro.

Sobald ich alleine war, wagten die Gäste sich vermehrt an den Tresen, um sich etwas zu bestellen. Nicht wenige von ihnen versuchten sich dabei mit mir zu unterhalten, doch ich redete nur das Nötigste mit ihnen und ignorierte sie sonst weitestgehend, bis sie es endlich aufgaben. Nur weil ich jetzt hier stand, bedeutete das schließlich noch lange nicht, dass ich plötzlich ein Interesse daran entwickelt hatte, mit ihnen in Kontakt zu treten.

Ungefähr eine halbe Stunde bevor meine Schicht endete und ich gerade eine Kiste mit Säften aus dem Lager geholt hatte, stolperte Roxy zusammen mit Tican und Joshua in den Club. Sie lachte laut, drehte aus irgendeinem Grund eine Pirouette und zerrte die beiden Männer dann zum nächsten, freien Tisch. Ich hatte nur einen mäßigen Blick für die drei übrig, während ich mich bückte, um die Säfte in den Kühlschrank einzuräumen. Das ständige Rauschen des falschen Wasserfalls, ging mir langsam wirklich auf die Nerven. Wenn ich das noch viel länger aushalten musste, würde ich davon sicher verrückt werden.

Als ich mich wieder aufrichtete, zuckte ich vor Schreck zurück. Roxy saß auf einem der Barhocker und grinste mich breit an. Dabei hatte sie sich soweit über den Tresen gelehnt, dass sie sich praktisch direkt vor meinem Gesicht befand. Wie bekam sie das mit dem dicken Bauch überhaupt hin?

„Hallo, mein Sonnenschein.“

Sonnenschein? Sie verwechselte mich wohl mit jemanden. „Was willst du haben?“

„Ein Lächeln wäre schön.“

„Tut mir leid, sowas habe ich nicht im Angebot.“ Ich schaute an ihr vorbei zu Tican und Joshua. Die beiden Männer saßen noch immer an dem Tisch und schienen tief in ein Gespräch versunken zu sein.

„Dann würde ich mich auch erstmal mit einem Eistee zufriedengeben.“ Sie fächelte sich ein wenig Luft zu und setzte sich manierlich auf den Barhocker. „Draußen ist es so heiß, ich würde mich am liebsten nackt auf einen kühlen Flecken Gras ausstrecken.“

„Wenn es dich glücklich macht.“ Ich nahm ein Glas zur Hand und befüllte es mit Eistee. In den Ruinen hätte sie mir nun irgendwas zum Tausch geben müssen, doch als Eva war sie von jeglicher Entrichtung befreit. Trotzdem blieb sie aus irgendeinem Grund sitzen, als ich ihr das Glas zugeschoben hatte.

„Alsooo“, begann sie langgezogen und drehte den Tee zwischen ihren Händen hin und her. „Das junge Mädchen gestern, das war deine Schwester, oder?“

Ich fasste sie scharf ins Auge, widmete mich dann aber dem leeren Saftkarton und begann ihn zu zerkleinern. „Ja“, sagte ich kurz angebunden, fragte mich gleichzeitig aber auch, woher sie das wusste. Ich hatte sie gestern weder ihr noch einem anderen vorgestellt, weil ich nicht wollte, dass Nikita irgendwas mit diesen Menschen zu tun hatte. Aber eigentlich wunderte es mich auch nicht. Hier schien ja jeder über alles Bescheid zu wissen.

„Sie schein cool drauf zu sein.“

Ich riss noch ein Stück vom Karton ab und warf es in den Müll.

„Und sie sieht dir ziemlich ähnlich. Also nicht nur die Hautfarbe, auch im Gesicht.“ Roxy lehnte sich wieder ein wenig über den Tresen, als wollte sie mir ein Geheimnis anvertrauen. Aber wahrscheinlich erhoffte sie sich davon einfach nur eine Reaktion. „Weißt du, mein Vater war auch dunkelhäutig. Klar, er war schon lange vor meiner Zeugung tot, aber ich habe mal ein Foto von ihm gesehen. Ein echt gutaussehender Mann.“

Ich hielt in meinem Tun inne und starrte sie an. „Dein Vater war vor deiner Zeugung tot?“

„Klar.“ Sie setzte sich wieder zurück und nahm ein Schluck aus ihrem Glas, glücklich, endlich mein Interesse geweckt zu haben. Dann grinste sie. „Meine Mutter hatte eine In-vitro-Fertilisation mit kryokonserviertem Spermien. Mein Vater war schon fast fünf Jahre tot, als ich gezeugt wurde. Aber das ist noch gar nichts. Moas Vater war vor ihrer Geburt bereits über siebzig Jahren tot. Ist das nicht krass?“

Das war nicht krass, das war abartig und widerlich. In meinen Augen hatte das etwas von Leichenschändung.

Roxy sah mir meinen Ekel wohl an, denn ihr Lächeln wurde ein wenig schief. „Ach komm schon, so seltsam ist das gar nicht.“

„Wenn du es sagst.“

Eine blonde Schönheit betrat den Club. Lija. Sie sah sich um, entdecke Tican und Joshua und schwebte auf einer Wolke der Anmut, zu ihnen hinüber.

Da fiel mir wieder ein, dass ich ja versuchen wollte, mit Joshua zu sprechen. Zwar hegte ich keine große Hoffnung, dass es etwas bringen würde, aber irgendwo musste ich ja anfangen und alles andere hatte bisher nicht geklappt.

„Es sind schon weitaus seltsamere Dinge geschehen. Meine Mutter sagt immer, jedes Leben ist wertvoll, ganz egal wie es entstanden ist. Außerdem habe ich einen Vater.“

„Ach ja? Ich dachte er wäre tot.“ Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie Tican sich von seinem Stuhl erhob. Es machte den Eindruck, als wollte er so Lija entkommen. Er schien von ihrer Gegenwart jedenfalls nicht besonders begeistert.

„Mein Erzeuger ist tot, mein Vater ist der Mann, der mich aufgezogen hat. Er heißt Finn. Vielleicht hast du schon mal von ihm gehört?“

„Nein.“ Ich griff mir die Reste vom Karton und beförderte auch sie in den Mülleimer.

Tican gesellte sich zu Roxy und lehnte die Arme auf den Tresen. Es sah aus, als wollte auch er sich hier häuslich niederlassen. Ich glückliche.

„Was willst du haben?“

„Nichts. Ich wollte euch etwas fragen. Joshua und ich haben uns gerade dazu entschlossen, heute Abend bei mir einen kleinen Filmmarathon zu starten und ich wollte wissen, ob ihr beide nicht Lust habt, auch vorbeizuschauen.“

Roxys Augen leuchteten auf. „Versuch mal mich davon abzuhalten.“

„Klasse, du bist dabei.“

Vom Tisch erhob Lija sich und kam in unsere Richtung. Weder Roxy, noch Tican bemerkten es.

„Und was ist mit dir“, fragte Tican mich. „Kann ich auch mit dir rechnen? Ich verspreche dir auch, wir werden nett zu dir sein.“

Bevor ich das verneinen konnte, schwebte Lija in einem langen, weißen Kleid herbei, dass sie fast ätherisch wirken ließ. „Ich würde sehr gerne kommen“, schnurrte sie.

„Ähm.“ Tican machte nicht den Eindruck, als würde er viel Wert auf ihre Anwesenheit legen. „Klar, wenn du möchtest, kannst du gerne vorbeischauen.“ Dann lächelte er mich wieder an. „Und du kommst auch, abgemacht?“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht …“

„Ach komm schon, gib dir einen Ruck, so schlimm sind wir gar nicht“, bettelte Tican. „Ich hole dich auch ab, damit du den Weg findest.“

Lija drängte sich ein wenig in den Vordergrund, so als würde es ihr nicht gefallen, nicht im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit zu stehen. „Wenn du den Gentleman spielen willst, stehe ich dir gerne zur Verfügung. Du kannst mich abholen.“

Sawyer nutzte diesen Augenblick, um an Lija vorbei zu gehen – seit wann war er denn hier? „Na wenigstens ist sie hübsch“, murmelte er laut genug, damit wir alle es verstehen konnten.

Lija fuhr blitzschnell zu ihm herum. In ihren Augen funkelte es verärgert. „Was hast du gerade gesagt?“

Sawyer blieb stehen und drehte sich dann mit einem herausfordernden Blick zu ihr herum. „Ich habe gesagt, dass du wenigstens hübsch bist.“ Er sprach sehr langsam und deutlich, so als hielte er sie für ausgesprochen unterbelichtet. „Falls du die Botschaft hinter diesen Worten nicht verstehst, kann ich das gut nachvollziehen, denn besonders intelligent bist du ja offensichtlich nicht.“

Lija stieg die Zornesrote ins Gesicht und ballte die filigranen Hände zu Fäusten, als wollte sie ihn schlagen. „Wie kannst du es wagen?“

„Du hast gefragt, ich habe geantwortet.“ Völlig unbeeindruckt von ihrer Wut, beugte er sich ihr ein wenig entgegen. „Und hier noch eine kleine Botschaft für dich. Ich sage es lieber ganz direkt, damit es auch bei dir ankommt. Er“ – Fingerzeig auf Tican – „hat sie“ – sein Finger richtete sich auf mich – „eingeladen, weil er sie dabeihaben möchte. Ob du kommst, oder nackt über die Wiesen tanzt, ist ihm völlig egal.“ Er musterte sie einmal sehr herablassend von oben bis unten. „Ich bin mir nicht mal sicher, ob er dich überhaupt leiden kann. Sein Interesse liegt jedenfalls auf unserer neuen Perle.“ Nun rückte ich in den Fokus seiner Aufmerksamkeit. „Ob das allerdings so viel besser ist, ist fraglich.“

Dafür kassierte er von mir den Blick des Todes. Warum er trotzdem nicht umfiel, war mir schleierhaft. Arroganter Mistkerl.

Lija Wangen wurden noch um eine Nuance dunkler. Ob vor Wut, oder aus Verlegenheit, war unklar. Ich tippte auf die Wut, denn sie erschien mir nicht wie der Mensch, dem besonders viel peinlich war. „Was bildest du dir eigentlich ein wer du bist, du dreckiger Streuner?“

„Ich? Ich bin der dreckige Streuner, dem es völlig egal ist, was ein aufgeblasenes und selbstverliebtes Flittchen wie du denkt oder will.“ Damit drehte er sich um und ließ uns einfach stehen.

Streuner. Sawyer war nicht in dieser Stadt geboren worden. Vermutlich erklärte das die Narben in seinem Gesicht.

Einen Moment überlegte ich, ob er die Lösung für meine Probleme sein könnte, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Sawyer war ein Ekel, mit so jemanden wollte ich nichts zu tun haben. Aber mit dem Stichwort Streuner, schoss ein weiterer Gedankenblitz durch meinen Kopf. Joshua würde auch auf diesem Filmmarathon sein – was auch immer das war. Vielleicht würde ich dabei die Gelegenheit bekommen, mit ihm zu sprechen.

Während die drei Sawyer noch bei seinem Abgang beobachteten, sagte ich: „In Ordnung.“

Drei paar Augen richteten sich auf mich.

„Ich komme heute Abend.“

„Wirklich?“ Tican hob erstaunt die Augenbrauen. Offensichtlich hatte er nicht mir dieser Antwort gerechnet.

„Ja, wirklich. Du musst mir nur sagen, wohin ich gehen muss.“

Roxy quietschte vor Begeisterung. Ohne ihren dicken Bauch, wäre sie auf ihrem Hocker vermutlich auf und ab gehüpft. „Ich nehme dich mit, wir gehen zusammen. Ich weiß ganz genau wo er wohnt.“

„Na da haben wir ja etwas, auf das wir uns freuen können“, murmelte Lija mit einem herablassenden Blick in meine Richtung. Dann ließ sie uns stehen und verschwand nach hinten zu den Toiletten.

Keiner beachtete sie.

„Das wird super werden“, sagte Roxy und holte aus ihrer Tasche einen Screen heraus. „Ich werde uns eine Filmliste aufstellen. Hat jemand einen bestimmten Wunsch?“

„Ich muss noch mal ins Lager“, sagte ich. Nicht weil ich es wirklich musste, sondern weil ich mich nicht an dem beteiligen wollte, was nun folgte. Leider waren sowohl sie, als auch Tican bei meiner Rückkehr noch immer am Tresen und ich wurde sie für den Rest meiner Schicht auch nicht los.

Erst als Carrie kam und mich für meinen Unterricht mit Cameron abholte, wurde ich von ihnen erlöst. Leider war das was folgte, nicht wirklich erstrebenswerter, als das was ich gerade hinter mir gelassen hatte. Außerdem waren meine Gedanken die ganze Zeit bei dem Filmding. Nicht weil ich mich darauf freute, sondern weil ich versuchte die beste Strategie zu entwickeln, um Joshua mein Anliegen vorzutragen, ohne dass es allzu offensichtlich war.

Am besten wäre es, ihn allein zu erwischen und in ein Gespräch zwischen vier Augen zu verwickeln. Ich sollte auch nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, sondern erstmal vorsichtig antasten, um zu erfahren, wie er zu dem Thema Flucht stand. Immerhin war er in dieser Stadt, seit er ein kleiner Junge war. Wahrscheinlich kannte er gar nichts anderes mehr, als das Leben hinter diesen Mauern.

„Du bist heute ziemlich unkonzentriert“, bemerkte Cameron.

„Hm“, machte ich nur und zog mit dem Touchpen einen Strich auf den Screen, auf den ich dann einen Punkt setzte. Na bitte, das war doch ein perfektes I.

„Alles in Ordnung?“

Als ich mich ihm zuwandte, schaute er erschrocken drein.

„Ich meine, es geht mich natürlich nichts an und wenn du es mir nicht sagen willst … das ist okay. Ich dachte nur … ich … also wenn etwas ist … ich höre dir zu.“ Die letzten Worte fügte er so leise hinzu, als befürchtete er, sonst könnte ich sie vielleicht wirklich hören.

Seufzend legte ich den Pen zur Seite und unterdrückte meine Gedanken an Joshua für den Augenblick. Carrie war, nachdem sie mich in dem kleinen Bibliotheksraum abgeliefert hatte, direkt wieder verschwunden und so saß ich mit meinem Lehrer alleine an dem alten Desk. „Wärst du nicht wer du bist, könnte ich dich glatt mögen.“

Das ließ ein schüchternes Lächeln auf seinen Lippen entstehen.

Es war meine … ich weiß nicht mehr wievielte Stunde mit Cameron und wieder mal stand das Üben meines eigenen Namens auf der Agenda. Genaugenommen, wie ich meinen Namen in einen Satz einfügte. Kismet kann laufen. Schau, da steht Kismet. Solche Sachen. Ich kam mir ziemlich lächerlich dabei vor. Allerdings musste ich mir eingestehen, Spaß daran zu haben. Lesen und schreiben fand ich nach wie vor für eine unnütze Fähigkeit, aber sie war ein netter Zeitvertreib.

Cameron saß an dem Desk und installierte irgendwelche Lernprogramme auf meinem Konto, sodass ich sie später mit meinem Screen abrufen konnte. Jup, ich war was die Technik anging, zwar immer noch kein Genie, aber so langsam fand ich mich damit zurecht.

„Vielleicht magst du mich ja auch irgendwann, obwohl ich bin wer ich bin.“

Ein Baby, daran erinnerten mich seine großen, braunen Augen hinter der Brille. Genau den gleichen unschuldigen Blick hatte Trotzkopf gehabt, als ich ihn vor Jahren gerettet hatte. Cameron war ein kleines, tollpatschiges Baby. Jetzt blieb nur die Frage, würde er zu einem hinterhältigen Biest heranwachsen, oder konnte er sich seine Unschuld bewahren?

Bei Gaia, was dachte ich denn da? Was interessierte es mich überhaupt. Er war ein Edener.

Seufzend veränderte ich meine Position auf dem Stuhl. Vom langen Sitzen tat mir der Hintern weh. „Wärst du ein freier Mensch, würde ich dich glatt adoptieren. Aber so …“ Ich machte eine wage Handbewegung.

„Erzählst du mir davon?“ Er schaute vorsichtig zu mir, nur um sich ganz schnell wieder dem Bildschirm des Desks zu widmen. „Von deinem Leben in der Alten Welt?“

Mit einem Schlag war mein ganzes Misstrauen zur Stelle und baute sich wie eine schützende Mauer um mich herum auf. „Warum willst du etwas darüber wissen?“

Von meinem scharfen Ton alarmiert, duckte er sich, als erwartete er einen Kugelhagel. „Ich wollte nicht … ich meine … ich war nur neugierig.“

Wenn er das sagte, glaubte ich ihm sogar. „Frag mich nicht danach, ich werde dir nichts darüber erzählen.“

Einen Moment blieb er still. Dann sagte er sehr leise. „Weil du glaubst, ich will dich aushorchen.“

„Was sollte ich denn sonst glauben? Jeder in dieser Stadt hat mir genau die gleiche Frage gestellt und zwar nicht, weil er an meinem Leben, oder an mir interessiert war. Es geht immer nur darum, mehr Informationen zu sammeln, um sie gegen die freien Menschen einsetzen zu können.“ Ich war ein heldenhaftes Beispiel dafür.

„Aber ich bin nicht wie meine Großmutter.“

Hä? „Großmutter?“

Ertappt schaute er auf. „Ich wollte nicht … ich …“ Sein Mund schlug mit einem hörbaren Klacken zu.

Ich kniff die Augen leicht zusammen. Warum reagierte er auf einmal wie ein in die Ecke getriebenes Tier? „Cameron, wer ist deine Großmutter?“

Seine Zunge fuhr nervös über seine Lippen.

„Cameron?“

Ein Seufzen. „Agnes Nazarova.“

Ich schaute ihn nur an.

„Bevor du jetzt auf komische Gedanken kommst, ich kenne meine Großmutter kaum. Früher, als ich noch klein war, habe ich sie hin und wieder getroffen, aber jetzt sehe ich sie nur noch auf Großveranstaltungen, auf den auch jeder andere Bürger von Eden anwesend ist. Also … ich kann nichts dafür, dass wir miteinander verwandt sind. Ich bin nicht deswegen hier, sondern weil mir dieser Job angeboten wurde.“

Versuchte er mich, oder sich selbst, von seinen Worten zu überzeugen?

„Ich meine, ich verstehe schon wie das für dich aussehen muss, aber ich bin nicht hier, um dein Vertrauen zu gewinnen und dir irgendwelche Geheimnisse zu entlocken. Das hier gehört einfach zu meiner Ausbildung und ich will nicht, dass du jetzt schlecht von mir denkst, oder dass ich dich ausnützen will. Ich …“

„Cameron?“

„Ja?“

„Halt mal die Luft an.“

Er klappte seinen Mund zu.

Ich nahm meinen Touchpen wieder zur Hand und machte mich daran ein S zu schreiben.

„Glaubst du mir?“, fragte er zögerlich.

„Es ist egal was ich glaube“, antwortet ich ihm ehrlich, ohne von meiner Arbeit aufzublicken. „Du bist hier, ich muss tun was du sagst.“ Außerdem konnte ich mir wünschen, dass er an seinen Lügen erstickte. Er war Agnes Enkelsohn, war das zu fassen?! Und dann wollte er mir auch noch weiß machen, seine Anwesenheit hatte nichts mir seiner lieben Großmama zu tun? Für wie einfältig hielt er mich eigentlich? Wahrscheinlich war auch sein ganzes, schüchternes Babyverhalten, nichts weiter als eine große Show. Und das Schlimmste daran war, ich war wirklich darauf reingefallen. Fast hätte ich ihm vertraut – fast.

„Ja, schon.“ Unsicher rutschte er auf seinem Stuhl hin und her. „Aber es ist ja nun nicht so, dass ich – was weiß ich – gemein oder sowas zu dir wäre.“

Aber sicher doch. „Was würde passieren, sollte ich mich weigern Lesen du Schreiben zu lernen?“

„Ähm … dass du es nicht lernen würdest.“

„Von dem offensichtlichen Mal abgesehen.“ Ich legte den Pen wieder zur Seite und schaute ihn an. „Was würdest du tun, sollte ich mich verweigern?“

Hinter seiner Brille wirkten seine Augen riesig. „Ich weiß nicht.“

„Ich kann es dir sagen. Du würdest zu Agnes gehen und mich verpetzen. Du würdest dafür sorgen, dass sie mir Nikita endgültig wegnehmen und mir auch noch das letzte bisschen Freiheit entziehen, würde.“

Er wirkte ehrlich geschockt, über meine unverblümten Worte. „Nein, das würde ich nicht tun!“

„Ach nein?“ Ich neigte den Kopf leicht zur Seite. „Was dann? Zu einem Vorgensetzen rennen, der mich dann an Agnes verrät?“

„Nein!“ Sein Kopf flog vehement von einer Seite zur anderen. „Für was für ein Unmensch hältst du mich?“

Die Antwort war einfach. „Für einen Menschen aus Eden und wie du gerade eben selber gesagt hast, für Agnes Enkel.“

Sein Mund klappte auf, ging aber gleich darauf wieder zu. Auf seiner Stirn erschienen nachdenkliche Runzeln. Dann schüttelte er wieder den Kopf, weniger nachdrücklich. „Ich weiß, was du von Städtern hältst, besonders von meiner Großmutter, aber ich bin nicht wie sie. Keiner ist wie sie.“

„Mag sein“, räumte ich ein. „Aber jeder folgt ihr. Anstandslos.“

„Nein, das stimmt nicht. Es gibt viele Dinge die sie tut, die ich nicht gut finde. Und ich kenne auch andere, die nicht alles gut finden.“

Er fand es nicht gut? Genau wie Killian. „Und doch tut ihr genau das, was sie verlangt.“

„Na was sollen wir denn sonst tun?“

Auch darauf gab es eine ganz einfache Antwort. „Euch wehren.“

Er lachte auf, als hätte ich einen schlechten Witz gemacht. „Es klingt so einfach, wenn du das sagt.“

„Ich habe nicht gesagt, dass es einfach wäre. Aller Anfang ist schwer, aber irgendwo muss es beginnen. Was ihr macht, ist einfach nicht richtig. Was sie macht, ist nicht richtig.“

„Ich weiß.“ Er seufzte und schaute mich dabei an wie ein geschlagener Hund. „Sie war nicht immer so, weißt du? Das ist … es ist keine Entschuldigung für ihr Verhalten, es ist nur … sie war nicht immer so“, endete er schwach.

„Ach nein? War sie noch schlimmer? Hat sie kleine Babys verspeist?“

„Nein.“ Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Dabei zog er die Schultern so hoch, als wolle er sich dahinter verstecken. „Agnes soll früher ein richtig netter Mensch gewesen sein.“

Na das konnte ich auf keinen Fall glauben.

„Das sagt mein Vater zumindest“, fügte er noch hinzu.

„Wahrscheinlich fühlt er sich dazu verpflichtet, so als Sohn.“

Ein kleines, selbstironisches Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Wenn du mein Vater kennen würdest, würdest du das nicht sagen.“

War der etwa auch so ein netter Zeitgenosse? „Hört sich nach einer Familienkrankheit an. Dann weißt du ja schon, wie du einmal enden wirst.“

„Nein, mein Vater ist einfach so. Aber Agnes … sie hat mal jemanden verloren, damals, als sie selber noch eine Eva war. Ihre beste Freundin. Nach ihrem Tod ist sie … ich weiß nicht … anders geworden. Und dann war da noch etwas mit einem verschwundenen Kind. Sie hat ein Kind verloren. Darüber ist sie wohl nie richtig weggekommen. Und deswegen … naja, deswegen ist sie wohl so wie sie ist.“

Nette Geschichte. „Wenn das ein Versuch sein soll, mich für sie einzunehmen, dann kannst du dir die Mühe sparen.“

Cameron schüttelte bereits den Kopf, bevor ich geendet hatte. „Nichts auf der Welt könnte dich dazu bringen, Agnes zu mögen. Ich glaube, das würde nicht mal deine Schwester schaffen.“

Warum bitte brachte er sie jetzt zur Sprache? Im Moment wollte ich nicht an Nikita denken, dann würde ich mir nur wieder Sorgen machen.

Abrupt ließ er die Arme sinken und beugte sich auf seinem Stuhl ein wenig vor. „Hör zu, ich weiß, dass diese Situation für dich echt beknackt ist, aber wir … wir sollten das Beste daraus machen. Und … ich weiß nicht … nicht nur für dich hängt viel davon ab. Wenn ich das hier versaue, dann bekomme auch ich Ärger. Wahrscheinlich nicht so großen wie du aber …“ Er unterbrach sich. Dabei zogen seine Augenbrauen sich so weit zusammen, dass sie sich in der Mitte fast berührten. „Wir sollten einfach versuchen, das Beste aus der Situation zu machen.“ Ein Vorsichtiges Lächeln stahl sich auf seine Lippen. „Und vielleicht … also irgendwann … vielleicht kannst du mich ja irgendwann doch ein bisschen leiden.“

„Darauf würde ich mich nicht verlassen.“

Diese wenigen, ja eigentlich sogar bedeutungslosen Worte, schienen ihn in eine tiefe Depression zu stürzen. Gut, das war dann vielleicht doch ein wenig übertrieben, doch sie ließen ihn auf jeden Fall geknickt in sich zusammensacken.

Er öffnete den Mund, als wollte er einen weiteren Vorstoß wagen, besann sich dann aber eines Besseren und wandte sich einfach von mir ab, um seine Arbeit an meinem Desk fortzuführen.

Wie er da so entmutigt saß, tat er mir schon ein bisschen leid. Ich hatte in der Zwischenzeit genug Zeit mit ihm verbracht, um zu wissen, dass er im Grunde kein schlechter Mensch war. Er versuchte mir zu helfen, wo er nur konnte und brachte dabei eine Geduld auf, die ich in meinem Leben bisher nur bei Marshall kennengelernt hatte. Aber er war und blieb nun einmal ein Städter. Und dass er auch noch der Enkel von Agnes war, sprach nicht grade zu seinem Vorteil.

Allerdings, wie er da saß, die Schultern hochgezogen, als wollte er sich dahinter verstecken … er wirkte unglaublich jung – viel jünger noch als Nikita. Das lag wahrscheinlich an dem sorglosen und behüteten Leben, in dem er aufgewachsen war. Er war schwach.

Es war vielleicht nicht besonders nett das zu denken, aber es entsprach der Wahrheit. Die Städter waren schwach und verweichlicht. Selbst jene, die sich aus den Mauern ihrer Stadt hinauswagten, würden da draußen ohne Hilfe nicht lange überleben.

Leider erlaubte ihre Technologie und auch ihre schiere Anzahl es ihnen, dass sie uns überlegen waren. Und nicht nur das, sie hielten sich auch für etwas Besseres. Cameron machte da keinen Unterschied. Warum also empfand ich bei dem Häufchen Elend neben mir so etwas wie Bedauern und sogar einen Hauch von Mitgefühl? Das war nicht nur unangebracht, sondern auch unerwünscht.

Konzerntrier dich einfach auf etwas anderes.

Das war wohl die beste Idee, die ich seit langem hatte. Darum ergriff erneut Screen und Pen und machte mich wieder an meine überaus wichtige Aufgabe. Leider bemerkte ich dabei aus dem Augenwinkel trotzdem, wie Cameron immer weiter in sich zusammensackte. Wenn er gekonnt hätte, wäre er vermutlich einfach gegangen. Aber wie er bereits so schön gesagt hatte, diese Verpflichtung galt uns beiden.

Na dann erzähl ihm halt etwas, dieses Elend kann sich ja niemand mit ansehen.

Seufz. „Als ich noch klein war und der Winter gerade hinter uns lag, entdeckten Nikita und ich ein kleines Wäldchen, in dem die Bäume, durch ihre grünen Kronen, den Frühling ankündigten.“

Cameron schaute auf, blieb aber still. Vermutlich hatte er Angst, ich würde ihn wieder anpflaumen, sollte er etwas Falsches sagen.

„Zu dieser Zeit schlugen wir beide uns bereits seit einem guten Jahr allein durch die Welt. Und sie war nicht nett zu uns gewesen.“ Das war noch untertrieben. In diesem ersten Winter ohne meine Eltern, hatte ich mehr als einmal geglaubt, wir würden den nächsten Frühling nicht mehr erleben. „Wir waren hungrig. Unsere Mägen knurrten schon seit Tagen, da entdeckte Nikita in den Zweigen eines Baumes ein Nest. Eigentlich war es noch viel zu früh für diese Jahreszeit, doch in dem Nest lagen Eier. Also setzte ich Nikita auf den Boden, befahl ihr sich nicht von der Stelle zu rühren und kletterte den Baum hinauf.“ Meine Finger strichen gedankenverloren über den Rand des Screens. Damals war wirklich eine schwere Zeit gewesen und es hatte noch ein halbes Jahr gedauert, bis wir Marshall begegnet waren.

„Leider hatte ich nicht bedacht, dass da eine Vogelmama in der Nähe sein könnte, aber so war es und die fand es nicht besonders lustig, dass ich ihre Eier klauen wollte. Sie griff mich an.“

„Du wurdest von einem Vogel angegriffen?“

Wie er das fragte, als sei das eine völlig absurde Vorstellung. In seiner Welt war das wohl auch so.

„Ja.“ Ich drehte meinen Kopf zur Seite und tippte auf eine kleine Narbe direkt neben meinem Ohr. „Eine kleine Erinnerung an diesen Angriff.“ Es hatte damals geblutet wie Sau, aber das war mir egal gewesen. Ich wollte diese Eier haben.

„Oh ha.“

„Danach bin ich vom Baum gefallen.“ Und auch das hatte ziemlich wehgetan. „Allerdings war ich dem Nest wohl trotzdem noch zu nahe. Der Vogel griff weiter an und wollte mich verscheuchen.“

„Was ist dann passiert?“

„Ich habe einen dicken Ast zu fassen bekommen und damit solange um mich geschlagen, bis ich ihn aus Versehen getroffen habe. Genickbruch.“ Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und erinnerte mich dabei genau an das Hochgefühl, das mich bei dieser Leistung erfüllt hatte. Das erste Mal in meinem Leben hatte ich etwas gejagt – so mehr oder weniger – und es auch erlegt. „Daraufhin hatten Nikita und ich nicht nur Eier zu essen, sondern gleich auch noch den Vogel.“ Es war ein Festmahl gewesen. Das erste Mal seit dem Tod unserer Familie hatte Nikita wieder gelacht.

Cameron schaute seltsam drein. „Das muss doch schrecklich gewesen sein. Ich meine … warum willst du in ein solches Leben zurück, wenn du es hier doch so viel einfacher hast?“

„Weil das Leben in dieser Stadt eine Lüge ist.“

In seinen Zügen las ich nur Unverständnis.

„Das Leben in den Ruinen kann grausam und unbarmherzig sein, aber wenigstens ist es ehrlich. Dort draußen erkennst du den Wert eines Menschen, einfach indem du ihn ansiehst, mit ihm sprichst und erfährst, was er schon erlebt hat. Wenn ein Tag sich dem Ende zuneigt, weißt du, wie stark du bist und auch was du geleistet hast. Du musst stark sein. Um zu essen, um zu überleben. Und wenn das Glück dir hold ist, hast du dabei auch noch Menschen um dich, die dir wichtig sind und denen du etwas bedeutest. Aber hier, innerhalb dieser Mauern …“ Ich machte eine Handbewegung, die alles um uns herum miteinschloss. „… hier ist alles so falsch. Um stark zu wirken, werden andere Menschen unterdrückt. Den Städtern ist egal, welche Wünsche der Einzelne hat, es zählt nur das große Ganze, nicht das Individuum. Das ist nicht richtig. Es ist nicht richtig anderen seinen Willen aufzuzwingen, um glücklich zu sein, oder sich selber zu beweisen, dass man es kann. Man muss andere nicht klein machen, um selber groß zu wirken. Dort wo ich herkomme, gibt es sowas gar nicht. Intrigen und Machtspielchen … für sowas haben wir gar keine Zeit und auch gar kein Interesse daran. Wozu auch? Es bringt niemanden etwas.“

Cameron musterte mich einen Moment, dann schlich sich ein schüchternes Lächeln auf seine Lippen. „Ich glaube, ich verstehe was du mir sagen willst. Egal wie schwer das Leben dort draußen ist, es ist es wert gelebt zu werden.“

Daraufhin erschien wohl das erste, wirklich aufrichtige Lächeln, seit langer Zeit, auf meinem Gesicht. „Ja, das ist es.“ Und deswegen würde ich Nikita und mich hier wegbringen. Und zwar bevor es zu spät war und ich sie an die Stadt verlor.

 

oOo

Kapitel 29

 

„Schaut mal, wen ich gefunden habe.“ Grinsend trat Tican in das Wohnzimmer und gab so den Blick auf Roxy und mich frei.

Wenn ich nun Jubel erwartet hätte, wäre ich jetzt schwer enttäuscht worden, denn von den vier anwesenden, hob nur Joshua zur Begrüßung eine Hand. Lija hatte nur einen abschätzigen Blick für uns übrig, bevor sie einen Schluck aus ihrem Glas nahm.

Zu meiner Überraschung und meinem Verdruss, war auch Sawyer anwesend. Breitbeinig saß er in einem großen Ledersessel, die schwarzhaarige Frau auf dem Schoß und schaute so arrogant drein, als hätte er ein Monopol darauf.

Der Raum war groß und quadratisch. Die linke Fensterfront nahm die gesamte Wand ein und gewährte einen spektakulären Blick auf den imposanten Garten. Die Tür zur Terrasse stand offen und ließ die warme Nachtluft hinein.

Der Raum selber war eher schlicht gestaltet. Genau in der Mitte gab es eine moderne Wohnlandschaft in schwarz, die in einer angepassten Absenkung des Bodens stand und einen direkten Blick auf einen riesigen Bildschirm an der Wand erlaubte. Ansonsten gab es nur noch ein flaches Sideboard mit einer einzelnen Lampe darauf. Keine Deko, keine Bilder, nichts was etwas über den Mann verriet, der hier lebte. Es wirkte alles ein wenig … herzlos, so als hätte dieses Haus keine Seele.

„Setzt euch, macht es euch bequem.“ Tican ging weiter in den Raum hinein und ließ sich mit einigem Abstand zu Lija auf die Couch fallen. Da sie wirklich riesig war, war das kein Problem. „Wenn ihr etwas wollt, bedient euch.“ Er zeigte auf die Getränke und Snacks, die auf dem Tisch standen.

Roxy hüpfte beinahe durch den Raum, um sich den anderen anzuschließen. Ich hielt mich etwas zurück und suchte mir einen Platz am Äußeren Ende der Couch. So war ich von den anderen am weitesten entfernt.

„Celeste kennst du ja noch gar nicht, oder?“, fragte mich Tican und deutete dabei auf die schwarzhaarige Frau.

Sie hob die Hand und winkte mir von Sawyers Schoß aus zu.

„Nein“, sagte ich und konzentrierte mich auf Joshua, der sich über Celeste hinweg mit Sawyer unterhielt. So würde ich mich sicher nicht ungestört mit ihm unterhalten können. Aber jetzt aufzustehen und mich neben ihn zu setzen, wäre ein wenig auffällig. Mist, daran hätte ich wohl vorher denken sollen.

„Okay!“ Roxy klatschte in die Hände und zog damit die gesamte Aufmerksamkeit auf sich. „Was wollen wir uns als erstes ansehen?“

„Nicht dieses Action-Scheiß“, sagte Lija sofort und wedelte mit einer Hand herum. „Davon bekomme ich immer Pickel.“

„Gut, dann also Action-Scheiß“, beschloss Roxy.

Lija warf ihr einen finsteren Blick zu.

„Mach einen Vorwendefilm an“, sagte Joshua.

Alle stöhnen unisono auf. Roxy bewarf ihn sogar mit einem Kissen.

Ich enthielt mich der Diskussion und überlegte, wie ich es schaffen konnte, Joshua alleine zu erwischen. Im Moment musste ich wohl darauf warten, dass sich eine Gelegenheit ergab. Und dann musste ich es auch noch schaffen, meine eh schon verschwindend geringe Chance nicht noch weiter zu senken, indem ich etwas Falsches sagte. Das Ganze wäre wesentlich einfacher, wenn ich es nicht heimlich tun müsste. Oder wenn ich Joshua zumindest kennen würde, um ihn besser einschätzen zu können. Leider hatte ich in letzter Zeit viel zu oft feststellen müssen, dass im Leben selten etwas so lief, wie man sich das wünschte.

Die Diskussion wurde immer lauter, da jeder scheinbar etwas anderes gucken wollte, als Roxy plötzlich quiekte: „Sie tritt!“

Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, wie sie sich meine Hand schnappte und sie sich auf ihren Bauch legte.

„Spürst du es?“ 

Oh ja, ich spürte es. Da war eine ganz leichte Bewegung, etwas drückte sich von unten gegen meine Hand – etwas Kleines. Es verschwand und kam dann genauso schnell wieder. Das zu spüren war … seltsam, es machte das Wissen um das Baby in ihrem Bauch nur umso realer. Da wuchs neues Leben heran, es lag direkt unter ihrem Herzen und wartete nur darauf, das Licht der Welt erblicken zu können. Ein Mensch, ein ganz neuer Mensch.

Doch der Weg dieses Menschen war bereits in Stein gemeißelt, ohne dass sie oder jemand anderes etwas dagegen unternehmen konnte. Entweder es würde sein wie die Mutter, oder es würde in die Hand von Fremden kommen. Es war mir unbegreiflich. Ich würde mein Baby niemals in die Hand eines anderen geben können.

„Atmet sie überhaupt noch?“, fragte Tican.

Roxy kicherte. „Da ist wohl jemand ein kleinen bisschen gebannt.“

Erst da wurde mir klar, dass sie über mich sprachen und auch dass alle mich anstarrten. Etwas verlegen zog ich meine Hand zurück.

„Du hast wohl noch nie ein Baby in der Hand gehalten“, sagte Celeste und schmiegte sich enger an Sawyers Brust. Es sah fast aus, als würde sie in ihn hineinkriechen wollen.

Er schien es gar nicht zu bemerken. Sein Blick lag seltsam prüfend auf mir.

„Doch“, sagte ich, nur war das schon sehr lange her und ich war damals noch so klein gewesen, dass ich mich heute kaum noch daran erinnerte.

„Deine Schwester, richtig?“, riet Roxy.

Ich nickte. Warum hatte ich es gleich für eine gute Idee gehalten, hier her zu kommen? Ach ja, es war ein weiterer Versuch, einen Weg aus diesem Loch zu finden.

„Sein eigenes Baby in der Hand zu halten, ist etwas ganz anderes“, verkündete Lija. „Wenn man spürt, wie es in einem heranwächst und es dann selber auf die Welt bringt, das ist magisch.“

Roxy verdrehte die Augen. „Wenn du schwanger bist, beklagst du doch immer nur, wie sehr das deine Figur ruiniert.“

Lija spießte sie mit einem Blick auf. „Das eine hat mit dem anderen gar nichts zu tun.“

„Also mir fällt es immer schwer, meine Babys abzugeben“, sagte Celeste. „Besonders dann, wenn sie von meinem Liebling sind.“ Sie strich Sawyer mit dem Finger über die Wange.

Sawyer schnaubte nur abfällig.

„Warum gibst du sie dann ab?“ Die Frage war raus, bevor ich mich bremsen konnte.

Sie zuckte mit den Schultern. „Jeder hat eine Aufgabe im Leben und das ist unsere.“

Das klang eher nach einer lahmen Ausrede, etwas das man sagte, weil man keine bessere Erklärung hatte. Oder weil es einem eingetrichtert wurde.

„Also ich hoffe, dass mein erstes Baby fruchtbar ist“, sagte Roxy. „Dann kann ich es bei mir behalten. Und du?“ Sie schaute mich an.

Die Frage überrumpelte mich so sehr, dass ich nicht wusste was ich sagen sollte. Würde ich ein Baby bekommen, würde ich es nicht hergeben, egal ob es selber Kinder bekommen konnte, oder nicht. Aber der Plan war, gar nicht erst schwanger zu werden. Der Gedanke, dass ich selber ein Baby haben könnte, war noch so neu, dass ich es noch nicht wirklich realisiert hatte. Besonders jetzt nicht, nachdem ich die Hand auf Roxys Bauch gehabt hatte.

„Ist euch schon mal aufgefallen, wie ähnlich ihr euch seht?“, fragte Tican plötzlich.

Roxy und ich schauten uns an. Ihr fransiges, blaues Haar, mein krauses, schwarzes. Dann senken wir den Blick auf unsere Hände, ihre zart und weiß wie Alabaster, meine dunkel und samtig, wie Vollmischschokolade.

„Ja“, sagte Roxy und grinste breit. „Kismet ist meine Cousine dritten Grades mütterlicherseits, hast du das noch nicht gewusst?“

Er verdrehte die Augen. „Das habe ich nicht gemeint, du Giftzwerg.“

Roxy plusterte die Backen auf. „Giftzwerg? Ich verhaue dich gleich.“

„Aber räum dabei nicht wieder den ganzen Tisch ab, so wie beim letzten Mal“, murmelte Joshua.

Sie waren wirklich noch Kinder. Egal in welchem Alter sie auch waren, ihre Reife glich der von Nikita. Sie kabbelten sich völlig unbesorgt, tauschten Schläge aus, ohne etwas davon wirklich wahr machen zu wollen und stritten sich, als hätten sie sonst keine Sorgen.

Von dem Gezänk bekam ich Kopfschmerzen. Ich war erst zwanzig Minuten hier und wünsche mir jetzt schon das Weite suchen zu können. Oder wenigstens einen Weg zu finden, wie ich sie ausblenden konnte.

„Wie gerne würde ich jetzt etwas trinken“, murmelte ich.

Das hatte Roxy gehört. „Dann nimm dir doch was. Tican hat doch gesagt, du kannst dir alles nehmen, was du möchtest.“

Ich beäugte die Flaschen auf dem Tisch. „Ähm nein, ich rede nicht von Saft oder Wasser, ich will einen Schnaps.“

Dieser eine Satz erregte nun auch die Aufmerksamkeit der anderen. Selbst Celeste hörte auf an Sawyer herumzufummeln. Alle starrten mich an, als wäre mir ein zweiter Kopf gewachsen.

„Was ist, warum schaut ihr mich so an?“

„Du hast schon mal Schnaps getrunken?“, fragte Joshua interessiert.

Einen Moment überlegte ich, ob er diese Frage ernst meinte. „Natürlich, ziemlich oft sogar. Ihr nicht?“

„Natürlich nicht.“ Lija warf ihr perfektes Haar über die Schulter. „Wir sind Evas und Adams, die Diamanten unter den Menschen. Unsere Körper sind Tempel, die Gefäße der Zukunft. Alkohol ist Gift, nur ein Dummkopf würde seinen Körper wissentlich vergiften.“

In Ordnung, damit wäre das dann wohl geklärt. „Jetzt wird mir klar, warum ihr alle so seid.“

„So?“ Roxy zog eine Augenbraue nach oben. „Wie sind wir denn?“

„Naja … äh.“ Ich hatte es gewusst, es wäre besser gewesen den Mund zu halten. „So eben.“

Sawyer lachte leise. „Also ich habe auch schon selbsternannten Fusel getrunken. Hat mir fast die Speiseröhre weggeätzt.“

„Das war aber bevor du zu uns gekommen bist, nicht wahr?“, fragte Roxy.

„Na hier kommt man ja an das Zeug nicht ran.“ Er warf mir einen undefinierbaren Blick zu, spöttisch, aber auch irgendwie nachdenklich. „Da muss sich unser Baby wohl mit einem Tee begnügen.“

Ich verengte meine Augen leicht. Was sollte das blöde Babygelaber? Das war jetzt schon das dritte Mal, dass er mich so nannte. Glaubte er etwa, ich trug Windeln? „Wenn ich dich nicht ertragen muss, wird mir das sehr leichtfallen.“

„Okay“, unterbrach Joshua uns. „Bevor das jetzt in eine neue Diskussion mündet, wollten wir nicht eigentlich ein Film schauen?“

Alle stürzten sich erneut auf das Thema und nach weiterem Hin und Her, konnten sich alle auf einen Film einigen. Es ging um einen reichen Mann. Erst war er ein Menschenschlechter, dann wurde er zu einem Superhelden, der die Menschen beschützte. Ich fand es faszinierend der Geschichte zu folgen.

Im Bus der Tracker hatte ich zwar schon einmal einen Film gesehen, aber das war anders gewesen, Cartoon hatte Kit es genannt. Das hier waren Bilder, wie sie aus dem echten Leben stammen konnten, auch wenn ich die Geschichte ein wenig abwegig fand. Sie hatte eine eigentümliche Art von Humor, der mir gefiel.

Die anderen schienen davon nicht ganz so gefesselt zu sein wie ich. Anfangs konzentrierten sie sich zwar auf den großen Bildschirm an der Wand, aber das Interesse ließ schnell nach und sie begannen sich miteinander zu unterhalten.

Es war mir unbegreiflich. Erst diskutierten sie so heftig, dass es fast in einen Krieg ausartete und dann schauten sie sich den Film nicht mal an. Sehr seltsam.

Irgendwann mitten im Film erhob Joshua sich und verließ den Raum, um aufs Klo zu gehen. Als ich das sah, wäre ich fast aufgesprungen und ihm hinterhergelaufen. Auf so eine Gelegenheit hatte ich schließlich gewartet. Ich konnte mich gerade noch so fangen. Ein solcher Auftritt wäre nämlich nicht gerade unauffällig gewesen.

„Findest du ihn gut?“, fragte Roxy.

„Was?“ Über meinem Kopf spross ein Fragezeichen.

„Joshua.“ Sie grinste. „Du starrst ihn schon den ganzen Abend an.“

Mist, war ich wirklich so auffällig gewesen? „Nein.“

„Doch, tust du.“ Sie beugte sich mir ein wenig entgegen. „Ist doch okay. Joshua wäre sicher nicht abgeneigt. Du musst nur mal mit ihm sprechen.“

Oh zum Henker, das entwickelte sich aber gerade in die völlig falsche Richtung. „Ich will weder mit ihm, noch mit …“ Ich drückte die Lippen fest aufeinander. Fast hätte ich ihnen gesagt, dass ich hier mit niemanden etwas zu tun haben wollte, aber das durfte ich nicht, ich musste weiterhin die Fassade wahren.

„Also wenn ihr mich fragt, kann Joshua es wirklich besser treffen“, bemerkte Lija hochmütig und musterte mich wie einen ekligen Schmierfleck. „Ich meine, schaut sie euch an, sie trägt ja nicht mal Schuhe.“

Alle guckten auf meine Füße.

Ich starrte böse zurück. „Ich brauche keine Schuhe.“

„Und frische Kleidung brauchst du auch nicht. Ich weiß genau, dass du dieses Kleid schon gestern getragen hast.“

Ich fand nicht wirklich, dass das eine Beleidigung war. Zuhause hatte ich meine Kleidung immer mehrere Tage tragen müssen, einfach weil wir nicht so viel besaßen, aber so wie mich nun alle musterten, kam ich mir wie etwas Ekliges vor. Das würde sie mir büßen. „Ich mag vielleicht nicht deinen Ansprüchen genügen, aber wenigstens weiß ich, wann ich unerwünscht bin.“

Sie runzelte die Stirn, doch bevor sie etwas sagen konnte, sprach ich schon weiter.

„Ich wurde eingeladen, du hast dich selber eingeladen, weil niemand dich und deine Art erträgt. Ich bin vielleicht noch nicht lange hier, aber das habe ich bereits bemerkt. Immer wenn du kommst, stehen alle um dich herum auf und suchen das Weite – besonders die Männer.“

Sie schnaubte. „Ich weiß ja nicht, was du gesehen haben willst, aber eins kann ich dir versichern. Mich findet keiner so abstoßend wie dich.“

„Ach nein? Und was war dann heute Morgen im Paradise? Kaum hast du dich zu Tican gesetzt, ist er auch schon aufgestanden.“ Ich zeigte auf ihn. „Frag ihn, wenn du dich traust.“

„Äh“, machte Tican. Er fand es wohl nicht so toll, hier mit reingezogen zu werden. Zu seinem Pech interessierte mich das nicht im Geringsten.

„Ich glaube, wir sollten an dieser Stelle unterbrechen“, sagte Roxy.

„Nein.“ Sawyer grinste. „Das ist viel interessanter als der Film.“ Er sah tatsächlich so aus, als würde er die Show genießen und sei gespannt darauf, wie es weiter ging.

Lijas Augen blitzten verärgert. Sie schaute in die Runde und dann erschien ein bösartiges Lächeln auf ihren Lippen. „Für jemanden, der sogar seine kleine Schwester vergrault hat, bist du ganz schon selbstgefällig.“

„Lija“, zischte Roxy und warf mir dann einen vorsichtigen Blick zu.

Ich zog meine Augenbrauen so dicht zusammen, dass sie sich fast berührten. Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach, aber vorsichtshalber schaute ich sie schon mal böse an.

Die eiskalte Schönheit lehnte sich auf der Couch zurück und schlug die ewig langen Beine übereinander. Ihre Augen funkelten boshaft. „Hast du geglaubt, wir wüssten nicht, wie du hierhergekommen bist? Kleine Info, ich bin mit einem Tracker befreundet und der hat mir gesagt, dass deine kleine Schwester direkt in ihre Arme gelaufen ist, nur weil sie von dir wegwollte.“

Diese Worte waren wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Es sollte mir nichts ausmachen. Ich sollte sie nicht beachten, denn diese Frau wusste nichts über mich und das was sie sagte, war eine Lüge. Ich war nicht schuld an Nikitas Ausflug in die Ruinen. Ich war nicht schuld daran, dass die Tracker sie geschnappt hatten. Ich hatte versucht sie zu retten. Aber ich hatte versagt.

Meine Hände ballten sich zu Fäusten und ich musste schwer an mich halten, um nicht auf sie loszugehen.

„Das reicht jetzt, Lija“, sagte Tican in einem warnenden Ton. Die Stimmung war mit einem Mal gekippt und alle konnten es spüren. „Hör auf mit dem Mist, oder der Abend ist beendet.“

Lija ignorierte ihn. Sie hatte erreicht, was sie wollte. Trotzdem setzte sie noch süffisant hinzu: „Wahrscheinlich ist sie jetzt überglücklich, nicht mehr in deiner Nähe sein zu müssen.“

Das war zu viel. Noch bevor ich wusste, was ich da tat, war ich schon aufgesprungen und stürzte mich auf sie.

Das selbstgefällige Lächeln in ihrem Gesicht verschwand und wurde zu einer schockierten Miene, als ihr klar wurde, was gleich geschehen würde. Sie schaffte es noch schützend ihre Hände hochzureißen, da versetzte ich ihr auch schon einen Fausthieb, der sie mitten im Gesicht traf. Ihr Kopf wurde zur Seite geschleudert. Sie kippte rückwärts um, schrie und versuchte sich wegzurollen, doch da hockte ich bereits auf ihr und drückte sie in die Couch.

Um mich herum brach Trubel aus, alle riefen durcheinander, doch es war ein fernes Rauschen, das ich kaum wahrnahm.

„Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst!“, fauchte ich ihr ins Gesicht. Ich hob die Faust, für einen weiteren Schlag. Meine Wut war so groß, dass ich nicht mehr klar denken konnte. „Du weißt nichts, von mir und meinem Leben!“

Lija kreischte und versuchte mich runter zu stoßen, da packte ich mit einer Hand ihr Haar und hielt sie fest, während ich mit der anderen zuschlug.

Meine Faust streifte nur ihr Kinn, denn plötzlich schlangen sich von hinten zwei Arme um mich und rissen mich so schwungvoll von ihr herunter, dass ich ihr dabei auch noch Haare ausriss.

Ich schrie und begann mich gegen den Griff zu wehren. „Lass los!“

„Die ist ja verrückt!“, rief Lija mit weit aufgerissenen Augen. Aus ihrer Nase floss Blut und sie wirkte einfach nur schockiert. „Völlig verrückt!“

Ich trat nach hinten und traf auf Widerstand, doch der Griff wurde nur fester, während ich von Lija weggezerrt wurde. „Ich werde dich in der Luft zerreißen!“, fauchte ich.

Roxy war von der Couch aufgesprungen. Tican hatte sich schützend vor ihr aufgebaut, als würde er befürchten, ich würde mich auch auf sie stürzen.

„Komm nie wieder in meine Nähe!“

Celeste eilte zu Lija, um sich ihre Nase anzusehen.

„Hör jetzt mit dem Scheiß auf!“, knurrte Sawyer mir ins Ohr, aber ich hörte nicht auf. Ich schimpfte und schlug und trat um mich, während sich die Stahlklammer um mich verstärkte und ich dann einfach vom Boden aufgehoben wurde.

„Nein!“, schrie ich und kratzte mit meinen Nägeln über seine Arme, aber er wollte mich einfach nicht loslassen.

Joshua suchte sich diesen Moment aus, um ins Wohnzimmer zurückzukehren. Er sah die geschundene Lija und Sawyer, der seine ganze Kraft aufbieten musste, damit ich seinem Griff nicht entkam. „Was ist denn hier los?“

„Lass mich runter!“, fauchte ich. „Ich werde ihr die Scheiße aus dem Leib prügeln!“

„Das kannst du vergessen.“ Er veränderte seinen Griff ein wenig und dann trug er mich aus dem Raum hinaus auf die Terrasse.

Ich wand mich und trat immer wieder nach hinten aus. Ich war so wütend. Auf Lija, auf die Situation, auf die ganze verdammte Stadt. „Nimm endlich deine Pfoten von mir, du verdammter Mistkerl!“ Mein Fuß traf Sawyer so heftig am Schienbein, dass er ein Ächzen von sich gab. Im nächsten Moment ließ er mich einfach fallen und mein Hintern kollidierte mit dem Steinboden der Terrasse. Der Schmerz fuhr mir durch den ganzen Körper. „Scheiße“, fluchte ich und hätte am liebsten weiter um mich geschlagen. Ich war immer noch so wütend.

„Sowas darfst du nicht machen“, knurrte Sawyer. Er klang gereizt. „Sie ist eine verdammte Eva.“

Ich funkelte ihn an. „Nur weil sie eine Eva ist, kann sie sich nicht alles herausnehmen!“

„Oh doch, genau das kann sie“, widersprach er mir sofort. „Als Eva ist sie unantastbar. Nicht mal eine andere Eva darf Hand an sie legen. Wenn sie es doch tut, hat das schwerwiegende Konsequenzen und Lija wird das ganz sicher nicht auf sich sitzen lassen. “ Auf seinen Armen waren Striemen. Das war ich gewesen, aber das war mir im Moment egal. Mir war alles egal. Ich hasste sie, ich hasste jeden einzelnen von ihnen. Und Sawyer hasste ich ganz besonders.

„Aber sie hat es verdient!“

„Das interessiert niemanden. Am Ende zählt nur was du getan hast und das war, um es mal deutlich zu sagen, saublöd von dir gewesen. Du kannst nicht einfach auf sie losgehen, nur weil du zu empfindlich bist, um ihre Sticheleien zu ertragen.“ Er beugte sich zu mir hinunter und wirkte dabei hart wie Granit. Die Narben in seinem Gesicht waren durch die Anspannung noch deutlicher zu sehen. „Es ist völlig egal, was sie sagt oder tut, du musst dich im Griff haben. Lass dir ein dickeres Fell wachsen, sonst gehst du bald unter.“

Wir funkelten uns gegenseitig an.

Am liebsten wäre ich aufgestanden und wieder ins Wohnzimmer gestürmt, um Lija noch eine zu verpassen. Stattdessen rappelte ich mich auf die Beine. „Lass mich in Ruhe“, knurrte ich und ließ ihn stehen. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich gehen sollte, doch ich wusste, ich musste hier weg. Also verschwand ich aus dem Garten und schürte die Wut, die noch immer dicht unter der Oberfläche brodelte.

Lija war so eine Lügnerin. Und ein Miststück. Aber vor allen Dingen eine Lügnerin. Und ich war eine Idiotin, weil ich mich nicht unter Kontrolle gehabt hatte und ausgerastet war. Doch ihre Worte hatten mich nicht nur völlig unerwartet getroffen, sie hatten mich auch erschüttert. Ich wusste, dass es nicht meine Schuld war. An diesem letzten Morgen hatte ich Nikita nicht mal gehen lassen wollen und als mir klar wurde, was ihr geschehen war, hatte ich nicht gezögert und versucht sie zu retten.

Aber es war mir nicht gelungen.

Das war es wohl, was so an mir zerrte. Ich hatte es versucht und war gescheitert und jetzt fand ich einfach keinen Ausweg aus unserer Lage. Das Nikita noch dazu hellauf begeistert von diesem Ort war, machte das Ganze noch viel schlimmer. Ich wurde Zusehens verzweifelter und Lija war der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.

Meine Lippen wurden zu einem schmalen Strich. Das hätte nicht geschehen dürfen. Sawyer hatte recht, ich hatte die Kontrolle verloren und damit vielleicht alles zunichte gemacht, was ich bisher erreicht hatte. Es war nicht viel gewesen, aber jeder Schritt nach vorne, mochte er auch noch so klein sein, war ein Schritt in die richtige Richtung. Jetzt jedoch konnte alles umsonst gewesen sein.

Seufzend blieb ich stehen und versuchte mich zu orientieren. Ich war einfach nur durch die Straßen gelaufen und hatte keine Ahnung, wo ich nun war. Aber das war kein Problem. Der Turm der Evas ragte hoch über der Stadt auf. Ich musste mich nur an ihm orientieren, um meinen Weg zu finden. Trotzdem dauerte es noch eine ganze Weile, bis ich in meiner Suite ankam und mich unter meiner Decke verstecken konnte. Leider sollte Sawyer noch in einem weiteren Punkt recht behalten.

Als Carrie am Morgen auftauchte, tat sie das mit einer versteinerten Mine. Sie sprach nicht viel mit mir, erklärte nur, dass wir einen dringenden Termin bei Agnes hatten und darum fand ich mich kurz darauf in dem Büro der Despotin wieder.

Agnes saß mit übergeschlagenen Beinen in ihrem Stuhl und fixierte mich wie ein Raubtier, das ihre Beute entdeckt hatte. Hinter ihr an der Wand standen wieder zwei Gardisten. Carrie hatte auf dem Sofa Platz genommen und ich saß der Despotin gegenüber und versuchte mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen.

„Sie wissen sicher, warum sie hier sind“, sagte Agnes in täuschend ruhigem Tonfall.

Nicht mit Sicherheit, aber ich ging davon aus, dass es mit Lija und ihrer blutenden Nase zusammenhing. Da ich mich in der Zwischenzeit aber beruhigt hatte und ein neunmalkluger Spruch sicher nicht angebracht war, zog ich es vor zu schweigen.

„Keine Idee?“

Also wollte sie eine Antwort. „Wegen dem Vorfall bei Tican.“ Wo ich nichts von dem erreicht hatte, was ich mir vorgenommen hatte. Ich hätte es gleich wissen müssen. Wäre ich doch nur ins Paradise gegangen, oder hätte ich mich in meiner Suite versteckt.

Agnes gab keinerlei Regung von sich. Es war unmöglich zu erraten, was in ihrem Kopf vor sich ging. „Die Position einer Eva ist sehr anstrengend, nicht nur physisch, sondern auch psychisch. Trotz all unserer Bemühungen, ist es nicht immer ganz einfach, Stress zu vermeiden. Die ständige Hormonveränderung macht es uns noch zusätzlich schwer, weswegen einige der Frauen immer mal wieder unter starken Gefühlsschwankungen leiden, die sich mitunter auch in aggressivem Verhalten zeigen. Sie allerdings haben keine solche Entschuldigung für ihr Handeln.“

Ich biss die Zähne zusammen, um nicht etwas Falsches zu sagen. Ich hatte mehr als nur einen Grund und das wusste sie genau.

„Bisher habe ich bei ihrem Verhalten immer ein Auge zugedrückt, aber dieses Mal sind sie zu weit gegangen. Sie haben Grundlos eine Eva angegriffen, ihr beinahe die Nase gebrochen und ihr die Haare ausgerissen.“

Fast hätte ich gesagt, dass das mit den Haaren nicht meine Schuld gewesen war. Das war nur passiert, weil Sawyer mich weggerissen hatte, doch solche Kleinigkeiten interessierten sie wahrscheinlich nicht, also hielt ich den Mund geschlossen.

„Frau Lech musste sich wegen ihres Übergriffs in ärztliche Behandlung begeben und wird wegen des Traumas voraussichtlich ihre nächste Fekundation verschieben müssen.“

Fe-was?

Agnes stellte ihre Beine nebeneinander und richtete sich ein wenig gerader auf, als wollte sie größer wirken. Oder bedrohlicher. „Als älteste Eva der Stadt und Despotin, ist es meine Pflicht, ihrer ständigen Gewaltbereitschaft, einen Riegel vorzuschieben. Ich werde ihre unkontrollierten Wutausbrüche, ihr aggressives Verhalten und ihren Vandalismus nicht mehr länger hinnehmen. Sie sind eine Gefahr für ihre Mitmenschen.“

„Vandalismus?“

„Sie haben in ihrer Suite randaliert.“ Ihr Blick wurde berechnend. „Haben sie geglaubt, das wüsste ich nicht? Ich bin über alles informiert, was in dieser Stadt geschieht.“

Natürlich wusste sie das. Carrie war vermutlich hoch erfreut gewesen, ihr meine Vergehen unter die Nase reiben zu können.

„Des Weiteren werden sie bei einem Psychologen vorstellig werden, damit dieser ein Gutachten über sie erstellen kann. Ich muss wissen, womit ich es zu tun habe, um dementsprechend handeln zu können.“

Ich wusste nicht genau, was das sein sollte, aber eher würde ich mir die Zunge abbeißen, als sie um eine Erklärung zu bitten.

„Außerdem werden sie ihre Schwester nicht mehr treffen, bis ich das Gutachten habe und danach nur noch unter Aufsicht.“

„Was?“ Nein, dieses Mal konnte ich mich nicht zurückhalten.

Agnes sprach weiter, als hätte ich nichts gesagt. „Es kann nicht erlaubt werden, dass jemand der so gewaltbereit ist wie sie, unbeaufsichtigten Zugang zu einem Kind hat.“

„Das kannst du nicht machen!“ Ich fuhr vom Stuhl auf und Schlug meine Hände auf den Tisch. Der Becher mit den Stiften hüpfte. „Sie ist meine Schwester!“

„Ich habe es gerade getan. Und sie sollten sich gut überlegen, was sie als nächstes tun.“ Ihr Blick schien mich aufzuspießen. „Das ist mein letztes Wort in dieser Angelegenheit und ich hoffe, sie lassen es sich für die Zukunft eine Lehre sein. Weiteres Fehlverhalten ihrerseits, werde ich nicht mehr dulden und wird in Zukunft mit Strafen geahndet.“

„Aber …“

„Sie können jetzt gehen.“

Ich wollte nicht gehen. Ich wollte schreien und ihr den Kopf abreißen, doch die beiden Gardisten behielten mich sehr genau im Auge. Durch die Helme konnte ich ihre Gesichter nicht sehen, aber ihre Haltung verriet mir, dass sie sich sofort auf mich stürzen würden, sollte ich auch nur einen falschen Schritt machen.

Zornig über diese Ungerechtigkeit, wischte ich mit einer Handbewegung den Stiftbecher vom Tisch. „Sie sind abscheulich!“, fauchte ich, machte auf dem Absatz kehrt und stürmte aus dem Raum. Die Wut von gestern Abend war mit einem Schlag wieder allgegenwärtig. Sie durften mir Nikita nicht wegnehmen, sie war doch alles, was ich noch hatte.

„Kismet“, rief Carrie und eilte mir hinterher.

Ich ignorierte sie. Im Moment konnte ich mich weder mit ihr, noch mit jemand anderem auseinandersetzen, denn ich stand kurz vor dem platzen und würde meine Wut und meine Verzweiflung an jedem auslassen, der mir zu nahekam.

 

oOo

Kapitel 30

 

Wie durchscheinende Geister, schwebten die Wolken über den sternenübersäten Himmel und schoben sich vor den Mond. Das diffuse Licht verblasste und der Abend wurde ein wenig dunkler.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust, um mich gegen das Frösteln zu schützen, während ich einen Fuß vor den anderen setzte, ohne wirklich ein Ziel zu haben.

Der Tag war genauso verlaufen, wie er begonnen hatte. Meine Schicht im Paradise war die reinste Folter gewesen. So zu tun, als wäre alles in Ordnung, während meine Weilt um mich herum in scharfe Scherben zersprang, war eine Zumutung gewesen. Das Lija dann noch aufgetaucht war, hatte es nicht besser gemacht.

Sie war in den Club geschwebt, als würde ihr die Welt gehören. Wunderschön, erhobenen Hauptes und ohne den kleinsten Kratzer. Von wegen Trauma, sie hatte wie immer ausgesehen und sich auch so benommen, zumindest bis die Roxy und Tican damit begonnen hatten, ihr die kalte Schulter zu zeigen. Sie hatten mitbekommen, dass Lija zu Agnes gegangen war und fanden die Aktion voll daneben. Ich wusste das so genau, weil Roxy sich zu mir an den Tresen gesetzt und es mir gesagt hatte.

Eigentlich hätte mir das wenigstens ein zartes Gefühl von Befriedigung geben sollen, aber das hatte es nicht. Ob sie Lija nun ausschlossen, oder sie zu ihrer Königin krönten, für mich machte das keinen Unterschied, ich stand trotzdem kurz davor, Nikita zu verlieren.

Bei dem Gedanken daran, wurden meine Lippen dünn. Ich war bei meiner Schicht gewesen und dann zum Unterricht gegangen. Danach hätte ich eigentlich Nikita treffen sollen. Stattdessen hatte ich allein in meiner Suite gesessen und in meinem Abendessen herumgestochert. Bevor dieses Gutachten erstellt worden war, würde ich nicht mal mit ihr reden dürfen.

Dieser Gedanke trieb mich in den Wahnsinn. Sie hatten mich in der Hand und ich war machtlos.

Als der Abend zu dämmern begann, hatte ich es nicht mehr ausgehalten und war nach draußen gegangen, bevor ich meine Wut an der Einrichtung auslassen konnte. Und nun wanderte ich einfach ziellos umher.

Zuerst hatte ich überlegt ins Paradise zu gehen, aber auf die Gesellschaft von menschlichem Abschaum, konnte ich im Moment dankend verzichten. Da war ein Spaziergang durch die Parkanlage, die den Turm der Evas von allen Seiten umschloss, doch eine viel bessere Wahl. Vielleicht würde ich so den Kopf ein wenig freier bekommen.

Hoffen konnte man ja.

Carrie hatte ich seit dem Unterricht nicht mehr gesehen. In den letzten Tagen, war sie sowieso nur noch da, um sicherzugehen, dass ich meine Termine auch pünktlich wahrnahm. Ich vermisste ihre Gegenwart nicht, doch die Einsamkeit um mich herum, schien trotz der vielen Menschen, immer stärker zu werden.

Ich war gerne allein. Ich fand es gut, wenn ich mich zurückziehen konnte, um mich ganz meinen Gedanken hinzugeben. Doch das hier war eine andere Art von Einsamkeit. Sie war wie eine Last, die mich langsam zu erdrücken schien.

Langsam trugen mich meine Beine Richtung Rosengarten. Ich wollte mich zu den Füßen von Sophias Statur hinsetzen und alles vergessen. Ich wollte in den Himmel schauen und mir vorstellen, ich wäre Zuhause. Ich wollte das alles ausblenden, wenn auch nur für eine kleine Weile. Doch die Sorge um Nikita und die Furcht vor dem, was vor mir lag, hatten sich mit Widerhaken in mir festgekrallt und wollten einfach nicht weichen. Alles schien so ausweglos.

Wenn ich doch nur endlich eine Möglichkeit finden würde, von hier zu entkommen. Ein kleiner Funken Hoffnung, mehr brauchte ich nicht, aber dieser Ort zerquetschte jedes Quäntchen Zuversicht, sobald es auch nur das kleinste Lebenszeichen von sich gab.

Nein, so durfte ich nicht denken, ich durfte nicht aufgeben. In Ordnung, im Moment sah es für mich nicht besonders rosig aus. Alles was ich anpackte, schien schon aus Prinzip schiefzugehen, aber irgendwann wäre das Glück mir wieder hold, ich musste nur daran glauben.

Ich war so auf meine eigenen Gedanken konzentriert, dass ich die Stimme erst wahrnahm, als ich durch den blühenden Rosenbogen hindurchtrat und in den Schatten eine kleine Bewegung wahrnahm. Meine Schritte stoppten augenblicklich. Dort am Baum, halb verborgen unter den ausladenden Ästen, die fast bis an Sophias Statur heranreichten, stand ein Pärchen. Auch wenn ich von der Frau nur die Rückansicht hatte, dieses süßliche Säuseln kannte ich, das war Celeste. Und der Mann, der mit dem Rücken an der Rinde lehnte, war eindeutig Sawyer. Na toll, mein abgeschiedener und einsamer Ort war bereits besetzt. Und nun? Wahrscheinlich wäre es am besten, wenn ich einfach wieder verschwand und mir ein anderes Plätzchen suchen würde – besonders wenn ich sah, auf welche Art sich Celeste an Sawyer schmiegte und wohin ihre Hand gerade wanderte.

„Ich weiß doch was du magst“, schnurrte Celeste in Sawyers Ohr und rieb dabei mit ihrer Hand über seinen Hosenschlitz, wo sich langsam eine beachtliche Beule abzeichnete.

Sawyer jedoch stand nur mit verschränkten Armen da und grinste höhnisch. „Ach ja?“

„Hmh.“ Als sie sich dann auch noch an seinem Hosenknopf zu schaffen machte und ihm langsam den Reißverschluss runterzog, wäre es für mich wirklich an der Zeit gewesen, zu verschwinden, doch irgendwas an der Szene hielt mich an Ort und Stelle. Es lag sicher nicht daran, dass ich das plötzliche Bedürfnis verspürte unter die Voyeure zu gehen, es war etwas in Sawyers Gesicht. Der Ausdruck darin, der mich … ich wusste nicht wie ich es beschreiben sollte. Er brachte mich dazu, einen Moment zu verweilen.

Celeste verschloss Sawyers Mund zu einem sehr intensiven Kuss und störte sich auch nicht daran, wie unbeteiligt er dabei war. Er erwiderte den Kuss zwar, tat aber sonst nichts.

Sie murmelte wieder etwas, dieses Mal zu leise für meine Ohren. Dann ging sie vor ihm auf die Knie und zog ihm dabei die Hose weit genug herunter, um seine Erektion direkt vor der Nase zu haben.

Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, nicht ein wenig genauer hinzuschauen. Sawyer hatte mit Sicherheit nicht zu kompensieren. Zumindest nicht in dieser Hinsicht. Lange sah ich aber auch nichts, den gleich darauf öffnete Celeste ihren Mund und alles Interessante verschwand hinter den Bewegungen ihres Kopfes.

Sawyer schloss einen Moment die Augen und gab ein leises Geräusch von sich. Nicht ganz ein Stöhnen, aber auch kein Seufzen.

Als seine Augen sich wieder öffneten, veränderte sich der Ausdruck in seinem Gesicht. Der Hohn und die Arroganz schienen sich in Luft aufzulösen. In seinen Augen spiegelte sich der Glanz seiner Lust, aber da war noch etwas anderes, eine viel stärkere Gefühlsregung, etwas das ich bei ihm noch nie wahrgenommen hatte: Resignation. Er machte mit, er tat was Celeste wollte, aber es schien keinen Spaß daran zu haben, sondern sich einfach nur in sein Schicksal zu fügen. In diesem Moment wirkte er zum ersten Mal … verletzlich traf es nicht ganz, eher ungeschützt, irgendwie angreifbar. Es machte ihn auf eine Art menschlich, die ich an ihm noch nie wahrgenommen hatte.

Ich wusste nicht ob ich mich bewegt, oder ein Geräusch gemacht hatte, aber plötzlich fuhr Sawyers Kopf herum und sein Blick begegnete dem meinen. Jedes Gefühl verschwand hinter einer Wand aus Stahl.

Wir starrten uns an, ohne dass Celeste irgendwas davon mitbekam. Er sagte nichts, doch er löste seine verschränkten Arme und fuhr mit einer Hand in ihr Haar. Er packte es mit so festem Griff, dass es ihr wehtun musste, doch sie gab nur ein Stöhnen von sich und dann übernahm er die Kontrolle. Eben noch völlig unbeteiligt, stieß er nun so kräftig zu, als müsste er sich selber oder mir etwas beweisen. Vielleicht mochte er es aber auch einfach nur so.

Ein paar Sekunden tat er das, ohne den Blickkontakt zu mir zu brechen, dann schloss er die Augen, lehnte den Kopf gegen den Baum und war auf eine Art grob zu Celeste, die ich nicht als besonders angenehm empfunden hätte.

Was auch immer das zu bedeuten hatte, es war Zeit für mich zu gehen. Nicht nur aus meiner kleinen Ecke, sondern raus aus dem Park. Nachdem ich nun wusste, was die beiden dort trieben, hatte ich kein besonders großes Interesse daran, irgendwo in der Nähe zu bleiben. Ich wollte auch nicht darüber nachdenken, ob das alles war, was sie tun würden, oder ob da noch mehr kam.

Mist, jetzt tat ich es doch.

Im Geiste mit mir selber schimpfend, tat ich das, was man um die Uhrzeit von mir erwartete, ich ließ mich im Paradise blicken.

Wie nicht anders zu erwarten, war es, wie immer um diese Zeit, gut gefüllt, den es gehörte einfach zum Ritual am Abend, die Gemeinschaft zu pflegen.

Ein paar Leute begrüßten mich und luden mich ein, mich zu ihnen zu setzten, oder ein Spiel mit ihnen zu spielen, aber ich lehnte wie immer ab und zog mich auf meine gepolsterte Fensterbank zurück, um dabei zuzuschauen, wie die Kois in ihrem Teich, träge von einer Seite zur anderen schwammen.

Leider bekam ich dabei einfach nicht den Ausdruck in Sawyers Gesicht aus dem Kopf, diese Resignation. So sehr ich mich auch bemühte, ich konnte einfach nicht aufhören darüber nachzudenken. Selbst als er eine Stunde später mit Celeste hinter sich den Clubraum betrat, geisterte dieser Ausdruck noch in meinen Gedanken herum. Ich verstand es einfach nicht.

Celeste wirkte zufrieden und ja, auch befriedigt. Sie gab Sawyer ein Küsschen auf die Wange und gesellte sich dann zu ein paar Damen in einer der Sitzecken. Sawyer marschierte einfach zu den Billiardetischen und stellte sich zu Tican und Joshua. Um jedoch dorthin zu kommen, musste er an mir vorbei. Unsere Blicke kreuzten sich für einen Moment und ich machte mich schon mal für eine Runde seiner Herablassung bereit, doch der Ausdruck in seinem Gesicht war bar jedes Gefühls. Er funkelte mich nur einen Moment wütend an, bevor er sich zu den anderen Männern gesellte und das war alles. Keine gehässigen Bemerkungen, keine unterschwelligen Herausforderungen, kein arrogantes Gehabe. Er ignorierte mich und meine Anwesenheit einfach. Der Mangel an Dramatik war sowohl irritierend, als auch schockierend. Wir sprachen hier immerhin von Sawyer und der ließ normalerweise keine Gelegenheit ungenutzt, um mich mit seiner Herablassung zu reizen, bis ich ihn am liebsten Erwürgen würde. Und er ignorierte mich nicht zur in diesem Moment, er beachtete mich den ganzen Abend nicht. Es war, als würde er meine Existenz einfach ausblenden.

Irgendwas, in den Augenblicken an Sophias Statur, als sich unsere Blicke kreuzten und ich ihn so gesehen hatte, war zwischen uns geschehen, doch ich verstand nicht was es war.

Wahrscheinlich maß ich der Situation einfach nur zu viel Bedeutung bei.

Ich seufzte und verbrachte den Rest des Abends damit, Blue, die Katze, abzuwehren. Roxy setzte sich irgendwann auch noch zu mir in ihren Sessel, der dort nun schon seit meinem ersten Besucht im Paradise stand und versuche mich in ein Gespräch zu verwickeln. Doch es war besser für mich, wenn ich ab sofort eine Mauer zwischen mir und allen anderen errichtete. Ich wollte mit den Menschen hier nichts mehr zu tun haben, ganz besonders nicht nach dem letzten Abend.

Der Tag endete und ein neuer Morgen begann. Das Wetter wurde schlechter und schien meinen Gemütszustand spiegeln zu wollen. Erst war alles bewölkt, doch dann folgten ein paar verregnete Tage, die ich damit verbrachte, nicht durchzudrehen.

Meine Termine bei Killian wurden zu einer routinierten Tortur. Es war nicht das was er sagte, oder was er tat. Er war nett und freundlich und schaffte es sogar ein paar Mal, mich zum Lächeln zu bringen, doch er war immer noch ein Edener und egal wie zuvorkommend er auch war, er arbeitete für das Zuchtprogramm und deren Ziele.

Außerhalb seiner Praxis, der Hormontherapie und dem ganzen anderen Mist, den er im Auftrag von Eden mit mir machte, hielt ich mich so gut es ging von ihm fern. Allerdings schrie ich ihn nicht mehr an, denn ich musste ja noch immer so tun, als wenn ich ein aufopferungsvolles Mitglied der Gesellschaft werden wollte.

Die Platzwunde an meiner Schläfe verheilte, bis nur noch eine kaum wahrnehmbare Narbe zurückblieb. Carrie schleppte mich zu einem Arzt, der lange Gespräche mit mir führte und ein Gutachten erstellte, in dem er meine labile Psyche und meine ständige Gewaltbereitschaft, auf das Trauma meiner Kindheit und die Entführung von Eden zurückführte. Er machte dort aber auch deutlich, dass er dieses Trauma mit weiteren Sitzungen behandeln konnte und ich keine Gefahr für meine Umwelt sei. Die Sache mit Lija sei nur ein Ausrutscher gewesen, ausgelöst durch Stress, die neue Umgebung und der Tatsache, aus allem herausgerissen worden zu sein, was ich liebte und kannte.

Nachdem Agnes dieses Schriftstück erhalten hatte, wurden mir die Treffen mit Nikita wieder erlaubt. Allerdings nur noch unter Aufsicht. Meistens waren Carrie, oder Dimitri anwesend und behielten uns genaustens im Auge. Als wenn ich meiner Schwester etwas antun würde. Bevor das geschah, würde ich jeden einzelnen von ihnen niedermetzeln.

Carrie ließ mich immer öfter meine Dinge alleine erledigen. Hauptsächlich koordinierte sie noch meine Termine und sorge für dessen Einhaltung, aber das würde sich auch bald ändern. Sie wollte mir demnächst ein paar Leute vorstellen, unter denen ich mir dann einen Assistenten aussuchen sollte. Als ich ihr mitteilte, dass sie das gerne allein tun konnte, bekam ich nur wieder ihr missbilligendes Schnalzen zu hören.

Tage vergingen und wurden zu Wochen. Der Juli wechselte in den August, das Leben wurde nicht leichter. Roxy versuchte weiterhin meine Freundin zu werden, dabei war es ihr ganz egal, wie oft sie von mir eine Abfuhr erhielt. Egal wo ich war, sie tauchte einfach auf und begann eine Unterhaltung. Dabei interessierte es sie nicht einmal, ob ich ihr antwortete. Notfalls übernahm sie auch meinen Teil der Unterhaltung. Diese Frau war wirklich hartnäckig.

Meinen Plan mit Joshua hängte ich an den Nagel, denn je öfter ich ihn beobachtete, desto klarer wurde mir, er war durch und durch ein Städter, ganz egal, ob seine Wurzeln hier lagen, oder nicht. Außerdem war es nicht ganz einfach ihn mal alleine zu erwischen, da ich nach dem bedauerlichen Vorfall, keine Einladungen zu privaten Treffen mehr bekam. So verbrachte ich meine Abende meist im Paradise, wo ich auf der Fensterbank saß, mir mit der Katze ein Blickduell lieferte und versuchte Roxys Sermon zu ignorieren.

Zu meinem Leid hatte sie ein Talent dafür, Themen zu finden, die meine Aufmerksamkeit erregten, ob ich nun wollte, oder nicht.

„Sie ist nicht aus ihrer Suite herausgekommen. Bis die Techniker den Fehler in der Tür beheben konnten, hatte sie ihr Baby schon allein auf die Welt gebracht“, erklärte sie mir gerade und erwartete, dass ich angemessen schockiert aussah. Das ich es nicht war, musste für sie eine herbe Enttäuschung sein. „Das ist ein Alptraum, sage ich dir. Immer wenn ich allein in meiner Suite bin, muss ich daran denken und bekomme Panik, dass mir das auch passieren könnte.“ Sie tätschele ihren dicken Bauch. „Zum Glück ist es noch ein Monat bis zur Geburt. Aber wenn es so weit ist, werde ich mich bei meiner Mutter einquartieren, damit ich im Notfall nicht alleine bin.“

Nun gut, nicht alle Themen die sie ansprach, weckten meine Interesse.

Sie seufzte und musterte mich. „Hast du eigentlich schon einen Termin beim Schneider?“

„Wozu?“ Meine Augen wurden ein wenig schmaler, als Blue sich vom Ende der Fensterbank erhob und einen Schritt in meine Richtung machte. Mittlerweile hatte sie es geschafft, dass ich sie streichelte und seitdem probierte sie es jeden Abend aufs Neue.

Ich musste zugeben, dass es seltsam beruhigend auf mich wirkte, wenn sie sich in meinem Schoß zusammenrollte und leise schnurrte.

„Na für Elysium.“ Sie stützte einen Arm auf der Sessellehne und lehnte ihren Kopf gegen ihre Hand. „Ich habe morgen Nachmittag einen Termin und freue mich überhaupt nicht darauf. Nicht nur, weil ich Ewigkeiten herumstehen muss, ich werde auf der Parade auch wie ein Walross aussehen.“

Was war ein Walross?

„Aber ich freue mich schon darauf. Es ist das erste Mal, dass ich auf der Parade mitlaufen darf. Letztes Jahr war ich noch nicht aktiv und musste deswegen im Herz bleiben. Es ist das erste Mal, dass ich aus der City raus darf. Das wird bestimmt aufregend.“

Ich starrte sie an. „Du bist noch nie aus Edens Herz herausgekommen?“

Sie verzog das Gesicht. „Naja, um ehrlich zu sein …“ Sie stockte, schaute sich nach allen Seiten um, als befürchtete sie, die Wände hätten Ohren und beugte sich dann vor, soweit ihr dicker Bauch das erlaubte. „Also, einmal bin ich auf Ebene Eins gewesen. Ein Wartungsarbeiter hat eine Wartungsschleuse offengelassen. Damals war ich neun und ziemlich neugierig. Ich habe es gesehen und bin einfach hindurch gegangen.“

Wie bereits erwähnt, sie schaffte es immer wieder, sich meine volle Aufmerksamkeit zu sichern. „Eine Wartungsschleuse? Was ist das?“ Wenn man dort einfach hindurchmarschieren konnte, um die Mauern zu überwinden, war das vielleicht genau der Hinweis, den ich brauchte, um von hier zu verschwinden.

Sie wedelte mit der Hand, als wäre es uninteressant. „Das ist ein Zugang, zu den Kabeln und Rohren, die in den Mauern verbaut wurden. Du weißt schon, damit wir in der ganzen Stadt Strom und Wasser und all das haben.“

Ich wusste es nicht, aber das war im Augenblick auf völlig uninteressant. „Und da kann man einfach so hindurch gehen?“

„Naja, wenn die Türen offen sind, aber um sie zu öffnen, brauchst du eine Autorisierung. Es war einfach nur Zufall, dass die Tür offenstand und ich hindurch gehen konnte.“ Sie verzog das Gesicht, als würde sie sich an etwas unerfreuliches Erinnern. „Allerdings bin ich nicht weit gekommen. Wie sich herausstellte, war der Wartungsarbeiter nicht weit gewesen und als er mich bemerkte, hat er mich postwendend zurück ins Herz gebracht, wo er mich auch noch an meine Mutter verpetzt hat.“

Eine Autorisierung. Mein Interesse verflog.

„Darum ist das Fest ja auch so spannend für mich. Oh, schau mal, da kommt Sawyer.“ Sie rief seinen Namen laut, hob die Hand und winkte.

Sawyer warf nur einen mäßig interessierten Blick in ihre Richtung. Dann jedoch bemerkte er mich und aus dem Spott wurde maßlose Arroganz. Er schaut so herablassend zu mir rüber, dass ich mir beinahe minderwertig vorkam.

Ich starrte finster zurück, doch er wandte sich unbeeindruckt von uns ab und setze sich dann in den Autosimulator Fight Car Racing.

„Irgendwie ist er in der letzten Zeit komisch“, bemerkte Roxy.

Ich wandte mich wieder der Katze zu, die meine Ablenkung genutzt hatte und nun schon fast auf meinem Schoß hockte, jedoch augenblicklich in der Bewegung verharrte, als ich meinen Blick wieder auf sie richtete.

Wie starrten uns an.

Sie maunzte.

„Ich meine, Sawyer war schon immer ein wenig asozial gewesen, aber neuerdings hebt er diese Disziplin auf ein ganz neues Level.“

Da ich Sawyer nicht sehr gut kannte, konnte ich ihr weder zustimmen, noch die Aussage dementieren. Aber auch mir kam er ein wenig komisch vor. Die wenigen Male, in denen ich mit ihm zu tun gehabt hatte, hatte er mit einer arroganten Überheblichkeit auf mich herabgesehen, doch jetzt war er geradezu fies zu mir, wenn er mich und meine Gegenwart nicht gerade ignorierte.

Letzte Woche war er so widerlich zu mir gewesen, dass ich ihm mitten im Paradise fast eine geklebt hätte – vor Zeugen – und das, obwohl ich mich seit dem Zwischenfall mit Lija doch versuchte, mein Temperament zu beherrschen. Ich wollte einfach nicht riskieren, dass sie mir Nikita ein weiteres Mal wegnahmen.

„Naja, ist ja auch egal.“ Roxy winkte ab, rutschte in ihrem Sessel ein wenig hin und her und seufzte dann. „Hast du für Elysium denn schon eine Begleitung?“

Und wieder waren wir bei diesem Thema. „Ich brauche keine Begleitung.“

Blue quakte mich ein weiteres Mal an, dann stieg sie einfach auf meine ausgestreckten Beine, drehte sich dort einmal im Kreis und machte es sich bequem. Das sie mir dabei ihre spitzen Ellbogen ins Bein bohrte, interessierte sie nicht im Geringsten.

„Natürlich brauchst du eine Begleitung. Also ich werde mit Micah gehen.“

Micah? Ich versuchte ein Gesicht zu dem Namen zu finden, doch es wollte mir nicht gelingen, folglich kannte ich ihn wohl nicht. „Was ist mit Tican?“ Er war immerhin ihr Babypapa.

Als sie mir das erzählt hatte, fand ich es schon wenig seltsam. Die beiden waren Freunde und obwohl er sie zu mögen schien, hegte er nicht das kleinste bisschen Interesse an dem Baby. Als wenn es ihm nichts bedeuten würde.

„Tican begleitet jemand anderen. Ich wollte mit Micah gehen. Der hat echt einen süßen Hintern.“ Sie zwinkerte mir zu. „Aber für dich müssen wir auch jemanden finden.“ Sie tippte sich mit dem Finger gegen die Lippe und starrte in die Luft, als würde ihr so eine Idee zugeflogen kommen.

„Ich will keine Begleitung.“

„Was ist mit Spencer?“, fragte sie, als hätte ich nichts gesagt. Sie war wirklich eine Meisterin darin, ein Gespräch ganz alleine zu führen. „Er ist zwar kein Adam, aber Mann, er ist ein echter Hingucker. Vielleicht hast du ihn schon mal gesehen, er ist Bademeister in unserem Hallenbad. Soll ich ihn mal fragen, ob er Lust hat?“

„Nein.“ Ich musste sie ganz schnell von diesem Thema abbringen, sonst hätte ich am Ende des Tages vermutlich noch einen eigenen Harem. „Was ist dieses Elysium genau, was macht man da?“ So, das sollte reichen.

Ihre Augen leuchteten auf. „Es ist eine Parade. Und ein Fest. Und eine Kirmes, aber an der dürfen wir leider nicht teilnehmen, die ist nur für die Anwohner der Stadt – also für alle, außer den Adams und Evas.“ Das sagte sie mit Bedauern. „Die Kirmes findet nämlich auf Ebene drei satt, viel zu gefährlich für uns.“

Warum war das gefährlich? „Ich weiß nicht, was das ist, eine Parade und eine Kirmes.“ Hatte ich das so richtig ausgesprochen?

„Oh, ähm … also. Wir – damit meine ich dich und mich und alle anderen Evas und Adams – also, wir treffen uns alle am auf dem Herzplatz vor Tor eins, du weißt schon, da wo auch die Kaserne der Gardisten ist.“

Nein, das wusste ich nicht, aber ich verkniff es mir, sie darauf hinzuweisen.

„Von dort aus laufen wir zum Festplatz auf Ebene drei. Du musst dir das wie einen Spaziergang vorstellen, bei dem die ganze Stadt dabei ist und uns bejubelt und feiert. Auf dem Festplatz gibt es dann eine kleine Show, mit anschließendem Tanzen und Essen. Und natürlich Karussells und Spiele und Fressbuden. Das wird gigantisch!“ Ihre Euphorie verflog ein wenig. „Die Adams und Evas müssen nach der Vorführung allerdings zurück ins Herz. Aber keine Sorge, wir veranstalten hier dann unsere eigene kleine Feier im großen Festsaal des Freizeitcenters. Du weißt schon, da wo wir Agnes´ Geburtstag gefeiert haben. Allerdings gibt es hier keine Karussells und Spiele, oder Fressbuden. Nur Etwas zu Essen und vielleicht tanzen.“ Sie wollte eindeutig lieber auf die Kirmes, als in den Festsaal.

Meine Gedanken hatten jedoch eine ganz andere Richtung eingeschlagen. Wir kamen also wirklich aus dem Herzen raus. Ebene drei bedeutete, nur noch zwei Mauerringe bis zur Freiheit. Na gut, es waren eigentlich drei, aber der Dritte war noch nicht fertig gestellt, also lagen nur zwei Hindernisse vor mir.

In meinen Adern begann es vor Aufregung zu kribbeln. So nahe war ich der Freiheit nicht mehr gewesen, seit sie mich ins Herz gebracht hatten. „Und was ist mit den Kindern?“

„Kinder? Meinst du deine Schwester? Die wird sicher auch irgendwo zwischen den Zuschauern sein. Die ganze Stadt feiert diesen Tag.“

Nikita würde auch dort sein.

„Allerdings bezweifle ich, dass du viel von ihr sehen wirst. Wir werden von allen Seiten streng bewach und dürfen uns nicht unters gemeine Volk mischen. Sicherheitsvorschrift.“

War ja wieder klar. Welche Möglichkeiten sich mir auch eröffneten, am Ende gab es immer einen Haken und die ganze Sache verlief sich im Sande, bevor sie auch nur die Chance hatte, sich zu entwickeln. Im Moment war ich wirklich vom Pech verfolgt.

Ich setzte Blue von meinem Schoß runter, was sie mit einem empörten Schnauben kommentierte und schwang meine Beine von der Fensterbank.

„Wo willst du hin?“

„Klo.“

„Okay. Ich hole mir in der Zeit was vom Tresen, willst du auch was?“

„Nein.“ Bevor sie auf die Idee kam, mich noch mit weiteren Fragen zu löchern, machte ich eilig, dass ich davonkam. Für einen Edener, war Roxy ein nettes Mädchen, aber ich konnte sie trotzdem nur zeitweise ertragen, denn es schien einfach keinen Filter zwischen ihrem Mund und ihrem Hirn zu geben. Sie sprach aus was sie dachte. Das war an sich nichts Schlimmes, doch wenn sie erstmal in Fahrt war, dann hörte sie einfach nicht mehr auf.

Es war leichter, eine Zeitlang vor ihr zu fliehen, anstatt ihr den Mund zu verbieten. Ich hatte es schon versucht, es brachte rein gar nichts.

Die Damentoilette war bis auf mich verwaist. Ich musste nicht wirklich aufs Klo, also stellte ich mich vor den Spiegel und betrachtete mich selber. Eines musste ich Eden zugestehen, meine Zeit hier hatte wenigstens ein Gutes. Ich hatte zugenommen. Nur ein wenig. Doch nun waren mein Knochen verhüllt von den Kurven meines Körpers und stachen nicht mehr grotesk aus der Haut hinaus. Allgemein war ich viel gepflegter. Nicht das ich das draußen in den Ruinen brauchen würde, doch ein paar Pfunde mehr auf den Hüften waren sehr gut. Zwar hatten wir noch Spätsommer, doch der Herbst und der Winter würden auch nicht ewig auf sich warten lassen.

Auch mein Haar war etwas länger geworden. Es kringelte sich nun zu kleinen Löckchen um meinen Kopf. Meine Augen dagegen, wirkten nur müde und stumpf. Jeder neue Tag an diesem Ort war ein Kampf, der mich auslaugte und zermürbte. Die Hoffnung auf Freiheit war noch da, aber sie schwand mit jedem weiteren Tag ein kleinen wenig mehr. Im Augenblick konnte ich wirklich nichts anderes tun, als dazusitzen und auf etwas zu warten, was wahrscheinlich niemals kommen würde.

Seufzend drehte ich den Wasserhahn auf und wusch mir die Finger. Solche Gedanken waren nicht gerade aufbauend, doch leider ertappte ich mich immer öfter dabei, wie sie ungefragt in meinem Kopf auftauchten.

Das war es, was diese Stadt machte. Sie nahm einem jede Hoffnung, bis man einfach aufgab und sich in sein Schicksal fügte.

Ich wollte nicht so sein. Ich konnte nicht aufgeben, das war völlig ausgeschlossen. Ich würde bis zum Letzten kämpfen und irgendwann würde ich für meine Mühen belohnt werden. Ich musste einfach noch ein wenig länger durchhalten, dann würde am Ende sicher alles gut werden.

Es waren Dinge wie diese, die ich mir immer wieder sagte, um mir selber Mut zuzusprechen. Auch jetzt, als ich das Bad wieder verließ, wiederholte ich es wie ein Mantra, damit ich es auch niemals vergaß. In meinem Leben hatte ich schon des Öfteren vor scheinbar unüberwindbaren Problemen gestanden. Verdammt, ich hatte mich und ein vierjähriges Kind über ein Jahr ganz alleine am Leben erhalten, da würde ich doch jetzt nicht aufgeben, nur weil …

RUMS!

Meine Nase kollidierte mit einer Männerbrust.

„Verdammt, mach doch mal die Augen auf.“

Ich trat eilig einen Schritt zurück und stand direkt vor Sawyer, der gerade vom Herrenklo gekommen war. In seinem Blick lag eine solche Abscheu, als würde ich einen widerlichen Geruch absondern.

„Das gleiche könnte ich dir raten“, erwiderte ich genauso giftig.

„Das könntest du, nur drücke ich mich nicht vor den Toiletten herum, um mich auf unschuldige Männer zu stürzen.“

Unschuldig?

„Oder lauerst du mir auf, um mir ein wenig näher zu kommen?“ Er beugte sich so weit zu mir vor, dass sich unsere Nasenspitzen fast trafen. „In diesem Fall sollte ich dir sagen, dass du dir die Mühe sparen kannst. Ich ficke keine kleinen Mädchen.“

Bastard. „Weißt du was? Du bist echt armselig.“ Ich wich einen Schritt vor ihm zurück. „Dein ganzes Gehabe ist doch nur Show, du kannst einem wirklich leidtun.“

Die Fassade der Arroganz begann zu bröckeln, in seine Augen keimte Wut auf. „Du hältst dich für eine ganz Schlaue, nicht wahr? Aber in Wirklichkeit bist du nichts weiter, als ein verängstigtes Gör, das nachts sein Kissen vollheult und darüber klagt, wie ungerecht die Welt doch zu ihr ist.“ Sein Finger fuhr so dicht vor meiner Nase hoch, dass ich davor zurückzuckte. „Dein Mitleid brauche ich nicht, ganz besonders nicht von dir.“

Was? „Mein Mitleid?“ Wovon redete er?

„Ach komm schon, tu nicht so. Glaubst du, ich habe nicht gemerkt, wie du mich angesehen hast? Ich bin nicht blöd und wenn hier jemand armselig ist, dann bist das du.“ Er drehte sich um und ließ mich stehen.

Verdutzt stand ich da und sah ich ihm hinterher, als er wieder in den Gästeraum des Clubs verschwand.

Also gut, das war ja mal gar nicht seltsam gewesen, überhaupt nicht.

Roxy hatte schon recht, dieser Mann benahm sich wirklich merkwürdig. Vielleicht war er ja als Kind einmal zu oft auf den Kopf gefallen. Oder jemand hatte ihm, wegen dem ganzen Mist, den er immer von sich gab, eine über die Rübe gehauen. Wundern würde es mich jedenfalls nicht.

Eigentlich konnte es mir auch egal sein, was interessierte Sawyer mich überhaupt. Anstatt mir Gedanken darüber zu machen, warum er sich so seltsam benahm, sollte ich mir endlich einen durchführbaren Fluchtplan überlegen. Das würde uns beiden helfen, denn dann musste ich mich mit diesem Mann nie wieder auseinandersetzten.

 

oOo

Kapitel 31

 

„Kiss!“

Den Fuß bereits halb in der Luft, setzte ich ihn wieder ab und drehte mich nach der Stimme um. Roxy stand auf der anderen Straßenseite und winkte mir wild gestikulierend zu. Einen Moment war ich versucht, einfach die Flucht zu ergreifen, aber Carrie stand neben mir und beäugte mich aufmerksam. Einer anderen Eva direkt vor ihrer Nase eine Abfuhr zu erteilen – und sei es nur, indem ich diese Eva einfach stehen ließ – wäre keine gute Idee. Also wartete ich, bis Roxy halb rennend die Straße überquert hatte und sich an meine Seite gesellte.

„Puh, mit so einem Bauch zu rennen, ist nicht sehr empfehlenswert. Vielleicht sollte ich ein wenig mehr Sport treiben. Oder überhaupt erstmal damit anfangen.“ Roxy hob nachdenklich das Gesicht, als zöge sie diese Idee ernsthaft in Erwägung. „Nein, lieber nicht, dafür bin ich viel zu faul.“ Sie schenkte mir ein breites Grinsen. „Und, wohin des Wegs?“

„Ich muss ins Ärztecenter.“ Ich zeigte auf das City-Hospiz, am anderen Ende des Parkplatzes. Ich hatte keine Lust auf den Fahrdienst gehabt und das Wetter war schön, als war ich hergelaufen – sehr zu Carries Leid. „Ich habe einen Termin.“

„Oh, dann haben wir ja das gleiche Ziel. Da können wir auch zusammen gehen.“ Ohne sich darum zu kümmern, ob mir das überhaupt recht war, schnappte Roxy sich meinen Arm und hakte sich bei mir unter. Mein Versuch ihr auszuweichen, wurde rigoros ignoriert und mich unauffällig los machen, ging auch nicht. Für so eine kleine Person, war sie ganz schön stark.

Na gut, dann würde ich mich eben mal wieder meinem Schicksal fügen. Es gab weitaus Schlimmeres und zum Hospiz war es glücklicherweise nicht mehr weit. „Du hast auch einen Termin bei Killian?“, fragte ich, als wir uns in Bewegung setzten. Nicht dass es mich wirklich interessierte, aber besser ich steuerte das Gespräch, bevor ihr wieder irgendwelche seltsamen Einfälle kamen.

„Doktor Vark?“ Ihre Augen wurden groß, sie wirkte beinahe schockiert. „Um Himmels Willen, nein, zum Glück nicht. Ich könnte niemals zu Doktor Vark gehen.“

„Warum nicht, hast du was gegen ihn?“ Ich hielt Killian für einen guten Arzt. Nicht dass ich das ihm gegenüber jemals zugeben würde. Aber warum diese strikte Ablehnung? War Killian vielleicht wie all die anderen Menschen in dieser Stadt, nur ein Blender und ich war auf seine Täuschungen hereingefallen?

„Nein, der Mann ist ein super Kerl, aber hast du ihn dir mal angesehen? Er ist eine erstklassige Sahneschnitte.“

Ihrem Ton entnahm ich, dass das etwas Gutes war. Das machte ihre Ablehnung noch verwirrender.

„Der Mann sieht viel zu gut aus, um Arzt sein zu dürfen. Wenn er einen untersucht, könnte ein böses Mädchen auf schmutzige Gedanken kommen und diese auch noch in die Tat umsetzen.“

In Ordnung, das hatte ich verstanden. Glaubte ich zumindest. „Du willst also nicht seine Patientin sein, weil ihr beide sonst Sex haben könntet?“

„Jeder hat so seine kleinen Phantasien.“ Sie zwinkerte mir verspielt zu. „Außerdem ist dieser Mann viel zu perfekt. Er ist zu allen nett, immer hilfsbereit und ausgesprochen zuvorkommend. Er ist selbst zu Lija höflich und dann kümmert er sich auch noch so aufopferungsvoll um seine kranke Mutter.“ Sie schüttelte den Kopf, als wäre irgendwas davon unerhört. „Der Mann ist einfach zu gut um echt zu sein. Der hat bestimmt Leichen im Keller.“

„Du glaubst, Killian versteck Leichen?“ Ich wusste nicht, ob ich darüber entsetzt, oder beeindruckt sein sollte. Sowas hätte ich ihm nie im Leben zugetraut.

„Das ist nur so eine Redensart. Es bedeutet, dass jemand etwas Böses verbirgt. Du weißt schon, eine schlechte Seite hat, die er nicht zeigt, oder schreckliche Geheimnisse hütet. Verstehst du?“

Ich nickte. Aber ich konnte mir trotzdem nicht vorstellen, dass ausgerechnet Killian böse Geheimnisse, oder eine schlechte Seite verbarg.

Roxy hielt kurz an, um einen Wagen vorbei zu lassen, bevor sie mich weiter Richtung Gebäude zog. „Vielleicht ist er heimlicher Choleriker, oder tötet zum Spaß kleine Insekten. Vielleicht ist er aber auch ein echtes Tier im Bett, dominant und fordernd.“ Ihr Gesicht nahm einen verträumten Ausdruck an.

Ich konnte nur denken: Killian? Nie im Leben. „Du hast eine blühende Phantasie.“

Sie grinste mich frech an.

„Außerdem scheinst du ein wenig Sexbesessen zu sein.“

Nun wurde ihr Grinsen ein wenig verrucht. Ihre Augen funkelten vergnügt. „Vielleicht ein kleinen wenig. Sex ist ein netter Zeitvertreib.“

Joa, das war er in der Tat.

Roxy nahm mich scharf ins Auge und grinste dann äußerst dreckig. „Und was ist mir dir?“

„Was soll mit mir sein?“ Nein, meine Verwirrung war nicht gespielt.

„Spielt deine Phantasie nicht verrückt, wenn du bei ihm bist?“

„Bei Killian?“ Ich versuchte mir vorzustellen, mit Killian Sex zu haben, oder mich bei einer seiner Untersuchungen unter seinen kundigen Händen gut zu fühlen. Dieser Gedanke war so absurd, dass sich einfach kein Bild einstellen wollte.

„Erzähl mir nicht, dass du noch nicht bemerkt hast, wie gut er aussieht. Das kaufe ich dir nicht ab.“

„Ich habe es bemerkt.“

„Natürlich hast du das, du bist schließlich eine gesunde, junge Frau.“

„Aber deswegen will ich nicht mit ihm schlafen.“

Ihr Blick wurde skeptisch. „Vielleicht bist du ja doch nicht so gesund, wie ich bisher geglaubt habe.“

Ha ha, sehr witzig.

Hinter uns stolperte Carrie, fing sich aber wieder, bevor sie zu Boden gehen konnte. Sie rückte ihre Handtasche zurecht und tat so, als wäre nichts gewesen. Auch gut.

Roxy musterte mich auffallend, während wir auf die unterste Stufe der Treppe traten. „Hast du wirklich keine Phantasien mit ihm? Der Mann ist bereits seit Wochen dein Arzt.“

Das mochte stimmen, aber in diesen Wochen lag mein Hauptaugenmerk darauf, diesen Mauern zu entkommen und nicht, mir einen Mann zu suchen. Schon gar nicht, wenn er aus Eden kam. „Ich hatte andere Dinge im Kopf.“

Sie schüttelte den Kopf. „Du solltest dringend deine Prioritäten überdenken.“

Ich überlegte, ihr den gleichen Ratschlag zu geben, ließ den Mund dann aber geschlossen. Manchmal war es halt besser, seine Gedanken einfach für sich zu behalten.

Wir stiegen die Treppe hinauf. Vor uns schob sich die Tür auf und wir traten in den Eingangsbereich. Heute war nicht so viel los, nur ein paar Leute, die geschäftig hin und her liefen. Die Meisten von ihnen trugen Kittel mit dem Emblem von Eden darauf. Sie waren Angestellte.

„So, ich muss jetzt da lang.“ Sie zeigte nach links. „Sehen wir uns nachher im Paradise?“

Wenn es nach mir ginge, würde die Antwort Nein lauten. Aber leider ging es hier nie nach mir. „Wahrscheinlich.“

„Gut, dann bis nachher.“ Sie zwinkerte mir zu. „Und vielleicht überlegst du es dir ja noch mal mit deinem Arzt. Er ist wirklich zum Anbeißen. Tüdelü.“ Sie winkte, lief dabei ein paar Schritte rückwärts und rannte so fast in einen Pfleger hinein. Er wich ihr gerade noch aus.

Roxy merkte nichts davon. Sie drehte sich einfach um und ging ihrer Wege.

Wäre es mir nicht so egal, hätte ich über dieses Verhalten vielleicht sogar den Kopf geschüttelt. So jedoch wandte ich mich einfach nur nach rechts und machte mich auf den Weg zu den Treppen.

Carrie stöhnte, aber ich beachtete es nicht. Wenn sie den Aufzug nehmen wollte, konnte sie das gerne ohne mich tun. Ich aber würde nicht freiwillig in eine dieser Todesfallen einsteigen.

Meine Füße trugen mich den inzwischen vertrauten Weg in die zweite Etage. Dieser Gedanke war bitter. Ich war in der Zwischenzeit schon so lange hier, dass ich vertraute Wege hatte.

Einen Monat, ganz genau einunddreißig Tage, so lange war es nun her, seit ich den Trackern in die Hände gefallen war. Und trotz all meiner Bemühungen, war ich noch immer in dieser Stadt, ohne auch nur den Hauch einer Idee, wie ich von hier verschwinden konnte. Wenn ich nicht bald eine Lösung fand, würde ich noch durchdrehen.

Es war nicht nur der Alltag an diesem Ort, und die Aufgabe, die man mir zugewiesen hatte, ich musste mich immerzu verstellen, um sie in Sicherheit zu wiegen. Das war anstrengend und zerrte an mir. Ich sehnte den Tag herbei, an dem ich diese Mauern endlich hinter mir und die Maske fallen lassen konnte.

In der zweiten Etage war so gut wie gar kein Betrieb. Der Warteraum vor Killians Praxis war leer und die Tür zum Behandlungsraum stand offen.

„Ich werden hier draußen warten“, verkündete Carrie und ließ sich mit ihrem Screen in einem bequemen Sessel nieder.

Einen Moment war ich versucht sie zu fragen, warum sie mir das jedes Mal aufs Neue sagte, da ich es doch bereits wusste. Aber das wäre nur Verschwendung von Atem, also ließ ich sie einfach machen und trat unaufgefordert in die Praxis …

… und blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen.

Ich brauchte nur eine Sekunde, um den Anblick, der sich mir bot, zu verstehen. Killian auf seinem Stuhl, die Arzthelferin, die sich über ihn beugte. Ihre Hände, tief vergraben in seinem blonden Haar, ihr Mund auf seinen gepresst, seine Hände auf ihrem Hintern.

In der nächsten Sekunde rissen die beiden ihre Köpfe zu mir herum und sie sprang weg, als hätte ich sie bei etwas Verbotenem erwischt.

Als Killian sich leicht verlegen durch seine Haare strich, erhob etwas Finsteres in mir sein Haupt und knurrte leise. Bevor es jedoch Form annehmen konnte, zerquetschte ich es allein mit meiner Willenskraft und verbot mir, näher darüber nachzudenken. „Tut mir leid“, sagte ich, auch wenn es mir nicht leidtat. „Ich wollte nicht stören.“

„Du störst nicht“, versicherte er mir und warf einen kurzen Blick zu der Arzthelferin. „Wir haben nur etwas wegen einer meiner Patientinnen besprochen.“

Aha, so nannte man das jetzt also.

Die Lippen der Frau wurden ein wenig schmaler. „Brauchen Sie mich dann noch, Doktor Vark?“

„Nein, danke, im Moment nicht.“

„Dann werde ich sie jetzt allein lassen. Viel Spaß mit ihm.“ Ihre letzten Worte waren so scharf, dass ich nachsah, ob sie mich damit geschnitten hatte. Mit hoch erhobener Nase, stolzierte sie an mir vorbei und schloss die Tür von außen hinter sich. Wäre es keine Pneumatiktür, hätte sie sie wohl hinter sich ins Schloss geworfen.

Killian verzog unbehaglich das Gesicht.

„Ich glaube, du hast sie verärgert.“

Wenn ich seinen Blick richtig deutete, war das kein sonderlich hilfreicher Kommentar.

„Bitte setzt dich doch“, sagte er und versuchte unbeholfen seine Frisur und seinen Kittel wieder in Ordnung zu bringen.

Ich kam seiner Aufforderung nach und musterte ihn. Seine Wangen waren leicht gerötet und der Blick etwas verlegen. Irgendwie war das schon niedlich. Roxy hatte schon recht, Killian war eine Sahneschnitte – was auch immer das bedeutete. Aber Aussehen alleine war nicht alles.

„Ich hätte auch später wiederkommen können.“ Oder auch gar nicht.

„Nein, schon gut.“ Er tippte mit den Fingern auf den Desk und holte meine Akte auf den Bildschirm. „Das war … nicht so wichtig.“

„Das war nicht so wichtig? Sie schien das aber anders zu sehen.“ Ich konnte es nicht lassen, ich musste ihn einfach ein wenig piesacken. Es war einfach zu amüsant, wie er sich deswegen in seinem Stuhl wandte.

Killian zog eine Grimasse. „Es war nur ein Kuss. Es war das erste und auch das letzte Mal. Es wird nicht nochmal passieren.“

Ich öffnete den Mund, um ihn noch ein wenig zu ärgern, aber er kam mir zuvor.

„Heute möchte ich dir etwas zeigen“, erklärte er und drehte eines der virtuellen Fenster auf seinem Desk so, dass ich es direkt vor mir hatte. Es war eine imaginäre Mappe aus dickem, brauen Leder. Sowas hatte mir Cameron schon einmal gezeigt. Es war zwar nur Programm, oder eine Datei, aber man konnte die Seiten wie bei einem richtigen Buch umblättern. „Na los, schau schon rein.“

Ich fragte nicht, was das jetzt wieder zu bedeuten hatte. Besser ich war einfach nur dankbar dafür, dass ich meine Kleidung heute mal anbehalten durfte und in keinen Becher pinken musste – man muss eben auch die kleinen Dinge des Lebens würdigen. Und ein kleinen wenig neugierig war ich ja auch – natürlich würde ich das niemals freiwillig zugeben. Aber es war eher so eine ängstliche Neugierde. Die Furcht davor, was nun wieder auf mich wartete.

Ich versuchte mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen und wahrte einen neutralen Gesichtsausdruck, als ich mit dem Finger über den Bildschirm strich und damit die erste Seite aufschlug. Das Foto eines Mannes lächelte mir von der gesamten Seite entgegen. Ich hatte ihn schon ein paar Mal im Paradise gesehen, wusste seinen Namen aber nicht.

Außer dem Foto, war nichts auf der Seite. Kein Text, kein gar nichts, nur das Bild eines lächelnden Mannes.

Ich könnte jetzt natürlich fragen, warum er mir das zeigte, doch ich bevorzugte es, selber darauf zu kommen. Also blätterte ich um und erblickte ein weiteres bekanntes Gesicht. Noch ein Mann. Auch ihn kannte ich bereits vom Sehen. Er war ein häufiger Besucher des Clubs und verstand sich ausgesprochen gut mit der Damenwelt. Ich war wohl die Einzige, die ihm immer wieder die kalte Schulter zeigte.

Langsam blätterte ich zur nächsten Seite und dann noch eine weiter und eine dritte. Überall waren Männer abgebildet, von denen ich die Meisten irgendwo schon mal gesehen hatte. Doch leider erschloss sich mir trotzdem nicht, warum ich er mir dieses Fotoalbum zeigte.

Auf der nächsten Seite verharrte ich einen Moment. Das Gesicht von Sawyer blickte mir entgegen. Es war das gleiche Foto, dass ich schon im Verzeichnis der Adams angesehen hatte.

Unser Treffen gestern Abend kam mir wieder in den Sinn. Er war so feindlich gewesen, so als hätte ich ihm ein scheußliches Unheil getan. Er war wirklich wütend gewesen, aber ich konnte mir immer noch nicht erklären, warum das so war. Ich hatte ihm schließlich nichts getan. Er dagegen war immer ein Arsch, der ständig auf mir herumhackte und mir Gemeinheiten an den Kopf warf, nur um sich ein wenig zu amüsieren.

Mit einem „Gefällt er dir?“, holte Killian mich aus meinen Gedanken.

Ich blickte auf, lehnte mich zurück und entschloss mich nun doch zu fragen. Die Bilder gaben halt keine Weisheiten preis. „Warum zeigst du mir das?“

Er verschränkte die Hände auf dem Tisch und stellte mir eine Gegenfrage. „Hast du schon mal einen Blick in das Verzeichnis der Adams geworfen?“

„Ja.“

Er lächelte zufrieden. „Konntest du dich auch schon für jemand entscheiden?“

Warum nur musste er mich immer anlächeln? Selbst nach meinem kleinen Anfall, vor dem Turm der Evas, als ich ihn in aller Öffentlichkeit angeschrien hatte, war er nicht sauer gewesen. Er hatte mich bei unserem nächsten Termin mit einem Lächeln begrüßt und auch bei jedem darauffolgendem. Kein Wort über das Vorgefallene.

Er behandelte mich wie immer. Das fand ich irritierend. Wenn er mir die kalte Schulter zeigen würde, oder wenigstens grob und verärgert wäre, könnte ich damit problemlos umgehen. Aber er war immer freundlich und zuvorkommend. Damit konnte ich nichts anfangen. Es war, als hätte er keine Persönlichkeit. Oder, als würde er seine wahre Persönlichkeit vor mir verbergen wollen.

„Kismet?“

Wie war noch mal die Frage gewesen? Ach ja. „Entscheiden?“

„Für einen der Adams. Ist einer der Männer dabei, der dir besonders gefällt?“

War die Frage ernst gemeint? „Ich will keinen von diesen Männern.

„Du brauchst aber einen und du solltest dich bald entscheiden, das wäre für die weitere Behandlung wichtig.“ Er warf einen kurzen Blick auf den Desk, bevor er den Blick wieder zu mir hob. „Wenn dir niemand zusagt, kann ich dir auch das erweiterte Verzeichnis zeigen. Darin findest du auch Männer, von denen wir kryokonservierte Spermien lagern.“

Moment, davon hatte Roxy mir schon erzählt. „Von toten Männern?“

Sein Mundwinkel zuckte. „Ja, die meisten Männer im erweiterten Verzeichnis, sind bereits verstorben.“

Der Ekel stand mir ins Gesicht geschrieben.

Killian bemerkte es nicht einmal. Er tippte auf dem Desk herum und öffnete eine weitere Datei, die er mir zuschob. Diese Mappe war in schwarzes Leder gehüllt. „Und du musst dich entscheiden, ob du einen normalen Koitus wünschst, oder doch lieber eine In-vitro-Fertilisation vorziehst.“

Künstliche Befruchtung. Aha. „Du meinst wie bei deiner Mutter?“

Einen Moment schwieg Killian und musterte mich. Dann seufzte er leise. „Du weißt doch, meine Mutter ist ein Sonderfall. Du kannst dich nicht mit ihr vergleichen. Die Entscheidung, wann und von wem sie geschwängert wird, obliegt nicht ihr.“

Halt, stopp, hatte ich das gerade richtig verstanden? „Ihr schwängert sie, ohne dass sie ein Wörtchen mitzureden hat?“

„Kismet …“

„Und als Krönung nehmt ihr ihr dann auch noch ihre Kinder weg.“ Ich verzog das Gesicht. „Das ist widerlich. Ihr seid widerlich.“

„Wir müssen das tun“, sagte er leise und wich einen kurzen Moment meinem Blick aus. „Du verstehst das nicht. Meine Mutter kann nicht für ein Kind sorgen, dazu ist sie geistig einfach nicht in der Lage. Aber sie ist fruchtbar, bringt gesunde Kinder zur Welt und ist deswegen auch in ihrem Zustand sehr wertvoll.“

Das war seine Rechtfertigung? „Das ist abscheulich.“

„Nein, es ist in Ordnung. Meine Mutter steht vierundzwanzig Stunden am Tag unter strenger Beobachtung – besonders wenn sie wieder schwanger ist. Das muss so sein, weil sie manchmal äußerst seltsame Dinge tut. Aber sie wird gut versorgt. Alle kümmern sich um sie. Sie hat ein gutes Leben.“

Vielleicht täuschte ich mich, aber ich glaubte in seinen Worten deutliche Zweifel zu hören. „Sind das deine Worte, oder hat man dir diesen Blödsinn in den Mund gelegt?“

„Das ist kein Blödsinn.“

„Und ob es das ist. Diese Stadt beutet Olive aus. Was man mit ihr tut, ist widerwärtig und verabscheuungswürdig.“ Ich fixierte ihn. „Und du weißt das, oder?“

Die sonstige Offenheit und Freundlichkeit verschwanden hinter einer eisernen Maske. „Du solltest nicht über Dinge urteilen, die du nicht verstehst.“

„Oh, ich verstehe sehr gut.“ Ich lehnte mich vor und schaute ihm genau in die Augen. „Und ich glaube, auch du verstehst.“ Aber er würde es niemals offen zugeben. Er war ein Städter, aufgewachsen mit dieser menschenunwürdigen Moral. Er konnte sich nicht gegen sie aussprechen. Nicht nur, weil das üble Konsequenzen für ihn haben könnte, sondern auch, weil er damit seine ganze Existenz in Frage stellen müsste. Er arbeite und lebte schließlich für dieses ganze Konzept. Das hier war alles was er kannte.

Und doch hatten sich bei ihm Zweifel festgesetzt. Das hatte er schon in unserem ersten Gespräch sehr deutlich gemacht.

„Ich denke, wir sollten dieses Thema jetzt fallen lassen. Es gibt wichtigere Dinge die wir klären müssen.“

Ah, ein Themenwechsel. Und das nicht mal besonders geschickt. „Du kannst die Tatsachen verleugnen und verdrängen, aber das ändert nichts an ihrem Wahrheitsgehalt. Und das ist dir sehr wohl bewusst. Was ihr mit Olive macht, ist falsch.“

Killian ignorierte diesen Seitenhieb und konzentrierte sich stattdessen auf den Digital-Desk. Er tat so als würde er etwas nachlesen. Nur bewegten seine Augen sich dabei nicht. Das verriet sehr deutlich, dass er mit den Gedanken eigentlich ganz woanders war. „Gestern habe ich die Auswertungen deines Tests erhalten, deswegen müssen wir uns dringend über die Wahl deines ersten Adams unterhalten. Solltest du Schwierigkeiten bei der Entscheidung haben, können wir dir auch einen passenden Partner zuweisen.“

„Oh, ich bin mir sicher, dass ihr das könnt. Ihr habt ja für jede Situation ein Notfallplan.“

Killian blickte vom Bildschirm auf. „Es ist mir ernst, Kismet. Die Tests besagen, dass dein Eisprung bereits in fünf Tagen stattfinden wird.“

Diese kurze Aussage überfuhr mich so sehr, dass in meinem Kopf für ein paar Sekunden völliger Leerlauf herrschte. Es war als würde mein Hirn sich weigern diese Worte zu verstehen. Aber dann verstand ich doch, was er mir damit sagen wollte. In fünf Tagen war ich empfängnisbereit und sie wollten, dass ich schwanger wurde.

„Deswegen muss ich auch wissen, ob du einen normalen Koitus, oder doch die künstliche Befruchtung wünschst.“

Das konnte nicht sein Ernst sein. Sicher war das nur ein riesiger und dummer Witz auf meine Kosten. Aber er sah nicht aus als würde er Witze machen. Er schaute mich völlig ruhig an.

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. Natürlich, ich musste das Spielchen weiterspielen, bis sich mir endlich eine Lösung bot, aber das ging zu weit. „Nein, das mache ich nicht.“

„Kismet …“

„Nein!“ Ich sprang so schnell vom Stuhl auf, dass er umkippte und auf den Boden knallte. „Das geht zu schnell. Ich bin noch nicht so weit. Ich meine, fünf Tage? Das ist nicht einmal mehr eine Woche!“ Ja, in Ordnung, ich gab es zu, ich geriet ein wenig in Panik. Das konnte die Aussicht darauf, was mich bei meinem nächsten Eisprung erwartete, schon mal verursachen.

„Kismet, ich weiß, dass das jetzt sehr viel für dich ist, aber …“

Mit einem wütenden Schlag auf den Schreibtisch brachte ich ihn zum Verstummen. „Einen Dreck weißt du!“, fuhr ich ihn an. „Wurdest du schon mal zu so etwas gezwungen? Wenn nicht, halt die Klappe Killian, denn du hast keine Ahnung, was das für eine Gefühl ist, oder was das für mich bedeutet!“

„Ich weiß, dass du Angst hast. Das ist verständlich, aber du musst dich beruhigen.“

„Warum sollte ich?! Es ist doch egal was ich tue, das Ergebnis wird immer das gleiche sein!“ Meine eigenen Worte bereiteten mir eine Heidenangst, denn es war die Wahrheit. Egal was ich tat, ich war ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Ich musste tun was sie verlangten, sonst würden sie mich dazu zwingen. Und es gab keine Möglichkeit mich dem Ganzen zu entziehen, denn Eden war eine Festung. Nein, keine Festung, ein Gefängnis.

„Kismet, setz dich bitte. Es hilft niemanden, wenn du dich jetzt aufregst.“

„Setzen?!“ Ich lachte ihm ins Gesicht. „Träum weiter.“ Damit drehte ich mich um und marschierte zur Tür.

„Kismet, bitte warte.“

Tat ich nicht. Stattdessen stürmte ich so schnell durch die Tür, wie sie es zuließ.

Im Warteraum schaute Carrie auf, während Killian hastig um seinen Schreibtisch herumlief um mir zu folgen.

„Kismet …“

„Nein! Das mache ich nicht!“ Das konnte ich einfach nicht. Ich spielte mit, ich tat was sie wollten, aber es gab eine Grenze die ich nicht bereit war zu übertreten.

„Was …“, begann Carrie als ich an ihr vorbeistürmte. Den Rest hörte ich nicht mehr, denn ich war so schnell weg, dass man von mir wohl nur noch eine Staubwolke sehen konnte. Ja ich gab es gerne zu, ich lief davon, denn was er da von mir verlangte, machte mir eine scheißangst. Ich und ein Kind? Und dann auch noch unter diesen Umständen? In was für einer Welt lebten diese Menschen hier eigentlich?

Das konnten sie nicht mit mir machen, ich würde es nicht zulassen.

Fünf Tage! Fünf verflucht kurze Tage! Das entbehrte jeder Menschenwürde!

Verdammt, warum sahen die Leute hier das nur nicht? Warum folgten sie alle stur lächelnd und völlig hirnlos einer Gesellschaft, die so etwas tat? Ich verstand es nicht.

Ich schaffte es kaum mich zu beruhigen. Und dabei war es nicht nur die Wut darüber was sie von mir und auch von den anderen Frauen verlangten. Es war viel mehr als das. Dass die Gesellschaft es guthieß, ja sogar forcierte, dass niemand sah, was es wirklich bedeutete.

Wie hatte Killian mir verdammt noch mal diese Mappe vor die Augen halten können?!

Ich war so aufgebracht und … ja, auch irgendwie ängstlich, dass ich gar nicht darauf achtete, wohin meine Beine mich trugen. Ich wusste nur eines: Ich musste hier weg, bevor es zum Äußersten kam. Weg vom Hospiz, weg von Eden.

Blind eilte ich die Treppen hinunter und aus dem Gebäude. Ich überquerte den Parkplatz, ohne auch nur zu wissen, wohin ich gehen sollte. Hier gab es keinen Ort, an dem ich mich verstecken konnte. Ich würde es nicht schaffen, mich ihnen zu entziehen. Ich konnte nicht  … „Uff!“

Ein stabiles Hindernis schnitt mir den Weg ab, packte mich an den Armen, damit ich beim Abprall nicht stürzte und hielt mich dann fest.

„Hey, nicht so stürmisch.“

Tican, phantastisch, der hatte mir gerade noch gefehlt.

Er musterte mich einen Augenblick. Was er wohl sah? „Geht es dir gut?“

Einen Moment starrte ich ihn nur an und dann wurde mir mit aller Deutlichkeit bewusst, dass auch er zu diesem Menschen hier gehörte. Er war ein Adam, einer von denen, die mir das antun wollten. „Geh weg!“ Ich stieß ihn von mir und brachte ihn damit ins Stolpern.

„Hey!“ Er fand sein Gleichgewicht wieder. „Was soll das? Ich habe dir nichts getan.“

„Aber du könntest.“ Ich wich vor ihm zurück. „Du bist einer von denen.“

„Von denen?“

„Ein Adam!“ Ich schlang meine Arme um mich selber. Diese schützende Geste brachte mir rein gar nichts.

„Tut mir leid, ich verstehe nicht. Was ist los?“

„Sie wollen, dass ich ein Baby bekomme!“, fauchte ich. „In fünf Tagen!“

„Du sollst in fünf Tagen ein Baby bekommen?“ Abschätzend begutachtete er meinen flachen Bauch. „Nichts gegen die Ärzte und ihre Fähigkeiten, aber das wird mit Sicherheit nicht passieren.“

„Nein, kein Baby bekommen, ein Baby zeugen! Sie wollen, dass ich mir einen Mann aussuche und mit ihm ins Bett steige, um ein Baby zu bekommen!“ Ich konnte das nicht. Ich konnte das auf keinen Fall. Wie sollte ich das machen? „Ich will hier weg“, flüsterte ich. „Ich will mir Nikita schnappen und einfach hier verschwinden.“

Tican beobachtete mich nur schweigend. Keine Ahnung ob er meine geflüsterten Worte überhaupt verstanden hatte.

Hinter uns nährten sich Schritte und als ich mich danach umsah, entdeckte ich Sawyer, der mit einem herablassenden Lächeln in unsere Richtung schlenderte. „Nein, nicht auch noch der.“

Tican Augen folgten meiner Blickrichtung. „Keine Sorge, ich bin mit ihm hier verabredet. Ich werde ihm sagen, er soll nett sein.“

Ich schüttelte den Kopf und drängte mich an ihm vorbei. „Lass mich in Ruhe.“ Im Augenblick wollte ich weder ihn noch Sawyer in meiner Nähe haben. Ich wollte allein sein, ohne mir ständig den Kopf darüber zerbrechen zu müssen, was der nächste Tag, die nächste Stunde und die nächste Minute bringen würde. Ich wollte das alles nicht mehr. Langsam ging mir die Kraft aus, dieses Spiel noch weiter zu spielen.

 

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Kapitel 32

 

Vergnügt kreischend, rannte ein kleines Mädchen mit wehendem Haar so dicht an mir vorbei, dass ich vorsichtshalber einen Schritt zur Seite machte, um nicht über den Haufen gerannt zu werden. Sie stürmte auf den Brunnen in der Einfahrt vor dem Turm der Evas zu und stoppte dann so abrupt davor, dass sie fast Übergewicht bekam und vorn über ins Wasser klatschte.

Obwohl ich viel zu weit entfernt war, riss ich instinktiv die Arme hoch, nur um zu sehen, wie sie sich im letzten Moment fing und dann freudig auf die Wasseroberfläche patschte.

Nikita kicherte. „Hast du neuerdings unkontrollierte Zuckungen?“

Eine Frau, mindestens doppelt so alt wie ich, eilte dem Mädchen hinterher und fing sie ein, bevor sie in den Brunnen klettern konnte. Sie schimpfte mit ihr und nahm sie bei der Hand, um mit ihr in den Turm zu gehen.

„Sie hätte sich wehtun können“, verteidigte ich mich. Außerdem war das eine instinktive Reaktion gewesen. Irgendwie beunruhigend, dass ein fremdes Kind mich dazu verleiten konnte. Doch viel beunruhigender fand ich die Aussicht, dass hier bald meine eigenen Kinder rumlaufen könnten. Sie würden mit den Werten von Eden aufwachsen, kein Blick für die Welt außerhalb der Mauern haben. Küken in einem goldenen Käfig, der nur in den Abgrund führen konnte.

Die Panik die ich schon den ganzen Nachmittag verspürt hatte, kehrte mit all ihrer Macht zurück. Weder der laue Abend, noch der Spaziergang durch die Grünanlage um dem Turm, oder gar Nikitas aufgeregtes Geschnatter, konnten dieses Gefühl dämpfen. Es gab keine Lösung, keinen Ausweg, nur diese Einbahnstraße, die in einer ausweglosen Gasse endete.

„Die anderen finden den Unterricht bei Frau Lange langweilig“, erzählte Nikita und spielte dabei wieder an ihrer Survival-Uhr herum. „Aber ich finde es echt interessant. Die Geschichte der Wende habe ich so noch nie gehört. Sie klingt ganz anders als in Saads Erzählungen.“

Ja, weil Saads Erzählungen schon immer eher in die Welt der Sagen und Mythen gehört hatten. Er schmückte seine Geschichten gerne aus, oder ließ Dinge weg, die in seinen Ohren uninteressant klangen, oder seiner Meinung nach, einfach nicht in die Geschichte hineinpassten.

„Hast du gewusst, dass es vor der Wende so viele Menschen gab, dass man vielerorts sogar von Überbevölkerung gesprochen hatte? Oder die Probleme mit Kriegen, Flüchtlingen und Wirtschaft. Das Leben früher war so vielfältig, ganz anders als heute.“

Wie begeistert sie darüber sprach, mit so viel Energie und Elan. So hatte ich sie schon lange nicht mehr erlebt. Und ich musste mir wieder einmal eingestehen, es machte mir Angst.

„Acht Milliarden Menschen, so viele soll es vor der Wende gegeben haben. Überlege mal, wie viele Menschen das sind.“

Das waren wirklich viele.

„Heute sind es schätzungsweise noch ein paar Millionen auf der ganzen Welt und davon … ah, das habe ich dir ja noch gar nicht erzählt.“ Sie hüpfte direkt vor mich und grinste mich breit an. Ihr Anblick war noch immer ungewohnt. Ihre wilde Lockenmähne war gebändigt worden. Ihr Haar ergoss sich nun glatt und glänzend bis über ihre Schultern. Am Ansatz war es noch immer schwarz, hellte sich dann aber auf, bis es an den Spitzen richtig weiß wurde. Sie wirkte damit ganz anders, beinahe wie eine Fremde. Ich war richtiggehend geschockt gewesen, als ich es das erste Mal gesehen hatte. „Heute habe ich sie kennengelernt.“

„Sie?“

Nikita verdrehte die Augen, hakte sich bei mir ein und führte mich an am Turm der Evas vorbei. Spaziergang Runde zwei. „Hörst du mir eigentlich nie zu? Das Eltern-Programm. Ich habe dir schon ein paar Mal davon erzählt. Heute war ein Paar im Kinderhaus, Cody und Jamina. Sie sind nett und würden mich gerne bei ihnen aufnehmen. Sie haben schon einen Sohn, er ist ein bisschen jünger als ich, aber er scheint okay zu sein. Mit ihrer Unterstützung könnte ich ein wertvolles Mitglied der Stadt werden – das sagt Dimitri. Es wäre sozusagen der erste Schritt in meine Zukunft.“

Oh Gaia, war das ihr Ernst? Sie redete darüber, als würde sie für die Zukunft planen. Die Angst um sie, verstärkte sich und ich kam nicht umhin, ihr eine Frage zu stellen, vor dessen Antwort ich mich so fürchtete, wie schon lange vor nichts mehr. Trotzdem formte Mein Mund die Worte. „Möchtest du bleiben?“ Ich sprach leise, aber Nikita verstand mich sehr wohl. „Willst du dir hier ein Leben aufbauen?“ Sag nein. Oh bitte sag nein.

Nikita antwortete nicht sofort. Dann erklärte sie ausweichend: „Solange du bei mir bist, bin ich glücklich. Wir sind schließlich eine Familie und wir müssen zusammenhalten.“

Sie hatte gezögert. Sie hatte verdammt noch mal gezögert! Ich würde Nikita an Eden verlieren. Mit einem Mal schlug die ganze Last der letzten Zeit über mir zusammen. Hatte ich geglaubt, am Nachmittag ein Panikanfall gehabt zu haben, so war das kein Vergleich zu der Furcht, die mich nun überfiel. Ich schaffte es kaum einen Fuß vor den andren zu setzten, während Nikita munter weiter schnatterte und von meinem Gemütszustand nicht das Geringste bemerkte. Vielleicht wollte sie es aber auch nicht sehen. Vielleicht war Eden schon so tief in sie eingedrungen, dass sie es nicht mehr sehen konnte.

Dieser Ort veränderte sie. Sie musste hier weg. Wir mussten hier weg.

Auf der verzweifelten Suchen nach einem Fluchtweg, ließ ich meinen Blick hin und her schweifen. Ich wusste, dass es aussichtslos war. Da war nicht nur Carrie, die uns die ganze Zeit in respektablen Abstand folgte, diese Mauern waren auch unüberwindbar. Es gab kein Entkommen. Solange sie uns nicht freiwillig gehen ließen, blieben wir Gefangene.

Nikita erklärte mir gerade irgendwas über die Infrastruktur aus der Zeit vor der Wende und dem Zusammenbruch der sozialen Ordnung, als ich den weißen Lieferwagen bemerkte, der ein paar Mal die Woche, die Wäsche aus dem Turm der Evas abholte. Mit offener Ladeluke stand er direkt vor dem Gebäude. Metallene Behälter mit Rollen, drängten sich darin dicht an dicht. Behälter voller Wäsche.

„Schau mal“, unterbrach ich Nikitas Redefluss.

Sie stutzte, schaute den Lieferwagen an und runzelte die Stirn. „Meinst du den Wäschetransporter?“

„Ja.“ Ich warf einen schnellen Blick in die Runde, denn plötzlich hatte ich eine total verrückte Idee. In Ordnung, es war weniger eine Idee, sondern vielmehr eine verzweifelte Kurzschlussreaktion, ausgelöst durch meine wachsende Panik. „Weißt du wohin der fährt?“

„Nicht genau.“ Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich. „Aber das müsste die Handelsebene sein.“

Handelsebene. Läden und Geschäfte aller Art. Ebene drei. Zwei Tore von der Freiheit entfernt. Das hieß, vorausgesetzt, dass wir unentdeckt blieben.

„Was hast du vor?“

Aus dem Augenwinkel warf ich einen Blick zu Carrie. Sie lief zwar hinter uns her, hatte den Blick aber auf ihren Screen gerichtet.

Meine Schritte wurden langsamer, mein Herz begann ein wenig schneller zu schlagen. Mit einem hastigen Blick in die Runde versicherte ich mich, dass niemand auf uns achtete. Da waren ein paar Frauen vor uns, die schnatternd in die Grünanlage spazierten. Eine andere Frau lief in die entgegengesetzte Richtung und verschwand dann in einer Seitentür des Turms.

Das Führerhäuschen des Lieferwagens war leer, die offene Ladeluke unbewacht. Zwei Männer schoben zwei Wäschecontainer aus dem Gebäude, direkt in den Wagen hinein, bevor sie sich umdrehten und wieder im Turm verschwanden.

„Kiss?“

„Pssst.“ Wir waren fast auf gleicher Höhe mit dem Lieferwagen.

Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Carrie. Sie hob kurz den Kopf, versicherte sich damit, dass Nikita und ich noch da waren und ich meine kleine Schwester nicht gerade umbrachte und widmete sich dann wieder ihrem Screen.

Jetzt oder nie.

Ich schnappte mir Nikitas Hand und drängte sie zur Seite, um näher an den Lieferwagen heranzukommen.

„Was machst du?“

„Wir verschwinden hier jetzt.“ Wir würden all das hinter uns lassen und nie wieder zurückblicken. Das war unsere Chance.

„Was?“

„Sei leise.“ Sobald wir am vorderen Ende waren, machte ich einen Satz zur Seite und riss Nikita mit mir. Ich zerrte sie auf die andere Seite und drückte mich mit dem Rücken gegen den Lieferwagen. Dann wartete ich einen Moment, ob Carrie hinterher geeilt kam und mich zur Rede stellte.

Das tat sie nicht. Sie lief einfach am Lieferwagen vorbei, als wenn wir noch immer vor ihr wären.

„Kiss …“

„Sei still.“ Ich duckte mich und zog Nikita hinter mir her. Die Männer waren noch nicht zurückgekommen und niemand achtete auf den Wagen. Damit war die Zeit des Zögerns vorbei.

Ich schob Nikita auf die offene Ladeluke zu.

„Aber …“

„Mach schon.“ Noch ein hastiger Blick über die Schulter. „Klettere in einen Korb und versteck dich zwischen der Wäsche.“

Nikita zögerte.

„Sofort!“

Diesen Ton kannte sie. Ich wandte ihn nicht oft an, denn er bedeutete, dass ich keine Wiederworte dulden würde und so fügte Nikita sich mit zusammengepressten Lippen. Sie kletterte hastig auf die Ladefläche, blickte sich einmal um und stieg dann ganz hinten in einen der Wäschecontainer, während auch ich mich beeilte in das Fahrzeug zu kommen. Bevor ich mir allerdings selber einen Wäschekorb suchte, überprüfte ich noch eilig, dass Nikita auch wirklich nicht zu sehen war. Dann kletterte ich den Container daneben. Ein Korb voller muffiger Laken.

Während ich noch dabei war mich zwischen der Dreckwäsche einzugraben, kam einer der Männer wieder heraus – dieses Mal ohne Korb.

Was mein Herz für einen Moment stillstehen ließ, war nicht die Tatsache, dass er wieder da war, sondern dass sein Blick direkt in das Innerste des Wagens gerichtet war.

Ich ging schnell in Deckung. Verdammt, hatte er mich noch gesehen? Das durfte jetzt doch einfach nicht wahr sein, nicht so kurz vor dem Ziel.

Meines Instinkts zum Trotz, vermied ich es, mich nachträglich noch zuzudecken und dadurch besser zu verbergen. Einfach still verharren und abwarten, war im Augenblick, die beste Option.

Mein Herz hämmerte so heftig gegen meine Rippen, dass sie beinahe vibrierte. Ich hielt den Atem an, bis mir fast schwarz vor Augen wurde, einfach weil ich es nicht wagte, auch nur das kleinste Geräusch von mir zu geben.

Der Mann trat an die Heckklappe. Er schaute nicht mal ins Innere, als er sie zuknallte und dann von außen verriegelte.

Noch immer wagte ich es nicht mich zu bewegen. Eine Minute verging, noch eine. Draußen hörte ich Stimmen. Zwei Männer unterhielten sich. Irgendwo rief Carrie meinen Namen. Schritte. Noch eine Stimme, wieder männlich. Carrie rief nun nach meiner Schwester, sie war näher als vorher.

„Kiss?“

„Pssst!“ Ich schaute kurz zu Nikita rüber. Sie schaute zurück. „Bleib in Deckung“, flüsterte ich eindringlich und lauschte weiter auf die Geräusche außerhalb. Eine leise Diskussion zwischen den Männern, kurze Verabschiedung. Carries Rufe. Die Fahrertür wurde geöffnet. Als sie wieder zuschlug, machte mein Herz vor Freude einen Hüpfer. Sie hatten uns nicht bemerkt. Als dann auch noch der Motor gestartet wurde, hätte ich vor Freude fast gejubelt. Es funktionierte, es funktionierte wirklich! Nikita und ich würden hier rauskommen – heute noch – und dann würden wir alles hinter uns lassen können. Endlich.

Der Wagen setzte sich in Bewegung. Mein Herz schlug wie verrückt. Ich musste mich zwingen ruhig zu bleiben, doch die Gefühle, die ich in diesem Moment empfand, überwältigten mich beinahe. Angst, Aufregung, Hoffnung, bangen. Es war alles auf einmal.

Jetzt krieg dich mal wieder ein, noch sitzt du zwischen dreckigen Laken.

Aber das würde sich bald ändern.

Der Wagen ging in eine Kurve, hielt dann einen Moment, fuhr wieder langsam an und gewann dann zügig an Geschwindigkeit, nur um kurz darauf wieder zu halten. So ging es ein Weilchen weiter. Dann hielt der Wagen wieder und es waren neue Stimmen zu hören. Die Kontrolle am Tor.

Mein ganzer Körper spannte sich an, aber egal was sie da taten, keiner schaute sich die Ladefläche an. Trotzdem ging ich in Deckung. Dann waren wir durchs Tor durch und fuhren durch die Straßen von Ebene eins. Wir fuhren Kurven und Geraden, wurden mal langsamer und mal schneller. Ich bemerkte jede Veränderung im Fahrverhalten.

Die Wäschekörbe wackelten und schepperten immer wieder. Nikitas Augen waren riesig, aber auch aufmerksam. Sie wusste, dass die Zeit gekommen war und ich uns hier rausbringen würde.

Dann kam das nächste Tor. Die Leute hier, nahmen ihre Arbeit ein wenig genauer und öffneten zur Kontrolle die Ladeluke. Nikita und ich waren jedoch zu tief in den Wäschehaufen vergraben, als dass sie uns durch einen kurzen Blick hinein hätten entdecken können. Nach einer kurzen, oberflächlichen Überprüfung, wurde der Wagen wieder geschlossen und wir fuhren weiter. Ebene zwei.

Langsam glaubte ich wirklich, wir würden es schaffen.

Wieder bewegte der Lieferwagen sich, ging in Kurven und stoppte kurz, nur um gleich darauf weiter zu fahren. Dann kam die nächste Kontrolle. Der Wagen hielt und ich hörte den Mann vorne im Führerhäuschen lachen, aber niemand kam, um die Ladung zu kontrollieren. Und dann fuhren wir weiter, ließen Tor drei Hinter uns und waren damit auf der dritten Ebene.

Wenn es stimmte was wir glaubten, würde hier erstmal Endstation sein. Aber davon ließ ich mich nicht unterkriegen. Nach der ganzen Zeit hatte ich endlich einen Weg gefunden, aus dem Herz Edens zu entkommen. Wenn es ein musste, würde ich mich auf die Suche nach weiteren Fahrzeugen machen, in denen ich mich verstecken konnte. Irgendwann würde schon einer aus der Stadt hinausfahren und dann wären wir endlich wieder frei.

Doch zuerst mussten wir uns noch mit diesem Wagen befassen. Wir waren zwar unbemerkt hineingelangt, aber jetzt mussten wir genauso unbemerkt auch wieder herauskommen. „Nikita?“

„Ja?“

„Du bleibst da drinnen, bis ich dir etwas anderes sage, verstanden?“

„Ja, aber …“

„Kein Aber, tu was ich sage.“ Und nicht was ich tue. Deswegen kletterte ich aus dem Wäschekorb und versteckte mich dahinter. Wenn nun jemand die Klappe öffnete, könnte ich die Situation von dort aus besser beurteilen.

Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis der Wagen langsamer wurde. Er ging in eine Kurve, die mich fast umwarf. Ich spürte wie der Untergrund sich änderte, aus Beton wurde Kies. Der Wagen wurde noch langsamer. Ein kleiner Schlenker. Dann hielt der Wagen und der Motor erstarb. Dennoch war von draußen ein lautes Dröhnen wie von großen Maschinen zu hören.

Ich hielt die Luft an, horchte. Eine Autotür wurde geöffnet und wieder zugeschlagen. Schritte, unverständliches Stimmengemurmel und eine recht laute Hintergrundkulisse.

Die Minuten verstrichen. Immer mal wieder hörte ich Stimmen und Schritte, aber niemand, der sich um den Wagen kümmerte. Nach einigen Minuten, die mir endlos erschien, wollte ich schon aus meinem Versteck huschen und nachschauen, was da los war. In dem Moment drang ein lautes Männerlachen an meine Ohren. Zeitgleich wurde die Ladeluke geöffnet und trieb mich so wieder zurück in die Deckung.

In Ordnung, ruhig bleiben. Was sagte Marshall immer? In der Ruhe lag die Kraft und nur Geduld brachte einen ans Ziel. Oh Marshall, bald würde ich ihn wiedersehen. Aber auch nur, wenn ich seinen Ratschlag besser beherzigte, als beim letzten Mal. Deswegen blieb ich hinter dem Container verborgen, auch wenn ich nichts lieber getan hätte, als vorzustürmen und diese Männer niederzuschlagen. Es war besser auszuharren und auf eine Gelegenheit zu warten.

Mehrere Stimmen und Schritte. Der Mann lachte wieder. Da hatte wohl jemand Spaß bei seiner Arbeit. Klappern, das Quietschen von Rädern.

Leise, um auch niemanden auf mich aufmerksam zu machen, legte ich mich flach hin und spähte auf Bodenhöhe um die Wäschekarre herum. Vier Männer. Sie begannen damit die vorderen Wäschecontainer aus dem Lieferwagen zu laden. Immer einer nach dem anderen. Dann verschwanden sie mit ihrer Beute nacheinander in dem großen Gebäude, vor dem der Wagen gehalten hatte. Das ferne Dröhnen der Maschinen schien aus dem Inneren zu kommen.

Jetzt wäre die Gelegenheit gewesen abzuhauen, aber da ich nicht wusste, wie lange sie wegblieben, hielt ich mich weiterhin ruhig. Es waren noch genug Wäschekörbe da, die sie wegschaffen mussten, bevor sie mein Versteck mitnehmen konnten, oder sich an Nikitas Korb vergriffen. Wenn ich abwartete, bis sie wieder herauskamen, konnte ich besser abschätzen, wie viel Zeit uns blieb, wenn sie mit der zweiten Fuhre verschwanden. Und so übte ich mich in Geduld, auch wenn jede Faser meines Körpers schrie, dass ich endlich in Bewegung kommen sollte, bevor meine Chance vertan war.

Sekunden verstrichen, dehnten sich zu endlosen Minuten, die beständig an meinen Nerven zerrten. Dann, als ich schon glaubte, die Männer würden nie wieder rauskommen, schwang die Tür auf und entließ die schwatzende und lachende Gruppe ins Freie.

Wie schon vorher, schnappten sie sich einer nach dem anderen einen Wäschecontainer und brachten sie ins Innere des Gebäudes. Die Tür war hinter den Männern kaum ins Schloss gefallen, als ich schon auf den Beinen war und zu Nikita eilte. „Los, raus da, wir haben nicht viel Zeit.“ Ich half ihr hinauszuklettern, ignorierte dabei die Wäschestücke, die bei der Aktion auf dem Boden landeten und eilte mit Nikita an der Hand zur Ladeluke.

Mit einem schnellen Blick sondierte ich die Umgebung. Keine Menschen, ein großer Parkplatz. Und bis auf ein paar vereinzelte Fahrzeuge auch keine Deckung. Die nächsten Häuser standen erst in einiger Entfernung. Dorthin mussten wir es schaffen. Wenn wir erstmal in Deckung waren, konnte ich mir überlegen, wie unser nächster Schritt aussah.

„Komm“, raunte ich meiner Schwester zu und sprang aus dem Wagen. Nikita folgte zögerlich. Ich versicherte mich nicht noch mal, ob wir noch unentdeckt waren, schnappte mir wieder ihre Hand und rannte mir ihr zusammen in den Schutz eines nicht weit entfernten Autos. Dort duckte ich mich und wartete wieder.

Wahrscheinlich hatten wir noch genug Zeit, um uns weiter von dem Lieferwagen zu entfernen, aber ich wollte auf Nummer sicher gehen. Dieses Mal musste es einfach gelingen. So eine Pleite, wie bei meinem Versuch, Nikita bei Nacht aus den Klauen der Tracker zu befreien, konnte ich mir kein zweites Mal leisten – nicht mit den Konsequenzen im Nacken.

Es dauerte seine Zeit, bis die Männer erneut rauskamen und damit begannen, die nächste Fuhre aus dem Auto zu holen. Ihre fröhlichen Stimmen wehten dabei zu uns hinüber und kratzen mit ihren Klauen an meinen Nerven.

Dieses Mal brauchten sie länger. Und dann ging die Tür zu dem Gebäude auch noch auf und ein weiterer Mann kam heraus. Es sah anders aus als die anderen, geschniegelt vom Scheitel bis zur Sohle, in einem knitterfreien Anzug und einer überaus wichtigen Miene.

Er nickte den vier Männern am Lieferwagen zu und steuerte dann den Wagen an, hinter dem Nikita und ich Deckung gesucht hatten.

„Mist“, murmelte ich und wich zurück.

„Was ist los?“

„Wir müssen weg.“ Und zwar dringend. Diese Komplikation konnte ich nämlich nicht gebrauchen. Ein schneller Rundblick jedoch ergab, dass es in der näheren Umgebung nichts gab, was uns Deckung bieten würde, nicht wenn wir nicht plötzlich auf Armeisengröße schrumpften.

Nikita spähte an mir vorbei und ging dann schnell wieder in Deckung. „Und was machen wir jetzt?“

Das war eine ausgezeichnete Frage, auf die ich so schnell keine Antwort fand.

Der Mann kam näher.

Ich schob Nikita geduckt zum Heck des Wagens und lauschte auf die Schritte. Eine Tür wurde entriegelt. Das Fahrzeug wackelte leicht, als der Mann einstieg und damit begann seine Sachen zu verstauen.

Die Männer am Lieferwagen hatten es endlich geschafft die nächste Fuhre auszuladen und schoben sie auf das Gebäude zu.

Ein verzweifelter Gedanke nahm in meinem Kopf Gestalt an. Entweder es klappte, oder wir waren geliefert. „Zum Lieferwagen“, ordnete ich an und hoffte das der Mann im Auto nicht genau in dem Moment hinten aus dem Rückfenster schaute.

„Aber …“

„Los jetzt!“ Als ich aufsprang und geduckt über den Parkplatz hechtete, zerrte ich sie einfach hinter mir her. Der Weg war nicht weit, vielleicht dreißig Fuß, aber es war eine völlig offene Fläche. Mein Herz hämmerte mir gegen das Brustbein. Dann drückte ich mich im Schutz des Fahrerhäuschens an den Lieferwagen und wartete darauf das jemand schrie: „Da ist sie, schnappt sie euch!“

Das passierte nicht, genaugenommen geschah gar nichts Weltbewegendes.

Der Mann, in dem kleinen Wagen, brauchte noch ein paar Minuten, bis er es auf die Reihe bekam, samt seines Autos vom Parkplatz zu verschwinden. In der Zwischenzeit kam die kleine Arbeitertruppe erneut heraus, um eine weitere Ladung schmutziger Wäsche in das Gebäude zu verfrachten. Alles Zeit die mich unnötig Nerven kostete. Wenn das hier vorbei war, würde ich vermutlich ganz weiße Haare haben.

Und dann war die Luft endlich rein.

Ich fackelte nicht lange. Mit Nikita an der Hand rannte ich los, immer Richtung Häuser und ließ den Parkplatz sehr schnell hinter mir.

Das Dröhnen der Maschinen wurde leiser, bis es ganz verschwand.

Kurz bevor wir das erste Haus erreichten, ging mir auf, dass es ziemlich auffällig war, wenn wir hier rumrannten und zwang mich langsamer, ja fast gemächlich zu gehen. Zwei rennende Frauen würden die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Zwei Spaziergänger dagegen würde man kaum eines zweiten Blickes würdigen – dass zumindest hoffte ich.

Ich zog Nikita in eine kleine Seitenstraße, versuchte die wenigen Menschen die unterwegs waren zu ignorieren und verschwand mit meiner kleinen Schwester in die erstbeste Gasse, die sich mir eröffnete. Dann erst erlaubte ich es mir einen Moment durchzuatmen.

Geschafft. Die erste Hürde war überwunden. Ebene drei. Noch zwei Tore die mich von der Freiheit trennten. Nicht unbedingt gut, aber weitaus besser als fünf. Zwei Mauern zu überwinden war einfacher, wobei das sicherlich auch kein Klacks werden würde. Nur gut, dass der sechste Ring noch nicht fertiggestellt war. Das würde also nicht wirklich ein Hindernis werden.

Nikita nestelte nervös an der Uhr, an ihrem Handgelenk herum. „Und jetzt?“

„Gib mir einen Moment.“ Ich drückte mich an der Wand entlang und spähte vorsichtig hinaus auf die Straße.

Der Abend war freundlich und warm, doch das schien die Leute nicht nach draußen locken zu können. Es liefen nur wenige herum. Ein älterer Mann, den Blick auf das kleine Gerät in seiner Hand gerichtet hatte. Zwei junge Frauen, die eilig in einem Geschäft auf der anderen Straßenseite verschwanden. Ein paar Yards, die gewissenhaft durch die Straßen patrouillierten. Nichts davon war besonders auffällig, oder bedeutete eine allzu große Gefahr. Trotzdem schaffte ich es einfach nicht, meinen Herzschlag zu beruhigen.

Irgendwann schien Nikita es nicht mehr auszuhalten, still auf meinen Geistesblitz zu warten. „Wir werden nie durch die Tore kommen.“

Da hatte sie vermutlich recht. Ich schaute hoch, über die Dächer der Häuser hinweg und entdeckte den Turm der Evas in einiger Entfernung. In die andere Richtung lag die Mauer die es als nächstes zu überwinden galt. „Komm“, befahl ich und reichte ihr die Hand.

„Wohin?“

„Erstmal zur Mauer.“ Da sie mir ihre Hand nicht reichte, griff ich einfach danach und zog sie hinter mir her.

„Und dann?“

„Das werden wir sehen, wenn wir da sind.“

Ihre Augen spiegelten ihre Unsicherheit und ihr unsteter Blick verriet mir, wie nervös diese Situation sie machte.

„Hab keine Angst, ich werde uns hier rausbringen. Versprochen.“ Meine Stimme und meine Worte sollten beruhigend klingen, doch Nikita brauchte einen langen Moment, bis sie zustimmend nickte und mir hinaus aus der Gasse folgte.

Dieses Zögern versetzte mir einen Stich. Hatte ich sie mit meiner vermasselten Rettungsaktion damals so sehr enttäuscht, dass sie nun kein Vertrauen mehr in meine Fähigkeiten hatte?

Ich verbot mir näher darüber nachzudenken, als ich versuchte, unauffällig mit ihr durch die Straßen zu schlendern und nicht so zu wirken, als wäre ich auf der Flucht vor der größten Instanz dieser Stadt. Obwohl es weniger ein Schlendern war, als vielmehr ein Krampf, weil ich mich die ganze Zeit zwingen musste, nicht zu schnell zu laufen – besonders wenn uns jemand entgegenkam. Aber ich würde sie nicht noch einmal enttäuschen. Sie nicht, mich nicht und auch Marshall nicht. Ich würde uns hier rausbringen, heute noch.

Auf den Straßen sah ich immer wieder Menschen und auch wenn viele davon gehetzt zwischen den Häusern umher eilten, schien keiner von ihnen wirklich unglücklich mit seinem Los als geistloser Sklave. Das konnte ich nicht verstehen. Wahrscheinlich lag das einfach nur daran, dass sie es nicht anders kannten.

Nikita schaute sich ständig nervös über die Schulter. Ich musste sie in paar Mal ermahnen, damit sie damit aufhörte. Wir mussten jegliches Verhalten, das auf uns aufmerksam machen konnte, vermeiden. Das war es nicht besonders praktisch auszusehen, als wäre man gerade auf der Flucht vor seinem Schicksal.

Auch wenn es eine gefühlte Ewigkeit dauerte, so erreichten wir den vierten Mauerring, ohne weitere Zwischenfälle. Ihn trotz nicht-vorhandener Ortskenntnisse und den hohen Gebäuden zu finden, war nicht weiter schwer. Ich musste mich nur immer wieder versichern, dass der Turm der Evas in meinem Rücken aufragte, dann konnte ich mir sicher sein mich in die richtige Richtung zu bewegen. Und dann standen wir davor.

Naja, genaugenommen hielten wir uns noch zwischen den Häusern am Ring verborgen und spähten nach links und rechts. Hier war keine Menschenseele zu sehen, doch links entlang konnte ich das Tor entdecken. Das Tor zu Ebene vier. Landwirtschaft, Weiden und Farmen. Ich erinnerte mich gut daran, wie der Wagen mich durch diese Zone gebracht hatte. Und auch an das Aufnahmeinstitut.

„Wir sollten uns nach rechts wenden“, erklärte ich. „Weg vom Tor.“ Es war schwer bewacht. Viele Yards. Auf diesem Wege würden wir auf keinen Fall hinauskommen.

Nikita schien nicht überzeugt. „Aber über die Mauer kommen wir niemals hinüber.“

Auch ich ließ meinen Blick daran hinauf gleiten. Aus dieser Perspektive wirkte sie wirklich verdammt hoch. Hinaufklettern war keine Option. Es gab keine Vorsprünge, an denen man sich festhalten konnte, keine grob gehauenen Steine, die leicht hervorstanden. Einfach nur spiegelglatter Beton.

Ich konnte ziemlich hoch springen, besonders wenn ich Anlauf hatte und sehr motiviert war. An Motivation fehlte es mir definitiv nicht, aber diese Höhe war einfach nicht machbar. Das würde nicht mal Marshall schaffen und der war besser als ich. „Lass uns nach rechts gehen. Vielleicht ergibt sich etwas.“

„Und wenn nicht?“ Nikita schaute sich unbehaglich über die Schulter und begann auf ihrer Unterlippe herumzukauen.

„Dann werde ich einen anderen Weg finden.“ Notfalls würde ich mir einen Weg unter der Mauer durchgraben, denn ich war fest entschlossen, diese Stadt noch heute zu verlassen und würde mich von nichts und niemand davon abhalten lassen. „Komm.“

Dicht an den Hauswänden entlang, eilten wir nach rechts. Aus einem offenen Fenster konnte ich laute Musik hören, die mich an ein sterbendes Tier erinnerte. Ein Stück weiter stritt ein Pärchen lautstark und noch etwas weiter entdeckte ich einen jungen Mann, der gedankenverloren durch sein Fenster auf die Mauer starrte.

Die Gebäude waren voller Leben. Ich konnte sie hören. Ihre Energie pulsierte geradezu in der Luft. Aber sie folgten alle einem unnatürlichen Pfad und waren zu blind es zu erkennen. Sie lebten in der Lüge dieser Gesellschaft und fühlten sich auch noch gut darin.

Immer wieder schaute ich mich um und auch wenn ich das Treiben der Stadt hörte und die Menschen in der Umgebung wahrnehmen konnte, die Straße an der Mauer, blieb bis auf Nikita und mich verwaist.

Nach kurzer Zeit veränderte sich die Luft. Es kam eine Brise auf, die mich stark an den Stall von meinem Trotzkopf erinnerte. Hinter der Mauer waren Tiere. Natürlich konnte ich sie nicht sehen, aber der Geruch war unverkennbar.

Eine unbändige Sehnsucht brachte mein Herz zum Klopfen. Das roch nach Heimat. Bald, versprach ich mir, bald war das alles vorbei.

Ich war so in meinen eigenen Gedanken gefangen, dass ich die Sirenen zuerst gar nicht wahrnahm. Doch sie kamen beständig näher und das ließ meine eigenen Alarmanlagen schrillen. Ich blieb abrupt stehen, wirbelte herum und lauschte. Hatten sie bemerkt, dass wir uns davon gemacht hatten? So schnell? Aber warum waren die Sirenen dann auf dieser Ebene? Jeder wusste, dass sie Mauern unüberwindbar waren. Bevor sie nur auf die Idee kommen konnten hier nach uns zu suchen, müssten sie logisch gesehen erstmal stunden damit beschäftigt sein, Edens Herz auf der Suche nach uns zu durchkämmen.

Auch Nikita lauschte. Sie wirkte auf einmal ruhiger, ja fast gelassen. Vielleicht hatte sie ihr Vertrauen in meine Fähigkeiten doch nicht aufgegeben.

„Wir müssen hier weg.“ Hektisch begann ich nach einer Möglichkeit zu suchen, über diese verdammte Mauer zu kommen, aber natürlich eröffnete sie sich nicht plötzlich vor mir, nur weil das Geräusch mich in leichte Panik versetzte.

„Aber wie?“ Nikita schaute mich nicht an, ihr Blick war immer noch in die Ferne gerichtet, voll konzentriert auf das näherkommen Geräusch.

„Ich weiß noch nicht.“ Eilig zerrte ich sie weiter, immer weg von dem Geräusch. Dabei flitzte mein Blick wild hin und her. Und dann eröffnete sich mir wirklich eine Möglichkeit. Ich war so überrascht, dass meine Beine einfach den Dienst einstellten und Nikita voll in mich hineinlief.

„Das ist es“, flüsterte ich.

Nikitas Kopf wirbelte so schnell zu mir herum, dass ich ihre Wirbel knacken hörte. „W-was?“

„Damit können wir es schaffen.“

Nikita folgte meinem Blick zur Mauer, an die sich ein hohes Baugerüst wie eine Katze schmiegte. Es war geradezu unglaublich, wie sehr dieses Gerüst sich als Fluchtweg anbot. Das war fast, als hätten sie uns eine Leiter vor die Wand gestellt, wir mussten sie nur noch erklimmen.

Ich wechselte einen Blick mit Nikita und dann rannten wir gemeinsam über die Straße. Als wir das Gerüst erreichten, schob ich Nikita direkt davor. „Los, hoch mit dir“, wies ich sie an.

Unsicher schaute sie an dem Gerüst hinauf. Es war wirklich verdammt hoch. Und im unteren Teil gab es keine Leitern, wir mussten also außen hinaufklettern.

„Nun mach schon“, drängte ich.

Sie zögerte einen Moment, legte dann ihre Hände auf die Stahlverstrebungen und begann zu klettern.

Die Sirenen waren jetzt verdammt nahe. Meine letzten Zweifel waren damit dann auch vom Tisch, nun war ich mir sicher, sie galten uns. Unser einziger Vorteil war jetzt noch, dass sie keine Ahnung hatten, wo genau wir uns befanden und blind durch die Straßen kurven mussten. Leider würden sie sich jedoch denken können, dass wir uns in der Nähe der Mauer aufhielten, also durfte ich keine Zeit verlieren.

Mit einem letzten Blick versicherte ich mich, dass Nikita keine Probleme hatte, dann begann auch ich das Gerüst zu erklimmen. Sobald ich das Metall unter meinen Händen spürte, erinnerten meine Muskeln sich daran, wie man kletterte. In den Ruinen gab es viele unzugängliche Gebiete. Körperliche Anstrengungen gehörten schon, seit ich noch ein kleines Mädchen gewesen war, zu meinem täglichen Brot. Daher bereitete es mir überhaupt keine Probleme, zügig an dem Gerüst hinaufzukommen. Es war wohl das erste Mal seit dem Betreten dieser Stadt, dass ich mich ein kleinen wenig wie Zuhause fühlte.

Was für eine Ironie.

Wind zerrte an meiner Haut. Die Sirenen wurden lauter. Ich bekam ich die oberen Querverstrebungen zu fassen und hievte mich über sie rüber, um nicht mehr außen am Gerüst hängen zu müssen.

Nikita hockte bereits neben mir. „Und jetzt?“

„Weiter hoch, wir müssen bis ganz nach oben.“ Ich eilte voraus zu einer Leiter, die eine Ebene höher führte, überprüfte, ob sie mein Gewicht auch halten würde und kletterte dann hinauf. Ich hatte wirklich kein Interesse daran, jetzt noch in die Tiefe zu stürzen.

„Das sieht man auch nicht alle Tage.“

Die Stimme ließ mich nicht nur erstarren, sie verursachte mir beinahe einen Herzinfarkt. Panisch schnellte mein Kopf herum.

Im Haus auf der anderen Straßenseite, hatte sich ein Fenster geöffnet und in diesem Fenster stand ein älterer Mann. Die Arme auf das Brett gelehnt, musterte er uns beide neugierig. „Das ist ein bisschen gefährlich Kindchen, meinst du nicht auch?“

„Ähm …“ Ich wechselte mit Nikita einen schnellen Blick. Er sah nicht aus, als wollte er uns Probleme bereiten, eher, als hätte er gähnende Langeweile und unser Auftauchen konnte ihn ein wenig aus unserem Alltagstrott ziehen.

„Wir kommen klar“, erklärte ich ihm und schob Nikita auf die nächste Leiter zu.

„Aber pass auf, dass du nicht runterfällst“, erklärte mir der Mann. „Das ist tief.“

Oh Gaia, die Leute in dieser Stadt waren wirklich verrückt.

Das Geheul der Sirenen war in der Zwischenzeit beängstigend nahe. Sie konnten nicht mehr weit entfernt sein. Und dann hörte ich das Quietschen der Reifen. Ein Blick in die Tiefe zeigte mir nur zu deutlich, wie nahe die Sirenen waren. Und auch, dass meine Befürchtung stimmte und sie uns galten.

„Was für ein Lärm“, kommentierte der alte Mann. „Dabei ist das hier sonst so eine ruhige Gegend.“

Als plötzlich ein halbes Dutzend Wagen in der Gasse zwischen Mauer und Haus auftauchten und praktisch direkt unter uns hielten, schlug mein Herz schneller. Nicht nur vor Panik, sondern auch vor Entschlossenheit. Sie würden uns kein zweites Mal bekommen. „Nikita, beeil dich.“

Sie schaute mich an, als würde ich eine andere Sprache sprechen.

„Sofort!“

Nur zögernd kam sie der Aufforderung nach. Der Wind hier zerrte an unserer Kleidung.

Der alte Mann reckte den Hals, um besser sehen zu können. „Schaut euch nur das Aufgebot an. Was habt ihr angestellt?“

„Gar nichts“, knurrte ich und schob Nikita auf die letzte Leiter zu. Nur noch diese eine und wir wären ganz oben.

„Da sind sie!“, rief jemand von unten.

Auch wenn mein Herz schneller schlug, ließ ich mich nicht ablenken. Ich schob Nikita die nächste Leiter hinauf und sobald ihre Beine durch die Luke verschwunden waren, tat ich es ihr gleich.

„Wir haben Sichtkontakt“, erklärte ein Mann laut genug, dass ich es selbst hier oben verstehen konnte. „Sie sind auf dem Baugerüst.“

„Verstanden.“

Sobald ich ganz oben neben Nikita auf dem Gerüst hockte, warf ich einen Blick nach unten, von wo aus ich von sehr vielen Augen beobachtet wurde. Sie alle trugen die Uniformen der Yards und einige von ihnen begannen damit, das Gerüst hinauf zu klettern.

Mist. Wir durften keine Zeit mehr verlieren.

Ich richtete mich auf. Das obere Ende der Mauer war nun direkt neben uns, ein großer Schritt und ich wäre oben drauf. „Nikita, los.“

Sie warf noch einen Blick in die Tiefe und kletterte dann mit meiner Hilfe auf die Mauer. Ich folgte ihr auf den breiten Absatz. Er war gut sieben Fuß breit, genug Platz, um sich zu bewegen.

„Und nun?“, wollte Nikita wissen.

Das war eine ausgezeichnete Frage. Hinter uns erklommen die Yards das Baugerüst, vor uns fiel die Mauer steil in die Tiefe ab. Der Boden war aus Stein. Ein Sprung dort hinunter, würden wir nur schwer verletzt überleben.

Aber dort stand auch ein Haus, ein Farmhaus, wenn ich es richtig erkannte. Das Dach lag nur einen Meter unter uns, allerdings trennte uns eine Lücke von mindestens sechs Fuß. Um dorthin zu kommen, würden wir springen müssen.

„Kiss, was machen wir jetzt?“

Bevor ich ihr antworten konnte, klappte oben in der Mauer eine Luke auf und ein Dutzend Yards kletterte heraus.

Ich wich ein Stück zurück, dann bemerkte ich die Waffen in ihren Händen und erstarrte.

„Wir werden ihnen nichts tun“, sagte der vorderste Yard und hob die Hände, als wollte er damit beweisen, wie ungefährlich er war. „Wir wollen nur reden.“

Aber sicher doch. Die mussten mich für sehr dumm halten.

Nikita griff nach meinem Ärmel.

„Lassen sie uns einfach von diese Mauer herunter gehen und dann klären wir alles in Ruhe.“

Hinter ihm verteilten sich die anderen Yards. Vom Baugerüst kamen Geräusche. Auch von dort näherte sich der Feind. Und blieb keine Zeit mehr. „Wir müssen springen.“

Nikita starrte in die Tiefe. Ihre Augen weiteten sich. „Bist du wahnsinnig?“

„Auf das Dach.“ Ich warf einen Blick zu den Yards, die sich vorsichtig näherten und trat an den Rand der Mauer.

Die Yards erstarrten. „Treten sie von der Kante zurück, das ist gefährlich.“

Ich nahm Nikita bei der Hand. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. „Mach dich bereit.“

„Bitte, tun sie das nicht“, bat mich der Yard und kam noch näher.

Als wenn ich mich jetzt noch davon abhalten lassen würde. Obwohl das was ich vorhatte, wirklich keine gute Idee war. Aber diese Leute ließen mir keine Wahl. Sie forderten einfach zu viel.

„Kismet“, versuchte der vordere Yard es noch mal – woher wusste der Mistkerl nur meinen Namen? „Ihr Vorhaben ist Wahnsinn. Sie könnten sterben.“

„Nur wenn ich mich sehr dumm anstelle. Spring!“

„Nein!“, rief der Mann noch, doch da war es bereits zu spät. Mit Nikitas Hand fest in meinem Griff, stieß ich mich von der Kante ab und sprang.

Nikita stieß einen kleinen Schrei aus, das Dach des Hauses kam näher, dann fielen wir …

Und krachten auf etwas Hartes. Ein Stöhnen. Ich rutschte noch ein Stück, bevor ich Halt fand. Hinter mir hörte ich einen Schrei. Einen Rums. Dann waren nur noch die aufgeregten Stimmen von der Mauer zu hören.

Ich blinzelte und brauchte einen Moment um zu verstehen, was geschehen. Meine Hüfte und meine Schulter taten weh. Ich war darauf gestützt, aber es war nur ein leichter pochender Schmerz. Bei einem solchen Sturz hätte ich mich viel mehr verletzen können.

Ich drehte den Kopf und brauchte noch einen weiteren Augenblick, bis mir klar wurde, dass wir es geschafft hatten. Ich lag auf dem Dach des kleinen Farmhauses. Nikita ein Stück neben mir. Sie hielt sich den Kopf. Von unten hörte ich ein Stöhnen.

Vorsichtig kroch ich an die Dachkante uns spähte in die Tiefe. Unten lag der Yard, der mich hatte vom Springen abhalten wollen und versuchte gerade mühsam wieder auf die Beine zu kommen. Er musste uns hinterher gesprungen sein, doch im Gegensatz zu uns, war er vom Dach gekullert und auf dem harten Boden gelandet. „Geschieht dir recht.“

„Kismet, sie kommen“, warnte mich Nikita.

Ich wirbelte herum und entdeckte die Autos in der Ferne, die direkt auf uns zurasten.

Das Haus stand sehr einsam. Nur umgeben von Viehweiden und Feldern, war es nicht schwer, die Staubwolke zu erkennen, die sich da auf uns zubewegte.

„Weiter“, knurrte ich und rappelte mich mühselig auf die Beine. Das hatte doch mehr wehgetan, als ich dachte, doch das Adrenalin in meinen Adern blockierte im Moment den größten Schmerz. „Los, steh auf.“ Ich wartete nicht bis sie der Aufforderung nachkam, sondern zog sie selber auf die Beine. Dann zerrte ich sie über das Schrägdach. „Bist du verletzt?“

Oben auf der Mauer riefen ein paar Yards durcheinander. Sie beobachteten uns.

„Nur ein paar Schrammen. Und mein Bein tut weh. Ich bin draufgefallen.“

Ich drehte mich um, konnte zu meiner Erleichterung aber feststellen, dass sie nicht humpelte. „Wir müssen vom Dach runter.“ Und zwar ganz dringend.

Das war zum Glück nicht weiter schwer. Dieses Haus hatte zwei Etagen. Die obere war kleiner als die untere, deswegen konnten wir uns Stück für Stück runterhangeln. Erst auf das Vordach, dann auf die Veranda.

Mittlerweile stand ich auf dem Boden, während Nikita noch am letzten Dachvorsprung hing und sich bereit machte, sich das letzte Stück fallen zu lassen, als eine Frau – aufgescheucht von dem Lärm auf ihrem Dach – aus dem Haus kam. In ihrer rechten Hand hielt sie eine Kartoffel, in der linken ein Messer, als hätten wir sie gerade beim Kartoffelschälen unterbrochen.

Sie sah mich, sah Nikita an ihrem Dach hängen und wusste offensichtlich nicht was sie dazu sagen sollte.

„Ähm … hey“, sagte Nikita.

Die Frau starrte erst sie, dann mich an.

Mein Interesse jedoch lag auf dem Messer in ihrer Hand. Es war nicht wirklich groß und wirkte auch nicht sehr stabil, aber es war immer noch ein Messer. Kurzentschlossen machte ich einen schnellen Schritt nach vorne und riss es ihr aus der Hand.

Sie schrie auf, wich bis an die Hauswand zurück und drückte die Kartoffel an ihre Brust, als müsste sie um ihr Leben fürchten.

„Danke“, sagte ich und trat wieder zurück. Eine Waffe in der Hand zu halten, fühlte sich in diesem Moment unheimlich gut an. „Hinter ihrem Haus liegt ein Mann“, fügte ich noch hinzu, um sie abzulenken und nicht auf falsche Gedanken zu bringen, während Nikita sich endlich fallen ließ und mit einem dumpfen Aufschlag auf dem Boden ankam. „Er ist von deinem Dach gefallen. Vielleicht braucht er Hilfe.“ Hoffentlich brauchte er Hilfe. Das würde ihm nur gerecht geschehen.

Die Frau drehte sich herum, als könnte sie durch ihre Wände hinter das Haus sehen.

Ich nutzte die Gunst der Stunde, packte Nikita am Handgelenk und rannte zusammen mit ihr los – direkt hinein in das nächste Feld.

 

oOo

Kapitel 33

 

Die Blätter des Baumes raschelten, als ich mein Gewicht ein wenig verlagerte, um besseren halt zu finden. Schon als kleines Kind war ich auf jeden Baum geklettert, den ich hatte finden können. Als mein Vater noch lebte, hatte er mich oft von den Ästen pflücken müssen, weil ich nicht mehr wusste, wie ich runterkommen sollte. Das war sehr lange her. Damals, noch vor der Krankheit, die ihn aus seinem Leben gerissen hatte.

Aber ich war kein kleines Kind mehr. Heute wusste ich nicht nur, wie man auf einen Baum hinaufkam, sondern auch wieder hinunter. Und ich wusste, wie man ihn als erhöhten Aussichtspunkt nutzte. So war es auch nicht weiter schwer, die Wagenkolonne der Yards, trotz der anbrechenden Abenddämmerung, zu beobachten.

Wie nicht anders zu erwarten, fuhren sie am äußeren Mauerring entlang und verteilten sich dort, um eine weitere Barriere zu errichten, die mich und Nikita aufhalten sollte. Aber wenn sie glaubten, mich damit aufhalten zu können, dann wussten sie scheinbar nicht, mit wem sie es zu tun hatten.

Leider war dies nicht der erste Baum in den ich geklettert war, um unsere Lage sondieren zu können, es war der Dritte.

Nachdem Nikita und ich vom Dach runter waren, hatten wir uns direkt durch die Felder mit dem hohen Mais, Richtung Mauer durchgeschlagen. Natürlich war ich nicht so dumm gewesen, direkt aus der Deckung zu treten, denn kaum einen Moment später waren die Fahrzeuge vor uns aufgetaucht, um uns den Weg zu versperren. Das war zwar ärgerlich, aber trotz unserer Situation nicht weiter problematisch – jedenfalls nicht mehr als vorher. Ich hatte mir einfach Nikita geschnappt und war mit ihr quer durchs Feld geeilt, um mich weiter von unseren Verfolgern zu entfernen.

Das hatte uns eine halbe Stunde gekostet, und wenigstens die Hälfte meiner Nerven, denn die Yards hatten natürlich nicht friedlich an der Mauer darauf gewartete, dass wir aus unserer Deckung kamen, sondern damit begonnen das Feld zu durchsuchen, in dem sie uns vermuteten.

Als ich dann gerade dabei gewesen war zu überlegen, wie wir die Mauer überwinden konnten, hatte die ganze Kolonne sich wieder in Bewegung gesetzt und damit wieder die Barriere zwischen uns und unserer Freiheit gebildet, während die Suchmannschaft immer weiter in unsere Richtung kam. Von zwei Seiten eingekesselt. Den Autos waren weitere Leute entstiegen und hatten damit begonnen, das Feld rechts von uns zu durchkämmen – genau auf die andere Mannschaft zu.

In dem Moment, als mir das klar geworden war, hatte ich mich zum ersten Mal gefragt, ob sie vielleicht wussten, wo wir waren und nicht nur versuchten uns blind zu finden, den Gedanken aber gleich wieder abgetan, weil dieses Gebiet einfach so groß war. Die Wahrscheinlichkeit lag viel höher, dass es sich einfach um einen Zufall handelte. Darum hatte ich mich auf eine ziemlich waghalsige Idee eingelassen.

Mein Instinkt sagte mir, dass sie dem Gebiet, das sie bereits nach uns durchkämmt hatten, vorerst nicht weiter beachten würden. Das war einfach logisch. Immerhin hatten sie es bereits erfolglos nach uns durchsucht.

Nikita und ich hatten uns so leise wie möglich durch ein Feld voller Maispflanzen gekämpft, knapp an der Suchmannschaft vorbei und waren so praktisch wieder an unserem Ausgangspunkt gelandet. Doch als wir uns dann erneut der Mauer genährt hatten, näherten sich zu meinem Entsetzen die Fahrzeuge wieder und versperrten uns ein weiteres Mal unseren Fluchtweg.

Und nun hockte ich in diesem einsamen Baum, beobachtete sie und konnte mich nicht gegen diesen einen Gedanken wehren: Sie wussten wo wir waren. Ich hatte keine Ahnung wie das möglich war, aber so gezielt wie sie immer wieder auftauchten und uns den Weg abschnitten, konnte es gar nicht anders sein. Irgendwie war es ihnen möglich herauszufinden, wie wir uns bewegten.

Meine Gedanken rotierten, während es zunehmend dunkler wurde. Es war nicht nur das. Auf der anderen Seite der Mauer hatten sie sich genauso verhalten. Die Logik sagte mir, selbst wenn sie sofort mitbekommen hätten, dass Nikita und ich verschwunden waren, hätten sie zuerst das Herz von Eden nach uns durchkämmen müssen und nichts sofort die dritte Ebene. Wie auch immer ihnen das gelang, sie hatten gewusst, dass wir uns dort befanden. So zielsicher wie sie zu uns gekommen waren, schlossen sich alle anderen Möglichkeiten damit aus.

Nur wie war das möglich?

Ohne diese Gedanken loszulassen, kletterte ich den Baum hinunter und schlüpfte schnell wieder in das Maisfeld.

Zwischen den ganzen Pflanzen brauchten meine Augen bei der Dunkelheit einen Moment, bis ich Nikita zwischen den ganzen Stängeln entdeckte. Sie hockte zusammengekauert auf dem Boden, die großen Augen fragend auf mich gerichtet und verschmolz beinahe mit der Nacht. Dabei sah sie nicht weniger geschunden aus, als ich mich fühlte.

Meine Arme und Beine waren übersät mit Schnitten, von diesem blöden Gewächs. Die Wunden brannten. Meine Lunge brannte, ja praktisch mein ganzer Körper brannte. Durch ein Feld voller Mais zu rennen, gehörte ab sofort zu den Dingen, die ich in Zukunft nach Möglichkeit vermeiden würde.

Ich griff nach ihrer Hand und zog sie zurück auf die Beine. „Sie versperren uns schon wieder den Weg.“

„Und jetzt?“

„Ich weiß nicht.“ Wir mussten hier weg, soviel war sicher. Nicht nur wegen den Dingen, die sie mir antun wollten. Dieser Ort veränderte Nikita – und das nicht zu ihrem Vorteil. „Sie scheinen immer genau zu wissen wo wir sind.“

„Wir können nicht entkommen“, flüsterte sie leise.

„Doch.“ Ich griff ihre Hände und drückte sie ganz fest. „Ich verspreche dir, dass ich uns hier rausbringen werde. Wir werden nicht zurück in die Gefangenschaft gehen. Hast du das verstanden?“

Sie biss sich auf die Unterlippe und wandte den Blick ab. „Vielleicht sollten wir einfach aufgeben. Das …“

„Sag sowas nicht!“ Ich drückte ihre Hände fester. „Wir kommen hier weg, ich muss nur herausfinden, woher die immer wissen, wo wir sind.“

Nikita riss erschrocken die Augen auf. „Du meinst, sie können uns orten?“

„Es hat den Anschein, nur weiß ich nicht, wie sie das machen.“

Während Nikita ihr Gewicht nervös von einem Bein auf das andere verlagerte, glitt mein Blick auf den kleinen Knubbel an ihrer Hand und in diesem Moment machte es in meinem Kopf Klick. „Aber natürlich.“ Ich ließ Nikita los und starrte auf meine eigene Hand. Auch ich hatte diesen kleinen Knubbel. Der Keychip. Damit hatten wir Zugang zum Edensystem. „Und das System zu uns“, flüsterte ich. „Das ist es.“

„W-was?“

„Die Keychips in unseren Händen.“ Ich kramte das Messer, das ich der Frau abgenommen hatte, aus der Tasche meines Kleides. „Ich habe keine Ahnung wie genau das funktioniert, aber das muss es sein, deswegen finden sie uns immer. Deswegen wussten sie auch, dass wir bereits auf der dritten Ebene waren und nicht mehr im Herz.“ Ich griff nach ihrer Hand und drehte sie herum, doch in dem Moment als ich das Messer ansetzte, riss sie sie erschrocken weg.

„Was macht du da?“

„Ich sorge dafür, dass wir von ihrem Radar verschwinden und jetzt gib deine Hand wieder her.“

Sie machte große Augen. „Du willst ihn rausschneiden?“

„Hast du eine bessere Idee? Wir müssen sie abhängen und das ist die einzige Möglichkeit. Oder willst du etwa, dass sie dich zurück in dieses verdammte Kinderhaus stecken?“

Sie zögerte. Ich konnte sie verstehen. Die Aussicht darauf, mir etwas aus der Haut schneiden zu müssen, war nicht sonderlich reizvoll, aber es würde nur ein kurzer Schmerz sein und dann wartete die Freiheit auf uns.

„Komm schon Nikita, wir haben nicht so viel Zeit.“

Sie biss sich wieder auf die Unterlippe, wandte dann aber den Blick ab und streckte mir ihre Hand entgegen. Dabei kniff sie die Augen ganz fest zusammen.

„Du musst stillhalten.“ Ich wollte etwas hinzufügen, sie beruhigen, oder auf andere Gedanken bringen, aber dann entschloss ich mich dazu, es einfach schnell hinter mich zu bringen.

Mit Daumen und Zeigefinder tastete ich nach dem kleinen Chip unter der Haut, dann setzte ich das Messer an und stach zu. Natürlich zuckte Nikita und versuchte reflexartig mir die Hand zu entziehen, aber ich hielt sie fest.

Blut trat aus der Wunde und lief warm über meine Finger. Das Messer kratzte über den Chip.

Nikita gab ein Wimmern von sich.

Ich schob die Messerspitze unter den Chip und hebelte ihn aus der Wunde. Im nächsten Moment lag er in meiner Hand und ich erlaubte Nikita endlich den Arm wegzuziehen. In ihren Augenwinkeln standen Tränen.

Wieder wollte ich etwas Beruhigendes sagen, sie sogar tröstend in meine Arme ziehen, aber die Zeit drängte und mit Worten war ich sowieso noch nie so gut gewesen. Deswegen hockte ich mich auch auf den Boden, legte meine Hand offen aufs Knie und setzte das Messer ein zweites Mal an. Leider musste ich dabei feststellen, dass es viel einfacher war, sowas bei jemand anderem zu machen, als bei einem selber.

Komm schon, tu es einfach!

Ich atmete noch einmal tief durch, dann stach ich ein weiteres Mal zu. Trotz der Tatsache, dass ich wusste, was auf mich zukam, tat es verdammt noch mal scheiße weh! Ich biss die Zähne zusammen und versuchte die Messerspitze wie bei Nikita unter den Chip zu schieben, aber meine Finger zitterten, sodass ich mehr als einmal abrutschte.

Fluchend hob ich das Messer und starrte auf meine blutende Handfläche und konnte mich nicht dazu überwinden es ein zweites Mal anzusetzen. „Nun komm schon“, feuerte ich mich selber an, aber bevor ich mich noch einmal dazu überwinden konnte, hockte Nikita sich mit verschlossener Mine vor mich und nahm mir das Messer aus der zitternden Hand. Sie sah mir auch nicht in die Augen, als sie das Messer wieder in die Wunde tauchte.

Ich zwang mich ganz still zu halten, während sie in dem Schnitt herumstocherte. Es dauerte fast eine Minute, erst dann lag auch der zweite Chip in meiner Hand. Sie waren klein und länglich und erinnerten mich an die Reiskörner, die ich an meinem ersten Tag hier in Eden gegessen hatte.

Das so etwas Kleines so viel Ärger anrichten konnte.

Meine Lippen drückten sich fest aufeinander. Aber jetzt nicht mehr. Entschlossen richtete ich mich auf, holte aus und warf sie so weit wie möglich von mir. Dann nahm ich Nikita das Messer wieder aus der Hand, schnitt damit den unteren Saum meines Rockes und riss einen langen Streifen ab. Die eine Hälfte des Stofffetzens gab ich Nikita, mit dem anderen verband ich meine eigene Hand. Dann ließ ich das Messer wieder in meiner Rocktasche verschwinden und wandte der Wagenkolonne den Rücken zu.

Jetzt würden sie uns nicht mehr so leicht aufspüren können.

„Und was machen wir jetzt?“, wollte Nikita wissen.

„Wir gehen zurück.“ Entschlossen machte ich mich auf den Weg.

„Zurück? Was meinst du mit zurück?“

„Wir werden uns direkt vor ihrer Nase verstecken, bis sie es aufgeben und woanders nach uns suchen.“ Ich warf ihr einen kurzen Blick über die Schulter zu, doch mittlerweile war es so dunkel, dass sie gerade noch als Schatten wahrnehmen konnte. „Wir gehen zu dem Haus, auf das wir gefallen sind. Da gibt es einen Stall, ich habe ihn gesehen. Darin werden wir uns erstmal verschanzen.“

Nikita schwieg einen Moment. „Hältst du das für eine gute Idee?“

„Es ist jedenfalls besser als hier ziellos herumzuirren. Sie werden sicher nicht damit rechnen, dass wir dorthin zurückkehren.“ Das zumindest hoffte ich und mehr als Hoffnung blieb mir gerade nicht. Zwar drängte alles in mir dazu, sofort die Mauer anzusteuern und nach einem Ausweg zu suchen, aber ich wollte nicht erneut so überstürzt handeln. Nein, es war besser, erst einmal abzuwarten und auf eine passende Gelegenheit zu lauern. Die Yards würden früher oder später weiterziehen und uns den Weg damit frei machen. Wir mussten nur noch ein kleinen wenig Geduld haben.

Die Maispflanzen um uns herum raschelten. Wir versuchten uns vorsichtig und vor allen Dingen leise, einen Weg durch sie hindurch zu bahnen, aber sie standen so dicht, dass es unmöglich war an ihnen vorbei zu kommen, ohne sie zu streifen. Das war sowohl Vor- als auch Nachteil. In der Dunkelheit machten uns die Pflanzen beinahe unsichtbar, aber leider machten sie für meinen Geschmack auch viel zu viel Krach. Da half es auch kaum, sich leise zu bewegen.

Trotzdem schafften wir es unbehelligt zu dem Haus zurückzukehren. Natürlich waren wir nicht so dumm, direkt aus der Deckung der Pflanzen zu treten. Zuerst sondierte ich die Umgebung mit den Augen.

Das Haus lag ruhig da. Weit und breit keine Yards. Die Fenster waren hell erleuchtet und ich konnte die Schatten der Anwohner dahinter erkennen, aber keiner machte Anstalten, das Haus zu verlassen und draußen nach uns zu suchen. Warum auch? Niemand würde damit rechnen, dass wir wieder hier auftauchen könnten. Alle gingen davon aus, dass wir sofort die letzte Mauer in Angriff nehmen würden. Das hier war das perfekte Versteck – vorerst.

„Scheint alles ruhig zu sein“, murmelte ich, griff Nikitas Hand und erhob mich. „Komm.“

Geduckt rannten wir über die kurze Freifläche zwischen Haus und Maisfeld und suchten dann Deckung in den Schatten vor der Veranda. Der Stall, den ich vorhin entdeckt hatte, war nur einen Katzensprung entfernt. Trotzdem blieb ich wachsam und schaute mich ein weiteres Mal um, bevor ich mit Nikita im Schlepptau zu der Scheune aus Holz eilte.

Aus dem Inneren hörte ich das Blöken und Scharren von Tieren. Es erinnerte mich an die drei Ziegen, die meine Familie besessen hatte, als ich noch ganz klein gewesen war – damals, noch bevor Nikita das Licht der Welt erblickt hatte.

Das Tor war groß genug, um Trotzkopf hindurch zu lassen. Und es war nicht verschlossen. „Glück muss man haben“, murmelte ich, stemmte es einen Spalt breit auf, schob Nikita hindurch und schlüpfte mit deinem letzten wachsamen Blick über den Hof, hinter ihr her.

Der vertraute Geruch von Stall empfing mich, zusammen mit einer kleinen Herde von Wollknäueln auf vier staksigen Beinen. Ich musterte die blökende Menge, die uns neugierig aus ihren strohbedeckten Verschlägen begaffte.

Kleine Steinchen und Dreck knirschten auf dem Boden, als Nikita sich weiter ins Innerste bewegte.

Ich jedoch konnte meinen Blick nicht von den Tieren abwenden. Sie erinnerten mich entfernt an Ziegen, sahen aber doch ganz anders aus. Mutationen? Experimente von Eden? „Was sind das für Dinger?“

„Schafe.“ Nikita schaute mich nicht mal an. Stattdessen inspizierte sie eine alte Holzleiter, die hinauf zu dem Heuboden führte. „Sie bieten den Menschen Wolle, Milch und Fleisch. Früher gab es tausende von ihnen, aber der Mortiferus-Virus hat auch sie stark dezimiert. Heute gibt es sie nur noch, weil sie gezielt gezüchtet werden.“

Ich verengte die Augen leicht. „Woher weißt du das?“

„Aus dem Unterricht.“ Sie warf mir einen kurzen Blick zu, griff dann nach einer Strebe der Leiter und überprüfte sie auf ihre Standhaftigkeit. „Wie nehmen gerade Landwirtschaft und Viehzucht durch, um uns auf die Projektwoche vorzubereiten. Was vor der Wende anders war als heute. Auswirkungen, Nutztiere und Ertrag. Wir haben auch über Tiere wie diese Schafe gesprochen. Außerhalb von Eden sind sie völlig ausgestorben. Nur das Zuchtprogramm hält sie noch am Leben.“

Ihre Worte ließen mich frösteln. Nicht nur das sie bewiesen, wie sehr Eden sich der natürlichen Ordnung widersetzte, es war einfach wie sie es sagte, wie ihre Augen leuchteten, bei der Aussicht die Natur manipulieren zu können. Dieser Ort bot ihr die Möglichkeit, die Welt nach ihren Wünschen zu formen – ohne Rücksicht auf Verluste.

Eden war bereits viel tiefer in sie eingedrungen, als ich die ganze Zeit befürchtet hatte. „Eden ist der Feind.“

Bei meinen harschen Worten drehte sie überrascht den Kopf. „Was?“

„Ich habe gesagt: Eden ist der Feind.“

Betroffen ließ sie von der Leiter ab und senkte den Blick. „Das weiß ich, du musst es mir nicht ständig sagen.“

„Weißt du es wirklich?“ Meine Frage war sehr leise, aber sie hatte mich trotzdem gehört. „Seit wir hier angekommen sind, erkenne ich dich kaum wieder. Ja ich verstehe, es ist eine ganz andere Welt, ein Abenteuer, dem du nicht widerstehen kannst, aber du bemerkst gar nicht, wie sehr du dich auf all das einlässt, wie du all das genießt. Du vergisst einfach, was in der Vergangenheit geschehen ist, was sie getan haben. Sie haben unsere Mutter getötet, wegen ihnen ist Akiim tot.“ Meine Stimme war ein halbes Knurren, in dem mein Schmerz und meine Wut mitschwang. „Sie haben uns entführt und uns gegen unseren Willen hergebracht.“

Nikitas Gesicht war verkniffen, aber sie wich meinem Blick nicht aus. „Vielleicht ist es an der Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen und sich für etwas Neues zu öffnen.“

Diese Worte machten mich sprachlos. Ich konnte nur dastehen und sie anstarren, als wäre sie von einem anderen Planeten. Auf einmal schien sie eine ganz andere Sprache zu sprechen.

„Mann Kiss, ich weiß doch was alles geschehen ist, aber diese Stadt eröffnet uns so viele Möglichkeiten. Vielleicht sollten wir … vielleicht … vielleicht ist es an der Zeit, ihnen eine Chance zu geben.“

„Eine Chance?!“ Ich war Fassungslos. „Ist dir eigentlich bewusst, was sie mit mir vorhaben?! Dass sie mich zwingen werden, wenn ich nicht kooperiere?!“

Sie zögerte einen Moment. Dann sagte sie leise: „Kinder sind doch etwas Schönes. Und die Kinder in dieser Stadt scheinen mit ihrem Los glücklich.“

Was sie da sagte … ich konnte es kaum glauben. Ihre Worte entsetzten mich einfach nur. Wie konnte sie plötzlich so blind sein? Wie konnte sie alles was sie gelernt hatte, einfach hinter sich lassen und diesen Weg beschreiten?

„Kiss …“

„Willst du hierbleiben?“, fragte ich. „Ist es das was du willst? Dass man dich ausbeutet und wegwirft, wenn man dich nicht mehr braucht? Willst du ein Städter sein? Eine hirnlose Marionette, die alles tut was man ihr sagt, ohne irgendetwas in Frage zu stellen?“

Der Trotz in ihren Augen verblasste langsam und ließ nichts als Unruhe und Angst zurück. „Ich weiß nicht. Ich … ja … nein … keine Ahnung.“ Sie schlang ihre Arme um sich selber, als müsste sie sich wärmen. „Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll.“

Und da wurde es mir klar. Eden hatte sie mir nicht genommen, Nikita hatte einfach Angst. Sie glaubte nicht daran, dass wir entkommen konnten und versuchte sich mit dem, was die Zukunft für sie bereithielt, zu arrangieren. Der Weg des geringsten Wiederstandes.

Nikita war noch nie eine Kämpferin gewesen. Ja, sie liebte das Abenteuer, aber nun fraß sich die Angst einen Weg in ihr Innerstes und klammerte sich an ihr fest. Sie wusste einfach nicht, wie sie damit umgehen sollte und ließ es deswegen einfach geschehen.

„Niki.“ Ihr Name kam sanft über meine Lippen und doch zuckte sie bei dem Klang zusammen. Ich trat zu ihr, nahm sie in die Arme und drückte sie ganz fest an mich. „Ich bin bei dir, ich werde immer bei dir sein. Und ich verspreche dir, uns hier rauszubringen. Hast du das verstanden?“

Sie nickte, schaute mich aber noch immer nicht an.

„Du vertraust mir doch, oder?“

„Natürlich vertraue ich dir.“ Das sagte sie ohne auch nur einen Moment zu zögern.

Ein Gewicht, von dem ich gar nicht gewusst hatte, dass es auf mir lastete, fiel einfach so von mir ab. Ich konnte geradezu hören, wie es auf den Boden krachte und dort in tausend Stücke zersplitterte. Ich hatte sie noch nicht verloren, ich musste sie nur schnell von hier fortbringen. „Ich werde immer auf dich aufpassen“, versprach ich ihr leise. „Ich werde einen Weg finden, uns von hier wegzubringen. Wir …“

Plötzlich krachte die Stalltür auf und schlug gegen die Gitter der Gehege. Die Schafe blökten panisch, sprangen durcheinander und drängten sich gegen die Außenwand, während ich herumwirbelte und meine Augen sich vor Schock weiteten.

Eine ganze Truppe an Yards stürmte in die Scheune hinein, direkt auf uns zu.

Einen Moment war ich wie erstarrt und konnte nicht glauben, dass sie uns schon wieder gefunden hatten. Das war einfach nicht möglich, sie konnten nicht wissen, wo wir waren, wir hatten die Chips schließlich entfernt. Und dennoch strömten gerade mindestens ein Dutzend von ihnen entschlossen auf uns zu.

„Lauf!“, schrie ich und stieß Nikita zur Leiter. Doch es war bereits zu spät. Sie hatte die Sprossen kaum berührt, als die Yards uns auch schon überrannten. Mehrere Hände griffen nach mir und drängten mich von Nikita weg.

„Kiss!“

Ich versuchte nach hinten auszuweichen, schlug die Hände fort, die nach mir griffen und gab mir dabei alle Mühe, Nikita nicht aus den Augen zu verlieren. Aber es waren so viele und ich konnte nirgendwo hin.

Irgendwo in dem Gedränge rief Nikita erneut nach mir. Die Leute pflückten sie einfach von der Leiter, nahmen sie in ihre Mitte und brachten sie aus der Scheune, während ich noch immer gehen den Zugriff ankämpfte.

„Nein!“, schrie ich, als sie meine kleine Schwester aus der Scheune brachten. Irgendwer erwischte meinen Arm. Ohne hinzuschauen trat ich einfach nach ihm. Mein Fuß traf etwas, jemand fluchte lautstark, aber gleichzeitig packte ein Yard, mit einer feuerroten Stachelfrisur, mein ausgestrecktes Bein und riss daran.

Mein Gleichgewicht verpuffte und im nächsten Moment fand ich mich auf dem Rücken wieder, während sich drei Männer gleichzeitig auf mich stürzten und am Boden festhielten.

„Nein, ich will nicht! Lass mich los!“

Ich trat und schlug um mich.

Jemand bekam meine Beine zu fassen, warf sich auf sie und drückte sie nach unten. Zwei andere packten mich an den Handgelenken und hielten sie auf dem Boden fest.

„Nein! Nein! Ihr könnt mich nicht zwingen!“ Ich bockte, riss meinen Kopf zur Seite und biss zu. Meine Zähne bohrten sich in warmes Fleisch, bis ich Blut schmeckte. Ein wütendes Brüllen, ein deftiger Fluch. Mein Arm wurde freigegeben, doch bevor ich das nutzen konnte, wurde der Griff um mein anderes Handgelenk, fester. Der Mann mit dem Feuerroten Haar, riss an meinem Arm, wirbelte mich herum und drückte mich mit dem Gesicht voran in das alte Stroh.

„Schluss jetzt“, knurrte er dicht an meinem Ohr und verdrehte mir den Arm so weit nach oben, dass ich vor Schmerz ein Zischen ausstieß.

Ich versuchte weiterhin mich zu wehren, konnte es einfach nicht glauben, dass sie mich wieder in ihrer Gewalt hatten, aber es war unmöglich diesem Griff zu entkommen. „Bitte“, flehte ich. „Lass mich doch einfach gehen, ich will das nicht!“

„Das hast du nicht zu entscheiden“, sagte der rothaarige Mann scharf. In der Stimme lag nicht das kleinste bisschen Mitgefühl, nur eiskalte Effizienz.

„Sven, geh und lass dir den Arm verbinden“, sagte jemand zu dem Mann, den ich gebissen hatte. Die Wunde, die meine Zähne geschlagen hatte, blutete stark und hatte schon einen guten Teil seiner grauen Uniform ruiniert. Und so wie er das Gesicht verzog, musste es auch ziemlich wehtun.

Leider wollte sich bei mir kein Gefühl der Befriedigung einstellen, was zu Teil wohl auch daran lag, dass ich zu Boden gedrückt wurde und den Dreck fraß. Aber der viel größere Teil war die Angst, die sich in mir festsetzte. Der Anblick der Yards, machte es so real. Sie hatten mich – sie hatten mich erneut gefangen, und ich konnte nichts dagegen tun.

Was würde nun mit mir passieren? Was hatten sie vor?

Als hätte der Mann in meinem Rücken die Fragen in meinem Kopf gehört, sagte er: „Und wir machen jetzt einen kleinen Ausflug. Die Despotin möchte sie sehen.“

Und das war der Moment in dem mein Kampfgeist ganz einfach erlosch. Ich wusste nicht warum die Erwähnung von Agnes diese Situation so viel schlimmer machte, aber ich sackte ganz einfach in mich zusammen und ergab mich, denn ich konnte nichts mehr tun.

Ich hatte es versucht. Die ganze Zeit hatte ich mich gewehrt und nach einem Ausweg gesucht. Heute hatte ich es sogar geschafft einen Teil ihrer Mauern zu überwinden. Und doch lag ich nun hier, umringt vom Feind und unfähig meinem Schicksal zu entrinnen.

Eine Träne trat mir in die Augen, als sie mich auf die Beine zerrten und mir die Hände mit Handschellen auf den Rücken banden. Grobe Hände packten mich, damit ich nicht einfach weglaufen konnte. Und dann wurde es mir klar. Es gab kein Entrinnen. Niemand entkam Eden, wenn die Stadt einen nicht loslassen wollte. Das Einzige, was ich noch tun konnte, war mich zu ergeben und mich in mein Schicksal zu fügen.

Oder daran zugrunde gehen.

 

oOo

Kapitel 34

 

„Können sie ihr nicht wenigstens die Handschellen abnehmen?“

Der Yard mit der feuerroten Stachelfrisur, wandte sich vom Fenster ab und bedachte Nikita mit einem unnachgiebigen Blick. „Nein.“

Meine kleine Schwester funkelte ihn so böse an, dass er eigentlich hätte tot umfallen müssen, wenn es hier mit rechten Dingen zugegangen wäre. Aber hier ging es nicht mit rechten Dingen zu. Hier ging es niemals mit rechten Dingen zu. Deswegen saß ich nun auch in Handschellen auf der Couch in meiner Suite und bangte um meine Zukunft, anstatt mit Nikita an meiner Seite, um mein Leben zu rennen und diese Stadt ein für alle Mal hinter mir zu lassen.

Ich presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, während ich Nikitas Hand zwischen meinen Fingern fast zerquetschte. Dass ich in diesem Moment nicht völlig ausrastete, war wohl alleine ihrer Ruhe zu verdanken.

Aber … wie konnte sie nur so ruhig bleiben? Und wie hatte unser Fluchtversuch nur so in die Hose gehen können? Ich verstand es nicht. Es wollte einfach nicht in meinen Kopf, wie sie uns gefunden hatten. Und dann auch noch so schnell. Das Schlimmste jedoch war das, was nun folgen würde. Ich würde mich den Konsequenzen meines Handels stellen müssen und das machte mir Angst.

Einen kurzen Moment hatte ich wirklich geglaubt, dieses Gebäude nie wiedersehen zu müssen. Ich hatte die Hoffnung gehabt, in mein Leben zurückkehren zu können, dass alles wieder so werden konnte, wie es sein sollte.

Vergebens.

Oder vielleicht hatte ich mich auch geirrt. Vielleicht war es nie vorgesehen gewesen, diesen Ort jemals wieder zu verlassen.

„Hey.“ Nikita drückte meine Hand ein wenig fester. „Mach dir keine Sorgen, es wird schon alles gut werden.“

Einen solchen Glauben wie sie, wünschte ich mir auch für mich. Für sie war es so einfach, das Grauen der Realität auszublenden und sich nur auf die schönen Dinge des Lebens zu konzentrieren. Das war eine gute Eigenschaft. Und damit sie daran festhalten konnte, musste ich mich um das kümmern, was außerhalb ihres Blickes lag. Aber im Moment … ich wusste einfach nicht mehr was ich tun sollte. Wenn ich bisher geglaubt hatte zu wissen, was es bedeutete, verzweifelt zu sein, so wurde ich nun eines Besseren belehrt.

Ein Klopfen an er Tür brachte den größten der drei Yards dazu, diese zu öffnen. Gleich darauf trat Agnes mit ihrer gesamten Entourage in den Wohnraum der Suite. Sie trug ein graues Kostüm und jeder ihrer Schritte wurde von dem vertrauten Klong, Klong, Klong, ihres Gehstocks begleitet.

Ich konnte spüren, wie mein Herzschlag sich wieder beschleunigte. Meine Hand pochte. Ich musste schlucken. Vielleicht würde ich nun endlich erfahren, warum man einen freien Menschen, der Eden einmal betreten hatte, nie wieder sah.

Der Gedanke war nicht gerade hilfreich.

Hinter Agnes traten zwei Gardisten in den Raum, gefolgt von Carrie, die sofort einen missbilligenden Blick in meine Richtung abfeuerte, Dimitri, der mich mit Reserviertheit betrachtete und zu meiner Überraschung auch Dascha, die sich nicht anmerken ließ, was in ihrem Kopf vor sich ging. Sie trug auch nicht die Uniform der Tracker, sondern einfache Freizeitkleidung.

Agnes bewegte sich, den Blick stur auf mich gerichtet, humpelnd auf mich zu und blieb direkt vor mir stehen. Ich musste den Kopf in den Nacken legen, um zu ihr aufzusehen. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass sie nicht nur einen Kopf kleiner war als ich, sondern auch ziemlich gebrechlich wirkte. Naja, abgesehen von dem stählernen Ausdruck in ihren Augen.

Für einen Augenblick blieb es still. Dann sagte Agnes völlig ausdruckslos: „Dummes Mädchen.“

Mir stellten sich die Nackenhaare auf.

„Xavier, bitte begleiten sie Nikita hinaus und warten sie mit ihr einen Moment auf dem Korridor.“

Pflichteifrig setzte sich der Yard mit den roten Stacheln in Bewegung und kam direkt auf Nikita zu.

Unwillkürlich spannten sich meine Schultern an. Es hätte mich nicht überraschen sollen, dass sie Nikita von mir trennen wollte, aber alles in mir sperrte sich gegen diese Möglichkeit. Ich wollte Nikita nicht aus den Augen lassen, aber wenn ich nun etwas Unüberlegtes tat, würde das unsere Situation nur noch verschlimmern. Daher blieb ich stillsitzen, als Nikita sich nach kurzem Zögern von der Couch erhob.

„Na komm“, sagte Xavier beinahe freundlich und legte Nikita eine Hand in den Rücken, um sie nach draußen zu bringen.

Ich biss die Zähne so fest zusammen, dass sie zu schmerzen begannen und zwang mich ruhig zu bleiben.

Währenddessen starrte mich Agnes die ganze Zeit an, als wollte sie mich allein mit ihrem Blick in die Knie zwingen. Dabei entging mir weder die Wut in ihren Augen, noch die Geringschätzung, oder das kurze Aufflackern von Hass.

Nein. Nein, das bildete ich mir sicher nur ein. Die Frau hatte keinen Grund mich zu hassen. Es musste etwas anderes sein.

An der Tür warf Nikita mir noch einen besorgten Blick zu, dann schob ihr Aufpasser sie nach draußen und schloss die Tür hinter sich.

Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, sie zu verlieren und Angst machte sich in mir breit. Ich durfte mir nicht anmerken lassen, wie sehr mich all die Blicke verunsicherten.

Agnes stand völlig ruhig vor mir und musterte mich. „Der Fluchtinstinkt liegt bei euch wohl in der Familie“, flüsterte sie so leise, dass ich es kaum verstehen konnte. Doch die Wut in ihrer Stimme war kaum zu überhören. „Haben sie wirklich geglaubt es sei so einfach, von hier zu verschwinden?“, fragte sie beinahe spöttisch. „Sie gehören nun zu uns, Kismet, sie gehören mir und solange ich es nicht erlaube, werden sie nicht gehen. Ab sofort werden sie nur noch das tun, was ich ihnen sage.“

Ich gehörte ihr?! Ein aggressiver Widerwille regte sich in mir und verdrängte die lähmende Angst ein wenig. Was bildete diese Frau sich eigentlich ein wer sie war? „Ich gehöre niemanden außer mir selber“, gab ich genauso leise zurück.

Plötzlich hob sie die knochige Hand und schlug sie mir laut klatschend ins Gesicht. Mein Kopf wurde zur Seite geschleudert. Als der Schmerz sich an meinem Wangenknochen manifestierte, stieg mir eine Träne ins Auge. Scheiße, das tat weh! Wer hätte gedacht, dass eine so alte Schachtel, so kräftig zuschlagen konnte?

„Dascha, öffne ihre Handschellen. Wir sind hier nicht im Mittelalter.“

Ihr Gehstock gab wieder ein rhythmisches Klong, Klong, Klong, von sich, als sie mir den Rücken kehrte und steifbeinig zu einem der Sessel marschierte.

Ich kniff die Augen einen Moment zusammen, während Dascha sich an meinen Handgelenken zu schaffen machte. Aber selbst als ich wieder frei war, griff ich nicht nach meinem schmerzenden Gesicht, sondern richtete mich nur wieder gerade auf. Die Genugtuung ihr zu zeigen, dass sie mich unvorbereitet erwischt und verletzt hatte, würde ich ihr nicht geben.

Agnes jedoch schien meine Halsstarrigkeit nicht mal zu bemerken. Oder es interessierte sie einfach nicht genug, um darauf einzugehen. „Ist ihnen eigentlich bewusst, was sie heute Abend angerichtet haben?“

Ich schwieg. Das war im Moment wohl am besten. Doch die aufkommende Wut köchelte weiter in mir.

„Sie haben einen hochrangigen Yard verletzt und ihm eine schwere Bissverletzung beigebracht.“ Sie fixierte mich unnachgiebig. „Wegen ihnen musste ich Leute von ihren Posten abziehen, um eine große Suchaktion in die Wege zu leiten. Das bedeutet nicht nur zusätzliche Arbeit, die liegengebliebene Arbeit muss auch nachgeholt werden. Außerdem haben sie ein Kind entführt und es damit in eine gefährliche Lage gebracht. Sie haben vielen Leuten heute Nacht viele Schwierigkeiten gemacht und dass alles nur, weil sie ein kleines, dummes Mädchen sind, dass sich unverstanden fühlt und glaubt, etwas Besseres zu sein, nur weil sie zu egoistisch sind, um zu verstehen, was für ein Geschenk sie für uns sind.“

Ich biss die Zähne zusammen und weigerte mich etwas dazu zu sagen.

„Aber damit ist jetzt Schluss.“ Ihre Stimme wurde gefährlich leise. „Ich habe ihnen lange genug ihren Trotz durchgehen lassen, nun werden sie sich fügen, oder es wird schwerwiegende Folgen für sie haben.“

Trotz?! Ich biss mir fast du Zunge ab.

Agnes wartete. Sie schien zu wollen, dass ich ihr widersprach, aber das würde ich nicht tun. Dabei bemerkte sie den blutigen Stofffetzen an meiner Hand. „Haben sie sich verletzt?“

Ich presste meine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.

„Sie werden mir antworten, Kismet, das ist nur höflich.“

Höflich. Diese Frau wüsste doch nicht mal was Höflichkeit war, wenn man sie ihr ins Gesicht klatschen würde.

„Ich glaube“, schaltet sich einer der Yards ein, der uns in die Suite gebracht hatte, „dass sie ihren Keychip entfernt hat.“

„Den Keychip.“ Agnes zog eine Augenbraue nach oben. „Warum?“

Als ich wieder nicht antwortete, verfinsterte sich ihr Gesicht.

„Kismet, es gibt zwei Möglichkeiten, wie das hier jetzt ablaufen kann. Die erste ist Kooperation, um eine schlimme Situation nicht noch schlimmer zu machen. Die zweite ist Verweigerung. Wenn sie damit weiter machen, werden sie die Konsequenzen tragen müssen. Und die werden nicht schön werden.“

Die Wunde in meine Hand begann wieder zu pochen und die Angst kehrte zurück. Bilder aus der Vergangenheit drängten sich mir auf. Bilder von meiner Mutter und dem vielen Blut, das in die Erde sickerte. Alles war voller Blut gewesen.

Meine Hände begannen zu zittern und ich musste sie zu einer Faust schließen, um es zu verbergen. „Damit uns niemand findet“, sagte ich leise und konnte die Wut kaum unterdrücken. „Ich weiß, dass wir über die Keychips geortet wurden. Nur so konnten sie uns finden.“

Agnes ließ sich nicht anmerken, was sie über meine Entdeckung dachte. „Nun gut“, sagte sie nur und verschränkte die die Hände auf ihrem Schoß. „Dascha, ruf Doktor Vark an. Er soll ihr einen neuen Keychip einsetzen und sie untersuchen, um sicher zu gehen, dass ihrer Befruchtung in fünf Tagen nichts im Weg steht.“

Die Worte ließen mich zusammenzucken.

Dascha nickte. „Und was ist mit Nikita? Auch ihr Keychip wurde entfernt.“

Verärgert verzog die Despotin den Mund. „Dann lass ihn zwei Keychips bringen, so schwer ist diese Rechnung ja wohl nicht. Außerdem will ich, dass Kismet, ein Medi-Reif angelegt wird.“ Sie wandte sich wieder an mich. „Ab sofort ist es ihnen untersagt, den Kreis zu verlassen und sich auf dem Gelände frei zu bewegen, solange keine Aufsichtsperson bei ihnen ist. Zwischen zehn Uhr abends und sechs Uhr morgens wird ihre Suite von nun an verschlossen. Außerhalb dieser Zeiten, werden sie sich nur mit Frau Capps, oder einem ihnen zugeteilten Wachposten, außerhalb des Turms der Evas bewegen. Von nun an werden sie jederzeit Bescheid geben, wo sie sind und wohin es sie verschlägt.“

Wenn ich meine Zähne noch fester zusammenbiss, würden sie bald brechen.

„Ihnen ist es weiterhin erlaubt, sich in der Gemeinschaft zu bewegen und ihrer Arbeit nachzukommen – sowohl der als Eva, als auch der bei Herr Hemmelt.“

Miststück. „Und Nikita? Was ist …“ Ich biss die Zähne zusammen. Ich wollte sie nicht anbetteln, aber ich wollte auch nicht meine Schwester verlieren.

Agnes musterte mich mit kühlem Interesse. „Nikita wird es erlaubt sein, sie zu besuchen, aber nur noch unter strenger Aufsicht, in einem von uns gewähltem Rahmen.“ Ihre Augen blitzten unheimlich. „Wir werden sie keine Sekunde mehr mit ihr alleine lassen.“

„Mutter“, mischte sich Dimitri in das Gespräch ein. „Ich halte das für keine gute Idee.“

Mutter?

„Wir sollten für Nikita erst einmal ein stabiles Umfeld schaffen. Kismets Einfluss auf sie ist gegenwärtig noch sehr nachteilig. Sie stört die positive Entwicklung, indem sie jeden Vorschritt schlechtredet. Ich möchte nicht, dass ihre Einstellung auf Nikita abfärbt.“

Agnes hatte für ihren Sohn nur einen kurzen Blick übrig. „Erstelle mir eine Expertise, dann werden wir weiter drüber sprechen.“

Er nickte zufrieden und lehnte sich zurück, während ich mich fragte, was hier eigentlich gerade passierte. Und was verdammt noch mal sollte ein Ex-irgendwas sein? Ich konnte dieses Wort nicht mal aussprechen, doch der zufriedene Ausdruck in Dimitris Gesicht, ließ mich bis auf die Knochen frieren. Sie wollten mir Nikita wegnehmen. Nein, sie würden sie mir wegnehmen, wenn ich nicht ganz genau tat, was sie von mir wollten.

„Nun denn.“ Agnes Blick richtete sich auf mich. „Das ist ihre letzte Chance. In weiteres Mal werde ich mir ihre Eskapaden nicht mehr bieten lassen. Haben sie das verstanden?“

Mein Blick war flammend vor Hass. Und doch schaffte ich es ein „Ja“ zwischen meinen zusammengebissenen Zähnen herauszubringen.

„Gut.“ Etwas schwerfällig erhob sie sich von dem Sessel und kam zurück auf die Beine. „Ansonsten werde ich bei ihnen das gleiche Verfahren anwenden, das auch Olive Vark erfährt.“ Wieder blitzten ihre Augen. „Ich hoffe für sie, sie begreifen.“

„Ja“, wiederholte ich widerwillig. Doch erst als Agnes zusammen mit ihrem Gefolge die Suite verließ, begriff ich den Inhalt dieser Worte wirklich. Sie würde mich zwingen schwanger zu werden, mir meine Kinder nach der Geburt wegnehmen und mich vierundzwanzig Stunden am Tag bewachen lassen. Das hatte sie doch gemeint, oder?

Ein kleiner Zweifel in mir schüttelte entschieden den Kopf, doch ich verdrängte ihn. Denn wenn sie das nicht gemeint hatte, waren die Methoden dieser Frau noch erbarmungsloser, als ich bisher angenommen hatte.

Da man mir offensichtlich nicht mehr vertraute, ließen sie die drei Yards bei mir zurück. Diese Xavier kam wieder in die Suite, während ich einen letzten Blick auf Nikita erhaschte, bevor sie von Dimitri in den Aufzug geschoben wurde. In ihren Augen las ich Furcht, aber ich konnte nicht sagen, ob sie um mich Angst hatte, oder sich um sich selber sorgte. Mit ihr reden und die Sache klären, konnte ich auch nicht. Wieder einmal konnte ich nichts anderes tun, als dazusitzen und nichts zu tun. Langsam wurde ich darin richtig gut.

Sobald ich mit den drei Yards allein war, wuchs mein Unbehagen. Würden die jetzt ständig in meiner Nähe sein? Ich erhob mich, um in ein anderes Zimmer zu gehen. Wenn ich sie schon nicht loswurde, dann konnte ich sie wenigstens aussperren.

Xavier wirbelte sofort zu mir herum. „Wohin wollen sie?“

Nach Hause. „Ins Bett, ich bin müde.“

Xavier machte einen Schritt zur Seite, als wollte er mir den Weg ins Schlafzimmer verstellen. Ihm schien nicht klar zu sein, dass ich einfach um ihn herumgehen konnte. „Sie müssen noch auf den Arzt warten.“

Hätte es nicht so wehgetan, hätte ich meine Hand zur Faust geballt. „Dann werde ich wohl erstmal hier sitzen bleiben“, murmelte ich und ließ mich wieder ins Polster sinken.

Er nickte, als würde er meiner Entscheidung zustimmen, bewegte sich aber nicht vom Fleck. Und dann saß ich einfach nur da, wartete und versuchte meine Gedanken zum Stillstand zu bewegen. Im Moment wollte ich nicht über das nachdenken, was geschehen war und was es bedeutete. Ich würde einfach zusammenbrechen und das wollte ich auf keinen Fall von den Augen dieser Leute tun. Aber es war so schwer. Der tickende Zeitmesser an der Wand, machte es auch nicht besser.

Alles war so schief gegangen. Ich hatte nicht entkommen können. Ich hatte Nikita nicht retten können. Und wenn ich nicht extrem aufpasste, würden sie sie mir wegnehmen. Ob ich sie in Zukunft sah oder nicht, hing allein von ihrem Wohlwollen ab.

Die Flucht, die ganzen Anstrengungen, alles war umsonst gewesen. Nun musste ich bleiben und tun was sie sagten. Ich hatte keine Wahl mehr. Wahrscheinlich hatte ich sie auch nie gehabt und mir die ganze Zeit nur etwas vorgemacht.

Die Sekunden krochen dahin, die Minuten im Gefolge. Im Raum war es unnatürlich still. Ich hätte nichts lieber gemacht, als mich vor all dem zu verstecken, doch ich musste hier sitzen bleiben. Ich zog die Beine an die Brust, schlang meine Arme darum und verstecke mein Gesicht. So wartete ich, bis es ungefähr eine Stunde später an meine Tür klopfte.

Ich drehte nicht einmal den Kopf. Wozu auch? Wenn mich jemand sehen wollte, konnte ich es sowieso nicht verhindern. Sie hatten mir alles genommen. Ich war machtlos.

Das Geräusch von Schritten, zeugte davon, wie Xavier sich bewegte. Die Tür wurde geöffnet.

„Hallo. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.“

Bei Killians Stimme krallte ich meine Finger noch fester in meine Beine. Dabei beachtete ich den dumpfen Schmerz in meiner rechten Hand nicht weiter.

„Sie sitzt auf der Couch.“

Weitere Schritte. Killian kam auf mich zu. Ein dumpfes Geräusch kündete davon, dass er seine Tasche auf meinem Tisch abgestellt hatte. „Hallo Kismet“, begrüßte er mich mit sanfter Stimme.

Ich schaute nicht zu ihm auf, oder nahm seine Anwesenheit anders zu Kenntnis. Warum auch? Er würde so oder so tun, weswegen er gekommen war. Ich hatte da kein Mitspracherecht.

„Wie ich gehört habe, hast du heute ein paar Leute ganz schön bei Laune gehalten.“

Xavier schnaubte abfällig.

Killian ignorierte ihn einfach. „Mit dir wird es wirklich nie langweilig.“

Wieder bekam er keine Reaktion.

Er seufzte leise. Dann ein leises Knarzen. „Schau mich bitte an.“ Stille. „Kismet, bitte.“

Ich wollte nicht, ich wollte einfach nur, dass sie alle verschwanden, aber ich fürchtete mich davor, was weitere Verweigerung für mich bedeuten würde. Also entwirrte ich meine Arme und stellte die Füße auf den Boden.

Killian saß mir gegenüber auf der Tischkante. Sein ruhiger Blick ruhte auf mir.

Ich schlug die Augen nieder, um es nicht sehen zu müssen.

„Es tut mir leid, aber aufgrund der heutigen Vorkommnisse, hat Agnes mich hergeschickt. Sie möchte, dass ich dir einen Medi-Reif anlege.“

Daran erinnerte ich mich, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was das sein sollte.

Killian griff in seine Arzttasche und zog ein Armband aus Kunststoff heraus. Es war rund, weiß, schlicht. „Das ist ein Medi-Reif. Er ist Wasserdicht. Du kannst damit also problemlos duschen, oder auch baden. Auch Erschütterungen sind kein Problem. Er wird deinen Alltag nicht beeinträchtigen.“

Meine Finger krallten sich in den weichen Stoff der Couch, als Killian mir die Hand entgegenstreckte.

„Gib mir bitte deine Hand.“

Ich zögerte. Nicht nur, weil ich noch immer keine Ahnung hatte, was dieser Armreif für mich bedeutete, ich wollte auch nicht von ihm, oder jemand anderem, berührt werden.

Xavier kam einen Schritt näher. „Wenn sie nicht tun, was der Arzt sagt, werde ich nachhelfen.“

„Danke“, sagte Killian mit einem nicht sehr freundlichen Seitenblick auf den Yard. „Aber ich brauche weder ihre Unterstützung, noch ihre Drohungen. Wenn ich Hilfe benötige, werde ich mich schon bei ihnen melden.“

Mein Gefühl sagte mir, dass er das nicht tun würde, aber auf mein Gefühl war im Moment kein besonders guter Verlass. Wäre dem nicht so, würde ich nun nicht hier sitzen.

Killian konzentrierte sich wieder auf mich. „Deinen Arm. Bitte.“

Nur langsam gehorchte ich ihm und schaute dann dabei zu, wie er den Armreif öffnete und ihn dann wie eine Schelle um mein Handgelenk schloss. Das Schloss rastete ein und verkündete mit einem lauten Piepton die Funktionstüchtigkeit.

Killian zog einen Screen aus seiner Tasche, schloss in mit einem Kabel an den Medi-Reif und strich mit seinem Keychip über den Monitor, um Zugang zu bekommen. Dann begann er darauf rumzutippen. „Solltest du versuchen die Fessel zu entfernen, dann fährt eine Nadel heraus, die dir ein Medikament wie eine Spritze injiziert. Das Medikament ist harmlos und schadet weder dir, noch würde es eine Schwangerschaft gefährden. Es sorgt nur dafür, dass du eine Zeitlang einschläfst. Zeitgleich wird das Gerät ein Signal schicken, dass die Yards alarmiert.“ Killian hielt inne und schaute mich mit bedauern an. „Verstehst du, was ich dir damit sagen möchte?“

Mein Kopf bewegte sich einmal hoch und runter. Das musste als Antwort genügen, denn ich traute meiner Stimme im Moment nicht.

„Der Reif arbeitet mit Sensoren, die auf Messfühler im Mauerring reagieren. Du kannst dich der Mauer ab sofort nur noch bis auf drei Metern nähern, dann gibt die Fessel ein Warnsignal von sich, das du nicht ignorieren solltest. Gehst du trotzdem noch näher heran, wird der Reif dich schlafen legen und die Yards rufen.“

Meine Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Ich wusste genau, was er mir damit sagen wollte. Von nun an war ich mehr denn je eine Gefangene von Eden. Sie engten mich ein, wollten mich brechen. Ich gehörte ihnen und es gab nichts mehr was ich dagegen tun konnte.

Der Kloß in meinem Hals wurde immer größer. Selbst durch angestrengtes Schlucken, bekam ich ihn nicht hinunter.

Killian stöpselte das Kabel wieder aus und räumte seine kleinen Helfer zurück in seine Tasche. „Von nun an, ist es nur noch der Despotin möglich, dir diese Fessel abzunehmen. Es wird regelmäßig jemand kommen, der den Reif kontrolliert, damit es keine Funktionsstörungen gibt.“ Er schwieg einen Moment. „Es tut mir wirklich leid.“

Meine Kehle war so zugeschnürt, dass ich vermutlich einfach in Tränen ausbrechen würde, sollte ich auch nur versuchen den Mund zu öffnen. Ich hatte versagt und meine Freiheit erneut verloren. Und es gab nichts mehr was ich dagegen tun konnte. Sie hatten mich in der Hand.

„Kismet“, sagte er so leise, dass es wohl nur für meine Ohren bestimmt war. Beinahe glaubte ich ihm sein Bedauern, aber das wäre ein Fehler. Er war genauso wie die anderen, genauso verkorkst, genauso unnatürlich und trotz seines Widerwillens, lehnte er sich nicht gegen das System auf, weil es viel einfacher war, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen.

Killian seufzte leise. „In Ordnung, dann wollen wir uns mal anschauen, was wir hier haben.“

Es war nur eine Bewegung im Augenwinkel, doch als ich bemerkte, wie seine Finger auf mein Gesicht zukamen, zuckte ich instinktiv davor zurück – meine Wange tat von dem Schlag von Agnes immer noch weh.

Sofort verharrte er. „Hey, du brauchst keine Angst vor mir haben, das weißt du doch. Ich tue dir nichts.“

„Sie hat keine Angst“, erklärte Xavier selbstgefällig. „Sie ist einfach nur trotzig.“

Meine Schultern versteiften sich. Trotzig? Du mieses Stück Scheiße!

Als Killian sich dem Yard zuwandte, wirkte der freundliche Ausdruck in seinem Gesicht plötzlich sehr aufgesetzt. „Was machen sie eigentlich noch hier? Sie und auch die beiden anderen Herren, werden hier nicht länger gebraucht und ich würde meine Patientin jetzt gerne untersuchen. Ungestört, wenn sich das machen ließe.“

Einen Moment sagte er gar nichts. „Natürlich“, war dann ihre einzige Antwort, bevor er noch einen Blick in meine Richtung warf und dann zusammen mit dem anderen Yard aus meiner Suite verschwand. Leider ließ er nicht nur die drückende Atmosphäre zurück, sondern auch die Hoffnungslosigkeit, die sich mit jedem Atemzug tiefer an meinem Herzen einzunisten versuchte.

„So, jetzt sind wir alleine.“ Killian beugte sich ein wenig vor. „Ist mit dir alles in Ordnung?“

Nein, nichts ist in Ordnung!, hätte ich am liebsten geschrien. Ich bin eine verfluchte Gefangene und jetzt drohen sie mir auch noch damit, mir Nikita wegzunehmen! Und ich war zu machtlos, um etwas dagegen zu unternehmen.

Als ich weiterhin nur still und verkrampft vor ihm saß, seufzte er wieder leise. „Ich schaue mir jetzt mal deine Hand an und dann kümmern wir uns um die ganzen Kratzer.“

Dieses Mal war ich darauf vorbereitet, als er nach mir griff und meine verkrallten Finger vorsichtig aus der Polsterung löste. Trotzdem zuckte meine Hand, als er sie vorsichtig in seine nahm und den blutigen Stofffetzen entfernte. Das geronnene Blut ziepte an der Haut und der wenige Schorf ging wieder auf.

Killian untersuchte die Wunde mit sanften Fingern und begann sie dann mit verschiedenen Utensilien aus seiner Tasche zu säubern. „Nikitas Schnitt sah nicht so schlimm aus.“

Ich horchte auf, zögerte, schaffte es dann aber doch meine Lippen voneinander zu trennen und mit rauer Stimme zu fragen: „Du hast Nikita gesehen?“

„Ja.“ Er legte den Tupfer zur Seite, nahm eine Spritzte aus seiner Tasche und befüllte sie mir einer klaren Flüssigkeit, aus einem kleinen Fläschchen. „Ich war zuerst bei ihr im Kinderhaus und habe sie behandelt, bevor ich hierhergekommen bin. Deswegen hat es auch so lange gedauert, bis ich hier war.“

Er hatte sie behandelt. „Wie … wie geht es ihr?“

„Soweit ganz gut. Ich habe ihr für die Kratzer vom Maisfeld eine Salbe gegeben und ihr einen neuen Keychip eingesetzt. Der Schnitt an ihrer Hand war nicht halb so schlimm wie bei dir.“

Vermutlich, weil nicht zwei Leute in der Wunde herumgestochert hatten, um den Chip zu entfernen.

„Sie macht sich Sorgen um dich, Kismet“, fügte er noch leise hinzu, während er mit der Spritze die Wunde ausspülte. Es brannte ein bisschen. „Sie fürchtet, dass du etwas Unbedachtes tust, um zu ihr zu kommen. Ich soll dir von ihr ausrichten, dass es ihr gut geht und du keine Angst um sie haben brauchst.“

Der Kloß in meinem Hals gewann an Größe. Ich schaffte es kaum die Tränen herunterzuschlucken, die in meinen Augen brannten. „Ich habe versagt“, flüsterte ich leise. „Ich konnte sie nicht retten. Ich kann nicht mal mich selber retten.“

Killian hielt inne und schien einen Moment versucht, mir tröstend die Schulter zu tätscheln, ließ es dann aber doch und kümmerte sich lieber weiter um meine Hand.

Eine weitere Spritze kam zum Einsatz, die mir nicht nur den Schmerz nahm, sondern meine ganze Hand taub werden ließ – das war ein seltsames Gefühl. Gleich darauf suchte er aus seiner Tasche Nadel und Faden und begann die Wunde zu nähen.

„Ich glaube, du bist stärker als du denkst.“ Er schaute mich nicht an, während der das sagte. „Du bist es nur nicht gewohnt, dich dem Druck anderer zu unterwerfen. Das gibt dir ein Gefühl der Machtlosigkeit. Aber du bist nicht machtlos, Kismet. Du bist eine starke Frau und du wirst dich mit deiner Situation arrangieren können. Es braucht eben nur ein bisschen Zeit.“

Arrangieren. Fast hätte ich geschnaubt. „Ich werde tun was sie mir sagen. Mir bleibt gar nichts anderes übrig.“ Die Worte laut auszusprechen tat so weh, denn sie waren die Wahrheit. Wie Agnes bereits gesagt hatte, ich gehörte nicht länger mir selber, ich war nun Teil des Systems und es war einfach nur dumm, noch auf etwas anderes zu hoffen.

Ja klar, heute war mir die Flucht fast gelungen, aber der Preis, den ich dafür hatte zahlen müssen, war hoch gewesen. Sollte ich es noch einmal versuchen und es gelang mir wieder nicht, würde ich das wenige was mir noch geblieben war, auch noch verlieren.

Meine Haut ziepte leicht, als Killian den letzten Stich mit einem Knoten verschloss und den Faden abschnitt.

„Der Faden muss nicht gezogen werden, er löst sich nach ein paar Tagen von alleine auf.“

Genauso war es bei mir. Ich musste mich von meinem alten Leben lösen, es von mir abtrennen, um mich auf das besinnen, was übrigblieb. Und dann würde ich mich langsam darin auflösen. Unwiderruflich. „Ich will das nicht“, sagte ich leise. „Warum darf ich nicht einfach gehen?“

„Weil du zu wertvoll bist, als dass wir dich an die Alte Welt verlieren können.“

„Ich wünschte ich wäre nichts wert“, flüsterte ich mit erstickter Stimme und hasste es, wie sehr man mir meinen Kummer anhören konnte.

„Der Wert eines Menschen wird nicht an seiner Fruchtbarkeit gemessen, Kismet. Selbst wenn du keine Eva wärst, würden wir dich hier brauchen. Wir brauchen jeden Menschen.“

„Aber ich brauche euch nicht.“ Ich zog die Knie an meine Brust und schlang meinen freien Arm darum, während Killian eine vertraute Spritz mit einem neuen Keychip herausholte.

„Ich weiß, dass du den Zwang hier verabscheust und auch ich bin kein Anhänger davon, aber wir arbeiten für eine gute Sache und ich glaube, es ist Zeit, dass du dich an den Gedanken deiner Zukunft gewöhnst. Versuch dich wenigstens ein bisschen dafür zu öffnen. Wir sind alles nur Menschen und wir haben alle die gleichen Bedürfnisse.“

Als er die Nadel an meiner Hand ansetzte, schaute ich weg. Ich wollte nicht sehen, wie Eden erneut in mich eindrang.

„Wir brauchen einander“, fügte er noch leise hinzu. Das vertraute Piepen des Scanners war zu hören, als er ihn über meine Hand zog, um den Chip im System zu speichern. „Gemeinsam sind wir stark.“

Ich war auch stark gewesen. Bevor sie mich hierhergebracht hatten, konnte mich kaum etwas aus der Fassung bringen. Aber jetzt fühlte ich mich einfach nur noch leer. Ich war schwach. Ich ließ mich von meiner Niederlage niederdrücken und konnte nichts dagegen tun. Es war so aussichtslos.

Das Brennen in meinen Augen wurde stärker und die erste Träne fand ihren Weg über meine Wange. Alles war verloren. Ich war verloren und auch Nikita. Ich würde Marshall nie wieder sehen, nie wieder Azras Geschichten lauschen, oder nachts durch Balics lauten Schnarchen in den Schlaf begleitet werden. Selbst meinen Trotzkopf würde ich nie wieder sehen. Sie alle gehörten zu einem Leben, dass ich nicht mehr haben konnte.

Die nächste Träne fand ihren Weg über mein Gesicht. Und noch eine.

„Kismet.“ Killian streckte seine Hand nach mir aus, doch bevor er mein Gesicht berühren konnte, sprang ich hastig auf die Beine und wich vor ihm zurück.

„Geh jetzt“, verlangte ich mit brüchiger Stimme und schlang die Arme um mich selber. Doch das Gefühl einfach auseinander zu fallen, bis nichts mehr von mir übrigblieb, wollte nicht weichen. „Bitte geh.“ Ich wollte einfach nur alleine sein. Mit etwas Glück, würde ich in meinem eigenen Kummer ersaufen und wäre dann von diesem ganzen Drama erlöst.

„Kismet …“

„Bitte.“ Bevor ich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Ich wollte nicht, dass er sah, wie ich mich in ein heulendes Wrack verwandelte. Wenigstens diese Demütigung konnten die Städter mir doch ersparen.

Er schien nicht willens, mich allein zu lassen. Seine Lippen waren zusammengepresst und zwischen all dem Mitgefühl in seinen Augen lag ein Funke Wut. Doch sie galt nicht mir.

Er schien etwas sagen zu wollen, doch ich schüttelte nur stumm den Kopf und hoffte, dass er einfach verschwinden würde, während ich weiter versuchte diese dummen Tränen zurückzuhalten.

Ergeben griff er nach seiner Tasche, erhob sich von meinem Tisch und wandte sich ohne ein weiteres Wort der Tür zu.

Ich kniff die Augen zusammen, um nicht sehen zu müssen, wie er nach dem Schalter griff, denn ich wollte nur noch allein sein. Gleichzeitig fürchtete ich mich aber plötzlich davor, weil mir klar wurde, wie einsam ich wirklich war. Es war nichts mehr übrig. Ich war ganz alleine. Alles weg. Alles verloren.

Ein leises Schluchzen entwischte mir und als hätte das den Damm gebrochen, konnte ich meine Tränen nun nicht länger zurückhalten. Sie flossen einfach über und bahnten sich ihren Weg über mein Gesicht. Ihren salzigen Geschmack konnte ich auf meinen Lippen schmecken.

Killian blieb mit der Hand am Schalter für die Tür stehen. In seinem Gesicht stand Zwiespalt, bevor er seine Tasche auf meinen Boden stellte und zu mir zurückkam. Als er jedoch die Hand hob um … was-weiß-ich zu tun, wich ich mit einem schnellen Schritt vor ihm zurück.

„Nicht“, schniefte ich und versuchte die Tränen in meinem Gesicht mit meinem Handrücken wegzuwischen, doch es wurden immer mehr. „Geh.“ Und lass mich mit meiner Demütigung alleine.

„Ich werde es keinem sagen“, flüsterte er und trat direkt vor mich. Seine Hand legte sich auf meine Wange und – Gaia möge mir helfen – ich schlug sie nicht weg. „Jeder darf einen schwachen Moment haben, selbst jemand der so stark ist wie du.“

Ich versuchte es zu unterdrücken, aber da nächste Schluchzen bahnte sich seinen Weg und brachte einen neuen Schwall von Tränen mit sich. Mein Herz tat so weh. Ich fühlte mich so allein und völlig machtlos.

„Vertrau mir einfach.“

Als er noch nähertrat und meinen Kopf an seine Brust drückte, verschwand auch der letzte Rest meiner Fassung und ich brach in seinen Armen einfach zusammen. Weinend krallte ich mich in sein Hemd und vergrub das Gesicht an seiner Brust, während er vorsichtig seine Arme um mich schlang und versuchte mit dieser einfachen Geste Trost zu spenden.

„Es ist in Ordnung“, flüsterte er dabei und ließ eine Hand zu meinem Kopf wandern, um vorsichtig durch das kurze, krause Haar zu streichen. „Niemand wird es erfahren.“

 

oOo

Kapitel 35

 

Es war kurz nach sechs am Morgen, als ich es satthatte, mich von einer Seite auf die andere zu drehen und die Beine aus dem Bett schwang. Ich fühlte mich wie gerädert und mein Kopf teilte mir sehr deutlich mit, was er von dem wenigen Schlaf hielt, den ich meinem Körper aufgezwungen hatte. Es war wie damals, als ich mit Marshall Balics Schnaps getrunken hatte. Naja, ganz so schlimm war es zum Glück nicht – aber nahe dran.

Seufzend erhob ich mich und schlurfte durch die Suite ins Bad für die Morgenwäsche. Nach der Dusche ging es mir schon ein wenig besser, auch wenn die dunklen Ringe unter meinen Augen etwas anderes behaupteten.

Sie erzählten von einer tränenreichen Nacht voller Hoffnungslosigkeit, die mich auch jetzt wieder zu überwältigen drohte. Alles hatte sich geändert. Nicht nur weil sie jetzt offen zugaben, dass ich eine Gefangene war, die ihrem Wohlwollen ausgeliefert war. Viel schlimmer war Nikita. Carrie hatte mich gewarnt, aber ich hatte trotzdem nicht anders handeln können. Und nun bestand die Gefahr, dass sie sie mir ganz vorenthalten würden, wenn ich nicht mein bestes Benehmen an den Tag legte.

Als ich noch klein war, hatte meine Mutter immer zu mir gesagt, wenn ich ein Problem hatte, sollte ich eine Nacht darüber schlafen. Im Hellen war es meist nicht so schlimm. Sie hatte sich getäuscht. Im hellen betrachtet, fand ich das alles noch viel schlimmer – besonders meinen Zusammenbruch.

Es war nicht so, dass Killian sich darüber lustig gemacht hatte, oder mich für meine Schwäche verhöhnte. Hätte er das getan, könnte ich problemlos damit leben. Aber er hatte Verständnis gezeigt. Nicht Mitleid, einfach nur Mitgefühl. Er hatte mich lange einfach nur im Arm gehalten und versucht Trost zu spenden. Selbst nachdem ich meine Schwäche endlich hatte zurückdrängen können und die Tränen getrocknet waren, hatte er mich nicht losgelassen – nicht bevor ich bereit gewesen war, mich von ihm zu lösen. Und dann war er, mit einem leisen, geflüsterten Abschied, gegangen. Einfach so.

Wahrscheinlich sollte ich mich dafür schämen, in seiner Anwesenheit, so die Fassung verloren zu haben. Aber eigentlich war es mir völlig egal. Ich war einfach nur müde.

Mein Kleiderschrank gab an diesem Morgen auch nicht viel her. Nicht das Eden mir nicht genug Kleidung zur Verfügung stellte, aber … es waren nicht meine. Sie mochten sauber, weich und bequem sein, aber sie gehörten mir nicht. Nichts an diesem Ort gehörte mir. Bei Marshall hatte ich vielleicht nicht viel besessen, doch wenigstens wusste ich dort, dass ich mir die wenigen Sachen verdient hatte.

In nichts als einem Handtuch gehüllt, starrte ich mit dünnen Lippen in den Schrank, bis ich den Anblick einfach nicht mehr aushielt und das Gesicht abwandte. Mir war zum Heulen zumute. Wenn ich doch nur schneller gewesen, oder in eine andere Richtung gerannt wäre. Wenn ich mich doch nur stärker gewehrt hätte. Wenn ich doch einfach nur nicht so dumm gewesen wäre, mich erwischen zu lassen, als ich Nikita aus dem Bus der Tracker hatte holen wollen.

Als Carrie, um kurz nach sieben, gut gelaunt mit meinem Frühstück erschien, und mir einen Stuhl an die Backe quatschte, stand ich immer noch mit nichts als einem Handtuch am Leib mitten im Zimmer. Natürlich machte sie es sich sofort zur Aufgabe, mir ein passendes Outfit für den Tag zusammenzustellen, während sie gleichzeitig meinen mangelnden Appetit kritisierte und anfing, die Vorzüge der einzelnen Adams aufzuzählen. Selbst meine einsilbigen Erwiderungen, konnten sie von ihrem Enthusiasmus, nicht abbringen. Schließlich hatte ich nur noch vier Tage Zeit mich zu entscheiden. Oder besser gesagt drei, weil in vier Tagen würde ich ja bereits zu ihm müssen – wer auch immer der Erwählte sein würde.

Sie redete so lange, ohne auch nur auf die Idee zu kommen, zwischendurch mal Luft zu holen, bis es an der Zeit war, ins Freizeitcenter zu fahren, um meiner stumpfinnigen Arbeit nachzukommen.

„Sie könnten sich ja mal mit einigen von ihnen treffen, einfach um sie kennenzulernen“, überlegte Carrie, während sie mich in den Flur schob und meine Zimmertür hinter uns verschloss.

Der Medi-Reif gab einen leisen Piepton von sich, als ich über die Türschwelle trat.

Carrie stockte einen Moment, machte dann aber einfach weiter, als sei nichts gewesen. „Ich könnte die Termine organisieren, wenn sie das möchten. Rein zufällig weiß ich sogar, dass Valentin und Alexander heute Mittag Zeit hätten. Jósa leider nicht, der ist noch mit Luana in seinem Haus – aber nur noch bis morgen.“ Sie lenkte mich Richtung Fahrstuhl, nicht gewillt, mich zur Treppe zu lassen.

Ich verzog das Gesicht.

„Sie könnten ihn also morgen treffen. Am Besten in ihrer Mittagspause. Obwohl ein Abendessen ja auch ganz nett wäre. Er würde sich über eine Einladung sicher freuen.“

„Warum? Weil wir beide Streuner sind, denen der Dreck der Ruinen immer noch in allen möglichen Körperöffnungen steckt?“

Carrie schnalzte missbilligend, nickte aber, als wir am Fahrstuhl ankamen und sie den Rufknopf drückte. „Gemeinsame Interessen oder Ergebnisse können eine Verbindung schaffen. Vielleicht wäre er für den Anfang gar nicht schlecht für sie. Wissen sie was, ich werde morgen einfach einen Termin zwischen ihnen beiden vereinbaren. Ich schicke ihm mal eine Anfrage. Und wenn ich schon dabei bin, frage ich Valentin und Alexander ob sie in ihrer Mittagspause heute schon etwas vorhaben.“ Gesagt getan. Sie zog ihren Screen aus der Tasche und widmete ihm die nächste Minute ihre ganze Aufmerksamkeit.

Himmlische Ruhe erfüllte den Korridor. Leider entstand diese Ruhe nur, weil Carrie es sich heute offensichtlich in den Kopf gesetzt hatte, mich an den Mann zu bringen. Das machte mich nicht nur nervös, sondern auch unruhig. Ihr aber zu sagen, wohin sie sich ihre Ideen stecken konnte, würde meine Position nicht gerade verbessern. Ich sah es geradezu vor mir, wie ich ihr ganz sachlich erklärte, dass jeder Mann, der mir zu nahem kam, von mir einen operativen Eingriff bekommen würde, der ihn umgehend zur Frau machen würde.

Ja genau, Gewaltandrohungen waren im Moment genau das was ich brauchte.

Ungeduldig verschränkte ich die Arme vor der Brust und starrte auf die Fahrstuhlanzeige. Er steckte irgendwo in der neunten Etage fest und schien nicht gewillt, sich dort in der nächsten Zeit wegzubewegen. Vielleicht sollte ich einfach zur Treppe gehen. Carrie konnte sicher auch alleine auf den Fahrstuhl warten.

„So, erledigt. Wenn …“ Sie wollte ihren Screen gerade wieder in ihre Tasche stecken, als er einen Signalton von sich gab. „Moment.“ Sofort begann sie wieder darauf herumzutippen.

Zeitgleich hörte ich, wie die Tür zur zweiten Suite auf dieser Etage geöffnet wurde. Celeste kam in einem hellblauen Sommerkleid heraus, stockte als sie mich sah und lächelte dann. „Guten Morgen.“

„Morgen“, begrüßte Carrie sie.

Ich richtete meinen Blick wieder auf die Anzeige und endlich entschloss der Aufzug sich dazu, unserem Ruf zu folgen und sich in Bewegung zu setzen.

„Ah, Valentin hätte heute Abend für Sie Zeit“, verkündete Carrie zufrieden. „Möchten sie lieber zu ihm gehen, oder wollen sie sich irgendwo mit ihm treffen?“

Ich starrte sie an wie ein Dromedar, das kurz davor war, seine Körpergase zu reduzieren. Ich musste wissen wie das aussah, schließlich war das eine der Lieblingsbeschäftigungen von meinem Trotzkopf.

„Wahlweise könnten sie ihn auch in einem Lokal, oder im Club treffen.“

Celeste gesellte sich zu uns und auch wenn sie so tat, als würde sie nicht zuhören, wusste ich genau, dass sie jedes Wort registrierte.

Wieder piepte Carries Screen, genau Zeitgleich mit dem Fahrstuhl, der nun seine Pforten für uns öffnete. Das gab mir einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken, wie ich möglichst unauffällig aus der Sache wieder rauskam.

Meine Gedanken wurden jedoch unterbrochen, als Carrie mich in den Fahrstuhl scheuchte und mich bis nach hinten in die Ecke drängte, damit Celeste auch noch hereinkam. Ihr war wohl entfallen, wie groß dieser Aufzug war.

„Valentin macht den Vorschlag, heute Abend um sechs in Finns Bistro zu speisen. Was halten sie davon?“

„Meine ehrliche Meinung? Ich halte das für eine schlechte Idee. Er ist schließlich kein dreckiger Streuner wie ich, sondern ein porentief reiner Edener.“ Das war doch mal diplomatisch.

„Also um sechs im Bistro.“ Carrie widmete sich erneut ihrem Screen.

Fast hätte ich aus lauter Verzweiflung die Hände ich die Luft geworfen. Warum fragte sie mich eigentlich, wenn sie die Entscheidung doch über meinen Kopf hinweg traf?

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass Celeste mich beobachtete. Ich funkelte sie an. „Was?“

Ihr Blick huschte kurz zu Carrie, bevor sie den Verband an meiner Hand betrachtete. „Ich will ja nicht neugierig sein, aber stimmt es, dass du gestern einen Wagen gestohlen hast und damit durch eines der Stadttore gebrochen bist?“

Was? „Nein.“ Aber sollte ich noch mal auf die dumme Idee kommen, von hier verschwinden zu wollen, sollte ich es vielleicht mal so versuchen. Woher wusste sie überhaupt davon? Es war gestern schließlich schon spät gewesen, als sie mich und Nikita ins Herz zurückgebracht hatten. Und wenn sie davon wusste, wem war mein Versagen sonst nach zu Ohren gekommen?

Wieder piepte der Screen.

„Valentin sagt, dass er sich schon darauf freut dich persönlich kennenzulernen“, erklärte Carrie und ließ das tückische Teil, dass es sich wohl zu Lebensaufgabe gemachte hatte, mein Leben zu ruinieren, endlich wieder in ihrer Tasche verschwinden.

„Das ist dann wohl der Moment, in dem ich vor Freude an die Decke springen sollte“, murrte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.

Carries missbilligendes Schnalzen kam nicht wirklich unerwartet, das Lächeln, das an Celestes Lippen zupfte, dagegen schon.

Ach, wahrscheinlich machte sie sich nur über mich lustig. Wenn man bedachte, dass sie sehr viel Zeit mit Sawyer verbrachte, war dieser Gedanke nicht wirklich abwegig.

Es dauerte noch eine gefühlte Ewigkeit, bis der Fahrstuhl endlich im Erdgeschoss ankam und ich der Enge dieser Todesfalle entkommen konnte. Dabei bemerkte ich sehr wohl, wie Celeste mich schon wieder beobachtete. Und auch, wie intensiv sie mich musterte.

Wahrscheinlich hatte sie nur etwas Falsches gegessen und jetzt wurde sie Verdauungsbeschwerden geplagt.

Ich ignorierte sowohl sie, als auch Carrie, als wir den Turm verließen und in einen strahlenden Sommertag traten. Keine Wolke am Himmel, es würde wieder warm werden.

„Uh, da ist er ja schon. Bis später vielleicht.“ Celeste ließ uns stehen und eilte die große Freitreppe hinunter. Dass sie sich auf ihren hochhackigen Schuhen dabei nicht die Beine brach, war bewundernswert.

Sie hielt direkt auf einen wartenden Wagen des Fahrdienstes zu, an dessen Karosserie Sawyer mit verschränkten Armen lehnte. Er schaute ihr entgegen, ließ seinen Blick dann aber auf mich gleiten.

Meine Schritte verlangsamten sich, als er mich so intensiv betrachtete. Meine eh schon schlechte Laune, sank noch eine Etage tiefer. Warum starrte er mich so an, hatte er nichts Besseres zu tun? Er hörte damit nicht mal auf, als Celeste ihm die Arme um den Hals legte und ihm zur Begrüßung einen Kuss gab.

Ich wandte das Gesicht ab, um es nicht sehen zu müssen. Von den Liebesbekundungen zwischen den beiden, war ich schon viel zu oft Zeugin gewesen, da brauchte ich keine Auffrischung.

Eine Gruppe von vier Männern geriet in mein Sichtfeld. Gardisten. Nur einer von ihnen trug einen Helm auf dem Kopf, die anderen hatten ihn sich unter den Arm geklemmt. Einer der Männer war wirklich riesig und hatte ein so breites Kreuz, dass sich ein ganzes Haus dahinter verbergen konnte.

Ich blieb stehen und runzelte die Stirn. Aber das war doch …

Carrie lief ein paar Stufen weiter, bevor sie merkte, dass ich stehen geblieben war. „Kismet?“

Ohne auf sie einzugehen, brachte ich die letzten Stufen hinter mich und näherte mich den Gardisten.

„ … eigentlich nur beobachten“, sagte einer der Männer. „Bleiben sie in meiner Nähe und …“

„Wolf?“, fragte ich und unterbrach damit den Kerl.

Alle vier Männer drehten sich zu mir herum. Der Riese sah mich und begann zu lächeln. Es war wirklich Wolf. Und er trug eine Uniform der Gardisten. Das war mal gar nicht seltsam.

Nach allem was mir passiert war, war es kaum zu glauben, aber ich verspürte bei seinem Anblick wirklich sowas wie Freude. „Hey, was machst du denn hier?“

Er zupfte etwas unbeholfen an seiner Uniform, als wollte er mich darauf aufmerksam machen.

„Du bist jetzt ein Gardist?“

„Nein, ist er nicht“, teilte mir der Mann mit, der zuvor schon gesprochen hatte. Er hatte kurzgeschorenes, braunes Haar, ein kantiges Kinn und eine schiefe Nase. Es sah aus, als wenn sie einmal gebrochen und nie wieder richtig zusammengewachsen wäre. „Aber er wird es sein, wenn er seine Ausbildung bei mir erfolgreich abgeschlossen hat.“

Ich bedachte ihn mit all der Herablassung, die ich für einen anderen Menschen aufbringen konnte. „Habe ich mit dir gesprochen? Nein.“ Ich wandte mich wieder Wolf zu und fand sofort mein Lächeln wieder. In den letzten Wochen hatte ich immer mal wieder an ihn gedacht und mich gefragt, was sie wohl mit ihm gemacht hatten. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, dass er sich der Garde angeschlossen hatte. „Geht es dir gut?“

Er nickte, hob dann einen Finger und berührte damit zögerlich den Verband an meiner Hand. Seine Augenbraue wölbte sich fragend.

Meine gute Laune bekam sofort wieder einen Dämpfer. „Ach das, das ist nicht so schlimm.“

Es war mehr als offenkundig, dass er mir nicht glaubte, aber vor so vielen Zeugen, gab es keine Möglichkeit, ein vertrauliches Gespräch zu führen.

Wolf hob eine Hand und berührte mich an der Schläfe, da wo ich die Platzwunde gehabt hatte. Dann schien ihm aufzugehen, was er da tat und seine Wangen röteten sich verlegen.

„Ist schon gut“, sagte ich und tätschelte seine Brust. „Kommst du klar? Sind sie gut zu dir?“

In seinen Augen flackerte eine Emotion auf, war aber so schnell wieder verschwunden, dass ich sie nicht benennen konnte. Als er nickte, tat er es weitaus förmlicher als zuvor.

Ich runzelte die Stirn und versuchte zu verstehen, was er mir damit sagen wollte, doch bevor der Geistesblitz einschlagen konnte, rief Carrie hinter mir lautstark meinen Namen.

Ich schloss einen Moment die Augen und atmete tief durch. Nicht dass dies in meiner Situation irgendwie geholfen hätte.

„Kismet, bitte, wir müssen jetzt wirklich los.“

Ja, weil die Welt untergehen würde, wenn ich nicht rechtzeitig da war, um Gläser mit Getränken an durstige Kunden zu verteilen. Ich schenkte Wolf ein schiefes Lächeln. „Die Pflicht ruft.“

Seine Augen schossen zu Carrie und dann wieder zu mir. Er drückte die Lippen leicht aufeinander.

„Ich komme schon klar“, versicherte ich ihm und trat einen Schritt zurück. „Naja, wenn du jetzt auch hier arbeitest, dann sehen wir uns bestimmt hin und wieder.“

Er nickte.

„Dann bis zum nächsten Mal.“ Ich hob die Hand und entfernte mich dabei rückwärts von ihm. „Und immer schön artig bleiben.“

Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, doch es war ganz und gar nicht herzlich gemeint.

„Kismet.“

Nicht herumzufahren und sie anzuschnauzen, war eine Meisterleistung meinerseits. Aber einen bösen Blick durfte ich auf sie abfeuern. Dabei bemerkte ich, dass Sawyer noch immer am Wagen stand und mich nachdenklich beobachtete. Celeste saß bereits im Wagen und auch er war schon halb eingestiegen, doch offensichtlich war mein Zusammentreffen mit Wolf interessant genug, um mich ein wenig zu begaffen.

„Was?“, fragte ich gereizt.

Sawyer blinzelte nicht einmal. Er schaute nur noch einmal kurz zu Wolf und stieg dann auch in den Wagen.

Während er und Celeste davonfuhren, scheuchte Carrie mich zu einem anderen Auto. Ja sie schubste mich praktisch hinein und schimpfte ununterbrochen, dass wir nun zu spät kommen würden. Mir war es gleich. Meine Gedanken waren bei Wolf und dem unerwarteten Treffen. Nie im Leben hätte ich geglaubt, ihn einmal bei den Gardisten zu sehen. Nicht dass er da nicht hineingepasst hätte, er war schließlich ein ziemlich großer und auch gut trainierter Mann. Andere zu schützen, würde ihm sicher nicht schwerfallen. Nur … irgendwie passte das nicht.

Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er in Ketten gewesen und wurde bewacht, da er sich nach Leibeskräften gegen die Edener widersetzt und gewehrt hatte. Und nun war er so gut intrigiert, dass sie ihm einen Sicherheitsposten gaben?

Gut, wenn er sich wirklich fügte, dann würde das schon Sinn machen, aber der Mann, den ich kennengelernt hatte, der wollte sich nicht so einfach fügen. Hatten sie irgendwas mit ihm angestellt? Ihn unter Druck gesetzt, oder ihm eine Gehirnwäsche verpasst? Oder war das seine Version von Einfügen und Vertrauen gewinnen, um auf diese Art einen Weg hier raus zu finden? Wenn es der letzte Punk war, dann hatte er auf jeden Fall eine viel bessere Ausgangsposition als ich.

Was auch immer im letzten Monat mit ihm geschehen war, vorerst würde ich es wohl nicht erfahren und im Augenblick hatte ich auch ganz andere Probleme. Allem voran eine Verabredung am Abend, die ich nicht haben wollte.

Über den Tag versuchte ich mich von meinem bevorstehenden Stelldichein mit Valentin abzulenken. Ich hatte nicht nur keine Lust darauf, allein bei dem Gedanken daran, stellten sich mir an allen möglichen Stellen die Härchen auf und gaben meinem Fluchtreflex neue Nahrung. Leider war das Ausgeben von Getränken nicht sehr fordernd und auch Carrie, die scheinbar nichts anderes mehr im Kopf hatte, erinnerte mich ununterbrochen mit ihren Ratschlägen über Konversation, Verhalten und die passende Kleidung, an das bevorstehende Treffen, das meine Zukunft besiegeln konnte. Sie pochte mehr als einmal darauf, mich ganz natürlich zu geben. Es gebe keinen Grund mich zu verstellen, betonte aber gleichzeitig, dass ich doch vielleicht ein paar Eigenarten ablegen sollte – wie meine nur allzu offensichtliche Feindseligkeit gegen Eden und alles was damit zu tun hatte.

Außerdem betonte sie die ganze Zeit, dass ich mit dieser Verabredung kein festes Arrangement einging und mich jederzeit auch für jemand anderes entscheiden konnte. Es war schließlich nur ein Treffen, um ihn ein bisschen kennenzulernen. Leider war das gar nicht das Problem und das wussten wir beide.

Um ihren endlosen Reden zu entkommen, flüchtete ich mich auf die Toiletten. Leider konnte ich mich dort nicht ewig verstecken, denn wenn ich zu lange abwesend wäre, würde Carrie das Yards auf mich hetzen. Also marschierte ich nach getaner Arbeit wieder in den Gästeraum und wäre fast in Sawyer hineingelaufen – mal wieder.

Er schaute mich einen Moment überrascht an, machte den Mund auf, schloss ihn aber sofort wieder.

„Darf ich mal?“, fragte ich nicht sehr höflich und drängte mich an ihm vorbei, bevor er antworten konnte oder auch nur die Gelegenheit bekam, mir aus dem Weg zu gehen. Ihn brauchte ich heute am allerwenigsten.

Sobald ich wieder hinter dem Tresen stand, legte Carrie ihren Screen auf der Abstellfläche ab und erzählte mir überschwänglich, dass auch Alexander sich nun gemeldet hatte. „Er meint, er würde sie gerne kennenlernen, aber an ihrem Stichtag kann er leider nicht teilhaben, weil er sich ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt bereits mit Moa in der Fekundation befindet.“

„In der was?“ Konnte man das essen?

„So nennen wir die Zeit, in der sich ein Adam und eine Eva zurückziehen, um ein Kind zu zeugen.“

Also konnte man das nicht essen. „So ein Pech aber auch.“ Ich wartete auf das missbilligende Schnalzen, wurde dieses Mal aber enttäuscht.

„Ich bin nicht gerne negativ, aber sie sind wirklich undankbar. Wir geben uns wirklich die größte Mühe, um sie hier …“

„Kiss!“ Roxy stürmte an den Tresen und unterbrach Carrie damit. Naja, es war weniger ein Stürmen, als vielmehr ein Watscheln. Und um sich mit den Unterarmen auf dem Tresen abzustützen, musste sie sich wirklich weit über ihren dicken Bauch lehnen. „Stimmt es was sie sagen? Hast du die Flucht ergriffen und bist ihnen um ein Haar entkommen?“

Ich blickte auf und drückte die Lippen aufeinander. Sie war nicht die erste, die mich so direkt danach fragte und sie würde vermutlich auch nicht die letzte sein. „Ich will nicht darüber reden.“

Ihr Augen leuchteten begeistert auf. „Das war kein Nein.“

Ich schüttelte den Kopf und bemerkte dabei Sawyer, der nicht weit vom Tresen entfernt, mit Celeste, an einem Tisch saß und mich beobachtete. Schon wieder. Er war bereits vor mir im Club gewesen und immer, wenn ich den Kopf hob, oder ihn zufällig mit dem Blick streifte, beobachtete er mich. Manchmal nachdenklich, manchmal spöttisch, manchmal mit turmhoher Arroganz, aber immer lag sein Blick auf mir. Das wurde langsam richtig unheimlich.

Ich bedachte ihn mit dem Blick des Todes und widmete mich dann wieder meiner Bestellung. Doch das Gefühl von ihm beobachtet zu werden, wollte nicht weichen. Selbst Roxys unaufhörliches Schnattern, konnte mich nicht davon ablenken.

Als Archie seinen massigen Körper hinter den Tresen schob, hoffte ich von ihm auf ein bisschen Ablenkung. „Kannst du mal ins Lager gehen und neues Wasser holen?“

 „Klar, ich mache nur noch die Bestellung fertig.“ Das war noch so eine Sache, die ich nicht verstand. Sie hatten hier sauberes und klares Wasser aus Leitungen, aber sie tranken es nur aus Flaschen, oder Gläser. Und aus den Gläsern tranken sie auch nur das Wasser aus den Flaschen. Als wenn es so viel anders wäre.

Würde das jetzt der Inhalt meines Lebens werden? Absurde Gedanken über Wasser und unter ständiger Beobachtung von allen Seiten?

Hatte ich gestern Morgen noch gedacht, ich sei eine Gefangene ohne Freiheiten, so wusste ich nun, was diese Worte wirklich bedeuteten.

Kaum waren diese Gedanken wieder da, bekam ich sie nicht mehr aus dem Kopf. Immer und immer wieder spielte sich der gestrige Tag vor meinem inneren Auge ab und aus der ausweglosen Hoffnungslosigkeit, wurde langsam aber sicher eine brennende Wut, die ich kaum noch bändigen konnte. Als die habgierigen Worte von Agnes zum bestimmt tausendsten Mal durch meine Gedankenwelt geisterten, knallte ich eines der Gläser mit so viel Wucht auf den Tresen, dass etwas überschwappte und Carrie vor Schreck einen Satz auf ihrem Stuhl machte und mich vorwurfsvoll anfunkelte.

„Ich weiß, dass sie schlechte Laune haben, aber deswegen müssen sie ihren Ärger noch lange nicht an der Einrichtung auslassen.“

Ich biss mir auf die Zunge. Das war immer noch besser, als sie anzufahren und damit weitere Konsequenzen auf mich zu nehmen.

Sie gehören mir und solange ich es nicht erlaube, werden sie nicht gehen.

Das nächste Glas knallte ich mit genauso viel Wucht neben das erste und ignorierte Carries Schnalzen.

„Also wirklich“, murrte sie nur und wandte sich wieder ihrem Screen zu. „Auf diese Art werden sie es niemals schaffen, ihre Probleme in den Griff zu bekommen.“

Ich verkniff es mir ihr zu sagen, dass ein Großteil meiner Probleme sich einfach in Luft auflösen würden, wenn ich auf-nimmer-Widerehen durch diese beschissenen Tore spazieren dürfte. Stattdessen wischte ich mit einem Lappen meine Kleckerei auf, schob eines der Gläser zu Roxy und drängte mich an Archie vorbei.

In dem Versuch, diesem Abgrund des menschlichen Genies so schnell wie möglich zu entkommen, hielt ich mich nicht mit langen Reden auf. „Ich bin mal eben im Lager.“

„In Ordnung, Liebes.“

Auch darauf verkniff ich mir einen Kommentar.

„Denken sie daran, fünfzehn Minuten. Wenn Sie dann nicht wieder hier sind, gebe ich den Yards Bescheid“, fügte sie noch leichthin hinzu. Dabei hielt sie es nicht einmal für nötig, ihren Kopf von dem blöden Screen zu heben.

Zähneknirschend verließ ich den Gastraum und machte mich auf den Weg in den hinteren Teil des Clubs. Sollte sie doch die Yards rufen. Sie würde schon sehen, wie lächerlich sie sich damit machte, die Leute völlig umsonst auf den Plan zu bringen. Schließlich hatte sie noch immer ein hervorragendes Druckmittel, das verhinderte, dass ich mich aus dem Staub machte.

Meine Schicht war fast vorbei und trotzdem schien der Tag kein Ende nehmen zu wollen. Vielleicht kam daher auch meine absteigende Laune.

Neben meiner beißenden Wut, schlich sich die Hoffnungslosigkeit wieder ein und machte es sich dort gemütlich. Es war aussichtslos. Die ganze verdammte Situation war aussichtslos. Sie hatten mich in der Hand und ich wusste nicht mehr, was ich noch dagegen unternehmen sollte.

Die Mischung meiner Gefühle ließ meinen Körper vor Anspannung zittern. Im Lager angekommen, bebten meine Hände so stark, dass ich mehrmals tief einatmen musste, um mich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ich konnte nicht vermeiden, dass meine Gedanken zu Marshall drifteten. Insgeheim wollte ich noch immer sein kleines Mädchen sein. Beschützt und behütet durch seine Stärke. Ich wollte, dass er herkam und mich nach Hause holte. Ich wollte, dass meine Welt mit seiner Hilfe wieder in Ordnung kam.

Aber er würde nicht kommen. Jemand wie er, würde niemals freiwillig in die Nähe von Eden gehen – nicht mal für mich. Angst und Überlebenswille hielt ihn fern. Und er konnte auch gar nicht kommen. Er hatte noch zwei andere Leute in seiner Gruppe, um die er sich kümmern musste. Ohne ihn wären sie aufgeschmissen.

Ich zwang mich mit den Gedanken an ihn und an das, was ich verloren hatte, aufzuhören, weil ich mich damit nur selber quälte. Stattdessen tauchte ich tiefer in das Lager ein. Es war ein sehr großer Raum, der durch drei Reihen Stützpfeiler ein wenig unterteilt war. Seitlich gab es ein großes Tor für die Lieferanten, dass meistens offen war, um die drückende Sommerhitze ein wenig zu dämpfen. Dort standen auch die Müllcontainer. Die Aussicht allerdings war miserabel, denn es war nur ein Hof und die Rückseite eines der Geschäfte aus der Ladenstraße.

Mein Weg führte mich an dem Tor vorbei, tiefer in das Lager hinein. Die Getränke standen ordentlich gestapelt in Kisten und Regalen. Gerade, als ich damit begann, die Kisten durchzusehen, vernahm ich ein leises Geräusch, dass hier überhaupt nicht hineinpasste. Ein Schaben wie von Schuhen, die über den Betonboden scheuerten. Es war nur kurz und leicht zu überhören, dann war alles wieder still. Aber ich hatte es gehört und ich war mir sicher, niemand anderem im Lager gesehen zu haben.

In den Ruinen war es wichtig, auch auf die kleinsten Geräusche zu achten. Es war eine antrainierte Fähigkeit, die mir schon mehr als einmal den Arsch gerettet hatte und so ins Blut übergegangen war, dass ich sofort unbewusst reagierte. Also ignorierte ich die plötzlichen Warnsignale in meinem Kopf nicht, sondern lauschte in die Stille hinein.

Eine Minute, in der ich mich keinen Millimeter bewegte, verstrich. Und dann noch eine. Mein Atem war ruhig, auch wenn mein Herz ein wenig schneller schlug und meine Muskeln beinahe vor Anspannung vibrierten.

Ich wartete darauf, dass sich das Geräusch wiederholte, oder ich etwas anderes hörte, das nicht hier her passte, aber selbst nach mehreren Minuten blieb alles still. Vielleicht hatte ich mich ja doch getäuscht. Ich glaubte es zwar nicht, aber es war durchaus möglich, besonders im Moment, wo meine Gedanken sowieso das reinste Chaos waren.

Wachsam bückte ich mich wieder nach den Kisten und suchte sie systematisch nach den Wasserflaschen ab. Die Belastung der letzten Tage und Wochen machte sich langsam bemerkbar, genau wie die Angst vor meiner bevorstehenden Zukunft. Wahrscheinlich hatte ich mich wirklich getäuscht. Wie lächerlich, jetzt hörte ich schon Gespenster.

Ich hatte mich ungefähr bis zur Mitte vorgearbeitet, als ich endlich die Kästen mit dem Wasser fand. Ich schnappte mir den Obersten, wäre unter dem Gewicht fast zusammengebrochen und stellte sie vorsichtshalber schnell auf dem Boden ab, bevor sie mir aus der Hand rutschte. In dem Moment knurrte mir jemand ein verärgertes „Na endlich“ ins Ohr. Dann wurde ich mit einem festen Griff an der Schulter gepackt.

Ich handelte rein instinktiv, wirbelte herum und holte aus. Bevor ich den überraschten Blick meines Gegenübers registrierte, oder in welchem Gesicht er klebte, traf meine Faust bereits ihr Ziel – direkt gegen eine männliche Brust.

Ein Keuchen. Der Mann, der es ausstieß, taumelte rückwärts und knallte mit dem Rücke gegen das Regal hinter sich. Es wackelte, blieb aber stehen. „Bei Gaias Abgründen“, knurrte er und rieb sich luftschnappend die schmerzende Stelle, während er mich böse anfunkelte. „Was stimmt nicht mit dir?“

Verflucht noch mal, das gab es doch nicht. „Sawyer?“

„Na was hast du denn geglaubt, wem du hier hinten begegnen könntest? Vielleicht einer guten Fee, die dir drei Wünsche erfüllt?“ Die Verärgerung war ihm deutlich anzuhören.

„Was verdammt noch mal machst du hier?“ Hatte er nicht eben noch im Gästeraum gesessen? „Du hast mich erschreckt.“

„Das habe ich bemerkt“, erwiderte er trocken und richtete sich auf. Dabei rieb er sich erneut vorsichtig über die Brust. „Scheiße, hast du einen heftigen Schlag.“

Es klang nicht wirklich wie ein Kompliment – wahrscheinlich, weil es keines war – aber ich hieß das leichte Gefühl der Befriedigung willkommen. „Du hättest dich eben nicht so anschleichen sollen.“

„Anschleichen?“ Er gab ein höhnisches Schnauben von sich. „Ich bin einfach hinter dich getreten. Konnte ja keiner ahnen, dass du schreckhaft wie eine Maus bist.“

Schreckhaft? Ich war nicht schreckhaft.

Trotzdem war es seltsam, dass er sich hier herumtrieb, das war schließlich kein öffentlicher Ort, an dem man sich rein zufällig über den Weg lief. Vorsichtshalber wich ich einen Schritt vor ihm zurück. Das war das vierte Mal, dass ich ihm heute begegnete und langsam wurde ich wirklich misstrauisch. „Was machst du hier?“

Sawyer, der noch immer prüfend seine Brust betastete, schaute verärgert auf. „Dich abpassen, was sonst? Aber da das kleine Baby, die ganze Zeit von einem sehr anhänglichen Schatten verfolgt wird, ist es gar nicht so einfach, dich alleine zu erwischen.“

Dieser großspurige Ton in seiner Stimme ließ ich auf der Stelle finster das Gesicht verziehen. Baby, also langsam hatte ich wirklich genug davon, so genannt zu werden. „Also habe ich mir das nicht eingebildet und du hast mich wirklich den ganzen Tag beobachtet.“

„Bilde dir bloß keine Schwachheiten ein.“ Er strich sich noch ein letztes Mal verstimmt über die Brust und ließ die Arme dann sinken. „Ich habe wirklich besseres zu tun, als dir den ganzen Tag hinterherzuschleichen.“

„Da bin ich mir nicht so sicher“, murmelte ich so leise, dass er es eigentlich nicht hören dürfte. Da seine Augen aber ein paar Grad kälter wurden, hatte er wohl bessere Ohren als ich angenommen hatte.

„Ich muss mir dir sprechen, okay? Allein.“

Das waren ja ganz neue Töne. Und sie machten mich erst recht misstrauisch. „Warum willst ausgerechnet du mit mir sprechen?“ Besonders, da er in den letzten Tagen nur innegehalten hatte, um mich anzuschnauzen.

„Von wollen kann keine Rede sein. Viel lieber hätte ich dir einen Brief geschrieben, aber du kannst ja nicht lesen.“

Warum nur klang das aus seinem Mund wie eine Beleidigung? „Die Worte freier Mensch und Lesen, vertragen sich halt nur in den seltensten Fällen.“ Ob er den Schlag unter die Gütelinie verstanden hatte?

„Dafür, dass du im Moment richtig schön in der Scheiße sitzt, hast du aber eine ganz schön große Klappe.“

Bastard. „Weißt du was? Lass mich in Ruhe.“ Ich kehrte ihm den Rücken zu und griff nach der Kiste mit den Wasserflaschen. Als ich mich umdrehte, stand er mit verschränkten Armen vor mir und versperrte mir den Weg. „Dürfte ich mal bitte?“

Er ignorierte die Frage. „Es wird nicht funktionieren“, sagte er leise. „Du schaffst es niemals, allein hier rauszukommen. Und schon gar nicht mit deiner Schwester im Anhang.“

Meine Schultern versteiften sich. „Wer sagt, dass ich noch hier wegwill?“ Obwohl von wollen hier nicht die Rede sein konnte. Mein Problem war das Können. Ich konnte nicht weg, ich schaffte es einfach nicht, denn sie wollten mich absolut nicht gehen lassen.

„Verkauf mich nicht für blöd. Dein gestriger Fluchtversuch ist noch in aller Munde. Dass sie dich aus den Augen lassen – auch wenn nur für eine kurze Zeit – grenzt nahezu an ein Wunder.“

Ich biss die Zähne zusammen. Seine Worte fachten meine Wut nur wieder an. „Bist du nur hier, um dich an meinem Leid zu laben? Oder macht es dir einfach Spaß, dich über mich lustig zu machen?“

Die Herablassung in seinem Lächeln, ließ seinen rechten Mundwinkel nach oben klettern. „Es macht schon Spaß, aber deswegen wollte ich nicht mit dir reden.“

„Also hat dein Auftauchen hier wirklich einen Sinn?“ Da das hier scheinbar noch ein bisschen dauerte und die Kiste schwer war, stellte ich sie wieder auf den Boden. Leider stieß ich dabei mit meiner verbundenen Hand gegen den Kasten. Toll, jetzt tat sie wieder weh.

„Ja, denn auch wenn du es dir nicht vorstellen kannst, es zählt nicht zu meinen Hobbys Frauen zu stalken.“

Ich schnaubte, „Ja, ich weiß, du lauerst ihnen lieber in dunklen Ecken auf.“

Seine Augenbraue wanderte ein Stück nach oben. „Du bist ziemlich von dir überzeugt, was?“

Als würde ich darauf auch noch antworten. „Wenn du unbedingt mit mir sprechen wolltest, warum dann diese Heimlichtuerei? Noch ist es schließlich kein Verbrechen sich mit mir zu unterhalten.“ Aber so wie ich Agnes bisher kennengelernt hatte, traute ich ihr durchaus zu, es irgendwann zu einer Straftat zu erheben.

„Weil ich eine Idee habe, wie wir zusammen hier rauskommen können und deswegen ist es besser, wenn man uns vorläufig nicht zusammen sieht. Wir wollen ja nicht, dass irgendwer auf den Gedanken kommt, wir würden etwas zusammen aushecken.“

Schon bei dem Wort „rauskommen“ hatte er meine vollste Aufmerksamkeit. Gleichzeit erwachte aber auch mein Misstrauen. Sawyer wollte Eden verlassen? Bisher hatte ich immer den Eindruck gehabt, er würde sein Leben hier lieben. Trotzdem war da plötzlich wieder ein kleiner Schimmer er Hoffnung. Dafür hätte ich ihm am liebsten verflucht. „Eine Idee?“

„Ja. Sie ist zwar noch nicht ganz ausgereift, aber um ein Vielfaches besser als dein kleiner Ausflug.“

Ausflug. Wie er das sagte. Für den Hohn in seiner Stimme hätte ich ihm am liebsten noch mal gegen die Brut geboxt. Meine Lippen wurden zu einem dünnen wütenden Strich. „Ich habe es bis zur letzten Mauer geschafft.“

„Das Glück der Dummen und Naiven.“

In Ordnung, jetzt reichte es mir. Wüten funkelt ihn an. „Weißt du was, Sawyer? Ich habe es nicht nötig, mich von einem Bastard wie dir verhöhnen zu lassen. Du willst mir zur Flucht verhelfen? Warum bitte solltest du das tun wollen? Beistimmt nicht aus reiner Herzensgüte. Du bist ein Widerling, der jede unserer Begegnungen dazu nutzt, seinem tristen Alltag ein wenig Farbe zu verpassen, indem er auf anderen herumhackt. Du willst von hier fliehen? Ich wünsche dir viel Glück. Ein so armseliges Würstchen wie du, wird es brauchen. Aber jetzt muss ich wieder nach vorne, bevor Carrie die Yards auf eine Hetzjagd nach mir schickt.“

Mit jedem weiteren Wort, war Sawyers Mine versteinert, bis sie zu einer undurchdringlichen Mauer geworden war. Irgendwas davon hatte ihn getroffen. Leider besänftigte das meine Wut nicht, sondern fachte sie nur noch weiter an. Seine Kälte war wie Zunder für das Monster, das langsam in meinem Inneren heranreifte. Deswegen schnappte ich mir den Kasten und drängte mich an ihm vorbei, bevor ich noch etwas Unüberlegtes tat.

„Du wirst es niemals schaffen hier rauszukommen – nicht alleine. Und auch ich werde Eden niemals alleine verlassen können. Zusammen allerdings haben wir eine Chance.“

Gegen meinen Willen ließen seine Worte mich anhalten. Auch wenn ich mich nicht zu ihm umdrehte, ich hörte zu.

„Wir müssen uns nicht mögen, wir müssen nur zusammenarbeiten. Nur zusammen können wir ihnen entkommen.“

Leider musste ich ihm in einem Punkt zustimmen, alleine würde ich es wahrscheinlich nie hier raus schaffen. Unterstützung wäre nicht schlecht. Genaugenommen war es das, was ich bereits die ganze Zeit gewollt hatte. Aber ausgerechnet von Sawyer? Bisher hatte er auf mich nicht den Eindruck gemacht, von hier weg zu wollen. Ganz im Gegenteil, er schien es hier zu lieben.

Mein Misstrauen kehrte zurück. „Warum?“, fragte ich. „Warum willst du hier so plötzlich weg?“

„Es ist nicht plötzlich. Ich suche bereits seit Jahren nach einem Ausweg aus dieser Falle.“ Auf die Eigentliche Frage ging er gar nicht ein.

Das ließ mich nur noch misstrauischer werden. Ich drehte mich halb zu ihm herum. „Du hast meine Frage nicht beantwortet. Warum willst du hier weg?“

Ein Schatten legte sich über seine Augen. „Meine Gründe gehen dich nichts an. Für dich ist nur wichtig, dass ich hier genauso dringend verschwinden will, wie du.“

Da war ich anderer Meinung, aber für den Moment würde ich die Frage zurückstellen. „Und wie willst du das anstellen?“

„Ich habe einen Plan, an dem ich schon eine ganze Weile feile. Aber dafür brauche ich eine Frau die mir hilft – das ist entscheidend.“

Die Überzeugung in seiner Stimme war so stark, dass ich mich nun doch zu ihm umdrehte. „Eine Frau?“

Er nickte lediglich, ohne das näher zu erläutern. „Der Schlüssel zu einer erfolgreichen Flucht, die nicht damit endet, von den Yards mit viel Tamtam zum Turm zurückkutschiert zu werden, sind eine Frau und Salia.“

Natürlich musste er es mir auch noch unter die Nase reiben, dass ich versagt hatte. Arrogantes Arschloch. „Wer ist Salia?“ Irgendwo hatte ich diesen Namen schon gehört.

„Meine Tochter.“

Nun verstand ich gar nichts mehr. „Deine Tochter ist der Schlüssel, um von hier zu entkommen?“

Eine Antwort blieb er mir schuldig. Stattdessen neigte er den Kopf leicht zur Seite und musterte mich auffallend von oben bis unten. „Hast du dich schon für deinen ersten Adam entschieden? Du hast nur noch vier Tage.“

Mein ganzer Körper versteifte sich. Dass er mich ausgerechnet jetzt daran erinnern musste, war wirklich eine miese Nummer. „Was geht dich das an?!“, fauchte ich. Am liebsten hätte ich die Kiste nach ihm geworfen.

Mein kleiner Ausbruch beeindruckte ihn nur leider nicht. Sie verhalf ihm lediglich zu einem Hauch seines arroganten Lächelns. Ich verabscheute dieses Lächeln langsam. „Also nicht.“ Selbstsicher und völlig von sich überzeugt, trat er mit einer raubtierhaften Eleganz auf mich zu, bis er vor mir stand und mir direkt in die Augen schauen konnte. Dass ich dabei ein kleinen wenig zu ihm aufblicken musste, ärgerte mich. Dennoch wich ich kein Stück zurück, auch wenn er mir für meinen Geschmack viel zu nahe war.

„Wenn du erfahren willst, wie wir dieses Loch verlassen können, dann bestimme mich zu deinem Adam.“

Ich schnaubte. Das war völlig absurd.

Aber Sawyer war noch nicht fertig. „Wir werden kein Baby machen. Solange du es nicht willst, werde ich dich nicht mal anfassen, aber wir haben dann fünf Tage Zeit, um den Plan auszuarbeiten, ohne dass uns jemand stören oder belauschen kann.“ Er trat provozierend ein Stück näher. „Nur du und ich ganz allein. Und anschließend winkt die Freiheit.“

Wäre da nicht diese Anzüglichkeit in seiner Stimme gewesen, die mich zu meiner eigenen Verärgerung leicht verunsicherte, hätte ich vielleicht sofort ja gesagt. Aber ich tat es nicht. Davon abgesehen war er ein Adam. Es war gut möglich, dass Agnes ihn darauf angesetzt hatte, mich in sein Haus zu locken. Ich konnte ihm nicht trauen. Ich konnte hier niemanden trauen.

„Du musst dich nicht sofort entscheiden“, erklärte er gönnerhaft und trat endlich von mir zurück. „Aber du solltest dir nicht zu viel Zeit lassen, sonst läufst du hier bald mit einem dicken Bauch herum. Und eines kannst du mir glauben. Je länger du hier bist, desto schwerer wird es ihnen zu entkommen, denn du wirst mit jedem Jahr mehr zu verlieren haben.“

Mit diesen Worten ließ er mich einfach stehen und verschwand aus dem Lager.

 

oOo

Kapitel 36

 

Sobald ich einen Fuß über die Schwelle des NoNames setzte, wurde ich von dem fröhlichen Klingeln eines kleinen Glöckchens begrüßt. Die Räumlichkeiten die sich mir eröffneten, waren hell gehalten. Gerüche von Speisen lagen in der Luft und kitzelten meine Nase. Fetzen gemurmelter Gespräche drangen an meine Ohren, genau wie das Klappern von Besteck.

Es war nur ein kleines Geschäft, in dem neben der Theke gerade mal ein Dutzend Tische Platz hatten. Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum Carrie mit mir sonst immer draußen auf der Sommerterrasse aß. Dort standen noch einmal doppelt so viele Tische und die waren meistens bis auf den letzten Platz besetzt. Hier drinnen dagegen war noch die Hälfte frei. Die Städter schienen sich noch in den letzten warmen Strahlen des Tages auskosten zu wollen.

Ich war bestimmt schon ein Dutzend Mal hier gewesen, hatte die inneren Räume aber noch nie betreten.

Links von mir saß eine Gruppe von drei Frauen, in ein Gespräch vertieft. Eine von ihnen hielt einen Säugling im Arm.

Der Anblick setzte mir zu. Am liebsten hätte ich sofort die Flucht ergriffen.

„Ich werde mich dezent im Hintergrund halten, um euch ein wenig Privatsphäre zu geben.“

Und genau das war der Grund. Mein Wachhund klebte mir noch immer an den Fersen. „Wie wäre es, wenn ich mich stattdessen dezent im Hintergrund halte und du dich mit ihm triffst.“

Das missbilligende Schnalzen überraschte mich nicht. „Ich kenne Valentin bereits.“

Natürlich kannte sie ihn. Carrie schien jeden in dieser Stadt samt Wohnort, Alter und all ihrer dunklen Geheimnisse zu kennen. „Dann weißt du sicher auch, über was ihr beide sprechen könnt.“

„Nun kommen sie schon.“ Carrie schob mich ohne Rücksicht auf Verluste in den Laden und zeigte dann auf einen Tisch am Fenster, wo ein Mann in den mittleren Jahren ganz alleine saß und mich sehr interessiert beobachtete. „Es ist unhöflich jemanden warten zu lassen.“

„Fangen wir besser nicht mit der Definition von Unhöflich an.“

Dieser kleine Seitenhieb wurde von ihr rigoros ignoriert. „Und vergessen sie nicht, sie haben morgen früh zum Frühstück einen Termin im Paradise.“

„Wie könnte ich das vergessen?“, grummelte ich. Dank Carries Bemühungen durfte ich morgen früh Jósa treffen. Ich war nicht mal gefragt worden. Aber warum wunderte mich das überhaupt noch? Hier gab sowieso niemand etwas auf meine Meinung.

„Seien sie nicht so undankbar“, mahnte sie. „Und seien sie nett zu Valentin, er ist ein guter Mann.“

„Juhu.“ Mehr als halbherzig hob ich die Faust mit dem Verband in die Luft. Der Schnitt tat noch immer ein wenig weh.

Carrie ignorierte auch das einfach. „Ich wünsche ihnen viel Spaß. Und keine Sorge, sollte etwas sein, ich bin in der Nähe.“

Nein, das klang in meinen Ohren nicht wirklich beruhigend.

Noch ein ermutigendes Lächeln für mich, dann stöckelte sie auf ihren hohen Absätzen zur Theke und ließ sich dort auf einem Barhocker nieder, nur um den Mann dahinter direkt in ein Gespräch zu verwickeln. Aber mich konnte sie nicht täuschen. Ich wusste ganz genau, dass sie mich im Auge behalten würde.

Langsam setzte ich mich in Bewegung. Es waren nur wenige Meter, die ich überwinden musste, doch leider schien meine Beine mit jedem Schritt schwerer zu werden. Ich wollte das hier nicht, aber aus der Nummer kam ich nicht mehr raus. Ich musste es wissen, schließlich hatte ich es versucht.

Insgesamt waren in dem Raum vier Tische besetzt. Von den drei Frauen abgesehen, gab es da noch zwei Männer, die viel zu sehr in ihr Gespräch vertieft waren, um irgendwas um sich herum wahrzunehmen. Ganz anders das ältere Pärchen, das sich mir drei kleinen Kindern, um einen Tisch in der Mitte gescharrt hatte. Die Frau bemerkte mich sofort, zeigte mit dem Finger auf mich und machte so auch noch ihren Begleiter auf mich aufmerksam.

Ich ignorierte sowohl ihre Blicke, als auch ihre aufdringliche Neugierde und konzentrierte mich mit aller Macht auf mein Ziel. Naja, genaugenommen konzentrierte ich mich darauf, meine Beine in die richtige Richtung zu bewegen, nicht dass sie sich plötzlich in selbständig machen und mich ganz ohne mein Zutun, einfach aus dem Laden trugen.

Und dann stand ich vor ihm. Ein Mann in den mittleren Jahren. Sein blaues Hemd spannte ein wenig über dem Ansatz eines Bäuchleins. Hohe Geheimratsecken zeigten, wo sein Haar bereits einen strategischen Rückzug plante. Seine Nase war ein wenig zu lang und zu spitz für das Gesicht. Seine Haut war sehr blass, doch sein Lächeln war … nett. Nett war ein gutes Wort, völlig unverbindlich. Außerdem war er kein Unbekannter. Nicht das ich schon mal mit ihm gesprochen hätte, aber ich hatte ihn schon ein paar Mal im Paradise gesehen und auch auf der Geburtstagsgala von Agnes.

„Hallo“, begrüßte er mich und musterte mich genauso, wie ich ihn zuvor. Sein Blick wanderte von meinem Gesicht, über mein fliederfarbenes Sommerkleid, mit den weißen Punkten am Saum, bis hin zu meinen nackten Füßen. Mit einem etwas breiteren Lächeln schaute er mir wieder ins Gesicht. „Schön deine Bekanntschaft zu machen. Setz dich doch.“

Ich schaute auf den Platz, schaute dann auf ihn und wollte mich einfach nur davon machen. Und hätte ich gewusst wohin ich rennen konnte, um all dem zu entgehen, hätte ich das vielleicht auch gemacht. Doch wie die Dinge nun mal standen, ließ ich mich einfach schweigend auf den Stuhl sinken und starrte ihn an.

Er nahm sein Glas und nippte an dem Getränk ohne mich aus den Augen zu lassen. Ein Ring aus Kondenswasser blieb auf dem Tisch zurück. „Als ich die Anfrage zu diesem Treffen bekam, war ich ein wenig überrascht – positiv überrascht.“ Die letzten beiden Worte betonte er, als ob sie sehr wichtig wären.

Ich zuckte nur nichtssagend mit den Schultern. Was hätte ich darauf auch erwidern sollen?

Nachdenklich drehte er sein Glas in der Hand und erwartete offensichtlich eine Erwiderung. Als diese ausblieb, musterte er mich ein weiteres Mal.

Bei diesem Blick wurde mir schlecht. Es war nichts Anzügliches oder Gieriges daran, es war einfach die Bedeutung die dahinterstand.

Am Nebentisch wurde das Getuschel etwas lauter. Aber nur bis ich einen Blick in die Richtung warf, dann wurde es ganz schnell ganz still.

Valentin lachte leise über die beiden Männer. „Sei ihnen nicht böse, wir sind alle einfach furchtbar neugierig auf dich. Es gibt hier so selten ein neues Gesicht zu sehen.“

„Da ihr Babys wie am laufenden Band produziert, habt ihr doch ständig neue Gesichter vor Augen.“

„Es ist aber etwas anderes, ein Baby kennenzulernen, als eine junge Frau. Noch dazu eine, von solch exotischer Schönheit.“

Ich starrte in wortlos an.

„Ach wo bleiben nur meine Manieren. Möchtest du etwas trinken?“ Ohne auf meine Antwort zu warten, hob er die Hand und machte damit den Mann hinter der Theke auf sich aufmerksam. Dieser nickte, beendete sein Gespräch mit Carrie und umrundete samt eines Screens den Tresen. Hinter ihm erklang ein Klimpern wie von alten Münzen die gegeneinanderschlugen.

Mit einem Lächeln trat er an unseren Tisch, doch als ich sah, was ihm da folgte, spannten sich all meine Muskeln an.

„Wie ich sehe, ist deine Begleitung eingetroffen.“

„Eine ganz bezaubernde Begleitung“, stimmte Valentin ihm zu.

Der Mann streckte mir mit einem „Ich bin Finn“ die Hand entgegen, doch meine ganze Aufmerksamkeit galt dem großen Hund hinter ihm. Ein riesiges, langhaariges Ding mit Schlappohren, dem der Sabber von den Lefzen tropfte. Im Gesicht hatte das Vieh so viel Haut, dass seine Augen dadurch ganz klein wirkten.

Als Finn meine Missachtung seiner Hand erfasste, drehte er sich herum um herauszufinden, was da meine Aufmerksamkeit geweckt hatte und lächelte. „Das ist der dicke Doolittle. Keine Angst, der alte Knabe ist ganz harmlos und tut keiner Fliege etwas zu leide.“

Als der Hund seinen Namen hörte, richteten sich seine haarigen Ohren auf und schien eine extra Portion Sabber zu produzieren, die er schmatzend auf dem Boden verteilte.

Igitt. „Ich habe keine Angst vor Hunden“, teilte ich ihm mit. „Ich weiß genau, wie man sie schnellstmöglich ausschaltet.“ Und auch, wie man sie häutete und anschließend zubereitete. Mit diesem Vieh könnte ich die ganze Gruppe versorgen. Leider haperte es mir im Augenblick an einem Messer. Doch da dieses Vieh nicht im Rudel unterwegs war, könnte ich wahrscheinlich problemlos auf seinen Rücken springen und ihm einen Würgegriff um den Hals legen. Durch das dicke Fell würde es vermutlich ein wenig dauern, aber am Ende könnte ich ihm die Luftzufuhr abschnüren.

Finn schien nicht recht zu wissen, ob er sein Lächeln beibehalten sollte, oder es besser wäre es einfach fallen zu lassen. Deswegen konzentrierte er sich lieber auf ein anderes Thema. „Was kann ich euch bringen?“

„Ich hätte gerne noch eine Apfelschorle“, erklärte Valentin. „Und du?“

Ich brauchte einen Moment um zu kapieren, dass ich gemeint war. „Ähm … keine Ahnung. Ich will nichts.“

„Okay.“ Finn hob sein Screen und tippte darauf. „Und was kann ich euch zu essen bringen?“

„Ich nehme das Tagesmenü.“

Wieder richteten sich alle Blicke auf mich.

Ich zuckte mit den Schultern. „Nichts.“

Valentin blinzelte. „Hast du bereits gegessen?“

„Nein, aber ich habe keinen Hunger.“

Er musterte mich einen Moment und wandte sich dann wieder an Finn. „Weißt du was, bring der Lady doch bitte das gleiche wie mir. Vielleicht überlegt sie es sich ja noch einmal.“

Nickend notierte Finn noch etwas auf seinem Screen. „In Ordnung, also zwei Mal Apfelschorle und zwei Mal das Tagesmenü. Komm Little.“ Er wandte sich ab und der Monsterhund, mit den kleinen, triefenden Augen, folgte ihm schwanzwedelnd.

„Magst du keine Hunde?“, fragte Valentin.

Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück. „Doch, sie schmecken sehr gut. Aber sie sind gefährlich. Zum Glück gibt es nicht mehr viele von ihnen.“

Valentin blinzelte und lachte dann leise. „Ich glaube, du hast meine Frage nicht ganz verstanden. Egal.“ Er beugte sich vor, stellte sein fast leeres Glas auf den Tisch und legte die Unterarme daneben. „Erzähl mir etwas von dir.“

„Ich bin Kismet.“

Er wartete uns seufzte dann, als nichts weiterkam.

Was bitte erwartete er? Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, eine anregende und aufschlussreiche Konversation und als Zusatz vielleicht noch meine Lebensgeschichte. Ja, als wenn ich all meine Geheimnisse vor ihm ausbreiten würde, nur weil er ein nettes Lächeln hatte.

„Du redest wohl nicht gerne über dich.“

„Nein, das siehst du falsch. Ich rede nicht gerne mit Adams.“ Oder Menschen aus Eden.

Diese direkte Ablehnung verblüffte ihn für einen Moment, ja er schien geradezu betroffen. „Warum? Was haben wir dir getan?“

„Nichts. Es geht nicht darum was du und die anderen getan habt, es geht darum wofür ihr steht und was ihr tun könntet.“

Das ließ er sich einen Moment durch den Kopf gehen. „Das heißt, du hast kein Problem mit mir als Mensch, sondern mit meiner Arbeit.“

Diese Tätigkeit bezeichnete er als Arbeit? Bisher hatte ich immer angenommen, sie alle würden es als heilige Lebensaufgabe sehen, mein Leben zu ruinieren. Aber nein, es war rein beruflich. „Ich kenne dich nicht genug, um mit dir ein Problem haben zu können. Doch das wenige was ich von dir weiß, spricht nicht zu deinen Gunsten.“

Nun war er interessiert. „Was weißt du denn alles über mich?“

„Du bist ein Adam, du bist ein Städter und du triffst dich nur mit mir um mir, einen Braten in die Röhre zu schieben.“

Er blinzelte, blinzelte noch mal und fing dann lauthals an zu lachen.

Eines der Kinder am Nebentisch schaute neugierig zu uns hinüber.

„Du bist sehr ehrlich und direkt, das muss ich dir lassen.“ Immer noch schmunzelnd wischte er sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. „Aber ich muss dich leider enttäuschen, ich bin nicht hier um dir einen Braten in die Röhre zu schieben, wie du sich so schön ausgedrückt hast.“

Das brachte ihm meine Skepsis ein. „Natürlich nicht. Du bist nur hier, um ein nettes Abendessen, mit irgendeiner Frau, zu dir zu nehmen.“

„Um ehrlich zu sein, ja.“ Mein abschätzendes Schnauben ließ ihn gleich noch mehr schmunzeln. „Du magst es vielleicht nicht glauben, aber ich war sehr neugierig auf dich. Und nebenbei erwähnt, nicht nur ich.“ Er nickte zu den anderen Tischen, von denen uns immer wieder verstohlene Blicke zugeworfen wurden. „Es geschieht nicht oft, dass fruchtbare Streuner nach Eden kommen, deswegen bekommen wir selten neue Gesichter zu sehen. Die Menschen, die uns im Herz von Eden begegnen, sind wir selber, unsere Kinder und unsere Eltern.“

Streuner, da war es wieder, dieses Wort. „Beschwerst du dich etwa darüber, so eine große Familie zu haben?“

Er schüttelte den Kopf. „Darum geht es gar nicht. Es ist einfach so, dass hier selten etwas Neues passiert. Die ganze Zeit einfach in den Tag hineinzuleben, kann mit den Jahren recht langweilig werden. Aber dann kamst du daher.“

Aha. „Und jetzt ist es nicht mehr langweilig?“

„Im Moment ist es vor allen Dingen äußerst spannend.“

„Spannend?“

Er beugte sich mir ein kleinen wenig entgegen. „Was wird die Eva Kismet als nächstes tun?“

Und da wurde mir klar wovon er sprach. Mein missglückter Fluchtversuch. Jeglicher Ausdruck verschwand aus meinem Gesicht. „Dieses Abendessen hinter mich bringen. Und dann wahrscheinlich zu Bett gehen“, sagte ich mit so viel Kälte in der Stimme, dass er eigentlich zu Eis hätte erstarren müssen.

Mein abwehrendes Verhalten kümmerte ihn offensichtlich nicht. Das Schmunzeln wollte seine Lippen einfach nicht verlassen und langsam fand ich es gar nicht mehr so nett. „Ich hatte ja auf ein paar Insiderinformationen gehofft. Du musst wissen, wir sind alle furchtbare Klatschmäuler.“

Phantastisch. Konnte mich bitte wer erstechen? Dann hatte ich wenigstens eine Entschuldigung, warum ich dieses Treffen verließ.

„Nimm es uns nicht übel, Kismet, so sind wir halt.“

„Aber ich bin nicht so“, knurrte ich. „Und ich werde auch niemals so sein.“

„Du solltest niemals nie sagen, denn du weißt nicht, was die Zukunft noch für dich bereithält.“

„Doch“, widersprach ich ihm. „Ein Haufen Kinder.“

Sein Lächeln wurde etwas breiter. „Kinder sind etwas Wundervolles. Ich selber habe zweiundvierzig.“

Bei dieser Zahl wurde mir schlecht.

„Meine älteste Tochter nimmt sogar am Fest Elysium Teil, obwohl sie keine Eva ist. Sie ist die Paradeführerin und sehr stolz darauf. Sie hat hart dafür gearbeitet.“

Warum erzählte er mir das? „Dann sollte ich sie wohl beglückwünschen.“

„Das wäre eine angemessene Reaktion.“

Langsam verstand ich, was Carrie an dem Kerl so toll fand. Er war genau wie sie, nur in männlich.

„Du nimmst doch mit Sicherheit auch am Fest teil, oder?“

„Wenn ich wählen dürfte, würde ich nein sagen. Aber man lässt mir hier keine Wahl, darum werde ich dabei sein.“

Am Nebentisch versuchte ein kleines Mädchen, mit einem braunen Pferdeschwanz am Hinterkopf, ganz alleine von ihrem Stuhl zu steigen. Leider war er höher als ihre Beine. Zusätzlich verhakte sich auch noch ihr gelbes Kleid. Doch bevor sie noch fallen konnte, half ihr der Mann neben ihr herunter, zupfte ihr Kleid zurecht und schaute ihr nach, wie sie durch den Laden nach hinten auf die Frauentoilette verschwand.

„Du bist ziemlich feindselig.“

„Bisher hat mir halt niemand einen Grund gegeben, freundlich zu sein.“

„Du übertreibst maßlos. Wir sind keine Unmenschen.“ Er griff nach seinem Glas, nur um festzustellen, dass er es bereits geleert hatte. Doch da Finn schon wieder auf dem Weg zu uns war, musste er nicht lange auf Nachschub warten.

Mit einem „Hier“ und „Bitte schön“ stellte er sowohl mir als auch Valentin jeweils ein volles Glas hin. Außerdem bekam jeder von uns ein Satz Besteck, eingewickelt in einer weißen Serviette. „Das Essen dauert noch einen kurzen Moment.“ Damit überließ er uns wieder unserem Gespräch.

„Weißt du denn schon, wer dein Partner auf der Parade sein wird?“

„Bietest du dich an?“

„So reizend es auch wäre, an deiner Seite durch die Stadt zu marschieren, ich muss leider ablehnen, da ich bereits Shae an meiner Seite haben werde.“

Ich konnte meine Enttäuschung gerade noch so zügeln. „Wenn ich Glück habe, werden alle anderen Männer auch bereits vergeben sein.“

Über so viel Feindseligkeit konnte Valentin nur den Kopf schütteln. „Du bist wirklich nicht einfach.“

Wie vorhin schon, erklang wieder das leise Klimpern von alten Münzen. Gleich darauf tauchte Doolittle hinter der Theke auf und trottete an den Tisch mit den drei Frauen und dem Baby.

„Es macht wohl keinen Sinn, dich zu fragen, wie dir die Stadt gefällt.“

„Ach, meinst du?“ Ich griff nach meiner Serviette und rollte das Besteck aus. Wie von selbst begannen meine Finger mit dem Messer zu spielen. Ich vermisste meine Machete.

Er seufzte. „Weißt du …“ Er stockte. Dann: „Hallo Mäuschen.“

Einen Moment war ich etwas irritiert, weil ich glaubte, er meinte mich, doch wie ich feststellen musste, war dem nicht so. Neben mir stand das kleine Mädchen, dass ich eben noch hatte zur Toilette gehen sehen, und schaute mich mit großen unschuldigen Augen neugierig an.

„Können wir dir helfen?“

Die Kleine gönnte Valentin nur einen kurzen Blick, dann war ihre ganze Faszination wieder auf mich gerichtet. In ihrer Hand hielt sie ganz vergessen einen Keks. „Wer bist du?“

Ähm … „Kismet.“

Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. „Ich kenne dich nicht. Bist du neu?“

„Kismet ist erst vor kurzem in die Stadt gekommen“, erklärte Valentin rasch. Vermutlich hatte er Angst vor dem, was ich einem kleinen Kind sonst sagen würde. Blödmann.

„Wo war sie denn vorher?“

„Bis vor kurzem lebte sie in der Alten Welt.“

Ihre Augen wurden kreisrund. „In der Alten Welt?“ Ihre Stimme war fast nur ein Hauch. „Aber da ist es doch gefährlich.“

Dieses Mal kam ich Valentin zuvor. „Nicht wenn man weiß, wie man sich verhalten muss.“

„Und das weißt du?“

„Ich bin dort draußen aufgewachsen. Ich habe es schon gewusst, als ich noch so klein war wie du.“

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie das schwarze Ungetüm von einem Hund sich in Bewegung setzte und zu dem Tisch mit den zwei Männern trottete. Da er von ihnen aber ignoriert wurde, schaute er sich um, als suchte er eine andere Beschäftigung.

„Ich mag nicht in die Alte Welt“, erklärte die Kleine im Brustton der Überzeugung. „Da kenne ich ja niemanden.“

„In der Alten Welt gibt es sowieso nur Dreck und Unkraut“, stimmte Valentin ihr lächelnd zu. „Hier in der Stadt ist es doch viel schöner.“

Fast hätte ich was dazu gesagt, aber genau in diesem Moment stellte Doolittle die Ohren auf und fixierte die Kleine, als sei sie ein ganz besonderer Leckerbissen. Und dann, schneller als ich es ihm zugetraut hätte, sprang er mit einem Bellen auf das Mädchen zu.

Ich reagierte einfach ohne näher darüber nachzudenken. Packte das Messer fester, stieß die Kleine genau in dem Moment zur Seite, als das Monster nach ihrer Hand schnappte und schnitt dem Ungetüm mit einer geübten Bewegung die Klinge quer durch Auge und Gesicht.

Blut spritzte, mein Stuhl knallte auf den Boden, der Hund jaulte auf und rannte wimmernd hinter die Theke und die Kleine fing an zu heulen, als hätte man sie aufgespießt.

Für einen kurzen Moment waren alle Blicke im Raum auf mich gerichtet. Dann bückte Finn sich fluchend nach seinem wimmernden Monster, während Valentin aufsprang, um nach dem Kind zu schauen. Doch die Frau vom Nebentisch war schneller. Sie hatte das Mädchen schon auf ihre Arme gerissen, bevor er auch nur einen Schritt gemacht hatte und starrte mich mit großen Augen an. Dabei drückte sie das weinende Kind schützend an sich und drehte sich so, als wolle sie es vor mir abschirmen.

„Was, verdammt noch mal, sollte das?!“, fuhr Valentin mich an.

Der Mann am Nebentisch brachte die anderen beiden Kinder, die scheinbar aus reiner Sympathie auch angefangen hatten zu weinen, aus meiner Reichweite.

„Was?“ Das war nicht die Reaktion, die ich erwartet hatte. Schließlich hatte ich das Kind vor dem Hund gerettet und jetzt schauten mich alle an, als hätte ich versucht die Kleine zu beißen. „Ich habe sie beschützt.“

Carrie schien ihren ersten Schrecken verdaut zu haben, sage etwas zu Finn, der noch immer hinter der Theke kniete und machte sich dann mit entschlossener Miene auf dem Weg zu mir.

„Beschützt?“ Valentin sah aus als würde ihn der Schlag treffen. Das ganze freundliche Getue war verschwunden. „Du hast das Kind verletzt und dem Hund mit einem Messer angegriffen!“

„Der Hund hätte sie gebissen!“ Warum bitte musste ich mich hier eigentlich verteidigen?

„Nein hätte er nicht.“ Carrie griff nach meiner Hand, um mir sehr nachdrücklich das blutige Messer abzunehmen. „Das Mädchen hatte einen Hundekeks in der Hand, den wollte Doolittle haben. Die Kinder hier im Bistro füttern ihn immer mit Hundekeksen.“

Ich schaute auf den zerkrümelten Haufen neben den Blutstropfen auf dem Boden. Irgendjemand musste auf den Keks getreten sein.

„Er hat nach ihr geschnappt!“, beharrte ich auf meinem Standpunkt.

„Nein, ich fürchte, sie haben die Situation falsch eingeschätzt. Die einzige Gefahr für die Leute in diesem Laden, sind im Augenblick sie.“

Nach Carries Worten ließ ich meinen Blick über die Gesichter um mich herum gleiten. Misstrauen und Abneigung schlugen mir entgegen.

Na klasse. Da versuchte ich schon mal mich einzugliedern und etwas für die Städter zu tun und dann kam so etwas dabei raus. Woher sollte ich denn auch wissen, dass der blöde Hund den blöden Keks haben wollte? Es hatte ausgesehen, als wenn er sie beißen wollte.

„Ich glaube es ist besser, wenn wir jetzt gehen.“ Sie wandte sich Valentin zu. „Ich danke ihnen für ihre Zeit, Valentin und entschuldige mich für diesen …“ Sie warf mir einen kurzen Blick zu und beendete ihren Satz dann mit dem Wort „Zwischenfall.“

Plötzlich wurde mir bewusst, was ich hier eigentlich getan hatte. Ich hatte jemand mit einem Messer angegriffen. Dabei waren meine Absichten dahinter völlig egal. Wenn Agnes davon erfuhr … der Grund würde sie gar nicht interessieren, nur das ich es getan hatte.

„Kommen sie“, sagte Carrie und schob mich Richtung Ausgang, währen die Leute immer noch versuchten die Kinder zu beruhigen und Finn mittlerweile mit ernstem Ausdruck am Komkon hing. Auch bei ihm war alle Freundlichkeit verschwunden.

„Ich wollte ihr helfen.“ In meiner Stimme schwang ein Hauch von Verzweiflung mit. Agnes würde mir Nikita wegnehmen – endgültig. Ich würde niemals wieder auch nur einen Hauch Freiheit bekommen.

Sobald Carrie mich vor die Tür geschoben hatte, packte sie meinen Arm mit festem Griff, als sei ich ein ungezogenes Kind und sie wollte mich damit bestrafen.

Ich riss mich sofort von ihr los und sah mich ihrem Funkeln ausgesetzt.

„Dass sie das Treffen auf diese Art beenden, nur weil sie keine Lust darauf haben, ist … ich kann nicht mal in Worte fassen, wie das ist.“

„Bitte?“ Hatte ich mich gerade verhört?

„Ihnen muss doch klar sein, dass ihnen ein solches Verhalten nichts als Schwierigkeiten bringt. Sie sind doch nicht dumm, Kismet.“

„Jetzt mal stopp, ich habe gar nichts versucht. Ich wollte dem Kind helfen.“

Sie drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Auch wenn sie es nicht aussprach, sie glaubte mir nicht. Natürlich nicht.

Sieh es ein, du bist hier die Böse.

Und nichts was ich sagen würde, oder tun könnte, würde daran noch etwas ändern.

Beinahe geschlagen schüttelte sie den Kopf über mich und wandte sich dann mit einer abrupten Bewegung von mir ab. „Kommen sie“, befahl sie wieder und kramte gleichzeitig ihren Screen aus der Tasche. „Ich werde versuchen den Schaden für sie so gering wie möglich zu halten, aber Agnes wird davon erfahren.“

Natürlich würde sie das.

Ich schwor mir, dass ich niemals wieder einem Städter helfen würde.

„Und ihr Treffen mit Jósa morgen werde ich verlegen. Ein Treffen in der Öffentlichkeit scheint mir im Moment nicht ratsam. Aber eines lassen sie sich gesagt sein.“ Sie wirbelte zu mir herum und brachte mich damit sehr wirksam zum Stehen. „Noch so ein Fall und ich kann nichts mehr für sie tun.“

„Du meinst, du willst nicht.“

Sie überging das einfach und marschierte wieder los. „Wenigstens haben sie nicht Valentin, oder einen der anderen Adams und Evas angegriffen, sondern nur einen Hund. Ich will mir gar nicht ausmalen, was jetzt sonst los wäre.“

Ich sparte mir darauf jeglichen Kommentar. Brachte doch sowieso nichts.

„Und ich hoffe, wenn sie Jósa morgen treffen, wird das nicht wieder in so einem Desaster enden.“

„Wie oft soll ich es denn noch sagen, ich …“

„Am besten sie sagen im Augenblick gar nichts mehr.“ Beim Laufen tippte sie auf ihrem Screen herum. „Wahrscheinlich wäre es sogar gut, wenn ich eine ganze Weile nichts mehr von ihnen hören würde, während ich versuche, dieses Chaos wieder in Ordnung zu bringen.“

 

oOo

Kapitel 37

 

„Ein stilles Wasser, eisgekühlt und mit einer Zitronenscheibe. Und das Ganze ein wenig Pronto.“ Lija schnippte mit den Fingern, als könnte sie dem Kellner so zur Eile antreiben und widmete sich dann wieder dem Gespräch, mit der älteren Frau, bei ihr am Tisch.

Roxy verdrehte die Augen und machte es sich in ihrem Sessel ein wenig bequemer. „Also manchmal ist sie wirklich so eine Diva.“

„Vielleicht sollte sie mal einen von ihren vielen Arschkriechern bitten, ihr ihren Stock aus dem Hintern zu ziehen“, überlegte Tican. Er saß neben Roxy auf der Sessellehne und begann zu grinsen, als Roxy hinter hervorgehaltener Hand kicherte.

Ich saß auf meiner Fensterbank und fragte mich, wann die beiden endlich verschwinden würden. Heute hatte ich nun wirklich keinen Nerv, mich mit ihren albernen Kindereien auseinanderzusetzen. Das Treffen mit Valentin hing mir noch immer nach, obwohl mein Hirn sich viel lieber mit Sawyer beschäftigen wollte.

Ich war mir immer noch nicht sicher, was ich von seiner Idee halten sollte. War das nur ein Trick, um mich in sein Haus zu bekommen? Oder war das ein Test, den Agnes sich ausgedacht hat, um zu prüfen, ob ich darauf ansprang? Wenn es aber nichts von beiden war und Sawyer hier genauso dringen weg wollte wie ich, konnte das mein Weg in die Freiheit sein. Mein Problem war nur, dass ich ihm nicht vertrauen konnte. Nicht nur, weil ich ihn nicht genug kannte, sondern auch, wegen seines unberechenbaren Verhaltens.

Sawyer war kein netter Mensch. Egal wie man es auch drehte und wendete, er war arrogant, herablassend und grob. Das waren alles keine netten Eigenschaften. Wie also sollte ich ihm trauen? Obwohl die bessere Frage wohl lautete, wie verzweifelt war ich mittlerweile? Verzweifelt genug, um ein Bündnis mit ihm zu riskieren?

Ich fürchtete mich vor der Antwort.

„Ich glaube nicht, dass den irgendwer herausbekommt“, sagte Roxy breit grinsend und warf einen Blick zu Lijas Tisch hinüber. „Der steckt doch viel zu tief drin.“

„Will ich wissen, woher du das weißt?“

Sie schlug ihm gegen sein Bein.

Auch ich schaute zu Lija. Seit ich ihr die blutige Nase verpasst hatte, behielt sie immer einen gewissen Sicherheitsabstand zu mir ein. Mir sollte das nur recht sein. Mir wäre es sogar recht, wenn alle das so machen würden, nicht nur Lija. Leider konnte ich nicht herumlaufen und allen auf die Nase hauen, damit sie sich an ihr ein Beispiel nehmen konnten. Ich musste schließlich die artige, kleine Eva sein.

„Manchmal bist du ganz schön versaut“, bemerkte Roxy.

Der blonde Lockenkopf mit den asiatischen Zügen, grinste breit. Dann säuselte er: „Ich erinnere mich lebhaft an ein paar Tage, an denen du das sehr genossen hast.“

Roxy wurde tatsächlich ein wenig rot. „Bilde dir bloß nichts ein.“

Ich ließ meinen Blick durch den Gästeraum schweifen. Ein paar Tische weiter saß Celeste, allerdings heute ohne Sawyer. Ich hatte keine Ahnung, was er im Moment trieb, aber bisher war er noch nicht im Club aufgetaucht.

Dafür waren heute aber Olive und Killian im Club. Sie saßen in einer Sitznische in der Ecke, Olive mit diesem entschwebten Blick und Killian, der sich mit ihr unterhielt.

Ein kleiner Stich des Neides durchzuckte mich. Auch ich würde mich gerne mit meiner Mutter unterhalten, aber das hatte Eden mir ja genommen.

Diese Stadt hatte mich in meinem Leben schon so viel gekostet. Wann würde ihre Gier ein Ende finden?

Roxy seufzte. „Die kleine little Miss Sunshine ist heute mal wieder ganz schön lebhaft.“ Sie tätschelte ihren Bauch. „Ich kann es kaum erwarten, dass sie da endlich rauskommt und ich sie in den Armen halten kann. Oh, sag mal, wenn Joshua endlich auftaucht, spielen wir dann wieder zwei gegen zwei?“

Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, dass der letzte Teil an mich gerichtet war. „Ich kann nicht, ich bin beschäftigt.“

„Beschäftigt? Ach ja?“ Sie hob eine Augenbraue. „Womit denn?“

„Mit der Katze.“ Ich zeigte auf das flauschige Vieh in meinem Schoß. „Ich muss sie streicheln.“ Wie um meine Worte zu bestätigen, fuhr ich der Katze durchs Fell. Sie begann sofort zu schnurren.

„Oh ja, eine überaus wichtige Aufgabe“, stimmte Roxy mir zu. „Und das, wo du Katzen überhaupt nicht magst.“

Das ließ ich unkommentiert.

„Naja“, meinte Roxy dann und schaute zu Tican auf. „Dann wirst du wohl mit mir vorliebnehmen müssen.“

„Da spiele ich doch lieber allein.“

Ihr Schlag kam nicht unerwartet. „Du bist …“

„WAS HAST DU GESAGT?!“

Das Gebrüll brachte nicht nur mich dazu, den Kopf zu drehen. Und das nicht nur wegen der Lautstärke, sondern auch wegen der Stimme.

Killian war von seinem Sitz aufgesprungen und hatte einen der Kellner am Kragen gepackt. Er wirkte nicht nur wütend, er war geradezu zornig und schien kurz vor einem Ausraster zu stehen. „SAG DAS NOCH MAL!“

„Hey, komm mal wieder runter.“ Der Kellner hob die Hände in die Luft, als wollte er Killian beruhigen. „Das ist nur meine Meinung. Es wäre halt für alle besser, wenn …“

Killian ließ den Kerl nicht aussprechen. Er ließ seine Faust so schnell in das Gesicht des Mannes krachen, dass es mehrere überraschte und entsetzte Ausrufe gab. Der Kellner knallte zu Boden und riss auf seinem Weg nach unten noch ein Glas vom Tisch. Die umstehenden Menschen sprangen eilig aus dem Weg. Archie blökte etwas und bewegte seinen massigen Leib hinter dem Tresen hervor.

Ich merkte erst, dass ich aufgestanden war, als ich bereits zwei Schritte gemacht hatte.

Killian beugte sich zu dem Kellner hinunter und packte ihm wieder am Schlafittchen. Die Faust zu einem weiteren Schlag erhoben, riss er ihn zu sich heran. Sein Gesicht war eine wütende Maske. So hatte ich ihn noch nie gesehen.

Der Kellner griff nach oben, als wollte er Killian abwehren. Ein paar Männer kamen von der Seite, um einzugreifen.

„Du bist ein widerliches Stück Scheiße!“, brüllte Killian den Kerl an, schaffte es aber nicht ihn zu schlagen, da er von zwei Männern gepackt und nach hinten gezerrt wurde. Es entstand eine kleine Rangelei.

Ich hatte ihn fast erreicht, als er sich mit einem „Lasst mich los!“, von den Männern frei machte. Sein Blick glitt kurz zu seiner Mutter, die von dem Aufruhr gar nichts mitbekommen zu haben schien, schubste dann einen Schaulustigen zur Seite und marschierte mit hochgezogenen Schulter nach hinten zu den Toiletten.

Sobald er weg war, umschwärmten die Gäste dem Keller, wie Fliegen einen Scheißhaufen und halfen ihm auf die Beine. Archie reichte ihm ein Taschentuch, während ein Gast ihm auf einen Stuhl half. Ein anderer Keller hob begann damit, die Scherben des Glases vom Boden aufzusammeln. Niemand interessierte sich für Killian, oder wohin er verschwunden war.

Auch mich sollte es nicht interessieren. Hatte ich mir vorhin nicht erst geschworen, mich nicht mehr in die Angelegenheiten dieser Menschen einzumischen? Wenn sie sich gegenseitig verprügeln wollten, sollte mir das nur recht sein.

„Wow“, murmelte Roxy. „Ich wusste schon immer, der Mann ist zu gut um wahr zu sein.“

Ach verdammt. Ich ließ die Meute links liegen und machte mich auf den Weg nach hinten. Vielleicht kannte ich Killian nicht gut, aber normalerweise war er ruhig und freundlich. Ihn so ausrasten zu sehen … dafür musste es einen gravierenden Grund geben. Warum genau mich dieser interessierte, wollte ich nicht zu genau analysieren. Aber wahrscheinlich … ja, es war schlicht Neugierde. Genau, einfach nur Neugierde. Mit dieser Erklärung konnte ich leben.

Killian aufzuspüren, erwies sich – wenig überraschend – als extrem einfach. Wie bereits vermutet, war er nach hinten zu den Toiletten gegangen und da er selbst in seiner aufgebrachten Form, eine gewisse Höflichkeit beibehielt, hatte er nicht die erste Tür genommen, die seinen Weg gekreuzt hatte, sondern die, die für Männer gekennzeichnet war. Dort fand ich ihn, wie er mit aufgestemmten Armen und gesenktem Kopf an den Waschbecken stand und offensichtlich versuchte, seinen Ärger unter Kontrolle zu bringen.

Seine Schultern waren hochgezogen und angespannt, und vibrierten beinahe vor unterdrückter Wut. Er wirkte immer noch sehr aufgebracht, so ganz anders als sonst. Dieses Bild brannte sich mir ins Gehirn und ich wusste nicht einmal warum.

Vorsichtig näherte ich mich ihm. Ich wusste nicht, was er in diesem Zustand alles tun würde. Zwar glaubte ich nicht, dass er auch auf mich losgehen würde, trotzdem war es nie verkehrt, ein wenig Wachsamkeit an den Tag zu legen.

Als ich neben ihn ans Waschbecken trat, schnellte sein Blick zwar zu mir, aber sein Mund blieb geschlossen. Er wurde sogar noch ein wenig schmaler. Offensichtlich war ihm meine Gesellschaft im Moment kein Vergnügen. Sein Pech. Ich wurde auch nie gefragt, was ich denn wollte.

Um ihm deutlich zu machen, dass ich nicht vorhatte, sofort wieder zu verschwinden, lehnte ich mich mit dem Hintern neben ihm an den weißen Waschtisch. „Bis jetzt habe ich dich noch nie wütend erlebt. Ich hätte nicht gedacht, dass sowas überhaupt in dir steckt.“ Und das war nicht mal gelogen.

Er sagt nichts, starrt nur in den Spiegel.

Während ich ihn musterte, fielen mir wieder Roxys Worte ein. Killian war zu perfekt, um echt zu sein und hatte ein paar Leichen im Keller. Nun, die hatte ich offensichtlich gefunden. Killian war nicht so harmlos, wie er gerne tat.

Normalerweise begann die Leute zu sprechen, wenn man nur lange genug schwieg – einfach um die Stille zu füllen. Killian hatte aber offensichtlich nicht vor, in nächster Zeit seinen Mund zu öffnen.

Na gut, dann würde ich das Ganze eben ins Rollen bringen. „Was war da los?“

Seine Kiefer mahlten. „Ich möchte nicht unhöflich sein, aber im Moment will ich weder mit dir, noch mit jemand anderem darüber sprechen.“

Ein einfacher Satz, klare Worte und sie reichten aus, um mich zu verärgern. „Ach so ist das also. Mir erzählst du, ich kann mit allem zu dir kommen und mich dir anvertrauen, aber umgekehrt ist der große Herr Doktor der Meinung, dass ein vertrauliches Gespräch mit mir, unter seiner Würde sei.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Keine Ahnung warum ich mich überhaupt dafür interessierte, doch es ärgerte mich, dass er nicht mit mir drüber sprechen wollte. „Aber wahrscheinlich hast du recht. Mein schlichter Geist, würde die bedeutungsschweren Probleme eines Ederers, niemals verstehen, oder – Gaia bewahre – vielleicht sogar helfen können.“ Mit einem letzten Blick spießte ich ihn auf und stieß mich vom Waschtisch ab.

Mir doch egal, wenn er nicht mit mir sprechen wollte. Was gingen mich seine Probleme an, oder warum er so wütend geworden war? Ich sollte besser daran festhalten, mich um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, schließlich hatte ich genug um die Ohren.

„Kismet, warte.“

Von wegen.

Schnelle Schritte hinter mir, dann packte Killian mich am Arm und hielt mich fest.

„Finger weg!“ Ich drehte mich halb herum, um nach ihm zu schlagen, doch er musste damit gerechnet haben, denn er wich problemlos aus, ließ mich aber los.

„So habe ich das nicht gemeint, ich wollte dich nur nicht mit meinen Problemen belästigen.“

„Wenn du es sagst.“ Ich drehte mich wieder zum Gehen.

„Es ging um meine Mutter.“

Die Hand bereits an der Tür, blieb ich nun doch stehen und schaute über die Schulter zu ihm zurück.

Killian seufzte, strich sich durchs Haar und lehnte sich mit dem Hintern an eines der Waschbecken. „Das ist Olives letzte Schwangerschaft, danach ist sie aus dem Projekt raus.“

Das wusste ich bereits, aber ich wollte ihn nicht unterbrechen. Also blieb ich still, während ich mich zu ihm umdrehte.

„Als Eva hat sie einen Nutzen für die Stadt. Solange sie Kinder bekommt, gehört sie zu den wertvollsten Schätzen von Eden und wird wie eine Königin behandelt – jede Eva wird das.“

Nicht jede, dachte ich.

„Wenn eine Eva aus ihrem Dienst ausscheidet, geh sie normalerweise in ihren wohlverdienten Ruhestand, kann die Tage genießen und sogar die Stadt erkunden, wenn sie das wünscht. Meine Mutter aber wird für den Rest ihres Lebens, ein Pflegefall bleiben. Sie wird immer Leute benötigt, die sich um sie kümmern, denn das kann sie nicht allein.“

Auch das war mir nicht neu. „Und was hat das mit deinem Fausthieb zu tun?“

Killian schwieg einen Moment, mit den Gedanken ganz woanders. Seine Lippen wurden hart und die Wut kehrte in seine Augen zurück. „In der Stadt gibt es eine Gruppe von Menschen, die sich dafür stark machen, den Ballast für die Gesellschaft … abzuwerfen.“ Das letzte Wort spie er aus, als handelte es sich dabei um Gift.

Meine Augenbrauen zogen sich ein Stück zusammen. „Ich verstehe nicht.“

„Unheilbar kranke Menschen, behinderte Menschen, alte Menschen. Menschen wie Olive, die keinen nennenswerten Nutzen mehr haben. Das alles sind Leute, die der Gesellschaft nichts mehr geben können, unnötiger Ballast, der nur Arbeit macht und nichts mehr zurückgeben kann.“ Wieder begann sein Kiefer zu mahlen, als kaute er auf einem zähen Stück Leder herum. „Der Kellner gehört zu dieser Gruppe. Er findet, man sollte Olive exekutieren, sobald ihr Dienst erledigt ist. Ihm ist es völlig egal, dass sie viele Jahre als Eva gedient hat.“

„Halt, Moment, redest du vom Töten?“

Er antwortete nicht, doch das brauchte er auch nicht, seine Augen sagten mir alles was ich wissen musste. Und so wirklich überraschte mich das nicht. Ich hatte selber erlebt, wie monströs die Menschen hier sein konnten. Was mich dagegen überraschte, war, dass er sich so offen dagegen aussprach. Lag das nur daran, dass es sich um seine Mutter handelte, oder wäre er auch für jeden anderen Menschen breit, so in die Breche zu springen?

Das war eine wirklich wichtige Frage.

Killian stieß einen tiefen Seufzer aus. „Sie werden es nicht tun, niemand wird meine Mutter anrühren. Selbst als Eva im Ruhestand wird sie weiter geschützt im Herz leben. Es ist nur …“ Er biss die Zähne zusammen, als der Ärger wieder sein Haupt erhob. „Es macht mich einfach sauer, wenn jemand so eiskalt über das Leben eines anderen Menschen entscheidet. Als wäre er im Recht, als wäre meine Mutter nur ein wertloses Ding.“

Tja, was sollte ich dazu sagen? So waren die Menschen an diesem Ort. Ich selber bekam es jeden Tag aufs Neue zu spüren und niemand scherte sich darum, dass mein Leben nun von anderen bestimmt wurde. „Deiner Mutter wird es gut gehen.“

Sein Blick richtete sich auf mich. „Darum geht es nicht – nicht nur. Wenn es nicht meine Mutter wäre, wäre es jemand anderes. Es ist einfach …“ Er suchte nach den richtigen Worten und als sie ihm nicht einfielen, schwieg er.

„Der Gedanke, dass Menschen zu so etwas imstande sind – selbst, wenn nur in ihrer Vorstellung – geht dir gegen den Strich.“ Und dass es dabei um seine Mutter gegangen war, machte die Angelegenheit für ihm zu etwas sehr Persönlichem. Es fiel mir schwer, nicht noch hinzuzufügen, dass doch alle Edener so waren. Na gut, das hier war es schon extrem.

„Meine Mutter ist ein friedlicher Mensch, sie hat es nicht verdient, wie ein Gegenstand behandelt zu werden, den man erst benutzen und dann wegwerfen kann, wenn er nicht mehr gebraucht wird.“

Ein „Das hat niemand“, konnte ich mir nicht verkneifen.

Killian hob den Blick und erst jetzt schien ihm aufzugehen, mit wem er hier gerade sprach. Seine Wangen röteten sich leicht vor Scham. „Tut mir leid, das war nicht besonders taktvoll. Ich wollte nicht …“ Er unterbrach sich, als die Tür aufging und Sawyer das Herrenklo betrat.

Der Eindringling stoppte, als er uns sah und zog eine Augenbraue nach oben. „Störe ich?“

„Ja.“ Klipp und klar.

Sawyers Mundwinkel zuckte. Etwas Gehässiges blitzte in seinen Augen auf. „Gut.“

Nicht nur meine, auch Killians Mine verfinsterte sich.

Sawyer schien das nicht zu kümmern. Er ging an uns vorbei, stellte sich an eines der Pinkelbecken und öffnete seinen Hosenstall.

Ich wandte mich ab, bevor ich etwas sehen konnte. „Muss das wirklich sein?“

„Warum so schüchtern? Ist ja nichts so, als hättest du ihn noch nie gesehen.“

Sofort stand mir wieder die Szene vor Augen, wie Celeste am Brunnen vor ihm in die Knie gegangen war und … „Ich bin dann mal weg.“ Ich warf Killian noch einen entschuldigenden Blick zu, bevor ich mich unter Sawyers boshaften Lachen, zurück in den Gästeraum flüchtete. Sawyer tauchte nur wenig später auf, doch Killian brauchte noch eine ganze Weile, um wieder zum Vorschein zu kommen. Als er es dann tat, warf er mir einen seltsamen Blick zu, bevor er sich wieder zu seiner Mutter setzte.

Den Rest des Abends verbrachte ich mehr oder weniger allein auf meiner Fensterbank. Und genauso allein, verbrachte ich auch die Nacht. Doch am nächsten Morgen war es mit der Einsamkeit vorbei. Nicht nur weil Carrie auf der Matte stand, kaum dass ich wach war, sondern wegen meiner lästigen Verabredung zum Frühstück.

Wie Carrie bereits angekündigt hatte, fand dieses Treffen in keinem der öffentlich zugänglichen Einrichtungen statt. Stattdessen fand ich mich zum Frühstück auf der Terrasse in Jósas Garten wieder.

Der Morgen war angenehm, es war warm und ein wohltuendes Lüftchen strich über meine Haut. Ein paar Vögel trällerten in den Bäumen. Hinter der Hecke fuhr ein Wagen vorbei, sein Geräusch verklang in der Ferne. Von der Straße hörte ich das fröhliche Quietschen eines Kindes. Ein ganz normaler Morgen in der Stadt.

Carrie hatte es sich auf einer Bank am anderen Ende des Gartens bequem gemacht und beobachtete mich von dort aus mit Argusaugen. Was glaubte sie denn, was ich tun würde? Meinen Gastgeber erdolchen? Im Moment wollte ich viel lieber mich selber erdolchen, dann wäre dieses Frühstück nämlich endlich vorbei.

Das Messer klickte leise auf den Teller, als Jósa seine Frucht in Mundgerechte Stücke zerteilte. Dabei ließ er mich keinen Moment aus den Augen. Er beobachtete mich schon die ganze Zeit sehr aufmerksam. Nicht so wie Carrie, eher so wie etwas Köstliches, dass man unter allen Umständen haben wollte. Langsam fand ich das wirklich unheimlich.

„Es war nicht dein Wunsch mit mir zusammen zu frühstücken, oder?“ Seine Stimme klang rau, so als würde er sie selten benutzen, oder hätte sie schon vor Jahren überstrapaziert. Vielleicht hing es aber auch mir der langen Narbe zusammen, die quer über seinen Hals verlief.

Meine Schultern zuckten nichtssagend nach oben. „Es ist egal was ich möchte, oder mir wünsche. Ich mache was man mir sagt.“ Denn vorläufig konnte ich nichts anderes tun.

Jósa wirkte aufrichtig erstaunt. „Egal? Du bist eine Eva.“ Er spießte ein Stück Frucht auf seine Gabel und inspizierte es, als berge es ein Geheimnis, das nur für ihn allein bestimmt war. „Jeder in dieser Stadt möchte erfahren was du dir wünschst, um es dir erfüllen zu können.“

Na klar doch. „Aber nur solange meine Wünsche nicht ihren eigenen Wünschen zuwiderlaufen.“

Langsam ließ er das Fruchtstück in seinem Mund verschwinden und kaute es genüsslich, als wolle er es voll auskosten. „Ich habe schon gehört, dass du nicht freiwillig nach Eden gekommen bist.“

„Ganz im Gegenteil zu dir.“ Mein eigener Teller war bis auf ein paar Krümel leer. Ich hatte nicht viel gegessen. Es war mir immer noch ein Graus etwas von den Städtern anzunehmen – selbst, wenn ich es zum Überleben brauchte.

Das nächste Stück landete auf seiner Gabel. „Verurteile mich nicht. Die freie Welt war nie gut zu mir gewesen.“ Er sagte freie Welt, nicht Alte Welt, wie es die Edener sonst taten. Da steckte wohl doch noch irgendwo ein freier Mensch in ihm.

„Die Ruinen sind zu niemanden gut, man muss sich seinen Platz in ihnen verdienen.“ Und zwar jeden Tag aufs Neue.

„Nur der Stärkste überlebt.“ Ein äußerst selbstironisches Lächeln zierte seine Lippen. Es hatte nichts Fröhliches an sich. „Aber ich war nie stark genug, für die Welt außerhalb dieser Mauern.“

„Das kann ich nicht beurteilen.“

Er schaute mich einen Moment an, als glaubte er, ich wollte ihn mit meinen Worten verhöhnen. Dann hob er seine linke Hand so, dass ich sie sehen konnte. Er drehte erst sie nach rechts, dann nach links. Sie wirkte irgendwie … falsch, verkrüppelt. Als sei jeder einzelne Finger mehrmals gebrochen gewesen und falsch zusammengewachsen. „Meine Mutter war eine sehr zornige Frau gewesen. Und wenn sie kein anderes Ventil für ihren Zorn fand, dann ließ sie ihn an mir aus.“ Er hob die Hand zu seinem Hals und lenkte meine Aufmerksamkeit damit auf die lange Narbe. „Ein Fremder wurde eines Abends auf mich aufmerksam. Er war verlottert und halb verhungert. Sein Ziel war mein Essen.“ Er ließ die Hand wieder sinken. „Ich bot ihm an mit ihm zu teilen, doch er wollte alles für sich haben. Als ich ihm erklärte, dass ich auch etwas brauchte, um zu überleben, zog er sein Messer und schnitt mir damit über die Kehle. Jetzt würde ich sterben und hätte damit keine Verwendung mehr für das Essen – so seine Worte.“

Jósa nahm eine weitere Frucht und begann sie sorgfältig auf seinem Teller zu zerteilen. „Ich weiß bis heute nicht genau, wie ich diesen Angriff überlebt habe. Vermutlich war er selber bereits so geschwächt, dass er nicht mehr genug Kraft aufbrachte, um allzu tief in mein Fleisch zu schneiden.“

Wie ruhig er davon sprach. Als würde nichts davon noch eine Bedeutung haben, als wäre das einem anderem Menschen passiert. Einem anderen Menschen, in einem anderen Leben.

„An einem sonnigen Nachmittag ging ich hinunter zum Fluss, um mich und meine Kleidung zu waschen. Aus dem Wald kamen zwei Phantomhunde und stürzten sich auf mich. Sie zerrten und rissen an mir, bissen mir den Arm ab. Ich rettete mich, indem ich mich in den Fluss stürzte und mich Flussabwärts treiben ließ, während die beiden Phantomhunde meinen Arm fraßen.“

Das war … bedauerlich. Mit Phantomhunden war nicht zu spaßen, besonders nicht, wenn sie ausgehungert waren. Er konnte von Glück reden, davon gekommen zu sein. Wahrscheinlich verbargen sich von diesem Angriff sogar noch weitere Narben an seinem Körper.

„Der folgende Winter war eisig. So etwas war mir bis dahin noch nie untergekommen. Es gab kaum Nahrung und meine wenigen Vorräte waren schnell aufgebraucht. Sogar die Tiere verhungerten und erfroren in diesem Winter.“

Daran konnte ich mich erinnern. Es war vielleicht sechs oder sieben Jahre her. Ich hatte ein verendetes Reh gefunden, die Beine eingefroren im See. In diesem Winter hätten wir Azra fast verloren, weil wir nur selten und wenn doch, nur wenig Nahrung nach Hause bringen konnten.

„Ich war dem Tode nahe, als ich dieses Geräusch hörte, das Summen der Tracker.“ Er legte sein Messer beiseite, betrachtete die Stücken auf seinem Teller und wählte eines in der Mitte aus. „Sie übersahen mich, aber in dem Moment fällte ich den Entschluss ihnen zu folgen. Ich war viele Tage unterwegs und erreichte die Tore der Stadt halb verhungert und völlig entkräftet. Ich muss ein Bild des Schreckens abgegeben haben und trotzdem hießen sie mich mit weit geöffneten Armen willkommen.“

„Weil du ein Adam bist und damit sehr wertvoll.“

Mit einer Ruhe, die ich nicht verstand, kaute er ein weites Fruchtstück. Er schien wirklich jeden einzelnen Bissen in seiner Gänze genießen zu wollen. „Als sie mich bei sich aufnahmen, wussten sie noch nicht welchen Wert ich für sie barg. Sie sahen nur einen Menschen, der Hilfe brauchte und sie gewähren diese Hilfe, ohne etwas dafür zu verlangen.“

Nichts? Was hatte er nur für ein Weltbild? „Sie verlangten deine Freiheit, deine Fügsamkeit und deinen blinden Gehorsam.“

„Meine Freiheit hat mir fast den Tod gebracht“, erklärte er. „Dieser Ort bietet mir Sicherheit und ein sehr angenehmes Leben. In dieser Welt gibt es nichts was mich dazu verlocken könnte, den Schutz dieser Stadt zu verlassen, denn dort draußen lauert nur der Tod.“

„Nicht für mich.“

In meinen Worten lag eine Herausforderung, auf die er nicht einging. Stattdessen widmete er sich wieder sehr intensiv seinem Frühstück.

Ich brach das Schwiegen nicht, sehnte nur das Ende dieses Essens herbei. Es dauerte schon viel länger als das gestrige Treffen mit Valentin in dem Bistro. Gut, das hatte auch ein sehr abruptes Ende genommen, nachdem ich die Bestie ausgeschaltet hatte. Aber nach meinem Geschmack hatte es trotzdem lange genug gedauert. Und hier in diesem Moment, war einfach kein Ende in Sicht. Jósa fühlte sich weder durch meine feindliche Ader, noch durch mein abweisendes Verhalten dazu gedrängt, diese Rendezvous schnell zu beenden.

„Ich habe noch nie eine Eva eingeführt.“

„Bitte?“ Wie kam er vom eigentlichen Thema plötzlich darauf?

„Du bist noch sehr jung. Hattest du schon Sex?“

Seine unverblümten Worte verschlugen mir für einen Moment einfach die Sprache. Doch dann stellten sich mir auch sofort die Stacheln auf. „Das geht dich ja wohl überhaupt nichts an!“, schnappte ich.

Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Völlig gelassen aß die Frucht weiter, die ich ihm am liebsten in den Hals gestopft hätte, damit ich diese bedrückende Odyssee endlich beenden konnte. „Ich habe mich informiert. Dein Eisprung steht kurz bevor, du musst einen Adam wählen.“

„Und du bietest dich dafür an.“

„Natürlich.“

Natürlich. Wie sollte es auch anders sein.

„Ich kann dir versprechen, es wird für dich angenehm werden. Noch keine Frau, die mich aufgesucht hat, bereute es hinterher. Viele von ihnen suchten mich sogar immer und immer wieder auf.“

Versuchte er etwa gerade, sich an mich zu verkaufen? Das war … direkt. So direkt war noch keiner der anderen Männer zu mir gewesen. Nicht mal Sawyer – und den fand ich schon sehr aufdringlich.

„Dazu verbindet uns etwas, was viele der anderen Adams dir nicht bieten können.“

Mir war sofort klar, worauf er hinauswollte. „Du bist hier nicht der einzige Mann, der außerhalb dieser Mauern geboren wurde.“

„Das nicht, aber ich bin der Netteste.“

Und so bescheiden. „Nein.“

Er schaute mich an.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Dich nehme ich auf keinen Fall.“

Auch das schien ihn nicht aus der Ruhe zu bringen. Das machte mich langsam wirklich verrückt. Zeigte dieser Kerl überhaupt irgendwann mal eine Gefühlsregung?

„Schreckt mein Anblick dich ab?“

Nicht auf die Art die er vermutete. „Nein. Ich mag deine Art nicht.“

„Das ist schade.“ Er legte seine Gabel auf den Teller und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Ich werde dennoch ein Gesuch an die Despotin schicken und darum bitten, dich einführen zu dürfen.“

Ich hörte ja wohl nicht richtig. „Das kannst du vergessen.“

Er musterte mich einen Moment auf seine beinahe gleichgültige Art. „Ich mache das nicht um dich zu verstimmen, ich glaube einfach. wir ergänzen uns beide gut. Unsere Kompatibilität liegt bei 97 Prozent. Das ist sehr hoch.“

Mir fehlten die Worte. Das war doch einfach nicht zu fassen. Am liebsten wäre ich einfach aus der Haut gefahren und hätte ihn geschlagen. Was bildete dieser Kerl sich eigentlich ein, wer er war? „Bevor ich dich in mein Bett lasse, schlafe ich lieber mit einem Hund!“

„Ein Hund wird dir nicht das bieten können, was ich dir zu bieten habe.“

Eine passende Erwiderung lag mir bereits auf den Lippen und hätte ich in diesem Moment nicht die Bewegung im Augenwinkel wahrgenommen, hätte ich sie ihm wohl trotz aller Konsequenzen, einfach um die Ohren gehauen. So jedoch wirbelte ich auf meinem Stuhl einfach herum und fauchte: „Was?!“

Carrie blieb augenblicklich stehen und musterte mich dann durch schmale Augen. „Ich möchte nicht stören, aber es wird Zeit, sie müssen ins Paradise.“

Das war wohl das erste Mal, dass ich für meinen Job dankbar war. „Damit ist das Frühstück wohl beendet.“ Ich warf meine Serviette auf meinen Teller und schob meinen Stuhl zurück. „Danke für das Essen und hoffentlich werden wir das nicht wiederholen.“

Carrie verzog missbilligend die Lippen.

„Wenn ich dein Adam bin, werde ich dir das Frühstück ans Bett bringen.“

„Nichts kann mich dazu bringen, in deinem Bett zu landen.“ Ich erhob mich so schwungvoll, dass ich fast mein Glas umriss. Es war mir egal, ich wollte nur noch hier weg.

„Die Despotin kann es.“

Ich hielt inne.

Der Kerl verarschte mich doch. Ich kniff die Augen drohend zusammen. „Wie war das noch mit: einer Eva alle Wünsche erfüllen?“ Mich in sein Bett zu zwingen, war definitiv gegen meinen Wunsch.

Zum ersten Mal seit meiner Ankunft hier, zeigte sich der Ansatz eines Lächelns in seinem Gesicht. „Ich glaube, das war das erste Mal, dass du dich selber als eine Eva bezeichnet hast.“

Mit seinen Worten, jagte er mir einen derart grausigen Schrecken ein, dass ich für einen Moment einfach erstarrte.

„Ich hoffe wir sehen uns bald wieder und auch, dass die Despotin meinem Gesuch stattgibt.“

Ich brauchte einen Moment, um meine zusammengebissenen Zähne zu öffnen. „Das wird niemals geschehen.“ Und bevor er mir noch eine reinwürgen konnte, machte ich auf dem Absatz kehrt und lief quer über die Terrasse zum Gartenzaun.

Ich war so wütend, dass ich nicht nur die Hände zu Fäusten geballt hatte, sondern am ganzen Körper zitterte. Wie konnte dieser Bastard sich nur erdreisten, so etwas zu versuchen? Wenn hier so viele andere, willige Weiber herumliefen, sollte er sich doch an die halten. Nichts in der Welt konnte mich dazu bringen, ihn an mich heran zu lassen. Er war viel schlimmer, als die ganzen Städter, denn er stammte aus den Ruinen. Dieser Mann hatte alles verraten woran ich glaubte. Und dennoch dachte er, mir an die Wäsche gehen zu dürfen? Oh, das sollte er nur versuchen. Der würde sein blaues Wunder erleben.

„Kismet.“ Carrie eilte an meine Seite, darum bemüht, mit ihren hochhackigen Schuhen nicht in der Wiese hängen zu bleiben. „Das war sehr ungehobelt von ihnen. “

„Sehe ich so aus, als wenn mich das interessieren würde?!“

Carrie schnalzte, aber das war mir völlig egal.

Irgendwie musste ich meiner Wut Luft machen und das war allemal besser, als um mich zu schlagen.

„Sie sollten wirklich lernen, ihr Temperament ein wenig zu zügeln.“

Ohne darauf einzugehen, riss ich das Gartentor auf und marschierte auf den Gehweg. Der Fahrdienst lag links von uns, aber im Moment musste ich mich bewegen, wenn ich nicht platzen wollte. Also ignorierte ich ihn und wandte mich stattdessen nach rechts. Vielleicht würde ich es so schaffen, mich wenigstens ein bisschen zu beruhigen, bis ich im Paradise war.

 

oOo

Kapitel 38

 

Wie auf etwas Hochexplosives, starrte ich auf das virtuelle Fenster auf dem Desk und damit auch auf das Verzeichnis der Adams. Wie konnte etwas so Einfaches nur solchen Schaden nach sich ziehen? Ich schaffte es nicht den Blick davon abzuwenden. Doch genauso wenig schaffte ich es, einen der Namen zu wählen. Dieses Ding konnte mir gefährlich werden.

„Ich will dich nicht drängen, Kismet, aber wenn du dich für keinen Kandidaten entscheidest, wird dir diese Entscheidung von Agnes abgenommen“, erklärte Killian mit ruhiger Stimme.

Natürlich würde diese Hexe genau das tun. Wahrscheinlich hoffte sie sogar darauf, dass ich mich verweigerte, damit sie die Zügel in die Hand nehmen konnte – wahlweise auch die Peitsche.

„Kismet.“ Killian griff über seinen Schreibtisch nach meiner Hand, doch ich entzog mich, bevor er mich berühren konnte. Er ließ es unkommentiert geschehen. „Du weißt, dass du nicht zu diesen Männern gehen musst. Wir können das ganze auch hier bei mir in der Praxis durchführen. Unter Narkose. Du wirst nichts spüren.“

„Aber ich werde schwanger werden.“

„Das ist Sinn und Zweck des Ganzen.“

Nicht wenn ich mich auf Sawyer einließ. Aber das hieße, ich müsste mich auf sein Wort verlassen. Anderseits bot er mir die Chance von hier zu entkommen – immer vorausgesetzt natürlich, seine Aussage entsprach der Wahrheit. Doch ich hatte ein dummes Gefühl dabei. Etwas in mir sperrte sich gegen ihn.

Seit unserem Zusammentreffen im Lager des Paradise waren drei Tage vergangen. Drei Tage, in denen sich meine Gedanken allein um dieses Thema drehten. Schuld daran war dieser kleine Funke an Hoffnung, den er in mir entfacht hatte. Dieser kleine Funke, der immer wieder auftauchte, egal wie oft man ihm die Luft zum Atmen nahm. Und nun saß ich hier bei Killian in der Praxis und wusste nicht war ich tun sollte. In meinem ganzen Leben war ich noch nie so unentschlossen gewesen.

Ich wollte nicht. Oh Gaia, ich wollte einfach nur hier weg.

Killian beobachtete mich und wartete geduldig, doch egal wie lange er auch ausharrte, eine Antwort hatte ich deswegen noch lange nicht für ihn.

„Wir können auch das System entscheiden lassen, wenn du das möchtest. Es wird dir den perfekten Partner zuteilen.“

„Den perfekten Partner“, murmelte ich und schnaubte dann sehr abfällig. „Ich will Marshall.“ Sonst niemanden. Natürlich nicht für Sex, den – auch wenn er nicht mein leiblicher Vater war – das wäre einfach nur schräg. Aber bei Marshall hatte ich mich immer geschützt und geborgen gefühlt, zwei der Dinge, die ich im Moment sehr dringend brauchte.

„Das wird sich nicht machen lassen, das weißt du. Außer du verrätst uns wo wir ihn finden können, dann bringen wir ihn zu dir. Wir erfüllen unseren Evas jeden Wunsch, wenn es sich machen lässt. Auf diese Art ehren wir ihre Taten.“

Marshall den Tracker ausliefern? Das würdigte ich nicht mal mit einer Erwiderung. Ich wollte zu ihm und nicht, dass er das gleiche Schicksal erlitt, wie ich.

„Nun gut, dann versuchen wir es doch einfach mal.“ Beinahe beiläufig begann Killian auf der Oberfläche seines Desk zu tippen und öffnete damit auf dem Bildschirm ein zweites Verzeichnis – dieses Mal zu ihm ausgerichtet. Er tippte einen Namen an und öffnete damit ein Foto, dass er erst vergrößerte und mir dann hindrehte. Jetzt hatte ich das Bild eines lächelnden Mannes vor Augen.

Er war etwa doppelt so alt wie ich, hatte hohe Geheimratsecken, viele Lachfältchen um die Augen und einen gepflegten Bart. Er wirkte … nett. „Wer ist das?“

Killian sagte nichts dazu, dass ich mich noch immer nicht mit den ganzen Adams bekannt gemacht hatte. „David Penn. 96%. Er ist … in Ordnung.“

Das kurze Zögern in seiner Stimme ließ mich vor diesem Mann noch mehr zurückschrecken, als die Aussicht darauf, was ich mit ihm tun müsste, wenn ich zu ihm ginge. „Nein, nicht der.“

„Gut. Dann …“ Er verstummte kurz, schaute mich nachdenklich an und begann dann einen anderen Namen aus der Liste zu suchen. „Was hältst du von diesem Mann?“ Wieder schob er mir das Bild zu.

Dieses Mal bekam ich das Foto von einem grauhaarigen Mann, der etwa genauso alt wie dieser David Penn war. Mit einem Lächeln strahlte er mir vom Bildschirm entgegen. Er sah nett aus. Und irgendwie kam er mir bekannt vor. Seine Gesichtszüge, das Lächeln und auch die Körperstatur wirkten vertraut, aber ich konnte ich nicht recht zuordnen, da ich mir sicher war, ihm noch nicht begegnet zu sein. „Irgendwo her kenne ich ihn.“

„Du bist ihm wahrscheinlich schon begegnet, oder hast ihn hier im Herz gesehen. Er ist sehr offen und viel mit Menschen zusammen. Er liebt die Gesellschaft von anderen. Und er ist gut zu den Evas. Er hat schon viele von ihnen eingeführt.“

Eingeführt. Auch eine nette Umschreibung dafür, mir verständlich zu machen, dass er vielen Evas den ersten Braten in die Röhre geschoben hatte. „Nein, das ist es nicht.“ Ich musterte das Bild erneut, kam aber einfach nicht darauf. „Wer ist der Kerl? Sag mir seinen Namen.“

Killian schwieg einen Moment in dem er mich nicht aus den Augen ließ. „Jesper Dahl.“ Er verstummte einen kurzen Moment. „Das ist mein Vater.“

Sein Vater?! „Du bietest mir deinen Vater an?!“ In diesem Moment schaute ich ihn wohl genauso an, wie mein Trotzkopf mich, wenn ich versuchte, ihm etwas in seinen sturen Schädel einzubläuen.

Mein kleiner Ausbruch zauberte nur ein Lächeln auf Killians Lippen. „Wir alle sind die Kinder eines Adams und einer Eva von Eden. Es ist nicht ungewöhnlich, dass verschiedene Generationen aufeinandertreffen, um eine neue entstehen zu lassen.“

Nein, ich war kein Kind dieses Ortes. „Das heißt, du möchtest, dass ich mit deinem Vater ins Bett steige?“

Sein Lächeln wirkte plötzlich etwas gezwungen und es dauerte einen Moment bis er sagte: „Er ist ein Adam, das ist sein Job.“

„Dann findest du es also in Ordnung, wenn ich mit deinem Vater ein kleines Brüderchen oder Schwesterchen für dich mache?“

Dieses Mal schien er seine Antwort sehr sorgfältig zu wählen. „Das ist unsere Aufgabe“, war dann jedoch alles was er sagte. Doch seine Körpersprache verriet viel mehr. Die Schultern waren leicht angespannt und er tippte immer wieder mit dem rechten Zeigefinger auf die Tischplatte.

Nein, er wollte das nicht, doch es war seine Pflicht es mir anzubieten und es zu arrangieren, sollte ich zustimmen.

Mit einem Gefühl der Erleichterung – wobei ich nicht wusste, woher die so plötzlich kam – tippte ich auf das Verzeichnis und zog es zu mir heran. Den eines stand fest: Künstlich befruchten würde ich mich nicht lassen, denn damit war die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft höher. Wenn ich mir einen Mann suchte, konnte ich vielleicht immer noch einen Ausweg finden.

Oder ich nahm direkt Sawyer. Schließlich hatte er mir gesagt, dass er mich nicht anfassen würde. Aber ihm konnte ich nicht vertrauen. Da war einfach dieses Gefühl in mir, wie ein warnendes Signal, das immer ertönte, wenn er in der Nähe war.

„Ich werde deinen Vater nicht nehmen“, erklärte ich laut, um mich von meinen Gedanken abzubringen.

Meine Entscheidung schien Killian seine leichte Anspannung wieder zu nehmen. Auch wenn er sagte, dass es kein Problem für ihn wäre – vielleicht glaubte er das ja auch wirklich – so gab es da einen Teil in ihm, dem das nicht gefiel. Und das wiederum gefiel mir. Was mich verärgerte. Mir sollte das nicht gefallen.

Vor mich hinbrütend, tippte ich einen der Namen an.

Das Bild des Mannes kannte ich schon von meiner früheren Recherche und es interessierte mich heute genauso wenig wie die letzten Male die ich es gesehen hatte.

Killian beobachtete mich schweigend und geduldig, während ich einen Namen nach dem anderen Auswählte und mir ihre Gesichter ansah.

Die wenigsten Männer dort waren in meinem Alter, zwei oder drei sogar noch jünger als ich. Einer hatte sogar erst vor ein paar Wochen seinen Dienst angetreten und laut Informationen, zwar schon zwei Frauen geschwängert, aber noch keine eigenen Kinder. Er war so jung, dass seine Wagen noch die kindlichen Gesichtszüge besaßen. Achtzehn, älter konnte er auf keinen Fall sein.

Die anderen Männer waren alle älter. Manche noch in den Zwanzigern oder Dreißigern. Der älteste Mann war sogar schon über sechzig und würde wohl bald den Ruhestand antreten. Wie viele Kinder er wohl unterm Strich gezeugt hatte?

Ich schüttelte den Kopf. Das war doch völlig egal.

Langsam schaute ich mir einen nach den anderen an. Es sollte nur so aussehen, als würde ich mir Gedanken über diese Männer machen. In Wirklichkeit aber versuchte ich einen Ausweg zu finden, der nicht damit endete, bei Sawyer zu landen. Doch als ich dann auf die Seite mit seinem Bild kam, verharrte ich bei ihm.

Es war nicht sein Anblick der mich zögern ließ, sondern das, was er mir geboten hatte. Würde er Wort halten und seine Finger bei sich behalten? Er wollte diese Tage nutzen, um seinen Plan richtig auszuarbeiten. Ein Plan, in dem seine Tochter, der Schlüssel zu unserer Freiheit war.

Salia.

Wie konnte ein kleines Mädchen uns zu unserer Freiheit verhelfen? Wie alt war sie überhaupt? Sehr alt konnte sie auf jeden Fall noch nicht sein. Also was war an ihr so besonders? Und wozu brauchte Sawyer eine Frau in seinem Plan?

„Hast du jemanden gefunden, der dir gefällt?“, fragte Killian, als ich nicht weitersuchte.

Ich zögerte, immer noch unentschlossen, drehte das Bild dann aber so, dass Killian das Gesicht des finster dreinblickenden Mannes mit den Narben und dem binden Auge sehen konnte.

„Sawyer?“, fragte er überrascht. Seine Lippen verzogen sich leicht vor Unmut. „Du möchtest wirklich zu Sawyer?“

Interessante Reaktion. „Stimmt mit ihm etwas nicht?“

„Nein das nicht, aber … er ist … nennen wir es, schwierig.“

Schwierig. So wurde sein asoziales Verhalten hier also interpretiert. „Er wird mir wenigstens nichts vorspielen und so tun, als wäre das alles völlig in Ordnung, wo wir doch alle wissen, dass es das nicht ist.“

„Keiner der Adams wird dir etwas vorspielen. Sie stehen alle zu deiner Verfügung und werden sich deinen Wünschen beugen. Sawyer ist jedoch selten kooperativ. Er sieht seine Aufgabe als Bürde und ist in seinen Umgangsformen oftmals sehr grob.“

Da erzählte er mir nichts Neues. „Das heißt, er wird nicht tun, was man von ihm verlangt?“

„Doch, das wird er. Er kennt und akzeptiert seine Aufgabe. Aber er ist ein sehr schwieriger Charakter. Und viele Evas haben den Eindruck, dass er Frauen nicht mag. Außer Celeste suchen sie ihn nur auf, wenn sie müssen.“

Das muss dann wohl an seinen einnehmenden Charme liegen, dem ich selber auch schon zu spüren bekommen hatte.

Ich schaute auf das Bild, immer noch nicht sicher, was ich tun sollte. Killian bot mir hier die Gelegenheit für einen sofortigen Rückzug. Er würde keine Fragen stellen. Genaugenommen hatte ich den Eindruck, er würde es sogar begrüßen, wenn ich einen Rückzug machen würde. Aber was blieb dann übrig? Andere Adams, unbekannte Männer deren Ziel es sein würde, mir die Frucht ihrer Lenden einzupflanzen.

Natürlich war es denkbar – sogar sehr wahrscheinlich – dass die anderen Adams sehr viel … netter sein würden. Aber es war zweifelhaft, ob sie es ehrlich meinen würden. Die Menschen an diesem Ort neigten dazu, einem das Gesicht zu zeigen, von dem sie glaubten, man wolle es sehen. Sawyer war nicht so. Er zeigte sehr deutlich, wer er war und was man von ihm zu erwarten hatte.

„Ist es nicht besser jemanden zu nehmen, der nicht so tut, als würde er mich mögen?“ Und Sawyer mochte mich ganz sicher nicht. Er brauchte mich, aber von mögen konnte hier keine Rede sein. Und so lange er mich brauchte, würde er zumindest an seinen Worten festhalten. Oder?

„Und was bringt dich auf den Gedanken, dass die anderen Adams dich nicht mögen könnten?“

„Was bringt dich auf den Gedanken, dass es anders ist?“

„Oh, das ist ganz einfach. Ich durfte dich kennenlernen und ich habe dich trotz deiner Stacheln sehr gerne.“ Lächelnd verschränkte er die Hände auf dem Tisch. Dabei beachtete er mein Misstrauen nicht weiter. „Und ich denke, genau das ist es, wovor du Angst hast.“

Angst? „Ich habe vor gar nichts Angst.“

„Jeder von uns hat Ängste, auch du, das ist nur menschlich. Im Moment jedoch fürchtest du dich einfach nur davor, dass es hier jemanden geben könnte, den du magst und dir damit einen Grund liefert, dich an diesen Ort zu binden. Darum hältst du dich von allen fern und neigst dazu, einen Adam wie Sawyer zu wählen, denn bei ihm läufst du nicht Gefahr, eine Bindung einzugehen.“

Meine Mundwinkel zuckten auf sehr sarkastische Art. Wenn er glaubte, das sei der Grund, warum ich zu Sawyer tendierte, war ich auf der sicheren Seite. „Hier gibt es niemanden der es wert wäre, gemocht zu werden.“

Killians Augenbraue wanderte ein Stück seine Stirn hinauf. „Niemanden?“

Naja, dich vielleicht. Oh Gaia, wo kam dieser Gedanke auf einmal her?! Zum Glück hatte ich das nicht laut ausgesprochen. Diese Worte in meinem Kopf waren bereits beunruhigend genug. „Nein, niemanden“, sagte ich mit fester Stimme und übertönte damit meine Gedanken. „Ihr alle seid nichts weiter als kleine Arbeiterbienen, die einer gefühlskalten und skrupellosen Königin folgen, ohne dabei ihren eigenen Verstand einzusetzen, oder Rücksicht auf andere zu nehmen.“

Irgendwas an diesen Worten ließ ihn schmunzeln.

„Was?“, fauchte ich. Das Lächeln auf seinen Lippen gefiel mir nicht.

„Du wirst weich Kismet. Die absolute Unnachgiebigkeit in deinen Worten hat nachgelassen.“

Das ließ mich stutzen, aber dann musste ich einsehen, dass er durchaus recht haben könnte. „Ich bin es einfach nur müde, mich immer und immer wieder zu wiederholen.“

„Das ist schade, ich mag deinen Kampfgeist.“

Seine Worte waren so leise, dass ich einen Moment glaubte, mich verhört zu haben. Aber nein, er hatte das wirklich gesagt. Und irgendwie machte mich das verlegen. Ich versuchte nicht mal seinem Blick standzuhalten. Seine Tischplatte war auf einmal viel interessanter.

Als würde Killian spüren, dass er sich zu weit vorgewagt hatte, räusperte er sich und wischte mit der Handfläche nicht-vorhandenen Staub von der Tischplatte. „Ich glaube, wir sind ein wenig vom Thema abgekommen.“

„Ein wenig“, stimmte ich ihm zu.

„Damit steht immer noch die Frage im Raum, wie du dich entscheidest. Die In-vitro-Fertilisation scheinst du ja rigoros abzulehnen. Liege ich damit richtig?“

Ich nickte. „Keine künstliche Befruchtung.“

„Also ein Adam.“ Nachdenklich tippte er wieder auf die Tischplatte. „Der Name Joshua Soor sag dir bestimmt etwas, oder?“

„Ja“, erwiderte ich. Das „Leider“ verkniff ich mir jedoch. „Er war mal ein Streuner und kam bereits als kleines Kind nach Eden.“

„Die Alte Welt hat es nicht gut mit ihm gemeint. Als er zu uns kam, hatte er alles verloren. Heute kann er wieder lachen.“

„Was ist mit ihm passiert?“

„Finde es doch heraus.“

„Kein Interesse.“ Außerdem bezweifelte ich, dass Joshua erfreut reagieren würde, wenn ich ihn auswählen sollte. Seit ich Lija die Nase blutig geschlagen hatte, begegnete er mir immer mit einer gewissen Vorsicht. Vielleicht befürchtete er ja, in könnte wie eine Bombe explodieren und mit mir in den Tod reißen.

„Joshua also nicht.“ Wieder begann er durch die Liste zu scrollen. „Bist du schon einmal Haydn Staab begegnet? Er ist der ältere Bruder von deiner Freundin Roxana.“

Roxy hatte einen Bruder? Eigentlich sollte mich das nicht überraschen, hier hatte schließlich jeder Brüder und Schwestern und Mütter und Väter und Tanten und Onkels. „Sie ist nicht meine Freundin.“ Ich hatte hier keine Freunde.

Etwas an diesen Worten ließ Killian lächeln, doch es verblasste langsam, als er unten an der Liste angekommen war. Er runzelte die Stirn und begann wieder hochzuscrollen. „Er ist ein ziemlicher Einzelgänger und lebt eher zurückgezogen, ist aber sehr nett.“

So viele nette Kerle auf einen Haufen, langsam wurde es unglaubwürdig.

Das Runzeln auf seiner Stirn vertiefte sich noch ein wenig. „Das ist ja seltsam.“

„Was denn?“ Ich beugte mich vor, um der Sache selber auf den Grund zu gehen, aber da ich keine Ahnung hatte, was da seltsam sein sollte, wusste ich auch nicht, wonach ich suchen sollte.

„Haydn ist in deiner Liste gar nicht aufgeführt.“ Er probierte es anders, tippte oben in die Suchleiste und gab den Namen dort direkt ein. Das virtuelle Fenster leerte sich und übrig blieb nur eine ausgegraute Zeile. „Was zum …“ Er tippte auf den Namen. Gleich darauf öffnete sich das Bild von einem Mann Anfang zwanzig. Dunkles, welliges Haar mit feuerroten Spitzen, ein feuerroter Kinnbart, dunkle Augen, ein Grübchen an der Wange. Seine Haut war nicht ganz so dunkel wie meine, aber sie ging in diese Richtung. Wenn man genau hinschaute, wies er eine gewisse Ähnlichkeit mit Roxy auf.

„Ich seid nicht kompatibel.“ Der Ausdruck auf Killians Gesicht wurde immer verwirrter. „Das verstehe ich nicht.“

„Was ist denn los?“

„Du kannst Haydn nicht auswählen.“

Ich konnte mich gerade noch so zusammenreißen, um nicht in Jubelrufe auszubrechen. „Und das ist schlimm?“

„Nein, nur seltsam.“ Er öffnete ein weiteres Fenster und rief darauf ein paar Datensätze auf. „Im Normalfall hat jede Eva ein paar Adams, die sie nicht auswählen kann, weil sie auf irgendeine Art mit ihnen verwandt ist und wir sehr darauf achten, den Genpool sauber zu halten. Aber du hast außer deiner Schwester keine Verwandten in der Stadt, was bedeutet, du müsstest eigentlich auf jeden Adam zugriff haben.“

Der Digital-Desk hab ein Warngeräusch von sich.

„Was soll das denn?“

„Was hast du gemacht?“ Ich streckte den Hals. Nicht dass es mir etwas brachte.

„Ich habe keinen Zugriff auf die Daten, die ich suche.“ Er schüttelte völlig unverständlich den Kopf. „Das ist wie mit deiner DNA-Analyse, wirklich merkwürdig.“

„Ist doch egal.“ Ich lehnte mich wieder auf dem Stuhl zurück. „Ich will diesen Haydn sowieso nicht.“ Genau genommen, wollte ich niemanden, aber das brauchte ich nicht noch einmal betonen.

Killian wirkte immer noch ein wenig verwirrt, als er das Fenster wieder schloss und in das Verzeichnis der Adams zurückkehrte. Doch wenn man nach der tiefen Falte urteilte, die sich zwischen seine Augenbrauen in die Stirn grub, beschäftigte ihn die Sache weiterhin. „Du hast recht, wir sollten uns mit geeigneten Kanditen beschäftigen.“

Ähm … wann hatte ich sowas gesagt?

„In Ordnung.“ Killian versuchte sich wieder auf seine Aufgabe zu konzentrieren. „Wie wäre es dann mit Tican Costa.“ Er suchte den Namen aus der Liste heraus und gleich darauf lächelte mir Tican vom Bildschirm aus zu. „Er ist zwar noch recht unerfahren, aber kommt deinem Alter recht nahe. Er ist ein netter Junge und wird dich …“

„Hör auf damit“, bat ich und Killian verstummte sofort. Als wenn ich ihn an mich heranlassen würde. Ich hatte gesehen, wie gleichgültig ihm Roxys Schwangerschaft war und dass, obwohl er der Babypapa war. „Ich weiß was du vorhast, aber egal was du sagst, du wirst es nicht schaffen, mir einen dieser Männer schmackhaft zu machen. Mir ist es egal wie sie aussehen, wie alt sie sind, oder was für Talente sie haben. Selbst wenn sie die tollsten Männer der Welt wären, würde ich nicht zu ihnen gehen wollen.“

Killian war meinen Worten aufmerksam gefolgt und verschränkte nun wieder die Hände vor sich auf der Tischplatte. „Nun gut, dann werde ich dich damit nicht weiter belästigen. Dennoch brauchen wir eine Lösung. Die Frage, was du nun tun wirst, bleibt also weiter bestehen.“

Ich hatte eine Lösung. Lasst mich einfach gehen. Aber dieser Satz war in der Zwischenzeit einfach nur ausgeleiert. Man würde mir nicht einmal mehr zuhören.

So konnten wir die bestehende Frage eigentlich nur noch nach dem Ausschlussverfahren klären. Die künstliche Befruchtung kam für mich auf keinen Fall in Frage, genau wie die Idee zu einem Adam zu gehen, der nichts lieber tun würde, als mich einzuführen.

Da blieb eigentlich nur eine einzige Möglichkeit. Sie würde nicht nur verhindern, dass ich schwanger wurde, sondern mir auch noch zur Flucht verhelfen. Immer vorausgesetzt, er hatte die Wahrheit gesagt.

Wenn es doch nur nicht Sawyer wäre, dann wäre diese Entscheidung viel einfacher. Ich konnte ihm einfach nicht vertrauen.

„Also, was tun wir jetzt, Kismet?“

Gute Frage. Ich kaute auf meiner Unterlippe herum, meine Zweifel und Hoffnungen wogten wie Wellen durch meine Gedanken, aber eine Lösung für mein Problem, ergab sich auf die Schnelle natürlich nicht. Das war alles so verkorkst. „Ich glaube, ich gehe zu Sawyer.“

So wie Killian schaute, hatte er wohl immer noch gehofft, dass ich diese Idee aufgab. „Bist du dir sicher?“

Ob ich mir sicher war? Nein, ich war mir ganz und gar nicht sicher. Ich wusste nicht, ob ich diesem Kerl vertrauen konnte, noch, was er genau geplant hatte, oder welche Rolle er mir in diesem Stück zuwies. Ich wusste nur, er war im Moment das kleinste von vielen, großen Übeln. Deswegen gab es auf Killians Frage nur eine einzige Antwort: „Ja, ich bin mir sicher. Ich wähle Sawyer.“

Keiner von uns beiden, schien sich mit dieser Entscheidung, besonders anfreunden zu können und dennoch versprach Killian, alles Nötige in die Wege zu leiten. Ich konnte es gerade noch so verhindern, bei diesen Worten in Panik zu verfallen und mich aus dem nächsten Fenster zu stürzen.

Eine halbe Stunde später hatte ich das Hospiz verlassen, lief ziellos durch die Straßen, bis ich den großen Park erreicht hatte und haderte mit mir selber.

Ich würde es bereuen, da war ich mir ganz sicher. Eigentlich bereute ich es bereits jetzt, dabei lagen noch ein ganzer Nachmittag und eine komplette Nacht vor mir, bevor ich mich Sawyer und seinen Plänen stellen musste.

Morgen. Morgen würde ich zu ihm gehen und dann würde sich zeigen, ob ich einen riesigen Fehler begangen hatte, oder dies wirklich der Weg in meine Freiheit war.

Salia war der Schlüssel.

Dieser Satz ließ mir keine Ruhe. Ich verstand ihn einfach nicht. Wie konnte ein kleines Kind uns alle hier rausbringen und ein System überlisten, an dem selbst Erwachsene scheiterten? Das ergab keinen Sinn. Vielleicht war es ja doch nur eine Falle und ich war voll in sie hineingetappt. Nur was sollte diese Falle bezwecken? Mich zu brechen? Das würden sie wahrscheinlich viel unkomplizierter hinbekommen. Und mein Vertrauen konnten sie sich auf diesem Weg auch nicht erschleichen. Also was für Vorzüge konnte dieses Vorhaben für Eden haben?

Mir fielen keine ein.

Seufz.

Ich verschränkte die Arme locker vor dem Bauch und genoss das kühle Gras an meinen Füßen. Die Sonne brannte heute heiß vom Himmel und wärmte meine Schultern. Es war ein schöner Tag. Wenn nur nicht all diese Mauern um mich herum wären. Und diese Menschen. Oder Carrie, die zwar Abstand hielt, mich aber trotzdem die ganze Zeit wie ein aufdringlicher Schatten verfolgte. Ich schaffte es einfach nicht ihre Gegenwart auszublenden, dabei waren knapp zehn Meter zwischen uns.

Ohne weiter auf sie zu achten, hing ich meinen Gedanken nach und ließ ich mich von meinen Füßen durch die Anlage tragen.

Heute waren viele Menschen unterwegs. Nun gut, hier in der Stadt waren immer viele Menschen, aber hier im Park schienen sie heute überall zu sein. Sie gingen spazieren, saßen auf Banken, oder lagen im Gras – meist mit einer Decke unter sich.

Eine Handvoll Kinder rannten umher, eines von ihnen hatte sogar einen Hund bei sich, der kleiner war, als die Katzen aus dem Paradise. Diese ganzen Kinder würden einmal so sein wie ich, Sklaven der Gesellschaft, ohne jede Entscheidungsfreiheit, nur da, um den großen Ganzen zu dienen. Ihre Leben waren eigentlich schon vorbei, dabei hatten sie noch nicht einmal richtig begonnen.

Das freudige Lachen eines kleinen Mädchens zog meine Aufmerksamkeit auf sich. So entdeckte ich Sawyer. Er saß etwas abseits von den anderen, hatte sich bequem auf einer Decke im Gras ausgestreckt und kitzelte gerade den Bauch von dem kleinen Mädchen neben sich. Sie kreischte freudig, strampelte mit den Beinen und versuchte Sawyers Kitzelattacke mit ihrem weißen Stofftier abzuwehren. Sie schaffte es sich von ihm zu befreien und ließ sich dann bäuchlings auf den Mann fallen und versuchte ihn ihrerseits zu kitzeln.

Das kleine Mädchen musste Sawyers Tochter Salia sein. Ich erkannte sie von den Fotos aus dem Verzeichnis der Adams. Sie war in der Zwischenzeit zwar älter, doch der Farbton ihrer langen, braunen Haare und auch die Züge des Gesichts, ließen mich an ihrem Vater denken.

Doch was mich bei diesem Anblick wirklich faszinierte, war Sawyer. Er lächelte. Nicht auf diese arrogante und herablassende Art, wie er es bei mir immer tat, das hier war ein ehrliches Lächeln, eines, das von Herzen kam.

Dieses Lächeln bezauberte mich für einen Moment so sehr, dass ich gar nicht mitbekam wie Carrie neben mich trat, bis sie mich ansprach. „Ein herzerwärmendes Bild, nicht wahr?“ In ihrem Seufzer, klang eine ganze Welt von Sehnsucht mit.

„Allerliebst“, murmelte ich und wandte mich ab. Ich wollte nicht mehr über Sawyer und den morgigen Tag nachdenken, oder darüber, was es für mich bedeutete. Die Weichen waren gestellt und jetzt musste ich das Beste daraus machen.

Ich lief in die Schatten eines kleinen Baumhains und einen kurzen Moment konnte ich mir einbilden, draußen zwischen den Ruinen der freien Welt zu sein. Ich verdrängte all die fremden Geräusche und lauschte auf das Rascheln des Windes in den Baumkronen. Irgendwo zwischen den Blättern konnte ich einen Kakadu krächzen hören. Ein anderer erwiderte seinen Ruf.

Wenn es doch immer so friedlich sein könnte.

Langsam strebte ich dem Rosengarten entgegen. Er lag so abgelegen, dass sich nur selten jemand hier her verirrte, was ihn für mich zu einem perfekten Rückzugsort machte. Eigentlich hatte ich in meiner ganzen Zeit hier, nur einmal jemand anderes am Brunnen gesehen – abgesehen von Killian, der ihn mir gezeigt hatte – und das waren Sawyer und Celsete.

Das lag nun schon fast einen Monat zurück.

Wie stark mein Widerstand noch in den ersten Tagen gewesen war, unnachgiebig und jeder Zeit zum Kampf bereit. Aber nun bröckelte er. Im Moment versuchte ich mich eigentlich nur noch irgendwie durchzuschlagen, ohne dabei unterzugehen. Doch mit ein bisschen Glück, wäre das auch bald vorbei.

Schon wieder drängten meine Gedanken mich in diese Richtung.

Genervt von mir selber, trat ich in den kleinen Rosengarten und versicherte mich erstmal mit einem Blick, dass ich auch wirklich allein war und nicht wieder ein Pärchen beim Liebesspiel störte. Obwohl Sawyer sich ja nicht hatte stören lassen.

Kurz überlegte ich, ob ich mich auf einer der Bänke niederlassen sollte, entschied mich dann aber für die kleine Rasenfläche und legte mich dort auf den Rücken. Wenn ich starr nach oben schaute, konnte ich mir einbilden, auf meiner Brücke zu liegen und in den wolkenlosen Himmel zu starren.

Jetzt war es vielleicht noch Einbildung, aber wenn sich das Risiko bezahlt machte, dann würde es bald wieder Realität sein. Vorausgesetzt, der Plan war wirklich so gut, wie Sawyer behauptete. Meine Pläne jedenfalls, waren alle gescheitert. Ich war eben kein Denker, ich war jemand der handelte und im Pläne schmieden war ich eine Niete, wie ich in letzter Zeit nur allzu oft bewiesen hatte. Egal was ich mir vornahm, im besten Falle gelangt es mir nur einfach nicht, im Schlimmsten, ging es nicht nur nach hinten los, ich war am Ende auch die Leidtragende. Dieses Mal jedoch würde es anders sein. Es musste anders sein, denn mir gingen allmählich die Optionen aus.

Ich gähnte, schloss die Augen und genoss die warme Sonne in meinem Gesicht. Ich war so müde. Nicht nur vom Schlafmangel, es war diese ganze Atmosphäre und der Alltag an diesem Ort, der von meinen Kräften zehrte. Die vielen schlaflosen Nächte machten sich bemerkbar und forderten ihren Tribut. Die Welt um mich herum entfernte sich und ich spürte, wie ich langsam versank.

Um mich herum, erwachte ein friedlicher Wald. Einzelne Sonnenastrahen blitzten durch das dichte Blätterdach hindurch und blendeten mich. Vögel zwitscherten und trällerten in den Ästen und die ersten Frühlingsknospen blühten an den Zweigen. Der Wind trug den Geruch von Freiheit mit sich. In der Ferne hörte ich das Rauschen von Wasser.

„Mama?“ Auf der Suche nach meiner Mutter, drehte ich mich einmal um mich selber, aber ich war ganz allein. „Mama?“

Wieder antwortete mir nur der Wind.

Langsam trat ich einen Schritt auf das Geräusch des Wassers zu. Das Gras unter meinen Füßen, begann in Zeitraffer zu verdorren. Das Zwitschern der Vögel erstarb und der Wind roch mit einem Mal schwer nach Kupfer. Ich machte noch einen Schritt. Die Blätter an den Bäumen vertrockneten und fielen wie Herbstlaub um mich herum zu Boden. Die frischen Knospen verwelkten einfach und der fröhliche Sommerhimmel wurde dunkel und schwarz.

Frösteln schlag ich die Arme um mich und lief weiter Richtung See. Mit jedem Schritt verrottete die Natur um mich herum weiter. Die Bäume wurden alt und Morsch und knarrten im eiskalten Wind. Gräser und Kräuter zerbröselten, bis nur noch Staub von ihren übrig war. Der eben noch fruchtbare Waldboden, war nun nicht mehr als vertrocknete Erde.

Als hinter mir ein Ast knackte, wirbelte ich herum. Vor mir breitete sich ein verdorrter Wald aus. Die Äste der Bäume bohrten sich sklettartig in den schwarzen Himmel. Zwischen den Baumstämmen, waberten tiefe Schatten wie Nebel. Irgendwo tropfte etwas.

Tropf, tropf, tropf.

Ich fröstelte. „Mama?“

Keine Antwort, doch mit einem Mal hatte ich das Gefühl, nicht mehr länger allein zu sein. Unsichtbare Augen schienen mich zu beobachten. Sie lauerten und brandmarkten mich als leichte Beute. Ich spürte, wie sich mir die kleinen Härchen auf den Armen aufstellten.

Irgendwo raschelte es, obwohl es hier nichts mehr gab, was rascheln konnte. Da war nur noch der nackte Erdboden, die verdorrten Bäume und der dunkle Himmel.

„Du gehörst Eden.“

Ich erschrak und wirbelte herum. Vor mir stand ein Tracker in seiner Uniform, die Machete in seinen Händen erhoben, bereit zum Schlag. Doch es war nicht die Waffe, die mich am Meisten schockierte, es war das höhnische Lächeln des Mannes. Und sein Gesicht. Der Tracker, er war Sawyer.

„Niemand entkommt uns“, flüsterte er und ließ die Waffe mit einem Kampfschrei auf mich herunterfahren.

Ich fuhr auf und saß kerzengerade im Gras. Einen Moment war ich orientierungslos und wusste nicht mehr wo ich war, gleichzeitig schaute ich mich hektisch nach Sawyer und der Machete um. Doch erst als ich Carrie auf eine der Steinbänke sah, wie sie ihren Screen hielt und mich mit hochgezogener Augenbraue beobachtete, fiel mir wieder ein, wo ich war.

Ich war im Rosengarten, wo ich eingeschlafen sein musste. Die Sonne rollte bereits dem Horizont entgegen und machte damit der Dämmerung Platz.

Ein Traum, das war nur ein Traum gewesen, auch wenn mein beschleunigter Herzschlag etwas ganz anderes behauptete.

Mit einem tiefen Atemzug versuchte ich mein rasendes Herz zu beruhigen und mir selber zu versichern, dass ich nicht in Gefahr war. Naja, jedenfalls nicht in akuter Gefahr.

„Alles in Ordnung, Liebes?“

„Mir geht es gut.“ Und wenn ich erstmal diese Mauern hinter mir gelassen hatte, würde es mir noch viel besser gehen.

Der Gedanke erfreute mich im Moment nicht so sehr, wie er es eigentlich hätte tun sollen. Die Zweifel um meine Entscheidung bezüglich Sawyer, hatte mich bis in meine Alpträume verfolgt. Nun konnte ich aber nicht sagen, ob dieses Hirngespinst eine Warnung war, oder nur meiner überstrapazierten Phantasie entsprang. Sicher war nur eines: Selbst wenn ich Eden entkam, meinen Erinnerungen würde ich wohl niemals entkommen.

 

oOo

Kapitel 39

 

Hier saß ich nun in Killians Praxis, um die letzten Vorbereitungen über mich ergehen zu lassen und war so nervös, dass ich die Arme vor der Brust verschränkt hatte, um meine Hände ruhig zu halten. Zu allem Überfluss, war auch noch Agnes mit zwei weiblichen Gardisten anwesend und draußen vor der Tür standen drei weitere – meine ganz persönliche Eskorte. Da wollte wohl jemand ganz sicher gehen, dass ich auch wirklich in Sawyers Klauen landete.

„Nervös?“, fragte Killian mich, während er meinen Blutdruck kontrollierte.

Die Antwort darauf konnte ich mir sparen. Ein einfacher Blick reichte aus.

Killian lachte leise. „Das brauchst du nicht sein. Sawyer ist gut zu den Evas.“

„Warst nicht du es gewesen, der mir erklärt hatte, Sawyer sei nicht unbedingt der umgängliche Typ?“

„Ist er auch nicht.“ Nach einem Kontrollblick auf die Anzeige, löste er die Manschette von meinem Arm und legte sie achtlos auf seinem Desk ab. „Aber ich weiß aus verlässlichen Quellen, dass er sich auf die Frauen einstellen kann. Er wird gut zu dir sein und auf dich eingehen.“

Nein, würde er nicht. Darin lag zumindest meine Hoffnung. Ich brauchte niemanden, der sich auf mich einstellte und gut zu mir war. Ich brauchte jemanden, der mir aus diesem Sumpf heraushalf.

Bleib beim Thema, lass dir nichts anmerken! „Diese sichere Quelle ist nicht zufällig eine Eva?“

„Celeste, hauptsächlich.“

Ah, die Frau, die ihn, aus was-weiß-ich für Gründen, immer wieder aufsuchte. Aber da sie das tat, musste sie wohl wirklich etwas an ihm gefunden haben, was allen anderen entging. „Also kann ich mich auf ihre Aussage nicht verlassen und muss das Schlimmste annehmen.“

Killian schmunzelte. „Du nimmst von jeder Situation automatisch das Schlimmste an. Deswegen …“

„Ich habe noch einen dringenden Termin“, unterbrach Agnes Killians Versuch mich aufzuheitern, mit ihrer kratzigen Reibeisenstimme. „Ich würde es also begrüßen, wenn wir hier ein wenig vorankommen könnten.“

Ich würde auch so einiges Begrüßen, dachte ich bissig, verschaffte ihr aber nicht mal die Genugtuung, den Kopf zu drehen.

Killians Lächeln jedoch verrutschte ein wenig. „Es dauert so lange es eben dauert, Despotin Nazarova.“

War das Spott, was ich da in seinen Worten hörte?

Agnes ließ sich nicht anmerken, ob sie es auch vernommen hatte. Ihr Blick jedoch brannte sich in meinen Rücken, als versuchte sie allein damit, die ganze Prozedur zu beschleunigen. „Bitte zögern sie es nur nicht unnötig heraus.“

„Natürlich nicht.“ Killian war eindeutig gereizt. Es passte ihm nicht, die alte Vettel hier zu haben. Wahrscheinlich gehörte das normalerweise nicht zum Standardprogramm und war somit wieder Mal allein für mich arrangiert worden.

Was hatte ich nur immer für ein Glück.

Nach dieser unterschwelligen Rüge der Despotin, wurde Killian ein wenig Wortkarger. Er versenkte mehrere Spritzen voller Vitamine und Hormonen in meinen Armen, blieb mit seinen Erklärungen, wofür sie gedacht waren, eher einsilbig. Auch sein Lächeln wirkte unter Agnes‘ ungeduldigem Blick gezwungen.

Damit machte er auch mich immer nervöser. Ja, ich wollte zu Sawyer, um das ganze endlich hinter mich zu bringen und zu erfahren, wann und wie ich von hier entkommen konnte. Gleichzeitig fürchtete ich mich davor. Dann war da noch Nikita, die ich seit unserem Ausbruchsversuch nicht mehr gesehen hatte. Carrie holte zwar immer wieder Informationen über sie ein, aber das war nicht das Gleiche. Im Moment durfte ich nicht mal über das Komkon mit ihr Kontakt aufnehmen – das zerrte an mir.

„So, eine Sache noch, dann sind wir soweit fertig.“

Halbherzig streckte ich die Faust in die Luft. „Juhu“, machte ich nicht sehr begeistert.

Da kehrte endlich Killians echtes Lächeln zurück, das, das auch seine Augen erreichte und sie immer leicht vergnügt funkeln ließ. „Du bekommst etwas von mir, dass dich ein wenig empfänglicher macht. Und keine Sorge, es wird dich in keiner Weise beeinträchtigen.“

Meine Augenbrauen krochen aufeinander zu. „Was meinst du mit empfänglicher?“ Dass es eine Empfängnis erleichtern würde? Gut, das sollte kein Problem werden, denn es würde ja nichts geschehen, was zu einer Empfängnis führen konnte.

„Offener, oder auch zugänglicher.“

Das wiederum hörte sich nicht nach Empfängnis an. Egal was da jetzt kam, ich wusste schon jetzt, dass es mir nicht gefallen würde. Daher wurde ich äußerst misstrauisch, als er aus einem der unteren Schränke eine kleine weiße Schachtel herausholte. Das letzte Mal, als ich so eine Schachtel gesehen hatte, wurde mir ein Chip unter die Haut gepflanzt. Mein Misstrauen wuchs. „Was ist das?“

„Ein Aphrodisiakum.“ Killian ließ sich mir gegenüber auf der Schreibtischkante nieder, hob den Deckel ab und reichte mir den Unterboden der kleinen Schachtel. Darin lag eine Spritze, die der mit dem Chip gar nicht unähnlich sah. „Weißt du, was ein Aphrodisiakum ist?“

„Äh, ja.“ Es konnte das Verlangen nach Sex steigern und würde …

Die Erkenntnis ließ meine Schultern mit einem Schlag steif werden. Meine Finger verkrampften sich um die Schachtel. „Ihr könnt der Natur niemals freien Lauf lassen, nicht wahr?“ In meiner Stimme klang ein bitterer Unterton mit, doch es war die Angst, die mich mit einem Mal packte. Was würde dieses Zeug mit mir machen?

„Keine Angst“, versuchte Killian mich zu beruhigen. „Es hat nichts mit deiner Person zu tun, das ist eine Standardprozedur bei den Evas. Viele Frauen sind von diesem Mittel begeistert. Es steigert nicht nur die Lust, es entspann sie auch und ja, es hilft einem auch ein wenig die Hemmungen abzulegen. Es ist wichtig, während der Fekundation, Stress zu vermeiden.“ Er tippte mit dem Finger auf die Schachtel in meiner Hand. „Hier ist ein kleines Stäbchen drinnen, das ich dir in den Arm einsetzen werde. Er wird die nächsten Tage beständig einen Cocktail aus Serotonin, Oxytocin, Serotonin und noch ein paar anderen Stoffen abgeben. Diese Hormone werden dir dabei helfen, deine Zeit bei Sawyer zu genießen.“

Anders gesagt, ich wäre tagelang dauererregt, ohne die Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen. Nun war Erregung nicht unbedingt ein Problem, aber wie konnte ich mir sicher sein, dass dieses Zeug nicht bewusstseinsverändernd war? Würde ich noch wissen was ich tat, oder würde ich mich einfach auf Sawyer stürzen, ohne etwas dagegen tun zu können? „Ihr wollt also nur sicher gehen, dass ich reichlich oft gefickt werde?“ Ich war fassungslos. Nicht wirklich entsetzt, dass sie sich sogar in solch intime Momente einmischen wollten, aber bestürzt darüber, was das für meinen Plan bedeutete.

„Ich verbitte mir eine solche Ausdrucksweise“, mokierte Agnes sich. „Wir sind doch alle zivilisierten Menschen. Und das Aphrodisiakum hat sich oft als sehr nützlich erwiesen. Das positive Feedback belegt seinen nutzen. Es ist nichts Menschenunwürdiges daran.“

Das konnte sie aber auch nur sagen, weil sie nicht in meiner Haut steckte. Ein Aphrodisiakum. Das konnte alles ruinieren. Ich mochte Sex, aber ich wollte kein gesteigertes Verlangen haben, während ich tagelang mit einem Widerling wie Sawyer, in einem Haus eingesperrt war. Was sollte ich tun? In Rückzieher wäre zu auffällig. Außerdem würde das mein Problem nicht lösen, sondern nur verschlimmern.

Die einzige Möglichkeit den Plan noch erfolgreich zu Ende zu bringen wäre … oh Gaia, die einzige Möglichkeit wäre, mit Sawyer zu schlafen.

Nervös begann ich mit an der Ecke der Schachtel herumzuknibbeln. Bleib ruhig, forderte ich mich selber auf. Zeig ihnen nicht, dass sie gerade alles kaputt machen. Ich schaffte es nicht. Diese Medizin bedeutete, mich den Forderungen Edens zu unterwerfen. Sawyer war der Einzige, der mich hier rausschaffen konnte, ich musste also zu ihm. Doch wenn ich zu ihm ginge …

Meine Hände krampften sich um die Schachtel, als das Gefühl der Hoffnungslosigkeit in mich zurückkehrte.

„Kismet?“ Killian beugte sich ein wenig vor, um mir ins Gesicht sehen zu können. „Stimmt etwas nicht?“

Ob etwas nicht stimmte? Am liebsten hätte ich aufgelacht, doch nach Lachen war mir gerade absolut nicht zumute. „Nein“ flüsterte ich, wagte es dabei aber nicht, ihm ins Gesicht zu schauen. „Nein, alles in Ordnung.“

Leider stimmte meine Körpersprache nicht mit meinen Worten überein. Die steife Haltung und die hochgezogenen Schultern, wurden von Killian sehr wohl bemerkt. „Frau Nazarova, würden sie uns bitte ein paar Minuten zugestehen?“

Ich sah es nicht, aber ich konnte es mir geradezu vorstellen, wie sie unwillig die Lippen spitzte. „Doktor Vark, ich denke nicht …“

„Frau Nazarova“, unterbrach er sie mit fester Stimme, ohne sich von ihrer Stellung einschüchtern zu lassen. „Dies hier ist eine ärztliche Angelegenheit. Ich habe bereits zugestimmt, dass sie bei den Vorbereitungen anwesend sein dürfen, obwohl dies alles der ärztlichen Schweigepflicht unterliegt – und das ohne die Zustimmung der Patientin. Nun aber bitte ich sie, die Praxis einen Moment zu verlassen und draußen im Wartezimmer Platz zu nehmen, da ich mit der Patientin unter vier Augen sprechen muss. Sollten sie sich jedoch weigern, werde ich für diese Eva ein vorübergehendes Fortpflanzungsverbot aussprechen, da sie dann nicht ordnungsgemäß vorbereitet ist.“

Nun schaffte ich es nicht länger die alte Vettel zu ignorieren und beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Sie sah aus, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.

„Sie überschreiten ihre Kompetenzen, Doktor Vark.“

„Nein Frau Nazarova, das tue ich nicht. Sie allerdings schon, denn in diesem Bereich haben sie nichts zu sagen. Hier sind sie nichts weiter, als ein stiller Teilnehmer, der sich meinem Urteil unterwerfen muss.“

Die beiden lieferten sich ein Blickduell, in dem niemand nachgeben wollte. Agnes‘ Augen glitzerten dabei gefährlich, aber Killian gab einfach nicht klein bei. Und da die Despotin sich in eisernes Schweigen hüllte, sagte er schlussendlich. „Nun gut, dann bleibt mir nichts anderes übrig als ein Verbot auszusprechen.“ Er setzte sich in Bewegung und begann damit in seinen Schubladen nach Dokumenten zu kramen. „Mein hypokritischer Eid lässt keine andere Handlung zu und zwingt mich zu dieser Maßnahme, damit …“

Steif erhob Agnes sich von ihrem Stuhl und wandte sich der Tür zu. „Ich werde draußen warten.“

„Mein verbindlichster Dank.“

Auch die beiden Gardisten hinter Agnes, setzten sich in Bewegung, blieben aber noch mal stehen, als die Despotin an der Tür anhielt. „Und Doktor, das wird für sie Konsequenzen haben.“

„Ich tue nur meine Arbeit“, hielt er dagegen, ohne auch nur in kleinen wenig von ihr eingeschüchtert zu sein. „Der Schutz und das Wohlergehen meiner Patienten steht immer an erster Stelle.“

„Eine angemessene Einstellung“, erklärte Agnes trocken und verschwand dann mit ihren beiden Schatten aus der Praxis.

Mit dem Schließen der Tür, schien Killian ein wenig in sich zusammen zu sacken.

„Du findest sie wohl immer noch gruselig“, bemerkte ich leise.

Ein kleines Zucken seines Mundwinkels.

„Du hast dich ziemlich weit vorgewagt“, bemerkte ich. Es gefiel mir nicht sonderlich, aber ich war beeindruckt. Ich hatte noch nie gesehen, dass sich jemand so stark gegen Agnes aufgelehnt hatte.

„Ich bin mir sicher, dass ich dafür später noch büßen werde, aber das soll nicht deine Sorge sein.“ Er lehnte sich mir gegenüber wieder an die Schreibtischkante, nicht mal einen halben Meter von mir entfernt. „Und nun, sprich bitte mit mir.“

Ich sollte mit ihm sprechen? „Aber ich spreche doch mit dir.“

„Nein, nicht wirklich. Als du heute hier hereinkamst, konnte ich dir deinen Zwiespalt ansehen. Du bist noch immer nicht überzeugt, von dem was wir hier tun, aber du hast dich darauf eingelassen. Doch als ich das Aphrodisiakum herausgeholt habe, ging es augenblicklich steil bergab. Sag mir was dich daran so bedrückt.“

„Bedrückt?“ Meine Lippen wurden zu der Parodie eines Lächelns. „Missfällt trifft es hier wohl besser.“ Denn dieses kleine, unscheinbare Ding, zerstörte das ganze Vorhaben.

„Du siehst es als Eingriff in deine Privatsphäre.“

„Wie sollte ich das nicht so sehen?“, schnappte ich und konnte mich kaum noch ruhig auf meinem Stuhl halten. „Diese Stadt, die Menschen hier – du! – ihr seid immer da! Ganz egal was ich tue. Und jetzt wollt ihr selbst das kontrollieren? Warum könnt ihr es nicht einfach geschehen lassen? Ich will keine Drogen.“

„Es sind keine Drogen, es ist nur ein harmloses Mittel, das deine Libido steigern soll.“

Er sagte das so ruhig, dass ich ihm am liebsten die blöde Schachtel an den Kopf geworfen hätte, nur um ihm eine menschliche Reaktion zu entlocken. Ich wollte, dass er sauer wurde, damit auch ich richtig sauer werden konnte. Dabei brauchte ich eigentlich nicht noch einen weiteren Grund, die hatte ich schließlich zu genüge.

„In Ordnung“, sagte er plötzlich, rutschte von der Schreibtischkante und hockte sich direkt vor mich, um mit mir auf Augenhöhe sprechen zu können. „Es ist mir klar, dass du das nicht verstehen kannst. Diese Lebensweise ist für dich nicht leicht zu akzeptieren und vielleicht … Kismet.“ Er legte seine Hand auf meine verletzte, die sich noch immer um den kleinen Karton krampfte und ich kam nicht mal auf die Idee, ihn abzuschütteln. „Du weißt, dass du das nicht tun musst. Wir können deinen Termin bei Sawyer noch immer absagen und die Prozedur stattdessen hier in meiner Praxis durchführen. Eine In-vitro-Fertilisation wird für dich auch viel Stressfreier vonstattengehen. Ich glaube, das ist in deinem Falle die beste Lösung.“

Wenn es überhaupt möglich war, dann versteifte ich mich noch mehr. Allein der Gedanke, mich bei Killian auf diesen Stuhl zu setzen, während er auf medizinischem Wege dafür sorgte, dass ich schwanger wurde, machte mir eine scheiß Angst. Nicht nur wegen dem Ergebnis, sondern auch, weil es in meinen Ohren gar nicht so schlimm anhörte.

Wenn Sawyer doch nur ein wenig wie Killian wäre, dann wäre das alles vielleicht gar nicht so schwer.

Bei Gaias rachsüchtigen Zorn, was dachte ich da eigentlich?!

„Nein.“ Ich versuchte meine Stimme fest klingen zu lassen. „Nein, das möchte ich nicht.“ Nicht nur, weil ich absolut kein Kind wollte, sondern auch, weil meine Chance hier zu entkommen, damit praktisch auf nicht-mehr-messbar sanken.

Meine einzige Chance auf Freiheit, war und blieb Sawyer. Es führte kein Weg daran vorbei. Ich musste zu ihm, damit ich endlich erfuhr, wie der Plan lautete. Nur dieses Aphrodisiakum …

„Du möchtest aber auch nicht zu Sawyer“, sagte er leise.

Meine Lippen wurden zu einem dünnen Strich. „Ich möchte das alles nicht, doch das ist vollkommen egal. Aber dieses Zeug …“ Ich drückte die Schachtel ein wenig fester. „Das ist das Schlimmste, was ihr mir bis jetzt angetan habt.“ Das war es nicht, aber dieses kleine Ding konnte alles zunichtemachen.

Killian betrachtete mich sehr eindringlich, sodass ich mich gezwungen sah, den Blick abzuwenden. „Das Aphrodisiakum wird dich in keiner Weise beeinträchtigen. Du wirst noch du selbst sein und nur Sawyer ist bei dir. Er wird der Einzige sein, der dich sehen kann, der Einzige der dir nahekommt. Diese Tage gehören allein euch beiden, daran ändert auch dieses kleine Medikament nichts.“

Das stimmte vielleicht, wenn ich das tat was sie von mir erwarteten, aber das war gar nicht vorgesehen.

„Niemand wird deine Intimsphäre verletzen, das schwöre ich dir.“

Er brachte seine Worte so überzeugend hervor, dass ich sie glauben wollte. Wäre die Situation eine andere, würde ich das vielleicht sogar tun, doch so wie die Dinge standen, konnte ich es nicht. Ich begann ihm zu vertrauen, und das war nicht klug. Killian war der Feind.

„Kismet, sieh mich an.“

Der Feind. Ich musste es mir immer wieder sagen. Killian war der Feind. Aber … wenn er mein Gegner war, was war dann Sawyer? Sicher kein Freund. Wäre er ein Freund gewesen, dann hätte er mich vor diesem Zeug gewarnt. Killian hatte gesagt, dass es zum Standartverfahren gehörte, es den Evas zu injizieren. Das es …

Aber Moment Mal! Sawyer wusste von dem Aphrodisiakum. Er wusste, dass man es mir geben würde, wenn man mich zu ihm schickte. Hieß das, er hatte es in seinem Vorhaben berücksichtigt? Sawyer hatte mir versichert, er würde mich nicht anfassen. Das hieß doch, dass er eine Lösung für dieses Problem parat hatte, oder?

Nun ja, wahrscheinlich. Zumindest wenn ich seinen Worten glauben konnte – was ja immer noch fraglich war.

Verdammt noch mal, dieses Grübeln brachte mich nicht weiter. Bei all den Wenn‘s und Aber‘s blieb mir eigentlich nur eine Möglichkeit, die mir eine Chance auf Freiheit einräumte.

„Kismet …“

„In Ordnung.“ Diese Worte waren fast ein Flüstern, ein Flüstern das mein Leben bestimmte und ich konnte nur hoffen, damit keinen gewaltigen Fehler begangen zu haben. „In Ordnung“, wiederholte ich mich festerer Stimme und zwang mich meinen Klammergriff um das Aphrodisiakum zu lockern. Und auch ihm in die Augen zu schauen. „Ich werde tun, was ihr von mir verlangt.“

Das schien Killian nicht nur zu überraschen, sondern auch zu bestürzen. „Gut“, sagte er langsam. „Das ist … gut.“

„Ich will es einfach nur noch hinter mich bringen“, fügte ich noch hinzu, da ich nicht riskieren wollte, dass meine plötzliche Zustimmung ihn misstrauisch machte.

„Du wirst sehen, es wird nicht annähernd so schlimm werden, wie du es dir jetzt noch vorstellst.“

Seine Versuche mich zu beruhigen in allen Ehren, aber sie waren wirkungslos. Trotzdem sagte ich: „Ja, wahrscheinlich hast du recht.“

Nun schlich sich wieder ein kleines Lächeln auf seine Lippen. „Ich weiß, dass du mir nicht glaubst, aber das wirst du noch. Und jetzt zum Aphrodisiakum.“ Vorsichtig entfernte er meine Finger von der kleinen Schachtel, legte sie auf den Tisch und begann dann eine Stelle an meinem linken Oberarm zu säubern. Als er dann die Spritze nahm und ansetzte, musste ich schlucken. Ich zwang mich, still zu halten und dann war es auch schon vorbei. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Nur noch ein kleines Pflaster drauf, dann war ich fertig.

„Und, ist doch gar nicht so schlimm, oder?“

Ich verkniff es mir im etwas Passendes an den Kopf zu werfen und beließ es einfach bei einem bösen Blick, der ihn seltsamerweise leise Lachen ließ, während er an seinem Schreibtisch zurückkehrte, um etwas auf seinem Desk einzugeben. „Das Mittel wird in der nächsten halben Stunde zu wirken beginnen. Es sind zwar keine Nebenwirkungen bekannt, aber solltest du dich schlecht fühlen, Kopfschmerzen, Übelkeit, oder andere Beschwerden entwickeln, ruf mich sofort an. Oder sag es Sawyer, der weiß dann schon, was zu tun ist.“

Ich nickte ein wenig steif.

„Na gut“, sagte er dann und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Sein Blick musterte mich eindringlich. „Wenn du keine Fragen mehr hast, dann steht deiner Fekundation nun nichts mehr im Wege.“

„Ich Glückliche.“ Ich wusste, dass ich jetzt aufstehen und gehen sollte, aber etwas hielt mich auf meinem Stuhl.

„Du musst nicht gehen.“ Killians Stimme war leise, aber auch sehr betont. „Du kannst dich immer noch umentscheiden, es ist noch nicht zu spät.“

Ja, das konnte ich, aber das würde es nicht besser machen. „Es scheint mir fast so, als wolltest du nicht, dass ich zu einem Adam gehe.“ Ich versuchte es mit einem scherzhaften Unterton, doch in Killians Gesicht stand ein ungewohnter Ernst.

„Ich bin nach wie vor der Meinung, dass eine In-vitro-Fertilisation in deinem Fall die bessere Option wäre.“

Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und musterte ihn nun meinerseits. „Also möchtest du mich selber befruchten?“, neckte ich ihn und fragte mich gleichzeitig, was plötzlich in mich gefahren war. Doch es brachte endlich sein richtiges Lächeln zurück.

„In dem Rahmen meiner Möglichkeiten, ja.“

Ein warmes Gefühl machte sich in mir breit, dass ich sogleich wieder erstickte, indem ich hastig vom Stuhl aufsprang. „Das wird nicht passieren.“ Das kam unfreundlicher als beabsichtigt aus meinem Mund, doch ich verbot mir, mich zu revidieren. „Ich muss jetzt gehen.“

„Wahrscheinlich.“

„Gut. Dann … dann sehen wir uns.“

„In fünf Tagen.“

Fünf Tage, in denen ich zusammen mit Sawyer in sein Haus eingeschlossen sein würde. Mit einem letzten Blick zu Killian, eilte ich zur Tür, hinter der die Despotin und fünf Gardisten, samt meiner sogenannten Übernachtungstasche, auf mich warteten. Gerade als ich durch die Tür schritt, sagte Killian noch leise: „Viel Glück, Kismet.“

Glück. Ja, das konnte ich wirklich gebrauchen, denn ich wusste nicht genau, was jetzt auf mich zukommen würde. „Danke“, war das Einzige, was noch von mir kam, dann war ich zur Tür heraus.

Agnes verlor keine weitere Zeit. Sobald sie sich versichert hatte, dass ich vorbereitet war, verließ ich samt meiner Eskorte das Hospiz und wurde mit Hilfe einer Limousine in die Siedlung gefahren.

Sawyer wohnte am nördlichen Ende der City, in einem modernen Flachbau mit weißen Fassaden, großen Fenstern und einem üppigen Garten. Nur ein paar Häuserreihen hinter ihm, erhob sich die Mauer des inneren Kreises.

Als wir am Straßenrand hielten und ich zusammen mit Agnes und unserem Anhang aus dem Wagen stieg, zogen ein paar Wattewolken geisterhaft über den ansonsten strahlend, blauen Himmel.

Das Haus von Sawyer war nur noch ein paar Meter von uns entfernt. Ich konnte bereits die Beschaffenheit der Fassade erkennen. Eingebettet stand es zwischen turmhohen Bäumen, die ihren Schatten, auf das kleine Gebäude warfen, als wollten sie es vor der Welt verstecken. Gepflegte Büsche und Beete drumherum verliehen dem Bild etwas Idyllisches.

Abgeschieden und friedlich.

Wie konnte etwas so unschuldiges, wie ein einfaches Haus im Sonnenlicht, nur so gefährlich wirken?

Ich wollte nicht hier sein. Am liebsten hätte ich auf dem Absatz kehrt gemacht und wäre in die andere Richtung davongelaufen. Aber meine Aufpasser würden das sicher nicht zulassen.

Angeführt wurde unsere kleine Prozession von Agnes. Sie hatte noch kein Wort zu mir gesagt, seit wir Killians Praxi verlassen hatten und langsam begann ich mich zu fragen, warum sie unbedingt dabei sein musste. Wahrscheinlich wollte sie sich nur persönlich davon überzeugen, dass ich auch an meinem Ziel ankam.

Noch immer blieben alle still, als Agnes vor der Haustür zum Stehen kam und sehr nachdrücklich anklopfte. Klonk, klonk. Dann warteten wir.

Wahrscheinlich waren es nur ein paar Sekunden, maximal eine Minute, doch mir schien es als zöge sich die Zeit endlos in die Länge. Nicht das ich unbedingt in das Haus hinein wollte. Naja, nicht wirklich zumindest. Dann aber doch irgendwie.

Oh Gaia, ich war so sehr im Zwiespalt, dass ich selber nicht mehr genau wusste, was ich eigentlich wollte. Diese ganze Situation setzte mir mittlerweile schlimmer zu, als ich bisher geglaubt hatte. Und dieses dumme Aphrodisiakum, machte sich langsam bemerkbar. Ich konnte es spüren und ehrlich gesagt, war mir das unangenehm. Keine Aussicht auf die versprochene Entspannung. Na so ein Wunder aber auch.

Ich wollte hier einfach nur noch weg.

Als die Tür dann geöffnet wurde, schlich sich ein Stirnrunzeln auf meine Stirn. Sawyer trug eine legere Hose, aus einem dunkelblauen Stoff, den sie hier in der Stadt Jeans nannten. Dazu ein langärmliges schwarzes Hemd, bei dem er sich nicht die Mühe gemacht hatte, auch nur einen einzigen Knopf zu schließen.

Was mich allerdings ein wenig irritierte, war nicht seine Kleidung, oder der Anblick seiner nackten, wohlgeformten Brust, sondern das zerzauste und auf der rechten Seite plattgedrückte Haar. Er verbarg sein gewaltiges Gähnen hinter seiner Hand und lehnte sich dann lässig mit verschränkten Armen an den Türrahmen. Leise Musik tönte aus dem Haus. „Na sieh mal einer an, was die Katze da anschleppt.“

Agnes spitze empört die Lippen, während ich es kaum glauben konnte. Er hatte geschlafen. Ich stand hier praktisch Todesängste aus und er hielt mitten am Tag ein Nickerchen.

„Ich darf doch sehr bitten“, ereiferte sich Agnes.

„Sie können tun und lassen was sie wollen, immerhin sind sie ja unsere allseits geschätzte Despotin und ihre Macht ist, wie wir alle wissen, unantastbar.“ Der Spott triefte nur aus seinen Worten.

Agnes bemerkte das sehr wohl, doch sie ignorierte es einfach und ich kam nicht umhin mich zu fragen, wie er es schaffte, damit bei ihr durchzukommen, wo ich doch nicht mal in richtig Mauer schauen konnte, ohne dass mir das als Verbrechen ausgelegt wurde.

„Wie schön, dass sie das auch endlich einsehen“, bemerkte die Despotin genauso spöttisch und trat dann einen Schritt zur Seite, um den Blick auf mich freizugeben. „Ich bin heute in Begleitung ihres Termins vor Ort und möchte …“

„Tut mir leid, aber ich schiebe keine Dreier. Sie müssen wohl ein anderes Mal wiederkommen.“

An Agnes‘ Schläfe begann eine Ader zu pochen. „Meine Zeiten als Eva sind lange vorbei. Und selbst damals hätte ich wohl kein Wert auf die Gesellschaft eines Mannes wie ihnen gelegt.“

„Oh, das hat mich jetzt aber schwer getroffen – mitten in mein armes Herz.“

Das Pochen wurde intensiver, doch auch diesen Kommentar tat Agnes ab, als hätte er niemals seinen Mund verlassen. „Es ist das erste Mal, dass sie eine Eva einführen werden – noch dazu eine widerspenstige Dame, die sich ihnen wahrscheinlich verweigern wird.“

Hallo? Ich bin anwesend du dumme Ziege! Ich funkelte sie böse an, verbot mir aber, den Mund zu öffnen. Es würde sicher nicht gut ankommen, wenn ich begann, sie zu beschimpfen und meinen Gefühlen einmal freien Lauf ließ.

Sawyer jedoch zog einfach nur eine Augenbraue nach oben. „Und jetzt sind sie hier, um mir ein paar Tipps zu geben, wie ich mit ihr umgehen soll? Bei allem nicht vorhandenen Respekt, ich glaube, ich bin sehr gut in der Lage, auch eine widerwillige Frau ins Bett zu bekommen, wenn ich es darauf anlege.“

War ich plötzlich unsichtbar?

„Hüten sie ihre Zunge, Herr Bennett. Wäre ich nicht überzeugt davon, sie könnten mit ihr umgehen, dann hätte ich diese Verbindung mit Sicherheit nicht zugestimmt. Der Grund für mein Erscheinen ist ein ganz anderer. Ich will sicher gehen, dass sie wissen was zu tun ist, sollte Kismet sich ihnen verweigern.“

Danach herrschte ein Moment Stille, in der Sawyer langsam seine Arme sinken ließ.

Während ich noch versuchte, den Sinn in diesen Worten zu verstehen, machte sich auf Sawyers Gesicht ein Ausdruck des Ekels breit. „Haben sie mir gerade erlaubt eine Eva zu vergewaltigen?“

Bitte was?!

„So etwas würde ich niemals empfehlen.“ Ihrer Stimme fehlte jegliche Empörung, die ich selber empfand. „Ich habe ihnen nur nahegelegt, Kismet mit angebrachten Mitteln, einzuführen.“

Ich begann am ganzen Körper zu zittern. Meine Hände ballten sich zu Fäusten und ich war kurz davor auszuholen, um dieser alten Schabrake einen gepfefferten Schlag zu verpassen.

„Angebrachte Mittel.“ Sawyer schnaubte. In seinem Gesicht hatte sich ein ungläubiger Ausdruck festgesetzt.

„Ja, angebrachte Mittel. Sollte Kismet allerdings nicht willens sein, benachrichtigen sie ihre Betreuerin Carrie, dann wird man sie umgehen abholen und in die Klinik zur In-vitro-Fertilisation bringen.“

Damit sie wieder die Kontrolle an sich reißen konnte.

„Und nun zu ihnen.“ Sie drehte sich zu mir herum. „Ich hoffe doch sehr, sie versuchen uns nicht zum Narren zu halten.“

„Ich bin hier, oder?“, pflaumte ich sie an und weigerte mich ihrem Blick auszuweichen.

„Und solange Nikita sicher in unserer Obhut ist, werden sie es wohl auch bleiben.“

Diese versteckte Drohung machte mich so wüten, dass ich wirklich einen Schritt auf sie zumachte, bevor ich mich am Riemen reißen konnte. „Drohen sie mir nicht“, flüsterte ich unheilverkündend und war mir dabei sehr bewusst, dass sie mich in der Hand hatte und ich gar nichts tun konnte.

„Sie scheinen ihre Lage zu missverstehen. Ich …“

„Was ist denn hier los?“, fragte eine sehr schlaftrunkene Frauenstimme. Im nächsten Moment trat aus dem inneren des Hauses, eine verschlafene Frau mit schwarzen, zerwühlten Haaren, an Sawyers Seite, in nichts weiter als einem seiner Hemden gekleidet.

Beim Anblick von Agnes begann sie zu lächeln und grüßte sie mit einem leichten Kopfnicken. „Despotin Nazarova.“

„Celeste“, grüßte die Despotin zurück und nahm Sawyer scharf ins Auge.

„Schauen sie mich nicht so an, ich habe sie sicher nicht eingeladen.“

Celeste schien sich davon nicht beleidigt zu fühlen. Ganz im Gegenteil, sie hakte sich sogar noch bei Sawyer ein und schmiegte sich an ihn. Dabei warf sie mir einen bösen Blick zu und merkte gar nicht, wie Sawyer sich versteifte und jeglicher Ausdruck aus seinem Gesicht verschwand. „Sawyer war wieder sooo gut zu mir.“

Sie schien es niemand bestimmten zu sagen, doch ich wusste, dass die Worte für mich bestimmt waren. Warum? Glaubte sie, ich wollte ihn ihr wegnehmen? Aber sicher doch. Von mir aus konnte sie in gerne behalten. Ich wollte nur eines von ihm und das hatte sicher nichts mit Körperkontakt oder Ähnlichem zu tun.

„Ich bin entzückt“, kam es äußerst sarkastisch von Agnes. „Aber nun hat Sawyer einen dringenden Termin. Sie sollten ihn dabei nicht stören.“

„Natürlich nicht.“ Missgelaunt warf Celeste mir noch einen unergründlichen Blick zu und verschwand dann wieder ins Innere des Hauses.

Ich jedoch begann mich zu fragen, ob diese Komödie normal war, oder extra für mich arrangiert wurde. Auf jeden Fall fand ich es einfach nur abartig. Sie schickten mich zu einem Mann, der gerade noch mit seiner Gespielin im Bett gelegen hatte. So wie er dreinschaute, als Celeste – dieses Mal angezogen – wieder herauskam und sich mit einem Kuss auf seine Wange von ihm verabschiedete, schien er fast ein wenig aufzuatmen. Er wollte sie wohl loswerden.

Als sie mit schwingenden Hüften in ihrem kurzen Kleid davonschlenderte, zwinkerte sie ihm zum Abschied sogar noch zu.

Sawyer ließ das völlig kalt. „Na dann kommen wir mal zum geschäftlichen Teil.“ Er stieß sich vom Rahmen ab und verschwand im Haus, ohne die Tür zu schließen.

Plötzlich schienen meine Beine aus Glibber zu bestehen. Es war wie damals, als Marshall mir beigebracht hatte, bröckelnde und halb zerfallene Hauswände empor zu klettern und ich mich auf einmal in zwanzig Metern Höhe wiedergefunden hatte – nur schien dieses hier viel gefährlicher zu sein.

„Sie sollten sich nun zu ihm gesellen“, sagte Agnes ungeduldig, ohne mich auch nur den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen zu lassen.

Ich schluckte und wich unwillkürlich einen Schritt zurück.

„Wenn sie nicht freiwillig gehen, werde ich säie hineinbringen lassen. Und sie brauchen auch gar nicht auf falsche Gedanken zu kommen. Sobald die Tür geschlossen ist, wird sie verriegelt und kann erst in fünf Tagen wieder geöffnet werden.“ Ihre Augen blitzten listig. „Wir wollen doch nicht, dass euch jemand stört.“

Natürlich nicht. Doch viel mehr beunruhigten mich die Gardisten. Sie schienen nur darauf zu warten, sich auf mich stürzen zu dürfen.

„Wir sehen uns dann in fünf Tagen.“ Meine Stimme klang selbstsicherer als ich es war. Dann zwang ich mich das Kinn zu heben, meine Übernachtungstasche an mich zu nehmen und an ihnen vorbei ins Haus zu stolzieren. Als die Tür sich hinter mir schloss und das Schloss sehr vernehmlich einrastete, zuckte ich trotzdem kaum merklich zusammen.

Nun war es offiziell, ich war für die nächsten fünf Tage mit Sawyer zusammen eingesperrt.

 

oOo

Kapitel 40

 

„Man, die wollen dir ja unbedingt einen Braten in die Röhre schieben“, murmelte Sawyer, während er zum Regal an der hinteren Wand trat und dort die leise Musik ausschaltete.

„Scheint so.“ Sie hatten mich wirklich zusammen mit ihm in sein Haus eingesperrt. Erst jetzt wurden mir die Folgen meiner Entscheidung so richtig bewusst. Ich war zusammen mit ihm hier, während dieses verdammte Mittel durch meinen Blutkreislauf geisterte und ich keine Chance hatte, ihm zu entkommen.

Ich schluckte und versuchte mich von dieser Tatsache abzulenken, indem ich mich erstmal meiner Umgebung widmete.

Sawyers Einrichtung war nicht steril, aber schlicht. Sobald man durch die Haustür kam, trat man in einen großen Wohnraum mit riesigen Fenstern. Genau wie bei Joshua, bestand die linke Wand aus einer einzigen Fensterfront, durch die man hinaus in den Garten kam. Im Moment jedoch war die Glastür zu und auch wenn sie einen einladenden Blick ins Freie erlaubte, war mir dieser Weg für die nächsten Tage versperrt.

In der Mitte des Raumes standen sich zwei graue Sofas gegenüber, nur getrennt durch den flachen, rechteckigen Couchtisch. An den Wänden standen ein paar Holzregale und direkt neben der Tür, gab es noch eine Kommode.

Im hinteren Teil des Raumes lag die Küche, die durch einen langen Tresen und einem Esstisch davor, vom Wohnbereich, abgetrennt war. Außerdem gab es – von der Haustür einmal abgesehen – noch drei weitere Türen.  Die rechts von mir war geschlossen, genau wie die neben der Küche, doch die Tür mir gegenüber stand weit offen und gab den Blick auf das zerwühlte Bett preis, in dem er vermutlich bis eben noch mit Celeste gelegen hatte. Die Frage war nur, hatten die beiden geschlafen oder sich vergnügt?

Wenn ich ehrlich war, wollte ich das eigentlich nicht so genau wissen. Was mich allerdings störte, war die Tatsache, dass man von mir erwartete, mich mit Sawyer in genau diesem Bett zu amüsieren – ein Bett, das wohl schon viele Frauen beherbergt hatte. Das war einfach nur eklig.

Verunsichert blieb mein Blick an diesem Bett hängen. Mein Herzschlag wollte sich einfach nicht beruhigen und das hatte absolut nichts damit zu tun, dass ich mit dem potentiellen Vater meiner zukünftigen Kinder eingesperrt war. Na gut, vielleicht doch ein kleines bisschen. Aber Hauptsächlich lag es an diesem verdammten Aphrodisiakum. Ich konnte es spüren und das machte mich ungewöhnlich nervös.

„Möchtest du ausprobieren, wie bequem mein Bett ist?“ Er beobachtete mich aufmerksam. In seinen Augen lag eine Herausforderung.

Ich ging nicht darauf ein. „Warum hast du mir nichts von dem Aphrodisiakum gesagt?“, fragte ich und stellte meine Tasche direkt neben der Tür ab.

Mäßig interessiert, hob er eine Augenbraue. „Warum hätte ich das tun sollen? Für sowas ist dein Arzt zuständig.“ In seine Augen trat ein berechnendes Funkeln. „Oder kannst du dich in meiner Gegenwart etwa nicht beherrschen? Macht das Aphrodisiakum dich unruhig?“

Mistkerl.

Mit einer geschmeidigen Bewegung, drehte er sich zu mir herum. Den Blick fest auf mich gerichtet, bewegte er sich direkt auf mich zu. Auf seinen Lippen lag ein selbstgefälliges Lächeln. „Es soll für Frauen ja sehr … erregend sein.“

Mein Funkeln warnte ihn davor, noch näher zu kommen. „Was wird das?“

„Ich möchte nur etwas klarstellen.“

„Und das wäre?“

Direkt vor mir blieb er stehen. Er war so nahe, dass ich mein Kopf etwas heben musste, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Aber egal wie nahe er mir auch kam, ich versuchte standhaft zu bleiben, denn ich war keine Beute.

„Das hier wird kein gemütlicher Sonntagnachmittagsspaziergang.“ Er hob eine Hand und strich mir mit dem Finger über den Oberarm. Die federleichte Berührung, sandte einen Blitz in mich hinein. Er zuckte durch meinen Körper und traf direkt mein Epizentrum. Gegen meinen Willen erschauderte ich. „Das Ziel unserer kleinen Liaison, ist die Flucht aus diesem beschissenen Schlaraffenland und ich werde alles tun was nötig ist, um meine Tochter von hier fortzubringen.“

Allein seine Präsenz drängte mich zurück, bis ich die Tür im Rücken spürte. „Und das bedeutet im Klartext?“

„Im Klartext bedeutet es genau das, was ich gesagt habe.“ Er beugte sich vor, stemmte seine Arme links und rechts von mir an die Tür und kesselte mich damit ein. Eigentlich hätte es bedrohlich wirken müssen, doch mein Puls beschleunigte sich aus einem ganz anderen Grund. „Ich werde tun, was ich tun muss. Wenn ich dich ficken muss, damit das Aphrodisiakum dir nicht das Hirn vernebelt und du klar denken kannst, dann werde ich das tun.“ Doch schon der Ton seiner Stimme verriet mir, dass er nicht besonders begierig darauf war. „Wenn du ein paar Minuten allein brauchst, um dir Erleichterung zu verschaffen, gehe ich aus dem Raum, oder stelle dir mein Schlafzimmer zur Verfügung. Sag mir was du brauchst und du wirst es kriegen.“

In seiner Stimme lag eine solche Anzüglichkeit, dass es wirklich schwer war, nicht zu erröten. „Dich brauche ich jedenfalls nicht.“

Er musterte mich und begann dann wieder zu grinsen. „Schauen wir mal, wie du in vierundzwanzig Stunden darüber denkst.“ Mit einem Ruck, stieß er sich von der Tür ab und ich konnte endlich wieder freier atmen. „Gib mir nur eine Vorwarnung, bevor du mich bespringst.“

Oh, wenn Blicke töten könnten.

„Und jetzt krieg deine Hormone ein wenig in den Griff. Wir sind jetzt hier und müssen das durchziehen, ob es dir nun gefällt oder nicht. Von diesem Punkt an gibt es kein Zurück mehr.“

Ein Zurück hatte es schon vorher nicht gegeben, nur deswegen befand ich mich ja nun in dieser Situation. Und das Gefühl schon wieder einen Fehler begangen zu haben, nahm mit jedem Moment weiter zu.

Als Sawyer mir den Rücken kehrte, erlaubte ich mir, einmal kurz durchzuatmen. „Wo gehst du hin?“

Ohne auch nur stehen zu bleiben, antwortete er: „Duschen und mir diese abartige Frau vom Körper waschen.“

Na iiih, so genau hatte ich das gar nicht wissen wollen. „Und was soll ich machen?“

„Ist mir egal.“ Er öffnete die geschlossene Tür neben der Küche und verschwand dahinter.

Toll, einfach fantastisch. Ich war seit gerade mal fünf Minuten hier und dieser Mann zerrte bereits jetzt an meinen Nerven, wie ein Rudel Phantomhunde an einer potenziellen Beute. Das hier würde sehr schwierig werden. Naja, mit Sawyer an meiner Seite, hätte mir das eigentlich denken können.

Mit einem Seufzen verdrängte ich alle seltsamen Gefühle und Anwandlungen und überlegte, was ich nun tun sollte. Hier herumzustehen und auf ihn zu warten, war jedenfalls nicht sehr erstrebenswert. Am besten schaute ich mich einfach mal ein wenig um, immerhin würde ich die nächsten Tage hier wohnen und da konnte es nicht schaden, sich einen kleinen Überblick zu verschaffen.

Ich begann damit, mich im Wohnraum und in der Küche umzusehen. Dabei durchstöberte ich auch die Schränke und Regale und öffnete auch die geschlossene Tür, neben der Haustür. Dort verbarg sich ein Kinderzimmer. Die Decke und der obere Teil der Wände waren blau gestrichen und mit schwebenden Wolken verziert. Das Bett war mit rosa Bettwäsche bezogen und überall lagen Spielsachen. Auf dem Boden, in den Regalen, auf den Schränken und auch auf dem Schreibtisch. Besonders viele der Spielsachen waren Kuscheltiere. Weiße, flauschige Kuscheltiere, die den Wolken an den Wänden sehr ähnlich sahen.

Wohnte seine Tochter bei ihm? Aber wo war sie dann im Moment? Im Haus jedenfalls nicht – zumindest glaubte ich das nicht.

Ich schloss die Tür wieder und überlegte, mir auch das Schlafzimmer anzusehen, entschied mich dann aber dagegen. Dort würde ich unter keinen Umständen hinein gehen. Stattdessen wandte ich mich der Tür zu, hinter der Sawyer verschwunden war. Sie führte auf einen breiten Korridor, in dem es zwei weitere Türen gab. Hinter der vorderen hörte ich Wasser rauschen. Das musste das Bad sein, der Raum, in dem Sawyer gerade unter der Dusche stand. Nackt.

Warum nur musste ich ausgerechnet jetzt daran denken? Er hatte gerade noch mit einer anderen Frau im Bett gelegen. Und wie er gesagt hatte, dass er Celeste von sich abwaschen wollte. Als wäre sie etwas Ekliges, oder sogar ansteckend. Aber Killian hatte mir ja gesagt, dass viele Frauen den Eindruck hatten, Sawyer könnte sie nicht leiden. Vielleicht war er ja ein chauvinistischer Frauenhasser. Mir konnte es egal sein, solange er uns nur hier rausbrachte.

Da ich mit Sicherheit nicht nachschauen würde, was mich hinter dieser Tür erwartete, wandte ich mich der anderen zu. Einen Raum zum Erkunden gab es ja schließlich noch. Was ich dort fand, unterschied sich so grundsätzlich von den anderen Räumen, dass ich einen Moment auf der Schwelle stehen blieb und den Raum einfach nur auf mich wirken ließ.

Alle Wände, vom Boden bis zur Decke, waren mit Mahagoniregalen bedeckt. Die einzigen Aussparungen waren das Fenster und die Tür. Links in der Ecke gab es noch einen Schreibtisch, der in das Regal intrigiert war.

In der Mitte des Raumes gab es zwei bequeme Ledersessel, die farblich auf den Rest des Raumes abgestimmt waren. Links und rechts neben diesen Sesseln, standen zwei lange Vitrinen. Und alles war voller Bücher. Nicht so wie in der Bibliothek, diese Bücher hier – egal ob die in den Regalen, auf dem Schreibtisch, oder auf dem kleinen Beistelltisch – waren alt.

Langsam trat ich in den Raum und ließ ihn auf mich wirken. Hier herrschte eine eigenartige Atmosphäre, nicht unangenehm, nur … anders. Es war nicht unbedingt ehrfurchtgebietend, aber es ging schon ein wenig in diese Richtung.

Ich trat an die fordere Vitrine, in der – wenig überraschend – weitere Bücher lagen. Doch wo die Bücher in den Regalen, einfach nur alt erschienen, da waren diese Stücke wirklich uralt. Vor mir in dem Glaskasten, lagen aufgeschlagen fünf Bücher und erweckten den Anschein, einfach auseinander zu fallen, sollte man auf die Idee kommen, sie auch nur anzupusten. Sie alle schienen von Hand geschrieben zu sein. Eines von den Büchern war sogar halb verbrannt. Warum nur hob jemand sowas auf? Das war doch Müll.

„Was machst du da?“

Erschrocken wirbelte ich herum und entdeckte Sawyer, der mit nichts als einem Handtuch lässig im Türrahmen lehnte und die Arme vor der Brust verschränkt hatte. „Verdammt, musst du mich so erschrecken?“

„Es ist ziemlich dreist, in den Sachen von anderen Leuten herumzuschnüffeln. Besonders wenn besagte Leute sich ganz in der Nähe aufhalten und dich jederzeit überraschen könnten.“ Er wirkte nicht verärgert, nur ein wenig gereizt.

„Ich habe nicht herumgeschnüffelt, ich habe mich nur umgesehen.“ Ich drehte mich wieder zur Vitrine herum und legte eine Hand auf das Glas. Es fühlte sich kühl an. „Was ist das alles?“

„Ein Teil unserer Geschichte.“ Er stieß sich vom Türrahmen ab und trat neben mich an die Vitrine. Sein Handtuch hing dabei so tief, dass es ihm jederzeit von der Hüfte rutschen konnte. Hätte er sich nicht erst etwas anziehen können? „Geschichte ist wichtig, sie lehrt uns nicht nur die Vergangenheit, sondern gibt uns auch Richtlinien für die Zukunft vor.“

Ja, aber auch nur, wenn man die Vergangenheit berücksichtigte und aus ihr lernte. „Was kann man aus einem Buch lernen, das halb verbannt ist?“

„Die Zerstörungskraft unserer Gesellschaft.“ Er starrte auf das halb verbrannte Exemplar. „Dies ist das Tagebuch von Alma Mohr.“

„Kenne ich nicht.“

Sein Mundwinkel zuckte. Es war nur eine ganz kleine Regung, aber ich hatte sie gesehen. „Alma Mohr war eine der letzten Menschen, die vor dem Mortiferus-Virus geboren wurde. In diesem Tagebuch hat sie aufgezeichnet, wie es war, in der Zeit der Wende zu leben, als die Menschheit begann auszusterben und die ganze Welt den Bach runter ging.“

„Aber es ist verbrannt, man kann es nicht mehr lesen.“

„Es ist besser erhalten, als es den Anschein hat.“ Seine Fingerspitzen fuhren fast zärtlich über das Glas, als könnte er die brüchigen Seiten unter seinen Fingern spüren. In seinem Blick lag nichts als Faszination. Doch dann verschloss sich seine Mine wieder. Er machte abrupt einen Schritt zurück, drehte sich auf dem Absatz um und marschierte aus dem Raum. „Setz dich ins Wohnzimmer, ich komme gleich“, sagte er noch, dann war ich mit den Büchern auch schon wieder alleine.

Nein, das war gar nicht seltsam gewesen, überhaupt nicht.

Schicksalsergeben ging ich ins Wohnzimmer und ließ mich auf eines der Sofas sinken. Der Stoff fühlte sich an meinen nackten Beinen weich an, fast wie eine Berührung, die meine Haut kribbeln ließ. Ich ächzte, dieses verdammte Aphrodisiakum, damit würde ich mir sicher noch Ärger einhandeln. Die Menschen hier waren wirklich so verkorkst.

Unruhig lehnte ich mich zurück und starrte auf die nun geschlossene Schlafzimmertür. Hoffentlich war er da drin, um sich etwas anzuziehen. Es war nämlich nicht hilfreich, ihn halbnackt vor mir zu haben, denn auch wenn Sawyer ein Widerling war, er hatte etwas an sich, auf das ich reagierte. Gut, das lag vermutlich nur an dem Aphrodisiakum, aber es lenkte trotzdem ab.

Es dauerte nur ein paar Minuten, bis Sawyer wieder herauskam. Das Handtuch war weg, dafür trug er jetzt eine einfache, graue Hose. Keine Schuhe, keine Socken, kein Hemd. „Hat man dir deine Kleidung gestohlen?“

Er bedachte mich mit einem herablassenden Blick, bevor er in die Küche ging. „Es ist warm, also werde ich mir sicher kein Wintermantel anziehen, um deine Tugend zu schützen. Willst du etwas zu trinken?“ Er machte sich am Kühlschrank zu schaffen und entnahm ihr eine Flasche mit Saft.

„Nein.“

„Umso mehr bleibt für mich.“ Er machte sich gar nicht erst die Mühe, sich ein Glas aus dem Schrank zu holen. Mit der Flasche in der Hand, kam er zur Couch und setzte sich mir gegenüber auf das andere Sofa. Die Flasche landete auf dem Tisch.

„Reden wir jetzt endlich über den Plan?“

„Gleich zum Punkt, wie?“ Er griff hinter eines der Sofakissen, zog ein kleines, flauschiges Kuscheltier hervor und warf es mir zu.

Dass es mir erst an den Kopf knallte, bevor ich es auffing, hatte sicher nichts damit zu tun, dass ich auf seine muskulöse Brust starrte, wie auf köstliches Honiggebäck. Nein, wirklich nicht, er hatte mich einfach nur in einem ungünstigen Moment erwischt, das war alles.

„Das ist mein Plan.“

Ich starrte das weiße Kuscheltier in meinen Händen an. Wenn ich mich nicht täuschte, handelte es sich dabei um ein Schaf. Eine Spielzugversion dieser wollenden Ziegen. „Ich verstehe nicht. Wie soll uns ein Spielzeug helfen hier rauszukommen?“

„Es geht nicht um das Kuscheltier, sondern darum, wofür es steht.“ Schwungvoll richtete er sich auf und beugte sich ein wenig vor. Die lässige Haltung war von ihm abgefallen. Er war nur noch begierig auf das, was er vorhatte. „Salia ist fasziniert von Wolken. Soweit ich mich zurückerinnern kann, hat sie immer in den Himmel gestarrt und darauf gewartet, was er als nächstes tun wird. Gewitter und Blitze. Donnergrollen. Zuckerwattewolken die Bedächtig über den Himmel ziehen. Sie ist das einzige Kind, dass ich kenne, das traurig ist, wenn wir einen wolkenfreien Tag haben.“

Da blieb nur eines zu sagen. „Hä?“ Erst Schafe und jetzt Wolken. „Was hat das mit deinem Fluchtplan zu tun?“

„Das ist ganz einfach. Für Salia sind Schafe Wolken auf Erden. Und wenn wir das richtig einsetzten, wird es uns hier rausbringen.“

Von dem was er behauptete mal abgesehen, musste ich eines ganz dringend loswerden. „Sie denkt Schafe sind Wolken?“

Da ich wohl den Teil angesprochen hatte, der in seinen Augen am unwichtigsten war, trat ein überaus genervter Ausdruck in sein Gesicht. „Sie ist sieben, sie hat eine blühende Phantasie und lebt, wie jedes andere kleine Mädchen, in einer Märchenwelt. Aber darum geht es nicht. Wichtig ist nur, dass sie eine Vorliebe für diese stinkenden Wollköpfe hat.“

„Wenn du es sagst.“ Ich stellte das Kuscheltier auf den Tisch und lehnte mich auf dem Sofa zurück. „Dann erklär mir, wie Wolkenschafe, oder auch Schafswolken und eine siebenjährige, die in einer Traumwelt lebt, uns hier rausbringen können.“

„Das ist ganz einfach. Salia feiert in genau zwei Wochen ihren siebten Geburtstag. Ich … “

„Hast du nicht gerade gesagt sie ist schon sieben?“

„Es sind nur noch vierzehn Tage, also ist sie so gut wie sieben“, erklärte er, als sei ich hier geistig nicht ganz auf der Höhe. Blödmann. „Darf ich jetzt weiter erklären, oder hast du noch ein paar sinnlose Fragen, die wir vorher erörtern sollten?“

Und noch mal: Blödmann. „Die hebe ich mir für das Ende deines grandiosen Vortrags auf.“

Er musterte mich einen Moment kühl, lehnt sich dann zurück und nahm auf dem Sofa die gleiche Position ein wie ich. Das irritierte mich so sehr, dass ich den Arm von der Lehne nahm und ihn vor der Brust verschränkte.

„Gut dann weiter. Salia feiert also ihren siebenten Geburtstag und sie wünscht sich nichts sehnlicher, als die Schafe zu besuchen, die in ihren Koppeln auf der vierten Ebene ihr belangloses Dasein fristen.“

Vierte Ebene. Das bedeutete nur Tor fünf auf dem Weg zur Freiheit.

„Sobald man uns hier wieder rauslässt, werde ich zu Agnes gehen, mich damit rühmen, dir einen Braten in die Röhre geschoben zu haben, um sie wohlwollend zustimmen und im gleichen Zug darum bitten, meiner Salia ihren Herzenswunsch zum Geburtstag zu erfüllen.“

Ich runzelte die Stirn. „Und du glaubst, sie wird sich darauf einlassen?“

Sawyer schaute mich an, als würden mir Hörner aus dem Kopf wachsen. „Auf keinen Fall. Salia ist eine zukünftige Eva. Agnes wird es niemals so einfach gestatten, sie in einen der äußeren Ringe zu bringen.“

„Was?“ Verwirrte er mich mit Absicht? „Warum erzählst du mir das dann?“

„Oh Gaia, hör doch einfach mal zu ohne ständig dazwischen zu plappern. Ich werde natürlich nicht alleine zu Agnes gehen, ich werde Salia mitnehmen. Ich werde sie vorher noch ein wenig anheizen, sie dazu bringen, sich auf einen Ausflug auf die vierte Ebene zu freuen – als Geburtstagsgeschenk versteht sich. Ich werde ihr erklären, dass sie Agnes überzeugen muss, damit wir das machen können.“

„Eine Siebenjährige soll sie überzeugen?“

Sawyer funkelte mich böse an, weil ich ihn schon wieder unterbrochen hatte.

„‘tschuldigung.“

„Eines von Salias Talenten ist es, auf Kommando loszuheulen. Das ganze Programm, dicke unschuldige Tränen, ein Schluchzen, dass es einem das Herz zerreißt und dabei noch kläglich aussehen. Hat mich viele Nerven gekostet, bis ich kapiert habe, dass sie das auf Knopfdruck kann. Aber das kommt uns nun zugute. Ich werde also mit ihr zu Agnes gehen, sie fragen und mir die Ablehnung abholen. Dann wird Salia anfangen bitterlich zu weinen und sich nicht beruhigen lassen, bis Agnes ihre Meinung ändert und ihr verspricht, dass sie an ihrem Geburtstag die Schafe sehen darf.“

Das war der Plan? Ich sah das ganze ja eher skeptisch. „Und du glaubst, das funktioniert?“

„Mit ein wenig Zuspruch von mir, ja. Unser Vorteil ist, dass in der Woche, in der Salia ihren Geburtstag feiert, auch die Projektwoche der Schule stattfindet. Sie behandeln das Thema bereits jetzt im Unterricht. Landwirtschaft und Viehzucht. Aber die Schule will nicht nur Theorie, sie möchten den Kindern das Erlebnis der Landarbeit nahebringen, darum werden die Schüler eine ganze Woche auf den Farmen arbeiten. Ein kleines Mädchen mehr, wird da nicht weiter auffallen. Ich werde Agnes sagen, dass sie das als Sicherheitsvorkehrung nutzen kann. Salia wird in der Menge einfach untergehen und niemand wird auf die Idee, kommen, dass da eine kleine Eva zwischen ihnen herumturnt. Das wird die Gefahr minimieren.“

Welche Gefahr?

„Auf diese Art sorge ich auch dafür, dass Agnes die Schafe nicht einfach zu Salia ins Herz bringen lässt. Sie können die Tiere ja nicht einfach von den Farmen holen, wenn gerade die Projektwoche läuft.“

Wie ich Agnes kannte, konnte sie das durchaus trotzdem tun, aber das behielt ich erstmal für mich.

„Und deine kleine Schwester wird auch dort sein.“

Das ließ mich zum ersten Mal aufhorchen. „Wie meinst du das?“

„Sie geht in die Schule, oder? Das heißt, dass auch sie an der Projektwoche teilnehmen wird. Folglich wird sie mit den ganzen anderen Kindern auf der vierten Ebene sein, um sich etwas über den ganzen Mist beibringen zu lassen.“

Das wäre fantastisch. Wenn Nikita dort war, musste ich mir keine Gedanken darüber machen, wie ich sie an diesem Tag dorthin bekam. Konnte es wirklich sein, dass mir das Glück endlich mal hold war? „Und das wird auch funktionieren?“

„Agnes kann einem kleinen Mädchen nicht widerstehen. Das ist ihre einzige Schwäche. Und da ich ihr Vater bin – der einzige Verwandte, der sich um sie kümmert und den sie von ganzem Herzen liebt – und es ihr Geburtstag ist, werde ich auch da sein. Damit hätten wir mich, Salia und deine kleine Schwester dort.“

Nikita auf der vierten Ebene … nur ein Katzensprung zur Freiheit entfernt. „Und wie komme ich da hin?“

„Tja“, sagte er langgezogen. „Das ist das erste Problem, das wir lösen müssen. Als ich den Plan erdacht habe, sollte er nur mich und Salia hier rausbringen. Jetzt wo du und deine Schwester noch dabei sind, müssen wir ein wenig kreativer werden. Wie die Lösung allerdings aussieht?“ Er zuckte beinahe gleichgültig mit den Schultern. „Keinen Schimmer.“

„Toll, einfach phantastisch.“ Für einen Moment hatte ich wirklich geglaubt, er wüsste was er da tat. Jetzt war dieser Moment geistiger Umnachtung vorbei. „Und das, wo du mich doch angeblich so dringend brauchst.“

„Das tue ich auch.“ Seine Augen blitzten verschlagen und langsam bekam ich das Gefühl, dass er nicht nur seine kleine Tochter für seine Zwecke ausnutzen wollte. „Wir müssen schließlich immer noch durch Tor fünf. Und da kommst du ins Spiel.“

Dieses Mal war ich es die ein Schnauben hören ließ. „Du glaubst, ich kann uns durch Tor fünf bringen? Hast du meinen Fluchtversuch vergessen?“

„Nein. Und ich halte ihn nach wie vor für das Dämlichste, was ich seit langem mitbekommen habe.“

Oh vielen Dank auch. Idiot.

„Aber es gibt einen Weg und der kann nur von einer Frau ausgeführt werden.“

„Na da bin ich ja mal gespannt.“

Sawyer beugte sich vor uns stützte seine Ellenbogen auf die Knie. „Ist dir schon mal aufgefallen, dass Agnes, egal wo sie hingeht, immer zwei Gardistinnen an ihrer Seite hat? Selbst wenn sie in ihrem Büro arbeitet, sind sie da.“

Schon wieder so ein seltsamer Themenwechsel. Aber da er das bisher immer getan hatte, weil er auf etwa bestimmtes hinauswollte, fragte ich dieses Mal nicht weiter nach. „Nein, eigentlich nicht.“ Aber wenn ich jetzt so darüber nachdachte, dann musste ich ihm recht geben. Agnes war wirklich nie alleine anzutreffen. Die beiden Frauen in den schwarzen Uniformen, waren immer in ihrer Nähe.

„So ist es aber und das kommt daher, weil sie sich vor Männern fürchtet.“

„Bitte?“ Agnes sollte sich fürchten? „Du spinnst doch. Sie ist die Despotin, sie steht über allem.“

„Nein, es ist wahr. Ich weiß nicht warum, aber Agnes fürchtet sich davor, mit einem Mann alleine zu sein.“

„Aha. Sehr interessant.“ Und sehr unglaubwürdig. Ich meine, ich hatte diese Frau kennengelernt und es schien mir nicht, als würde sie sich vor irgendwas fürchten – schon gar nicht vor Männern.

„Ich wollte diesen Plan schon vor zwei Jahren durchziehen, aber genau deswegen ist es gescheitert.“

„Weil sie Angst vor Männern hat“, erwiderte ich spöttisch.

„Ja, und deswegen brauche ich dich. Weißt du wie das Sicherheitssystem funktioniert?“

Und schon wieder ein Themenwechsel. „Ungefähr.“

„Jeder Keychip ist im System und das System steuert, wer welche Tür öffnen kann. Das wird in Gruppen, Nummern und Farben unterteilt. Du zum Beispiel bist genau wie ich Farbe Rot, du kannst dich nur innerhalb deiner Ebene Bewegen und dort auch nur Türen öffnen, die deiner Gruppe zugeordnet sind.“

Wahrscheinlich sogar weniger, wenn ich an mein überaus ansehnliches Armband dachte.

„Was wir nun brauchen ist ein Keychip der Zuordnung grün, denn mit Grün kannst du in Eden jede Tür und jedes Tor öffnen – ganz wie es dir beliebt. Und an dieser Stelle bist du gefragt.“

Oh je, mir schwante Böses.

„Die einzige Person in dieser Stadt, die einen Keychip der Zuordnung Grün hat, ist unsere geliebte und verehrte Despotin Agnes Nazarova. Und die einzige Zeit, in der Agnes ihre Gardisten nicht bei sich hat, ist, wenn sie sich in ihrem Penthouse im Turm der Evas aufhält. Aber dort lässt sie nur Frauen herein.“

Das konnte doch nicht sein Ernst sein. „Du erwartest von mir doch nicht wirklich, dass ich Agnes in ihrem Zimmer aufsuche und ihr den Keychip abnehme.“

„Doch, genau das tue ich.“

Natürlich tat er das. Was sonst. „Und wie bitte soll ich das bewerkstelligen?“

„Sei kreativ.“

Das war mal ein einfallsreicher Vorschlag. Ich hatte auf einen ausführbaren Plan gehofft und was bekam ich stattdessen? Wahnsinn ihn Form von Wölkchen.

„Es ist ganz einfach“, fügte er noch hinzu.

„Das ist nicht einfach, das ist einfach nur verrückt! Wenn die mich erwischen, dann bin ich geliefert. Ich stehe bei ihr doch jetzt schon auf einer Stufe mit einer Kakerlake, wenn ich mir noch irgendetwas leiste, dann zerquetscht sie mich einfach. Und wie soll ich das überhaupt machen? Ich kann ihr doch nicht einfach die Hand abhacken.“

„Warum nicht?“

Ja, warum eigentlich nicht? Sie würde es mit mir schließlich nicht anders machen, wenn ich ihr nur einen Grund lieferte. Und ein schlechtes Gewissen hätte ich deswegen sicherlich auch nicht. „In Ordnung, also fassen wir zusammen. Du wirst dafür sorgen, dass wir an Salias Geburtstag auf der vierten Ebene Wölkchen gucken können, wo Nikita wegen dieser Projektwoche auch sein wird. Ich werde Agnes die Hand abhaken und sie zum fünften Tor bringen, um uns alle hinaus zu lassen.“

„So ungefähr.“ Er lehnte sich auf dem Sofa wieder zurück. „Wichtig ist dabei nur der Zeitpunkt. Du darfst nicht zu früh zu Agnes gehen, aber doch rechtzeitig. Am besten macht du es am Morgen von Salias Geburtstag.“

„Und was mache ich dann mit Agnes? Sie wird mich dann wohl kaum in aller Ruhe abziehen lassen.“ Von ihren Schmerzensschreien mal ganz abgesehen.

„Tu was nötig ist.“ Seine Stimme war eiskalt. „Keiner von uns schuldet dieser Frau etwas und sie hat es mit Sicherheit nicht besser verdient. Erinnere dich nur daran, was sie mir an der Tür gerade eben erlaubt hat.“

Er hatte recht, sie hatte es nicht besser verdient. Aber eine alte, wehrlose Frau zu überfallen – darauf lief es nämlich hinaus – ich war mir nicht sicher, ob ich das konnte. Vielleicht müsste ich sie sogar töten. Das hatte ich zwar schon einmal getan, das hieß aber noch lange nicht, dass ich Gefallen daran gefunden hatte. „Gibt es keine andere Möglichkeit?“

„Nur wenn du mit einem Computer umgehen kannst und es schaffst das Programm umzuschreiben.“

Nein, das konnte ich natürlich nicht. Bis jetzt konnte ich sowieso nur wenig mehr als meinen Namen lesen. „In Ordnung. Ich besorge also ihren Keychip und du sorgst dafür, dass du und deine Tochter in zwei Wochen an der Projektwoche teilnehmen.“

Er nickte.

„Da bleibt aber immer noch die Frage, wie ich auf die vierte Ebene komme. Denn das alles wird nichts nützen, wenn der Chip bei mir im Herz von Eden ist.“

„Da muss ich dir leider zustimmen, aber wie bereits gesagt, habe ich diesen Plan ursprünglich nur für Salia und mich ersonnen. Ich habe nicht damit gerechnet, noch jemanden mitzunehmen, also habe ich dafür im Moment noch keine Lösung parat. Außerdem, dich auf die vierte Ebene zu bekommen, ist nicht das einzige Problem, das wir lösen müssen. Selbst wenn wir den alle dort sind und den Keychip haben, so wird man uns ihn nicht einfach benutzen lassen, damit wir durch Tor spazieren können.“

War ja klar, dass da noch mehr kam. „Und was schlägst du vor, was wir machen sollen?“

„Wir brauchen ein Ablenkungsmanöver. Wir müssen unauffällig so viel Unruhe stiften, dass niemand mehr auf uns achtet.“

„Das sollte nicht weiter schwer sein.“ Ich ließ meine Arme sinken und schlug die Beine übereinander. „Doch um zu entscheiden, was genau wir tun können, müssen wir vor Ort sein, um zu sehen, mit was wir arbeiten müssen.“

„So sehe ich das auch.“

„Allerdings wird es problematisch werden, mich auf die vierte Ebene zu bringen.“ Ich biss mir auf die Lippe und überlegte. Ich würde Agnes Vertrauen gewinnen müssen und mich in ihrem Ansehen steigern. Nur leider hatte ich dafür nur vierzehn Tage. Naja, eigentlich nur neun, den die nächsten Tage saß ich ja mit Sawyer in diesem Haus fest. Und davon mal abgesehen, hatte das in der Vergangenheit auch nicht besonders gut funktioniert. Vielleicht konnte ich ja darauf pochen, eine Belohnung verdient zu haben, nachdem ich artig in Sawyers Haus gewesen war.

Nur irgendwie glaubte ich nicht daran. „Wenn ich nicht auf die vierte Ebene komme, dann ist dieses ganze Unterfangen sinnlos“, murmelte ich.

„Du bist doch ein schlaues Mädchen.“ Sawyer erhob sich von dem Sofa und schlenderte zur Küchenzeile hinüber. „Zu gegebener Zeit wird dir sicher etwas einfallen.“

Musste er schon wieder so einen herablassenden Ton anschlagen? „Du bist ein Arsch, Sawyer.“

„Ja, das bin ich“, sagte er ohne mich zu beachten und kramte in einer Schublade herum. „Nicht, dass mich das stören würde. Willst du auch was zu essen?“

„Nein Danke, ich habe keinen Hunger.“

„Ja, bei der Aussicht darauf, einen Mord begehen zu müssen, würde mir auch der Appetit vergehen.“

 

oOo

Kapitel 41

 

„Hier hast du ein Kissen.“ Ich blickte gerade noch rechtzeitig auf, um zu sehen, wie das Kissen in meinem Gesicht landete. Uff. „Und hier eine Decke.“

Dieses Mal schaffte ich es die Arme rechtzeitig hochzureißen und funkelte ihn dann böse an. „Du hältst dich wohl für sehr witzig.“

„Nein, eigentlich nicht.“ Er sammelte die beiden Gläser vom Tisch ein und trug sie in die Küche.

Ich gab ein Seufzen von mir, das von Herzen kam und breitete die Decke auf dem linken Sofa aus. Das war wahrscheinlich nicht besonders bequem, aber ich hatte auch schon weitaus schlimmer genächtigt.

Draußen war es bereits seit einiger Zeit dunkel und der Raum wurde nur noch durch die Stehlampe neben der Couch erhellt. Verbracht hatte ich den Tag hauptsächlich mit Grübeln und dem Versuch, Sawyer nicht den Hals umzudrehen. Ein Tag eingesperrt mit diesem Mann, hatten … naja, nicht unbedingt meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt, aber er war definitiv anstrengend. Besonders seine Arroganz war für mich eine ständige Reibungsfläche.

Unterm Strich, war dieser Tag nur ein weiterer, bedeutungsloser Tag, in einer Reihe von vergeudeten Tagen hier in Enden, denn ich hatte nichts erreicht. Naja, ich hatte dagesessen und zugehört, während Sawyer den Plan erklärt hatte, aber besonders produktiv konnte man das nicht nennen.

Außerdem war ich schon die ganze Zeit unruhig, gereizt und ja, auch ein kleinen wenig frustriert. Von wegen, Entspannung und Verzückung. Wenn ich hier rauskam, würde ich Killian einen Besuch abstatten und ihm den Hals umdrehen. Dieses verdammte Stäbchen, dass er mir in den Arm eingepflanzt hatte, machte schon eine einfache Unterhaltung zu einer Tortur. Ich war so rastlos, dass ich am liebsten auf und ab gerannt wäre. Nur glaubte ich nicht, dass das etwas bringen würde. Im Moment konnte mir wohl nur einer helfen und das war Sawyer.

Ich starrte ihn an. 

Er hob eine Augenbraue. „Was ist?“

Auf keinen verdammten Fall, vorher würde ich mich von einem Hochhaus stürzen.

Mit einem Geräusch, dass nach einem halben Knurren klang, sank ich in das Kissen und ignorierte Sawyers Anwesenheit und die Tatsache, dass er noch immer kein Hemd trug.

„Du musst nicht auf der Couch schlafen.“ Auf dem Weg ins Schlafzimmer, kam er hinter dem Küchentresen hervor und blieb auf Höhe meiner Couch stehen. „Du bist herzlich in mein Bett eingeladen.“

Ignorieren, ignorieren, ignorieren.

„Wenn du mich brauchst, dann weißt du ja, wo du mich findest.“ Seine Worte waren der Inbegriff von Zweideutigkeit und seine Stimme klang so anzüglich, dass ich gerne etwas nach ihm geworfen hätte, damit er endlich mit dem Mist aufhörte. Stattdessen beschränkte ich mich darauf, ihn bitterböse anzufunkeln.

„Ekels du dich eigentlich manchmal vor dir selber?“

Das blöde Grinsen verschwand von seinem Gesicht und ein wachsamer, ja fast schon feindseliger Ausdruck erschien darauf. „Was meinst du damit?“

„Was ich damit meine? Du bist echt widerlich. Vorhin noch vögelst du Celeste in diesem Bett und jetzt lädst du mich darin ein? Besitzt du sowas wie Anstand, oder auch nur einen Hauch von Würde?“

Wut blitzte in seine, Auge auf. Jeder Hauch von Spott war verschwunden und  mit einem Mal schien er ein ganz anderer Mensch zu sein. „Um eins klar zu stellen: Celeste ist die Pest. Am liebsten würde sie mich für sich allein beanspruchen und mich zu ihrer ganz persönlichen Spielwiese machen. Zu ihrem Pech muss ich aber für alle von diesen wollüstigen Harpyien mit Minderwertigkeitskomplex zu haben sein, wenn die mal wieder der Meinung sind, ihre unartige Seite bestrafen zu müssen, indem sie zu einem bösartigen und entstellten Mann gehen, der ihnen auf ihren Wunsch hin den Arsch versohlt.“ Seine Stimme triefte nur so vor Bitternis. „Du willst wissen, was das mit Celeste soll? Ich bin ihr Spielzeug. Ob ich nun will oder nicht, ich stehe ihr und jeder anderen verdammten Eva jederzeit zur Verfügung. Du bist hier nicht die Einzige, die den Zwängen dieses Zuchtprogramms unterliegt, nur hast du wenigstens die Möglichkeit nein zu sagen. Ein Adam darf nie nein sagen. Eine Eva ist in dieser Metropole eine Göttin, ein Adam ist eine wertlose Nutte, die nur geduldet wird, weil man ihren Samen braucht.“ Seine Hand schloss sich zur Faust, bis die Knöchel weiß hervorstachen. „Wenn du also noch mal einen blöden Spruch auf den Lippen hast, dann behalte ihn für dich.“

Mit einem letzten wütenden Blick in meine Richtung, marschierte er ins Schlafzimmer und schloss die Pneumatiktür. In der nächsten Sekunde knallte etwas von Innen so heftig dagegen, dass ich zusammenzuckte.

Na gut, das war ja mal gar nicht so gelaufen, wie ich mir das vorgestellt hatte. Zumindest konnte ich jetzt mit Sicherheit sagen, dass Sawyer wirklich ein kleinen wenig Frauenfeindlich war. Allerdings schien er dafür auch sehr gute Gründe zu haben.

Bisher hatte ich immer geglaubt, er würde seine Rolle als Adam genauso bereitwillig einnehmen, wie alle anderen hier es taten. Ich war nie auf den Gedanken gekommen, dass es ihm genauso gehen könnte wie mir. Das zu erleben, war schon ein kleiner Schock, denn so hatte ich ihn absolut nicht eingeschätzt.

Wie lange war Sawyer eigentlich schon hier? War er am Anfang genauso gewesen wie ich, bis er sich gefügt hatte? War das meine Zukunft?

Hatte er mir darum nicht sagen wollen, warum er aus Eden fortwollte? Schämte er sich, oder wollte er das einfach nur verdrängen? Ich erinnerte mich an den Rosengarten, an den kurzen Moment der Resignation in seinem Gesicht und an die Feindlichkeit, mit der er mir im Anschluss begegnet war. Diese Liaison mit Celest, er hatte sie nicht gewollt, er hatte sich nur gefügt.

Ich zog mir die Decke bis ans Kinn und kuschelte meinen Kopf ins Kissen. Vermutlich sollte ich mich morgen bei ihm entschuldigen. Nicht dafür, dass ich ihn als Widerling bezeichnet hatte, denn das war er, egal aus welchem Grund. Aber es wäre sicher nachteilig, wenn er und ich auf dem Kriegsfuß miteinander standen. Wenn wir entkommen wollten, mussten wir zusammenarbeiten können. Also würde ich erstmal über meinen Schatten springen und versuchen die Sache wieder grade zu biegen. In der letzten Zeit hatte ich mich für weitaus schlimmere Dinge hergeben müssen.

Seufzend schloss ich die Augen, doch die Gedanken rotieren so wild in meinem Kopf, dass ich eine ganze Weile nicht einschlafen konnte. Es war nicht nur das was Sawyer gesagt hatte, vor allen Dingen beschäftigte mich die Frage, wie ich auf die vierte Ebene gelangen konnte.

Als mein Hirn endlich so müde war, dass ich nicht einmal mehr hätte sagen können, in welcher Himmelsrichtung die Sonne aufging, schaltete es sich ab und ich versank in der Phantasie meines Geistes.

Die Sonne schien strahlend und hell vom Himmel. Ihre Strahlen brachen sich an der Wasseroberfläche des Sees und ließen ihn wie Diamanten funkeln. Überall an den Ufern wuchsen riesige Bäume und kleines Getier raschelte im Unterholz. Doch diese idyllische Ruhe ließ mir die Nackenhärchen zu Berge stehen. Irgendwas stimmte nicht. Dieser Frieden war falsch, bedrückend, fast schon beängstigend. Das sollte so nicht sein.

Fröstelnd rieb ich mir über die Oberarme und drehte mich um mich selber. Hinter mir, auf einer kaputten Straße, stand ein Auto. Er glänzte wie frisch poliert. Das Licht der Sonne spiegelte sich in der Oberfläche.

Ich kannte dieses Auto, die Bauart und auch die Farbe, ich hatte es schon einmal gesehen.

Vorsichtig und das warnende Gefühl ignorierend, trat ich auf den Wagen zu. Die Fenster waren oben und die dunkle Tönung erlaubte auch keinen Blick ins Innere. Das beklemmende Gefühl nahm zu.

Unruhig warf ich einen Blick über die Schulter, um sicher zu gehen, dass ich auch wirklich allein war und trat dann noch näher an den Wagen heran. Ich wusste nicht warum, doch ich musste ihn öffnen. Aber so weit kam es gar nicht erst. Als ich nach dem Türöffner griff, bemerkte ich mein Spiegelbild und schreckte davor zurück.

Das war nicht ich. Die Frau in der Spiegelung war hellhäutig und groß gewachsen. Ihr langes, blondes Haar, fiel ihr bis auf den Rücken und das Lächeln ihrer Augen, ließ den Tag erstrahlen.

„Mama?“ In diesem einen Wort schwang ein ganzes Universum voller Sehnsucht mit. Doch als hätte mein Ruf etwas ausgelöst, zerschmolz die Spiegelung an dem Fenster. Das glänzende Haar wurde dumpf und spröde, die helle Haut fahl und ihre lächelnden Augen verblassten, bis sie nur noch ein milchiger Abklatsch waren.

Ich schüttelte den Kopf und versuchte den Blick abzuwenden, während in mir das alte Gefühl von Panik und Angst aufkeimte, doch ich konnte meine Augen einfach nicht lösen. Ich war gezwungen zuzusehen, wie sie den Mund öffnete und Blut, dickflüssig und warm, an ihrem Kinn herunterfloss.

Auf ihrer Bluse erblühte ein großer, roter Fleck. Zu ihren Füßen sammelte sich Blut.

„Kismet“, flüsterte sie, wie aus weiter Ferne.

Mein Puls begann zu rasen und mein Herz hämmerte in meiner Brust.

„Kismet, wach auf.“

Direkt vor mir konnte ich sehen, wie meine Mutter von einer lebenslustigen Frau zu einem blutigen Leichnam wurde. Und ihre Augen, ihre toten Augen starrten mich an.

„Kismet.“

Ich schreckte aus dem Schlaf und spürte, dass mich jemand an den Schultern gepackt hatte. Doch statt zuzuschlagen, starrte ich nur mit weit aufgerissenen Augen und wild schlagendem Herzen in Sawyers Gesicht.

Als ich ihn anstarrte, nahm er die Hände von meinen Schultern. „Bist du jetzt wach?“

Ein Traum, das war nur ein Traum gewesen.

„Kismet?“

„Ja, ich …“ Ich hob eine Hand und rieb mir damit über das Gesicht. Die Nachbilder meines Alptraums hingen noch immer vor meinem geistigen Auge. Oh Gaia, warum nur konnte ich das nicht endlich vergessen? Irgendwann mussten diese Qualen doch mal ein Ende haben. „Mir geht es gut“, murmele ich und richtete mich auf.

Sawyer wich zurück und erst jetzt bemerkte ich, dass er nur Shorts trug. Nicht dass mich das im Moment interessierte.  In seinem Gesicht hatte er vom Schlafen Knitterfalten und seine Haare waren ziemlich zerwühlt. „Ja klar, so gut, dass ich davon aufgewacht bin.“ Mit einem leisen Seufzen, sank er neben mir auf die Couch und musterte mich. „Willst du darüber reden?“

„Nein.“ Ich rieb mir ein weiteres Mal über das Gesicht, in der Hoffnung, so die letzten Fetzen meines Alptraums aus meinem Kopf zu verbannen. „Nein das will ich nicht, das geht dich nichts an.“

„Okay.“ Sawyer lehnte sich bequem zurück, die Hände locker auf den leicht gespreizten Beinen. Er schien nicht gehen und mich alleinlassen zu wollen und auch wenn er mich im Auge behielt, so ließ er den Mund geschlossen.

Fantastisch. Nicht nur, dass mich mal wieder einer meiner Alpträume heimgesucht hatte, jetzt hatte ich auch noch einen ungebetenen Zuschauer. „Mir geht es gut, du kannst wieder ins Bett gehen.“ Ich zupfte ein wenig meine Decke zurecht und zog dann meine Beine bis an die Brust.

„Kann ich das, ja? Erlaubst du mir das?“

„Ja, das erlaube ich dir.“

Sawyer machte keinerlei Anstalten sich von seinem Platz zu bewegen. Stattdessen legte er die Beine auf dem niedrigen Tisch, kreuzte sie und verschränkte mit einem herausfordernden Blick die Arme vor der nackten Brust. Die Botschaft dahinter war deutlich: Zwing mich doch.

Einen Moment war ich versucht etwas Gemeines zu sagen, um ihn wieder in sein Schlafzimmer zu treiben, aber irgendwie fehlte mir dazu die Kraft. Ich wollte einfach nur meine Ruhe haben. „Sawyer, bitte.“ Es gelang mir nicht, meine Erschöpfung aus meiner Stimme zu vertreiben. Ehrlich gesagt, versuchte ich es nicht einmal.

Von ihm kam ein leises Seufzen – auch er war müde. Vielleicht war er aber auch das ständige Gezänk zwischen uns leid. „Ich habe zwei ältere Schwestern.“

Bei den Worten hob ich den Kopf, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was er mir damit sagen wollte.

„Und auch eine jüngere.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem schwermütigen Lächeln, was die Narben in seinem Gesicht deutlicher zutage treten ließ. „Zumindest als die Tracker mich damals einfingen, war es so. Vielleicht haben meine Eltern in der Zwischenzeit noch weitere Kinder bekommen. Wer weiß.“

Ich schwieg. Was hätte ich dazu auch sagen sollen? Mein Kopf war gerade genug mit meinen eigenen Dingen beschäftigt.

Eine ganze Weile sagte er kein Wort. Er sah mich auch nicht an, er sah an mir vorbei auf etwas, das nur er sehen konnte. „Auch ich habe manchmal Alpträume. Von Maela. Sie war meine älteste Schwester.“ Sein Lächeln bekam eine bittere Note. „Sie ist gestorben, um mein Leben zu retten.“

Das Gefühl, das mich bei diesen Worten überkam, war nicht Mitleid, sondern Verstehen. Ich verstand was das für ihn bedeutete und auch, wie er sich mit dieser Schuld fühlte. Es waren die gleichen Geister, die auch mich heimsuchten, wenn ich sie am wenigsten erwartete. „Das tut mir leid.“

Entweder er ignorierte meine Worte, oder er hatte kein Interesse darauf einzugehen. Er legte einfach nur den Kopf auf die Rückenlehne und starrte zur Decke hinauf. „Ich war damals sieben und begleitete meine Schwester auf das Apfelfeld unseres Clans. Sie wollte Marmelade machen. Ich weiß noch, wie sie gescherzt hatte, einen ganzen Eimer machen zu müssen, damit sie auch mal etwas abbekäme.“ Er schloss einen Moment die Augen, als müsste er sich innerlich erst auf das vorbereiten, was nun kam. Als er sie wieder öffnete, waren sie kalt und bar jeder Emotion. „Ich weiß bis heute nicht, woher sie kamen, aber plötzlich standen da zwei Löwen. Sie umzingelten und belauerten uns. Maela versuchte sie abzuwehren, aber ihr wurde schnell klar, dass sie es nicht schaffen würde. Diese beiden Löwen waren völlig ausgehungert und hatten nun leichte Beute entdeckt.“

Der Impuls in tröstend zu berühren, durchzuckte mich, doch ich unterdrückte ihn. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er das im Moment gutheißen würde.

„Sie tat das Einzige was sie konnte. Sie half mir auf einen Baum und noch während ich versuchte mich hochzuziehen, fielen diese Scheißviecher über sie her und rissen sie zu Boden. Ich habe hilflos mitangesehen, wie sie sie zerrissen und sich anschließend an ihr satt fraßen. Noch heute höre ich im Schlaf manchmal ihre Schreie.“ Wieder schloss er die Augen, diesem Mal jedoch ließ er sie zu. „Weißt du was das Schlimmste an diesen Träumen ist?“

Ich zögerte. Wollte ich das wirklich wissen? „Was?“

„Der Moment in dem sie aufhört zu schreien, denn in dem Moment wird mir immer klar, dass jeder Versuch sie zu retten, zu spät kommt.“

Denn der Tod war endgültig. Solange sie schrie, bestand noch Hoffnung, aber wenn das Leber erst einmal fort war, konnte niemand mehr etwas tun. Selbst wenn seine Eltern, oder sein Clan, die Löwen gejagt und zur Strecke gebracht hatten, seine Schwester war für sie für immer verloren.

Zwischen uns breitete sich die Stille aus. Es war nicht unangenehm, auch wenn der Verlust wie dicke Nebelschwaden um uns herum wallte. Wir hatten etwas gemeinsam, etwas Abscheuliches, das eine zarte Verbindung zwischen uns schuf. Jeder Mensch musste in seinem Leben mit Verlusten und Schicksalsschlägen umgehen, doch die wenigsten hinterließen so tiefe Narben, dass sie einen für den Rest seines Lebens begleiteten.

„Ich war elf“, hörte ich mich sagen, ohne zu verstehen, warum sich mein Mund öffnete. Sawyer war der letzte Mensch auf dieser Welt, dem ich mich anvertrauen sollte. Es wäre, als würde ich ihm ein Messer reichen, damit er mich bei der nächstbesten Gelegenheit damit niederstechen konnte. Aber er hatte mir auch ein Messer gegeben, mit dem ich ihm verletzen konnte. Vielleicht war es einfach an der Zeit, ihm ein kleinen wenig zu vertrauen. „Der Sommer neigte sich bereits dem Ende entgegen, aber es war noch ziemlich warm und deswegen ging meine Mutter mit uns zum Waldrand.“ Die Himbeeren waren reif und ich, Nikita und Akiim waren ganz aufgeregt, sie endlich pflücken zu dürfen.

Sawyer drehte den Kopf in meine Richtung, ohne ihn von der Lehne zu nehmen. Sein Blick war konzentriert. Er sagte nicht, was vermutlich gar nicht so dumm war. Ich wusste nicht, ob ich weitersprechen konnte, wenn er mich unterbrach.

„Nikita war damals vier und mein Bruder Akiim dreizehn. Wir hatten nur noch meine Mutter.“ Ich beschwor ihr Bild vor meinem geistigen Auge herauf. Das blonde Haar, das ihr Gesicht in einer langen Kaskade umrahmte. Ihr Lächeln, das nach dem Tod meines Vaters immer ein wenig melancholisch gewesen war. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich mich noch an ihren Geruch erinnern, als würde sie direkt neben mir stehen. Sie hatte immer nach Wald und frischer Luft gerochen, nach Pinien und Sonnenblumen.

Düstere Erinnerungen griffen mit klauenbewährten Pranken nach mir und zerstörten das friedliche Bild in meinem Geist. „An diesem Tag ist alles anders geworden“, flüsterte ich. „An diesem Tag kamen die Monster.“ Und ich erinnerte mich an jedes Detail. Es hatte sich in mein Gedächtnis eingebrannt, damit ich es niemals vergessen konnte.

„Hier, Mama, schau mal.“ Stolz präsentierte ich ihr die Himbeere, die ich gerade vom Strauch gepflückt hatte.

Meine Mutter hob den Blick von Nikita, die sie gerade unter der großen Eiche, für ein kleines Schläfchen, auf eine Decke gelegt hatte und lächelte mich an. „Die ist aber groß.“

Meine Hände waren von den Beeren schon ganz rot. Mein Mund vermutlich auch. „Die ist für dich.“

„Ja“, sagte Akiim frotzelnd mit Blick auf das halbleere Körbchen neben mir. In seiner Hand hielt er einen Stock, mit dem er die ganze Zeit auf Blätter und Gräser einschlug. „Nimm sie schnell, bevor unser zuckersüßes Honigbienchen die auch noch isst.“

Ich warf meinem Bruder einen bösen Blick zu, der ihn strafen sollte. „Halt den Mund.“

„Besser wäre es, wenn wir deinen Mund geschlossen halten würden, damit wir noch ein paar Himbeeren mit nach Hause nehmen können.“

„Du bist sooo …“

„Hört auf damit, beide“, mahnte meine Mutter und deckte Nikita vorsichtig zu, um sie nicht zu wecken. Sie strich ihr einmal über das Köpfchen und erhob sich dann. Die Machete an ihrer Hüfte strich dabei kurz über das Gras. „Wie wäre es, wenn ihr beide zusammenarbeiten würdet, anstatt euch immer zu streiten.“ Sie hielt ihre Stimme gesenkt, um Nikita nicht zu wecken.

„Zusammen?“ Akiim wirkte so entsetzt, als hätte sie ihm gerade erklärt, er müsste wieder Windeln tragen. „Mit ihr? Sicher nicht.“

Ich streckte Akiim die Zunge raus. Mit ihm wollte ich auch nicht zusammenarbeiten. Naja, eigentlich wollte ich schon, aber das würde ich nicht zugeben, weil er immer so gemein zu mir war.

„Akiim“, seufzte meine Mutter, doch er wandte sich bereits ab, um mit seinem Stock nach einer Hummel zu schlagen, die um den Himbeerstrauch herum summte.

„Das ist mir zu langweilig“, murrte er. „Ich geh runter zum See.“

„Aber bleib in Hörweite“, mahnte Mama,

Akiim murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und umrundete den dornigen Strauch. Dabei schlug er mit seinem Stock immer wieder nach Blättern. Gleich darauf war er im grünen Unterholz verschwunden.

Mama seufzte leise, als sie ihm nachsah.

Akiim war so dumm. Immer musste er es uns schwer machen. Früher war er nicht so gewesen, da hatte er sogar mit mir gespielt, aber nach Papas Tod, hatte er sich verändert. Jetzt wäre ich ihm am liebsten nachgelaufen, um ihn in den See zu schubsen. Das hätte er verdient.

Stattdessen hielt ich meiner Mutter die dicke Himbeere hin.

„Danke.“ Lächelnd nahm sie sie entgegen und steckte sie sich mit offensichtlichem Genuss in den Mund. „Hm, lecker.“

Früher hatte meine Mutter viel und oft gelächelt, aber im Winter vor drei Jahren war mein Vater an der Grippe gestorben. Danach hatte Mama nur noch geweint. Heute war ihr Lächeln immer ein wenig traurig. Sie vermisste meinen Vater – genau wie ich.

„So, und jetzt schauen wir mal, ob wir das Körbchen vielleicht doch noch voll bekommen.“ Mama beugte sich über den Strauch und begann vorsichtig die Beeren abzuzupfen.

„Das schaffen wir.“ Mit neuem Enthusiasmus, machte ich mich wieder an die Arbeit. Mit Mama machte das sowieso viel mehr Spaß, als mit dem dummen Akiim.

Der Himmel über uns war blau. Nur wenige Wolken zogen vorüber und die Sonne schien an unserer Freude teilhaben zu wollen. Wir lachten und fütterten uns gegenseitig mit Beeren, während kleine Bienen und Hummeln um uns herumschwirrten, in der Hoffnung, auch etwas von den reifen Früchten abzubekommen.

Nikita bekam von all dem nichts mit. Sie schlief auf ihrer Decke im Schatten wie ein Baby. Naja, eigentlich war sie ja auch noch fast ein Baby. Immer musste man auf sie aufpassen, denn sonst machte sie dumme Sachen, wie einen Stein in den Mund nehmen, oder an einem Baum lecken. Und das nur, weil Akiim ihr das gesagt hatte. Sie war wirklich nicht besonders schlau.

Es war ein schöner Tag und hier am Waldrand so friedlich. Außerdem wirkte Mama glücklich.

„Sag Ahhh.“

Pflichtbewusst öffnete Mama ihren Mund und ließ sich von mir füttern. Dabei tat sie so, als würde sie auch noch meine Finger essen wollen, was mich zum Lachen brachte. „Und jetzt du.“

Auch ich öffnete den Mund.

„Mama!“

Der panische Ruf von Akiim, ließ meine Mutter herumfahren. Plötzlich war der Spaß vorbei und sie wirkte nur noch alarmiert.

„MAMA!“

Das war nicht weit entfernt. Akiim musste ganz in der Nähe sein.

Sie sprang auf die Beine, warf dabei das halbvolle Körbchen mit den Himbeeren um und rannte los, doch nach zehn Metern blieb sie so abrupt stehen, als hätte sich aus dem Nichts eine Wand vor ihr aufgetan. Ihr Blick war auf etwas gerichtet, dass ich von hier nicht sehen konnte. Der Ausdruck in ihrem Gesicht war blankes Entsetzen und ihre Haut wurde mit einem Schlag aschfahl.

Ich streckte mich, um zu sehen, was sie so erschreckt hatte, konnte aber nichts entdecken. Da waren nur Bäume und der glitzernde See, der zwischen den Baumstämmen hindurch funkelte.

Meine Mutter machte einen Schritt rückwärts, sah dann panisch zu mir und Nikita und kam wieder zu mir zurückgeeilt. Hastig kniete sie sich vor mich und griff nach meinem Gesicht. Ihre Finger zitterten. „Blieb hier und pass auf deine Schwester auf.“

„Was ist denn los?“ Etwas in ihrem Blick machte mir Angst.

Sie öffnete den Mund, brauchte aber zwei Anläufe, um etwas heraus zu bringen. „Weißt du noch, was ich wegen der bösen Menschen gesagt habe?“

Ich nickte. Natürlich wusste ich das, sie trichterte es uns Kindern ja bei jeder sich bietenden Gelegenheit ein. „Wenn böse Menschen kommen, soll ich weglaufen und mich verstecken. Du kommst dann und findest mich.“

„Genau, lauf weg und versteck dich. Geh mit Nikita in den Wald, ich werde euch finden.“

Wieder schrie Akiim. Seine Stimme klang verweint und näher als zuvor. Das verunsicherte mich. Akiim war schon dreizehn, ein halber Mann, wie er immer behauptete und Männer weinten nicht. Und da war noch ein anderes Geräusch, etwas das ich nicht zuordnen konnte.

„Bleib hier und sei still. Wenn sich euch etwas nähert, rennst du, so schnell du kannst. Hast du das verstanden?“

„Ja.“

„In Ordnung.“ Sie drückte mir einen kleinen Kuss auf die Wange und bemerkte dann wohl die Furcht in meinen Augen. „Alles wird gut, meine kleine Biene, euch wird nichts passieren.“

„Aber …“

„Bleib hier“, befahl sie ein weiteres Mal und erhob sich dann. Ihre Hand legte sich auf die Machete an ihrer Hüfte, bevor sie entschlossen davoneilte.

Ich blieb zurück, unsicher was hier gerade geschah. Mein Blick wanderte zu Nikita, die noch immer ruhig auf ihrer Decke schlief. Mit einem Mal kam mir der Tag gar nicht mehr so sonnig und fröhlich vor. Als ich Akiim noch ein weiteres Mal nach Mama schreien hörte, zuckte ich zusammen und wich einen Schritt zurück. Mama würde wiederkommen, sie hatte es gesagt. Ich würde hier warten, ruhig sein und darauf warten, dass sie zurückkam. Akiim würde wahrscheinlich Ärger bekommen, weil er uns mit seinen Schreien so einen Schrecken eingejagt hatte, aber dann würde alles wieder gut sein. Ich brauchte also gar keine Angst zu haben. Genau, dazu bestand gar kein Grund. Mama hatte mir das mit den bösen Männern nur in Erinnerung gerufen, damit ich daran dachte, falls wirklich etwas passierte. Jetzt war sie einfach nur Akiim holen gegangen, damit wir dann alle nach Hause gehen konnten.

„Der wird so bösen Ärger bekommen“, murmelte ich und stellte das Körbchen wieder auf. Es waren nur ein paar Beeren herausgefallen, die ich schnell wieder eingesammelt hatte.

Um mich zu beschäftigen, begann ich wieder damit, die Früchte vom Strauch zu pflücken. Es war das Einzige, was ich im Moment tun konnte. Aber Hunger hatte ich keinen mehr, darum landeten sie alle im Körbchen.

Um mich herum war es ruhig, doch die Stille empfand ich nicht mehr als friedlich, sondern eher bedrückend. Es war eine innere Beklemmung, die ich einfach nicht abschütteln konnte, egal wie oft ich mir sagte, dass alles in Ordnung war und ich mir keine Sorgen machen musste. Mama würde gleich wiederkommen, gleich. Sie musste nur noch …

Der plötzliche Schrei einer Frau ließ mich am ganzen Körper zusammenfahren. Ich erschreckte mich so sehr, dass ich meine Hand einfach aus dem Strauch riss und sie mir an den Dornen zerkratze. Es tat weh und blutete, doch alles was ich denken konnte, war: Das war Mama. Das war nicht Akiim gewesen, der da geschrien hatte, das war meine Mutter gewesen. Und jetzt fing auch Akiim wieder an zu schreien. Aber anders als zuvor. Auch jetzt schrie er nach Mama, aber sein Ton hatte etwas Verzweifeltes, das mir eine Gänsehaut über den Körper jagte.

Ich drückte meine blutende Hand an die Brust, wich ein paar Schritte zurück und verstand nicht, warum Akiim so nach Mama schrie. Was war nur los? 

Unsicher was ich tun sollte, stand ich einfach nur da und lauschte darauf, wie seine Schreie in Schluchzer übergingen. Und auf einmal war da noch eine andere Stimme, tief und wütend und sie kam eindeutig von einem Mann. Oh Gaia, was geschah da? Sollte ich hierbleiben und auf Mama warten, oder sollte ich mit Nikita in den Wald gehen, bis sie uns abholte?

Ich wusste es nicht. Da war nichts mehr außer diese beklemmende Angst, die immer stärker wurde.

Nein, das durfte ich nicht zulassen. Früher hatte ich furchtbare Angst vor Fröschen gehabt, aber dann hatte mein Vater mir erklärt, dass diese Angst nur ein Gefühl war, das aus Unwissenheit geboren wurde. Ich wusste nichts über Frösche. Sie waren so schleimig und eklig und diese Glupschaugen waren echt unheimlich. Aber dann hatte mein Papa mit mir Frösche und Kaulquappen gefangen und sie mir erklärt. Er hat mir gesagt, warum sie so waren, wie sie waren und wie sie funktionierten. Erst da hatte ich verstanden und auf einmal waren sie nicht mehr angsteinflößend gewesen, sondern nur noch eklig.

Hier war es das gleiche. Ich hatte Angst, weil ich nicht wusste, was vor sich ging und warum Akiim ständig schrie. Vielleicht hatte er sich einfach nur den Fuß gebrochen, weil er sich dumm angestellt hatte. Darum dauerte es auch so lange, bis Mama zurückkam.

Leider erklärte das nicht die wütende Männerstimme.

Egal. Ich würde da jetzt hingehen und nachsehen was los war. Ich würde herausfinden was hier los war und dann brauchte ich keine Angst mehr haben.

Aber Mama hatte gesagt ich sollte hierbleiben und mich verstecken.

Und wenn sie meine Hilfe brauchte?

Ich schüttelte den Kopf und wies alle Zweifel von mir. Ich würde jetzt herausfinden, was hier los war.

Mit neuer Entschlossenheit versicherte ich mich noch einmal, dass Nikita auch wirklich noch schlief und folgte dann den wütenden Stimmen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich bewegte mich nur vorsichtig. Ich war in diesem Wald aufgewachsen und wusste genau, wie ich mich leise und unbemerkt bewegen musste, um keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.

Warum ich um Büsche und Bäume herumschlich, wusste ich selber nicht, ich tat es instinktiv. Ich bewegte mich langsam, achtete genau darauf, wohin ich meine Füße setzte, bevor ich den nächsten Schritt machte und kam den wütenden Stimmen und Akiims Weinen immer näher.

Ja, Stimmen, es waren mehrere Stimmen, von mehreren Männern und sie schienen zu streiten. Ich konnte nicht verstehen was sie sagten, nur dass sie wütend waren.

Vorsichtig schlich ich durch das Unterholz. Nicht weit entfernt konnte ich durch die Äste und Zweige die glitzernde Wasseroberfläche des Sees sehen. Und da, bewegte sich da nicht etwas? Gleich da am Ufer? Akiim war da, ich hörte ihn schluchzen.

„Verdammt, hör endlich auf zu flennen“, schimpfte einer der männlichen Stimmen wütend.

„Das ist so eine Scheiße!“, fluchte eine andere.

Ich schlich näher heran und verbarg mich hinter einem dichten Wacholderstrauch, der meine Anwesenheit verbarg. Dann hockte ich mich auf den Boden und spähte zwischen ein paar spärlichen Ästen zur Waldgrenze. Nicht weit entfernt lag das Ufer des Sees, nur durch eine alte, rissige Straße vom dichten Waldrand entfernt.

Auf der Straße stand ein Auto. Nicht wie die Autos, die ich immer mal wieder irgendwo gesehen hatte, halb verrostet, ohne Scheiben und Reifen, überwuchert von Gestrüpp und Kletterpflanzen. Nein, dieses Auto sah ganz anders aus.

Der Lack war mit Schlammspritzern verschmutzt, wirkte aber ansonsten wie neu. Die Fenster waren mit Glas verschlossen und es fehlten auch keine Türen, oder andere Teile. Es wirkte fast wie neu und glänze sogar in der Sonne.

Nicht weit davon entfernt standen vier Männer in dunkelgrüner Kleidung. Sie trugen alle das gleiche. Das sah seltsam aus, solche Kleidung hatte ich noch nie gesehen. Alle sahen wirklich genau gleich aus. Auf ihrer Brust hatte man ihnen ein Bild genäht, ein Baum in einem Kreis, wenn ich das richtig erkannte.

Einer von ihnen hielt Akiim mit festem Griff an seinem Arm gepackt. Mein Bruder war zu seinen Füßen zusammengesunken und weinte und schluchzte bitterlich. Dabei starrte er auf etwas, das von den drei anderen Männern umrundet wurde. Irgendwas lag da auf dem Boden, aber ich konnte nicht erkennen, was es war. Es wirkte wie ein Stoffhaufen.

Akiim schien den Blick nicht davon abwenden zu können. An seinem Mund klebte Blut, doch es schien nicht von ihm zu stammen.

„Fuck!“ Einer der Männer spie dieses Wort so plötzlich aus, dass ich zusammenzuckte. Er griff sich in die Haare und begann sie sich zu raufen. „Das hätte nicht passieren sollen!“

„Was hätte ich den tun sollen?“, wollte ein großer, breitschultriger Mann von ihm wissen. Sein Arm blutete. Es war eine Bisswunde, aber nicht von einem Tier. Mein Blick huschte wieder zu Akiims Mund. Hatte mein Bruder ihn gebissen? „Sie hat mir dem Scheißding rumgefuchtelt. Sollte ich warten, bis sie einen von uns damit aufschlitzt?“ Angewidert warf er etwas von sich Richtung Waldrand. Es landete nicht weit von mir entfernt im Gras.

Ich duckte mich tiefer hinter dem Wacholder und wagte es einen Moment nicht einmal zu atmen. Hatte er mich gesehen?

Als nichts geschah, wagte ich wieder einen vorsichtigen Blick durch die Zweige. Das was der Mann geworfen hatte, lag nicht weit von mir entfernt im Gras, doch ich brauchte einen Moment um zu erkennen, was es war. Eine Machete. Aber nicht irgendeine Machete, es war die von meiner Mutter. Ich erkannte sie an dem gelben Band, das an den Griff gebunden war.

Die Klinge der Machete war rot und mit Blut beschmiert.

Mein kleines Herz schlug immer schneller. Ich schaute wieder zum weinenden Akiim hinüber. Warum war Mama nicht hier um ihm zu helfen? Warum hatten diese Männer ihre Machete? Ich hatte doch eben noch genau gesehen, dass sie sie bei sich getragen hatte.

Wo war Mama?

„Okay, beruhigen wir uns jetzt alle erst mal“, sagte der vierte Mann. „Wir müssen hier aufräumen und zurückfahren, um Bericht zu erstatten.“

„Toller Einfall“, meinte der Kerl mit der Bisswunde am Arm. Allerdings klangen seine Worte äußerst sarkastisch. „Sie wird uns den Kopf abreißen.“

„Hast du eine bessere Idee?“

Der eine Mann bewegte sich ein Stück zur Seite und gab damit den Blick auf den Lumpenhaufen vor ihm auf dem Boden preis.

Das Erste was ich sah, war das viele Blut auf der weißen Kleidung. Es glänzte feucht im Sonnenlicht. Das Nächste was ich bemerkte, war der leere Blick toter Augen, die mich direkt ansehen zu schienen.

Zuerst verstand ich nicht, was ich da sah. Diese Augen waren die von meiner Mutter. Das lange, blonde Haar und auch das Gesicht gehörten Mama. Auch die Kleidung war die ihre, aber sie bewegte sich nicht und überall war Blut. Es sickerte aus einer tiefen Wunde an ihrem Hals und färbte sogar den Boden um sie herum.

In meinen Ohren begann es zu rauschen. Die Stimmen der Männer und auch das Schluchzen von Akiim schienen in weite Ferne zu rücken. Mein Herz schlug immer schneller und ich schien keine Luft mehr zu bekommen.

Ich blinzelte ein paar Mal, doch das Bild veränderte sich nicht. Ganz im Gegenteil, es schien sich in mein Hirn einzugraben. Der Lumpenhaufen war gar kein Lumpenhaufen, das war Mama und sie war … tot. Mama war tot.

Meine aufgerissenen Augen begannen zu brennen und ein gequältes Geräusch zwängte sich durch meine zugeschnürte Kehle. Ich schlug hastig die Hände vor den Mund, aber die Männer hatten es nicht gehört, dafür keiften sie sich viel zu laut an.

Mama war tot. Diese Männer hatten sie mit ihrer eigenen Machete getötet. Mama konnte dem weinenden Akiim nicht mehr helfen, denn sie war tot! Ich sah es direkt vor mir, aber ich konnte es nicht verstehen.

Tränen sammelten sich in meinen Augen und kullerten mir über die Wangen. Trauer und unbändige Angst machten sich in mir breit. Mein ganzer Körper begann zu zittern, ohne dass ich etwas dagegen unternehmen konnte.

Sie hatten meine Mama getötet.

Ich wusste nicht was ich tun sollte. Ich konnte nicht zu ihr, ich konnte Akiim nicht helfen, ich konnte nur hier sitzen und machtlos mitansehen, was vor mir geschah.

Die letzten Worte von Mama schwebten mir plötzlich durchs Hirn. Lauf weg und versteck dich.

Ich konnte nichts tun.

Lauf weg und versteck dich.

Ich konnte Akiim nicht helfen.

Lauf weg und versteck dich.

Das waren vier böse Männer, ich hatte keine Chance gegen sie.

LAUF WEG UND VERSTECK DICH.

Ich sprang auf die Beine, wirbelte herum und rannte so schnell meine Beine mich trugen.

Papa hatte unrecht gehabt. Nur weil man etwas verstand, machte es einem nicht plötzlich weniger Angst. Das hier verstand ich und ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie so viel Angst vor etwas gehabt.

„Ich bin so schnell gerannt, wie ich nur konnte“, hörte ich meine eigene tonlose Stimme sagen. „Weg, das war alles was ich denken konnte. Nur weg.“ Ich war zurück zu Nikita gelaufen, hatte sie mir geschnappt und mich mit ihr tief im Wald versteckt. Die Tage darauf waren grauenvoll gewesen. Jedes Geräusch hatte mich erschreckt und vor Angst zittern lassen. Immer wieder hatte ich befürchtet, dass die bösen Männer uns finden würden und gleichzeitig gehofft, dass meine Mutter uns holte, obwohl ich doch wusste, dass sie tot war. Ich hatte mich geschämt, weil ich Akiim im Stich gelassen hatte und er deswegen jetzt auch tot war. Ich hatte geweint und gefleht, ich hatte auf ein Wunder gehofft, aber nichts war geschehen.

Fast einen Monat hatte ich mich mit Nikita im Wald versteckt, bevor ich es wagte wieder hervorzukommen. Damals hatte ich so schreckliche Angst gehabt, aber Nikita hatte mich gebraucht, also hatte ich mich zusammengerissen.

Heute wusste ich nicht mehr wieso, aber als ich damals aus dem Wald kam, ging ich mit Nikita an der Hand zurück zum Waldrand. Das Auto war weg gewesen, die Männer waren nicht mehr da und auch Akiim und meine Mutter waren verschwunden. Da war nicht einmal mehr Blut gewesen, denn der Regen hatte ihn weggewaschen. Das Einzige was ich noch fand, war die zurückgelassene Machete mit dem gelben Band.

Ich nahm sie an mich und ging mit Nikita in der einen, und der Machete in der anderen Hand, zurück zu unserem Haus im Wald. Doch schon bevor ich es betrat, wusste ich, dass hier etwas nicht stimmte.

Jemand hatte die Tür aufgetreten, sie hing nur noch halb in den Angeln. Und das eine Fenster war kaputt.

Voller Angst war ich hinein gegangen, nur um zu entdecken, dass all unsere Sachen kaputt waren. Jemand war hier eingedrungen, hatte alles durchwühlt und unsere Sachen zerstört. Das waren die Monster gewesen, die meine Mutter und meinen Bruder getötet hatten. Ich hatte keine Ahnung, woher ich das wusste, aber sie waren es. Sie waren hier eingedrungen, hatten etwas gesucht und als sie es nicht fanden, hatten sie alles kaputt gemacht – da war ich mir sicher gewesen.

In dem Moment war mir klar geworden, dass sie wussten, wo unser Haus war. Sie wussten es und konnten jederzeit wieder zurückkehren. Dort konnten wir nicht bleiben. Ich hatte mir Nikita geschnappt und war ein weiteres Mal davongelaufen. Ich war nie wieder zurückgegangen. Die Angst hatte mich von diesem Ort ferngehalten.

„Damals wusste ich noch nicht, wer diese Männer waren, oder was ihr Auftauchen bedeutete.“ Ich strich mit dem Finger über einen losen Faden an der Decke. „Sie waren Fremde und diese Art von Kleidung hatte ich bis dahin noch nie gesehen. Ich wusste nicht was Tracker sind, oder was sie machten, das alles habe ich erst später erfahren. Ich war also kein kleines Kind, dessen von Angst verzerrten Erinnerungen den bösen Mann zum Monster machten. Ich habe erst später erkannt, dass die Monster und die bösen Männer ein und dasselbe Gesicht tragen.“ Das waren nicht irgendwelche Männer gewesen, die die Uniformen der Tracker geklaut hatten, es waren Tracker. Nur die Menschen aus Eden besaßen funktionierende Autos. „Mein Bruder ist tot, weil ich zu feige war ihm zu helfen. Ich habe ihn den Trackern überlassen und bin einfach weggelaufen, um mich selber in Sicherheit zu bringen. Ja, ich war noch ein Kind, aber das war er auch.“

Zwischen uns breitete sich die Stille aus. Nur das leise Summen der Stehlampe war zu hören.

Meine Kehle war vom vielen Reden trocken. Ich wusste nicht mal genau, was ich alles erzählt hatte. Gedanken und Worte hatten sich zu einem Gemisch der Erinnerungen vereint. Ich hatte schon lange nicht mehr über diesen Tag gesprochen, doch nun war es wieder so real, als wäre es gerade erst geschehen. Die Erlebnisse drückten mir aufs Gemüt und versuchten mich in eine Tiefe zu zerren, in der es weder Licht noch Hoffnung gab. Und obwohl meine Augen brannten, floss keine Träne. Ich hatte schon genug geweint, es würde ja doch nichts ändern.

Sawyer stieß einen tiefen Seufzer aus, löste die verschränkten Arme vor der Brust und stellte die Beine zurück auf den Boden. Der Ansturm der Fragen auf mich, mit denen ich gerechnet hatte, blieb aus, genau wie seine Vermutung, ich hätte da etwas falsch verstanden, oder machte mir nur etwas vor. Ich spürte seinen Blick auf mir, doch er sagte nichts, als er sich vom Sofa erhob. Aber dann tauchten seine ausgestreckten Hände vor meinem Gesicht auf. „Na los, hoch mit dir.“

Von dieser Geste war ich so überrumpelt, dass ich ganz automatisch Zugriff und mich von ihm auf die Beine ziehen ließ, ohne überhaupt darüber nachzudenken. Es war fast wie ein Reflex. Die Decke rutschte an meinen Beinen hinunter und sammelte sich zu einem Knäuel an unseren Füßen. „Wohin willst du?“

„Na wohin schon?“ Er ließ meine rechte Hand los, behielt die linke aber fest im Griff, als er mich an der Couch entlang zog. „Es ist spät, wir sind müde, wir gehen jetzt ins Bett.“

„Was?“ Bei dem Wort Bett entriss ich ihm sofort meine Hand und wich vor ihm zurück. Das brauchte auch ihn zum Stehen. „Ich werde sicher nicht mit dir ins Bett steigen.“ Nicht in hundert Jahren.

Seine Augen begannen schelmisch zu glänzen und dann zwinkerte der Idiot mir auch noch zu. „Mir gefällt die Art wie du denkst, aber keine Sorge, solange du es nicht willst, werde ich dich nicht anrühren.“

Er ließ es verspielt und auch ein wenig anzüglich klingen, doch etwas der Art wie er es sagte, brachte mich dazu, nach der Bedeutung hinter diesen Worten zu suchen. Besonders nachdem, was er erst am Abend zu mir gesagt hatte. Es war kein Scherz, er meinte es genauso, wie er es sagte. Das fand ich beunruhigend.

Die nächsten Worte kamen ohne mein Zutun über meine Lippen. „Und wenn ich es will?“, fragte ich leise. „Würdest du es tun, weil du es auch willst, oder weil du es musst?“

Sehr langsam verblasste das Lächeln auf seinen Lippen und auch der verspielte Ausdruck in seinen Augen verschwand. Er machte etwas anderem Platz, etwas das ich nicht benennen konnte, obwohl ich es doch kennen müsste. Vielleicht wollte ich es aber auch einfach nicht benennen.

Er machte einen Schritt auf mich zu, bedrängte mich allein mit seiner Nähe. Mit einem Mal wurde ich mir der Körperwärme bewusst, die er ausstrahlte. Ich konnte sie auf meiner Haut spüren.

Mein Herz begann ein kleinen wenig schneller zu schlagen und auch wenn ich es sehr gerne getan hätte, wich ich nicht vor ihm zurück. Ich würde mich von ihm weder verunsichern noch zu irgendeiner unbedachten Reaktion provozieren lassen.

„Willst du das wirklich wissen?“, fragte er sehr leise und hielt meinen Blick mit dem seinen fest. Dann beugte er sich so weit vor, dass nur noch ein Hauch seinen Mund von dem meinen trennte. Ich konnte seinen warmen Atem auf meinen Lippen spüren. Es prickelte. „Die Antwort könnte beängstigend sein.“

Er war mir eindeutig zu nahe und das erschwerte mir nicht nur das Denken, es machte auch seltsame Dinge mit mir. Irgendwas geschah hier zwischen uns. Ich weigerte mich seinen eindringlichen Blick auszuweichen, musste aber zu meinem Leidwesen feststellen, dass mein Atem sich leicht beschleunigte. Warum das so war, wollte ich gar nicht näher erkunden, denn wie er eben gesagt hatte, die Antwort könnte beängstigend sein und ich war mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt eine Antwort darauf haben wollte – oder wie diese ausfallen sollte.

Keiner von uns sagte ein Wort. Wir standen einfach nur da uns starrten uns an, während die Luft zwischen uns zu knistern schien.

Seine Augen begannen zu funkeln und dann erschien wieder dieses spöttische Lächeln auf seinen Lippen, das ich so verabscheute. Mit einem Schlag schien die Luft zwischen uns zu entweichen und ich konnte wieder freier atmen. Als er dann einen Schritt vor mir zurückwich, schien es ihn eine enorme Willenskraft zu kosten. „Na los, hol deine Decke“, wies er mich an und kehrte mir den Rücken zu. „Und dann komm ins Bett.“ Ohne auf mich oder meine Antwort zu warten, verschwand er ins Schlafzimmer und ließ mich einfach hier stehen.

Und ich? Ich konnte mich nicht vom Fleck bewegen.

Bei Gaia, was bitte war das gerade gewesen? Die ganze Atmosphäre hatte sich mit einem Schlag verändert und jetzt war ich einfach nur noch verwirrt. Das war ein Zustand, den ich absolut nicht mochte.

Vielleicht war ja genau das Sawyers Ziel gewesen. Nachdem was wir uns gerade erzählt hatten, wollte er einfach wieder Normalität zwischen und schaffen. Es war nur wieder eine seiner blöden Herausforderungen gewesen. Sein spöttisches Lächeln bewies das doch.

Warum nur fühlte es sich dieses Mal so anders an? Das musste daran liegen, dass ich ihm am schlimmsten Teil meiner Vergangenheit hatte teilhaben lassen. Vielleicht lag es aber auch einfach an dem blöden Aphrodisiakum.

Das Bett knarrte leise und dann war das Rascheln von Decken zu hören.

In Ordnung, ich konnte jetzt weiter hier stehen und mir den Kopf zerbrechen, oder ich konnte wieder zurück auf die Couch gehen und mich schlafen legen. Keine der beiden Optionen schien mir in diesem Moment sehr verlockend. Ich wollte im Augenblick nicht allein sein, aber die Alternative wäre zu Sawyer ins Bett zu steigen. Konnte ich wirklich neben ihm schlafen und mich darauf verlassen, dass er auf seiner Seite des Bettes blieb? Nichts was er heute getan hatte, ließ einen anderen Schluss zu. Klar, er hatte immer wieder Andeutungen gemacht und anzügliche Einladungen ausgesprochen, aber das waren immer nur Worte gewesen, niemals Taten.

Unschlüssig starrte ich auf die Decke am Boden. Dann gab ich einen leisen Fluch von mir, klaubte sie vom Boden und marschierte mit ihr zum Schlafzimmer. An der Tür jedoch zögerte ich.

Der Raum war dunkel. Das einzige Licht kam von der Lampe im Wohnzimmer und beleuchtete den Raum nur unzureichend. Ich konnte kaum mehr als Schatten erkennen.

Einer dieser Schatten lag im Bett und bewegte sich leicht. „Ich kann dich sehen.“

Das war doch albern. Wenn Sawyer irgendwas versuchen sollte, was ich nicht wollte, konnte ich ihm immer noch eine knallen.

Entschlossen trat ich ins Schlafzimmer und kroch auf die linke Seite des Bettes. Ich legte mich soweit nach außen, wie das Bett es zuließ, ohne runter zu fallen und wickelte mich dann bis zum Hals in meine Decke ein.

Der Mistkerl neben mir lachte leise. Er lag auf dem Rücken, einen Arm hinter dem Kopf und die Decke nur bis zur Hüfte hochgezogen. Seine Augen waren auf mich gerichtet. „So wie du da liegst, passen noch zwei weitere Leute bequem zwischen uns.“

Joa, mit dieser Schätzung könnte er richtig liegen. „Ich will nur nicht, dass hier falsche Eindrücke entstehen.“

Wieder lachte er. „Na los, rutsch ein Stück hier rüber. Ich verspreche auch mich zu benehmen.“ Kurze Pause. „Naja, zumindest, bis wir wieder aufstehen. Danach garantiere ich für gar nichts.“

Das war wahrscheinlich das beste Angebot, das ich von ihm kriegen konnte. Außerdem hatte ich wirklich keine Lust, im Schlaf aus dem Bett zu fallen. Nur darum rutschte ich einen halben Meter näher an ihn heran. So war er immer noch weit genug von mir entfernt.

Sawyer atmete einmal tief ein und dann langsam wieder aus, als wollte er sich von allen Lasten des Tages befreien. Als er dann auch noch die Augen schloss, begann auch ich mich neben ihm etwas zu entspannen. Es war nichts Neues für mich, so nahe bei einem anderen Menschen zu schlafen. Zuhause hatte ich mir zur Nacht einen Raum mit vier anderen geteilt – und einer von ihnen hatte geschnarcht, dass das ganze Flugzeug vibrierte. Hier alleine in meiner Suite in einem Bett zu liegen, war dagegen etwas völlig anderes gewesen. Das hier gefiel mir viel besser und das obwohl es Sawyer war.

Das durfte ich ihn niemals wissen lassen, sonst würde er mich damit nur aufziehen. Der Gedanke daran ließ mich schmunzeln.

„Bist du dir sicher, dass es Tracker waren?“, fragte Sawyer plötzlich leise in die Stille hinein.

Die Frage überraschte mich so sehr, dass ich einen Moment brauchte, um sie zu verarbeiten. Kein Vorwurf, dass ich mir da nur etwas einbildete, sondern eine schlichte Frage. „Ja.“

Er schwieg einen Moment, als müsste er erst darüber nachdenken. „Wie lange ist es her?“

„Elf Jahre.“

Er drehte den Kopf, sodass sein Blick wieder auf mich gerichtet war. „Hast du einen von den Männern hier in Eden gesehen?“

Bei dieser Frage lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Oh Gaia. Bei dem ganzen Drama, in das sich mein Leben in den letzten Wochen verwandelt hatte, war ich nie auf die Idee gekommen, dass diese Männer noch am Leben und hier in Eden sein könnten. Ich war immer davon ausgegangen, niemals einen von diesen Trackern wieder zu Gesicht zu bekommen, da ich mich von allem was mit der Stadt zu tun hatte, tunlichst fernhielt. Nicht mal meine Rachegelüste hätten mich dazu bringen können, nach ihnen zu suchen, um sie für ihre Taten zu bestrafen, denn die Tracker waren gefährlich und ich musste auf Nikita aufpassen. Ich war schließlich die Einzige, die ihr geblieben war.

Aber Sawyer hatte recht, es waren nur elf Jahre die zwischen damals und heute lagen. Diese Männer könnten nicht nur noch am Leben sein, sie könnten auch hier sein, in dieser Stadt. Genau in diesem Moment könnten sie ganz in meiner Nähe sein. Das war ein grauenhafter Gedanke.

Auch wenn es mir nicht leichtfiel, sperrte ich die Kiefer auseinander und zwang mich dazu „Nein“ zu sagen. Außer den Trackern die mich nach Eden gebracht hatten, hatte ich kaum jemand von ihnen zu Gesicht bekommen. Doch wie mir nun klar wurde, bedeutete das noch lange nicht, dass sie nicht hier waren.

Diese Offenbarung ließen sowohl Angst, als auch Wut in mir aufsteigen. Ich hatte nicht geglaubt, dass es etwas gab, dass meinen Hass auf Eden noch steigern konnte. Ich hatte mich geirrt.

Sawyer bewegte sich neben mir, kehrte mir den Rücken und atmete einmal tief aus. „Schlaf jetzt.“

Ich glaubte nicht, dass ich nach dieser Erkenntnis würde einschlafen können. Und selbst wenn, würden meine Alpträume vermutlich zu mir zurückkehren. Doch zu meiner Überraschung fielen mir die Augen schon bald zu und ich versank in einem traumlosen Schlaf.

 

oOo

Kapitel 42

 

„Wirst du jetzt wohl deine Finger aus der Schüssel lassen.“ Sawyer bedachte mich mit einem gereizten, aber zugleich auch leicht amüsierten Blick, bevor er den Wender in die Pfanne schob und den Pfannkuchen auf die andere Seite drehte.

Den Finger noch im Mund, schaute ich ihn mit großen, unschuldigen Augen an.

Sawyer gab ein belustigtes Schnauben von sich. „Du guckst wie Salia, wenn sie glaubt, bei etwas Verbotenem erwischt worden zu sein.“

Mit einem hörbaren Schmatzen, zog ich den Finger aus meinem Mund. „Das ist so lecker.“

„Es wird noch viel leckerer sein, wenn sie erst mal fertig sind.“

„Na gut.“ Ich zog einen Schmollmund und lehnte mich mit verschränkten Armen an neben ihm an die Anrichte, um zu verhindern, doch noch mal in die Schüssel zu greifen. Dabei schaute ich ganz genau zu, wie geschickt er den Pfandkuchen von beiden Seiten gleichmäßig goldbraun anbriet und dann zu den anderen auf den Teller stapelte.

Der Morgen war seltsam gewesen. Trotz meines Alptraums in der letzten Nacht, hatte ich bei Sawyer im Bett verblüffend gut schlafen können. Beim Erwachen mit dem Morgengrauen, hatte ich ganz still verharrt. Sawyer hatte Wort gehalten und war auf seiner Seite des Bettes geblieben, aber in der Nacht hatte er sich gedreht, sodass ich beim Aufwachen sein Gesicht vor der Nase hatte.

Im Schlaf, ohne seine herablassende Art und den immer gegenwärtigen Spott, hatte er friedlich, ja sogar zugänglich, gewirkt. Wie er da so gelegen hatte, mit halb geöffnetem Mund, eine Hand unter das Gesicht geschoben, kam er mir zum ersten Mal menschlich vor. Vielleicht hatte das aber auch daran gelegen, dass er mich in der Nacht aus meinem Alptraum geholt hatte.

Eine Weile hatte ich seine geschossenen Augen betrachten, war dann aber aufgestanden, um ihn nicht zu stören.

Die nächsten Stunden hatte ich dann mit grübeln und nachdenken verbracht, bis Sawyer irgendwann schlaftrunken und total zerknittert aus dem Bett gestiegen war. Zur Begrüßung hatte er mich angeknurrt und war dann Im Badezimmer verschwunden. Eine halbe Stunde später hatte er sich dann in die Küche gestellt und angefangen Pfandkuchen zu machen. Und ich musste jetzt machtlos mit ansehen, wie er eine weitere Kelle von dem leckeren Teig in die Pfanne goss und die Schüssel damit noch weiter leerte.

Sawyer grinste, als er meinen Blick bemerkte. „Ich hätte dich niemals für so eine Naschkatze gehalten.“

„Ich mag halt süße Sachen.“

„Das habe ich gemerkt.“

Ich öffnete den Mund, schloss ihn aber sogleich wieder. Das was mir auf der Zunge lag, ging ihn nichts an, warum also hatte ich das Bedürfnis, es ihm zu erzählen? Vielleicht weil er mir letzte Nacht zugehört hatte, ohne zu urteilen und mich zu bezichtigen, aufgrund eines Traumas, etwas falsch verstanden zu haben? So wie Killian es getan hatte.

Sawyer zog eine Augenbraue nach oben. „Ja?“

Ach, was solls. „Ich erinnere mich noch ganz genau daran, wie ich das erste Mal in meinem Leben Honig gegessen habe. Meine Mutter hatte einer Händlerin ein Gläschen abgekauft und mich probieren lassen. Das war unser aller Untergang, denn ab diesem Zeitpunkt wurde ich süchtig nach dem Zeug.“

„Ein Honigjunkie.“

Ha ha. „Damit wurde ich zu Mamas kleiner Biene. Selbst mein großer Bruder hatte mich so genannt. Obwohl, meistens hat er mich nur mit meinem Spitznamen aufgezogen. Zuckersüßes Honigbienchen.“ Das hatte Akiim immer zu mir gesagt. Meistens nur um mich zu ärgern, aber nachdem ich es nicht mehr aus seinem Mund hören konnte, vermisste ich diese kleinen Sticheleien.

Wäre ich doch damals nur nicht so feige gewesen.

Sawyer hob den Pfannkuchen aus der Pfanne und stapelte ihn zu den bereits fertigen auf den Teller daneben. Dann griff er nach der Kelle und schöpfte eine weitere Ladung von dem flüssigen Teig in die Pfanne. Mein sehnsüchtiger Blick entging ihm dabei offensichtlich nicht. „Du kannst gleich die Schüssel auslecken.“

Ich beäugte den schwindenden Inhalt. Es war kaum noch etwas drinnen.

Sobald der Teig begann zu brutzeln, nahm Sawyer einen Löffel aus dem Schrank und reichte ihn mir zusammen mit der fast leeren Schüssel.

Meine Augen leuchteten auf. Ich schnappte mir beides, lud den Löffel voll und steckte ihn mir in den Mund. Hmmm.

Sawyer beobachtete mich dabei, wandte sich dann aber wieder dem Essen zu. „Was hast du da eigentlich an einer Hand gemacht?“

Ich stutzte und musste erst nachsehen, um zu verstehen, was er meinte. „Ich habe meinen Keychip mit einem Messer herausgeschnitten.“

„Warum? Wolltest du gegen die Ungerechtigkeiten des Lebens protestieren, indem du dich selbst verstümmelst und dich von deiner Umwelt komplett abschneidest?“

Dafür gab es einen bösen Blick. „Ich habe mich nicht selbst verstümmelt. Und ich habe ihn wegen dem Peilsender entfernt.“

Der spöttische Ausdruck wich Verwirrung. „Was für ein Peilsender?“

„Na der in den Keychips. Bei meinem Fluchtversuch haben sie mich wegen diesem Peilsender aufspüren können.“

Er schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung, was du dir da zusammengesponnen hast, aber da ist kein Peilsender drinnen.“

„Ach nein? Und wie haben die Yards uns dann so schnell gefunden? Kaum dass wir auf der dritten Ebene waren, waren sie schon hinter uns und das ohne die Umgebung abgesucht zu haben. Egal wohin wir gelaufen sind, sie schienen immer ganz genau zu wissen, wo wir waren.“

„Instinkt? Gespür? Ein überdurchschnittlicher Geruchssinn? Keine Ahnung, aber an den Keychips lag es nicht. Das ist nur ein einfacher RFID-Chip. Funktioniert nur über kurze Distanzen und besitzt nicht mal eine eigene Batterie.“

Nein, von dem letzten Teil hatte ich nicht viel verstanden und ja, es ärgerte mich. Ich war nicht dumm, also warum kam ich mir hier immer so vor? „Das war mehr als Instinkt, sie wussten genau wo wir waren.“ Ich schabte in der Schüssel und steckte mir einen weiteren Löffel in den Mund.

Sawyer drehte den Pfannkuchen. „Das habe ich auch gar nicht bestritten, aber an den Chips lag es nicht. Du hast dir also ganz umsonst die Hand aufgesäbelt.“

Nachdenklich verzog ich die Stirn. Konnte das stimmen? Und wenn ja, wie hatten die Yards uns dann aufgespürt? Egal, das hatte jetzt keine Bedeutung mehr. Dieser Versuch war gescheitert, aber der nächste würde es nicht. Das konnte sich keiner von uns beiden erlauben.

Als ich den letzten Rest aus der Schüssel kratzte, schaltete Sawyer die Pfanne aus und hob den letzten Pfannkuchen zu den anderen auf seinen Stapel. Dann beobachtete er, wie ich den letzten Löffel an meine Lippen führte.

Ich zögerte. Wollte er vielleicht auch etwas? Er hatte nichts gesagt, aber warum sollte er mich sonst so anstarren? Seufz.

Es war mein letzter Löffel, trotzdem hielt ich ihn ihm entgegen. „Hier.“

Er stutzte kurz, beugte sich dann aber vor und schloss die Lippen um den Löffel. Dann richtete er sich wieder auf. Der Löffel blieb in seinem Mund. Seine Augen blitzen vergnügt, als er ihn mit einem „hm, lecker“ aus dem Mund zog. „Ich bin ein fantastischer Koch.“

Ich schnaubte und stellte die leere Schüssel in den Abwasch. „Bescheidenheit ist eine Tugend.“

„Zurückhaltung auch.“ Er ließ den Löffel in die leere Schüssel fallen, stellte beides ins Waschbecken und drehte den Wasserhahn auf.

Wollte er damit etwa andeuten, ich konnte mich nicht zurückhalten? Na gut, damit könnte er recht haben. Ich griff nach der Schleife an meiner Schürze und zog daran. Da sie vorne gebunden war, sollte das eigentlich kein Problem sein, aber der leckere Geruch im Raum, musste meine Sinne benebelt haben, denn ich schaffte es doch tatsächlich am falschen Ende zu ziehen und einen Knoten zu machen. Grummelnd versuchte ich ihn zu lösen, machte es aber nur noch schlimmer.

Sawyer bemerkte das Malheur und grinste. „Stellen wir uns gerade talentiert an?“

Mein böser Blick hätte ihn eigentlich in Angst und Schrecken versetzen müssen, doch aus irgendeinem Grund grinste der Blödmann nur noch breiter.

„Warte“, sagte er, schüttelte seine Hände ab und griff nach dem Handtuch. „Ich helfe dir.“

„Ich bekomme das schon selber hin.“ Ich musste nur endlich diese blöde Ecke zu fassen bekommen.

„Das sehe ich.“ Er warf das Handtuch achtlos auf die Anrichte und griff nach dem Knoten.

„Du brauchst nicht …“

„Jetzt hör auf dich wie ein kleines Kind zu verhalten.“

Dafür bekam er den Todesblick, der jedoch eiskalt an ihm abprallte. Also fügte ich mich meinem Schicksal und ließ die Hände sinken, damit er sich die Sache einmal anschauen konnte.

Er zupfte und zog an den dünnen Bändern, zog dabei die Augenbrauen zusammen und brauchte dafür so lange, dass ich schon kurz davor war es einfach zu zerreißen, da spürte ich wie die Spannung nachließ und der Knoten war gelöst.

„So, das hätten wir.“ Er richtete sich wieder auf und grinste mich an.

„Danke.“ In Erwartung, dass er nun wieder zurücktreten würde, blieb ich wo er war. Aber er bewegte sich kein Stück. Stattdessen schaute er in mein Gesicht und sein Blick, er veränderte sich. „Was ist?“

Anstatt zu antworten, hob er seine Hand und legte sie mir an die Wange. Sein Daumen strich direkt unter meinem Auge entlang.

Ich hätte zurücktreten, oder ihn wegschubsen müssen, stattdessen stand ich einfach nur überrascht da und spürte seine Berührung. „Was machst du da?“

Sein Blick wurde intensiver und mein Herz legte einen Zahn zu. Genau wie gestern Abend schien die Luft zwischen uns sich zu verändern. Doch dann blinzelte er und trat einen Schritt zurück. Mit dem Verschwinden seiner Berührung, verschwand auch die Wärme. „Mehl“, sagte er und wandte sich wieder dem Abwasch zu. „Du hattest da etwas an der Wange.“

Ein wenig verblüfft, wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Eigentlich sollte eine so schlichte Berührung keine große Sache sein. Und doch spürte ich sie noch immer. Und ich wollte, dass er es noch einmal tat.

Das musste an dem Aphrodisiakum liegen. Seine Wirkung war nach wie vor vorhanden und ließ die Hormone in meinem Körper eine Party feiern. Dabei interessierte es sie nicht, dass ich gar keine Lust auf Party hatte.

Um mich von meinen Gedanken abzulenken, begann ich damit den Tisch zu decken, während Sawyer sich um die dreckige Schüssel und die Pfanne kümmerte. Als ich die letzte Gabel auf den Tisch legte und mich auf einen der Stühle setzte, wurde auch er fertig und setzte sich mir gegenüber.

„Wow, du hast ja richtig hausfrauliche Qualitäten. Dabei dachte ich bis jetzt immer, du seist nur ein kleiner Unruhestifter.“

„Redest du von dir selber?“ Ich schaute Sawyer aufmerksam dabei zu, wie er sich einen Pfannkuchen auf den Teller legte und ihn dann dick mit einer braunen Crem bestrich.

„Ich bin kein Unruhestifter. Ich bin ein Rebell. Mit mir legt sich keiner freiwillig an.“

Ich verdrehte die Augen und tat mir selber einen der Pfannkuchen auf. Mit der braunen Creme verfuhr ich eher zögerlich, weil ich keine Ahnung hatte, was das war, aber sobald ich ein Stück probiert hatte, bekam mein geliebter Honig zum ersten Mal in meinem Leben ein wenig Konkurrenz.

Der Nachmittag verlief ruhig, fast schon langweilig. Sawyer verschwand für ein Nickerchen in seinem Schlafzimmer und tauchte erst am Abend wieder auf – er trug wieder kein Hemd. Nach einem kleinen Snack in der Küche, legte er sich mit einem Buch auf die Couch.

Die Nacht draußen war bereits angebrochen, doch ich konnte die Sterne nicht erkennen. Das Zimmerlicht war zu hell. Mehr als mein dunkles Spiegelbild gab das Fenster kaum preis. Da war nur der Garten und ein paar erhellte Fenster, drüben im Turm.

Seufzend ließ ich den Kopf hängen und stellte mir zum bestimmt tausendsten Mal die Frage, wie ich es deichseln konnte, in zwei Wochen, auf die vierte Ebene zu kommen. Im Moment schien es mir unmöglich, weil ich einfach keinen plausiblen Grund finden konnte. Vielleicht sollte ich auch so tun, als würde ich Schäfchenwolken lieben. Aber selbst dann würde die alte Vettel mich sicher nicht gehen lassen.

„Von zu viel nachdenken bekommt man Falten“, erklärte Sawyer mir. Das Buch in seiner Hand war ziemlich dick und alt. Der Ledereinband war nicht sehr aussagekräftig und verriet mir rein gar nichts über den Inhalt – was auch daran liegen konnte, dass ich ihn nicht lesen konnte.

„Die Lösung des Problems kommt sicher nicht einfach so auf mich zugeflogen.“ Ja ich war gereizt. Aber bei den ganzen Gedanken, die in meinem Kopf herumwirbeln, war das wohl auch kein Wunder. Es war nicht nur die Sache mit Salias Geburtstag, oder was ich wegen dem Keychip würde tun müssen. Da war immer noch Nikita, die ich seit Ewigkeiten, nicht mehr gesehen hatte. Oder auch was geschehen würde, wenn der Plan nicht funktionierte. Wenn ich nicht entkam, würde ich früher oder später schwanger werden, dass wusste ich.

„Du kannst die Lösung eines Problems aber auch nicht erzwingen“, erklärte Sawyer. „Sie kommt, wenn sie kommt.“

„Sehr weise“, spottete ich und krallte die Hände in das Fensterbrett. Nichts geschah, nur weil man es sich erhoffte. Hinter allem steckten harte Arbeit und kluge Köpfe. Leider gehörte ich nicht dazu, sonst wäre ich sicher nicht mehr hier.

Einmal mehr vermisste ich Marshall. Er hätte bestimmt gewusst, was zu tun war. Er hatte immer Antworten für mich gehabt. Aber es war nicht nur das. Mir fehlte seine Nähe, seine Aufmerksamkeit, einfach nur dass er da war und mir das Gefühl von Sicherheit gab, dass ich hier so schrecklich vermisste.

Selbst die Streitereien von Azra und Balic fehlte mir. Mir fehlte die Freiheit hinzugehen wohin ich nur wollte und meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Mir fehlte einfach alles an diesem Leben, das ich verloren hatte.

„Okay, komm her.“ Sawyer klopfte mit der Hand neben sich auf die Couch. „Mit deinem Gegrübel treibst du mich sonst noch in den Wahnsinn.“

Ich funkelte ihn aus schmalen Augen bitterböse an. „Du kannst mich ja ignorieren.“

„Was glaubst du eigentlich, was ich bereits die ganze Zeit versuche?“ Er schlug sein Buch zu und legte es auf den Tisch. Dann klopfte er erneut einladend neben sich.

Na gut, warum nicht. Allerdings setzte ich mich nicht neben ihn, sondern suchte mir ein Plätzchen auf der anderen Couch.

„Erzähl mir etwas“, forderte er mich auf.

Ich schaute wohl wie ein Frosch. „Was denn?“

„Keine Ahnung, mir egal. Irgendwas. Wie haben die Tracker dich in die Finger bekommen?“

Bevor ich auch nur in Erwägung zog, darauf in irgendeiner Form zu antworten, überlegte ich, was er mit dieser Frage bezwecken wollte. Das hier war immer noch Sawyer und ich konnte mir nicht vorstellen, dass er plötzlich zu einem netten Kerl mutierte, nur weil ich unruhig war. Aber ich konnte nicht sehen, welchen Vorteil er sich von dieser Frage erhoffte. Vielleicht wollte er sich einfach nur wieder über mich lustig machen?

Vielleicht war es besser, ihn mit einer Gegenfrage zu beschäftigen. Ich hatte auch ehrlich gesagt keine Lust, mit meiner Unfähigkeit zu prahlen. „Wie bist du denn nach Eden gekommen?“ Es interessierte mich wirklich.

Sawyer musterte mich einen Moment, legte dann den Kopf zurück und starrte an die Decke. Vielleicht erinnerte er sich auch nicht gerne daran. „Ich bin wegen meiner eigenen Dummheit hier gelandet.“

Ja, das Gefühl kannte ich. „Hast du auch versucht, jemanden zu retten?“

„Nein, mir wurde meine kindliche Neugierde zum Verhängnis.“ Ein tiefer Atemzug. „Ich war damals zwölf“, erzählte er. „Der Clan hatte ein paar Jäger losgeschickt, um Nahrung zu besorgen. Ich hatte mich dem Jagdausflug angeschlossen. Wir waren schon ein paar Tage unterwegs gewesen, als wir uns in einem Waldgebiet aufgeteilt haben, um mehr Fläche absuchen zu können. Ich bin zusammen mit meinem Vater losgezogen. Ich wollte ihn beeindrucken, deswegen bin ich schon vorgelaufen, um nach Spuren zu suchen.“

Das hatte ich als Kind auch immer getan, nachdem Marshall uns aufgenommen hatte. Hauptsächlich wollte ich damit meine Unabhängigkeit demonstrieren.

„Ich fand auch etwas, nur waren es keine Tierspuren.“ Ein selbstironisches Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln. „Es war ein Lager der Tracker, am Waldrand. Es wirkte verwaist und ich glaubte, es sei verlassen, also habe ich mich dem Lager genähert, um mir die Sache genauer anzuschauen. Tja, wie sich herausstellte, war das Lager nicht verlassen, die Tracker befanden sich nur auf einem Rundgang. Und die drei Männer, die sie zurückgelassen hatten, hatten sich in den Bus zu einem Kartenspiel zusammengesetzt.“

Oh, mir war sofort klar, worauf das hinauslief.

„Sie entdecken mich, als ich einen Blick in den Bus warf und fingen mich ein. Einem habe ich noch einen Pfeil ins Bein geschossen, aber das hat mir auch nicht mehr geholfen. Sie brachten mich nach Eden, machten ihre ganzen Tests und stellten fest, dass ich fruchtbar bin. Damit war mein Schicksal beschlossene Sache.“ Die letzten Worte stieß er sehr bitter aus. „Das ist jetzt sechzehn Jahre her.“

Sechzehn Jahre? Sawyer war bereits seit sechzehn Jahren ein Gefangener von Eden? Denn genau das war er, wenn er nicht aus freien Stücken hier war und das er das nicht war, war offensichtlich. Aber diese Zahl, sechzehn. Das war schockierend.

Ich war erst etwas über einen Monat hier und bekam schon Zustände. Wie hatte Sawyer es nur geschafft, sechzehn Jahre lang nicht seinen Kampfgeist zu verlieren und immer noch auf Freiheit zu hoffen?

Gegen meinen Willen, empfand ich ein kleinen wenig Respekt für ihn, auch wenn er seinen Aufenthalt hier wirklich seiner eigenen Dummheit zu verdanken hatte. „Ich bin auch hier, weil ich in das Lager der Tracker marschiert bin. Sie hatten meine Schwester am Tag zuvor aufgegriffen und ich wollte sie befreien.“

Sawyer stieß ein amüsiertes Schnauben aus. „Das hat ja super geklappt.“

Meine Augen wurden schmal, aber dann beschloss ich, mich nicht von ihm provozieren zu lassen. „Wenigstens war mein Grund, in ihr Lager zu marschieren, besser als deiner.“

Dem konnte er nicht widersprechen und das tat er auch nicht.

Die Nacht kam und ging. Dieses Mal verbrachte ich sie frei von Alpträumen auf dem Sofa. Nicht das es unangenehm gewesen war, neben Sawyer zu schlafen, aber ich hatte keine Lust, auf seine Sticheleien und seine anzüglichen Sprüche. Außerdem schwirrte noch immer dieses Aphrodisiakum durch meine Adern und machte mich ganz wuschig. Es war also besser, wenn ich mich von ihm fernhielt, bevor mein Körper die Erlösung in die eigene Hand nahm.

Es war schon fast Vormittag, als Sawyer sich aus dem Bett quälte, etwas in meine Richtung brummte, dass mich entfernt an ein „Morgen“ erinnerte und gleich zu seiner Dusche verschwand.

Wie schon am Tag zuvor, war mein Kopf ein riesiger Strudel aus Gedanken. Immer wieder musste ich mich fragen, ob Sawyers Plan wirklich gelingen konnte und wie ich es am besten anstellte, an den Chip zu kommen. Es konnte so viel schiefgehen. Was wenn Nikita nicht auf der vierten Ebene auftauchte? Ich konnte nicht ohne sie gehen. Aber ich konnte auch nicht länger hierbleiben – irgendwann würde ich daran einfach zerbrechen. Schon jetzt hatte ich das Gefühl, langsam aber sicher zu ersticken, denn Agnes tat alles um mir die Luft zum Atmen zu nehmen. Aber meine Schwester zurück lassen … sie war alles was mir von meiner Familie noch geblieben war.

Gestern, als ich so tief in Gedanken versunken war, hatte Sawyer mir erklärt, dass ich einen leicht depressiven Eindruck auf ihn machte. Ob er mich damit ärgern wollte, oder ablenken, es zeigte mir jedenfalls, dass das Zusammenleben mit Sawyer, nicht nur seine schlechten Seiten hatte. Besonders wenn es ruhig wurde und meine Probleme drohten mich unter ihrem Gewicht zu erdrücken, weil ich einfach zu viel Zeit hatte nachzudenken, war er da, um mich mit einem Gespräch abzulenken. Manchmal waren es völlig banale Dinge. Meistens aber ging es um mein Leben draußen in den Ruinen. Die Sehnsucht, die er nach seiner Freiheit empfand, war fast mit Händen zu greifen.

Gerade, als er mit nichts anderem als einem Handtuch um die Hüften, wieder aus dem Bad herauskam, hatte ich in seinem Regal ein Bild von einer glücklichen Olive, mit einem Säugling auf dem Arm, gefunden.

„Sie ist Salias Mutter.“

Dann war das Baby wohl Salia. Doch etwas an diesem Gedanken widerte mich an. „Du hast mit Olive geschlafen?“ Nicht dass sie hässlich wäre, oder mich der enorme Altersunterschied störte, sondern die Tatsache, dass sie diese verstörte Frau zwangen, an diesem ganzen makabren Spiel teilzunehmen. Und das Sawyer auch seinen Teil dazu beigetragen hatte.

Er jedoch schnaubte nur angewidert. „Kein Mann steigt mit Olive ins Bett. Sie wird immer in der Klinik künstlich befruchtet.“ Er trat neben mich und schaute sich das Bild selber an. „Und in diesem einen Jahr hatte ich das Glück, ihr mein Sperma stiften zu dürfen.“

Aus seiner Stimme konnte ich nicht heraushören, ob er das ernst meinte, oder ob das nur wieder eine spöttische Bemerkung war. Auch sein Gesichtsausdruck gab nichts preis.

Da drängte sich mir eine andere Frage auf. „Wie viele Kinder hast du in der Zwischenzeit eigentlich?“

Er schaute mich nicht an, als er sagte: „Zu viele.“ Das schien ein Thema zu sein, das ihm nicht behagte. „Doch nur Salia ist wichtig.“

Nur Salia? Klar, bei so vielen Kindern, hatte man sicher seinen Liebling, aber das? „Wie kannst du das sagen?“ Mein Vater hatte auch drei Kinder gehabt, aber er hätte sich niemals zu einer solchen Aussage hinreißen lassen – unter keinen Umständen.

„Weil ich die anderen kaum kenne.“ Er hob die Hand und fuhr mit dem Finger über das Abbild des kleinen Säuglings. „Man legt hier keinen Wert darauf, dass sich die Väter um ihre Kinder kümmern, oder gar viel Kontakt zu ihnen haben. Wieder eine glorreiche Regel unserer Despotin. Wahrscheinlich will sie die Kleinen damit vor den bitterbösen Männern beschützen.“

Das ergab Sinn, wenn man bedachte, dass Agnes Angst vor Männern hatte – immer vorausgesetzt es stimmte auch wirklich. „Wollen die Väter denn kein Kontakt?“

„Ein Adam hat keinen großen Wert. Es sind die Evas, auf die es ankommt. Adams sind nur Samenspender. Warum also sollten sie engen Kontakt zu ihren Kindern haben? Kinder brauchen die Liebe ihrer Mütter, Väter sind entbehrlich.“

Das war Quatsch. „Aber mit Salia hast du doch Kontakt. Ich habe dich schon öfter mit ihr gesehen. Und sie hat hier ein Zimmer.“ Ich deutete auf die geschlossene Tür, als wenn ich ihn daran erinnern müsste.

„Salia ist etwas Besonderes, und zwar nicht nur, weil sie eine zukünftige Eva ist.“ Er ließ die Hand wieder sinken. „Die Babys in Eden haben alle eine Mutter und die Mütter kümmern sich um ihre Kinder, soweit sie können. Die Kinder, die nicht im Herz bleiben, werden von den Menschen in der Stadt adoptiert, doch sie sehen ihre leiblichen Mütter trotzdem regelmäßig. Die fruchtbaren Kinder bleiben im Herz bei ihren Müttern, oder werden von Personal betreut. Es ist wichtig, dass die Kinder wenigstens zu einem Familienmitglied engen Kontakt haben. Nur darf Olive sich nicht um ihre Kinder kümmern.“

„Und da du ihr Vater bist …“

„Ja, deswegen durfte ich mein kleines Mädchen kennenlernen.“ In seiner Stimme schwang eine Warmherzigkeit mit, die mich überraschte. Diese Sanftmut kannte ich von ihm gar nicht.

Wahrscheinlich fiel ihm das selber auf, denn plötzlich wandte er sich brüsk von mir ab und verkündete, er würde sich anziehen gehen. „Du kannst ja schon mal was zu essen machen, denn du brauchst nicht glauben, dass ich dich die ganze Zeit bedienen werde.“

Als wenn er daran jemals einen Zweifel gelassen hätte. Zu sein Pech allerdings, hatte ich auch kein Interesse daran ihn zu bedienen. Ich beschäftigte mich lieber weiterhin damit, mich gründlich in seinem Haus umzusehen.

Sawyer erwähnte unser Gespräch mit keinem Wort mehr, doch ich erwischte ihn mehrmals, wie er mich nachdenklich musterte. Nicht dass es ihn störte. Er überspielte es jedes Mal mit seinem Spott und dummen Kommentaren. Aber er war nicht der Einzige, der hier beobachten konnte. Mehr als einmal ertappte ich ihn Gedankenverloren, wenn er glaubte unbeobachtet zu sein. In diesen kurzen und auch seltenen Momenten wirkte er immer irgendwie verloren und auch unglücklich. Jedes Mal fragte ich mich insgeheim, an was er wohl gerade dachte, doch ich wagte es nie die Frage laut auszusprechen. Nicht weil ich Angst vor ihm hatte, sondern weil ich ganz genau wusste, er würde mir eh keine vernünftige Antwort geben. Insgesamt war er oft viel zugänglicher, als ich ihn bisher eingeschätzt hatte. Zwar gab er immer ein paar bissige Kommentare von sich, doch die wirkten eher halbherzig, so als müsste er sich dazu zwingen, um seinem Ruf gerecht zu werden.

In anderen Moment konnte ich seinen Hass auf Eden und das System nicht nur spüren, sondern deutlich hören. „Diese ganze Stadt ist nichts weiter als ein kollektives Gehirn“, erklärte er mir am Abend des dritten Tages, während er den Teller abspülte, den er zum Essen benutzt hatte. „Niemand hier interessiert sich hier für den Einzelnen. Es geht hier nur um das Ergebnis – koste es was es wolle.“

„Erzähl mir etwas, das ich noch nicht weiß.“ Ich saß mit dem Hintern auf der Anrichte neben dem Waschbecken und drehte mein Wasserglas zwischen den Handflächen hin und her.

„Zum Beispiel, dass sie ihre Zwei-Jahres-Regel selten einhalten?“

Stirnrunzelnd stellte ich das Glas neben das Becken. „Was meinst du damit?“

„Die Evas. Offiziell dürfen sie nur alle zwei Jahre Babys bekommen. In der Praxis sieht das häufig ganz anders aus.“ Er stellte seinen abgewaschenen Teller zum Trocknen zur Seite und drehte sich zu mir um. „Oder dass sie teilweise auch Inzest betreiben, weil das passende Genmaterial fehlt.“

Dazu fiel mir nichts mehr ein.

„Deswegen sind wie beide auch so begehrt.“ Er stützte seine Unterarme auf den Tresen. „Wir bringen neues Blut in die Linie.“

Ja, zumindest für eine Generation. „Das ist so verstörend.“

„Und das ist noch nett ausgedrückt“, sagte er und danach … redeten wir. Wir führten ein ganz normales Gespräch. Stundenlang fragte er mich nach der freien Welt aus. Er versuchte dabei möglichst gleichgültig zu wirken, doch in seinen Augen sah ich nicht zum ersten Mal, die Sehnsucht nach der Freiheit und kam nicht umhin mich zu fragen, wie es sein musste, er zu sein.

Sechzehn Jahre Gefangenschaft, zehn davon als Adam, ausgeliefert an die Frauen dieser Stadt, die ihn ausnutzten, wie es ihnen gerade beliebte. „Hast du es freiwillig getan?“

„Was?“ Wieder einmal lag er ausgestreckt auf dem Sofa, die Hände über den Bauch verschränkt.

„Deinen Job als Adam.“ Ich saß auf dem anderen Sofa, die Beine angezogen und mit den Armen umschlungen, das Kinn auf den Knien. „Hast du damit freiwillig angefangen?“

Ein äußerst dreckiges Lächeln begann seine Mundwinkel zu umspielen. „Klar“, gab er grinsend zu und drehte den Kopf auf der Lehne, um mich anzusehen. „Ich war ein Bengel voller Hormone und mir war es erlaubt, jede Frau, die mich nur wollte, mit in mein Bett zu nehmen. Zeig mir einen achtzehnjährigen, der da nein sagt und ich versichere dir, dass er lügt.“

Da ich mich mit den Gewohnheiten von achtzehnjährigen nicht auskannte, musste ich ihn in diesem Punkt wohl einfach glauben. Den einzigen in diesem Alter, den ich kannte, war Taavin und Taavin hatte eindeutig gewollt. „Aber heute tust du es nicht mehr gerne.“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.

„Wenn man mit der Realität konfrontiert wird, lässt die Verlockung ziemlich schnell nach.“ Er dreht sein Kopf wieder zurück und starrte weiter an die Decke. „Denn als Adam geht es weniger um das was man will, sondern um das, was man muss. Selbst wenn ich keine Lust habe die Damen zu empfangen, muss ich es tun. Und dann muss ich mich natürlich auch nach ihren Wünschen richten. In der Hinsicht habe ich keine Freiheit. Und dann kommt auch noch die ständige Samenspende an das Hospiz dazu. Schließlich zeugt man hier Babys lieber im Reagenzglas, als beim Sex.“

„Ist den keine von ihnen … nett zu dir?“

Und da war es wieder, das dreckige Grinsen. „Du meinst, ob sie es mir so besorgen, wie ich es will?“

Ich spürte wie meine Wangen warm wurden. „Warum nur musst du immer so ordinär und vulgär sein?“

Er zucke mit den Schultern. „Gewohnheit, Erwartung. Vielleicht liegt es aber auch an diesem verdammten Aphrodisiakum, das seit Tagen durch meinen Blutkreislauf schwirrt und mich zu ständiger Handarbeit nötigt. Wenn das so weiter geht, bin ich bald notgeil im Endstadium.“

Er hatte auch ein Aphrodisiakum bekommen? Und was meinte er mit Handarbeit? Gerade als ich den Mund öffnen wollte, um genau diese Frage zu stellen, wurde mir die Bedeutung klar und ich beschloss, dass es besser wäre, zum eigentlichen Thema zurückzukehren. „Was ich eigentlich meinte, ist … naja, es muss doch auch Frauen gegeben, die du magst.“

 Sawyer bedachte mich mit einem Blick, der mir deutlich machte, dass er den Themenwechsel bemerkt hatte. „Ja, ein paar. Shae ist okay, genau wie Luana. Doch auch wenn sie nett sind, ich bin und bleib für sie nichts weiter als ein Mittel zum Zweck. Außerhalb ihrer Bestäubungszeit, interessieren sie sich nicht für mich.“

Ich wusste es war unangebracht, doch ich konnte mir ein kleines Kichern nicht verkneifen. Als er mich dann böse anfunkelte, sagte ich nur: „Bestäubungszeit“, und musste wieder kichern. Und dieses Mal lächelte auch er – wenn auch nur ein kleinen bisschen.

„Ich könnte auch Fekundation dazu sagen.“ Er verzog das Gesicht. „Aber das hört sich immer gleich wie ein medizinischer Eingriff an, bei dem man dir irgendwelche Sachen, in irgendwelche Körperöffnungen schiebt.“

Hm, eigentlich lag er mit dieser Beschreibung gar nicht so falsch. „Und sonst gibt es da niemanden? Kein Mensch, dem du dich anvertrauen kannst? Was ist mit Roxy? Oder Tican?“ Bisher hatte ich immer den Eindruck gehabt, er würde sich ganz gut mit den beiden verstehen, genau wie mit Joshua.

„Roxy ist ein Küken. Wenn ich sie besteigen müsste, würde ich mir wie ein Pädophiler vorkommen.“

„So viel älter bist du doch gar nicht.“

„Ich bin achtundzwanzig, Roxy ist neunzehn.“

Na gut, das war schon ein kleiner Unterschied. „Also hast du niemanden?“

Das kleine Lächeln verschwand. Da blieb nur der starre Blick und das Schweigen. Entweder hatte er darauf keine Antwort, oder er wollte nicht darauf antworten. „Ich habe Salia“, sagte er dann doch noch leise. „Und außerdem bin ich nicht unbedingt die Art Gesellschaft, die man gerne um sich hat.“

Glückspilz. „Ich werde immer angestarrt, sobald ich mein Zimmer verlasse.“

„Ja, weil hier alle so unglaublich neugierig sind.“

Die seltsame Quietschestimme, die er dabei machte, ließ mich schmunzeln. „Schauen sie dir etwa auch immer hinterher, nur weil du außerhalb der Mauern geboren wurdest?“

„Näh“, machte er und schüttelte den Kopf. Einmal hin und einmal her. „Das war früher mal so gewesen, aber mittlerweile haben sich alle an meine Marotten gewöhnt und finden mich nicht mehr sehr unterhaltsam. Du dagegen bist noch Neuland für sie und bietest beinahe jeden Tag eine weitere Verrücktheit, über die man sich das Maul zerreißen kann.“

Wie nett.

Er drehte sich auf die Seite. „Daran solltest du auch dringend arbeiten“, sagte er ernsthaft. „Wenn du willst, dass sie dich aus den Augen lassen, musst du in der Menge untergehen. Attacken auf dicke, wehrlose Hunde, sind da nicht gerade von Vorteil.“

Ach, davon hatte er auch gehört? Warum wunderte mich das eigentlich? War ja nicht so, als könnte man hier irgendwas geheim halten. „Er hat versucht das Kind zu beißen.“

Sawyer schnaubte. „Der dicke Doolittle? Wohl kaum.“

„Es hat für mich so ausgesehen“, verteidigte ich mich. „Hunde sind Raubtiere.“

„Aber nicht innerhalb der Stadtmauern“, widersprach er sofort. „Das Einzige, was dir hier gefährlich werden kann, ist die alte Hexe in ihrem Turm. Und genau deswegen solltest du die nächsten zwei Wochen auch versuchen von ihrem Radar zu verschwinden. Füge dich ein, bleib unauffällig, sei einfach eine gute, kleine Eva, die alles anstandslos tut, was man von ihr verlangt.“

„Tu ich das nicht bereits?“ Ich befand mich schließlich in diesem Haus und hatte mir dieses verdammte Aphrodisiakum geben lassen. Und den Keychip hatte ich mir auch kein zweites Mal aus der Hand geholt, obwohl ich bereits mehr als einmal in Versuchung gewesen war. Und das lag nicht nur daran, dass die alte Wunde gerade mal damit begann zu verheilen.

Wieder schüttelte Sawyer den Kopf. „Du hast ein ganz schon verqueres Weltbild.“

Was sollte das jetzt wieder heißen? „Kann ja nicht jeder so ein arroganter Psychopath sein wie du.“

Das ließ ihn grinsen. „Na Gott sei dank. Stell dir nur mal vor, es gebe noch einen von meiner Sorte.“

Oh je, besser nicht. „Dann müsste ich wahrscheinlich Amok laufen.“

„Ach, ich dachte, das wärst du bereits, als du versucht hast, dich wie Tarzan, über die Mauern zu schwingen.“

„Wie wer?“

Er schaute mich an, schüttelte dann den Kopf und erhob sich von der Couch. „Egal. Ich hole mir eine Apfelschorle, willst du auch eine?“

Ich lehnte ab und schaute stattdessen dabei zu, wie er in den Küchenbereich ging und eine bereits angefangene Flasche aus dem Kühlschrank holte. Noch während er ein Glas aus einem der Hängeschränke nahm, setzte er die Falsche einmal an den Mund und nahm einen tiefen Schluck daraus.

Das erinnerte mich einen Moment so sehr an Balic, dass mir ein Kloß in den Hals stieg. Ich vermisste den Saufkopf. Ich vermisste mein ganzes Leben. Aber so wie die Dinge jetzt gerade lagen, bestand eine kleine, unwahrscheinliche Chance, dass vielleicht alles wieder so werden konnte, wie es einmal war.

Ich wollte mir keine zu großen Hoffnungen machen. Bisher war jeder Versuch etwas auf die Reihe zu bekommen, fehlgeschlagen. Ich wollte, dass das hier klappte. Und Sawyer war mein Schlüssel dazu. Nur musste ich mich immer wieder fragen, wie vertrauenswürdig er wirklich war.

Als Sawyer sich mit seinem vollen Glas zu mir herumdrehte, bemerkte er, dass ich ihn beobachtete. „Gibt es einen Grund, warum du mich so anglotzt?“

„Ich glaube ich will doch ein Glas.“

„Dann hol dir eines. Ich bin nicht dein Dienstmädchen.“

Soviel zum Thema Gastfreundschaft.

 

oOo

Kapitel 43

 

„Dreizehnter Mai. Liebes Tagebuch, nun wird es doch geschehen, mein Mann und ich werden die Stadt verlassen und zu seiner Schwester aufs Land ziehen. Die Unruhen werden immer schlimmer. Es ist gefährlich durch die Straßen zu ziehen, oder überhaupt das Haus zu verlassen. Die Menschen werden immer verzweifelter. Vandalismus und Überfälle stehen auf der Tagesordnung und die Nahrungsknappheit macht es noch schlimmer. Mein Mann glaubt, dass die Situation sich noch verschärfen wird, bevor sich endlich …“

„Das war der Beginn des Krieges, nicht wahr?“

Sawyer hob den Blick von seinem Screen und wandte sich mir zu. „Nein, das waren nur die ersten Unruhen. Die Kriege begannen erst ein paar Jahre später.“

Wenn das nur ein paar Unruhen waren, dann wollte ich lieber gar nicht wissen, wie ein richtiger Krieg aussah.

Es war der Nachmittag des vierten Tages. Morgen endlich konnte ich hier raus, aber bis dahin lag noch ein halber Tag und eine ganze Nacht vor mir. Um mich beschäftigt zu halten, weil ich ihn sonst noch in dem Wahnsinn treiben würde – Sawyers Worte, nicht meine – hatte er einen Screnn aus der kleinen Bibliothek geholt, der laut seiner Aussage, jedes seiner Bücher in digitaler Version beinhaltete.

Nun saßen wir auf der Couch, er mit den Beinen auf dem Tisch, ich mit untergeschlagenen Beinen neben ihm und veranstalteten eine Lesestunde. Sawyer hatte dazu das Tagebuch dieser Alma Mohr ausgewählt und gegen meinen Willen, fand ich es interessant. Die Welt war damals so ganz anders gewesen. Erst bunt und schillernd, doch mit jedem weiteren Jahr, waren die Farben mehr verblasst, bis nur noch ein schwacher Abklatsch geblieben war. „Es muss ziemlich übel gewesen sein, in dieser Zeit gelebt zu haben.“

Sawyer ließ den Screnn auf seine Beine kippen und lehnte den Kopf an die Rückenlehne. Mal wieder trug er nichts weiter als eine von seinen Stoffhosen. „Jede Zeit hat seine guten und schlechten Seiten.“

„Genau wie jedes Leben.“ Und wir würden bald wieder gute Zeiten erleben, daran glaubte ich ganz fest. Ich musste daran glauben. Im Grunde konnte ich an gar nichts anderes mehr denken, als an den Plan und den Zeitpunkt, wenn wir diese Stadt und seine Bewohner endlich hinter uns lassen konnten. „Was wirst du als erstes tun, wenn du wieder frei bist?“

Seine Augen blitzten auf, als könnte auf er es kaum erwarten. „Viel Abstand zwischen mich und diesen Ort bringen.“

„Ja, schon klar, aber was wirst du danach tun?“ Ich schnappte mir eines der Kissen und drückte es mir an die Brust. „Du wirst ja nicht den Rest deines Lebens weglaufen.“

„Ich weiß nicht.“ Er drehte den Kopf auf der Lehne, bis er mich ansah. „Vermutlich sollte ich nach meiner Familie suchen.“

Ja, vermutlich, genauso würde ich es auch machen. Mir Nikita schnappen, nach Hause gehen und den ganzen Mist hier vergessen.

Aber würde er überhaupt noch etwas finden? Ich war seit einem Monat weg. Ich wusste genau, wenn ich nach Hause ging, würde ich meine Familie finden, oder wenigstens einen Hinweis darauf, wohin sie gegangen waren, falls sie fortgegangen waren. Sawyer aber war bereits seit sechzehn Jahren in Eden. In sechzehn Jahren konnte eine Menge passieren – sowohl Gutes, als auch schlechtes. „Und wenn du sie nicht findest?“

„Keine Ahnung, mich einen anderen Clan anschließen?“ Er ließ es wie eine Frage klingen.

Mit einem kleinen Kind im Gepäck, war das wohl das Sinnvollste, was er tun konnte. Die freie Welt konnten ziemlich gefährlich werden und der Schutz einer Gruppe konnte nicht nur für Sicherheit sorgen, sondern auch das Leben ein wenig erleichtern.

Ein Gedanke schoss in meinen Kopf und bevor ich noch näher darüber nachdachte, sagte ich: „Du könntest auch, also nur wenn du willst, dann könntest du mit mir zu meiner Mischpoche … egal, vergiss es.“ Wo war das denn bitte jetzt hergekommen?

Sawyer zog eine Augenbraue nach oben und begann zu grinsen. „Machst du mir etwa gerade ein unmoralisches Angebot?“

Meine Mundwinkel sanken herb. „Daran war nichts unmoralisch. Ich wollte dir einfach nur eine Möglichkeit bieten.“

„Vorsicht, deine harte Schale bekommt Risse, ich kann schon deinen weichen Kern sehen. Wenn du so weiter machst, könnte ich fast glauben, dass hier wäre mehr als nur eine Zweckgemeinschaft.“

Wie schaffte er es nur immer, solch einfache Aussagen so anzüglich klingen zu lassen? Und wann verdammt noch mal, hörte mein Körper endlich auf, auf seine Stimme zu reagieren? Das war ja langsam kaum noch auszuhalten.

„Was, keine schlagfertige Erwiderung?“

„Nö.“

Sein Grinsen wurde noch breiter, schwand dann aber langsam. „Bevor ich mir darüber Gedanken mache, müssen wir erstmal hier herauskommen.“

„Wir kommen hier raus.“ Das mussten wir einfach, es gab keine andere Option. „Wir schaffen das, zusammen kriegen wir das hin.“

„Du klingst sehr überzeugt.“ Ganz im Gegenteil zu ihm, dabei war es doch sein genialer Plan. „Leider wissen wir noch immer nicht, wie wir dich auf die vierte Ebene bekommen.“

Und das war ein Problem. Nicht weil … naja, weil es ein Problem war, sondern weil wir auch nicht mehr besonders viel Zeit hatten, es zu lösen. Schon morgen würde ich dieses Haus verlassen und dann würde man mich wieder vierundzwanzig Stunden am Tag überwachen. Das würde es mir beinahe unmöglich machen, noch eine Lösung zu finden und sie ungestört mit Sawyer zu erörtern. „Vielleicht sollte ich eines von diesen fliegenden Dingern klauen.“

„Fliegende Dinger?“

„Diese Miniflugzeuge.“

„Miniflugzeug?“ Einen Moment zog er die Stirn in Falten, doch sie glättete sich auch gleich wieder. „Ah, du meinst einen Aero-Hub.“

„Ja genau. Ich habe einen gesehen, an dem Tag, an dem wir hergebracht wurden.“

„Und deswegen glaubst du, du könntest einen fliegen?“ Er schnaubte verächtlich. „Ich will dir ja nicht deine kleinen Mädchenträume kaputt machen, aber du kannst kaum einen Screen bedienen. Darum ist es einfach nur lächerlich zu glauben, du könntest so eine Maschine fliegen.“

Wie er das sagte, so herablassend, das ärgerte mich. Meine Mine verfinsterte sich. „Glaubst du etwa, ich wäre dafür zu dumm?“

„Naja“, war alles, was er von sich gab.

Arroganter Scheißkerl. „Dann lass dir doch etwas besseres einfallen.“ Ich warf das Kissen zur Seite du erhob mich.

„Hey, warte, das war doch nur Spaß.“ Er griff eilig nach mir und erwischte mich am Handgelenk. Dabei rutschte ihm sein Screen vom Schoß und landete auf dem Boden. „Komm, setzt dich wieder hin.“

„Ich bin nicht dumm.“ Das musste ich einfach noch einmal betonen. Vielleicht verstand ich von vielen Dingen in dieser Stadt nichts, aber dass hatte nichts mit fehlender Intelligenz zu tun, sondern nur mit mangelnder Erfahrung.

„Das habe ich nie behauptet. Und jetzt setz dich endlich wieder hin.“ Er zog sehr nachdrücklich an meinem Arm.

Ich riss mich von ihm los, setzte mich aber wieder neben ihn. „Du bist so ein Idiot“, knurrte ich und beugte mich vor, um seinen Screen vom Boden aufzuheben. Leider hatte er in dem Moment die gleiche Idee. Es kam wie es kommen musste. Unsere Köpfe krachten gegeneinander und in meinem Schädel explodierte ein kleines Universum.

„Scheiße“, fluchte ich, während er etwas ähnliches ausstieß und drückte mir die Hand gegen die Stirn. „Das hat wehgetan.“

„Was soll ich erst sagen?“ Auch er rieb sich über die getroffene Stelle. „Du hast einen verdammt harten Schädel. Keine Wunder, wo du doch so stur und dickköpfig bist.“

Ich funkelte ihn an. „Wenn man danach geht, müsstest du eine ganz weiche Birne haben. Verdammt, tut das weh.“ Er hatte wirklich gut getroffen. Das gab bestimmt eine ordentliche Beule.

„Zeig mal her.“ Er schob sich etwas näher an mich heran und zog meine Hand von meiner Stirn. Dann untersuchte er die Stelle mit den Augen. „Das ist nur leicht gerötet“, erklärte er und hob den Arm. Gleich darauf berührte sein Daumen die Haut neben der angehenden Beule. Die Stelle begann zu kribbeln – und das nicht auf schlechte Art. „Ich denke, du wirst es überleben.“ Sein Blick senkte sich und auf einmal befanden wir uns Auge in Auge gegenüber.

Dieser Blick, irgendwas geschah in diesem Moment, auch wenn ich nicht verstand, was es war. Er tat nichts, sah mich einfach nur an und doch war es viel mehr als das.

Er war mir so nahe.

Der Ausdruck in seinem Gesicht veränderte sich. Spott und Hohn wurden verdrängt und seine Pupillen nahmen einen dunkleren Ton an, während seine Lippen sich ganz leicht teilten.

Mein Herzschlag legte einen Takt zu. Ich sollte mich wegdrehen, sollte aufstehen, oder wenigsten ein wenig abrücken, doch stattdessen zuckten meine Finger, während ich seinen Geruch einatmete und die ständige Unruhe der letzten Tage erneut in mir aufflammte.

Ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, legte sich seine Hand an meine Wange. Er war mir so nahe, dass ich seinen warmen Atem auf meinen Lippen spüren konnte. Sie kribbelten, als hätte er sie berührt. Er sage nichts, als er näherkam. Seine Augen schlossen sich. Die Berührung seiner Lippen ließ mich zurückzucken. Sofort öffneten sich seine Augen wieder.

Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug, als seine Nase meine Wange streifte. Sein Atem kitzelte meine Haut und die Wärme, die er abstrahlte, ließ mich ganz kribbelig werden.

Die Spitze seiner Zunge berührte meine Unterlippe, sein Atem war wie eine Liebkosung und dann streifte sein Mund den meinen.

Viel zu überrascht um zu reagieren, schnappte ich nach Luft. Mein Herz machte einen Satz in meine Kehle und als er meinen leicht geöffneten Mund dann auch noch für seine Zwecke ausnutzte, schoss ein Gefühl wie ein Blitz durch mich hindurch.

Ich erstarrte. Mein ganzer Körper verweigerte den Dienst.

Sein Geruch war überall. Ein herber Geruch, der meine Sinne überflutete und mein Herz schneller schlagen ließ. Unter meiner Haut breitete sich ein Kribbeln aus, meine Sinne erwachten aus einem tiefen Schlaf, nur auf das konzentriert, was als nächstes geschah.

Und dann begangen meine Lippen sich von ganz allein zu bewegen, erwiderten den Kuss, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Das fühlte sich toll an.

Seine Hand glitt in meinen Nacken, um mich näher an sich heran zu ziehen und ich kam ihm nur allzu willig entgegen. Ich dachte gar nicht darüber nach, was ich hier gerade tat. Meine Gedanken, alles um mich herum, rückte in den Hintergrund. Mein Kopf war wie im Rausch. Meine Nervenenden summten, als würden sie von innen befeuert werden – nicht, dass ich noch zusätzlichen Antrieb gebraucht hätte.

Langsam rutschte Sawyers Hand über meine Rücken, immer tiefer. Gleichzeitig rückte er näher, sodass sein Körper sich gegen mich presste und ich die Hitze, die er abstrahlte, am ganzen Leib spüren konnte. Seine Haut war wirklich heiß. Ich konnte das so genau sagen, weil meine Hände den Weg an seine nackte Brust gefunden hatten. Ich konnte gar nicht genug davon bekommen, ihn zu berühren, auch wenn eine kleine, sehr leise Stimme in meinem Kopf mich ermahnte, hiermit aufzuhören.

Ich konnte nicht aufhören, ganz im Gegenteil. Was als vorsichtiges Vortasten begonnen hatte, entwickelte sich langsam zu einer mittelschweren Knutscherei.

Sein Kuss wurde drängender, seine Hand legte sich auf mein Bein. Ich spürte, wie er sie an mir hinaufschob, wie seine Finger unter den Saum meines Kleides krochen. Wie eine Spur aus Feuer, spürte ich die Berührung auf meiner Haut, spürte, wie er seine Hand an meinem Bein hinaufschob, immer weiter, bis er meine Hüfte erreichte.

Er gab ein Geräusch von sich, halb stöhnen, halb ächzen. „Keine Unterwäsche“, murmelte er. Seine Finger gruben sich leicht in mein Fleisch. Er zog an mir, als wollte er, dass ich mich auf seinen Schoß setzte.

Ich musste aufhören, oh Gaia, ich musste das hier ganz dringend beenden, doch mein Körper schrie mit aller Macht nach diesem Mann.

Das ist nur das Aphrodisiakum, also hör auf!

Sein Mund glitt an meiner Kinnlinie entlang. Seine Lippen berührten meinen Hals und wieder zog er an mir.

Hör auf!

Meine Finger gruben sich in seine Brust.

Wenn du nicht aufhörst, wird er dich schwängern!

Das war der Kübel mit eiskaltem Wasser, den der angehende Flächenbrand in mir gebraucht hatte, um endlich ein wenig abzukühlen. Ich schlug die Augen auf – wann hatte ich die Augen geschlossen? Ruckartig riss ich meinen Kopf zurück und starrte ihn fassungslos an. So nahe …

Minze. Sein Atem roch nach Minze. Das zu bemerken war sehr einfach, denn er ließ mich nicht los. Sein Gesicht war direkt vor meinem. Jeder Hauch der von seinen Lippen fiel, traf auf die meine und ließ meine Haut schwelen.

Seine Augen hatten sich verdunkelt, doch er ließ mich nicht erkennen, was in seinem Kopf vor sich ging.

Ich öffnete den Mund. „Warum hast du das getan?“, fragte ich leise.

„Wenn ich raten müsste, würde ich auf das Medikament tippen“, sagte er sehr leise.

Verdammter Mist, er hatte dieses Zeug ja auch bekommen! Ich versuchte mich von ihm wegzudrücken, aber er hielt mich fest. „Las mich los.“

Sein Griff an meiner Hüfte wurde ein kleinen wenig fester. „Bist du dir sicher, dass du das wirklich willst?“

Im Moment wollte ich ihm eigentlich viel lieber eine verpassen, aber bisher war es hier noch nie gut angekommen, wenn ich handgreiflich geworden war. „Ja“, knurrte ich deswegen.

„Nein, willst du nicht.“ An seinen Lippen zupfte dieses widerwertige Lächeln, das ich so verachtete. „Du willst das ganze Paket“, erklärte er sehr selbstsicher, ließ mich aber endlich los.

Ich sprang so schnell auf die Beine, dass ich mir das Knie am Tisch stieß und mit einem unterdrückten Fluch ein paar Meter Abstand zwischen uns brachte. „Wage es ja nicht noch mal, mir so nahe zu kommen.“

„Besonders gewehrt, hast du dich ja nicht gerade. Ich bin sogar ziemlich sicher, dass es dir ausgesprochen gut gefallen hat.“

„Du bist ein riesiges Arschloch. Ich hasse dich!“

„Aber der Kuss war gut.“

Oh, dieses … dieses … aghr! „Du bist widerlich“, schimpfte ich, ging um den Tisch herum und kauerte mich auf die andere Couch. Doch meine mordlüsternen Blicke schienen ihn nichts auszumachen. Seelenruhig hob er seinen Screen vom Boden auf und legte ihn auf den Tisch, während ich mir darüber klar zu werden versuchte, was da eben geschehen war. Er hatte mich geküsst, ganz klar. Und ich? Ich hatte reagiert. Oh Gaia, für einen kurzen Moment hatte ich der Versuchung nachgegeben und ich konnte mir absolut nicht erklären, wie das geschehen konnte.

Klar, er war nicht unattraktiv, aber er war ein Mistkerl. In den letzten Tagen hatte es immer wieder Momente gegeben, in denen ich ganz gut mit ihm klargekommen war, doch unterm Strich, war das nur ein kleiner Teil des Ganzen gewesen. Und dann war da auch noch dieses verdammte Aphrodisiakum, das beständig seine Tentakel um mich wickelte. Er hatte mich einfach überrumpelt. Er hatte mich kalt erwischt, denn damit hätte ich niemals gerechnet. Und jetzt konnte ich nicht mehr aufhören daran zu denken. Ahhhr!

Für einen kurzen – sehr kurzen – Moment, hatte es mir gefallen. Für einen Augenblick hatte dieser Kuss mich aus meiner Gefangenschaft getragen, hinweg von den Mauern und dem Regime, weg von all den Problemen, die auf mir lasteten und weg von einer ungewissen Zukunft.

Der Kuss, er war so süß gewesen, so … nein. Nein, er war nicht gut gewesen. Er war scheußlich, genau wie der Mann, von dem ich ihn bekommen hatte und sollte er das noch mal versuchen, würde ich ihn an Ort und Stelle kastrieren. Ich würde ich packen und küssen und … nein, keine Küsse mehr!

Jetzt reiß dich mal zusammen!

Ich warf ihm einen tödlichen Blick zu, der ihn aus mir unerfindlichen Gründen nur schmunzeln ließ. Na warte, das Lachen würde ihm schon noch vergehen.

Als er sich gerade von der Couch erhob, schnappte ich mir mein Kopfkissen und warf es ihm mitten ins Gesicht. Da, das hatte er nun davon.

Sawyer gab ein leises Lachen von sich. Dabei entblößte er ein wirklich dreckiges Grinsen, das auch nicht verschwinden wollte, als er sich das Kissen aufklaubte und auf die Couch fallen ließ.

Mistkerl, Idiot, arrogantes Arschloch.

Sein Blick huschte zu mir. „Schmollst du jetzt etwa?“

Ich schaute ihn nur finster an.

„Okay, dann gib mir ein Zeichen, wenn dein Frauenwahn vorbei ist. Ich muss jetzt erstmal ganz dringen kalt duschen.“

Ich konnte es nicht verhindern. Es geschah ganz automatisch, dass ich zu der beeindruckenden Beule in seiner Hose schaute.

Seine Augenbraue hob sich einladen. „Vielleicht willst du mir ja Gesellschaft leisten.“

„Davon träumst du.“

„Ich brauch nicht träumen, ich habe genug Abwechslung.“

Mistkerl. „Dann erfreu dich an deiner Abwechslung und lass mich in Ruhe.“

„Wie du meinst. Und falls du es die doch noch anders überlegst, du weißt ja, wo du mich finden kannst.“

Ich drehte demonstrativ den Kopf weg, als er den Raum durchquerte und nach hinten, durch die Tür in den Flur verschwand. Als wenn ich ihm hinterherrennen würde. Für wen hielt er mich eigentlich? Er hatte angefangen mich zu küssen und es war sowieso nur so weit gekommen, weil seit Tagen dieses Aphrodisiakum durch meinen Kreislauf schwirrte und mich unzurechnungsfähig machte.

Bei ihm war es doch genauso, oder? Er hatte doch mehr als einmal deutlich gemacht, dass er mich nur anfassen würde, wenn er musste. Musste, nicht wollte, musste. Also war dieser Kuss völlig bedeutungslos und es gab keinen Grund, sich noch länger Gedanken darum zu machen. Er hatte mich sicher nur geküsst, weil er glaubte, dass ich das von ihm erwartete. Was ich nicht getan hatte. Ich hatte es nicht erwartet, weil ich es gar nicht gewollt hatte. Auch wenn es mir einen Moment, nur einen ganz kurzen Moment, gefallen hatte. Das Gefühl dabei, es war so … nein. Nein! Nein, auf gar keinen Fall!

Es hatte mir nicht gefallen. Punkt. Aus. Ende.

Grimmig schlang ich meine Arme um meine Beine und legte meinen Kopf auf meine Knie. Dabei zwang ich mich an etwas anderes zu denken. Sawyer war doch eigentlich völlig egal, es gab weitaus Wichtigeres, um das ich mir Gedanken machen musste. Wir hatten noch immer keine Idee, wie ich auf Ebene vier gelangen konnte. Alles Grübeln und Nachdenken in den letzten Tagen, hatte zu keinem nennenswerten Erfolg geführt. Eigentlich hatten wir in den letzten Tagen überhaupt nichts Produktives zustande gebracht. Naja, außer vielleicht die Pfannkuchen. Die waren wirklich lecker gewesen.

Vielleicht ging ich das Problem auch völlig falsch an. Die ganze Zeit überlegte ich, wie ich unbemerkt durch die Tore kam, weil es der offizielle Weg durch die Stadt war. Aber was war mit inoffiziellen Wegen? Wenn man durch ein Hindernis nicht hindurch kam, musste man es eben auf andere Weise überwinden. Drumherum ging nicht, da wir uns in der Mitte eines Kreises befanden. Obendrüber war schwierig, wenn auch nicht unmöglich, wie ich bereits selber festgestellt hatte. Allerdings war es wirklich sehr schwierig und barg die Gefahr, sich selbst zu verletzen – immer vorausgesetzt, dass ich es überhaupt auf die Mauer schaffte. Und das würde ich dann ganze vier Mal Zustandebringen müssen, um an mein Ziel zu gelangen. In Ordnung, diesen Weg konnte ich direkt von der Liste streichen.

Was war mit unten drunter durch? Gab es vielleicht Tunnel, die ich nutzen konnte? Falls ja, würde ich da vermutlich auch nur mit einer Zugangsberechtigung hineinkommen. Hier war schließlich sogar das Scheißhaus gesichert. Also hätte ich da die gleichen Probleme, wie mit den Toren.

Verdammt, wie nur sollte ich es schaffen und das auch noch, ohne viel Aufsehen zu erregen?  

Vielleicht konnte ich mich einfach verkleiden. Allerdings würde das nichts an dem Problem mit dem Keychip ändern. Wenn bloß dieser verdammten Kontrollen an den Toren nicht wären, dann wäre das viel einfacher. Warum mussten sie hier auch alles und jeden immerzu überprüfen? Naja, nicht jeden, die Gardisten kamen ohne Kontrolle durch die Tore.

Da konnte man richtig neidisch auf Wolf werden. Er hätte sicher keine Probleme damit, auf die vierte Ebene zu gelangen. „Ich hätte Gardist werden sollen, und nicht so eine dumme Eva“, grummelte ich vor mich hin. Nicht das ich da groß ein Mitspracherecht gehabt hatte, aber …

Moment mal, was dachte ich denn da? Die Gardisten wurden an den Toren nicht kontrolliert, das wusste ich genau, denn ich hatte es erlebt, als man mich vom Aufnahmeinstitut ins Herz gebracht hatte. Konnte das die Lösung sein? Oder konnte uns das wenigstens helfen?

Ich musste sofort mit Sawyer sprechen.

Mit der Hoffnung, endlich einen ersten Schritt Richtung Lösung gefunden zu haben, erhob ich mich von der Couch und lief eilends in den Flur. Das Wasser der Dusche wurde gerade abgedreht, als ich die Tür öffnete und mit einem „Ich glaube, ich hab es!“, einfach ins Bad platzte.

Sawyer, der gerade nass und nackt aus der Dusche stieg, zuckte bei meinem Auftauchen zusammen und warf mir dann einen verärgerten Blick zu. Ich hatte ihn wohl erschreckt. „Schon mal was von anklopfen gehört?“

Einen Moment verlor mein Mund die Verbindung zu meinem Hirn. Ich hatte gewusst, dass Sawyer duschen war und auch das er dabei nackt war, aber etwas zu wissen und zu sehen, waren zwei unterschiedliche Dinge.

„Genug gesehen?“ Er griff nach einem Handtuch und begann sich völlig ungeniert abzutrocknen.

Ich zwang mich, meinen Blick auf sein Gesicht zu konzentrieren. „Zieh dir etwas an und dann kommt.“

„Kannst dich sonst kaum noch zurückhalten, was?“ Seine arrogante Selbstgefälligkeit, schien ihm mal wieder aus jeder Pore zu kriechen. „Ich hatte dir ja angeboten, mir unter der Dusche Gesellschaft zu leisten.“ Er schlang das Handtuch um seine Hüfte und ging dann zum Spiegel über dem Waschbecken.

„Lass den Blödsinn und hör zu. Ich glaube, ich habe die Lösung für unser Problem gefunden.“

Mäßig interessiert, schaute er kurz zu mir rüber, bevor er sich irgendeine Creme vom Waschtisch schnappte und den Deckel abschraubte. „Dann lass mal hören.“

„Die Garde.“ Ich trat näher, um sein Gesicht im Spiegel sehen zu können. Er hatte zwar eine nette Rückenansicht und das Handtuch hing gefährlich tief auf seinen Hüften, aber … sagten wir einfach, ich sollte meine Aufmerksamkeit besser nicht darauf richten. „Als sie mich hergebracht haben, mussten die Gardisten nie ihre Keychips scannen lassen. Ich glaube, sie können sich ohne Kontrolle über die einzelnen Ebenen bewegen. Wenn das stimmt, dann können wir das vielleicht zu unserem …“

Sawyer wirbelte so abrupt zu mir herum, dass ich überrascht den Mund schloss. „Das ist brillant“, erklärte er. Er stellte die Creme zurück, nahm dann mein Gesicht zwischen Hände und drückte mir einen dicken Schmatzer direkt auf die Lippen. „Du bist ein Genie.“ Damit ließ er mich stehen und eilte aus dem Bad.

Ich stand einen Moment einfach nur bedröppelt da. „Verdammt noch mal“, knurrte ich dann und lief ihm hinterher. „Hör auf mich ständig zu küssen.“ Gerade wollte ich ins Wohnzimmer, als ich bemerkte, dass er in seinem Arbeitszimmer war und dort die Bücher von seinem Schreibtisch räumte, indem er sie achtlos auf den Boden ablegte.

„Du hast recht“, erklärte er, als ich in den Raum kaum. „Solange sie nicht das fünfte Tor passieren wollen, werden die Gardisten nicht kontrolliert, damit sie schnell von einer Ebene auf die andere wechseln können. Daran habe ich überhaupt nicht gedacht.“ Mit der Hand wischte er den Staub von dem Schreibtisch und drückte dann an der Seite eine Taste. Die platte erwachte zum Leben. Das war nicht nur ein alter Schreibtisch, das war ein Digital-Desk. „Wenn wir das richtig nutzen, können wir dich so direkt unter ihrer Nase auf die vierte Ebene schmuggeln.“

Das wäre phantastisch. „Und wie?“ Ich stellte mich neben ihn und beobachtete, wie er verschiedene Fenster öffnete und sie so lange hin und her schob, bis sie alle nebeneinander lagen. Dabei versuchte ich nicht zu beachten, dass er immer noch nur ein einem Handtuch neben mir stand.

Meine Güte, es wurde Zeit, dass ich hier raus kaum. Diese Hormone wurden langsam zu einem Alptraum.

„Eigentlich ist es ganz einfach. Das ich da noch nicht selber draufgekommen bin.“ Er vergrößerte eines der Fenster, bis es praktisch die ganze Fläche bedeckte. Darauf war eine virtuelle 3D-Karte von Eden abgebildet. Ich erkannte es, weil Cameron sie mir schon einmal gezeigt hatte, um mir zu erklären, wo genau Nikita sich befand.

„Was machst du?“

„Ich muss etwas nachsehen.“ Er schob die Karte hin und her, machte sie mal ein wenig größer, dann wieder kleiner und bewegte sich dabei die ganze Zeit am inneren Mauerring entlang. „Wenn ich richtig liege, dann …“ er stoppte. „Da haben wir es ja.“

Ich beugte mich vor, aber außer Mauer, mit etwas Gras davor, konnte ich nicht viel erkennen. „Was ist da?“

Er veränderte die Ansicht und wo eben noch die Stadt in 3D gezeigt wurde, befanden sich nur leuchtend blaue Linien, auf einem dunklen Hintergrund. Eine Skizze. „Das ist dein Weg in die Freiheit.“ Er tippte auf ein Rechteck in der Mauer. „Das ist eine Wartungsschleuse.“

„Aha.“

„Okay, pass auf, es ist ganz einfach. Du wirst folgendes tun. Du gehst morgens zu Agnes und besorgst den Chip. Damit gehst du dann zu der Wartungsschleuse, hinter dem Freizeitcenter und wechselst auf die erste Ebene. Dort musst du zur Kaserne der Gardisten gehen.“

Kaserne?

„Die Kaserne der Gardisten. Dort musst du hin.“

Das verstand ich nicht. „Wenn ich mit dem Keychip einfach durch Wartungsschleusen gehen kann, warum dann einen Umweg über die Kaserne machen? Oder haben die anderen Mauerringe keine solche Wartungsschleusen?“

„Doch, aber wenn du versuchst zu Fuß zu Tor fünf zu gelangen, dann brauchst du einfach zu lange. Außerdem musst du ständig aufpassen, dass du von niemanden entdeckt wirst. Du bist eine Eva, die ganze Stadt kennt in der Zwischenzeit dein Gesicht. Du wirst Stunden brauchen, bis du am Ziel bist – immer vorausgesetzt, du kommst da auch an. Außerdem wird Agnes‘ Verschwinden nicht lange unentdeckt bleiben. Wir müssen dich also so schnell die möglich zu Tor fünf bekommen.“ Er schaute zu mir auf. „Mir wäre es auch lieber, unentdeckt und ohne viel Tamtam verschwinden zu können, aber sobald Salia und ich auf Ebene vier sind, wird man uns nicht einen Moment aus den Augen lassen. Darum brauchen wir ja auch ein Ablenkungsmanöver. Und wenn wir Chaos stiften, müssen wir anschließend eilig abhauen. Es muss alles sehr schnell gehen.“

Klang logisch. „In Ordnung. Und was soll ich dann bei den Gardisten?“

„Du sollst dich ihnen anschließen.“

„Hä?“ Hatte er den Verstand verloren?

„Du sollst zu ihnen gehen, zu ihrer Kaserne, oder ihrem Hauptquartier – nenn es wie du willst – und dich ihnen anschließen.“ 

Eindeutig, er hatte den Verstand verloren.

„Und keine Sorge, hinter dem Helm wird dich niemand erkennen.“

Äh, was? „Was für ein Helm?“

„Na den Helm, den die Gardisten immer tragen.“ Wieder schob er die Karte hin und her du blieb dann auf einem großen, einzelnstehenden Gebäude hängen. Es war das Gebäude mit den Türmen und Flaggen, dass ich bei meiner Ankunft im Herz gesehen hatte. „Das ist die Kaserne, da musst du hin.“

„Du hast mir immer noch nicht gesagt, warum ich mich ihnen anschließen soll.“ Für mich ergab das nämlich keinen Sinn.

„Pass auf. An Salias Geburtstag, werden die Gardisten kommen, und sie und mich auf Ebene vier bringen, damit ihr größter Herzenswunsch erfüllt wird. Wir werden mit einem Auto abgeholt und zu den stinkenden kleinen Wollköpfen gefahren werden. Aber dieser Wagen wird nicht der Einzige sein, der auf die vierte Ebene fährt. Sie werden eine ganze Legion an Gardisten aufstellen, die an diesem Tag dort Wache halten muss. Das ist zum Schutz für uns.“

„Wovor müssen sie euch dort denn schützen?“

Er wischte die Frage mit einer Handbewegung fort. „Das interessiert gerade nicht. Uns interessiert nur, wie diese Legion dorthin befördert wird.“

„Mit Autos.“

„Mit Autos“, bestätigte er. „Genaugenommen mit Autos, die bei der Kaserne starten. Wahrscheinlich werden sie Sprinter nehmen, oder Kleinbusse und du, mein kleiner Kretin, musst in einem dieser Wagen sitzen.“

Entweder war ich zu blöd, das zu kapieren, oder er erklärte einfach schlecht. „Wie soll ich den bitte unbemerkt in den Wagen kommen?“

„Jetzt stell dich bitte nicht dumm.“ Er scrollte aus der Karte raus und zeigte dann auf den Turm der Evas. „Hier holst du den Keychip von Agnes. Damit gehst du zur Wartungsschleuse.“ Er fuhr mit dem Finger den Weg nach. „Von dort aus musst du zur Kaserne, wo du dich den Gardisten anschließen wirst. Du musst es hinkriegen, in einen der Wagen zu kommen, dann geht es ohne weiteren Umweg, direkt zu Ebene vier.“ Wieder bewegte er den Finger, dieses Mal in den vorletzten Ring. „Verstanden?“

„Schon, aber …“ Ich runzelte die Stirn. „Ich bin kein Gardist. Wie soll ich das machen?“

„Ganz einfach, du besorgst dir eine Uniform und ziehst sie an. Dann siehst du aus, als wärst du eine von ihnen. Dann musst du es nur irgendwie deichseln, dass sie dich in ihrem Wagen mitnehmen. Da du dann der Garde angehörst, wirst du an den Toren nicht kontrolliert.“  

Das bedeutete, ich musste mir zuerst den Keychip von Agnes besorgen, dann eine Uniform der Garde und dann ganz schnell zur Kaserne eilen, damit ich inmitten der Elite-Kämpfer der Stadt, auf die vierte Ebene kam. Was sollte da schon schief gehen? Nur gab es da ein klitzekleines Problem. „Wo in aller Welt soll ich eine Uniform der Garde herbekommen?“

Seine Antwort war ein Schulterzucken. „Da du sie dir nicht einfach eine liefern lassen kannst, wird es wohl darauf hinauslaufen, eine zu klauen.“

Super. Einfach nur super. Noch etwas auf meiner Liste der Dinge, die ich besorgen musste. „Und wo soll ich die klauen? Die liegen hier ja nicht an jeder Ecke herum.“

„Überlegt dir auch mal etwas, ich kann mich schließlich nicht um alles kümmern.“

Das war mal ausgesprochen Hilfreich.

„Frag doch deinen Freund.“

„Meinen Freund?“

„Dieser riesige Bär von einem Mann, den du vor dem Turm getroffen hast.“ Er fasste mich scharf ins Auge. „Du hast dich ziemlich gefreut, ihn zu sehen.“

„Meinst du Wolf?“ Das wäre auf jeden Fall eine Idee. Wenn Wolf mir eine Uniform besorgte, hätte ich wenigstens diesen Punkt von meiner Agenda gestrichen. Aber würde Wolf das tun? Vertraute ich ihm überhaupt genug, um ihn darum zu bitten? Wie gut kannte ich ihn denn? Ja, er schien ein netter Kerl zu sein und war offensichtlich nicht freiwillig nach Eden gekommen, aber was, wenn er seine Meinung in der Zwischenzeit geändert hatte? Konnte ich darauf vertrauen, dass er mir half und mich nicht verriet? Und dann musste ich ihn ja auch noch fragen, und zwar so, dass kein anderer es mitbekam.

„Wolf, was für ein Name.“ Sawyer starrte wieder auf die Karte. „Es wird schwierig, aber es könnte funktionieren.“

Auch ich senkte meinen Blick auf den Desk. „Es muss funktionieren, es ist der einzige Plan, den wir haben.“ Und wir mussten zusammenarbeiten und uns vertrauen, weil er nur gelingen konnte, wenn alle mithalfen.

Nikita würde durch ihre Projektwoche auf Ebene vier sein, Sawyer und Salia wegen des Geburtstags und ich würde mich unbemerkt einschleichen. In elf Tagen, könnte dieser ganze Alptraum vorbei sein und ich wäre endlich wieder frei. „Wir werden das schaffen.“ Immer vorausgesetzt, es ging nichts schief.

 

oOo

Kapitel 44

 

Nervös trommelte ich mit den Fingern meiner rechten Hand auf meinem linken Arm herum und starrte die Haustür mit einer solchen Intensität an, dass sie allein durch meine Willenskraft, eigentlich sofort aufspringen müsste. Aber das tat sie nicht. Sie hielt meinem eisernen Willen problemlos stand und weigerte sich beständig, mir zu gehorchen.

„Du kannst es wohl kaum erwarten hier rauszukommen.“ Sawyer lachte leise in sich hinein. Ihn schien diese Situation sehr zu amüsieren.

Ich drückte meine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Natürlich wollte ich hier unbedingt raus. Es war ja nicht so, dass ich mich freiwillig mit ihm einschließen ließ, oder dass die letzten Tage besonders toll gewesen waren. Und dann erst dieser Kuss gestern Abend. Ich bekam diesen verdammten Kuss einfach nicht aus meinem Kopf. Lag es daran, dass er außer Taavin und dem Unbekannten auf dem Markt der Einzige war, der mir jemals so nahegekommen war? Was für eine Erklärung sollte es denn sonst noch dafür geben?

Sawyer jedoch ließ mein Verhalten völlig kalt. Wahrscheinlich war er es gewohnt, dass Frauen sein Haus fluchtartig verlassen wollten. „Ach, da fällt mir noch was ein. Wenn dich jemand über deine Zeit hier befragt, denk dran, du bist freiwillig mit mir ins Bett gestiegen.“

Damit schaffte er es nun doch meine Aufmerksamkeit von der Tür abzulenken. Er hatte sich auf dem Sofa ausgestreckt, ein Arm auf dem Bauch, der andere hinter dem Kopf, einen beinahe schläfrigen Ausdruck in den Augen.

„Wenn du nicht aufhörst so biestig zu schauen, bleibt der Ausdruck irgendwann in deinem Gesicht kleben.“

Ich schnaubte nur, wandte mich dann aber von der Tür ab und ging hinüber zur großen Fensterfront. Der Garten lag ruhig da. Es war wieder ein sonniger Tag und es juckte mir in den Fingern, hinaus zu gehen. Schade nur, dass auch die Tür zur Terrasse verschlossen war. „Dass ich freiwillig mit dir ins Bett gestiegen bin, würde mir doch niemand glauben.“

„Ich denke du verkennst meine Fähigkeiten.“ Er grinste auf sehr laszive Weise. „Wenn ich will, kann ich sehr überzeugend sein.“

„Aufdringlich trifft es wohl eher.“

„Stell mich besser nicht auf die Probe, Baby.“

Wollte er mir drohen? „Nenn mich nicht so.“ Ich war doch kein sabbernder Windelpupser.

Sawyer wedelte mit der Hand, als wollte er meine Worte einfach verschwinden lassen. „Es ist doch so: hätte ich dich gezwungen, wären wir beide mit erheblichen Blessuren daraus hervorgegangen. Aber bis auf eine sehr lebhafte Libido, geht es uns beiden ausgezeichnet.“

Allein der Gedanke … wieder blitzte der Kuss glasklar vor meinem inneren Auge auf. „Ich glaub mir wird schlecht.“

„Und das obwohl du nicht schwanger sein kannst.“ Sein Mundwinkel zuckte. „Zumindest nicht von mir.“

Wie konnte ein Mann in einem Moment ernst und vernünftig sein und im nächsten nur so einen Blödsinn von sich geben? „Vielleicht wäre es gut, wenn du mal eine Zeitlang den Mund halten würdest.“ Draußen auf dem runden Tisch, auf der Terrasse, landete ein kleiner Vogel. Er hüpfte hin und her, schaute erst in die eine Richtung, dann in die andere. Einen Moment schien er zu überlegen, was er tun sollte. Dann breitete er die kleinen Flügel aus und flog einfach davon. Ihn konnten diese Mauern nicht halten.

Der Glückliche.

Als ich realisierte, dass Sawyer wirklich nichts mehr sagte, schaute ich mich verwundert nach ihm um. Normalerweise ignorierte er meine Wünsche nämlich und tat das genaue Gegenteil, von dem was ich wollte.

Wie nicht anders zu erwarten, lag er noch immer auf der Couch. Er beobachtete mich und der Ausdruck in seinem Gesicht wirkte nachdenklich. „Warum schaust du mich so an?“

Sehr langsam, breitete sich dieses abstoßende Grinsen auf seinen Lippen aus. „Also wenn du es unbedingt wissen willst, ich frage mich nur, ob du heute Unterwäsche trägst.“

„Ich trage niemals Unterwäsche“, erklärte ich. Sein Grinsen verstand ich nicht. „Sie ist nutzlos und engt mich nur ein.“ Niemand in meiner Mischpoche tat das. Im Winter trugen wir höchstens mal Hosen. Und noch seltener Schuhe.

Sawyers Blick schnellte zu meinem Gesicht, dann gab er ein Ächzen von sich. „Verdammt, das bekomme ich jetzt nicht mehr aus dem Kopf.“ Dann wanderte der Blick runter zu meiner Taille. „Ich glaube, ich muss gleich noch mal kalt duschen gehen.“

Ja, es war offiziell, ich verstand diesen Mann einfach nicht.

Eine Bewegung im Augenwinkel, brachte mich dazu, das Gesicht wieder zur Fensterfront zu drehen. Celeste öffnete gerade das Gartentor und betrat die kleine, grüne Oase. Sie trug ein luftiges, weißes Kleid, das in einem starken Kontrast zu ihrem kurzen, schwarzen Haar stand. Es war Schulterfrei und besaß einen Schlitz, der immer wieder ihren Oberschenkel durchblitzen ließ. Auf ihrer Nase saß eine Sonnenbrille.

„Celeste kommt gerade deinen Garten“, teilte ich Sawyer mit.

Er gab ein verächtliches Geräusch von sich. „Die Dusche brauche ich dann nicht mehr. Das war wesentlich effektiver, als eiskaltes Wasser es jemals sein könnte.“

Als Celeste mich am Fenster bemerkte, verharrte sie einen Moment, lächelte dann ein wenig herablassend, und ließ sich in dem großen Rattansessel auf der Terrasse nieder. Sie holte einen Screen aus ihrer Tasche, warf noch einen kurzen Blick zu mir und beschäftigte sich dann damit. „Ist sie wirklich so schlimm?“

„Ist die Frage ernst gemeint? Überleg doch mal selber. Sie war hier, direkt vor deiner Ankunft und jetzt steht sie schon wieder auf der Matte, und lauert nur darauf, in mein Haus zu stürmen.“

Das klang schon ziemlich aufdringlich. Ich öffnete den Mund, zögerte dann aber. Als ich das letzte Mal etwas zu ihm und Celest gesagt hatte, war das volles Rohr nach hinten losgegangen. Ich sollte mit meinen Worten also vorsichtig sein. „Ist es sehr schlimm mit ihr?“

Er sah mich an, schwieg aber.

„Ich meine, ist sie denn widerlich zu dir?“

„Stell dir folgendes vor.“ Er setzte sich auf und legte arme locker auf die Knie. „Dies ist dein Haus. Du wohnst hier und plötzlich stehe ich vor deiner Tür. Du darfst mich nicht abweisen, egal ob du gerade Lust auf mich hast, oder nicht. Ich komme also in dein Haus, wann ich will und so lange ich will und du musst alles machen, was ich will, ohne dass du ein Mitspracherecht hast. Wenn ich etwas essen will, musst du mit mir essen. Wenn ich fernsehen will, musst du dich mit mir vor den Fernseher setzten und wenn ich ficken will, musst du augenblicklich die Beine breit machen.“

Das war schlimm. Kit hatte behauptet, in Eden gäbe es keine Sklaven, doch das war eine Lüge gewesen. Das hier war eine Art der Sklaverei. „Wie schaffst du das? Ich meine, das am Brunnen … wie kannst du das machen?“

„Du meinst, wie ich einen hochbekomme?“

War ja klar, dass er da so auslegte. „Nein, wie wirst du damit fertig?“

Er machte nicht mal den Versuch zu antworten. Seine Lippen pressten sich aufeinander und in seinen Augen stand wieder diese Resignation. Doch dann funkelte er mich an. „Schau mich nicht schon wieder so an“, fauchte er. „Ich brauche dein Mitleid nicht, das habe ich dir schon einmal gesagt!“

Verdutzt blinzelte ich. „Wie kommst du darauf, dass ich Mitleid mit dir habe?“

„Guck mal in den Spiegel, dann weißt du es!“

Naja, wenn ich ehrlich war, dann tat er mir schon ein bisschen leid. So ein Schicksal hatte niemand verdient. „Ich wollte dir nicht zu nahetreten.“ Ich richtete meinen Blick wieder auf Celest. Sie hatte sich nicht vom Fleck bewegt, aber ihr Screen schien nicht besonders interessant, da ihr Gesicht dem Haus zugewandt war. Suchte sie Sawyer?

Während ich sie anschaute, wurde mir aber etwas anderes klar. Darum war er so wütend und kalt zu mir gewesen, nachdem ich ihn und Celest am Brunnen erwischt hatte. Er hatte geglaubt, ich würde ihn bemitleiden.

„Du kommst überhaupt nicht nahe an mich heran“, knurrte er und erhob sich von seinem Platz. Er ging zur Fensterfront, schnappte sich den Vorhang und zog ihn über die gesamte Seite. Als ich nicht schnell genug aus dem Weg ging, knurrte er: „Komm weg da“, schnappte sich mein Handgelenk und zog mich daran zur Seite. Dann warf er noch einen bösen Blick nach draußen, bevor er das Fenster komplett verdeckte.

Er hielt mich immer noch am Handgelenk fest, was sich nicht gut anfühlen sollte, es aber tat und musterte mich. Dann zog er mich plötzlich an sich ran und beugte sich vor.

„Hey!“ Ich zuckte zurück und riss mich los. „Was soll das?!“ Ich hatte ihm doch gesagt, er sollte mit dem Küssen aufhören.

„Bilde dir bloß keine Schwachheiten ein, ich will dir nur einen Knutschfleck verpassen.“

„Einen was?“

„Einen Knutschfleck.“ Er machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand. „Ein kleiner Fleck am Hals, damit alle sehen, dass ich es dir die letzten Tage so richtig hart besorgt habe.“

Ähm … ja. „Aber das hast du nicht.“

Wortlos hob er eine Augenbraue.

In Ordnung, verstanden. Er wollte einfach nur ein deutliches Zeichen setzten, um unsere Scharade anzufeuern. Eine kleine Vorwarnung wäre allerdings nett gewesen. „Muss es unbedingt am Hals sein? Kannst du das nicht auch an der Hand machen?“

„Ein sichtbarer Knutschfleck gehört an den Hals.“

Ich wollte nicht. Dieses Aphrodisiakum befand sich noch immer in meinem Blut und zu meiner Demütigung musste ich zugeben, dass es deswegen bereits mehr als genug Momente gegeben hatte, die eigentlich niemals hätten passieren sollen. Der Kuss gestern war die Krönung von all dem Gewesen und ich legte es nicht darauf an, mich noch mal in so eine Situation zu bringen. Andererseits, wenn es uns helfen würde …

Ich stieß ein sehr tiefes Seufzen aus, damit er auch genau verstand, wie sehr ich das hier hasste. „In Ordnung, meinetwegen, aber beeil dich.“

Er grinste wieder dieses abstoßende Grinsen. „Solche Dinge brauchen ihre Zeit“, sagte er mit lasziver Stimme, zog mich dann aber wieder an sich und beugte sich ein weiteres mal vor.

Als ich mich instinktiv von ihm wegbeugte, schob er einfach seine Hand in meinen Nacken und hielt mich an Ort und Stelle fest.

Oh Gaia, ich spürte diese Berührung. Ich spürte sie so tief, dass sich meine Haut plötzlich viel zu eng für meinen Körper anfühlte. Um dem zu entkommen, schloss ich die Augen, doch so wurde es nur noch intensiver, also riss ich sie ganz schnell wieder auf und versuchte an etwas anderes zu denken, als an seine Lippen auf meiner Haut.

Nicht hilfreich.

Es kribbelte. Ich spürte einen leichten sog und versuchte seine Wärme auszublenden. Ich versuchte alles an ihm auszublenden, doch erst als er mich endlich losließ und einen Schritt zurücktrat, konnte ich endlich wieder freier atmen. Nur leider verschwand deswegen dieses Kribbeln unter meiner Haut nicht. Oder die Hitze, die in mir aufgestiegen war. Und auch sein Geruch schien an mir hängen zu bleiben. Nicht das er übel roch, aber … naja, würde er es tun, hätte das sicher nicht solche Auswirkungen auf meine Sinne.

„Siehst du, war doch gar nicht so schlimm“, ließ er mich wissen und betrachtete mich dabei auf eine Art, die ich nur als herausfordernd interpretieren konnte.

Ich warf ihm einen bösen Blick zu und ging zur Haustür, um durch das seitliche Fenster die Straße im Auge zu behalten. Dabei verbot ich es mir die Stelle an meinem Hals zu berühren und fragte mich zum bestimmt tausensten Mal heute, wann ich endlich hier rausgelassen wurde.

Ich wusste, dass jemand herkommen würde, der die Tür öffnete und mich hinausließ. Allerdings hatte ich keine Ahnung, wann genau.

„Sie werden nicht schneller auftauchen, nur weil du dir das wünschst“, bemerkte Sawyer und ging zurück zu seinem Platz auf der Couch. Er ließ sich in die Poster fallen und legte seine Füße auf den Tisch.

In dem Moment hielt am Straßenrand ein Wagen vom Fahrdienst. Die Tür wurde aufgedrückt und Carrie trat in den gleißenden Sonnenschein. Ihr Pastelhaar, umwehte in einer leichten Briese ihren Kopf „Ich glaube du täuschst dich. Mein Empfangskomitee ist gerade eingetroffen.“ Und das beinhaltete auch einen Gardisten, wie ich feststellte. Allerdings blieb der am Wagen, während Carrie den kurzen Weg zum Haus in Angriff nahm.

Dieser Mann hatte genau das was ich brauchte, eine Uniform der Gardisten. Mir drängte sich die Frage auf, wie ich an eine solche herankommen sollte. Ich konnte ihn je schlecht bitten, sie mir auszuleihen. Davon abgesehen, dass sie sicher nicht passen würde, wäre das auch ziemlich verdächtig.

„Als ich aus der Zelle durch die Tür in Richtung Freiheit ging, wusste ich, dass ich meine Verbitterung und meinen Hass zurücklassen musste, oder ich würde mein Leben lang gefangen bleiben.“

„Was?“

„Das ist ein Zitat. Nelson Mandela hat das mal gesagt.“

„Kenne ich nicht.“

Sawyer gab ein Geräusch von sich, als würde er sich an seinem eigenen Lachen verschlucken. „Das hätte mich auch gewundert, schließlich ist der Mann seit ein paar Jahrhunderten tot.“

„Warum erzählst du mir das?“

„Ich fand es passend.“

„Ist es aber nicht.“ Denn meinen Hass auf diesen Ort steckte zu tief in mir drin, als dass ich irgendwann davon loskommen konnte. „Hinter dieser Tür wartet keine Freiheit, nur Knechtschaft.“

„Nicht mehr lange.“

Einen kurzen Moment schauten wir uns in die Augen, ein Moment des Verständnisses und der Einigung. Unsere Knechtschaft würde sehr bald ein Ende haben.

Als sich draußen die Schritte nährten, wurde Sawyer noch einmal ernst. „Vergiss nicht, du musst …“

„Ja ja, freiwillig, ich werde es schon nicht vergessen.“ Und so schnell war der Moment dann auch schon wieder vorbei.

„Eigentlich meinte ich ja, du sollst nicht vergessen, dir zu überlegen, wie du an eine Uniform kommst, aber gut zu wissen.“

Ja, denn auch wenn wir alles andere gelöst hatten – zumindest in der Theorie – blieb diese Kleinigkeit weiterhin bestehen.

Die Schritte waren nun direkt vor der Tür. Ich konnte Carrie etwas murmeln hören und sah durch das Fenster, wie sie ihre Hand an die Tür hob. Aber nicht um zu klopfen, sie machte irgendwas anderes. Dann gab die Tür gab ein leises Summen von sich und das Schloss öffnete sich dann mit einem durchdringenden Klicken.

Endlich.

Ich riss die Tür auf und erschreckte Carrie damit so sehr, dass sie am ganzen Körper zusammenzuckte. Sie hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich direkt hinter der Tür lauern würde.

„Also Kismet, wirklich.“ Sie legte sich eine Hand auf ihr ausladendes Dekolleté. „Nehmen sie doch ein wenig Rücksicht.“

Ich? Rücksicht? Diese Leute hier waren wirklich kaum zu glauben. „Kann ich dann gehen?“

Vom Sofa kam ein Lachen von Sawyer.

„Natürlich, nur, was ist mit ihrer Tasche, Liebes?“ Ihr Blick richtete sich auf meinen Hals.

Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was sie da begutachtete. Meine Hand fuhr zu der Stelle, wo ich immer noch den Schatten von Sawyer Nähe fühlen konnte. „Ich habe einen Knutschfleck.“

Hinter mir klatschte Sawyer sich die Hand gegen die Stirn, als könnte er nicht glauben, was ich gerade gesagt hatte.

Ich warf ihm einen giftigen Blick zu. Es war doch seine Idee gewesen.

„Ich sehe es“, war alles, was Carrie dazu sagte. „Ihre Tasche?“

Na dann ging ich eben diese dumme Tasche holen – nicht das ich besonderen Wert darauf legte.

Um den Schein zu wahren, hatte Sawyer sie vorhin in sein Schlafzimmer getragen. Nur für den Fall der Fälle, wie er sagte. Darum musste ich nun an ihm vorbei ins Nebenzimmer. Misstrauisch bemerkte ich, wie er sich erhob und mir folgte.

Meine Tasche stand auf dem Bett. Ich griff nach ihr, drehte mich um und stand direkt vor Sawyer. „Was denn jetzt schon wieder?“

„Reib den Leuten den Kutschfleck nicht so unter die Nase“, sagte er so leise, dass er draußen garantiert nicht zu hören war.

„Was? Warum? Du hast doch gesagt …“

„Es ist ein optisches Zeichen. Man reibt es den Leuten nicht unter die Nase. Man lässt sie ihn sehen und wenn du darauf angesprochen wirst, musst du sittsam erröten.“

„Wozu das denn?“ Das war doch völlig bescheuert.

„Vertrau mir einfach.“

Bestimmt nicht. Kopfschüttelnd über so viel Unsinn, drängte ich mich an Sawyer vorbei und verließ das Schlafzimmer. Sawyer folgte mir.

Als ich mich mit meiner Tasche Carrie in der offenen Tür nährte, bemerkte ich, dass am Straßenrand ein zweiter Wagen vom Fahrdienst gehalten hatten. „Salia, warte“, rief dort eine Frau, die noch dabei war, einen kleinen Rucksack von der Rückbank zu holen. Da erst bemerkte ich das kleine Mädchen mit dem ergrauten Kuscheltier im Arm, das eilig den kurzen Weg entlang rannte. Ihre braunen Haare waren zu einem langen Pferdeschwanz an ihren Kopf gebunden. Ein violettes Sommerkleid, mit leichter Spitze und schwarzen Blüten, wehte um ihre Beine, als sie freudestrahlend an mir und Carrie vorbeirannte und sich ihrem wartenden Vater in die Arme warf. „Papa!“

Da er sich hingehockt hatte, um sie in Empfang zu nehmen, wurde er von der Wucht fast nach hinten umgeworfen. „Oh, hey, immer langsam.“

„Hast du mich vermisst?“ Mit einer entzückenden Zahnlücke, grinste sie ihren Vater an und drückte dabei ihr Kuscheltier zwischen ihnen beiden platt.

„Ein Tag ohne dich, ist ein trauriger Tag“, erklärte er ihr Ernst und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Hast du auch Wölkchen vermisst?“ Sie schälte das Kuscheltier aus ihren Armen und hielt es Sawyer direkt vor die Nase.

„Fast so sehr wie dich“, versicherte er ihr.

Vom Wagen her nährte sich die Frau, die zuvor nach Salia gerufen hatte. Sie blieb still, als sie sich zu unserer kleinen Runde gesellte.

Die Kleine kicherte vergnügt, bemerkte dann jedoch mich und begann mich sehr eindringlich zu mustern. „Die Frau kenne ich nicht“, flüsterte sie so laut, dass wir alle sie hören konnten.

Carrie schmunzelte.

„Das ist Kismet“, erklärte Sawyer ihr, richtete sich wieder auf und wandte sich mir zu. Dabei ließ er seine Hand auf Salias Kopf liegen. „Sag hallo.“

Doch das tat sie nicht. Stattdessen erklärte sie mir direkt ins Gesicht. „Du hast aber einen komischen Namen.“

Etwa hilflos schaute ich von ihr zu Sawyer, der die Angelegenheit aber scheinbar nur komisch fand. Ich hatte keine wirkliche Erfahrung mit Kindern. Natürlich, da war Nikita, aber als die so klein gewesen war, war ich selber noch ein Kind gewesen. Und außerdem war das schon Jahre her. Und Nikita war auch niemals eine Fremde für mich gewesen – naja, wenn man von den letzten Wochen einmal absah.

Salia jedoch schien meine Unsicherheit nicht mal zu bemerken. „Wirst du jetzt auch eine Mami?“

„Ähm …“

„Ja“, sagte Sawyer, bevor mir eine Antwort einfallen konnte und hockte sich wieder neben die Kleine, um auf Augenhöhe mit ihr sprechen zu können. „Deswegen war Kismet hier. Sie wird sicher eine tolle Mami, sie ist ja auch eine tolle Frau. Und wir mögen tolle Frauen, nicht wahr?“

Die Kleine begann mich so kritisch und intensiv zu mustern, dass es schon beinahe eine Beleidigung war. Einen Moment verharrte ihr Blick an meinem Medi-Reif, glitt dann aber weiter zu meinen Füßen. „Du hast gar keine Schuhe an.“

Der kurze Blick hinunter auf meine Füße, war nach diesen Worten schon beinahe ein Zwang. „Ich brauche keine Schuhe.“

„Warum?“

Wie sollte ich das am besten erklären? Oder besser noch, warum hatte ich das Bedürfnis es zu erklären? „Da wo ich herkomme, trägt niemand Schuhe. Wir brauchen sie nicht, wir sind es gewohnt barfuß zu sein. Schuhe zu tragen, fühlt sich für mich seltsam an.“

„Wo kommst du denn her?“

Durfte ich ihr das sagen? Warum sollte ich es ihr nicht sagen dürfen? Es war ja nun mal kein großes Geheimnis, woher ich kam. „Aus den Ruinen der freien Welt.“

Salia machte große Augen, beugte sich dann ein Stück zu mir und flüsterte, als sei es ein großes Geheimnis: „Papa kommt auch aus der freien Welt.“

Ja, ich musste es mir eingestehen, irgendwie war sie schon süß. „Ich weiß, er hat es mir erzählt.“

Auf einmal schien sie mich mit neuen Augen zu mustern. Nicht mehr ganz so kritisch wie zuvor, eher neugierig, als sei ich eine seltene Pflanze. „Du bist hübsch.“

„Äh … danke.“ Ein kurzer Blick zu Sawyer. „Ich finde dich auch sehr hübsch.“

Ein Strahlen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Es war, als würde man direkt in die Sonne sehen. Sie machte sich von ihrem Vater los, schlang ihre Arme um meine Beine und grinste zu mir nach hinauf. „Magst du Wolken?“

Verblüfft und überrumpelt, durch die Sprunghaftigkeit ihrer Gedanken, kam mir ganz automatisch ein „Ja“ über die Lippen. Doch es schien das Richtige gewesen zu sein, denn Freude schien sich noch zu steigern.

„Ich auch. Wolken sind toll. Es gibt ganz viele Arten von Wolken, wusstest du das? Federwolken und Haufenwolken und Schäfchenwolken und Gewitterwolken. Manchmal sind sie weiß und manchmal grau und ich habe auch schon schwarze Wolken gesehen. Und morgens färben sie sich manchmal rot und abends blau. Sie machen Regen und Hagel und Schnee, und dann ist alles genauso weiß wie die Wolken. Und sie können fliegen. Und Malen. Sie verändern nämlich ihre Form, musst du wissen, je nachdem welche Laune sie haben.“ Den letzten Teil erklärte sie mir so ernst, als wollte sie mich herausfordern, ihr zu widersprechen. „Papa und ich spielen dann immer ein Spiel, Wolkenraten. Da musst du sagen, was du in den Wolken siehst. Ich habe da schon mal ein Pferd gesehen – mit Flügeln!“

Von der Fülle ihrer Informationen etwas überfordert, tat ich das Einzige was ich tun konnte. Ich blieb stumm und nickte artig.

„Aber weißt du, es gibt nicht nur Wolken im Himmel, sondern auch hier bei uns in Eden. Aber hier nennt sie niemand Wolken, sondern Schafe. So wie Wölkchen.“ Sie hielt mir ihr kleines, flauschiges Kuscheltier vor die Nase. Es wirkte schon sehr abgegriffen. Wie viele von diesen Kuscheltieren besaß die Kleine eigentlich? Allein hier bei Sawyer, hatte ich in den letzten Tagen, ein halbes Dutzend davon entdeckt. „Aber Wölkchen ist nicht echt. Ich will mal echte Schafe sehen. Du auch?“

„Äh, ja, klar. Das würde ich gerne.“ Etwas hilflos schaute ich zu Sawyer, der mir kaum merklich zunickte, so als sei er mit meiner Antwort zufrieden. „Ja“, wiederholte ich darum. „Ich würde sehr gerne einmal echte Schafe sehen. Das wäre sicher toll.“

Salia strahlte mich so freudig an, dass ich ein schlechtes Gewissen bekam. Es gab kaum etwas, dass mich weniger interessierte als Schafe.

„Vielleicht können wir sie uns ja zusammen anschauen“, erklärte sie mir und drehte sich wieder zu ihrem Vater um. „Geht das, Papa? Die Frau mag Wolken nämlich auch.“

„Wir werden sehen. Aber jetzt sag tschüss und geh dir die Hände waschen, ich mache gleich Essen.“

„Ich will Nudeln!“, rief sie und rannte dann ohne sich zu verabschieden ins Bad.

Ich schaute ihr etwas perplex hinterher. Waren alle Kinder so? Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass Nikita jemals so aufgeschlossen und offen war – zumindest keinem Fremden gegenüber.

Das war dann wohl der Unterschied zwischen den Kindern in den Ruinen und jenen, die in Eden geboren waren. Ein unbekümmertes Leben, fernab jeglicher Gefahr. Doch nicht fähig alleine zu überleben – nicht mal für wenige Tage. Ich wusste nicht, was schlimmer war.

„Sowas wirst du auch bald haben“, erklärte Carrie mir Augenzwinkernd.

Ich starrte sie nur ausdruckslos an. Zumindest für den nächsten Monat, war das völlig ausgeschlossen. Und danach würde ich schon nicht mehr hier sein – hoffentlich.

„Wir sollten uns dann auch langsam auf den Weg machen“, erklärte Carrie mit einem Blick auf ihre Uhr. „Dr. Vark erwartet uns sicher schon.“

Killian? „Warum?“

„Nachuntersuchung, Standardprozedere.“

Womit sie mir wohl sagen wollte, dass alle Evas das tun mussten und nicht mir allein diese Ehre gebührte.

„Das geht ganz schnell“, erklärte Carrie. „Und danach bist du für den Rest des Tages vogelfrei.“

„Solange ich nur den Käfig nicht verlasse“, murmelte ich und trat hinaus ins Freie. Zum Glück würde all das bald ein Ende haben.

„Du kannst gerne mal wieder vorbeikommen.“ Sawyer zwinkerte mir lasziv zu. „Für etwas … Abwechslung, bin ich immer zu haben.“

Die Anstößigkeit in seinem Ton ließ mich wieder an gestern Abend denken, dieser überraschende Kuss, der sich immer wieder in meine Gedanken schlich, so oft ich ihn auch daraus verbannte. „Das wird mit Sicherheit nicht passieren.“ Nie wieder würde ich ein Fuß in dieses Haus setzten.

„Dann werde ich mich wohl einfach mit meiner Erinnerung begnügen müssen.“

Musste der Idiot das so anzüglich klingen lassen? „Tu was du nicht lassen kannst.“ Ich kehrte ihm den Rücken, doch seinen Blick schien sich in meinen Hinterkopf zu bohren. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als Celest in ihrem luftigen Sommerkleid um die Ecke kam. Sie musste mitbekommen haben, dass die Tür nun offen war und war darum schnell aus dem Garten geeilt.

„Guten Tag, Celest“, grüßte Carrie sie, während ich hinter mir nur ein gemurmeltes „Na toll“, von Sawyer hörte. Als ich mich noch einmal umdrehte, war die Tür zwar offen, er aber bereits im Inneren des Hauses verschwunden.

Sie nickte Carrie zu, ignorierte mich und verschwand im Haus.

„Moment, Salias Tasche.“ Auch die Frau, die Sawyers Tochter gebracht hatte, ging eilends hinein.

Zeit für mich einen Abgang zu machen. Mit der Tasche in einer Hand und dem brennenden Wunsch, niemals wieder eine solche Tortur mitmachen zu müssen, ging ich an Carrie vorbei zur Straße. Doch ich hatte kein Interesse daran, mich dem Gardisten anzuschließen, darum bog ich auf dem Gehweg ab.

Carrie hielt mit mir Schritt, blieb beim Wagen aber kurz stehen. „Kismet Liebes, wo willst du hin? Der Wagen steht hier.“

„Ich war fünft Tage in einem Betonkasten eingesperrt, ich werde mich jetzt nicht in eine Blechbüchse setzen, wenn ich das kurze Stück zu Killian auch laufen kann.“

„Aber, es ist so heißt und …“ Sie brach ab, seufzte und folgte mir dann. „Manchmal bist du wirklich anstrengend.“

Und das kam ausgerechnet von ihr?

Carrie lief ein wenig schneller, bis sie wieder an meiner Seite war. Das Stück Dunkelheit in Form eines Mannes, löste sich vom Wagen und folgte uns in respektablen Abstand.

„Ich muss noch etwas mit dir besprechen“, teilte Carrie mir dann mit. „Eigentlich wollte ich das ja ganz in Ruhe im Wagen machen, aber jetzt … naja.“

Der leichte Unmut in ihrer Stimme, ließ mich völlig kalt.

„Ich habe die letzten Tage genutzt, um drei Kandidaten auszuwählen, die dir in Zukunft als Assistent zur Seite stehen sollen. Zwei Frauen und auch einen Mann. Sie alle sind vorzüglich für diese Stelle geeignet und werden dir gute Dienste leisten.“

Dienste? „Du meinst Termine.“

„Unter anderem. Sie werden auch für dich einkaufen gehen, Sachen besorgen, dir beim Haushalt helfen, oder dich beispielsweise auch nach einer Fekundation aus dem Haus lassen.“

Na dazu würde es ja zum Glück nicht mehr kommen.

Ich hielt am Straßenrand und ließ ein Auto vorbeifahren, bevor ich auf die andere Seite wechselte.

Carrie ließ sich nicht abhängen. „Du wirst morgen mit jedem von ihnen ein Gespräch führen und einen von ihnen auswählen.“

„Ich glückliche.“

„Ja, du kannst dich wirklich glücklich schätzen“, erwiderte sie ein kleinen wenig gereizt. Es gefiel ihr wohl nicht, dass ich noch dieses Dasein und alles was dazugehörte, noch immer ablehnte.

Wir brauchten noch fast eine halbe Stunde, bis wir am Ärztecenter angekommen waren. In der ersten Hälfte dieser Zeit klärte Carrie mich bis ins kleinste Detail, über die Termine auf, die ich in den nächsten Tagen wahrnehmen musste und in der zweiten Hälfte durfte ich mir mal wieder anhören, was für ein Glück ich doch hatte, hier zu sein und dass ich nach den letzten Tagen bei Sawyer, vielleicht bereits guter Dinge war. Als wir dann endlich im Center waren, flüchtete ich praktisch in Killians Praxis, damit ich ihr nicht mehr zuhören musste.

Killian begrüßte mich mit einem fröhlichen Lächeln, dass ein wenig gezwungen wirkte – besonders, als er den Knutschfleck an meinem Hals bemerkte, wirkte er nicht mehr ganz so erfreut, wie sonst immer. Er setzte sich mit mir hin, fragte nach meinem Befinden und spritzte mir auf meinen Wusch hin ein Mittel, dass die Reste des Aphrodisiakums neutralisieren sollte.

Zum Prozedere der Nachuntersuchung, gehörte wohl auch ein Blick unter meinen Rock und so verbrachte ich weitere zehn Minuten damit, mit gespreizten Beinen auf diesem blöden Stuhl zu sitzen.

Bevor ich ging, drückte er mir noch eine Salbe in die Hand, falls ich an gewissen Stellen ein wenig wund sein sollte und versprach mir, dass wir uns sicher bald wiedersehen würde. Die ganze Zeit war er … nicht direkt unfreundlich, eher ein wenig distanziert. Er schien noch immer nicht glücklich darüber, dass ich zu Sawyer gegangen war. Sein Problem, nicht meines.

Den restlichen Tag hatte ich frei. Der Gardist blieb immer in meiner Nähe und erinnerte mich mit seiner ständigen Anwesenheit ununterbrochen daran, dass ich noch eine wichtige Aufgabe zu erledigen hatten, wenn ich diese Mauern jemals hinter mir lassen wollte. Carrie allerdings verabschiedete sich, kaum dass wir das Center verlasse hatten. Dank dem Medi-Reif, hielt sie es wohl für überflüssig, mich länger als nötig, zu begleiten.

Bevor sie verschwand, fragte ich sie noch nach Nikita, doch sie hatte keine Antwort für mich, versprach mir aber, sich zeitnah darum zu kümmern.

Den restlichen Tag verbrachte ich im Freien. Nachdem ich meine Tasche in meiner Suite abgestellt hatte, lief ich einfach nur herum. In den letzten Tagen, hatte ich es so vermisst, mich zu bewegen. Zwar gab es hier Begrenzungen, aber es war immer noch mehr Platz, als in Sawyers Haus.

Nachdem ich meine dritte Runde durch das Herz beendet hatte und die Sonne bereits dem Horizont entgegen rollte, fand ich mich vor dem Freizeitcenter wieder. Mir war absolut nicht danach hinein zu gehen, aber Sawyer hatte gesagt, wir sollten uns normal verhalten und Carrie würde darauf bestehen, dass ich wenigstens eine halbe Stunde vorbeischaute. Würde ich es nicht tun, würde sie es sicher erfahren. Also ging ich hinein.

Ich wollte mich einfach still auf das gepolsterte Fensterbank setzen und mich vielleicht ein wenig mit Blue darüber streiten, ob ich sie nun streichelte oder nicht, doch sobald ich den Club Paradise betrat, machte Roxy mir einen gewaltigen Strich durch die Rechnung.

Sie saß zusammen mit Tican und Joshua an der hinteren Wand an einem Ecktisch und winkte mir aufgeregt zu, als sie mich kommen sah. „Kiss, hier sind wir, komm her!“ Heute stand ihr blaues Haar ihr wild vom Kopf ab und ihr Gesicht war so geschminkt, als würde sie eine Maske tragen.

Ausdruckslos starrte ich erst zu ihr und dann zu meiner Sitzbank am Fenster.

„Wenn du nicht herkommst, folge ich dir und setzte mich auf dich drauf!“, drohte sie mir.

Ein paar andere Gäste wurden auf sie aufmerksam, aber das schien sie nicht zu interessieren

Trotz ihrer Drohung – von der ich wusste, dass sie sie wahr machen würde, weil sie das schon einmal getan hatte – überlegte ich einen Moment, sie einfach zu ignorieren. Schlussendlich fügte ich mich jedoch einfach in mein Schicksal und ging zu den dreien hinüber. Ich konnte meine halbe Stunde genauso gut bei ihnen absitzen.

„Yes“, machte Roxy und stieß Tican dann mit dem Ellenbogen in die Seite.

„Au.“

„Rutsch mal ein bisschen, damit Kiss auch noch hier sitzen kann.“

Tican warf ihr einen bösen Blick zu, machte auf der Eckbank aber ein bisschen Platz. Roxy rückte ihm hinterher und beobachtete dann, wie ich mich neben sie setzte. „Du läufst gar nicht breitbeinig.“

„Roxy!“ Joshua schüttelte den Kopf, als könnte er nicht glauben, was sie gerade gesagt hatte. Er saß auf der anderen Seite des Tisches auf einem Stuhl, ein Glas mit Saft vor der Nase.

„Was denn?“, fragte Roxy völlig unschuldig. „Also, nach meiner Fekundation bei Tican, hatte ich ein paar Probleme, die Beine wieder zusammen zu bekommen. Und ich war auch ganz schön wund.“ Sie stieß mir ihren Ellenbogen ganz leicht in die Seite. „Wenn du verstehst, was ich meine.“

Ja ich verstand. Und jetzt verstand ich auch, warum Killian mir die Salbe gegeben hatte. Ich hatte mich schon gewundert.

Joshua verzog das Gesicht. „Das war eine Information, die ich nicht gebraucht habe.“

Tican dagegen lächelte selbstgefällig, als er an seinem Glas nippte.

Roxy ignorierte ihn und wandte sich wieder mir zu. „Und, wie war es? Sawyer ist ja nicht immer ganz einfach und ihr beide habt euch ja sowieso die ganze Zeit in den Haaren. Wir haben uns echt gewundert, dass du dir ihn ausgesucht hast.“

Da waren sie vermutlich nicht die einzigen.

„Du weißt doch“, sagte Tican. „Was sich liebt, das neckt sich.“

„Ganz bestimmt nicht.“ Ich stützte den Kopf in die Hand und ließ den Blick durch den Club schweifen.

„Suchst du nach jemand bestimmten?“, wollte Roxy wissen. In ihre Stimme, hatte sich ein lauernder Unterton geschlichen.

„Nach wem sollte ich denn suchen?“

„Na nach wem wohl? Nach Sawyer.“

Ich richtete meinen Blick auf sie. „Ich bin ihm gerade erst entkommen. Ich habe bestimmt nicht das Bedürfnis, ihn in nächster Zeit wieder zu sehen.“

„Ich sagts doch, wahre Liebe“, kommentierte Tican.

Bevor ich etwas dazu sagen konnte, ergriff Joshua das Wort, als hätte ich um eine Erklärung gebeten. „Nach einer Fekundation, nimmt Celest ihn immer für ein paar Tage in Beschlag und da kann es schon mal passieren, dass wir keinen der beiden zu Gesicht bekommen.“

„Weil diese Frau von ihm besessen ist“, sagte Roxy. „Manchmal ist das schon ein bisschen peinlich. Man merkt richtig, dass er gar keinen Bock auf sie hat, aber sie lässt ihn einfach nicht in Ruhe.“

„Ach, so schlimm ist sie doch gar nicht“, bemerkte Tican. „Außerdem, jeder von uns ist doch irgendwie eine kleine Celest.“

Roxy verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse. „Was redest du da für einen Unsinn?“

„Ich meine damit nur, dass jeder von uns etwas so abgöttisch liebt, dass er keine Rücksicht auf den anderen nimmt. Kismet liebt ihre Schwester, Joshua seinen Kaktus und Roxy mich.“

Joshua liebte einen Kaktus?

„So ein Blödsinn“, widersprach Roxy ihm. „Allein das Wort Liebe impliziert, dass man für den anderen viele Opfer bringt und nicht, dass man ihm zum Opfer macht, um seine eigenen Wünsche zu erfüllen.“

„Das heißt also, dass jeder von uns eine Celest hat?“, überlegte er nun.

„Du redest einen Unsinn.“

Da musste ich Joshua zustimmen. Aber sollten sie sich ruhig weiter darüber streiten, so musste ich mich wenigstens nicht an dem Gespräch beteiligen.

„Egal, lassen wir das Thema.“ Roxy wandte sich wieder mir zu. „Zurück zu dir. Du hast mir immer noch nicht gesagt, ob es okay war.“

Zu früh gefreut. „Ich habe ehrlich gesagt keine Lust darüber zu sprechen.“

„Oh.“ Sie wirkte ein wenig enttäuscht. „Würdest du dich denn über ein Baby freuen?“

Da sich diese Frage gar nicht stellte, hatte ich darüber auch nicht nachgedacht. Aber das konnte ich natürlich nicht sagen. „Ich mag Babys.“ Zumindest hatte ich Nikita als Baby gemocht, das zählte doch auch, oder?

„Das ist super“, erklärte sie, als glaubte sie, ich brauchte ihren Zuspruch.

„Aber falls es nicht geklappt hat, gehst du dann trotzdem noch mal zu Sawyer, oder versuchst du dein Glück dann bei jemand anderem?“

„Noch mal?“

„Naja, wenn du nicht schwanger geworden bist. Ich zum Beispiel bin vier Mal zu Tican gegangen, bevor ich endlich schwanger wurde. Aber am Ende hat es geklappt und ich muss trotz allem zugeben, er ist ganz gut in dem was er tut.“ Sie zwinkerte mir zu. „Vielleicht solltest du ihn beim nächsten Mal einmal ausprobieren. Ich jedenfalls kann ihn nur empfehlen.“

Sie sprach über ihn, als sei er eine Ware und ihm schien das auch noch zugefallen. So wie er aussah, fühlte er sich offensichtlich geschmeichelt. Und erst der Blick, den er mir zuwarf. Sollte ich auf die Idee kommen, ihn als Adam zu benutzen, wäre er eindeutig nicht abgeneigt.

„Nicht mal wenn du meine einzige Wahl wärst, würde ich von dir ein Kind haben wollen.“ Da ging ich doch lieber in die Klinik zu Killian und ließ mich von ihm künstlich befruchten. Wobei ich eigentlich gar keine der angebotenen Möglichkeiten in Betracht zog. Das war sowieso alles egal, weil ich hier in zehn Tagen auf nimmer wiedersehen verschwinden würde.

Von meiner direkten Ablehnung verblüfft, fiel Tican das Lächeln aus dem Gesicht.

Roxy schaute verwirrt von ihrem Favoriten zu mir. „Warum nicht? Was stimmt denn mit ihm nicht?“

„Mit mir stimmt alles“, knurrte Tican verärgert.

„Ich habe nicht gesagt, dass mit ihm etwas nicht stimmt“, sagte ich.

Nun wirkte Roxy erst recht verwirrt. „Wo ist dann das Problem?“

Ich wusste, dass es nicht schlau war, den Mund aufzumachen und die Wahrheit zu sagen, doch ich wollte auch nicht, dass sie mich jemals wieder mit diesem Thema behelligte. „Das Problem ist sein Umgang mit dir, oder besser gesagt, mit deinem Baby.“ Ich richtete meinen Blick direkt auf Tican. „Da wächst ein kleines Wunder unter ihrem Herzen heran, ein neues Leben, das ihr beide erschaffen habt. Dieses Baby ist etwas Einzigartiges, etwas, das es so nie wieder geben wird, etwas ganz Besonderes und dir ist das scheißegal. Dieses kleine Wesen interessiert dich nicht und das finde ich einfach nur zum Kotzen von dir.“

Ticans Ärger wuchs. Er fühlte sich von mir angegriffen und musste sich einfach verteidigen. „Das ist hier in Eden nun mal so. Niemand legt großen Wert darauf, dass die Väter sich um die Kinder kümmern.“

„Ja, schieb es nur auf das System. Aber auch wenn es anders wäre, würde es dich nicht interessieren. Du hast zwar Interesse am Kindermachen, aber nicht an dem Ergebnis.“

Darauf erwiderte niemand etwas. Tican war einfach nur beleidigt, Roxy schien nicht zu wissen, was sie denken sollte und Joshua wünschte sich offensichtlich einfach nur ganz weit weg.

Na das hatte ich doch mit meinem sprichwörtlichen Fingerspitzengefühl gemeistert. Ich hätte mich doch auf meine Fensterbank setzten sollen, dann wäre mir wenigstens dieser Teil des Abends erspart geblieben.

 

oOo

Kapitel 45

 

„Bitte nicht bewegen.“

Bereits seit Stunden, stand ich auf einem kleinen Podest, inmitten hunderter von Kleidern auf Kleiderständern. Die Arme links und rechts abgespreizt, versuchte ich nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten, während die Schneiderin Victorine Brisebois und ihre beiden Assistentinnen, mich in mein Elysium-Kleid einnähten. Ich konnte meine Freude kaum im Zaum halten.

„Bitte hör auf mit den Zähnen zu knirschen“, sagte Carrie ohne den Blick von ihrem Screen zu nehmen. „Stummel im Mund sind nicht besonders attraktiv.“

„Das hier oder das hier?“ Die kleinere der beiden Helferinnen hielt zwei Stoffproben aus Spitze an mein mintgrünes Gewand. Grün war die Farbe der Fruchtbarkeit, wie mir Carrie erklärt hatte, deswegen würden alle Evas und Adams auf dem Fest grüne Kleidung tragen.

Victorine musterte die beiden Angebote und winkte dann ab. „Keines von beiden. Ich möchte es schlicht halten, nicht aufgedonnert. Sie ist schließlich eine Eva und kein Showgirl.“ Die Besitzerin des Fancy, war eine sehr bleiche Frau in den Vierzigern, mit einer schwarzweißen Lockenmähne. Links waren ihre Haare schwarz, rechts weiß. Genauso ihre Augenbrauen. Es was irgendwie seltsam aus, aber in der Zwischenzeit, hatte ich in dieser Stadt schon weitaus merkwürdigere Haarfarben gesehen. Ihr Makeup dagegen wirkte fast zurückhalten, auch wenn sie hier darauf geachtet hatte, dass eine Seite schwarz und die andere weiß geschminkt war. Sie war so käsig, dass ich ihr am liebsten geraten hätte, mal hinaus in die Sonne zu gehen, weil es wirklich kränklich wirkte.

„Wann sind wir denn endlich fertig?“ Ja ich quengelte. Nach drei Stunden, in denen mir immer wieder mitgeteilt wurde, dass ich gefälligst stillstehen, mich gerade halten und die Schultern nicht hängen lassen sollte, war das mein gutes Recht.

„Gute Arbeit brauch eben seine Zeit“, erwiderte Victorine ohne auf meine eigentliche Frage einzugehen.

Eine Nadel pikte mich in die Hüfte.

„Au!“

„Entschuldigung“, murmelte die füllige Helferin und pikte mich gleich noch einmal.

Ich knirschte mir den Zähnen und sah zu Carrie, die schmunzelnd in der Ecke auf einem Stuhl saß und so tat, als würde sie das alles gar nichts angehen. Sobald ich aus dem Kleid raus war, würde ich sie mit diesem Stofffetzen erwürgen.

Die Füllige zog am Stoff und brachte mich damit fast zum Stolpern.

„Nicht bewegen, habe ich gesagt“, kam es sofort von Victorine.

Ich stand kurz davor ihr ein paar zu scheuern, einfach weil ich es konnte und mich danach sicher besser fühlen würde. Oh ja, das wäre äußerst befriedigend. Weitaus befriedigender, als alles was ich seit meiner Ankunft in der Stadt getan hatte.

Obwohl, da war dieser Kuss …

Oh nein, warum musste ich plötzlich daran denken?

Verschwinde aus meinem Kopf!

Aber er verschwand nicht. So absurd es auch klang, in diesem Moment, oben auf dem kleinen Podest, umrundet von diesen Frauen, die mich piksten, drapierten und rumschupsten, wie es ihnen gerade gefiel, überkam mich das gleiche Kribbeln, das Sawyers Kuss bereits bei mir ausgelöst hatte. Ein Ziehen in der Magengegend, das Versprechen auf Freiheit, ein Moment in dem mich niemand kontrolliert hatte. Nur ich selber, nur …

„Au!“

„Entschuldigung.“

So, jetzt reichte es mir aber.

Ohne auf die Protestlaute zu achten, raffte ich mein Kleid, stieg vom Podest und brachte einen ausreichenden Sicherheitsabstand zwischen mich und diese Folterknechte.

„Wir sind noch nicht fertig“, echauffierte Victorine sich sofort und zeigte auf das Podest. Dabei bekam sie auf den Wangen rote Pusteln, die nicht gesund aussahen. „Sofort wieder rauf da!“

„Nein.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Nicht solange dieses Scheusal da mich weiter mit Nadeln malträtiert.“

Nun sah Carrie sich wohl gezwungen einzuschreiten. Sie stand auf und platzierten ihren Screen statt ihrer auf dem Stuhl. „Seien sie vernünftig Kismet, sie haben es doch fast hinter sich.“

Vernünftig?! „Und bis dahin sehe ich aus wie ein verdammtes Nadelkissen!“

Der eigentliche Übeltäter hier im Raum verfolgte die Diskussion völlig gleichgültig. Ihr war es wohl egal, ob sie mit ihrer Arbeit fortfahren konnte, oder nicht.

„Ich kann doch einfach eines von diesen Kleidern anziehen.“ Damit meinte ich die grüne Farbpalette, die bereits fertig und verpackt auf den Kleiderständern links neben mir hingen.

„Die gehören den anderen Evas“, erklärte Carrie. „Den Evas, die auf diesem Podest standen und geduldig gewartet haben, bis die Schneider mit ihnen fertig waren.“

„Die wurden wahrscheinlich auch nicht ständig ins Bein gestochen.“

Carries missbilligendes Schnalzen hätte mich nicht überraschen sollen. „Sie benehmen sich wie ein verwöhntes Kind, das einen Trotzanfall hat.“

„Und wenn schon.“

Victorine warf völlig entnervt die Arme in die Luft. Dann zeigte sie auf den Missetäter. „Du, nach hinter mit dir und mach dich da nützlich. Shelly, du machst den Rest. Und jetzt wieder rauf auf das Podest, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!“

Während die Mollige nach hinten verschwand, sträubte ich mich rein pro forma noch ein wenig, bevor ich mich dazu herabließ, wieder auf das Podest zu steigen. Dabei überhörte ich einfach die Versicherung der zierlichen Shelly, vorsichtiger als ihre Kollegin zu sein.

Wenigstens hat dieses ganze Drama etwas Gutes, überlegte ich, während ich wieder mit gespreizten Armen da oben stand und diese Tortur über mich ergehen ließ. Der Kuss von Sawyer ist endlich aus meinen Gedanken verschwunden.

Na toll.

Am liebsten wäre ich einfach in mich zusammengesackt. Warum nur musste ich jetzt schon wieder daran denken? So gut war er auch nicht gewesen. Da hatte ich schon viel Bessere von Taavin bekommen. Warum also bekam ich ihn nicht aus dem Kopf?

Eigentlich war die Antwort ganz einfach, auch wenn sie mir absolut nicht gefiel. Weil ich ihn erwidert hatte. Zwar nur für einen kurzen und überwältigenden Moment, aber ich hatte es getan. Und es hatte ich gut angefühlt. Das erste Mal in dieser Stadt, hatte ich für einen kleinen, unbeschwerten Moment, so etwas wie Glück empfunden. Und das belastete mich jetzt. Ich wollte hier nichts Gutes erfahren, nicht das kleinste bisschen. Ich wollte einfach nur hier weg und all das hinter mir lassen.

Darauf arbeitest du ja gerade hin.

Theoretisch zumindest. Bisher war mir noch immer nicht der rettende Einfall gekommen, wie ich an eine Uniform der Gardisten kommen sollte. Und ich hatte mir bereits stundenlang den Kopf zerbrochen. Doch so schnell wie die Ideen gekommen waren, so schnell hatte ich sie auch wieder verworfen. Keine davon war auch nur ansatzweise erfolgversprechend gewesen.

Das Klingeln der Ladenglocke riss mich aus meinen Gedanken.

„Nicht bewegen.“ Victorine war eindeutig gereizt, aber ich ignorierte sie, denn der Mann der gerade mit einem Lächeln den Laden betrat, ließ mich mehrmals blinzeln. Das war Killian. Ich brauchte einen Moment, um ihn zu erkennen, denn er sah ganz anders aus, als bei unseren bisherigen Begegnungen.

Sein Hintern steckte in einer dunkelblauen Hose, die so hauteng saß … ich konnte jede Kontur erkennen – wirklich jede. Normalerweise trug er weite, lockere Kleidung, aber nicht dieses Mal. Vermutlich war mir deswegen auch niemals aufgefallen, wie muskulös seine Beine waren.

Und dann erst die Jacke. Sie saß nicht ganz so eng, hatte dafür aber einen hohen Kragen. Seine Füße steckten in hohen Stiefeln, die ihm fast bis an die Knie reichten. Sie waren glatt und leicht verdreckt. Und nirgends gab es auch nur die kleinste Naht zu sehen. Weder bei der Jacke, noch bei der wirklich engen Hose oder bei den Schuhen, von denen ein vertrauter Geruch ausging – etwas das ich in seiner Nähe noch nicht gerochen hatte.

Er ließ den Blick einmal durch den Laden gleiten, und blieb dann bei mir hängen.

„Ah, Dr. Vark.“ Victorine erhob sich, rümpfte dann aber die Nase.

„Tut mir leid“, sagte er, bevor sie erneut den Mund öffnen konnte. „Ich komme gerade aus dem Stall. Ich hoffe das stört sie nicht.“

So wie sie das Gesicht verzog, störte es sie sehr wohl, aber sie war professionell genug, das für sich zu behalten. „Sie sind zur Anprobe da?“

„Ja. Und auch um den Termin meiner Mutter zu besprechen.“ Er schenkte mir ein Lächeln. „Hallo Kismet. Frau Capps.“ Er nickte meiner Betreuerin zu.

Ich war von seiner Aufmachung noch immer so verblüfft, dass ich es gerade mal schaffte, die Hand zu Gruß zu erheben. Seit ich nach der Fekundation bei ihm gewesen war, waren wir uns nicht mehr begegnet.

„Bitte bleiben sie still stehen“, bat Shelly mich. Wenigstens war sie geschickter als die Andere. Mein Bein blieb von weiteren Attacken verschont.

Ich schaffte es trotzdem nicht mir mein Augenrollen zu verkneifen.

Killian lachte leise.

„Kommen sie“, verlangte Victorine. „Gehen sie nach hinten, Jaqueline ist da, sie wird ihnen bei der Anprobe behilflich sein.“

„Ich freue mich schon.“

Sein falscher Enthusiasmus ließ mich schmunzeln. Dann konnte ich dabei zuschauen, wie er durch den blauen Vorhang verschwand, der den vorderen Teil des Geschäfts, von dem Hinteren, abschnitt.

„Sehen sie“, sagte Carrie nun wieder von ihrem Platz aus. „Nicht alle müssen aus dieser Kleinigkeit so ein Drama machen wie sie.“

Das würdigte ich nicht mal mit einer Erwiderung.

Da ich sowieso nichts Besseres zu tun hatte, lauschte ich und versuchte herauszufinden, was auf der anderen Seite des Vorhangs vor sich ging. Das war besser, als hier doof rumzustehen und darauf zu warten, endlich entlassen zu werden. Leider wurde dort nur sehr wenig gesprochen und das so leise, dass ich kaum mehr als ein Murmeln wahrnehmen konnte.

Damit blieb mir weiterhin nichts anderes zu tun, als nutzlos in der Gegend herumzustehen.

Das tat ich immer noch, als Killian eine halbe Stunde später wieder hinter dem Vorhang auftauchte, sich zu Carrie gesellte und mich beobachtete.

„Wie macht sie sich?“

„Sie ist nicht sehr kooperativ.“ Carrie schenkte mir einen überaus missbilligenden Blick.

„Kann ich mir gar nicht vorstellen.“ Killian schmunzelte.

„Ich stehe hier und kann euch hören.“

Das ließ seine Mundwinkel höher wandern. „Das Kleid steht dir sehr gut.“

Ich murrte etwas Unverständliches und ging nicht weiter darauf ein. Viel interessanter fand ich seinen Aufzug. „Was ist das für komische Kleidung?“

Er schaute an ich herab, als hätte er vergessen, was er am Leibe trug. „Meine Reitkleidung.“

Die hatten hier spezielle Kleidung fürs reiten? „Auf was reitest du denn?“

„Auf meinem Clydesdale Geysir.“

„Was?“ Was sollte das denn sein?

„Clydesdale. Das ist eine Pferderasse.“

Meine Augen wurden groß. „Du hast ein Pferd? Die sind doch ausgestorben.“ Außer auf uralten Bildern, hatte ich jedenfalls noch nie eines gesehen. Das waren wunderschöne Tiere, wild und frei, mit jeder Faser ihres Körpers. So jedenfalls stellte ich sie mir vor.

„Nein, hier in Eden gibt es noch welche. Und mir gehört eines der schönsten Exemplare dieser Stadt.“

Wäre er nicht er, würde ich behaupten, dass da jemand mächtig eingebildet war. So jedoch sagte ich nur: „Ich habe ein Dromedar auf dem ich reiten kann.“

Alle Blicke im Raum richteten sich auf mich.

Mist.

„Du reitest auf einem Dromedar?“ Das war für Carrie wohl genauso unglaubwürdig, wie für mich die Tatsache, dass es hier in Eden Pferde geben sollte.

„Sein Name ist Trotzkopf. Ich fand ihn, als er noch ein Baby war. Er kann ziemlich dickköpfig sein.“ Das waren Informationen, die ich ihnen geben konnte, damit würden sie nichts anfangen können, nicht solange ich ihnen nicht sagte, wo er sich befand.

„Dann passt er ja sehr gut zu dir“, kommentierte Carrie.

Dafür bekam sie einen giftigen Blick.

Killian lachte leise in sich hinein.

„So, das war es für heute“, verkündete Victorine.

Endlich. Vor Erleichterung sackte ich beinahe in mich zusammen.

„Den Rest können wir ohne sie machen. Trotzdem möchte ich sie in zwei Tagen noch mal zur Anprobe hier haben, damit die letzten Änderungen rechtzeitig fertig werden.“

„Ich kann es kaum erwarten.“ Ja, der Sarkasmus in meiner Stimme war mehr als deutlich und brachte mir wieder einmal ein tadelndes Schnalzen von Carrie ein.

„Aber das trifft sich gut“, fügte Carrie noch hinzu. „Der Muttertreff findet in einer halben Stunde statt, dann können sie noch daran teilnehmen.“

Ich war schon dabei vom Podest zu steigen, doch diese Worte ließen mich gleich wieder innehalten. Ich sollte mich der Mutterherde anschließen, und das obwohl ich nicht mal selber eine war? Die Ablehnung lag mir bereits auf der Zunge, doch genau in dem Moment kamen mir völlig ungebeten wieder Sawyers Worte in den Sinn. Füge dich ein, bleib unauffällig. Ich musste mitspielen. Sie mussten glauben, dass ich mich einfügte. Und leider gehörten Treffen mit der Gemeinschaft auch dazu.

„Sie werden schon sehen, die Damen sind alle sehr nett. Und sie freuen sich sicherlich, wenn sie sich ihnen anschließen.“

Das beruhte allerdings nicht auf Gegenseitigkeit. Nicht das ich was gegen sie hatte – nicht wirklich – aber sie interessierten mich nicht. Sie waren das, was ich niemals sein wollte.

Aber im Augenblick war es wohl besser, das für mich zu behalten.

„Aber!“, sagte sie und hielt mir einen Finger gefährlich nahe vor mein Gesicht. Ganz ehrlich, sie stach mir fast das Auge aus. „Ich möchte nicht noch einmal so eine Geschichte wie mit Doolittle in Finns Bistro erleben. Messer sind nur zum Schneiden für die Lebensmittel gedacht.“

Als wenn ich so dumm wäre, den glichen Fehler ein zweites Mal zu machen. „Lasst einfach keine Hunde in meine Nähe“, erwiderte ich patzig, stieg vom Podest und umrundete sie.

Ich würdigte niemanden von ihnen eines Blickes, als ich hinter den Vorhang verschwand. Shelly folgte mir uns zusammen mit Jaqueline, half sie mir aus diesem Folterinstrument namens Kleid. Es war wirklich eine Erleichterung für mich, wieder in meine normale Kleidung zu schlüpfen und endlich aus diesem Laden zu entkommen. Leider wusste ich bereits jetzt, dass ich eher früher als später hierher zurückkehren musste.

 

oOo

Kapitel 46

 

„Nein Schatz, steck das nicht in den Mund, das ist dreckig.“

Der kleine Junge schaute nur mit großem, leicht degeneriertem Blick in den Augen, zu seiner Mutter hinauf, den Kiesel immer noch halb auf der Zunge und schien sich zu fragen, was an einem dreckigen Stein so schlimm sein sollte, schließlich waren seine Hände auch nicht viel sauberer.

Die Mutter jedoch war bereits dabei, die Beute ihrer Brut an sich zu nehmen und sie schwungvoll von sich zu werfen. Zwei Handgriffe später hatte sie ein Tuch aus ihrer Tasche gezogen, ihrem quengelnden Bengel den Mund und Hände abgewischt, ihn an die Hand genommen und lief nun wieder ihrer Wege. Zurück blieb nur ein halb abgelutschter Kiesel im Rinnstein.

„Hach, manchmal wünschte ich, ich hätte auch eines.“

Ein Blick aus dem Augenwinkel, mehr bekam Carrie nicht von mir. Wie sie nach dieser Szene, den Wunsch nach einem eigenen Kind verspüren konnte, war mir schleierhaft.

„Leider sollte es nicht so sein“, sagte sie mit einem wehmütigen Ton in der Stimme, versuchte aber sofort ihr Lächeln wiederzufinden. „Kommen sie, es ist gleich um die Ecke im Freizeitcenter.“

Nur zu gerne hätte ich ihr Gaias Zorn an den Hals gewünscht, doch im Moment galt mehr denn jäh mich einzugliedern. Weiter auf die Vertrauenskarte zu setzten, würde nichts bringen, dafür stand ich bereits zu weit oben auf Edens Abschussliste und die Zeit reichte einfach nicht, mich davon zu streichen. Doch ich konnte zurückhaltend und unscheinbar agieren, einfach keine unnötige Aufmerksamkeit auf mich ziehen – oder zumindest keine negative. Sie sollten ruhig denken, dass die Tage bei Sawyer mir gutgetan hatten und ich jetzt offener für ihre Werte und Vorstellungen war. Natürlich war mir bewusst, dass sie dem misstrauisch und wachsam gegenüberstehen würden, doch es war immer noch besser, als mich weiterhin offen gegen sie zu aufzulehnen.

„Du hast keine Lust zu diesem Treffen zu gehen“, stellte Killian ganz richtig fest. Er hatte den Laden mit uns zusammen verlassen und war aus irgendeinem, nicht ersichtlichen Grund, bei uns geblieben.

Carrie war bereits ein Stück weiter gegangen und winkte mich zu sich.

„Ich habe keine Wahl.“ Nicht mehr nach meinem Fluchtversuch. Die Augen aller waren jetzt noch intensiver auf mich gerichtet, als sie es bereits vorher gewesen waren.

Die Ladenstraße war heute gut besucht. Da war eine Gruppe von Müttern und älteren Frauen, die mit einer Horde von kleinen Kindern vor einem Schaufenster mit einer großen Auswahl an Backwaren Halt gemacht hatte. Mehrstöckige Torten und Kuchen standen in der Auslage. Gebäckteilich wie ich sie noch nie gesehen hatte, waren kunstvoll zwischen künstlichen Blumen arrangiert worden. Lange Brote und kleine Schrippen in Körben und auf verzierten Tellern, kleine Männchen aus Lebkuchen, wie die eine Frau dem kleinen Mädchen neben sich erklärte.

Was war jetzt schon wieder Lebkuchen?

„Wir hatten noch gar keine Zeit uns zu unterhalten. Ich hoffe deine Zeit bei Sawyer war … angenehm.“

Ach, jetzt interessierte er sich doch dafür? Ich wusste noch genau, wie distanziert er sich vor zwei Tagen verhalten hatte, so als wollte er möglichst gar nicht darüber sprechen. „Du meinst, ob ich die Tage gut überstanden habe? Sieht so aus oder?“ Es klang angriffslustiger, als ich beabsichtigt hatte, aber ich würde mich hüten mich zu entschuldigen.

„Du scheinst auf jeden Fall noch deine Stacheln zu besitzen.“ In seiner Stimme schwang ein überaus zufriedener Ton mit sich, der sich auf das amüsierte funkeln in seinen Augen ausbreitete.

Da sollt doch noch mal einer aus diesem Mann schlau werden. „Was hast du denn geglaubt? Das ich gebrochen und unterwürfig wieder auf der Bildfläche erscheine?“ So wie Agnes es sich wahrscheinlich erhofft hatte.

„Nein“, sagte er leise. „Nicht du. Dafür bist du viel zu stur.“

Es war schon eine Kunst, jemanden zu beleidigen und ihm gleichzeitig ein Kompliment zu machen. Das musste ich ihm lassen.

„Dann solltest du dich jetzt wohl dem Muttertreff anschließen“, bemerkte er.

„Ja.“ Ich seufzte wehleidig. „Carrie meinte, es wäre eine gute Idee, wenn ich mit Gleichgesinnten zusammenkomme. Du weißt schon, wertvolle Tipps und Tricks mit all den anderen fruchtbaren Damen auszutauschen.“

„Genau dein Ding.“ Oh ja, der Sarkasmus in seiner Stimme, war absolut nicht zu überhören.

Mein Mundwinkel zuckte. „Absolut.“

Wir grinsten uns an, bis ich bemerkte was ich da tat. Da wandte ich mich schnell ab und nahm lieber wieder die Geschäfte auf der anderen Straßenseite in Augenschein.

Da waren Läden, die wunderschöne Kleider und fein geschnittene Anzüge für den Herren ausgestellt hatten. Klassisch, anmutig und gewagt. Ein Spielzeugladen, durch den lachende Kinder und gestresste Mütter liefen – das reinste Chaos.

Überall pochte das Leben. Die Farbvielfalt die mich umgab, erschlug mich fast. Doch trotz all des Lebens, wirkte dieser Ort künstlich und eintönig. Es war nicht zu vergleichen mit der Welt dort draußen vor den Mauern und den fahrenden Händlern. Nicht mal mit dem kleinen Markt und den ramponierten Ständen, auf den ich jedes Jahr mit Marshall gegangen war. Dort wirkte immer alles ein wenig verkommen und defekt, dafür aber echt.

Ein schmerzhaftes ziehen in meiner Brust ließ die Sehnsucht nach diesem Leben in mir aufflammen.

„Tja, ich sollte mich dann wohl auch auf den Weg machen“, erklärte Killian dann. „Ich will noch etwas für meine Mutter besorgen Und vielleicht sollte ich mich auch mal umziehen gehen. Ich will ja niemand mit meinem Geruch belästigen.“

„Ich mag den Geruch.“

Stille.

Warum bei Gaias allmächtigen Zorn, hatte ich das gerade gesagt?!

Mir war doch wirklich nicht mehr zu helfen.

Er musterte mich einen Moment und schien mit den Worten auf seiner Zunge zu ringen. „Hast du vielleicht Lust mich zu begleiten? Ein bisschen weibliche Unterstützung wäre nicht schlecht. Anschließend könnten wir noch etwas essen gehen, wenn du möchtest. Vielleicht ein Eis?“

Erstaunt blickte ich zu ihm auf. Er wollte, dass ich ihn begleitete? „Ich muss zur Mutterherde.“

„Ja schon.“ Er schaute kurz über die Schulter zu Carrie, die ihm stumm mit finsteren Blicken taxierte. „Aber das Treffen ist wöchentlich. Du kannst nächste Woche noch hingehen.“

„Ich glaube, ich habe mich gerade verhört.“ Sehr nachdrücklich pulte ich mich dem Finger im Ohr und tat so als würde ich einen Klumpen Dreck wegschnipsen. „Es klang doch gerade wirklich so, als würdest du mich davon abhalten wollen, Kontakte mit der Gemeinschaft zu knüpfen.“

Das Lächeln das ich daraufhin bekam, war einfach nur entwaffnend. „Ja, vermutlich sollte ich das nicht tun.“

„Nein, das sollten sie nicht.“ Das kam von Carrie. „Kismet muss sich endlich etwas mehr engagieren.“

Ich verengte meine Augen leicht. „Sinn und Zweck dieses Ausfluges ist es doch, dass ich mit den Menschen von Eden zusammenkomme, oder?“

Carrie musterte mich schlecht gelaunt. „Ja“, sagte sie äußerst widerwillig.

„Dann haben wir das ja geklärt“, erwiderte Killian anstatt meiner und reichte mir den Arm. „Wollen wir?“

Ähm … hatte ich gerade irgendwas verpasst? Zum Beispiel den Teil, in dem ich zugestimmt hatte, ihn zu begleiten? Wenn mein Erinnerungsvermögen mich nicht trog – und davon ging ich jetzt einfach mal aus – dann hatte ich Carrie doch nur gerade klar machen wollen, dass ich mich nicht von ihr herumkommandieren lassen wollte. Doch für Killian schien das meine Einwilligung in seine Pläne gewesen zu sein.

Wollte ich das? Es ist auf jeden Fall besser als zur Mutterherde zu gehen, musste ich mir eingestehen. Aber warum wollte er überhaupt, dass ich ihn begleitete?

Als ich seinen Arm nur anstarrte, ließ er ihn wieder sinken. „Du musst nicht mitkommen, wenn du nicht möchtest. Ich dachte nur, es könnte dir Spaß machen.“

Er ließ mir die Wahl, so wie ich sie bei ihm immer hatte. Natürlich war mir klar, dass er mich nicht zwingen konnte, aber viel wichtiger war auch, dass er es nicht wollte. „Was willst du denn für deine Mutter besorgen?“ Genau, erstmal hinauszögern.

„Konfekt. Sie liebt Konfekt. Und die Geburt steht kurz bevor. Natürlich weiß ich, dass das kein Ersatz für ihr Baby ist, aber Schokolade setzt bekanntlich Glückshormone frei und wenn dieses Konfekt sie auch nur ein kleines bisschen glücklich machen kann, dann soll sie es haben.“

Es faszinierte mich immer wieder, wie wichtig diese Frau für Killian war und dass, obwohl sie ihn nicht mal als ihren Sohn erkannte. Solche Bande hatte ich hier in Eden sonst bisher bei keinem gesehen. Vielleicht war er mir deswegen so sympathisch.

Ja, ich gab es zu – zumindest vor mir selber – ich fand Killian ein ganz kleinen wenig symphytisch. Vielleicht öffnete sich mein Mund deswegen, bevor mein Hirn nachziehen konnte. „In Ordnung, ich komme mit. Lass uns Olive etwas gutes tun.“ Nach allem, was sie hier ertragen musste, hatte sie das mehr als nur verdient.

In Killians Gesicht ging die Sonne auf.

Carrie dagegen schien äußerst unzufrieden. Nicht nur mit mir, sondern auch mit meinem Arzt.

„Dann lass uns gehen.“ Er reichte mir wieder seinen Arm, doch ich zog nur eine Augenbraue hoch. „Ich wollte nur freundlich sein.“ Lächelnd deutete er nach rechts. „Wir müssen da entlang.“

Als er die vorgeschlagene Richtung in Angriff nahm, trat ich an seine Seite, achtete aber darauf, einen gewissen Abstand zwischen uns zu wahren. Sympathie hin oder her, man musste es ja auch nicht übertreiben.

Carrie folgte uns wie ein düsterer Schatten.

„Und“, fragte Killian, um die Stille zwischen uns zu füllen. Vielleicht wollte er sich aber auch wirklich mit mir unterhalten. „Was hast du die letzten Tage so gemacht?“

Mal nachdenken. Ich hatte Tican so heftig vor den Kopf gestoßen, dass er mich nun immer böse anschaute, wenn ich in seine Nähe kam. Meine Worte hatten ihm absolut nicht gefallen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass Roxy seit diesem Abend ein wenig auf Abstand zu ihm gegangen war. Das war sicher kein gutes Gesprächsthema.

Dann hatten wir da noch Celest, die sich immer wie eine Schlange um Sawyer wickelte, sobald ich in einem Umkreis von zehn Metern um ihn auftauchte. Auch kein gutes Gesprächsthema.

Irgendwie machte ich mir hier in den letzten Tagen, nicht gerade viele Freunde.

Da Killian mich immer noch abwartend beobachtete, sagte ich einfach. „Ich hatte Unterricht bei Cameron.“

„Er ist dein Hauslehrer, richtig?“ Er zog eine Sonnenbrille aus seiner Jackentasche und schob sie sich ins Gesicht, als wollte er seine Augen vor mir verbergen.

Ich nickte.

Rechts von uns war ein großes Schuhgeschäft, in dem eine Frau gerade fleißig das Schaufenster neu dekorierte. Sie benutzte dazu sehr viel goldene Dinge.

„Ist er denn gut? Also, lernst du bei ihm gut? Kann er dir die Dinge gut erklären?“

„Ich kann schon meinen Namen schreiben und ein paar Worte lesen und rechnen kann ich auch. Er gibt mir ständig Hausaufgaben auf, das nervt ein bisschen.“  

Killian lachte leise. „Egal wie alt jemand ist, keiner mag Hausaufgaben.“

„Das kann ich nicht beurteilen.“

Er blieb vor einem großen Schaufenster mit Schmuck stehen. Ketten und Ringe auf eleganten Halterungen. Armbänder mit glitzernden Steinen. „Meinst du, davon würde ihr etwas gefallen?“

„Du meinst, deine Mutter?“

„Ja.“

Ich blieb neben ihm stehen und schaute mir die Auslagen an. Da waren lauter kleine Körper aus Plastik – ohne Kopf und ohne Arme – an deren Hälsen Ketten hingen. Ring steckten auf samtenen Kissen und Armbänder an den Handgelenken, körperloser Puppen. „Das weiß ich nicht, ich kenne sie ja kaum.“ Genaugenommen kannte ich sie überhaupt nicht. Ich sah sie zwar regelmäßig und hatte sogar schon mit ihr an einem Tisch gesessen, aber noch nie auch nur ein Wort mit ihr gewechselt. Olive wirkte immer so … unzugänglich. Wobei ich vermutlich auch nicht mehr kontakt mit ihr hätte, wenn Olive normal wäre. Ich hielt mich schließlich von allem, so gut es eben ging, fern. „Direkt nach der Geburt, wird man ihr die Kinder wegnehmen.“

Er warf mir einen kurzen Blick zu, als fragte er sich, woher dieser Gedanke so plötzlich gekommen war. „Ja. Sie ist nicht in der Lage, sich um ein Baby zu kümmern.“

„Das ist das Schlimmste, was man einer Mutter antun kann.“

Durch die Brille konnte ich den Ausdruck in seinem Gesicht nicht richtig entziffern. „Es ist nötig, um das Kind zu schützen.“ Es klang nicht wie eine Rechtfertigung, sondern wie eine schlichte Tatsache. „Man hat versucht, ihr die Kinder zu lassen. Ich selber habe die ersten Wochen meines Lebens bei ihr gelebt. Aber sie kam selbst mit der Hilfe der Pfleger, nicht mit uns zurecht. Ihr Verständnis, um ein Kind aufzuziehen, reicht nicht aus, da sie selber wie ein Kind ist.“

Da konnte man sie nur beglückwünschen, dass dies ihre letzte Schwangerschaft sein würde. Dann müsste sie das zum Glück nie wieder durchmachen. „Wir sollten weiter gehen.“ Ich wollte nicht länger daran denken.

„Ist alles in Ordnung?“ Er hob die Hand, als wollte er mich berühren, besann sich dann aber eines Besseren und steckte sie stattdessen in die Tasche seiner Jacke.

„Mir geht es gut.“

„Wenn du es sagst.“ Er schien mir nicht zu glauben, war sich aber nicht sicher, was diesen Stimmungswechsel bei mir bewirkt hatte. Wie auch, war er doch in diesem verdrehten System aufgewachsen.

Er setzte sich leichtfüßig in Bewegung und schlenderte er neben mir her. „Komm“, sagte er nur. „Es ist nicht mehr weit.“

Das würde ich ihm dann wohl einfach glauben müssen.

„Und, was hast du in den letzten Tagen sonst noch so gemacht?“, fragte er, als wollte er das Gespräch wieder zum Laufen bringen.

Ich zuckte nur die Schultern und konzentrierte mich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. „Carry hat ein paar Assistenten für mich rekrutiert, von denen ich mir einen aussuchen soll.“ Ja, diese Gespräche würden mir wohl auch nicht so schnell aus dem Kopf gehen. Da ich nicht wirklich gewusst hatte, was ich fragen sollte, einfach weil ich bald hier weg sein würde und sie dann nicht mehr brauchen würde, waren die Gespräche sehr denkwürdig gewesen. Die erste Frau war noch wortkarger gewesen als ich, weswegen wir uns die meiste Zeit eigentlich nur angeschwiegen hatten. Die zweite Frau hatte gar nicht mehr aufhören wollen zu reden, sodass ich das Gespräch irgendwann beendet hatte, weil ich von ihrem Geplapper Kopfschmerzen bekommen hatte. Das dritte Gespräch, das mit dem Mann, war wohl noch am produktivsten gewesen, wobei der Kerl mir wie eine versteckte Glucke vorgekommen war. Alles kein gutes Material.

„Ist denn jemand dabei, den du magst?“

„Ich weiß nicht, keine Ahnung.“

„Lass dich bei deiner Entscheidung bloß nicht drängen.“ Er stupste mich leicht mit dem Arm an. „Komm, gleich um die Ecke ist unser Ziel.“

Gleich um die Ecke, stellte sich als das farbenfrohe Geschäft voller Naschereien heraus, bei dem ich Sawyer das erste Mal über den Weg gelaufen war. Obwohl, in ihn hineingelaufen, wohl eher passte.

„Eine Confiserie“, erklärte Killian, während er mir die Tür offenhielt und mich damit ins Regenbogenland einlud.

Carrie huschte wie ein düsterer Schatten hinter uns in den Laden und machte uns mit ihren Blicken sehr deutlich, was sie von meiner spontanen Planänderung hielt.

Bunte Glasregale, vom Boden bis zur Decke gefüllt mit Zuckerwerk, Pralinen und Figuren komplett aus Schokolade. Zuckerdrops, Honigbonbons, Kekse und … Konfekt – was im Grunde nichts anderes war, als kleine süße Happen.

Fein säuberlich, in edlen Hüllen ausgestellt, lagen sie in einer Vitrine, die zeitgleich auch als Tresen diente. Eine füllige Frau, deren Haare genauso bunt waren, wie die Vielfalt ihres Angebots, lächelte uns freundlich entgegen.

„Killian!“ Für so eine Frau, klang ihre Stimme ziemlich hoch. „Dich habe ich ja ewig nicht gesehen.“

„Wenn ich hier zu oft auftauche“, schäkerte er und tätschelte seinen Bauch, „dann schlägt mir das nur auf die Hüften.“

„Ach du nun wieder“, lachte sie und machte eine wegwerfende Handbewegung.

Ich ignorierte die Plänkeleien zwischen den beiden und auch wie Killian begann, eine Bestellung für seine Mutter aufzugeben, der die füllige Frau gerne nachkam. Stattdessen konzentrierte ich mich auf das Angebot in der Glasvitrine. Da waren unförmige kleine Klumpen mit hellen Verzierungen und Streuseln. Kleine Waffeln mit einem Schokoladenhut und runde Kugeln mit einer Nuss als Zierde. Doch mein Interesse galt einem kleinen Kunstwerk ganz m Ende der Vitrine. Dort lagen mehrere weiße Pralinen, die mit geschwungenen Blüten aus dunkler Schokolade verziert waren. Und in der Seite jeder Praline steckte noch ein kleines Schokoladenblatt. Sie sahen hübsch aus.

„Möchtest du auch etwas haben?“

Ich zuckte nicht nur zusammen, nein, es war schon ein kleiner Hüpfer, so dicht war Killians Stimme plötzlich an meinem Ohr.

Ich funkelte ihn vorwurfsvoll an.

Er lächelte nur. „Und, gefällt dir etwas davon?“

Mein Blick glitt wieder zu den sechs kleinen Pralinen, aber ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich will nichts.“ Wirklich nicht. Diese Pralinen fand ich überhaupt nicht faszinierend. Es war mir auch egal, dass sie wunderschön waren. Und dass sie wahrscheinlich toll schmecken würden.

Killian schmunzelte und wandte sich wieder der Verkäuferin zu. „Gib mir auch noch deine Sonderkreation. Aber bitte in einer separaten Schachtel.“

Die Verkäuferin kam seinem Wunsch sofort nach und ich musste zusehen, wie die Pralinen, die mich überhaupt nicht interessierten, in einer kleinen, goldenen Schachtel verschwanden. Ich verbot mir meine Enttäuschung – besonders da ich sie nicht einmal verstand. Wenn ich sie nicht haben wollte, dann stand es Killian schließlich frei, sie seiner Mutter zu kaufen. Olive würde sich sicher darüber freuen.

Plötzlich schlecht gelaunt, wandte ich mich von Tresen ab, nur um Carries Blick zu begegnen. Eine düstere Wolke schien über ihr zu hängen, in jedem Atemzug Missbilligung, über ihre gescheiterten Pläne. Ab sofort gehörte Killian wohl nicht mehr zu ihren Lieblingen.

Mit einem „Hier“ riss Killian mich aus meinen Gedanken. Die kleine goldene Schachtel tauchte direkt vor meiner Nase auf. „Als Dankeschön für deine Begleitung.“

Überrascht schaute ich die Schachtel an. Er hatte sie für mich gekauft, nicht für seine Mutter. Er hatte gesehen, dass ich sie haben wollte.

Meine Hand zuckte zu der kleinen Box, doch ich riss mich zusammen und trat einen Schritt von ihm zurück. „Ich habe dir doch gesagt, ich will sie nicht.“

„Ich weiß.“ Er nahm meine Hand und als ich sie wegziehen wollte, hielt er sie einfach etwas fester. Dann legte er die Schachtel hinein und schloss meine Finger darum. „Aber ich möchte mich bei dir bedanken und es sehr unhöflich ein Geschenk abzulehnen, nur weil man ein kleiner Sturschädel ist.“ Er ließ meine Hand wieder los. Die Schachtel blieb darin liegen.

Mir lag sofort etwas auf der Zunge, etwas über Höflichkeit und Gefangenschaft, aber irgendwie wollten diese Worte einfach nicht über meine Lippen. Stattdessen schlossen meine Finger sich fester um das Geschenk. Ich wusste nicht warum, aber ich wollte diese Pralinen wirklich. Auf ein Danke konnte er allerdings lange warten und das schien er auch zu wissen.

Er lächelte nur und wich ein Stück vor mir zurück. „Wollen wir dann?“

Irritiert riss ich mein Blick von der Schachtel los und schaute stattdessen ihn an. „Wollen?“

„Ich habe doch gesagt, wir können danach noch ein Eis essen gehen.“ Er hielt mir den Arm hin, als verspürte ich den Wunsch, mich bei ihm einzuhaken. „Oder auch etwas anderes, wenn dir das lieber ist.“

Von der Bitte an sich verunsichert, fragte ich das Erste, was mir in den Sinn kam, ohne seinen Arm zu auch nur eines Blickes zu würdigen. „Warum sollte ich Eis essen wollen?“ Das war kalt und völlig geschmacklos. „Davon klirren mir doch nur die Zähne.“

Eine kleine Falte bildete sich auf seiner Stirn, bevor sich sein ganzes Gesicht aufhellte. „Kein normales Eis, Speiseeis. Es ist lecker und man isst es an warmen Tagen.“

Ich schaute zu Carrie, doch von ihrer Seite würde ich im Moment keine Hilfe bekommen.

„Versuch es doch einfach mal. Manchmal ist es gar nicht so schlecht, mal etwas Neues auszuprobieren.“ Er musterte mich nachdenklich. „Oder hast du etwa Angst davor?“

„Natürlich habe ich keine Angst davor.“ Ich drehte ihm den Rücken zu und marschierte zur Tür hinaus. „Lass und gehen, ich will jetzt ein Eis.“ Angst vor einer Speise. Ich hatte nicht mal Angst vor lebender Beute, bevor sie auf meinem Teller landete. Warum sollte ich da Angst vor ein bisschen Eis haben?

Erst als wir uns mit meinem Wachhund auf den Fersen ein paar Meter von dem Laden entfernt hatten, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich blieb abrupt stehen und funkelte ihn an. „Du hast mich manipuliert.“

Ein breites Lächeln. „Und du hast bereits zugestimmt mit mir etwas essen zu gehen. Also komm, es ist nicht weit.“

Einfach aus Prinzip hätte ich ihn jetzt stehen lassen sollen und meiner Wege ziehen, doch irgendwie konnte ich ihm nicht böse sein – nicht wirklich. Und das fand ich äußerst seltsam. Warum störte es mich nicht von ihm reingelegt worden zu sein? Weil keine boshafte Absicht dahinter gelegen hatte? Weil ich ihn … mochte? Nein, dieser Gedanke war viel zu abwegig, deswegen schob ich ihn auch ganz schnell von mir. Killian war ein Städter und auch wenn er irgendwie nett war, würde er immer ein Städter bleiben.

Auf unserem Weg kamen wir an ein paar weiteren Geschäften vorbei. Ein Restaurant mit gestreifter Palisade, ein Schönheitssalon mit goldenen Veredelungen an dem Schriftzug und ein Friseur, in dem reger Betrieb herrschte. Weiter hinten konnte ich sogar das Bistro von Finn sehen. Zum Glück kamen wir jedoch nicht daran vorbei, denn unser Ziel erreichten wir ein Stück vorher.

Vor uns ragte ein blaues Geschäft mit großen Schaufenstern auf, die mit Bildern von … nein, das konnte nicht stimmen. In meinen Augen sah es sah aus, wie bunte Häufchen in Waffelröllchen. Aber nicht mal die Städter konnten so widerlich sein, dass sie Exkremente verspeisten.

„Komm.“ Wie schon in dem anderen Geschäft, hielt Killian mir die Tür auf und wartete bis ich eingetreten war, bevor er mir folgte. Carrie dagegen überließ er sich selber. Im Grunde tat er schon die ganze Zeit so, als wäre sie gar nicht anwesend.

Ich wurde von einer Geräuschkulisse aus lauten Gesprächen, freudigen Kindern und herzhaften Lachen empfangen. Überall saßen Gruppen und Pärchen, Kinder und Mütter herum und schienen alle ein und dieselbe Speise in verschiedenen Ausführungen zu essen.

Während Killian mich zum Tresen führte, an dem mehrere Angestellte die Kunden bedienten, glitt mein Blick neugierig von einem Tisch zum anderen. Das war also Eis. Mit einem zugefrorenen See im Winter, oder Eiszapfen hatte es nicht zu tun.

„Es gibt verschiedene Geschmacksrichtungen“, erklärte Killian und reihte sich mit mir hinter einer älteren Frau mit krummen Rücken ein. „Standard sind Schoko, Erdbeere und Vanille. Aber es gibt auch Banane, Zitrone oder Orange – und noch ein paar andere. Gibt es denn etwas, dass du besonders gerne isst?“

Ja gab es, und er hatte es bereits aufgezählt, doch wie immer, wenn ich etwas von mir preisgeben sollte – und sei es auch nur so eine Kleinigkeit – dann sträubte sich tief in mir drinnen etwas dagegen.

„Also ich mag ja Stracciatella am liebsten.“

„Ähm … ich habe absolut keine Ahnung, was das sein könnte.“

„Keine Sorge, du wirst es gleich sehen. Und wenn du nett zu mir bist, dann darfst du vielleicht auch mal probieren.“

Dafür bekam er ein Schnauben. Trotzdem konnte ich spüren, wie meine Mundwinkel zuckten.

Was war heute nur mit mir los?

Da die alte Frau vor uns nun fertig war und sich schwerfällig aus der Reihe entfernte, musste ich diese Frage nicht sofort klären.

„Hallo“, sagte ein junger Mann mit Schürze zu uns. Sein Haar war etwas länger und zu grünen Stacheln auf den Kopf getürmt. Das sah einfach nur albern aus. „Was darf es sein?“

Vor mir eröffnete sich eine lange Vitrine mit silbernen Behältern, die alle mir einer cremigen Substanz in diversen Farben gefüllt war. Rosa, gelb, weiß, weiß mit Punkten.

„Kismet?“

Ich schaute ratlos von der Auswahl zu ihm.

„Was magst du am liebsten? Deine Lieblingsfrucht.“

Ach, was konnte er mit dieser Information schon groß anfangen. „Ich liebe Erdbeeren.“ Ich zog sie sogar selber. Jeden Frühling setzte ich kleine Zöglinge und pflegte sie bis sie große, reife Früchte trugen. Diese Süße, mit dem leicht säuerlichen Nachgeschmack … und die Farbe. Ich liebte Erdbeeren einfach.

„In Ordnung.“ Lächelnd wandte Killian sich dem Verkäufer zu. „Dann für die Dame ein Erdbeerbecher mit allen Schikanen und ich nehme einen Krokant-Becher mit Stracciatella.“

„Kommt sofort.“

Der Mann begann damit zwei große Glasbecher hervorzuholen und dann konnte ich dabei zusehen, wie er das Eis mit einem seltsamen Löffel aus den Behältern kratzte und die Kugeln in die Becher gab. Darüber wurde ein riesiger Turm Sahne aufgehäuft. Der eine Becher wurde mit Erdbeeren, roter Soße, ein paar Schockostreueln und einer kleinen Waffel ergänzt. Der andere mit Nussstreuseln, einer hellbraunen Soße und … einer kleinen Waffel.

Killian erledigte den Geschäftlichen Teil und drückte mir meinen Becher, zusammen mit einem Löffel, in die Hand, der auch fast noch herunterfiel, weil ich ja noch immer die Schachtel mit dem Konfekt festhielt. Dann nahm er sich sein eigenes Eis und führte mich in der Nähe der Tür zu einem freien Tisch am Fenster. Carrie saß nicht weit von uns entfernt und hatte die Nase wieder tief in ihrem Screen vergraben.

Was nur war an diesem Gerät so interessant, dass sie es nie aus den Händen legte?

Sobald wir saßen, steckte Killian seinen Löffel in das Eis und nahm ein kleines Häufchen Sahne auf. „Ich hoffe es schmeckt dir.“

Das hoffte ich auch, aber im Moment irritierte mich der Löffel ein wenig. Wozu war der so lang?

Als Hätte Killian meine Gedanken gelesen, sagte er: „Damit du bis unten an den Becher kommst, ohne dir die Hände schmutzig zu machen.“

Das ergab natürlich Sinn. „Ihr habt wohl für jedes Problem eine Lösung parat.“

„Nein, leider nicht für jedes, aber wir arbeiten daran.“ Er ließ seinen ersten Löffel in seinem Mund verschwinden und verzog genießerisch das Gesicht. „Hmm, lecker.“

Nein, so wie er das sagte, schaffte ich es einfach nicht, mir mein kleines Lächeln zu verkneifen. Und leider musste ich mir auch eingestehen, dass ich den Nachmittag mit ihm genoss. Killian hatte etwas an sich, dem man nicht widerstehen konnte. Es war seine freundliche und ungezwungene Art, die Tatsache, dass er mich wie eine Gleichgestellte behandelte und nicht versuchte mir etwas aufzuzwingen. Und auch das Lächeln, das ihm kleine Grübchen in die Mundwinkel zauberte. Diese Grübchen waren wirklich niedlich.

Ich hatte bisher gar nicht gewusst, wie niedlich Grübchen sein konnten und vor allen Dingen nicht, dass sie mir gefielen.

„Habe ich was an der Nase?“

Vor Schreck ließ ich fast meinen Löffel fallen. „Was?“

„Du starrt mich seit einer geschlagenen Minute an.“

Ich hatte ihn doch nicht … oh Gaia, ich hatte doch! „Ich … ich habe nur etwas überlegt.“ Hastig machte ich mich über mein Eis her und trat mir innerlich in den Hintern. Warum bei Gaias Zorn, hatte ich das getan. Und nicht nur das, ich hatte auch noch darüber nachgedacht, was mir an ihm gefiel.

Er ist ein Städter!, rief ich mich zur Ordnung, also reiß dich gefälligst zusammen.

Wenn ich wüsste, wie das ginge, hätte ich sicher einige Probleme weniger.

Seufz.

Ich klaubte mir eine Erdbeere vom Eis und schob sie mir mit ein wenig Sahne in den Mund. Lecker.

„Und, schmeckt es dir?“

„Ja, sehr.“

„Das freut mich.“ Und er schien seine Worte auch wirklich so zu meinen.

Lass dich nicht einwickeln, er ist der Feind!

Ja ja, schon gut.

„Weißt du bereits, mit wem du nächste Woche zur Elysium-Parade gehst?“

Diese Frage ließ das Eis schwer in meinen Magen sacken. Das war wieder einer der Dinge, an die ich nicht erinnert werden wollte. „Nein, keine Ahnung.“

„Ich würde mich ja anbieten, aber leider habe ich in der Parade bereits einen Posten.“

„So?“, fragte ich wenig begeistert.

„Ja, Kit und ich werden auf unseren Pferden die Kutschen anführen. So habe ich auch einen Blick auf meine Mutter.“

„Dein Pferd.“ Der Gedanke, dass es hier Pferde geben sollte faszinierte mich noch immer.

„Ich werde dich mal mitnehmen, dann kannst du auf Geysir reiten. Das ist sicher etwas ganz anderes, als sich auf den Rücken eines Dromedars zu schwingen.“ Er zögerte einen Moment, als hätte er sich mit seinen Worten zu weit vorgewagt. „Natürlich nur wenn du auch möchtest.“

Es war eine nette Geste, aber schon als er es sagte, glaubte ich nicht daran, dass es geschehen würde. Für mich gab es nur einen Grund, auf die vorderen Ebenen zu gelangen und der hatte ganz sicher nichts mit dem Reiten eines Pferdes zu tun. Deswegen sagte ich nur: „Wir werden sehen.“

Vorerst schien ihm das als Zusage zu reichen. „Wir könnten auch mal etwas anderes unternehmen, wenn du möchtest.“ Er steckte seinen Löffel ganz tief in den Becher hinein. „Hier im Herz gibt es ein großartiges Unterhaltungsprogramm.“

„Aha.“ Was sollte ich auch sonst dazu sagen? Da widmete ich mich doch lieber wieder meiner kleinen Süßspeise.

„In drei Wochen startet im Theater ein neues Stück.“ Auf einmal klang seine Stimme sehr vorsichtig. „Wir könnten es uns anschauen.“

Nicht wenn alles nach Plan liefe. Darum sagte ich nur: „Wir werden sehen.“ Denn in drei Wochen, so hoffte ich, hätte ich Eden schon lange hinter mir gelassen.

„Du musst natürlich nicht mitgehen.“ Er stocherte in seinem Eis herum, als sei es ihm plötzlich peinlich, mich gefragt zu haben. „Es war nur eine Idee.“

„Ich denke, es wäre ratsam, sich nach einer anderen Begleitung umzusehen.“

„Ja, wahrscheinlich.“ Sein Lächeln wirkte auf einmal nicht mehr ganz so fröhlich. „Egal. Lass uns von etwas anderem sprechen.“ Ein kurzes Zögern. „Darf ich fragen, wie … nein, lassen wir das lieber. Erzähl mir von deinem Trotzkopf.“

„Du möchtest etwas über Trotzkopf erfahren?“

„Nur wenn du mir etwas darüber erzählen möchtest.“

Was sollte ich da groß erzählen? „Ich habe ihn gefunden, als er noch ein Baby war. Er hat zwischen ein paar Trümmern in einer Spalte festgesteckt und war halb tot gewesen. Zuerst wollte ich ihn schlachten, aber dann hat Marshall mich davon abgehalten, da er als Reit- und Zugtier viel nützlicher ist.“

„Marshall.“ Sein Mund verzog sich auf eine sehr seltsame Weise. „Du hängst sehr an ihm.“

„Er hat mich aufgenommen und mir viel beigebracht.“ Ich ließ eine weitere Erdbeere in meinen Mund verschwinden. Hmm.

Killian machte den Mund auf, als läge ihm etwas auf der Zunge, schloss ihn aber sofort wieder.

„Was?“, fragte ich.

Er lächelte schwach. „Ich muss gestehen, ich bin furchtbar neugierig auf den Mann, der dich so beeindruckt hat, dass dein Leben so von ihm geprägt ist, aber ich fürchte, wenn ich dir Fragen über ihn stelle, wirst du sie mir einerseits nicht beantworten und mir andererseits Dinge unterstellen, die nicht der Wahrheit entsprechen.“

„Du meinst Dinge wie, dass du seinen Aufenthaltsort herausbekommen willst, um ihn nach Eden zu bringen.“

„Genau.“ Sein Löffel kratzte über den Boden seines Bechers. „Aus deiner Perspektive betrachtet, würde ich vermutlich auch hinter jedem freundlichen Wort eine List vermuten und genauso reagieren wie du, aber – naja – ich bin eben neugierig.“

Killian sollte so reagieren wie ich? Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Andererseits, wäre seine Heimat irgendwo dort draußen, wäre er auch ein ganz anderer Mensch geworden – oder schon längst tot. „Was genau möchtest du denn wissen?“ Die Frage klang beinahe unbeteiligt, aber ich war mir sehr bewusst, was sie für Folgen haben konnte. Außerdem konnte ich ja über Marshall sprechen, ohne allzu viel preis zu geben. Und es tat gut seinen Namen zu hören. Ich vermisste ihn furchtbar.

Killian betrachte mich nachdenklich. „In Ordnung, ich mache dir einen Vorschlag. Ich stelle dir Fragen unter zwei Bedingungen.“

Sein Ernst? Er wollte etwas von mir wissen und stellte dann auch noch Bedingungen? „Und die wären?“

„Erstens, egal was ich frage, sei deswegen nichts sauer.“

„Hm, ich glaube nicht, dass ich dir das versprechen kann.“

„Versuch es wenigstens. Und zweitens: Wenn du eine Frage nicht beantworten willst, dann schweig einfach und lüg mich nicht an.“

Ihn nicht anlügen? Wie käme ich denn dazu? „Ich werde dir nichts dergleichen versprechen. Wenn du etwas wissen möchtest, dann frag. Du wirst ja sehen, ob ich dir darauf antworte.“

Das war nicht unbedingt das, was er hatte hören wollen, weswegen er wohl auch zögerte, oder einfach gründlich überlegte. Aber dann stellte er doch seine Frage. „Wie hast du ihn kennengelernt?“

Da war alles was er wissen wollte? Nun gut, eigentlich war allein das Wissen darum, dass er existierte schon zu viel. Aber Killian hatte diese Information schon sehr lange und soweit ich wusste, war sie die ganze Zeit zwischen uns geblieben. „Er war in den Ruinen unterwegs, um nach Metall zu suchen, damit er sein … seine Hütte ausbessern konnte.“ Beinahe hätte ich Flugzeug gesagt. Das hätte dann doch zu viel verraten. „Da entdeckte er Nikita, versteckt in einem alten Keller. Ich war nicht da, weil ich gerade unterwegs war um essen zu besorgen. Wurzeln, Kräuter, ein paar Käfer. Ich habe Nikita in dem Keller gelassen, weil es zu anstrengend war, sie immer mitzunehmen. Sie war damals gerade mal fünf und ich selber erst zwölf.“ Ich stocherte in meinem Eis herum, bis sich daraus langsam eine sämige Creme bildete. „Als ich vom Sammeln zurückkam, hockte Marshall direkt vor Nikita und gab ihr gerade Wasser aus seiner Flasche. Sein Anblick hat mich so sehr erschreckt, dass ich direkt mit meiner Machete auf ihn losgegangen bin.“

Killian versuchte sich sein Grinsen zu verkneifen, doch es gelang ihm nicht recht. „Du bist wohl die einzige Person die ich kenne, die, anstatt das Weite zu suchen, wenn sie Angst hat, auf Konfrontation geht.“

Ich funkelte ihn böse an. „Er war ein fremder Mann und Nikita die Einzige, die ich noch hatte. Natürlich bin ich auf ihn losgegangen.“

„Aber nicht sehr erfolgreich, möchte ich meinen.“ Wieder versuchte er angestrengt sein Schmunzeln unter Kontrolle zu bekommen – ohne Erfolg. „Tut mir leid“, sagte er dann hastig. „Ich stelle es mir nur lustig vor, wie du als kleines Kind mit einem Kriegerschrei auf einen erwachsenen Mann losgehst.“

Wenn er es so ausdrückte, dann musste ich selber schmunzeln, obwohl ich mich damals nicht mehr unbedingt als kleines Kind bezeichnen hätte. Mit zwölf Jahren war man nicht mehr so klein. „Marshall fand das nicht so lustig, denn ich hätte ihm mit meiner Machete fast den Arm abgekackt.“

Jetzt schaute er verblüfft. „Hoffentlich komme ich niemals in den Genuss dich zu verärgern.“

Ich konnte gar nicht anders als zu schmunzeln. „Das hoffe ich auch.“

Einen Moment schaute er mich nur an, dann erwiderte er mein Lächeln vorsichtig. „Und was ist weiter passiert? Das war sicher noch nicht das Ende der Geschichte.“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn angeschrienen, dass er von Nikita weggehen soll, während ich mit erhobener Waffe auf ihn losgegangen bin. Ich denke, deswegen wurde er so schnell auf mich aufmerksam. Kurz bevor ich bei ihm war, schlug er mir meine Machete aus der Hand und versetzte mir eine Ohrfeige, die mich zu Boden warf. Dann nahm er meine Machete an sich und sagte, dass ich sie erst wiederbekommen würde, wenn ich wüsste, wie man damit richtig umgeht.“

Das Lächeln war aus Killians Gesicht gewichen. „Er hat dich geschlagen?“

Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. Zwar hatte es damals unheimlich wehgetan, aber ernstlich verletzt war nur mein Ego gewesen. „Was hätte er denn sonst tun sollen, um mich möglichst schnell und in einem Stück, auszuschalten, ohne dabei ein Körperteil einzubüßen, das er vielleicht noch mal gebrauchen könnte?“

„Da hätte es sicher noch andere Möglichkeiten gegeben.“

„Vielleicht“, erwiderte ich ein wenig verdrossen. Es gefiel mit nicht, dass er Marshall kritisierte, dazu hatte er kein Recht. „Auf jeden Fall fragte er mich dann nach meinen Eltern, oder anderen Erwachsenen, mit denen wir unterwegs waren und ich dachte mir schnell eine Geschichte aus, von wegen, die sind nur Essen holen gegangen und wir sind eine riesige Gruppe, weswegen er schnellstmöglich das Weite suchen sollte. Er hat es mir nicht abgekauft.“

„Weil du so eine ausgesprochen gute Lügnerin bist.“

„Unter anderem.“ Ich lächelte und ließ einen Löffel meines fast flüssigen Eises in meinen Mund verschwinden, bevor ich weitersprach. „Aber ich denke eher, unsere Kleidung war das Problem. Nikitas Hemd war so löchrig, dass es praktisch nicht mehr vorhanden war und meine Kleidung bestand aus einem Tuch, in das ich mich gewickelt hatte. Also beschloss Marshall, sich zu uns zu setzten und auf unsere Eltern zu warten.“ Der Gedanke, wie dieser bärige Mann damals neben Nikita in diesem kleinen Keller gekauert hatte, belustigte mich heute. Damals nicht, da hatte es mich fuchsteufelswild gemacht. „Ich habe ihn immer wieder dazu angehalten, schnellst möglich zu verschwinden, bevor meine Eltern kommen und ihn töten würden, aber er blieb stundenlang mit uns in diesem Keller. Irgendwann bin ich einfach eingeschlafen und als ich wieder aufwachte, war es bereits morgen gewesen.“

„Und er war immer noch da.“

Ich nickte. „Und nicht nur das, er gab uns sogar etwas zu essen. Danach nahm er Nikita auf den Arm und trug sie aus dem Keller. Natürlich bin ich sofort hinter ihm her und habe ihn beschimpft, damit er sie wieder loslässt, aber er sagte nur, er werde sie nun mitnehmen und sich um sie kümmern. Er würde sich auch freuen, wenn ich ihn begleiten würde, aber mich könne er nicht zwingen. Dann kehrte er mir den Rücken und mir blieb gar nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Er hatte nicht nur meine Schwester, er hatte auch die einzige Waffe, die ich besaß.“ Die Machete meines Vaters, das einzige Andenken an meine Eltern, das ich noch besaß und die jetzt irgendwo im Besitz der Tracker war. Wahrscheinlich würde ich sie nie wieder sehen.

„Also bist du sowohl widerwillig, als auch freiwillig mit ihm gegangen.“ Er schmunzelte. „Interessant.“

„Ja, aber dieses widerwillig hat ihm zu Anfang ziemlich große Probleme bereitet. Ich wollte nicht bei ihm und seinen Leuten bleiben, auch wenn ich Azra nett fand und Balic auch irgendwie …“ Vor Schreck unterbrach ich meinen Redefluss so abrupt, dass ich mich beinahe an meinen eigenen Worten verschluckte. Das hatte ich jetzt nicht gesagt. Ich konnte doch wirklich nicht so unglaublich dumm gewesen sein, einem Edener zu erzählen, dass es außer Nikita, Marshall und mir noch andere Menschen gab, mit denen ich zusammenlebte. Bei Gaias Güte, nein, so blöd war ich einfach nicht.

Und doch hingen diese Worte nun zwischen uns. Ich sah es an der Art wie er meinem Blick begegnete. Ruhig, aufmerksam, wissend. Dass ich ihm gerade etwas verraten hatte, was ich unbedingt für mich behalten wollte, war ihm klar, denn er war nicht so dumm wie ich. In diesem Moment glaubte ich sogar, dass es auf der ganzen Welt kein anderes Wesen gab, das so dumm wie ich war.

„Wie hat sich dieses widerwillig den ausgedrückt?“, fragte er ganz gelassen, so als hätte ich ihm nicht gerade eine äußerst brisante Information gegeben.

„Ich glaube ich habe für heute genug gesagt.“ Ich ließ meinen Löffel sinken und erhob mich von meinem Stuhl. Dabei fiel mein Blick auf die goldene Schachtel mit den Pralinen. Am besten ließ ich sie einfach liegen. „Wir sehen uns.“

„Kismet.“ Auch Killian erhob sich eilig von seinem Platz. Er streckte die Hand nach mir aus, doch bevor er mich berühren konnte, überlegte er es sich anders und verstellte mir stattdessen lieber den Weg. Seine Beine waren länger als meine, es fiel ihm also nicht weiter schwer. „Bitte, du musst nicht die Flucht ergreifen, nicht deswegen.“

Ich biss mir auf die Lippe und wich seinem Blick aus. Warum nur wollte ich seinen Worten Glauben schenken?

Weil du dumm bist, nur deswegen!

„Erinnerst du dich daran, was ich während unserer ersten Sitzung zu dir gesagt habe?“

„Du hast ziemlich viel gesagt.“

„Ich spreche von der ärztlichen Schweigepflicht.“ Er beugte sich ein wenig vor, um mir in die Augen schauen zu können. „Das hier ist zwar nicht meine Praxis, aber ich denke, es ist das Beste, wenn wir dieses Abkommen auf all unsere Gespräche ausdehnen.“

Naja, Abkommen konnte man das nun wirklich nicht nennen.

„Ich werde nichts von dem sagen, was du mir erzählst. Niemals.“

Wenn ich das doch nur glauben könnte. Wenn ich doch nur sicher wäre, dass ich mich auf sein Wort verlassen konnte. Oder wenn ich diesem Ort nur endlich entfliehen könnte.

„Verstehst du? Deine Geheimnisse sind bei mir sicher.“

Oh Gaia, was war nur mit mir los? Warum ließ ich ihn nicht einfach stehen und suchte das Weite?

Als er eine Hand nach mir ausstreckte, wich ich vor ihm zurück und stieß gegen unseren Tisch.

Killian wollte etwas sagen, doch dann schloss er den Mund wieder und fixierte einen Punkt hinter mir.

Ich drehte mich herum und schaute direkt in das grinsende Gesicht von Nikita.

„Na, hast du mich vermisst?“

Mit einem Schlag vergaß ich was um mich herum los war, warf einfach nur die Arme um meine kleine Schwester und drückte sie so fest an mich, dass ihre Knochen knirschten.

„Keine … Luft“, beschwerte sie sich und versuchte sich von mir zu befreien.

Meine Augen begannen zu brennen, als ich ihren vertrauten Duft einatmete. „Du bist hier“, murmelte ich ihn ihr Haar und konnte es gar nicht fassen. „Du bist wirklich hier.“

„Ja.“

„Was machst du denn hier? Woher wusstest du, dass ich hier bin?“

„Wegen Carrie. Sie schickt schon seit Tagen Anfragen, ob ich dich besuchen dürfte, doch erst heute habe ich die Erlaubnis bekommen. Sie hat mir auch gesagt, wo ich dich finden kann.“

Ich schaute zu der Frau in der Ecke, die uns beide sehr zufrieden musterte und drückte meine kleine Schwester noch ein wenig fester an mich.

„Du ruinierst meine Frisur“, schimpfte sie und machte sich nun nachdrücklicher von mir los, aber auch in ihren Augen konnte ich Tränen glänzen sehen.

Erst dann nahm ich sie wirklich wahr und das war ein Schock. Ihre Haare hatte sie ja schon vor einer ganzen Weile zu vielen anliegenden Zöpfen flechten lassen, aber nun … sie waren nicht mehr schwarz, sie waren rot. Zumindest am Ansatz. Zu den Spitzen hin wurden sie immer heller, bis sie sich in einem Violett verloren, das bei jeder Bewegung auffällig schillerte. Und erst ihre Kleidung. Sie trug eine gestreifte Hose, die sogar noch enger war als die von Killian. Und das weiße Oberteil war nichts mehr als ein Fetzen Stoff, der ihre Brust bedeckte. Da war sogar ihr Gürtel breiter – und nein, ich übertrieb nicht. Und dann noch ihre Augen, Nikita hatte braune Augen, doch jetzt waren sie genauso rot wie ihr Haar.

Sie sah aus wie … wie ein Städter. „Was ist mit dir passiert?“

„Toll, oder?“ Lächelnd drehte sie sich einmal im Kreis, damit ich sie auch von jeder Seite bewundern konnte. Dabei fiel mir erst der Schmuck auf, der ihre Ohren zierte, genau wie die beiden großen Pflaster an ihren Schultern.

Bevor sie mit ihrer Drehung fertig war, hielt ich sie fest und berührte vorsichtig das eine Pflaster.

„Nicht anfassen“, sagte sie sofort. „Das muss erst noch verheilen.“

„Verheilen?“ Meine Stimme wurde gefährlich leise. Was hatten diese Tyrannen von Eden ihr angetan?

„Ja.“ Sie befreite sich aus meinem Griff. „Ich habe mir gestern zwei Sternenimplantate einsetzen lassen. Hier siehst du?“ Vorsichtig pflückte sie die Ecke des Pflasters ab. Darunter kam eine Erhebung in der Form eines Sterns zutage.

Bei Gaias Zorn, sie hatte ich etwas unter die Haut schieben lassen. Freiwillig!

„Das ist momentan der letzte Renner.“

Ich wusste nicht genau warum, aber ich schaute zu Killian, als könnte er mir diesen Anblick erklären.

Dadurch wurde nun auch Nikita auf ihn aufmerksam. „Hallo Kit.“

„Ich glaube ich muss dich enttäuschen, aber ich bin nicht Kit, ich bin Killian.“ Er streckte ihr die Hand entgegen, die sie sofort ergriff.

„Der Klon.“

Er verzog das Gesicht, als würde ihm diese Bezeichnung Schmerzen bereiten. „Belassen wir es doch lieber bei, der Zwilling.“

„Okay.“ Sie ließ ihre Hand wieder sinken und schaute mich an als wolle sie fragen, was seine Anwesenheit zu bedeuten hatte, doch ich ignorierte sie so gut es ging, weil ich sonst … keine Ahnung, wahrscheinlich würde ich einfach ausrasten. Was hatte Eden nur aus meiner kleinen Schwester gemacht?

„Ich glaube es ist dann jetzt auch an der Zeit für mich zu gehen.“ Killian nickte Nikita zu und wandte sich dann an mich. „Danke für den schönen Nachmittag, es hat mir wirklich viel Spaß gemacht.“ Und dann tat er etwas, auf das ich nie im Leben vorbereitet gewesen wäre und das ich wohl auch nur zuließ, weil Nikita mich so sehr geschockt hatte. Er beugte sich vor und gab mir einen federleichten Kuss auf die Wange. Die Berührung war kaum mehr als ein warmer Hauch und doch begann meine Haut an dieser Stelle zu kribbeln. „Bis bald, Kismet.“

Ich stand stocksteif da und konnte nichts anderes tun, als zuzusehen, wie er den Laden verließ.

„Was war das denn gerade?“, fragte Nikita mit einem äußerst dreckigen Lächeln im Gesicht.

Ja, das wüsste ich allerdings auch gerne.

 

oOo

Kapitel 47

 

„… und dann hat Herr Ritter Trockeneis in das Wasser getan und es hat zu brodeln und zu nebeln angefangen. Das war wie Rauch.“

Ich versuchte Begeisterung für ihre Erzählung aufzubringen – wirklich – doch mit jedem weiteren Wort, das ihren Mund verließ, merkte ich nur umso mehr, wie sehr sie sich von mir entfernt hatte. Nikita liebte Eden und seine Annehmlichkeiten. Alles was ihr geboten wurde, empfing sie mir offenen Armen und merkte dabei gar nicht, wie sehr sie sich veränderte. Das war doch nicht meine kleine Schwester. Nikita entwickelte sich zu … etwas Fremden und das machte mir scheußliche Angst.

„Und dann haben wir … Kiss? Hörst du mir überhaupt zu?“ Nikita beugte sich vor und geriet so in mein Gesichtsfeld. Sie schnipste vor meiner Nase herum, bis ich den Kopf hob. „Hallo-ho, jemand zuhause?“

„Ja, alles in Ordnung. Ich war nur in Gedanken.“

Wir schlenderten durch das Herz von Eden, weit weg von den Geschäften und den ganzen Menschen. Außer uns war hier nur mein permanenter Schatten Carrie, die uns in respektvollem Abstand folgte.

„Vielleicht kannst du deine Depression auf später verschieben, ich darf schließlich nicht ewig bleiben.“

Nein, das durfte sie nicht. Aber viel schlimmer als diesen Gedanken, fand ich einen ganz anderen. Was wäre aus ihr geworden, wenn ich sie das nächste Mal sah? Konnte sie sich noch mehr verändern? Seit meiner Flucht waren gerade mal etwas über eine Woche vergangen, aber schon allein diese kurze Zeit hatte ausgereicht, um aus ihr einen ganz anderen Menschen zu machen.

Als ich immer noch nichts sagte, musterte sie mich. „Scheint dich nicht wirklich zu interessieren.“

„Natürlich interessiert es mich“, widersprach ich sofort und lenkte unsere Schritte Richtung Parkanlage.

„Was ist dann los?“

Abgesehen von ihrem Aussehen und den Sorgen, die mir das bereitete? „Nichts weiter, nur …“ Einen Moment war ich versucht, ihr von Sawyers Plan zu erzählen, doch etwas in mir sperrte sich plötzlich dagegen. Ich hatte noch nie etwas Wichtiges vor meiner kleinen Schwester geheim gehalten, aber auf einmal hatte ich Angst davor sie einzuweihen. Nicht weil ich glaubte, sie würde mich verraten. Ich fürchtete eher, ihr würde aus Versehen etwas herausrutschen und damit selbst diese geringe Chance ruinieren. „Ach nicht so wichtig“, wiegelte ich eilig ab. Nikita würde noch früh genug in alles eingeweiht werden.

Allerdings wollte meine kleine Schwester sich, mit so belanglosen Plattitüden, nicht abwimmeln lassen. „Warum sagst du es mir nicht?“

Weil ich nicht darauf vertraute, dass sie es für sich behalten würde. Diese Erkenntnis schmerzte.

„Ist es wegen der Schwangerschaft und dem Baby?“

Ich wandte ihr das Gesicht zu.

„Das ist es, oder?“, fragte sie vorsichtig und schaute mich dabei direkt an. Die roten Augen fand ich noch immer mehr als irritieren. Es waren Kontaktlinsen, wie sie mir erklärt hatte, doch irgendwie machte es das nicht besser. „Dimitri hat mir erzählt, dass du bei einem der Adams warst.“ Sie zögerte kurz. „Weißt du, ich glaube, dass Tavvin es verstehen würde. Du musst dir deswegen also kleine Vorwürfe machen.“

Dieser Gedankengang überraschte mich so sehr, dass ich einen Moment aus dem Tritt geriet. Sie wusste von mir und Tavvin? Wenn ich ehrlich war, hatte ich seit meiner Gefangennahme durch die Tracker, überhaupt nicht mehr an ihn gedacht – zumindest nicht, dass ich mich erinnern würde. Aber auf keinen Fall hatte ich mich gefragt, was er von dieser ganzen Situation halten würde.

Doch was Nikita gemeint hatte, war etwas ganz anderes. Sie wusste schließlich nicht, dass der Besuch bei Sawyer nur Fassade gewesen war. Sie glaubte, ich hätte das getan, wozu man mich zu ihm geschickt hatte. Und sie schien sich kein bisschen daran zu stören. Das fand ich entsetzlich. „Ich mache mir keine Vorwürfe“, sagte ich leise. Es gab schließlich nichts, dass ich mir vorzuwerfen hatte.

„Das ist nur richtig so.“ Sie hakte sich bei mir unter und legte ihren Kopf an meiner Schulter. „Es ist nichts Schlimmes dabei. Ganz im Gegenteil, es ist ein Geschenk, ein Geschenk an die Menschheit.“

Bei Gias Güte, das hatte sie jetzt nicht gesagt. Eden konnte noch nicht so tief in sie eingedrungen sein. Sie klang ja schon wie … wie einer von ihnen.

Ich presste die Lippen fest aufeinander. „Ein Geschenk, so sagt man.“

Von meinem seltsamen Ton irritiert, schaute sie zu mir hoch und musterte mein Gesicht. „Freust du dich denn nicht?“, fragte sie vorsichtig.

War das ihr Ernst? Langsam erkannte ich sie wirklich nicht wieder.

„Kiss?“

„Was glaubst du?“, stellte ich die Gegenfrage.

„Ich weiß nicht.“ Sie zuckte unbeholfen mit den Schultern. „Also mir gefällt der Gedanke. Du wirst bestimmt eine tolle Mutter sein.“

Meine Schultern spannten sich an. „So, glaubst du?“

„Na klar. Und dann können wir endlich wieder eine richtige Familie sein.“

Das bezweifelte ich doch stark. Davon abgesehen, dass man hier seine Kinder an Fremde abgab, um die Nächsten in die Welt zu setzen, bekamen manche der Frauen so viele auf einmal, dass sie sich gar nicht um sie kümmern konnten. Ich musste nur daran denken, wie Killian mir von den Achtlingen erzählt hatte und schon schauderte es mich. Acht Kinder auf einmal! Ich wusste nicht mal, ob ich mit einem einzigen klarkommen würde.

Allein der Gedanke daran lehrte mich das Fürchten.

Moment, was dachte ich da eigentlich? Ich würde überhaupt kein Kind bekommen! Darauf zielte diese ganze Aktion mit Sawyer doch schließlich ab. Ich wollte mein Leben wieder, meine Freiheit und keine Ketten in Form einer Zuchtstute.

„Das wird sicher Großartig.“ Nikita grinste mich an. „Dann werde ich eine Tante sein und deinen Kleinen so viel Mist beibringen, dass dir graue Haare wachsen.“

Meine Begeisterung über ihre Zukunftspläne hielten sich in Grenzen. „Ich kann es kaum erwarten“, murmelte ich.

„Wann erfährst du denn, ob du nun schwanger bist?“ Sie zog mich nach rechts zu einer grünen Parkbank, die einsam und verlassen unter ein paar Eichen stand. „Kann man das jetzt schon sehen?“

„Ich weiß nicht.“ Das war nicht direkt eine Lüge, schließlich wusste ich nicht, ab wann die Städter eine Schwangerschaft feststellen konnte. Dass ich gar nicht schwanger war, war eine ganz andere Angelegenheit. „Egal, lass uns von etwas anderem Sprechen.“ Das war kein Thema, dass ich näher erörtern wollte. Besonders nicht mit ihr. „Erzähl mir vom Haus der Kinder. Geht es dir dort gut?“

„Aber so was von.“ Schwungvoll wirbelte sie herum und hüpfte dann praktisch auf die Parkbank. „Vormittags ist es manchmal ein wenig anstrengend, aber später, wenn wir Freizeit haben, können wir machen was wir wollen. Cosmo hat mir schon so viel gezeigt.“

„Cosmo, dein Kumpel.“ Ich erinnerte mich, dass sie ihn bereits ein paar Mal erwähnt hatte.

„Ich mag ihn“, gab sie auch prompt zu. Der Ausdruck in ihrem Gesicht war herausfordernd. Aber ich weigerte mich etwas dazu zu sagen, denn wenn ich erstmal anfing, würde ich nicht mehr aufhören können. „Er ist ein netter Junge und ich glaube, er mag mich auch.“

Meine Hand ballte sich zu einer Faust, doch erst als ich den Schmerz spürte, würde mir klar, dass es die verletzte Hand war. Wenn ich so weitermachte, würde die Schnittwunde wohl nie richtig verheilen. „Das ist … toll.“

„Finde ich auch.“ Nikita lehnte sich auf der Bank zurück und beobachtete Carrie, die unweit von uns stehen geblieben war und sich nach einem Sitzplatz umsah. Da hier aber nur die Bank war, seufzte sie nur und lehnte sich dann mit dem Rücken gegen einen Baum. „Freunde sind wichtig“, erklärte sie. „Das sagen sowohl die Betreuer, als auch die Lehrer.“

„Aha.“

„Hast du denn schon jemand gefunden, den du magst?“

„Ich habe eine Spinne in meinem Zimmer. Die ist ganz nett.“ Die belästigte mich nicht und fing auch noch lästige Fliegen ein.

Nikita schaute mich an, als versuchte sie herauszufinden, ob das mein Ernst war. „Sonst niemanden? Was ist mit dem Klon? Er scheint dich zu mögen, oder?“ Sie hielt die Hand mit dem Keychip hoch. „Er war auf jeden Fall ganz vorsichtig, als er mir den neuen Chip eingesetzt hat.“

„Er ist mein Arzt.“ Mehr gab es dazu nicht zu sagen.

„Und der Adam bei dem du warst? Wenigstens den musst du doch mögen. Ich meine … du weißt schon.“ Sie wedelte mit der Hand herum, als würde das alles erklären. „Sowas macht man doch nur mit jemanden, den man mag, oder?“

Nicht hier in Eden, den hier zählte nur das Ergebnis. „Es gibt niemanden, Nikita. Die Menschen hier … sie sind so anders.“ Den letzten Teil fühlte ich mich gezwungen hinzuzufügen. Nicht nur weil Carrie in der Nähe war, auch der Blick meiner Schwester trieb mich dazu.

„Aber das ist nichts Schlechtes“, erklärte Nikita. „Man muss offen für neue Dinge sein, dann klappt das auch. Du wirst schon sehen, Freunde finden ist gar nicht so schwer.“

Oh Gaia, was sollte ich denn mit Freunden? Ich hatte Marshall und Azra und Balic. Und sobald ich hier raus war, würde ich auch niemand anderen brauchen. Aber sie schien überhaupt keinen Gedanken mehr an Flucht zu verlieren. Das war nicht gut.

„Cosmo sagt, man muss nur offen sein, verstehst du?“

„Hmh“, machte ich. „Cosmo ist ein ganz Schlauer.“

Also entweder fiel ihr der Sarkasmus in meine Stimme nicht auf, oder sie ignorierte ihn mit voller Absicht. „Er ist sogar Klassenbester. Sein Bruder … naja, der ist auch ganz nett. Nur seine kleine Schwester, die kann ich nicht leiden, die ist so ein richtiges Biest.“

Also doch nicht alles so rosig im Paradies Eden. „Macht sie dir Probleme?“

„Ach Quatsch.“ Sie winkte ab, als wäre die kleine Miss völlig belanglos. „Sie versucht halt immer zu stänkern, weil ich aus der Altern Welt komme, aber das habe ich im Griff. Und wenn sie nicht aufhört, dann schubse ich sie in einen Kuhfladen.“

Hä? „Kuhfladen?“ War das eine Anspielung auf etwas, das ich nicht verstand, oder meinte sie das wörtlich?

„Na das habe ich dir doch erzählt.“ Als ich sie nur verständnislos anschaute, richtete sie sich ein wenig gerader auf. „Wir nehmen im Moment doch Landwirtschaft durch. Agra und Ernährung. Und im Rahmen dieses Themas, veranstaltet die Schule in Zusammenarbeit mit den Bauern, nächste Woche eine Projektwoche auf Ebene vier. Du weißt schon, um das alles live und in Farbe zu lernen und zu erleben.“

„Live?“

„Das sagt man hier so. Wir schauen uns die Felder und Viehweiden an und reden mit den Bauern. Und natürlich müssen wir auch mithelfen. Das wird bestimmt toll.“

Toll? Zuhause hatte ich sie nicht mal dazu bewegen können, die Beete zu bewässern und hier fand sie die Aussicht auf Arbeit toll? Das war vielleicht das erste Mal, das Eden etwas Gutes bewirkt hatte – natürlich nur, wenn diese Begeisterung für Arbeit auch außerhalb dieser Mauern anhielt. Leider war das nur ein schwacher Trost, wenn man bedachte, wie hoch der Preis dafür war.

„Hallo-ho.“ Nikita wedelte mit der Hand vor meiner Nase herum.

„Hm?“

„Alles okay?“, fragte sie. „Du warst gerade irgendwie weggetreten.“

„Nicht weggetreten, ich habe nur über etwas nachgedacht.“ Allerdings würde ich ihr nicht erläutern, über was genau.

„Kannst du das nicht machen, wenn ich wieder weg bin?“, fragte sie ein wenig missmutig. „Ist ja nicht so, als hätten wir alle Zeit der Welt.“

Das entsprach leider der Wahrheit. „Ich arbeite daran, dass es besser wird.“

„Ja, ich habe schon gehört, dass du mittlerweile versuchst dich einzugliedern.“

Wo bitte hatte sie das gehört?

„Und ich finde das gut. Wirklich.“ Sie beugte sich nach vorne und stützte ihre Ellenbogen auf die Knie. „Weißt du Kiss, vielleicht ist es gar nicht so schlecht, wenn wir einfach hierbleiben. In der Alten Welt hatten wir es nie so gut.“

Oh nein, nicht schon wieder. „Die Ruinen bedeuten Freiheit.“ Ich weigerte mich, die Welt dort draußen als Alte Welt zu bezeichnen. Vielleicht war das nur ein kleiner Widerstand, der für die Leute hier keine große Bedeutung hatte, aber mir bedeutete er etwas.

„Aber was ist unsere Freiheit bei einem solchen Leben schon wert?“ Sie warf mir einen kurzen Seitenblick zu, bevor sie sich auf ihre Stiefelspitzen konzentrierte. „Ich weiß, du möchtest das nicht hören, aber … Kiss, ich möchte gerne hierbleiben.“

Meine Augen weiteten sich kaum merklich. Genau das waren die Worte, vor denen ich mich die ganze Zeit gefürchtet hatte.

Ich wollte ihr sofort ins Gewissen reden und ihr notfalls auch diese Wahnvorstellung vom gesegneten Eden aus dem Kopf prügeln, aber Carrie war so nahe, dass sie jedes Wort verstehen konnte. Wahrscheinlich wollte man es nicht riskieren, dass ich meiner kleinen Schwester weitere Flausen in den Kopf setzte.

„Du scheinst von der Vorstellung noch immer nicht sehr begeistert zu sein.“

Welch weise Erkenntnis. „Ich brauche halt ein wenig länger“, sagte ich leise und war plötzlich heilfroh, dass ich bisher nichts von meinen Plänen erzählt hatte.

Dieser Gedanke war wie ein Schlag ins Gesicht. Jetzt hatte Eden mich so weit gebracht, dass ich Geheimnisse vor meiner kleinen Schwester haben musste.

„Das wird schon.“ Sie tätschelte mir das Knie. „Du musst dich nur ein wenig öffnen.“

Wie sie das sagte … es klang, als hätte ihr ein Fremder die Worte in den Mund gelegt. Eden steckte bereits in ihr drin und bis zu Salias Geburtstag waren es noch sieben Tage. Mir graute es davor zu erfahren, was diese Stadt meiner kleinen Schwester in einer weiteren Woche antun konnte.

„Ah, das habe ich dir noch gar nicht erzählt“, riss sie mich aus meinen düsteren Gedanken. „Cody und Jamina, du weißt schon, das Ehepaar, das mich aufnehmen will, sie haben mich zur Elysium-Parade eingeladen. Sie wollen mit mir zusammen dort hingehen und hinterher wollen sie noch mit mir und ihrem Sohn essen gehen.“

„Das hört sich … toll an.“

„Ja, nicht wahr?“ Sie bemerkte den entsetzten Unterton in meiner Stimme gar nicht. „Wenn die Projektwoche vorbei ist, werde ich zur Probe zwei Wochen bei ihnen wohnen, du weißt schon, damit wir sehen können, ob wir auch zusammenpassen. Und wenn alles gut geht, dann nehmen sie mich anschließend auf.“ Sie strahlte mich so sehr an, dass mir ganz schwer ums Herz wurde und ich mich zum ersten Mal fragen musste, ob ich sie nicht vielleicht schon längst an die Stadt verloren hatte.

 

oOo

Kapitel 48

 

„Es ist an den Schultern zu eng.“

Carrie zupfte an meinem Rocksaum. „Es ist nicht eng, es ist anliegend.“

„Nenn es wie du willst, aber wenn ich die Arme kaum anheben kann, ist es eindeutig zu eng.“

Für diese Wiederworte, bekam ich einen tadelnden Blick. „Sie werden auf einer Parade laufen. Dort gibt es für sie keinen Grund, ihre Arme hochzuheben.“

„Und atmen muss ich wohl auch nicht.“ Ich zupfte an dem hohen Kragen, der meinen kompletten Hals einschloss. Das war ein komisches Gefühl.

„Nun übertreiben sie aber. Und jetzt setzen sie sich endlich auf den Stuhl, damit Sue ihnen ihre Haare und das Gesicht machen kann.“ Ihr Finger zeigte sehr nachdrücklich auf den Frisiertisch in meinem Badezimmer, an dem die kleine Sue, mit dem rosa Haar, so viele Pflegeprodukte aufgebaut hatte, dass man den Tisch darunter gar nicht mehr sah. Und das wollte die mir alles ins Gesicht schmieren? Da könnte ich mir auch gleich einen Kissenbezug über den Kopf ziehen, das hätte wohl denselben Effekt.

„Heute noch, Liebes, wir haben einen strengen Zeitplan.“

„Ja, wäre auch ein Verbrechen, die Kuriositätenshow warten zu lassen.“ Missmutig setzte ich mich auf den Stuhl und stellte dabei ein weiteres Mal fest, wie eng dieses verflixte Kleid war. Wozu hatte ich den stundenlang auf dem kleinen Podest gestanden, wenn sie dann doch etwas schneiderten, was mir nicht passte?

„Das ist keine Kuriositätenshow, das ist das Elysiumfest, mit dem wir die Taten der Evas und Adams ehren. Und da sie eine Eva sind …“

„Ja ja, ich muss da hin, um mich wie eine Kuriosität anstarren zu lassen.“

Carrie schnalzte mit der Zunge. „Ihr seid keine Kuriositäten, ihr seid Wunder, für die wir dankbar sind. Und darum wollen wir euch feiern. Das ist hier eine jährliche Tradition.“

„Wunder ist einfach nur ein anderes Wort dafür“, grummelte ich. Ich würde auf der Parade mitlaufen müssen und mich von allen anstarren lassen. Es würde sein wie damals, als Marshall mit mir zu seiner alten Gruppe gefahren war. Ich wusste gar nicht mehr, warum wie diese lange Reise auf uns genommen hatten, nur dass die beiden Frauen, bei denen wir am Ende gelandet waren, einen Raum voller Merkwürdigkeiten besessen hatten. Dinge aus der Zeit vor der Wende, die zwar faszinierend aussahen, deren Sinn sich uns aber entzogen hatte. Sie waren auch nur noch dazu gedacht, angestarrt zu werden.

Bereits den ganzen Vormittag hatte Carrie ein Tänzchen um mich herum veranstaltet. Erst war da eine Frau gewesen, die sich mit meiner Haut beschäftigte, während eine andere sich meinen Fingernägeln widmete. Gesicht, Augenbrauen, ja selbst mein Dekolletee war gepudert und mit Gold bestäubt worden und ich wusste nicht einmal warum. Von der verdammten Enthaarung wollte ich gar nicht erst anfangen.

Dann war ein Bote mit meinem grünen Kleid gekommen und ich wurde auch direkt hineingestopft. Der Stoff fühlte sich wie Wasser auf meiner Haut an, aber leider bot er nicht genug Platz, um sich manierlich bewegen zu können. Nicht mal der lange Schlitz an der Seite, konnte daran etwas ändern.

Als Sue sich jetzt auch noch über mein Gesicht hermachte, konnte ich mich nicht mal richtig gegen sie wehren. Nicht das ich es versuchte. Zwar hatte ich kein Interesse daran, auf diese Parade zu gehen und mich von den Städtern wie eine Skurrilität für etwas feiern zu lassen, dass ich nicht mal wollte, aber um unseren Plan nicht zu gefährden, musste ich im Moment alles anstandslos über mich ergehen lassen.

Darum hob ich auf Befehl den Kopf und schloss die Augen. Und dann musste ich auch noch die Lippen spitzen, bevor Sue begann, mit einem Stift an meinen Augen rumzumalen.

Als sie dann jedoch eine Sprühflasche in die Hand nahm und damit auf meinem Kopf zielte, wich ich ein wenig zurück. „Nein.“

Die kleine Brünette mit dem Überbiss, zögerte einen Moment. „Das ist nur für die Haare.“

„Ich weiß.“ Und ich wusste auch, dass in diesen komischen Flaschen Farbe drinnen war und ich würde mich auf keinen Fall so kunterbunt einfärben lassen, wie es unter den Städtern Mode war.

Carrie nahm das natürlich gleich wieder zum Anlass, um zu schnalzen. „Jetzt stellen sie sich bitte nicht so an, das ist doch nur ein wenig Glitter.“

„Ist mir egal, wie ihr diese Farbe nennt, ich will das nicht in meinen Haaren.“

„Das ist keine Farbe und sie können es dir Problemlos mit der nächsten Wäsche wieder rauswaschen.“ Sie schien noch etwas sagen zu wollen, doch in dem Moment klopfte es an meiner Zimmertür. „Also benehmen sie sich jetzt“, fügte sie noch hinzu, bevor sie aus dem Badezimmer eilte.

Da sie nun nicht mehr da war, funkelte ich diese Sue an, hielt aber ansonsten still, als sie sich zögernd über meine raspelkurzen Haare her machte.

Glitter. Wozu brauchte ich Glitter? Reichte es denn nicht schon, dass ich in diesem Kleid steckte?

Als Sue dann auch noch den Sprühknopf drückte, wäre ich am liebsten aufgesprungen und weggerannt. Nicht wegen dem Glitter, sondern wegen dem Geruch. Das stank ja bestialisch. Ich hatte das Gefühl, sie würde mir die Nasenschleimhäute wegätzen.

„Oh Gaia“, fluchte ich und begann mit der Hand vor meiner Nase herumzuwedeln.

Aus dem Nebenraum hörte ich Stimmen von mehreren Personen. Es war nur ein gemurmeltes Gespräch, sodass ich kein Wort verstehen konnte und als die Badezimmertür dann aufging, kam Carrie allein herein. Sie hatte sogar super Neuigkeiten für mich – zumindest aus ihrer Perspektive.

„Ihre Begleitung ist gerade eingetroffen“, erklärte sie und stellte sich neben Sue, um ihre Arbeit an meinem Gesicht zu mustern. „Das sieht ziemlich gut aus.“

Sue warf ihr einen beinahe pikierten Blick zu. „Danke“, kam es sehr beißend von ihr.

Natürlich ließ Carrie das wieder mal schnalzen. „Nun fühl dich doch nicht gleich angegriffen, nur weil mir gefällt, was du machst.“

„Dann lass es nicht so klingen, als sei ich eine Anfängerin, die sonst nichts auf die Reihe bekommt.“ Sie drückte mein Kinn ein wenig hoch und begann dann damit, mir mit dünnen Pinseln auf den Lippen herumzumalen.

Würden diese Qualen jemals enden? Die Lippen hatten wird doch bereits hinter uns.

„Wir sind heute aber mal wieder eine kleine Diva“, murmelte sie und trat dann wieder zur Tür. „Wenn du fertig bist, schick Kismet heraus. Wir müssen bald los.“

„Auch das ist mir bewusst.“

Oh je, da war wohl jemand ziemlich gereizt.

Es dauerte noch über eine halbe Stunde, bis ich endlich aufstehen durfte und von Sue vor einen Spiegel gestellt wurde. Und dann konnte ich nur noch staunen. Die Frau die mir entgegenblickte, war wunderschön. Das lange Kleid mit dem Ovalen Ausschnitt über dem Dekolletee, lag wie eine zweite Haut an ihrem Körper und ließ ihre Haut nicht nur dunkler erscheinen, sondern auch strahlen. Der leichte Glitterfilm auf ihrem Haar wirkte nicht aufdringlich, doch das wirklich faszinierende war ihr Gesicht.

Die Augen waren dunkel umrandet und die Haut schien aus feinstem Samt. Die Frau in dem Spiegel, war trotz ihrer Narben eine exotische Schönheit, doch leider erkannte ich mich überhaupt nicht in ihr wieder. Das war nicht ich, das war eine Eva aus Eden.

„Und?“, fragte Sue. „Was sagen sie? Gefällt es ihnen?“

„Nein.“ Es kam gar nicht mal unfreundlich über meine Lippen, es war schlicht eine Antwort.

„Nicht?“ Verwundert begann Sue damit an meinem Kleid zu zupfen. „Warum? Sie sind doch eine Augenweide.“

„Aber ich bin nicht mehr ich“, sagte ich leise und wich vor ihren Fummel-Fingern zurück. Sie hatte wirklich lange genug an mir herumgezupft. „Egal, es lässt sich nicht ändern.“

Dass ich wegen meines Aussehens nicht in Begeisterungsstürme ausbrach, schien Sue ein wenig zu verstimmen, aber das war ihr Problem, nicht meines. Wenn sie mit meiner ehrlichen Antwort nicht umgehen konnte, hätte sie nicht fragen dürfen.

Mit einem letzten Blick auf die Fremde im Spiegel, wandte ich mich ab und ging ins Nebenzimmer, wo Carrie es sich mit einem Gardisten und einem mir unbekannten Mann auf meiner Couch bequem gemacht hatte.

Den Gardisten erkannte ich problemlos an seiner Uniform. Da er aber seinen Helm abgenommen und neben sich auf das Poster gelegt hatte, konnte ich sogar sein Gesicht sehen. Er war schon etwas älter, Mitte fünfzig würde ich schätzen. Seine Augenbrauen waren tief schwarz, wodurch seinem Blick etwas Strenges und Düsteres anhaftete. Seine Haare waren … nicht vorhanden. Er hatte eine Glatze. Dadurch wirkte sein Gesicht irgendwie streng und kantig. Sein ganzer Kopf wirkte irgendwie eckig. Passte aber zum Rest des Körpers.

Der Mann neben ihm steckte in einem grünen Anzug. Auch seine kurzen Haare und der gestutzte Bart waren grün – so ein richtig, saftiges, frühlingsgrün. Seine Nase war ein wenig zu groß für das Gesicht, ansonsten war er ein recht hübscher Kerl. Um die Augen herum, war er geschminkt – natürlich auch grün.

Da ich bezweifelte, am Arm eines uniformierten Gardisten, über die Parade geführt zu werden, war der grüne Mann wohl meine angekündigte Begleitung.

Wahrscheinlich hätte ich es schlimmer treffen können.

„Na endlich“, schimpfte Carrie und lenkte damit die Aufmerksamkeit, der beiden Besucher, auf mich. Vor ihnen auf dem Tisch stand ein kleiner, schwarzer Koffer. „Was hat denn da so lange gedauert?“

„Oh, ich bin bereits seit einer halben Stunde fertig, ich wollte dich nur ärgern und bin deswegen erst jetzt herausgekommen.“

Dass ich daraufhin kein Schnalzen von ihr bekam, wunderte mich wirklich. Stattdessen beließ sie es bei einem genervten Blick und deutete dann auf den Sessel. „Setzen sie sich, wir haben nicht viel Zeit.“

Da ich hier sowieso kein Mitspracherecht hatte, tat ich einfach was sie wollte. Dabei entging mir der intensive Blick des grünen Mannes nicht. Er musterte mich so gründlich, als hätte er noch nie im Leben eine Frau gesehen. „Gibst es einen Grund, warum du mich so anglotzt?“, fragte ich ihn ganz direkt und ließ mich in den Sessel fallen. Dabei spannte das Kleid an den Schultern. Egal was Carrie sagte, es war eindeutig zu eng.

Sein Blick schnellte von meinem Beinschlitz zu meinem Gesicht. „Ich bin nur ein wenig erstaunt. Ich hätte nicht gedacht, dass sie so … hinreißend sein könnten.“

Wie er das sagte, als würde er mich kennen. „Hinreißend? Du meinst wohl unnatürlich.“

Der Mann öffnete den Mund für eine Erwiderung, doch da mischte Carrie sich ein.

„Wenn sie beide das bitte auf später verschieben könnten, sie werden noch genug Zeit haben, sich miteinander zu unterhalten. Jetzt haben wir Wichtigeres zu tun.“

Natürlich. „Ich bin ganz Ohr.“

„Das ist Admiral Luzian Hagen.“ Sie zeigte auf den Glatzkopf. „Er ist der … man könnte sagen, er führt die Garde an.“

Er nickte kurz und knapp, als wollte er sich nicht zu viel bewegen.

„Er ist heute für die Sicherheit auf der Parade zuständig und befugt, sie auszuschalten, wenn die Unsinn machen sollten.“ Ihr Blick war eindringlich.

Verstanden, der Kerl war nicht mein Freund.

„Dante de Vries kennen sie ja bereits. Er wird heute auf der Parade ihre Begleitung sein und …“

„Nein“, sagte ich.

Carrie stutze kurz und fragte dann verärgert. „Was meinen sie mit Nein?“

„Damit meine ich, dass ich ihn nicht kenne.“ Diese grünen Haare wären mir sicher aufgefallen, wenn wir uns schon einmal begegnet wären.

„Natürlich kennen sie ihn. Er ist einer der Gardisten, die ihnen an ihrem ersten Tag in Eden zugeteilt wurden. Er begleitet sie regelmäßig durch das Herz.“

Und da machte es klick. Dieser Dante war mein immer wiederkehrender Schatten. Oder, naja, zumindest einer davon. „Woher sollte ich wissen, dass er das ist? Ich habe ihn noch nie ohne Helm gesehen.“ Und gesprochen hatte ich auch noch nie mit ihm. Nicht dass ich irgendwann einmal das Bedürfnis danach verspürt hatte.

Carrie überging das einfach. Das machte sie ziemlich oft, wenn sie sich mit etwas nicht auseinander setzten wollte. „Wie bereits gesagt, Dante wird sie heute über die Parade begleiten. Sie werden immer in seiner Nähe bleiben, haben sie das verstanden?“

Ich schaute von ihr zu Dante und verzog dann das Gesicht. „Kann ich nicht lieber den anderen haben?“

Der Mann neben Dante, zog die Augenbrauen so fest zusammen, dass er fast gruselig aussah, während der grüne Riese nur belustig schnaubte.

Carrie jedoch ließ mal wieder ihr Schnalzen hören. „Genug jetzt mit ihren Scherzen, wir müssen uns noch um ihren Medi-Reif kümmern, damit sie für die Parade das Herz verlassen können.“

„Ich glückliche“, murmelte ich und lehnte mich in meinem Sitz zurück.

Das überhörte sie ebenfalls und wies Admiral Luzian Hagen an, mit dem Austausch zu beginnen. Was genau sie damit meinte, erfuhr ich bereits in der nächsten Minute, als Luzian den kleinen Koffer zu sich heranzog und ihn aufschnappen ließ. Darin befanden sich ein Screen und zwei grüne Armbänder, die meinem Medi-Reif sehr ähnlich waren. Sie waren nur ein wenig schmaler und mit Ranken bemalt.

„Sie wurden extra für den heutigen Tag angefertigt“, erklärte Carrie mir, als der Admiral ein Kabel in den Screen stecke und damit zu mir herüberkam.

„Geben sie mir bitte ihren Arm“, bat er mich und sobald er hatte, was er wollte, steckte er das lose Ende des Kabels in meinen Medi-Reif. Dann begann er auf dem Screen herumzutippen. In der nächsten Sekunde piepte der Reif. Ein Klicken ertönte und das Ding war offen.

Während ich beobachtete, wie er meinen Reif, gegen einen der grünen austauschte, überlegte ich, dass es schon ein wenig seltsam war, wie oft Männer in meiner Suite saßen. Carrie hatte mir doch erklärt, dass der Turm der Evas für sie tabu war. Agnes musste wohl ganz schön viele Sondergenehmigungen ausstellen.

Sobald sich der neue Reif an mein Handgelenk klammerte, setzte sich Luzian wieder neben Dante und legte ihm den anderen Reif an. „Sie tragen einen ganz normalen Medi-Reif“, erklärte er mir dabei. „Er funktioniert genau wie ihr alter. Dante bekommt die Kontrolleinheit. Solange sie diese Armreife tragen, können sie sich nur zehn Meter voneinander entfernen. Überschreiten sie diese zehn Meter, wird ein Warnton ausgestoßen. Hören sie den, sollten sie sich umgehend wieder in seine Reichweite begeben. Entfernen sie sich jedoch noch weiter von ihm …“

„Lassen sie mich raten. Dann wird der eingebaute Injektor mir ein Schlafmittel spritzen, das mich einfach niederstreckt.“

„Das ist korrekt.“ Er sagte das ohne jede Reue. Diese Städter waren doch wirklich das Letzte.

Jetzt wurde mir auch bewusst, warum man diesen Dante als meinen Begleiter ausgewählt hatte, anstatt mir einen Adam an die Seite zu stellen, wie es bei den anderen Evas Sitte war. Er war ein Gardist, geschult und ausgebildet, um Menschen zu bewachen und war damit wahrscheinlich besser qualifiziert auf mich aufzupassen, als all die anderen Bastarde in dieser Stadt.

„Jetzt will ich erst recht einen anderen Begleiter“, murmelte ich missmutig. Mehrere Stunden mit diesem Kerl an meiner Seite? Da bekam ich doch nur wieder das Bedürfnis, irgendeine Dummheit zu begehen.

 

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Kapitel 49

 

So viele Uniformen, direkt vor meiner Nase und trotzdem völlig unerreichbar für mich. Und das nicht nur, weil in jeder einzelnen von ihnen ein Mensch steckte. Die vielen potentiellen Zuschauer um mich herum, ließen es auch nicht zu, eine Besorgung zu machen, die ich doch so dringend brauchte. Der Versuch, einen von ihnen aus seiner Uniform zu zerren, könnte für unerwünschte Aufmerksamkeit sorgen und das galt es dringend zu vermeiden. Ganz davon abgesehen, hätte meine unerwünschte Begleitung sicher etwas dagegen.

Wir befanden uns direkt vor Tor eins auf dem Herzplatz. Dieser Stück von Eden hieß so, weil es hier den einzigen Zugang zum Herzen von Eden gab. Alle Mauerringe hatten vier Zugänge, einen in jeder Himmelsrichtung, nur nicht das Gefängnis, in das man mich gesteckt hatte.

Direkt an der hohen Mauer entlang, führte ein breite Straße, die den kleinsten der Ringe einmal komplett umschloss. Wie ein Abstandhalter, oder ein Puffer für das Herz von Eden.

Die Pforte ins Heiligtum stand weit offen, da immer wieder Autos vom Fahrdienst herauskamen, um ihre Fracht in Form von Adams und Evas abzuliefern und dann direkt wieder nach drinnen verschwanden. Es wäre wohl einfach zu mühselig, das Tor jedes Mal auf neue zu öffnen und zu schließen.

Der Herzplatz war ein riesiges, offenes Areal, das in der Mitte von der einzigen Zufahrtsstraße ins Herz durchschnitten wurde. Links und rechts von der Straße, eingebettet in den Boden, war jeweils ein eindrucksvolles Mosaik: Der Baum von Eden, ihr Markenzeichen. An beiden Seiten des Platzes, gruppierten sich mehrere Gebäude mit Türmen und Fahnen, die das ganze ein wenig vom Rest der Ebene abschnitten und ihn zu einem eigenen Teil machten. Entlang des Platzes, standen alle paar Meter, ein paar vereinzelte Bäumchen. Sie wirkten ein wenig verloren, hatten man ihnen in dem Steinboden doch gerade mal so viel Platz zugestanden, damit sie existieren konnten. Wahrscheinlich durften sie dort nur stehen, um den Leuten auf den Bänken darunter, etwas Schatten zu spenden.

Der Betrieb, der hier herrschte, war der reinste Wahnsinn – und zwar nicht im guten Sinne. Es war ein heilloses Durcheinander. Stimmen von unzähligen Personen prasselten auf mein Trommelfeld ein und die Leute standen zum Teil so dicht beieinander, dass sie sich praktisch gegenseitig auf die Füße trampelten, wenn sie sich auch nur einen Schritt bewegten.

Wieder einmal konnte ich nur staunen, wie viele Menschen es an diesem Ort gab. Allerdings waren weder Kinder, noch alte Leute dabei. Wenn ich genau darüber nachdachte, hatte ich hier in Eden bis auf Agnes eigentlich noch nie wirklich alte Menschen gesehen – von den Neuankömmlingen im Aufnahmeinstitut einmal abgesehen. Das war schon merkwürdig, wenn ich daran dachte, dass es hauptsächlich die Alten waren, denen man draußen in der freien Welt begegnete.

Und wieder einmal zeigte sich, wie anderes Eden doch war.

Da ich kein Interesse daran hatte, mich ins Getümmel zu werfen, stand ich ein wenig abseits von der Menge im Schatten eines Baumes und beobachtete das Chaos aus sicherer Entfernung.

Dante stand rechts von mir, bei einer kleinen Gruppe von Gardisten und Yards, die, ihm Gegensatz zu ihm, ihre Uniformen trugen. Ein ganzer Schwarm von Aufpassern, die den wertvollsten Schatz der Stadt am heutigen Tage schützen sollten.

Ein lautes Lachen lenkte meine Aufmerksamkeit auf eine andere Gruppe von Leuten. Ein Stück entfernt, in der Nähe des größten Gebäudes auf der rechten Seite der Straße, standen mehrere Evas mit ihren Begleitern an ihrer Seite. Sie alle trugen grüne Kleider und Anzüge, von denen manche wirklich ausgefallen waren. Auch die Gesichtsbemalungen waren recht eindrucksvoll und ließen sie elegant und geheimnisumwittert wirken. So als wären sie aus einer anderen Welt. Und genau wie ich, waren sie alle leicht mit Gold bestäubt.

Eine von diesen Frauen war Celeste. Sie hatte sich bei Sawyer untergehakt. Er schien das einfach nur mit einer genervten Resignation über sich ergehen zu lassen, während sie mit ein paar der anderen Evas schwatzte.

Jetzt, wo ich wusste, wie sehr Sawyer diese Frau verabscheute, bekam dieses Bild eine ganz andere Bedeutung. Die Berührungen gingen immer von ihr aus. Sie war es immer, die seine Aufmerksamkeit suchte und auch sagte, wo es lang ging. Er ließ das alles über sich ergehen, ohne wirklich darauf einzugehen. Das war einfach … falsch. Ob er es nun wollte, oder nicht, in mir regte sich Mitgefühl für ihn. Sowas sollte keiner ertragen müssen.

Aber das war nicht die einzige Gruppe von Evas und Adams. Überall auf dem Herzplatz, waren sie vertreten. Bisher hatte ich gar nicht bemerkt, wie viele es von ihnen eigentlich gab. Wozu brauchten sie mich da überhaupt?

Auch Olive sah ich. Sie saß am Rand auf einer der Bänke, schaute gedankenverloren in den Himmel und summte eine leise Melodie vor sich hin. Ihre beiden Pfleger waren ganz in ihrer Nähe, aber eine Begleitung sah ich bei ihr nicht. Das musste aber nichts bedeuteten, denn hier war so viel los, dass er im Moment auch gut irgendwo anders sein konnte.

Es gab noch ein paar buntdekorierte Festwagen auf der Straße und eine Gruppe von jungen Frauen in seltsamen Kostümen, die immer wieder von links nach rechts hüpften und die Beine hochrissen. Es wirkte fast wie ein Tanz.

Auf der anderen Straßenseite, standen ein paar Leute mit großen … hm, ich war mir nicht ganz sicher, was das für Geräte waren, die sie bei sich trugen. Die großen Teile erinnerten mich an Trommeln und diese verknoteten Metalldinger mit den trichterförmigen Öffnungen … naja, keine Ahnung, wozu die dienten.

Zwischen dem Gedränge liefen die ganze Zeit die Organisatoren herum, machten sich Notizen, riefen Anweisungen und …

„Hallo, Kismet.“

Oh nein. Diese raue Stimme kannte ich und sie rief nicht gerade Euphorie in mir wach. Jósa. Na der hatte mir gerade noch gefehlt. „Lass mich in Ruhe.“

„Aber ich würde mich gerne mit dir unterhalten.“ Der einarmige Mann, mit der tiefen Narbe am Hals, trat in mein Sichtfeld. Er trug einen Anzug, in einem dunklen Olivgrün. Am Kragen waren ein paar Knöpfe offen, wodurch ich sehen konnte, dass er unter dem Hemd irgendeine Körperbemalung verbarg. Sein Gesicht war nur zur Hälfte geschminkt, im Grunde nur ein paar abstrakte Linien und Punkte, aber natürlich in grün.

Seine Augen glitten mit großem Interesse über mein Kleid und blieben für meinen Geschmack, einen Moment zu lange, an meinem Dekolletee hängen. „Mein Kompliment, du siehst heute spektakulär aus.“

„Ich hoffe, du erwartest jetzt nicht, dass ich mich dafür bei dir bedanke.“ Besonders, wo ich nichts lieber getan hätte, als mir diesen Fetzen einfach vom Leib zu reißen und ihn zu verbrennen. Ich mochte dieses beengt Gefühl einfach nicht.

„Nein, aber du könntest wenigstens so viel Anstand besitzen, mich anzuschauen.“

Ich schaffte es nicht, meinen offensichtlichen Widerwillen zu unterdrücken, als ich mich zu ihm herumdrehte. „Was willst du Jósa? Ich brauche keinen Adam.“ Genaugenommen würde ich niemals einen brauchen.

„Nur wenn deine Fekundation erfolgreich war. Falls nicht, werden wir in ungefähr drei Wochen ein paar Tage miteinander verbringen.“

Wie bitte? „Was meinst du damit?“ Nicht dass ich in drei Wochen noch hier sein würde. Zumindest nicht, wenn alles nach Plan verlief. Leider fehlte mir noch ein paar Dinge, die ich dringen brauchte, um Erfolg zu haben.

„Despotin Nazarova hat meinem Gesuch stattgegeben.“

Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, was er damit meinte und dann fiel es mir gar nicht so einfach, meine Lippen auseinander zu bekommen. „Was soll das heißen?“ Meine Stimme war ein halbes Knurren.

„Es heißt, solltest du nicht schwanger sein, werden wir deine nächste fruchtbare Phase zusammen verbringen.“ Er sagte das, als wäre das völlig unbedeutend, doch in seinem Auge war ein Funkeln, das mir nicht gefiel.

Bevor ich reagieren konnte, erklang ein Stück neben mir eine weitere, vertraute Stimme.

„Fahr dein Pheromonspiegel runter, Jósa. Deine Dienste werden vorläufig nicht gebraucht, schließlich war sie bei mir gewesen.“ Mit einem überaus selbstgefälligen Lächeln, baute Sawyer sich neben mir auf. Der grüne Anzug, den er trug, war so dunkel, dass er fast schwarz wirkte. Passend dazu war er mit einem ansprechenden Muster im Gesicht geschminkt, das sich aber nur um das sehende Auge herum befand, so als wollte man das andere nicht auch noch betonen. „Darum wirst du dem Genuss dieser Eva wohl niemals näherkommen, als bis hier her.“

Ähm … ja. Ich machte einen großen Schritt zur Seite. Nur weg von den beiden.

Jósa musterte ihn mit einem milden Lächeln. „Wie kommt es, dass du an deiner Arroganz bis heute noch nicht erstickt bist?“

„Gutes Verdauungssystem.“

„Wenn du nur halb so viel Energie in andere Dinge investieren würdest, als in deine dummen Sprüche, könntest du sogar ein angenehmer Mensch sein.“

„Oh, ich investiere viel Energie in andere Dinge. Frag Kismet.“ Er setzte sich langsam in Bewegung und begann damit Jósa zu umrunden. „Und glaub mir mein Freund, sie hat es als überaus angenehm empfunden.“ Seine Augen lachten mich an, aber ich war mir nicht ganz sicher, wo der Witz versteckt lag.

Jósa schnaubte. „So wie sie eben vor dir zurückgewichen ist, kann ich mir das nur sehr schwer vorstellen.“

„Sie ist nur etwas schüchtern.“ Sawyer blieb rechts von ihm stehen und stand damit direkt zwischen mir und Jósa. „Aber das ändert sich, sobald die Hüllen fallen.“ Er beugte sich zu Jósas Ohr, als wollte er ihm ein Geheimnis anvertrauen. „Dann ist sie eine richtige, kleine Wildkatze.“

Jósas Mund drückte sich kaum merklich zusammen.

„Miau.“ Sawyer lachte.

Ähm … hallo? War ich plötzlich unsichtbar? Vielleicht sollte ich einfach gehen und die beiden allein lassen. Leider war da immer noch dieser verdammte Medi-Reif, der es mir nicht erlaubte, mich allzu weit von hier zu entfernen. Und ich hatte noch weniger Lust, mich zu Dante zu stellen, als mich hier mit diesen beiden Idioten abzugeben.

„Ein Glück für dich, dass schlechte Charakterzüge nicht vererbbar sind“, kam es leise von Jósa.

„Ich finde nicht, dass eine ehrliche Meinung ein schlechter Charakterzug ist.“ Sawyer verschränkte die Arme vor der Brust. „Jedoch eine Frau dazu zwingen zu wollen, mit einem ins Bett zu steigen, egal ob mit oder ohne Zustimmung der Despotin, ist nicht nur eine schlechte Charaktereigenschaft, es ist auch äußerst armselig. Befürchtest du, ohne Zwang, keine abzubekommen?“

Sawyer schien dieses Gespräch einen Heidenspaß zu machen. Jósas Lippen dagegen waren mittlerweile zu einem unwilligen Strich geworden.

„Ich habe noch nie eine Frau zu irgendetwas gezwungen und habe nicht vor, daran etwas zu ändern.“

„Und doch versuchst du Kismet in dein Haus zu holen, obwohl sie dir bereits deutlich gemacht hat, dass sie nicht das kleinste bisschen Interesse an dir hat.“

„Kismet hat an keinem Mann Interesse.“ Jósa richtete seine Aufmerksamkeit auf mich. „Aber mit ein wenig Geduld, lässt sich das ändern.“

Meine Augenbraue wanderte ein Stück nach oben. „Ich denke, da täuschst du dich.“

„Und ich denke, du unterschätzt mich.“ Seine Stimme hatten einen Unterton, der mich nicht recht gefallen wollte. Es war nicht nur das was er sagte, sondern, wie er es sagte. Keine Ahnung was genau es war, aber auf einmal wollte ich die Stadt noch dringender hinter mir lassen, als es sowieso schon mein Wunsch war.

Leider war das im Moment nicht möglich, also tat ich das Einzige, was ich tun konnte. Ich wich demonstrativ vor ihm zurück.

„Das war deutlich.“ Sawyer lachte leise. „Vielleicht solltest du dich doch besser an Frauen halten, die sich an deiner Gegenwart erfreuen, ohne dass eine alte Schabracke sie dafür unter Druck setzten muss.“

Jósas Augen verengten sich ein kleinen wenig. „Du meinst, so wie sie es letzte Woche bei dir getan hat?“, fragte er leise. „Ja, es ist kein Geheimnis, warum die Despotin Kismet persönlich bei dir abgegeben hat.“

Falls Jósa glaubte, Sawyer damit zu überrunden, hatte er sich getäuscht. „Weißt du mein Lieber, du kannst sagen was du willst, du wirst trotzdem in Nachteil bleiben. Es ist völlig egal, was die Nazarova getan oder gesagt hat. Kismet ist freiwillig zu mir gekommen. Sie hat mich ausgesucht und zwar ohne, dass sich ein Außenstehender eingemischt hat. Und sie hat ihre Zeit bei mir genossen.“

Dem konnte ich ganz klar widersprechen. Besonders seine Spielchen hätten mich fast in den Wahnsinn getrieben. Und dann der Kuss … Mist, jetzt musste ich wieder daran denken. Dabei hatte ich ihn die letzten Tage doch so erflogreich verdrängt.

„Das wird sich ändern, sobald sie ihre Alternativen kennenlernt“, erklärte Jósa und wandte sich dann wieder an mich. „Ich wünsche dir viel Spaß auf der Parade. Wir werden uns sicher bald wiedersehen.“ Damit kehrte er uns den Rücken und bewegte sich auf eine Gruppe von mehreren Adams zu, die sich in der Nähe der geparkten Autos am Straßenwand versammelt hatten.

Das nannte man dann wohl einen gekonnten Rückzug.

„Wenn man nicht gewinnen kann, sollte man wenigstens ein guter Verlierer sein.“

Ich drehte mich zu Sawyer herum und musterte ihn kritisch. „Was treibst du hier schon wieder für ein Spielchen?“

„Kein Spielchen. Ich amüsiere mich nur ein wenig. Irgendwie muss man sich ja die Zeit vertreiben.“ Er musterte ich einmal kritisch, blieb kurz an meinen nackten Füßen hängen und schaute mir dann wieder ins Gesicht. „Warum haben sie dir ein Kleid gegeben? So wie du aussiehst, hättest du auch nackt gehen können. Kein Wunder das Jósa gleich die Hose platzt.“

Was bei Gaias Zorn, solle das nun wieder? „Musst du nicht zu deiner Begleitung zurück?“

„Und mir damit deine charmante Gesellschaft entgehen lassen?“ Mit einem Zahnpastalächeln streckte er die Hand aus und tätschelte meinen Bauch. „Außerdem muss ich doch schauen, wie es dem kleinen Sawyer geht.“

Rein instinktiv wollte ich seine Hand wegschlagen, einfach, weil ich mich nicht von ihn anfassen lassen wollte, doch Sawyer fing mein Handgelenk nicht nur ab, er riss mich auch noch zu sich heran, sodass ich gegen seine Brust fiel. Als ich dann versuchte mich von ihm wegzudrücken, schlang er einen Arm um meinen Rücken und presste mich an sich.

Natürlich versuchte ich trotzdem von ihm loszukommen, doch er lachte nur mit diesem spöttischen Zug um die Lippen.

Ich funkelte ihn an. „Was soll das? Lass mich los.“ Sonst würde ich hier gleich einen Aufstand machen, an dessen Ende er mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden liegen würde. Das Einzige was mich bis jetzt daran hinderte, war die große Menge an Zuschauer und die Tatsache, dass ich keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen wollte. Aber das würde mich nicht mehr lange aufhalten.

„Entspann dich.“ Sawyer drehte sich mit mir herum, als wollte er tanzen.

„Bei Gaias Zorn, Sawyer!“

„Ganz ruhig.“ Er beugte sich zu meinem Ohr. „Ich brauche nur einen kleinen Moment deiner ungeteilten Aufmerksamkeit.“

„Warst du es nicht, der gesagt hat, es wäre besser, wenn man uns nicht zusammen sieht?“, zischte ich und versetzte ihn einen Schlag gegen die Brust. Sein Glück, dass es nur eine Warnung war.

„Ja.“ Er beugte sich noch weiter vor und ließ seine Hand auf meinen Unterrücken wandern. Das löste ein komisches Gefühl in mir aus. Leider nicht unangenehm, wie ich zu einer Bestürzung feststellen musste. „Aber ich muss dringen mit dir sprechen.“

„Sprich mit jemand anderem.“

Seine Augenbrauen hoben sich ein wenig. „Ich soll jemand anderem über unsere geplante Flucht sprechen?“

„Schhht!“ Ich warf einen schnellen Blick zu Seite, um mich zu versichern, dass niemand nahe genug war, um das gehört zu haben. „Sprich leiser.“

„Du willst es also ein wenig vertraulicher.“ Er drängte sich ein wenig näher an mich und legte sein Kinn auf meine Schulter, was mich nicht besonders begeisterte. Ich hatte absolut nicht das Bedürfnis, mit Sawyer zu kuscheln und doch hielt ich einfach still und ignorierte die Gefühle, die seine Nähe auslösten. Die Erinnerung an den Kuss, sein Geruch, seine Wärme.

So ein Mist, warum konnte ich das nicht einfach vergessen?

„Hast du schon die ganzen Gardisten dort hinten bemerkt?“, fragte er so leise, dass ich es nur hören konnte, weil seine Lippen direkt an meinem Ohr waren.

Der warme Hauch seines Atems, jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Nicht gut. Kontenzier dich! „Die sind ja wohl schwer zu übersehen.“ Liefen sie hier doch überall herum.

Plötzlich biss er mir aus einem unerfindlichen Grund vorsichtig ins Ohrlämpchen, was nicht nur dafür sorgte, dass sich mein ganzer Körper anspannte.

„Lass das!“

„Nicht aus der Rolle fallen“, raunte er. „Siehst du das große Gebäude dahinten?“ Mit einer leichten Kopfbewegung deutete er nach rechts.

„Du meinst, wo du vorhin gestanden hast?“

Seine Lippen verzogen sich zu einem selbstgefälligen Lächeln. „Du hast mich also beobachtet.“

„Ich habe alle beobachtet.“ Er sollte sich bloß keine Schwachheiten einbilden.

„Rede dir das nur ein und bevor du jetzt anfängst mit mir zu diskutieren, ja, genau dieses Gebäude meine ich. Dort wo das Schild mit der roten Schrift hängt, ist der Eingang. Er liegt ein wenig zurückgesetzt. Nein, schau nicht so auffällig hinüber.“

Wenn ich unauffällig schaute, sah ich aber kein Schild. „Was ist mit dem Eingang?“

Er wirbelte mich herum, bis ich mit dem Rücken zum Baum stand. Leider rückte er mir dabei nicht von der Pelle. „Dort musst du hin.“

Mein verständnisloser Blick ließ ihn wieder einmal überheblich lächeln. Irgendwann würde ich ihm einfach ein paar scheuern.

„Das ist der Eingang zur Kaserne der Gardisten. Dort werden die Gardisten sich am Morgen von Salias Geburtstag versammeln, um einem kleinen Mädchen, ihren allergrößten Herzenswunsch zu erfüllen.“

Mein Herz begann ein ganz kleines bisschen schneller zu schlagen und dieses Mal war nicht Sawyer dafür verantwortlich. „Du meinst, du hast es geschafft?“, fragte ich und versuchte meine Stimme leise zu halten. Doch die Aufregung konnte ich nicht aus ihr verbannen. „Agnes hat zugestimmt?“

„Natürlich“, sagte er selbstgefällig. „Hast du etwa an mir gezweifelt?

„Wenn ich ehrlich bin, ja, habe ich.“ Ich hatte zwar Hoffnung gehabt und mir immer wieder gesagt, dass ich hier bald verschwunden sein würde, aber trotzdem waren da die ganze Zeit Zweifel gewesen, die sich ununterbrochen in mein Hirn gebohrt hatten.

Verdammt, bei allem was Gaia heilig war, er hatte es wirklich geschaffte, die alte Hexe zu überzeugen. Das zu hören … es war, als könnte ich endlich ein wenig freier atmen. Dieses Gewicht auf meiner Brust ließ nach und auch wenn ich noch nicht frei war, so loderte der kleine Funken Hoffnung nun zu einer großen Flamme auf.

„Du solltest ein bisschen mehr Vertrauen in mich haben.“ Seine raue Wange kratzte ganz leicht über meine Haut, als er den Kopf zurückzog. „Da ich meinen Teil erfolgreich erfüllt habe, kommst du nun ins Spiel. Weißt du worauf ich hinaus will, oder muss ich es dir buchstabieren?“

Nein musste er nicht. „Wenn ich Agnes Keychip habe, muss ich herkommen. Zur Kaserne.“ Das hatte er doch gemeint, oder?

„Wusste ich es doch, dass du nicht auf den Kopf gefallen bist.“ Er grinste und kam mir so nahe, dass sich unsere Lippen fast berührten. Ich lehnte den Kopf soweit es ging zurück, aber da ich direkt hinter mir den Baum hatte, brachte das nicht besonders viel. „Und damit kommen wir zum nächsten Thema. Es sind nur noch drei Tage bis zu Salias Geburtstag. Hast du schon die Uniform?“

Mein Schweigen sprach Bände.

„Glaubst du nicht, es ist an der Zeit, dir eine zu besorgen? Es ist zwar nur eine Kleinigkeit, aber doch eine sehr entscheidende. Die Gardisten sind zwar nicht besonders helle, aber ohne die Uniform könnten sie vielleicht doch den Verdacht hegen, dass du keine von ihnen bist. Folglich musst du das hinbekommen, sonst ist der ganze Plan fürn Arsch.“

Nur keinen Druck. „Ich arbeite daran.“ So mehr oder weniger.

„Wir brauchen die Uniform, Baby.“

Nenn mich nicht so! „Dann besorge du sie doch. Ich muss mich schließlich schon um den Keychip kümmern. Und Agnes behält mich viel genauer im Auge als dich.“

Er verzog nachdenklich die Lippen. „Da ist schon was dran, aber dir haben sie doch im Grunde schon alles weggenommen, du hast nichts mehr zu verlieren.“

Wie nett.

„Selbst wenn du richtig Scheiße baust, werden sie dir Nikita früher oder später wieder zurückgeben. Du bist eine Eva. Ich bin nur ein Adam. Wenn sie mir Salia wegnehmen, werde ich nicht mehr ihr Vater sein dürfen. Vielleicht beschließt die Despotin sogar, dass ich ein Risiko für ihre geliebten Evas darstelle und es besser wäre, mich ganz aus dem Programm zu nehmen. Über die Jahre haben sie schließlich genug Gefriersperma von mir bekommen, um damit noch mehrere Generationen problemlos zeugen zu können.“

Da war aber jemand ein richtiger Schwarzseher. „Wie lange hast du für diese kleine Rede geübt?“

Das war mal ein richtig finsterer Blick. „Ich meine es ernst.“

„Na gut, in Ordnung, ich kümmere mich um die Uniform.“ Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie ich das anstellen sollte.

Ein weiterer Wagen vom Fahrdienst fuhr durch Tor eins und hielt ganz in der Nähe am Straßenrand.

Sawyers Grinsen bekam etwas raubtierhaftes. „Gutes Mädchen. Und jetzt stoß mich weg.“

Ähm … was?

„Die Leute sollen doch nicht auf den Gedanken kommen, dass wir beide etwas aushecken und so neugierig wie die hier sind, werden wir beide gerade sicher von allen möglichen Augen beobachtet.“

Ein kurzer Blick in die Runde, bestätigte seine Vermutung. Wir waren zwar nicht der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, aber da waren unter anderem Celest und Jósa, die ein wenig zu genau in unsere Richtung schauten. Genau wie ein paar der Gardisten und die Frau mit dem Klemmbrett, die hier schon die ganze Zeit wie ein aufgescheuchtes Hühnchen hin und her rannte.

„Na los“, forderte er mich erneut auf. „Außer natürlich, du möchtest noch ein wenig knutschen. Das letzte Mal war ausgesprochen ansprechend und ich hätte nichts dagegen, eine zweite Runde einzuläuten. Von mir bekommen die Damen ja nie ...“

Ich stieß ihn so plötzlich von mir, dass er nicht nur ins Stolpern geriet, sondern fast noch auf dem Hintern landete. Nicht wegen dem, was er gesagt hatte, oder weil ich ihm zutraute, mich wirklich zu küssen, sondern weil ich mich vor dem fürchtete, was ich dann tun würde, sollte er seinen Worten Taten folgen lassen.

So vergnügt wie seine Augen funkelten, als er sich wieder aufrichtete und seinen Anzug glattstrich, ahnte er zumindest, was in mir vorging. Oder er war einfach nur ein Bastard.

„Wage es nie wieder mir so nahe zu kommen.“ Nein, das war nicht nur eine Show, für unsere neugierigen Zuschauer. Ich spürte noch immer das Klopfen meines Herzens und das mochte ich nicht. Um seinen Geruch wieder loszuwerden, würde ich vermutlich mindestens dreimal heiß duschen müssen.

Die Wagentür vom Fahrdienst öffnete sich und Tican stieg aus. Er sah mich, verzog säuerlich das Gesicht und hielt seine Hand in den Wagen, um der etwas schwerfälligen Roxy aus dem Auto zu helfen.

Sawyer machte eine spöttische Verbeugung vor mir. „Der Wunsch einer Eva ist mir natürlich Befehl.“

„Wenn das so wäre, wärst du mir gar nicht erst so nahegekommen.“ Ich funkelte ihn an. „Und wenn du noch einmal das Bedürfnis verspürst, mir so auf die Pelle zu rücken, schlage ich dir die Zähne aus.“

Nicht weit entfernt von mir kicherte Roxy. Sie trug ein mintgrünes Kleid, dessen oberer Teil sich eng an ihre Brust schmiegte. Der Rock war aus mehreren Lagen, die in verschiedenen Längen, geisterhaft über ihren Bauch, bis hinunter auf den Boden flossen. Dieser Geisterhaft dünne Stoff legte sich auch diagonal über ihre linke Schulter. Ihre blauen Haare waren mit grünem Glitter eingesprüht, ihre Haut mit goldenem Puder bestäubt und ihr Gesicht auffällig grün geschminkt.

Ihre Augen funkelten belustigt. „Na, musst du mal wieder Ärger machen?“

„Ich habe mich nur ein wenig mit dieser wunderbaren Eva unterhalten“, verteidigte Sawyer sich. „Du siehst übrigens zauberhaft aus.“

Sie strahlte, machte sich von Tican los und kam zu mir hinüber. Tican verzog verstimmt das Gesicht, als sie sich dann auch noch bei mir unterhakte. „Los Jungs, geht spielen und lasst uns allein.“

Nein, nehmt sie mit! Natürlich taten sie das nicht. Sawyer wiederholte nur die spöttische Verbeugung und ging dann mit Tican zurück zu Celeste und den anderen.

„Er scheint immer noch sauer auf mich zu sein“, bemerkte ich mit Blick auf Tican.

Roxy winkte ab, als wäre das uninteressant. „Er ist nur beleidigt, weil du ihm so einen heftigen Korb gegeben hast. Gib ihm ein wenig Zeit, dann wird er sich schon wieder einkriegen.“ Sie zog eine Augenbraue hoch. „Was war da gerade zwischen dir und Sawyer los?“

Als wenn ich ihr das verraten würde. „Nichts.“

Der Wagen vom Fahrdienst, fuhr wieder zurück ins Herz und machte damit einem anderen Auto Platz. Ich kümmerte mich nicht weiter drum.

„Das sah aber nicht nach nichts aus und so wie Celeste gerade versucht, dich mit Blicken zu erdolchen, musst du ein böses, böses Mädchen gewesen sein.“

Ich schaute mich um und tatsächlich, Celestes Augen waren auf mich gerichtet, während sie sich an Sawyer klammerte, als würde sie ihn zum Leben brauchen. „Ich glaube, ihm war einfach langweilig und er wollte mich ein bisschen ärgern.“

Sie nickte verstehend. „Ja, manchmal ist er schon ein … uh, siehst du das?“ Sie zeigte auf den Eingang der Kaserne, aus dem gerade ein wirklicher Riese von einem Mann hinaustrat. „Wow“, sagte sie und ihre Augen begannen zu leuchten. „Da hat aber jemand immer schön artig sein Gemüse aufgegessen. Siehst du dieses Hintern? Der ist zum Hineinbeißen.“ Sie sabberte fast. „Ich glaube, mit diesem Arsch könnte er Nüsse knacken.“

Warum um alles in der Welt, sollte jemand sowas tun?

Durch den Helm und er Uniform, war von dem Mann nicht viel zu sehen, doch wenn ich mich nicht täuschte, erkannte ich diese breiten Schultern und die schmale Hüfte. „Ich glaube, das ist Wolf.“

Roxy war überrascht. „Du kennst ihn?“

Ähm … warum nur hatte ich plötzlich das Gefühl, einen Fehler begangen zu haben? „Wenn es wirklich Wolf ist, dann ja.“

Sie zog mich an ihre Seite und setzte sich in Bewegung.

„Hey“, protestierte ich.

„Du musst mich ihm vorstellen.“

„Moment, nicht so schnell.“ Ich schaute mich nach dem grünen Männchen um. „Dante!“

Der Gardist wurde sofort aufmerksam, runzelte kurz die Stirn, folgte mir dann aber.

Roxy warf zwar einen kurzen Blick über die Schulter, kümmerte sich aber nicht weiter darum. Sie zog mich einfach immer weiter und trat dem Riesen dann so plötzlich in den Weg, dass der sie fast umgerannt hätte. Dann hob sie die Hand zum Gruße. „Hi.“

Durch den Helm, konnte ich sein Gesicht nicht sehen, doch die Kopfbewegung zeigte, dass er erst sie und dann mich anschaute.

Wie nur schaffte ich es immer, in solche Situationen zu kommen? „Wolf?“, fragte ich. Ich glaubte zwar, dass er es war, aber sicher sein konnte ich mir nicht. Doch er nickte.

Roxy gab mir mit dem Ellenbogen, einen auffordernden Stoß in die Rippen. Wäre sie nicht schwanger, hätte ich geschupst.

„Darfst du deinen Helm abnehmen?“ Da er nicht sprechen konnte, wäre eine Unterhaltung so schon schwer, aber wenn ich nicht mal sein Gesicht sehen konnte, wäre eine Unterhaltung mit einer Wand wahrscheinlich aufschlussreicher, als mit ihm.

Er zögerte kurz, fummelte dann aber an der Schnalle unter seinem Kinn herum und zog sich den Helm vom Kopf. Sobald er ihn sich unter den Arm geklemmt hatte, richteten seine schwarzen Augen sich fragend auf mich.

Auf meinen Lippen tauchte ein kleines Lächeln auf. Ich freute mich, ihn zu sehen. „Gut siehst du aus.“

Wieder bekam ich einen Rippenstoß.

Oh Gaia. „Darf ich dir Roxy vorstellen? Sie ist eine Eva.“ Was ein dummer Kommentar war. Sie war hochschwanger, natürlich war sie eine Eva.

Wolf musterte sie und nickte ihr dann zu. Dann warf er einen fragenden Blick zu mir, den ich nur mit einem Schulterzucken beantworten konnte.

„Sie wollte dich kennenlernen.“

Wieder richtete er seinen Blick auf Roxy. Er ließ nicht erkennen, was in seinem Kopf vor sich ging.

Roxy dagegen, schien auf etwas zu warten.

Ah, ja, da hatte ich wohl ein kleines, aber nicht ganz unbedeutendes Detail vergessen. „Er kann nicht sprechen.“

„Waaas?“ Sie schaute erst mich an, dann wieder ihn, als glaubte sie, ich würde sie verulken. „Gar nicht?“

„Er hat keine Zunge“, erklärte ich.

Das musste sie erstmal verdauen. Dann sagte sie. „Das ist ja irgendwie blöd.“

So konnte man es auch bezeichnen.

Ein kurzer Blick zu mir. „Woher kennt ihr beide euch denn?“

Das war ein heikles Thema. „Er kam am gleichen Tag nach Eden, wie ich.“

„Du bist auch ein Streuner?“

Wo eben noch eine milde Neugierde gewesen war, machte sich auf seinem Gesicht nun offene Distanziertheit breit.

„Wir mögen es nicht, als Streuner bezeichnet zu werden“, sagte ich, weil mich diese Bezeichnung einfach nur noch aufregte. „Das ist erniedrigend.“ Wir waren schließlich keine dreckigen Vögel, aus dem Sumpf.

„Oh.“ Sie wirkte ehrlich betroffen. „Das wusste ich nicht, ich wollte euch nicht beleidigen.“ Unsicher schaute sie von einem zum anderen. „Wie nennt ihr euch dann?“

„Menschen.“

Aus der Verunsicherung, wurde ein vorsichtiges Lächeln. „Okay, dass war dumm von mir gewesen. Tut mir leid.“ Als Wolf nickte, nahm sie das als Zeichen, dass er ihre Entschuldigung angenommen hatte. „Und, wie gefällt dir Eden? Es ist sicher ganz anders, als das Leben draußen in der Alten Welt.“

Er zögerte kurz, legte dann aber seinen Helm auf dem Boden ab und zog aus einer seiner vielen Taschen, einen kleinen Block und einen Stift. Dann begann er zu schreiben. Es dauerte einen Moment, dann reichte er Roxy den Block.

Sie machte sich von mir los, nahm ihn und lass die wenigen Zeilen aufmerksam. Dann lächelte sie. „Da muss ich dir zustimmen. Ich wollte ja auch schon immer mal raus in die Alte Welt, einfach um sie einmal zu sehen.“

Mit vorsichtigen Fingern nahm er ihr den Block ab und begann erneut etwas darauf zu schreiben.

Ich stand dumm daneben und kam mir unnütz vor. Außerdem war ich auch ein wenig neidisch. Dass sie sich so Problemlos mit ihm unterhalten konnte, wo ich doch nur durch Ja und Nein-Fragen mit ihm kommunizieren konnte, störte mich schon ein wenig.

Als er fertig war und ihr den Block zurückgab, musste sie über seine Worte wieder lächeln. Dann schaute sie mich an. „Er findet, dass wir beide uns verblüffend ähnlichsehen.“

Ich hob nur eine Augenbraue und zweifelte an seiner Sehfähigkeit. Wir hatten nicht mal dieselbe Hautfarbe. Klar, von der Größe her waren wir ziemlich gleich, aber das war auch schon so ziemlich das Einzige. Allerdings war er nun schon der zweite, der das sagte.

Ich musterte ihn, während er wieder etwas auf seinen Block kritzelte und plötzlich kam mir ein Gedanke, der überhaupt nichts mit dem Thema zu tun hatte. Wolf war ein Gardist, vielleicht hatte Sawyer recht und ich konnte ihn bitten, mir eine Uniform zu besorgen. Allerdings stellte sich da die Frage, ob ich ihm genug vertraute, um ihn in unsere Pläne einzuweihen.

Wahrscheinlich nicht, musste ich mir eingestehen. Ich hatte es nicht mal Nikita verraten und Wolf war im Grunde ein Fremder. Außerdem, wie sollte ich ihn fragen, wo mir doch ständig irgendein Schatten am Arsch klebte. Ich musste ihn …

Meine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als ein seltsam klapperndes Geräusch an meine Ohren drang. Ich drehte mich, um den Ursprung herauszufinden und da sah ich sie: Pferde.

Da waren sechs wunderschöne Pferde, die vor drei geschmückten Kutschen gespannt waren und mit lauten Hufklappern auf dem Platz eintrafen. Die Leute mussten aus dem Weg gehen, als sie eine Runde über den Platz drehten und dann in Reih und Glied hintereinander auf der Zufahrtsstraße, hinter den Festwagen, anhielten.

Wie auch die Kutschen, waren die Pferde bunt geschmückt, mit farbigen Decken und einem Kopfschmuck mit Federn.

Ich merkte kaum, wie ich mich von Roxy entfernte und mich diesen prachtvollen Tieren näherte.

Sie waren groß, mit seidigen Fellen und langem Haar auf dem Kopf und am Hintern. Ihre Muskeln zuckten. Ein braunes Pferd warf den Kopf zurück und wieherte, während ein schwarzes auf dem Boden scharrte. Es war wohl das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein Tier sah und nicht sofort darüber nachdachte, wie man es am besten erlegte und anschließend ausnahm.

Diese Tiere waren viel zu schön, um geschlachtet zu werden und als Mahlzeit zu enden. Sie waren …

Ein durchdringendes Piepen, riss mich nicht nur aus meinen Gedanken, es brachte mich auch dazu, sofort stehen zu bleiben. Das war von meinem Medi-Reif gekommen. Bei Gaias Zorn, das hatte ich gerade völlig vergessen.

Sofort machte ich einen Schritt zurück. Leider ließ das Bedürfnis, mir die Pferde näher anzuschauen, nicht nach. Aber wenn ich weiter ging, würde ich das mit Sicherheit bereuen. Da gab es nur eines, was ich tun konnte. Ich ging zurück.

Vorbei an Roxy und Wolf, zu Dante, der gerade in einem angeregten Gespräch mit zwei anderen Gardisten steckte. Es war mir egal. Wie sagten sie hier immer? Einer Eva wurde jeder Wunsch erfüllt, also würde Dante jetzt tun, was ich wollte.

Ohne etwas zu sagen griff ich ihn am Ärmel und zog ihm einfach aus seinem Gespräch heraus.

„Hey!“, beschwerte er sich. „Was tun sie?“

„Du musst mitkommen“, sagte ich nur und zog Dante unter den verblüften Blicken der anderen hinter mir her. Erst als ich vielleicht noch zehn Fuß von der vordersten Pferdekutsche entfernt war, ließ ich ihn wieder los und nährte mich vorsichtig dem schnaubenden Tier.

Es war bildschön. Hellbraunes Fell mit fast weißem Haar, dass in der Sonne glänzend schimmerte. Es hatte große, wunderschöne, von langen Wimpern umrahmte Augen. Als es mir den großen Kopf zudrehte, stellte es neugierig die Ohren auf.

Ich wollte es anfassen, aber ich hatte keine Ahnung, wie das Tier dann reagierte. So groß wie das Maul war, konnte es mir sicher die Hand abbeißen. Also blieb ich einfach nur stehen und schaute es mir an.

„Sie haben wohl noch nie ein Pferd gesehen“, bemerkte Dante und kam an meine Seite. Im Gegensatz zu mir, traute er sich die Hand auszustrecken und ließ das Tier daran schnuppern.

„Nur einmal, auf einem sehr alten Bild.“

Weiter hinten, die Straße hinunter, von wo bereits die Kutschen gekommen waren, kam noch eine Gruppe von vier Reitern näher. Das Klappern der Hufe konnte ich bis hierher hören.

„Tja, hier in Eden gibt es halt viele Wunder, die die Alte Welt nicht bieten kann.“

Das mochte schon stimmen, aber … „Die freie Welt bietet mehr Wunder, als es diese Stadt jemals könnte.“

„Sie sind ganz schön negativ.“ Dante trat näher an das Tier heran und streichelte seinen Kopf.

Meine Finger zuckten. Ich wollte auch.

Die vier Reiter waren in der Zwischenzeit so nahe, dass ich nicht nur die Pferde, sondern auch die Männer darauf erkennen konnte. Killian saß auf einem riesigen, schwarzen Pferd mit weißem Behang an den Beinen und einer weißen Blesse auf der Stirn. Nicht weit hinter ihm, saß Kit auf einem sehr ähnlichen Pferd – ich erkannte ihn an den kürzeren Haaren. Die anderen beiden Reiter kannte ich nicht.

Beide Männer trug etwas, das aussah, wie eine grüne Uniform, mit ein paar langen Federn am Hut. Und als Killian mich entdeckte, trappte er mit dem Pferd direkt durch die Menge lächelnd auf mich zu. Dabei wurde das Pferd immer größer und größer.

Bei Gaias Güte, wie groß konnten Pferde eigentlich werden?

Als er fast vor mir stand, machte ich vorsichtshalber einen Schritt zurück. Bisher hatte ich mich eigentlich nie für besonders klein gehalten, doch neben diesem Tier kam ich mir geradezu winzig vor.

„Hallo, Kismet.“ Das ich noch ein Stück zurück wich, ließ Killian lächeln. „Du brauchst keine Angst haben, Geysir ist ein netter Bursche.“ Er tätschelte dem Pferd den Hals, woraufhin es den Kopf nach hinten drehte und mit dem Maul an Killians Hosenbein zupfte. „Er ist ganz harmlos.“

„Er versucht gerade dich zu fressen.“

Das ließ ihn herzlich auflachen. Er tätschelte dem Tier noch mal den Hals, schwang ein Bein gekonnt über den Rücken und ließ sich auf den Boden gleiten. Dabei behielt er die Zügel fest im Griff. Dann hielt er mir lächelnd die offene Handfläche entgegen. „Komm her.“

Es juckte mich ja in den Fingern, genau das zu tun. Ich wollte dieses Pferd anfassen, aber ich zögerte. Der Bursche war wirklich groß. Trotzkopf war zwar nicht unbedingt kleiner, aber nicht so massig.

Ich warf einen Blick zu Kit, der mit den anderen Reitern weiter vorne auf der Straße geblieben war.

„Vertrau mir“, forderte Killian mich auf. „Dir wird nichts passieren.“

Das mit dem Vertrauen konnte er vergessen, aber meine Hand gab ich ihm trotzdem und ließ mich dann von ihm langsam an das Tier heranführen. Als er dann jedoch meine Hand zum Maul von dem Vieh heben wollte, zuckte ich zurück.

„Keine Sorge, ich will euch nur miteinander bekannt machen.“

„Wenn er mich beißt …“

„Das wird er nicht.“ Killian hielt meine Hand hoch genug, dass Geysir bequem daran schnüffeln konnte. Dann legte er sie ihm dann einfach auf die Nase und trat einen Schritt zurück. Und ich? Ich konnte nur staunen. Das Pferdemaul war so weich, ganz anders als bei Trotzkopf.

Langsam strich ich mit der Hand seinen seinem Maul hinauf. Als er dann jedoch den Kopf drehte, riss ich den Arm zurück.

„Keine Angst.“ Killian trat neben mich und übernahm es nun selber Geysir zu streicheln. „Er ist nur neugierig.“

„Wie alt ist er?“ Auch ich hob die Hand wieder vorsichtig.

„Zwölf.“ Er griff in seine Hosentasche und zog etwas heraus, das wie kleine, zerbröselte Kekse aussah. Geysir fraß es ihm schon aus der Hand, bevor Killian so weit war. „Ich habe ihn bekommen, als er noch ein Fohlen war. Ich mochte Pferde schon als kleiner Junge.“

„Er ist traumhaft.“

„Er ist ein kleiner Witzbold.“ Killian lächelte mich an. „Möchtest du dich vielleicht mal auf ihn setzen?“

Überrascht schaute ich ihn an. „Erlaubt er das denn?“ Mein Trotzkopf ließ sich nämlich ausschließlich von mir reiten.

„Sicher.“ Erneut hielt Killian mir die Hand hin. „Er kennt das.“

Was aber noch lange nicht bedeutete, dass er es mochte. Doch einmal auf so einem wunderschönen Tier zu sitzen, hatte schon etwas Verlockendes. Es wäre wie ein bisschen wilder Natur in dieser sonst so trostlosen Stadt.

„Ich helfe dir auch“, versicherte Killian mir, als würde mich das etwas Sicherheit geben. Und wenn ich ehrlich war, tat es das wirklich.

Es war irgendwie verrückt, aber ich wollte das und ich störte mich auch nicht daran, dass Killian mir helfen wollte. Wer in dieser Welt konnte schließlich schon behaupten, einmal auf einem so wundervollen Tier gesessen zu haben? „In Ordnung“, sagte ich daher. „Ja, ich will auf ihm reiten.“

In Killians Gesicht schien die Sonne aufzugehen. „Dann komm her. Hier, in den Steigbügel musst du deinen Fuß stellen und dich dann einfach raufschwingen.“

„Raufschwingen? Geht er denn nicht in die Knie?“

Das ließ ihn wieder auflachen. „Er ist ein Pferd, kein Dromedar. Du musst schon aus eigener Kraft auf seinen Rücken kommen. Hier, halt dich am Sattelknauf fest, dann ist es einfacher.“

Na dann. Ich griff nach oben zu diesem Knauf, aber da machte sich bereits das erste Problem bemerkbar. In diesem Kleid bekam ich die Arme nicht hoch genug. Und der lange Rock würde es mir wohl auch schwer machen, mein Bein problemlos über den Rücken zu schwingen.

Dieses dämliche Kleid. Aber nun gut, dieses Problem ließ sich mit Leichtigkeit lösen. Ich griff einfach den Stoff an meiner linken Schulter und riss ihn mit einem Ruck herunter. Die Fäden waren leider ein wenig stabil, weswegen ich mehr als einen Versuch brauchte, aber dann war der Ärmel runter.

„Was machen sie da?“, fragte Dante fast schon schockiert, während Killian scheinbar gar nicht wusste, was er dazu sagen sollte.

„Ich sorge für mehr Bewegungsfreiheit.“ Auch der zweite Ärmel musste daran glauben und dann konnte ich endlich wieder richtig die Arme heben. Aber damit war ich noch nicht fertig. Mit einem „Hier“ drückte ich Dante die abgerissenen Ärmel in die Hand, schnappte mir dann den Saum meines Kleides und verpasste der geschlossenen Seite auch einen Beinschlitz. „So, das ist besser.“

Dante konnte mich nur mit großen Augen anstarren, während Killian leise lachte.

„Du bist wohl die einzige Frau, die ihr Kleid zerreißen würde, um auf ein Pferd steigen zu können“, schmunzelte mein Arzt.

„Ich mag dieses Kleid sowieso nicht.“ Jetzt wo alle Hindernisse aus dem Weg geräumt waren, griff ich erneut nach dem Sattelknauf und stellte mein Bein in diesen Steigbügel, wie Killian es gesagt hatte. Dann nahm ich ein wenig Schwung und im nächsten Moment saß ich zum ersten Mal in meinem Leben auf dem Rücken eines Pferdes.

Geysir hielt dabei ganz still. Die anderen Pferde schienen ihn viel mehr zu interessieren, als eine Frau, die da auf seinen Rücken kletterte.

Auf Geysir zu sitzen, war anders als auf Trotzkopf. Nicht nur wegen dem Sattel, Trotzkopf hatte auch nicht so einen breiten Rücken. Vorsichtig rutschte ich hin und her und traute mich dann sogar, das lange Fell am Kopf anzufassen. Es war viel gröber, als der Rest.

„Setz dich gerade hin“, wies Killian mich an und trat neben mich. „Lass die Füße in den Steigbügeln.“ Er nahm meinen nackten Fuß und platzierte ihn eigenhändig in dem Bügel. Die Berührung ließ meine Haut angenehm kribbeln, aber dabei fiel sein Blick auf den Medi-Reif an meinem Handgelenk. Seine Lippen verzogen sich missbilligend. „Bleib locker im Sattel sitzen“, fügte er noch hinzu und versuchte sein Lächeln wieder zu finden.

„Ich reite nicht zum ersten Mal“, erklärte ich ihm.

„Ja, aber ein Dromedar ist schon etwas anders, als ein Pferd.“ Er legte mir noch mal kurz die Hand aufs Bein, als wollte er überprüfen, ob ich auch wirklich richtig im Sattel saß und machte dann einen Schritt zurück. „Halt dich einfach am Sattelknauf fest.“

„Warten sie“, schritt Dante da ein und legte dem Arzt eine Hand auf die Schulter, um ihn aufzuhalten. „Sie kann sich nur zehn Meter von mir entfernen.“ Er schob seinen Jackenärmel ein wenig nach oben und zeigte Killian die Kontrolleinheit an seinem Handgelenk.

Dieser Anblick schien Killian genauso wenig zu gefallen, wie der Reif an meinem Arm.

„Passen sie auf, dass sie sich nicht zu weit von mir entfernt“, mahnte Dante. „Wir wollen doch nicht, dass sie vom Pferd kippt.“

Ohne den Gardisten weiter zu beachten, schob Killian ihn zu Seite und schaute wieder zu mir hoch. „So, gut festhalten da oben.“ Und dann ging es los. Er schnalzte mit der Zunge, um Geysirs Aufmerksamkeit zu bekommen und führte ihn dann am Zaumzeug über den Herzplatz. Er bewegte sich nur langsam, aber als er merkte, wie sicher ich im Sattel saß, trieb er das Pferd zu etwas mehr Geschwindigkeit an.

Es war herrlich. Zwar trabten wir nur in einem großen Kreis um Dante herum, doch allein das Gefühl von diesem tollen Wesen getragen zu werden, war so berauschend, dass ich lächelte. Der Klang der Hufe, das Muskelspiel des Pferdes und das Zusammenspiel zwischen Killian und seinem Tier.

Selbst Geysir schien es Spaß zu machen, so viel Spaß, dass Killian ihn zwischendurch ein wenig ausbremsen musste. Das lange Fell an seinem Kopf wehte genauso wie die Federn auf Killians Hut – der übrigens ziemlich albern aussah.

Wie toll es sein musste, mit diesem Pferd, durch die offenen Weiten der Ruinen zu reiten. Ob er wohl so schnell laufen konnte wie Trotzkopf? Mein Dromedar hatte auf jeden Fall längere Beine und bewegte sich auch ganz anders.

Als auf einmal jemand aus der Menge nach einem Doktor Vark rief, bremste Killian sein Muskelpaket aus. Das gefiel Geysir offensichtlich nicht. Er zog den Kopf weg, als wollte er alleine weiterlaufen und als das nicht klappte, schubst er Killian.

„Hey!“, beschwerte er sich. „Hör auf damit, du Rabauke.“

Geysir schnaubte verstimmt und begann mit dem Huf zu scharren.

Von links kam eine Frau mit einem dicken Klemmbrett herangeeilt. Ihre Haare wirkten ein wenig zerzaust und auf den Wangen hatte sie hektische Flecken. „Dorktor Vark“, rief sie schon, bevor sie bei uns stand. „Sie müssen sich aufstellen und …“ Als ihr Blick auf mich fiel, verstummte sie einfach und bekam große Augen. „Was haben sie mir ihrem Kleid gemacht?“, fragte sie beinahe schon entsetzt und starrte auf den neuen Beinschlitz, der fast bis hinauf zur Hüfte ging.

Dante gesellte sich zu uns, während ich nur mit den Schultern zuckte. „Es war zu eng.“

So wie die Frau aussah, würde sie gleich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. „Aber sie können doch nicht … tragen sie überhaupt Unterwäsche?“

Nach diesem Satz beugte Dante sich interessiert zur Seite, um mich zu mustern, was ihm von Killian einen warnenden Blick einbrachte.

„Wozu?“, fragte ich. „Sowas habe ich noch nie gebraucht.“

„Oh Himmel!“ Für einen Moment sah die Frau wirklich aus, als wäre das ein Weltuntergang. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und schaute sich dann um, als hoffte sie auf jemand anderem, der sich mit diesem Problem befassen konnte. „Wir haben keine Zeit mehr, ein neues Kleid zu besorgen, aber so kann ich sie nicht mitlaufen lassen.“

Nein, das störte mich überhaupt nicht.

„So schlimm ist es doch gar nicht“, versuchte Dante sie zu beruhigen. Und ja, ich merkte sehr wohl, wie er schon wieder auf den Beinschlitz schielte. „Man sieht doch gar nichts.“

„Aber man könnte und … okay, ganz ruhig. Doktor Vark, würden sie bitte ihre Position einnehmen? Und sie beide, sie werden sich in die mittlere Kutsche setzten.“

Ich bewegte mich nicht von der Stelle, aber Killian trat an mich heran und hielt mir auffordernd die Hand entgegen. Das hieß dann wohl, dass der vergnügliche Teil nun beendet war.

Mit einem Seufzen schwang ich das Bein über Geysirs Rücken und ließ mir von Killian aus dem Sattel helfen. Und auf einmal stellte ich fest, dass er direkt vor mir stand und mich anlächelte.

„Du bist doch immer für eine neue Überraschung gut“, sagte er so leise, dass nur ich es verstehen konnte.

Das ließ mich lächeln.

„Doktor Vark, bitte“, sagte die Frau sehr nachdrücklich und schob Dante in meine Richtung. „Und sie beide, auf die Kutsche. Jetzt.“

Na gut, in Ordnung. Ich trat von Killian zurück und strich zum Abschied noch einmal über den Hals von Geysir. Dann konnte ich dabei zuschauen, wie Killian sich auf den Rücken seines Pferdes schwang. Bevor er sein Reittier mit einem Schnalzen in Bewegung setze, lächelte er mich noch einmal an. Dann wendete er dieses riesige Wesen und ritt mit ihm nach vorne, wo die anderen Reiter bereits auf ihren Positionen standen.

„Bitte, auf die Kutsche, jetzt“, forderte die Frau mich ein weiteres Mal auf.

Mit einem tiefen Atemzug wandte ich mich von diesem unglaublichen Anblick ab und tat mal wieder das, was man von mir verlangte.

 

oOo

Kapitel 50

 

Die Kutsche sah ganz anders aus, als der Karren, den ich zuhause hatte. Nicht nur das dieses Gefährt zum Teil aus Metall und Plastik war, anstatt nur aus Holz, es besaß sogar zwei gegenüberliegende Sitzbänke aus schwarzem Leder, mit reichlich Beinfreiheit dazwischen. Der Typ, der die Pferde lenkte, hatte seinen eigenen Sitz ganz vorne.

Die vordere Sitzbank war bereits von einem Paar belegt, das ihr Gespräch unterbracht, als ich hinter Dante auf die Kutsche kletterte und mich so weit wie möglich, von ihm entfernt, auf die Bank setzte. Wenigsten würde ich nicht rückwärtsfahren müssen. Man musste eben auch die kleinen Dinge im Leben zu schätzen wissen.

Bei dem Mann, der mich mit einem einnehmenden Lächeln begrüßte, handelte es sich um Jasper Dahl, Killians und Kits Vater. Die Frau mit den roten Haaren und dem runden Gesicht, hatte ich schon ein paar Mal im Herz gesehen, kannte ihren Namen aber nicht.

„Dante mein Junge“, begrüßte der ältere Mann meinen Begleiter. „Dich hätte ich hier ja nicht erwartet. Und dann auch noch in so reizender Begleitung.“

Dante ließ sich neben mir auf die schwarze Lederbank fallen. „Hallo Jasper. Luana.“ Er nickte auch der Frau zu.

Das war Luana? Sawyer hatte doch von ihr erzählt. Laut ihm war sie eine der wenigen Evas, die er mochte – oder zumindest nicht hasste. Ich musterte sie mit neuem Interesse. Sie war fülliger als ich. Das grüne Kleid stand ihr, doch die großen Augen gaben ihr den Ausdruck ständigen Erstaunens. Sie war nicht direkt hübsch, aber sie hatte eine umwerfende Ausstrahlung.

Auf einmal begann sie grundlos mit den Händen in der Luft herumzufuchteln, woraufhin Jasper ein lautes Lachen ausstieß. „Vielleicht war ihr ja zu warm“, schmunzelte er.

Verständnislos schaute ich ihn an. Wem war was zu warm? Und was machte die Frau da mit ihren Händen?

„Luana ist stumm“, erklärte Dante auf meine Verwunderung hin. „Genau wie Wolf. Sie redet mit ihren Händen. Zeichensprache.“

Ach ja, Wolf, den hatte ich ja ganz vergessen. Ich schaute mich nach ihm um, aber genau wie Roxy, war er verschwunden. Und auch Tican und Sawyer und all die anderen auch. Wahrscheinlich hatten auch sie auf ihre Plätze gemusst.

In der Zwischenzeit war auf dem ganzen Platz Bewegung in die Leute gekommen. Olive brachte man gerade nach vorne zur ersten Kutsche. Adams und Evas reiten sich in Viererreihen hintereinander ein. Die Musiker bezogen Position und die jungen Frauen in den kurzen Röcken reihten sich noch vor den Kutschen ein. Weiter vorne setzten die ersten Leute sich sogar schon in Bewegung. Hinter uns hupte einer der Festwagen.

„Und sie hat sich gerade über deine Aufmachung gewundert“, fügte Jasper noch hinzu. „Sie ist sehr … hm, dürftig.“

Wieder bewegte Luana ihre Hände.

Jasper nickte lächelnd. „Sie sagt, dass sie dich verstehen kann, sie mag ihr Kleid auch nicht.“

Das sie mich verstand, bezweifelte ich doch stark. Darum wandte ich mich einfach wortlos ab und wartete still darauf, dass die Kutsche sich in Bewegung setzte. Nur weil ich mit diesen Leuten gezwungenermaßen hier saß, hieß das noch lange nicht, dass ich mich mit ihnen unterhalten musste.

Stattdessen schaute ich nach vorne zu Killian, der sich gerade an der Spitze der vier Reiter, in Bewegung setzte. Was nur sollte dieser hässliche Hut?

Die erste Kutsche mit Olive folgte direkt danach. Wenn ich mich nicht täuschte, war auch Roxy in dieser Karosse. Dann kamen ein Haufen Evas und Adams. Alle fein säuberlich in Reih und Glied.

Irgendwie sah es schon beeindruckend aus, wenn sich eine solche Menge praktisch zeitgleich in Bewegung setzte. Allerdings auch unnatürlich.

Als unsere Kutsche Fahrt aufnahm, gab Jasper einen überraschten Laut von sich und lachte dann. Und damit begann die Elysium-Parade für mich. Allerdings wusste ich nicht, was an diesem pompösen Spaziergang so festlich sein sollte. Wenn ich mit Nikita und den anderen aus meiner Mischpoche etwas feierte, saßen wir eigentlich immer bei einem üppigen Essen ums Lagerfeuer herum und erzählten uns Geschichten. Wir tanzten und alberten herum, wobei Balic sich einmal ausversehen selber angezündet hatte. Wenn man zu viel trank, konnte es schon mal passieren, stockbesoffen durch ein Lagerfeuer zu stolpern. Das war ein Geschrei gewesen. Zum Glück hatte Marshall damals geistesgegenwärtig reagiert und ihn einfach in die große Wassertonne geschubst. Seitdem passte Balic immer auf, wenn Feuer in der Nähe war.

Hier jedoch wanderten wir einfach nur die Straße Richtung Tor zwei entlang. Ja, entgegen dem was Carrie meistens glaubte, hörte ich ihr hin und wieder zu, wenn sie etwas erzählte. Nur bedeutete das noch lange nicht, dass ich es beachtete.

Luana und Jasper unterhielten sich, aber da Dante diese Handzeichen scheinbar genauso wenig deuten konnte wie ich, musste der ältere Mann ihm die Worte seiner Begleitung immer wieder übersetzten.

Langsam nährten wir uns einem großen Gebäudekomplex, dessen Hauswände kunterbunt bemalt waren. Das Gebäude selber war hoch, flach und eckig. Ein Betonklotz, der inmitten eines weitläufigen Gartens stand. Und er war so bunt angemalt, dass es mir in den Augen wehtat. Regenbögen, Pferde, Autos die Glitzerspuren hinter sich herzogen.

Als Kind hätte ich viel gegeben, eine solche Zauberlandschaft einmal vor Augen zu haben. Jetzt erinnerte es mich nur wieder daran, dass dies nicht meine Welt war. Meine Welt war niemals bunt gewesen.

Gerade, als ich mich frage, was es wohl mit diesem Gebäude auf sich hatte, sprach Jasper mich an. „Luana fragt, was du da an der Hand gemacht hast.“

Ich schaute auf meine rechte Hand. Mein Fluchtversuch lag nun knapp zwei Wochen zurück und die Wunde war in der Zwischenzeit ganz gut verheilt, trotzdem war der schartige Schnitt noch rot und empfindlich. Ich würde wohl eine Narbe zurückbehalten. „Ich habe mir meinen Keychip herausgeschnitten.“

Die beiden schauten mich an, als sei ich vom Mond.

„Bei meinen Vorvätern, warum machst du sowas?“, wollte Jasper wissen.

Diese Frage ließ mich Augenblicklich bereuen, dass ich überhaupt den Mund aufgemacht hatte. Also funkelte ich ihn nur an und konzentrierte mich dann wieder auf das seltsame Haus, vor dem sich allerlei kleine Gestallten versammelt hatten. Kinder, das waren alles Kinder und sie jubelten und freuten sich, als der Festzug sich ihnen näherte.

Das musste das Haus der Kinder sein. War Nikita auch unter ihren? Ich rekte den Hals, in er Hoffnung, sie zu sehen, aber dann fiel mir wieder ein, dass sie heute ja mit ihrer neuen Familie feiern würde. Dieser Gedanke war mehr als nur bitter.

Als wir dem Haus näherkamen, drang Musik an meine Ohren. Nicht dieses schreckliche Zeug, das Nikita mir vorgespielt hatte, das hier klang irgendwie lustig. Und als ich mich vorbeugte, um herauszufinden, woher es kam, musste ich feststellen, dass die Musiker nun ihre Instrumente benutzen. Aber nicht nur das. Die jungen Frauen hatten zu tanzen angefangen. Ich konnte nicht viel sehen, weil da einfach zu viele Leute zwischen uns waren, aber ich sah immer mal wieder eine von ihnen springen.

Der Zug zog langsam am Haus vorbei.

Ich konnte das Jubeln und Rufen der Kinder hören – es mussten ein paar Dutzend sein. Bei Gaias Güte, wie hatten die Evas der Stadt das hinbekommen? Selbst mit Mehrlingsgeburten war das kaum zu glauben.

Nun gut, sie waren so gut wie alle in einem anderen Alter, aber trotzdem. Und wenn ich hierbleiben musste, würden sich auch meine Kinder zu ihnen gesellen.

So weit wird es nicht kommen.

Immerhin wusste ich ja nun, wie ich auf die vierte Ebene gelangen konnte. Allerdings musste ich mir nun überlegen, wie ich an so eine Uniform herankam – oder mir alternativ etwas anderes einfallen lassen. Keine besonders erbaulichen Aussichten.

Ein paar der Evas hoben ihre Hände und winkten den Kindern zu. Ein kleiner Junge rannte direkt in die Aufmarsch hinein und musste dann von einem Betreuer wieder herausgeholt werden.

Die Parade zog am Haus der Kinder vorbei.

Ich lehnte mich zurück und schlug die Beine übereinander. Wieder verspürte ich den Wunsch, dies schnell hinter mich zubringen, doch bei meinem Glück, würde ich wahrscheinlich noch morgen früh in dieser Kutsche sitzen. Ich hatte keine Ahnung, wie lange so ein Festzug dauerte. Und fragen wollte ich auch nicht. Aber während ich darüber nachdachte, bemerkte ich, wie Dante mein nacktes Bein ein wenig zu genau musterte. Sehr nachdrücklich zog ich das Kleid darüber und funkelte ihn dann böse an.

Er grinste nur schelmisch. „Tut mir leid, aber ich bin auch nur ein Mann.“

„Wenn du es so nötig hast, dann geh doch zu Agnes.“ Der alten Hexe würde eine Nacht mit einem Mann sicher ganz guttun.

„Despotin Nazarova?“ Er verzog das Gesicht und wirkte leicht angewidert – verständlich. „Sie würde mich vermutlich erschießen, wenn ich ihr zu nahekomme. Und das nicht nur, weil sie die Despotin ist.“

„Warum denn sonst noch?“ Nicht das es mich wirklich interessierte.

„Weil sie lesbisch ist.“

Das Wort kannte ich nicht. „Was soll das sein?“

Dante zog eine Augenbraue nach oben. „Sie wissen nicht, was lesbisch zu sein bedeutet?“

Musste er das so herablassend sagen?

„Schwul? Homo? Gleichgeschlechtliche Liebe?“

Ich neigte den Kopf zur Seite. „Gleichgeschlechtliche Liebe? Du meinst zwei Frauen?“

„Oder zwei Männer.“

Wie sollte das denn funktionieren? Ich versuchte es mir bildlich vorzustellen, aber irgendwie wollte mir das nicht gelingen. Bei zwei Männern … nun gut, es gab da zwar ein Loch, aber das musste doch wehtun. Aber zwei Frauen? Da fehlte doch etwas ganz Entscheidendes.

Dante begann zu grinsen. „Sie haben wirklich keine Ahnung, oder?“

Damit verdiente er sich einen weiteren bösen Blick. „Das geht nicht.“

„Und ob das geht“, widersprach er sofort.

„Nein, tut es nicht.“

„Wenn sie mir nicht glauben, dann fragen sie doch Agnes. Aber ich möchte gerne dabei sein.“ Etwas selbstgefällig lehnte er sich zurück. „Das will ich mir auf keinen Fall entgehen lassen.“

Als wenn ich Agnes nach ihrem Liebesleben befragen würde.

„Da würde ich auch gerne Mäuschen spielen“, schmunzelte Jasper.

Ich schaute von einem zum anderen. „Ihr verulkt mich doch.“

Alle drei schüttelten lächelnd den Kopf.

Also wirklich, die Städter wurden mit jedem Tag seltsamer. „Liegt das an Agnes Familie, oder machen das alle Städter?“

Dante schüttelte den Kopf, als könnte er diese Fragen gar nicht glauben.

„Weder noch“, antwortete Jasper. „Jeder hat so seine Vorlieben. Das liegt weder an der Familie, noch an der Stadt. Obwohl, wenn ich da an Agnes' kleine Ausreißerin denke. Bei ihr hat man ja eine Zeitlang auch geglaubt, dass sie sich in eine Frau verliebt hat.“

Keine Ahnung warum, aber auf einmal wirkte Dante alles andere als belustigt. „Wir sprechen nicht von Samira.“

Ich horchte auf. Wenn sie nicht darüber sprachen, war es für mich wahrscheinlich interessant. „Wer ist Samira?“

„Niemand“, erklärte Dante, während Jesper sagte: „Eine Tochter von Agnes.“

Ah ja. „Und warum sprecht ihr nicht von ihr?“

Seufzend fuhr Dante sich übers Gesicht. „Sie ist vor Jahren spurlos verschwunden und Agnes wünscht nicht, dass man sich an sie erinnert.“

Ein Geheimnis der Despotin? Vielleicht sollte ich Killian mal darauf ansprechen. Die drei hier sahen nämlich nicht so aus, als wären sie zu weiteren Auskünften bereit. Wie nur konnte eine Tochter von Agnes einfach verschwinden? War sie aus der Stadt geflohen, oder war ihr etwas zugestoßen?

Mit einem Mal begann ich mich zu fragen, welche Gefahren einen innerhalb dieser Mauern auflauern konnten. Ich grübelte darüber nach, während de Parade sich über die erste Ebene auf Tor zwei zubewegte. Wilde Tiere kamen nicht über die Mauern und fremde Menschen schieden auch aus. Kam die Gefahr also von den Edenern selber?

Aber das ergab auch keinen Sinn. Irgendwie ergab hier heute vieles keinen Sinn. Ich sollte aufhören mich mit Dante zu unterhalten, der verwirrte mich nur. Außerdem war es nicht wichtig für mich. Nur noch drei Tage, dann war Salias Geburtstag und ich konnte all das hier hinter mir lassen. Darum beließ ich es einfach dabei, in der holprigen Kutsche zu sitzen und schweigend vor mich hinzustarren, während die Parade ihren Weg fortsetzte.

Kurz bevor wie die Ebene verlassen konnten, gab es einen kleinen Stopp, da der Durchgang auf Ebene zwei erst organisiert werden musste. Und dann brach das blanke Chaos los. Bereits hinter Tor zwei erwartete uns ein Meer aus jubelnden Menschen, die praktisch die Straßen verstopften. Die Größe dieses Aufmarschs … vor Staunen klappte mir beinahe die Kinnlade herunter.

Menschen, Menschen und noch mehr Menschen. Es mussten hunderte und aberhunderte sein. Ich erinnerte mich, wie Kit einmal etwas von mehr als vierzehntausend Menschen gesagt hatte, aber etwas zu hören und es dann zu sehen, war etwas ganz anderes. Es war einfach nur unglaublich. Und auch ein wenig beängstigend.

Die Leute befanden sich nicht nur in den Straßen, da waren auch überall welche in den Fenstern und auf den Balkons der Häuser. Sie jubelten, riefen und grüßten. Sie warfen etwas, dass laut Dante Konfetti und Luftschlangen hieß. Es war Papier und der Sinn entging mir ein wenig, aber es sah hübsch aus.

Die Straße auf der wir uns bewegten, war links und rechts mit Metallabsperrungen blockiert, sodass die Menschen uns zwar sehen konnten, aber keine Gelegenheit hatten, an uns heran zu kommen. Die ganze Straße durch die dritte Ebene war auf diese Weise abgesperrt. Alle paar Meter standen Gardisten und Yards, um zusätzlich dafür zu sorgen, dass uns niemand zu nahekam. Was glaubten sie nur, würde die jubelnde Menge mit uns machen?

Die Anwohner der Stadt, begleiteten die Parade. Sie winkten und riefen uns zu. Irgendwo wurden laute Pfiffe ausgestoßen. Weiter vorne waren ein paar bunt gekleidete Leute, die Süßigkeiten in die Menge warfen.

Ich hatte diese Stadt noch nie so lebendig erlebt und auf einmal hatte ich das Gefühl, in einer ganz anderen Welt eingetaucht zu sein. Sowas sah man in der freien Welt jedenfalls nicht.

Von der zweiten Ebene wechselten wir auf die dritte und auch hier herrschte das reinste Tollhaus. Überall Menschen, die uns zuwinkten, Männer und Frauen, die begeistert unsere Namen riefen, Kinder, die dem Beispiel ihrer Eltern folgte. Wobei es vermutlich nicht ihre leiblichen Eltern waren. War Nikita auch irgendwo in der Menge? Zusammen mit diesen Leuten, Cody und Jamina? Sah sie mich vielleicht gerade? Oder waren wir schon an ihnen vorbeigefahren?  Ich konnte sie jedenfalls nicht ausmachen. Dafür sah ich, worauf wir uns zubewegten.

Die Reihen der Häuser wurden langsam lichter und öffneten sich nach links zu einem großen Festplatz, auf den wir zumarschierten. Die Straße entlang und über den ganzen Platz verteilt, standen Buden, bei denen es brutzelte und duftete. Andere Buden hatten bunte Spielsachen und dann gab es noch große Maschinen, deren Sinn sich mir nicht ganz erschloss. Da war ein riesiger Schirm aus Metall, an dem ganz viele Schaukeln an langen Ketten hingen. Und unter einem anderen Metallschirm waren lauter Figuren von Pferden auf Stangen aufgespießt. Die Pferde waren groß genug, um sich auf sie setzten zu können.

Es gab auch en großes Rad, an dem überall kleine Kabinen hingen. Ich hatte keine Ahnung, was das alles war, aber so wie die Leute zu diesen Geräten strömten, musste es wohl etwas Gutes sein.

Hatte ich bereits geglaubt, auf dem Weg hier her viele Menschen gesehen zu haben, so war das gar nichts im Gegensatz zu dem, was uns nun auf dem Festplatz erwartete. Wenn man die Menschen, die uns bejubelt und begleitet hatten, und diejenigen, die bereits hier waren, zusammennahm, dann … bei Gaias Güte, sowas hatte ich noch nicht gesehen. Ich war nun schon seit eineinhalb Monaten in dieser Stadt, aber erst jetzt wurde mir bewusst, welche Ausmaße Eden eigentlich einnahm. Und das sollte nur ein Bruchteil von den Menschen sein, die heutzutage noch lebten? Und ein Tropfen auf dem heißen Stein, von denen, die einst diese Welt bevölkert hatten? Das war mir unbegreiflich.

Auch auf dem Festplatz gab es einen abgesperrten Bereich, der die Anwohner der Stadt von dem mittleren Teil fernhielt. Dieser Bereich, barg auch eine große Tribüne, die direkt vor dem vierten Mauerring aufgebaut worden war. Der Mauerring, den ich bei meinem Fluchtversuch mit Nikita überwunden hatte.

Hinter der Bühne an der Mauer, war eine riesige, weiße Leinwand gespannt worden, die das Abbild eines blühenden Baums zeigte, an dessen Wurzeln ein Liebespaar hockte. Es war das gleiche Bild, das bei Agnes hinterm Schreibtisch an ihrer Wand gehangen hatte. Das Bild an der Leinwand, jedoch bewegte sich. Ein Windhauch schien durch die Baumkrone zu fahren und die Blätter und Äste zu bewegen. Um dem Stamm des Baumes wandte sich eine Schlange. Das Liebespaar drehte immer wieder die Köpfe, winkte den Zuschauern zu und küsste sich dann, nur um dann von neuem zu beginnen. Es war wie ein Kurzfilm in Endlosschleife. Auch die vielen Tiere, zwischen den Wurzeln, schienen sich zu bewegen.

Links und recht neben der Bühne, gab es große Säulen, die von künstlichen Ranken umwickelt waren. Wunderschöne und exotische Pflanzen, standen in Blumenkübeln um die Säulen herum, sodass es optisch fast so wirkte, als wäre die Bühne selber ein Stück vom Garten Eden.

Direkt vor der Bühne, gab es mehrere Reihen mit Stühlen, die auf einem grünen Teppich stand. Auch dieser Bereich war mit Blumen geschmückt.

Der Festzug fuhr langsam in den abgesperrten Bereich, während die Menschen um uns herum, unsere Ankunft bejubelten und applaudierten. Sie schienen sich wirklich zu freuen, uns zu sehen.

Um mich herum war es so laut, dass ich meine eigenen Gedanken kaum verstehen konnte. Wie konnten diese Menschen sich das nur freiwillig antun? So außergewöhnlich das hier auch war, ich würde am liebsten einfach verschwinden und mich irgendwo verkriechen, bis das Ganze ein Ende gefunden hatte. Aber damit schien ich ziemlich allein dazustehen.

„Ich freue mich schon auf die Vorführung“, lächelte Jasper und schaute sich nach den Musikern um. „Meist du, sie haben dieses Jahr wieder die Nummer mit den Tieren dabei? Die hat mir im letzten Jahr am besten gefallen.“

Luana bewegte ihre Hände und egal was sie sagte, es brachte Jasper zum Lachen. Dann tätschelte er ihr das Knie und drehte sich herum, um einen besseren Blick auf die Bühne zu bekommen.

Ich war mir nicht sicher, ob es irgendein Zeichen gab, aber auf einmal begannen die Musiker eine fröhliche und wilde Melodie zu spielen. Die jungen Frauen, in den bunten Uniformen, stürmten die Bühne und stellten sich zu einer seltsamen Formation auf. Und dann begannen sie zu … hm, es sah aus wie eine Art Tanz. Sie bewegten sich zur Musik, hüpften alle gleichzeitig im Rhythmus und schwangen die Beine in einem so unmöglichen Winkel nach oben, dass ich ganz große Augen bekam.

Die Adams und Evas, die mit dem Festzug mitgelaufen waren, begannen damit, sich auf den Stühlen zu verteilen, wobei sie weiterhin den Zuschauern zuwinkten.

Die drei Kutschen teilten sich auf, sodass sie nebeneinander, hinter den Stühlen zum Stehen kamen. Killian entdeckte ich mit den anderen Reitern, außen am Rand. Auch er beobachtete die Frauen auf der Bühne.

„Das sind unsere Tanzmariechen“, erklärte Jasper mir. „Früher, vor der Wende, traten sie bei einer Veranstaltung auf, die man Karneval genannt hat. Heute jedoch tanzen sie jedes Jahr beim Elysium. Es ist eine große Ehre dafür ausgewählt zu werden.“

Aha. Nicht das ich das hatte wissen wollen, aber es sah schon irgendwie faszinierend aus, wie die jungen Frauen dort oben, auf der Bühne herumhüpften. Doch plötzlich sprangen sie hoch und ließen sich dann mit gestreckten Beinen einfach auf den Boden fallen.

Bei Gaias Güte, das musste doch wehtun! Aber die Damen dort oben lächelten einfach, sprangen wieder auf und tanzten weiter.

Ich glaubte nicht, dass ich schon mal jemanden begegnet war, der so gelenkig war. Konnte man das lernen, oder war das irgendwas, was mit der Stadt zu tun hatte? Ich jedenfalls schaffte es nicht mein Bein so gerade hochzureißen und dabei auch noch zu lächeln. Allein die Vorstellung … oh nein, besser nicht.

Aber die Tanzmariechen waren nicht die einzigen, die etwas auf der Bühne vorführten. Als sie die Plattform tanzend verließen, wurde ihr Platz von einer Künstlerin eingenommen, die zu leisen melodischen Klängen ein Lied über den Frühling und das Leben sang.

Ihre Stimme war ein Traum. Sowas hatte ich noch nie gehört.

Zum ersten Mal in meinem Leben musste ich zugeben, dass Eden nicht nur schlechtes erzeugte. Diese Frau dort oben auf der Bühne, war nur ein Tropfen in einem Ozean, aber ohne diesen Ozean, hätte es diesen einen Tropfen wohl niemals gegeben. Und sie war auch nicht die Letzte, die die Bühne betrat. Es folgten weitere Vorführungen von Künstlern der Stadt. Musiker, ein Tanzpaar, ein Mann der Zaubertricks vorführte, die mich mehr als einmal staunen ließen. Und ja, dann kam auch noch die Tiershow, für die Jasper sich wirklich begeisterte. Hunde die tanzten und Kunststücke vorführten.

Immer wieder wurde die Bühne von neuen Leuten besetzt und ich begann mich schon zu fragen, ob die ganze Stadt etwas vorführen wollte, doch dann verließen die Frau, die mit dem Feuer getanzt hatte, das Podest und wurde durch eine Reihe von Männern und Frauen ersetzt. Es mussten an die dreißig Leute sein, die sich in Reih und Glied vor der Wand aufstellten und ihren Blick auf die Zuschauer richtete. Die Meisten von ihnen trugen graue Kleider und dunkle Anzüge, aber es gab auch einen Mann in einem grünen Anzug und zwei Frauen in grünen Kleidern, die sich ähnelten, wie ein Ei dem andren. Die Frauen waren Zwillinge. Das mussten ein Adam und zwei Evas sein, denn nur diese trugen heute grün. Auch in der grauen Kleidung gab es mehrere Zwillingspaare und sogar zwei Mal Drillinge. Und die vier Männer neben Dascha, schien Vierlinge zu sein. Du gute Güte, vier Kinder auf einen Streich.

Unter der Geräuschkulisse der Menschenansammlung, wurde eilig ein Rednerpult auf der Bühne aufgebaut. Während das geschah, bemerkte ich, dass ich ein paar Leute auf der Bühne kannte. Da war zum einen Dimitri, der ungefähr in der Mitte stand. Und auch Dascha entdeckte ich ganz außen, in einem langen grauen Kleid, das im Sonnenlicht silbern schimmerte.

Ich fragte mich gerade, was die beiden und auch die anderen, dort oben machten, als brandender Beifall und tobender Applaus aufkam. Pfiffe und Jubelrufe, flogen durch die Luft und dann trat Despotin Agnes Nazarova die Bühne.

Auf ihren Gehstock gestützt und doch hochaufragend, schritt sie über die Bühne, als sei sie eine Königin und dies ihr geliebtes Königreich. Doch als sie sich an das Podium stellte und nach dem Mikrofon griff, gab es einen fürchterlichen Laut, bei dem ich mir fast die Ohren zugehalten hätte.

Die beiden Gardisten, die sie auf Schritt und Tritt begleiteten, reihten sich zwischen den anderen Leuten hinter ihr auf.

Das bewegte Bild, auf der großen Leinwand, verblasste langsam und wurde nun durch ein Foto von einem Mann und einer Frau ersetzt, die glücklich lächelnd, an einem Tisch unter freiem Himmel saßen.

Agnes hob das Mikrophon an den Mund. „Willkommen. Willkommen auf diesem Fest, Willkommen in dieser Stadt, Willkommen im Leben und Willkommen in Eden.“ Sie ließ den Blick über die Menge schweifen, als wollte sie wirklich jeden einzeln begrüßen. „Es ist noch gar nicht so lange her, da traf die Völker dieser Welt ein Schicksalsschlag, der uns alle an den Rand der Ausrottung gebracht hat. Unsere Zahl wurde von Tag zu Tag geringer und es gab nichts und niemanden, der etwas dagegen tun konnte. Doch dann trat eine Gruppe der klügsten Köpfe dieser Stadt zusammen und fand eine Antwort auf die schwierigste Frage, der wir uns jemals hatten stellen müssen: Wie können wir überleben? Die Antwort darauf, war genauso einfach wie wirkungsvoll: das Eden-Projekt.“

Das Bild hinter ihr wechselte auf eine Frau, die die einen Säugling im Arm hielt. Das Baby wirkte ganz zerknautscht.

Agnes ließ ihren Blick majestätisch über ihre Zuhörer gleiten. Sie schien es zu genießen, wie die Leute an ihren Lippen hingen. „Heute auf den Tag genau, ist es siebzig Jahre her, dass die ersten Adams und Evas beschlossen haben, sich in den Dienst der Menschheit zu begeben und aus einer Welt voller Probleme, eine Zukunft mit wirklichen Aussichten und echten Chancen zu machen. Darum wollen wir sie ehren. Wir wollen die ehren, die uns eine Zukunft ermöglichten. Wir ehren die, die einmal waren, die, die sind und auch die, die kommen werden.“

Die Leinwand ließ das Bild verschwinden und zeigte nun eine Gruppe von Männern, die lachend vor einem der Stadttore standen und sich die Arme gegenseitig auf die Schultern gelegt hatten.

„Doch niemand, auch nicht die Menschen, die all das hier erst ermöglicht haben, konnten auch nur ahnen, wie erfolgreich eine Idee, die aus Verzweiflung geboren worden war, einmal sein würde. Wer einmal dort draußen vor diesen Mauern gewesen ist und das Elend und die Überreste einer einst blühenden Zivilisation gesehen hat, weiß was wir alles verloren haben und auch, welcher Gewinn diese Stadt ist. Das was wir hier leisten, ist mehr als nur der Erhalt der Menschheit, es ist ein Wunder. Meine Kinder …“ Sie deutete mit einer eleganten Geste auf die Männer und Frauen hinter sich, „… sind ein Wunder.“

Was? Das waren alles die Kinder von Agnes? Oh Gaia, wie oft in ihrem Leben war sie denn schwanger gewesen?

„Jeder Mensch in dieser Stadt ist ein Wunder. Und wenn wir weiter an dem …“

Als die Leinwand das nächste Mal das Bild wechselte, wurden alle Geräusche um mich herum zu einem fernen Rauschen ohne jeden Sinn und Verstand. Die Welt versank einfach und es existierte nur noch das Foto der beiden jungen Frauen, die sich vor dem Turm der Evas grinsend in den Armen hielten.

Die eine Frau war ohne jeden Zweifel Olive. Sie war viel jünger als heute, Anfang zwanzig würde ich schätzen und sie strahlte vor Lebensfreude. Ihre blauen Augen waren klar und ihre Lippen wurden von einem bezaubernden Lächeln umspielt.

Doch es war die andere Frau, die mein Denken einfach lahmlegte.

Auf dem Foto war sie jünger als Olive. Ihre helle Haut schimmerte im Sonnenlicht und der Wind spielte mit ihrem langen, blonden Haar. Das feinzügige Gesicht strahlte. Ihre hellbraunen Augen funkelten vergnügt, so als hätte sie keine Sorgen.

Ich kannte dieses Funkeln. Ich hatte es so oft selber gesehen, wenn sie mich angelacht hatte.

Die junge Frau, die dort von Olive im Arm gehalten wurde, war niemand anders als meine Mutter. Olive stand mit meiner Mutter vor dem Turm der Evas. Meine Mutter war auf diesem Foto. Das Foto zeigte meine Mutter in Eden.

Nein, das konnte nicht wahr sein, das war unmöglich. Mama hatte Eden gehasst. Schon als ich noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sie mich immer davor gewarnt, in die Nähe dieser Stadt zu kommen. Sie hatte mir gesagt, dass schreckliche Dinge hinter den Mauern von Eden geschahen und die Menschen hier böse Monster seien. Ich selber hatte erlebt, dass diese Menschen Monster waren.

Wie konnte meine Mutter auf diesem Foto sein?

„Alles okay mit ihnen?“ Dante beugte sich ein wenig vor. „Sie sind plötzlich ein wenig blass.“

Nur sehr langsam wandte ich ihm den Blick zu. „Was ist das für ein Spiel“, fragte ich so leise, dass meine Stimme in der Geräuschkulisse fast unterging.

„Was meinen sie?“

„Das Bild!“, fauchte ich ihn an und zeigte auf die Leinwand, auf der das Foto mit meiner Mutter verblasste und durch eines mit einer Gruppe von Kindern ersetzt wurde. „Wie habt ihr das gemacht?! Warum tut ihr das?! Findet ihr das lustig?!“

Verwirrt schaute Dante zu dem großen Bildschirm. „Ich weiß nicht, was sie meinen.“

Natürlich sagte er das. Wahrscheinlich war das nur wieder eines von den Psychospielchen, das die Städter so gerne spielten. Aber ich hatte dort oben meine Mutter zusammen mit Olive gesehen. Sie hatten vor dem Turm der Evas gestanden. Sie hatte glücklich gewirkt. Sie hatte … oh Gaia.

Alles wird gut, meine kleine Biene.

Nein. Nein, das konnte nicht sein. Das war ein Trick, nichts weiter als ein Trick. Und ich würde nicht ruhig hier sitzen bleiben und mir das antun. Das war nicht nur grausam, das war tückisch und schändlich.

Ohne ein Wort erhob ich mich von meinem Platz und kletterte von der Kutsche. Der Medi-Reif war mir egal. Und wenn das verdammte Ding mich ausschaltete, dann war es eben so.

„Hey!“ Auch Dante sprang auf und hastete mir hinterher. „Was machen sie da? Wo wollen sie hin?“

Ich drückte die Lippen aufeinander und weigerte mich, noch etwas dazu zu sagen. Sie würden versuchen es gegen mich zu verwenden. Sie wollten mich brechen, aber ich würde mich nicht brechen lassen, das konnten sie vergessen.

„Verdammt, Kismet!“ Gerade, als ich auf die Absperrung zulief, ergriff Dante mich am Arm und zog mich zurück. „Könnten sie mir bitte verraten, wo sie so plötzlich hinwollen?“

„Weg! Weg von dir und dieser ganzen Farce!“ Ich versuchte ihn wegzustoßen, doch dadurch errichte ich nur, dass er mich noch fester hielt. „Lass mich los!“

„Haben sie ihren Medi-Reif vergessen? Was glauben sie, wie weit sie kommen, wenn sie …“

„Das ist mir egal!“, fauchte ich ihn an und konnte meine Wut kaum noch im Zaun halten. „Alles ist besser, als das hier!“

Um uns herum wurden die Leute auf uns aufmerksam. Das war wohl interessanter, als die Rede der Despotin. Aber nicht nur die Besucher schauten zu uns herüber. Auch Jasper regte den Hals und unter den Adams bemerkte Sawyer, dass hier etwas vorging. Aber er kam nicht zu mir, er blieb wo er war und beobachtete mich nur mit schmalen Lippen.

„Sind sie verrückt?“ Dante versuchte mich zurück zur Kutsche zu ziehen, aber ich stemmte mich mit aller Kraft gegen ihn. „Hör sie mit diesem kindischen Verhalten auf.“

„Warum? Damit ihr weiter in meinem Kopf herumpfuschen könnt?! Da mache ich nicht länger mit! Ich werde diesen ganzen Mist nicht …“

Mit einem „Was ist hier los“, tauchte Killian neben mir auf und fixierte Dantes Hand an meinem Arm, als wollte er sie wegreißen. „Was soll das?“ Ihm auf dem Fuße, folgte Geysir, den er an den Zügeln festhielt.

„Das wüsste ich auch gerne“, sagte Dante und vereitelte meinen Versuch, seine Finger von meinem Arm zu bekommen. „Höre sie endlich auf!“

„Warum sollte ich? Ihr hört doch auch nicht auf!“

Killian kniff die Augen ganz leicht zusammen. „Lassen sie Kismet los.“

„Das werde ich bestimmt nicht. Sie …“

„Nehmen sie sofort ihre Hände von dieser Eva, Gardist.“ Seine Worte beinhalteten eine versteckte Drohung. „Niemand hat die Befugnis, eine Eva gegen ihren Willen zu berühren.“

Die beiden lieferten sich ein kurzes Blickduell, an dessen Ende Dante mich mit einem Knurren freigab. „Bitte, aber geben sie mir nicht die Schuld, wenn sie sich gleich selber ausschaltet.“

Soweit kam es nicht, denn bevor ich mich überhaupt herumdrehen konnte, stellte Killian sich mir in den Weg und griff nach meiner Hand. Als ich sie ihm wieder entriss, schaute er mich beschwörend an. „Geh nicht“, sagte er sehr leise.

„Warum nicht?!“, fauchte ich. „Gibt es vielleicht noch ein paar Bilder, die ihr mir zeigen wollt?!“

Etwas ratlos musterte Killian mich. „Ich weiß nicht, was dich so aufgeregt hat, aber wenn du dich beruhigen würdest, könnten wir das zusammen klären, in Ordnung?“

Geysir stupste Killian an und als der nicht reagierte, versuchte das Pferd die Leckerlis auf eigene Faus aus Killians Hosentasche zu bekommen.

„Was gibt es da zu klären? Ich habe alles gemacht was ihr von mir wolltet und doch könnt ihr einfach nicht aufhören! Aber das geht zu weit! Meine Familie hat hiermit nichts zu tun und es ist einfach nur kaltherzig und abstoßend, dass ihr versucht mich damit zu brechen! Meine Mutter ist tot, warum also zerrt ihr sie aus der Vergangenheit?!“

Von hinten nährte sich Hufgetrappel und gleich darauf tauchte auch noch Kit, hoch zu Ross, neben uns auf.

„Was?“ Nun war Killians Verirrung komplett. „Was meinst du damit?“

Wäre Killian nicht Killian, würde ich es für eine Täuschung halten, aber er schien wirklich nicht zu wissen, um was es hier ging. „Das Bild!“, schrie ich ihm ins Gesicht. „Auf dem Foto war meine Mutter, zusammen mit deiner Mutter!“

Er machte den Mund auf, aber kein Wort kam heraus. Selbst Kit runzelte die Stirn, als fragte er sich, was hier los war. Er schaute nur zu der großen Leinwand, als könnte er allein durch seinen Blick das Foto wieder heraufbeschwören.

„Bist du dir sicher?“, fragte Killian leise?

War das sein Ernst? „Ich werde ja wohl wissen, wie meine Mutter aussieht“, zischte ich ihm ins Gesicht.

„Naja, sie ist bereits vor vielen Jahren gestorben und mit der Zeit verfälscht unsere Erinnerung manchmal, darum …“ Als mein Blick sich verhärtete, verfiel er kurz in Schweigen. „Vielleicht sieht die Frau auf dem Bild deiner Mutter einfach nur ähnlich.“

„Ihr habt wirklich für alles eine Erklärung, nicht wahr?“, fragte ich beißend. Warum nur versuchte er mir immer wieder zu erklären, dass mich meine Erinnerungen trogen? Das war jetzt schon das zweite Mal. Die Antwort war genauso simpel, wie die Frage: Weil er sich sonst mit der Wahrheit auseinandersetzen müssen und er wollte lieber blind bleiben. Das war so viel einfacher.

„Hey.“ Zögernd hob Killian die Hand an mein Gesicht und strich mit den Fingerspitzen federleicht über meine Wange. „Ich mache dir einen Vorschlag. Ich werde versuchen herauszubekommen, was es mit diesem Bild auf sich hat, in Ordnung?“

„Es ist ein Trick der Städter“, sagte ich leise. Ich konnte ihm keinen Vorwurf wegen seinem Verhalten machen. Er war schließlich so aufgewachsen und erzogen worden. „Ihr versucht mich zu brechen, damit ich tue was ihr wollt.“ Aber da würde ich nicht mitspielen.

„Niemand versucht dich zu brechen, Kismet“, erklärte Killian. „Bitte, hab doch ein wenig Vertrauen.“

Vertrauen, dass ich nicht lachte. Niemals würde ich einem Städter vertrauen, besonders nicht nachdem, was sie gerade versucht hatten. „Ich will in meine Suite. Sofort.“ Denn hier würde ich es keinen Moment länger aushalten.

Dante lachte auf. „In ihre Suite? Wie stellen sie sich das vor? Wir sind mitten auf der Parade.“

„Na und?“

„Vielleicht hat sie recht“, schritt Killian da ein, bevor Dante sich weiter quer stellen konnte. „Sie ist eine Eva, die frisch aus einer Fekundation kommt. Sie könnte schwanger sein. Diese Situation stresst sie und in ihrem Zustand, ist jede Form von Stress unter allen Umständen zu vermeiden.“ Er fixierte Dante sehr eindringlich. „Das ist meine ärztliche Meinung.“

Unwillig schaute Dante von ihm zu mir und dann weiter zu Kit, als könnte er ihm sagen, was er tun sollte. Dann schnaubte er. „Sie beide sind fürchterlich. Aber bitte, ich rufe einen Wagen und lasse uns abholen.“

Ich schaute nach oben zu Agnes am Rednerpult. Nein, ich würde mich nicht brechen lassen, weder von ihr noch von jemand anderem. Ich würde hier verschwinden. Nur noch drei kurze Tage, dann würde ich all das endlich hinter mir lassen können.

 

oOo

Kapitel 51

 

Eine Fälschung, das Bild musste eine Fälschung gewesen sein. Hier in Eden war sowas bestimmt möglich. Mit ihrer Technik, konnten sie alles Mögliche machen, es war bestimmt nicht schwer für sie, ein Foto zu erschaffen, auf dem meine Mutter abgebildet war. Sie konnten schließlich Filme machen und bewegte Bilder, so wie gestern auf der Leinwand. So ein Bild war sicher keine Herausforderung für sie.

Nur …

Es war das Gesicht meiner Mutter gewesen. Selbst wenn es eine Fälschung war, woher wussten sie, wie die Frau, die mich zur Welt gebracht hatte, aussah. Das konnten sie nicht wissen, das war unmöglich. Ich wusste, wie sie aussah. Vielleicht erinnerte sich Nikita auch noch an sie, aber wir waren die beiden einzigen Menschen, die das wissen konnten. Ansonsten gab es da niemanden mehr.

Hatten sie hier vielleicht die Möglichkeit, an meine Erinnerungen heran zu kommen? Konnten sie meine Erinnerung nehmen und aus ihr ein Bild machen? Aber wann und wie?

Eigentlich war das egal, denn es musste so sein. Wäre er nicht so, wäre dieses Bild echt, dann wäre meine Mutter wirklich hier gewesen. Meine Mutter wäre in Eden gewesen. Sie hätte hier gelebt, hier in einem Bett geschlafen, von den Speisen der Stadt gegessen und wäre durch die Straßen gelaufen.

Nein, es war eine Fälschung. Ich wusste nicht, wie sie es gemacht hatten, aber dieses Bild war nicht echt. Es sollte nur dazu dienen, mich zu verunsichern und genau das tat es im Moment auch.

Müde rieb ich mir übers Gesicht. Es war Vormittag. Ich saß allein im Rosengarten auf der Bank und starrte auf den Brunnen von Sophia. Der Himmel war leicht bewölkt. Die Sonne versuchte ihr Bestes, doch es schoben sich immer wieder dichte, graue Wolken vor sie. Da würde heute sicher noch Regen herunterkommen. So würde das Wetter wenigstens meinen Gemütszustand spiegeln.

Carrie hatte sich heute noch nicht blicken lassen, aber da ich später noch einen Termin bei Killian hatte, würde ich mich sicher noch an ihrer Gesellschaft erfreuen können. Im Moment war ich einfach nur froh, allein zu sein.

Natürlich hätte ich in meiner Suite bleiben können, aber je länger ich dort gesessen hatte, desto mehr hatte ich mich von den Wänden eingeengt gefühlt. Also war ich ins Freie geflohen, an den einzigen Ort, an dem ich mich hier jemals halbwegs wohlgefühlt hatte. Leider wollte sich dieses Gefühl heute nicht bei mir einstellen. Ich verstand einfach nicht, wie sie es gemacht …

„Was für eine verdammte Scheiße war das gestern?!“

Sawyers wütende Stimme erklang so unerwartet, dass ich erst am ganzen Körper zusammenzuckte und dann erschrocken herumwirbelte. Er stand im Rosenbogen und sah wirklich sauer aus.

„Du solltest dich doch unauffällig verhalten, um von ihrem Radar zu verschwinden!“, fuhr er mich an und fuchtelte dabei mit der Hand herum. „Stattdessen machst du in aller Öffentlichkeit einen riesigen Aufstand und bringst damit den ganzen Plan in Gefahr! Fällt es dir wirklich so schwer, mal für ein paar Tage die Füße still zu halten?!“ Er stapfte zu mir und baute sich bedrohlich vor mir auf. Er war wirklich, richtig sauer. „Was wäre gewesen, wenn sie dir für den Scheiß ein paar Tage Zwangsurlaub in der Suite erteilt hätten?! Dann wäre der ganze Plan ruiniert gewesen!“ Er starrte mich so zornig an, dass ich das Gefühl bekam, er hätte mich am liebsten über die Schulter geworfen, um mich in den Brunnen zu schmeißen.

Kurz war ich versucht, zurückzuschreien, einfach um meinen ganzen Frust an ihm auszulassen, aber heute brachte ich nicht die nötige Energie auf, um ihm die Stirn zu bieten. Irgendwo hatte er ja auch recht – nicht, dass ich das jemals laut zugegeben hätte. „Es wird nicht noch einmal vorkommen.“

Sawyer stutze und zog die Augenbrauen zusammen. „Das ist alles, was du dazu zu sagen hast?“

„Was soll ich denn sonst noch sagen?“ Ich lehnte mich auf der Bank zurück und schaute zu ihm auf. „Du hast recht, es war dumm gewesen und hätte nicht passieren dürfen.“ Leider hatte ich in dem Moment, in dem ich das Bild gesehen hatte, alles andere um mich herum vergessen. Meiner Mutter auf dieser Leinwand zu sehen, hatte mich schockiert und ich hatte reagiert, ohne darüber nachzudenken.

Sawyer sah aus, als hätte er mich gerne weiter angeschrien, aber da ich einsichtig war, hatte er seine Munition verloren.

Seine Lippen wurden dünn. Er lief ein Stück auf und ab und blieb dann wieder direkt vor mir stehen. „Naja“, knurrte er nur. „Wenigsten hatte das keine Konsequenzen. Aber reiß dich jetzt gefälligst zusammen, solche Ausfälle, können wir im Moment wirklich nicht gebrauchen.“

„Ich habe doch schon gesagt, dass es nicht nochmal passieren wird“, erwiderte ich ungehalten.

„Na hoffentlich.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Was auch immer dein Problem ist, lass es nicht an dich heran. In zwei Tagen sind wir hier weg und dann ist es sowieso egal. Also vergiss es einfach.“

Ich lachte scharf auf. Wenn das nur so einfach wäre. „Das ist etwas, dass mich verfolgen wird.“ Vielleicht sogar für den Rest meines Lebens, denn ich würde hier verschwinden, ohne jemals zu erfahren, was es mit diesem Bild auf sich hatte.

„Was meinst du damit?“

„Genau das was ich sage.“ Ich zog die Beine auf die Bank und legte mein Kopf auf die Knie. „Da war ein Bild auf der Leinwand. Killian sagt, ich hätte es mir nur eingebildet, aber ich weiß was ich gesehen habe.“

„Ein Bild?“

Ich öffnete gerade den Mund, um ihm zu antworten, als mir wieder einfiel, mit wem ich hier gerade sprach. Sofort erwachte mein Misstrauen. „Warum fragst du? Was interessieren dich schon meine Probleme?“

„Deine Probleme interessieren mich absolut nicht, aber egal was hier läuft, es beschäftigt dich. Wenn dein Problem dafür sorgt, dass du unüberlegt handelst, dann wird dein Problem zwangsläufig zu meinem Problem. Das können wir beide in Moment wirklich nicht gebrauchen, also raus mit der Sprache.“

„Du kannst doch sowieso nichts tun.“

„Das werden wir ja noch sehen.“

Ich zögerte. Es ging ihn nichts an und helfen würde er mir auch nicht können. Aber wenn ich ehrlich war, dann wollte ich darüber reden. Und er hatte mir schon einmal zugehört, ohne über mich zu urteilen. Was hatte ich schon zu verlieren? „Gestern, auf der Parade, als wir bei der Bühne waren, da war ein Bild auf der großen Leinwand.“ Ich zog meine Beine etwas enger an mich. „Es war ein Foto von meiner Mutter. Sie hat mit Olive zusammen vor dem Turm der Evas gestanden.“

Seine Augenbrauen zogen sich noch dichter zusammen. „Ein Foto von deiner Mutter? Hier in Eden?“

Ich nickte. „Sie war jünger gewesen, vielleicht so alt wie Nikita, aber sie war es.“ Ich konnte es immer noch nicht glauben. „Killian sagt, ich hätte mir da etwas eingebildet, oder verwechselt. Vielleicht sah das Mädchen meiner Mutter nur zum verwechseln ähnlich, aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Das Mädchen auf diesem Foto war meine Mutter.“

Er schwieg, als müsste er darüber nachdenken.

„Ich habe mir das nicht eingebildet.“ Ich biss mir auf die Lippe, bevor ich es wagte, die Frage zu stellen, die durch meinen Kopf geisterte. Es würde einfach verrückt klingen. „Können die Menschen in Eden Gedanken lesen? Oder Erinnerungen? Können sie ein Bild aus meinem Kopf nehmen und daraus ein falsches Foto machen?“

„Nein“, sagte er nachdenklich und schaute zum Rosenbogen. „Warte hier einen Moment, ich bin gleich wieder zurück.“ Und noch bevor ich ihn fragen konnte, was er vorhatte, war er schon verschwunden und ich blieb allein mit der Statur von Sophia zurück.

Das nahmen meine Gedanken zum Anlass, sofort wieder voll aufzudrehen. Wenn ich die Möglichkeit zuließ, dass dieses Bild echt war, was bedeutete das für mich? Oder auch für Nikita? Was wusste ich denn schon über die Vergangenheit meiner Mutter? Als sie starb, war ich noch ein Kind gewesen und über ihr Leben, wusste ich nur das, was sie mir erzählt hatte.

Allerdings konnte ich auch nicht leugnen, dass dies nicht das erste Mal war, dass sich da eine Verbindung zwischen meiner Mutter und Eden gezeigt hatte – wobei Verbindung in diesem Zusammenhang en zu starkes Wort war.

Es war das zweite Mal gewesen, dass sich eine Verflechtung zwischen meiner Mutter und Eden aufgetan hatte. Erst die Männer im Wald, die sie getötet hatten und nun auch noch dieses Foto. Ich wollte es leugnen, einfach weil es keinen Sinn machte, aber die Tatsachen lagen klar auf der Hand. Zwischen meiner Mutter und Eden gab es eine Verbindung und damit auch zu mir.

Das war ein Gedanke, der mir nicht gefiel. Ich wollte nichts mit diesem Ort zu schaffen haben. Nicht mit der Lebensweise und auch nicht mit den Menschen. Und doch ließ es mir einfach keine Ruhe. „Wer bin ich“, fragte ich die leere Luft. Leider konnte sie mir darauf keine Antwort geben. Um ehrlich zu sein, war ich mir nicht mal sicher, ob ich eine Antwort haben wollte, denn eigentlich wollte ich all das einfach nur endlich hinter mir lassen.

Wahrscheinlich war es auch besser, wenn ich die Vergangenheit einfach ruhen ließ. Ich wollte nicht daran denken müssen, was meine Mutter vielleicht für Geheimnisse gehabt hatte. Ich wollte nicht, dass ihr Andenken von dieser Stadt zerstört wurde. „Dann vergiss es doch einfach.“

Aber wenn sie wirklich in Eden gewesen war, warum hätte sie das vor mir verheimlichen sollen? Das er gab doch keinen Sinn. Außerdem war sie völlig anders gewesen, als die Menschen in dieser Stadt. Diese Leute hier, würden in den Ruinen der freien Welt doch gar nicht zurechtkommen. Meine Mutter aber war eine Überlebenskünstlerin. Als mein Vater gestorben war, hatte sie sich ganz allein um drei Kinder gekümmert, von denen eines sogar noch ein Baby gewesen war. Sie hatte uns ernährt und eingekleidet und uns alles beigebracht, was sie wusste. Sie hatte dafür gesorgt, dass wir überleben konnten.  

Würde ich jetzt Roxy in der Wildnis aussetzen, wäre sie in einer Woche vermutlich tot. Das war doch schon Beweis genug, dass sie niemals hier gewesen sein konnte. Aus der Stadt in die Wildnis, ohne Kenntnisse? Unmöglich.

Aber was, wenn sie die Stadt verlassen und draußen jemand kennengelernt hatte? Was, wenn sie mein Vater getroffen hätte? Er hätte ihr alles zeigen und beibringen können, so wie sie es mit uns Kindern getan hatte. Konnte das wirklich so passiert sein?

Selbst wenn es so war, gab es niemanden mehr, den ich das fragen konnte. Allerdings musste es doch Menschen geben, die meine Eltern gekannt hatten, oder?

Darüber grübelte ich noch immer nach, als Sawyer zwanzig Minuten später wieder auftauchte. Dieses Mal erschreckte ich mich nicht. Vielleicht weil er mich nicht anschrie, sondern sich einfach neben mich auf die Bank setzte. In seiner Hand hielt er seinen Screen, den er auch sogleich einschaltete.

„Es gibt eine Datenbank für Elysium, die jedes Jahr nach dem Fest aktualisiert wird“, erklärte er, während sein Finger immer wieder das Display berührte, um sich durch die verschiedenen Dateien zu bewegen. „Dort werden Artikel über die Geschehnisse des Fests veröffentlicht. Videos, von den Aufführungen, besondere Ereignisse, Bilder die während des Fests gemacht wurden.“

Ich lehnte mich ein wenig zur Seite, um zu sehen, was er da machte.

„In dieser Datenbank müssten auch die Bilder der Diavorführung sein, ich muss sie nur finden.“

„Du meinst, die Bilder, die auf der Leinwand zu sehen waren?“

„Genau.“

Ich wurde ganz aufgeregt. Wenn das wahr war, würde ich gleich den Beweis dafür haben, dass ich mich nicht geirrt hatte.

„Hey, rück mir nicht so auf die Pelle“, schimpfte er, als ich mich näher heran schob, um besser sehen zu können. „Hier, dass müsste es sein.“ Er wählte eine Datei aus und auf dem ganzen Bildschirm waren in Reih und Glied kleine Bilder zu sehen.

Sofort begann mein Herz schneller zu schlagen und ich war mir nicht sicher, ob ich darauf hoffte, recht zu behalten, oder es besser wäre, wenn ich mich geirrt hätte.

Sawyer wählte das erste Foto an. Es war das von dem Pärchen, dass bei Sonnenschein an einem Tisch saß. Er schob das Bild zur Seite, sodass das nächste auftauchte. Es war das Foto von der Mutter mit dem Baby im Arm. Dann kam das Abbild von der lachenden Männergruppe.

„Das nächste müsste es sein.“ 

Sawyer wechselte zur nächsten Aufnahme, doch statt Olive und meiner Mutter, waren darauf drei kleine Jungs zu sehen, die einem Ball hinterliefen.

„Nein, das ist falsch.“ Das konnte nicht stimmen, denn dieses Bild war auf der Leinwand gewesen.

„Vielleicht sind die Bilder nicht in der gleichen Reihenfolge abgespeichert, wie sie gezeigt wurden“, überlegte Sawyer und gab mir damit wieder ein kleinen wenig Hoffnung, aber auch nachdem wir die restlichen Bilder durchgeschaut hatten, blieb das gesuchte Bild verschwunden. 

„Ich habe mir das nicht eingebildet“, sagte ich, stellte meine Beine auf den Boden und riss ihm den Screen aus der Hand, um selber noch einmal alle durchzuschauen. Sawyer hinderte mich nicht daran.

Verbissen wechselte ich von einem Bild zum anderen, doch keiner Spur von meiner Mutter. Es war zwecklos, dennoch schaute ich alle noch ein drittes mal durch, weil ich es einfach nicht glauben konnte. Leider musste ich es am Ende einsehen, das Foto von meiner Mutter und Olive war nicht dabei. „Sind das auch wirklich alle Fotos?“

„Ich wüsste nicht, wo ich sonst noch welche finden könnte.“

Ich ließ den Screen in meinen Schon sinken und starrte wieder auf den Brunnen. „Ich weiß was ich gesehen habe, das war keine optische Täuschung gewesen und ich denke mir das auch nicht aus.“ Warum sollte ich auch? Ich verspürte sicher nicht den Wunsch zu erfahren, dass der Ursprung meiner Mutter, und damit auch meiner, in Eden wurzelte.

„Das habe ich auch nicht behauptet.“ Er lehnte sich zurück und legte den Arm hinter mir auf die Bank.

„Aber du glaubst es.“

Er schwieg einen Moment, bevor er wieder sprach. „Ich stecke nicht in deinem Kopf, Baby. Wenn du sagst, du hast es gesehen, muss irgendwas dran sein. Hast du dich vielleicht wirklich getäuscht? Natürlich ist das möglich, aber genauso gut ist es möglich, dass du gesehen hast, was du glaubst, gesehen zu haben. Ich kann dir da leider nicht weiterhelfen, ich habe nicht besonders auf die Leinwand geachtet.“

Wenigstens behauptete er nicht rundheraus, dass ich mir das nur eingebildet hatte. „Danke“, sagte ich, legte den Screen zwischen uns auf die Bank und zog meine Beine wieder an meine Brust.

„Kein Grund gleich sentimental zu werden. Ich mache das nur aus Eigennutz, das sollte dir klar sein, also interpretiere da nur nicht zu viel hinein.“

Irgendetwas an seinen Worten ließ mich lächeln. Ich versteckte es hinter meinen Knien, damit er es nicht sah. Es war dumm, denn ich zweifelte nicht an seinen Worten und trotzdem konnte ich nichts dagegen tun.

Leider verblasste das Lächeln genauso schnell, wie es aufgetaucht war, denn dieses Bild ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Super, Eden hatte es endlich geschafft, sie hatten eine Hintertür gefunden und waren dadurch in meinen Kopf eingedrungen. Diese Stadt würde einfach keine Ruhe geben, solange sie sich nicht jeden Teil von mir zu eigen gemacht hatte. Doch das würde bald ein Ende haben. Nur noch zwei Tage, dann hätte ich dieses ganze Martyrium endlich hinter mir. Zwei weitere Tage meines Lebens, die diese Stadt mir gestohlen hätte.

Es war jetzt genau vierundvierzig Tage her, seit die Tracker mich durch die Tore von Eden gebracht hatten. Vierundvierzig Tage, die ich unwiderruflich verloren hatte und niemals zurückbekäme. Es war nur ein knapper Monat, aber er hatte mir gehört und sie hatten ihn mir genommen.

Wobei es eigentlich albern war, sich wegen der paar Wochen aufzuregen, wenn man bedachte, dass Sawyer bereits seit sechzehn Jahren ihr Gefangener war – mehr als die Hälfte seines Lebens. Aber es war mein Monat gewesen und es war nur das sprichwörtliche Tüpfelchen auf dem I, zu dem ganzen anderen Mist, den sie mir angetan hatten.

Der Wind frischte auf und die Sonne verschwand wieder hinter dunklen Wolken. Über uns raschelte die Krone des Baumes. Ein Blatt löste sich und wurde vom Wind, bis zum Brunnen getragen, wo es auf der Wasseroberfläche liegen blieb.

Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Sawyer. Wie es für ihn wohl sein würde, nach all den Jahren endlich wieder frei zu sein. Würde er überhaupt noch klarkommen, oder war er von diesem Leben mittlerweile so verweichlicht, dass er Schwierigkeiten bekommen würde? Er war schließlich noch ein halbes Kind gewesen, als man ihn nach Eden gebracht hatte. Das musste schrecklich für ihn gewesen sein, noch schrecklicher als das, was mir widerfahren war. Oder?

Als hätte er gespürt, dass ich ihn beobachtete, drehte der den Kopf und hob eine Augenbraue. „Was?“

„War es für dich auch so schwer, als man dich damals hergebracht hat?“

„Du meinst, ob ich mich gut eingegliedert habe und ihre Weisheiten sofort als Gebot anerkannt habe?“, fragte er äußerst sarkastisch.

Ich nickte.

Er drehte den Kopf wieder weg und richtete seinen Blick auf das schwimmende Blatt. „Meine Situation lässt sich mit deiner nur schwer vergleichen. Ich war damals erst zwölf gewesen, noch ein Kind. Zwar hatte ich mich gewehrt, aber es ist viel einfacher ein Kind einzuschüchtern und ihm dieses Leben aufzuzwingen, als einer erwachsenen Frau. Ich bin mit dem ganzen Mist und dem Wissen, was ich einmal aus mir werden sollte, aufgewachsen.“

„Das heißt, du hast dich von Anfang an gefügt?“

Er schnaubte. „Von wegen. Ich habe meinen Unmut nur nicht so offen gezeigt. Meine Ablehnung dieses Systems ist eher … indirekt.“

Aha, indirekt. So bezeichnete man sein asoziales Verhalten jetzt also.

„Außerdem hatten sie kein Druckmittel gegen mich, zumindest nicht, bis Salia geboren wurde.“

Aber gegen mich hatten sie eines. Sie konnten sich sicher sein, dass ich alles tat was sie wollten, solange sie meine Schwester in ihrer Gewalt hatten. Doch diese Art von Druckmittel war ein zweischneidiges Schwert. Ihnen musste einfach bewusst sein, dass ich ihr Spiel nur solange mitspielte, bis ich einen Ausweg aus dieser Situation gefunden hatte.

„Was ist mir deinen anderen Kindern?“, wollte ich wissen. „Ich weiß ja, dass du keine Beziehung zu ihnen hast, aber kannst du sie wirklich guten Gewissens zurücklassen?“

Dieses Mal antwortete er nicht sofort. Die Sache ließ ihn also doch nicht so kalt, wie er gerne tat. „Sie werden hier ein gutes Leben haben. Man wird sie nicht so ausnutzen, wie sie es mit Salia vorhaben.“

Denn sie waren nicht fruchtbar. „Ist Salia dein ältestes Kind?“

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf, um seine Aussage zu unterstreichen. „Mein Ältester ist ein Junge, Cyan. Ich war neunzehn, als er auf die Welt kam, das ist jetzt neun Jahr her.“

Er kannte seinen Namen, er wusste wie alt er war. „Wer ist die Mutter?“

Seine Mine wurde verkniffen. „Celest. Sie fand mich von Anfang an äußerst … ansprechend.“

Er hatte ein Kind mit Celest? Warum nur wunderte mich das eigentlich? Die Frau war schließlich besessen von ihm und sie ging nicht nur zu ihm, um sich die Füße massieren zu lassen. „Siehst du ihn denn manchmal? Ich meine, wenn …“

„Weißt du, wenn du schon den Mund aufmachen musst, können wir das auch anders nutzen.“ Als auf seinen Lippen wieder diese arrogante Selbstgefälligkeit auftauchte, wurden mir zwei Dinge bewusst. Erstens: er wollte wohl nicht länger über sich sprechen. Und zweitens: Sollte er jetzt versuchen, meinen Mund für irgendwelche Dinge zu nutzen, würde ich ihm in die Eier treten.

„Ich verzichte.“

„Du weißt nicht, was dir entgeht.“ Seine Stimme war ein wenig tiefer geworden, der Blick dunkler.

Sofort war wieder dieser Kuss in meinen Gedanken. Ich schaute ihn finster an. „Ich erinnere mich noch sehr genau daran, wie du mir den ganzen Mund vollgesabbert hast. Darum weiß ich auch, dass ich keine Wiederholung brauche.“

„Sicher?“

„Absolut sicher.“

„Na wenn das so ist.“ Er griff nach seinem Screen und erhob sich von der Bank. „Da ich besseres zu tun habe, als neben deinem trübsinnigen Arsch zu sitzen, werde ich jetzt verschwinden.“

Wie nett. „Ich werde es wohl gerade noch verkraften, endlich von die erlöst zu sein.“

Er lachte leise und wandte sich dann ab, doch als er den Rosenbogen erreicht hatte, blieb er noch einmal stehen, als wäre ihm noch etwas eingefallen. „Ich weiß, dass ist jetzt vermutlich nicht der beste Zeitpunkt dafür und du bist mit deinen Gedanken sicher woanders.“

„Aber?“

„Aber wir brauchen diese Uniform.“ Sein Blick war sehr eindringlich. „Es sind nun noch zwei Tage und ohne die Uniform …“

„Ist der ganze Plan hinfällig.“ Ich seufzte. „Ich werde mich darum kümmern.“ Auch wenn ich im Moment noch nicht die Spur einer Ahnung hatte, wie genau ich das tun sollte.

„Ich verlasse mich darauf.“

Nur kein Druck. „Geh weg und blende jemand anderes, mit deinem Charme.“

Er grinste frech, ließ mich aber wortlos alleine. Aber er hatte Recht, ich musste etwas wegen dieser Uniform unternehmen, denn ohne sie wären wir aufgeschmissen.

Vielleicht sollte ich am Morgen von Salias Geburtstag einen Gardisten hinterrücks überfallen. Es lungerten schließlich immer einige vor dem Turm der Evas herum und ich war eine gute Jägerin. So schwer sollte das also nicht sein.

Ich könnte auch einfach in die Kaserne schleichen und mir dort eine Uniform besorgen. Allerdings wäre das ziemlich riskant. Außerdem bräuchte ich zuvor Agnes Keychip. Noch etwas, dass ich ganz dringen an mich bringen musste. Leider wusste ich auch hier nicht genau, wie ich das anstellen sollte.

Kam nur mir das so vor, oder waren meine Aufgaben, in diesem Plan, weitaus heikler, als die seinen?

 

oOo

Kapitel 52

 

„Und, bist du schon aufgeregt?“

„Warum?“ Ich zog den Stuhl vor Killians Schreibtisch zurecht und ließ mich drauf fallen. Meine Gedanken waren immer noch bei Agnes‘ Keychip und der Uniform, darum hoffte ich jetzt einfach mal, dass dieser Termin schnell vorbei gehen würde. Ich hatte im Moment wirklich dringendere Aufgaben, um die ich mich kümmern musste.

„Heute erfahren wir vielleicht schon, ob du schwanger bist.“ Killian lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schob ein paar Fenster auf seinem Digital-Desk zurecht. „Hast du denn irgendwelche Beschwerden? Morgenübelkeit, oder häufigen Harndrang? Auch Heißhungerattacken, oder schmerzende Brüste können ein Zeichen für eine Schwangerschaft sein.“

Wenn ich das so hörte, war eine Schwangerschaft nicht besonders erstrebenswert. „Nein, gar nichts, mir geht es gut.“ Eine knappe Woche war vergangen, seit ich Sawyers Haus verlassen hatte. Killian hatte mich heute zu diesem Termin gebeten, um schon mal eine Voruntersuchung zu machen. Er erhoffte sich wohl ein positives Ergebnis. Tja, da würde er wohl bitter enttäuscht werden, denn ich war nicht schwanger. Das war eine unumstößliche Tatsache.

„Das freut mich zu hören. Trotzdem möchte ich ein paar Dinge überprüfen. Am Besten gehst du erstmal auf die Toilette und gibst mir eine Urinprobe.“

Natürlich, brachten wir als erstes, den widerlichen Teil hinter uns.

Da er nicht zum ersten Mal sowas von mir verlange, stand ich einfach wortlos auf und ging zu der schmalen Tür an der hinteren Wand. Dahinter verbarg sich ein kleines Bad mit Toilette und Waschbecken. In einem Regal an der Seite, standen ganz viele leere Becher. Ich nahm mir einen davon, und auch einen Deckel, auf den ich mit dem bereitgelegten Stift, ein großes K schrieb. K stand für Kismet. Dann tat ich das, was man von mir erwartete.

Als ich fertig war, stellte ich den gefüllten Pinkelbecher angewidert auf den Rand des Waschbeckens und drehte das Wasser auf. Vor Eden wäre mir niemals in den Sinn gekommen, jemanden meinen Urin zu geben. Doch hier schienen die Ärzte ganz versessen darauf, jede Körperflüssigkeit derer sie habhaft werden konnten, an sich zu reißen. Da stellte sich einem doch die Frage, ob die nicht genug anderes zu tun hatten.

Ich schnaubte bei dieser Überlegung, stellte den Wasserhahn ab und griff nach dem Handtuch am Spülbecken. Sich über solchen Unfug den Kopf zu zerbrechen, war immer noch einfacher, als sich mit den wahren Problemen herumzuschlagen.

Einen Moment starrte ich noch mein Spiegelbild an, dann hängte ich seufzend das Handtuch zurück und griff den Becher mit den Fingerspitzen. Diese Überlegungen, würden mich nicht weiterbringen und außerdem musste ich mir endlich überlegen, wie ich bestimmte Dinge anging. Wie zum Beispiel, eine Uniform der Garde zu besorgen. Aber als erstes würde ich den Termin bei Killian hinter mich bringen müssen. Also besann ich mich wieder darauf und trat aus der Toilette zurück ins Behandlungszimmer, wo Killian noch immer hinter seinem Schreibtisch saß und mit dem Blick auf die virtuellen Fenster, auf der Platte herumtippte.

„Wo willst du den Becher hinhaben?“

„Stell ihn einfach auf das Tablett dort drüben auf der Anrichte“, sagte er ohne aufzublicken. „Gleich neben dem anderen Becher.“

Igitt. Und da sollte noch mal einer behaupten, Menschen von außerhalb seien eklig. Klar, wir waren staubverschmutzt und sollten uns vielleicht öfters die Füße waschen, aber wenigstens entsorgten wir Ausscheidungen nicht in die Schränke anderer Leute.

Wie Killian es wollte, stellte ich den Becher zu dem anderen auf das Tablet. Genau wie meiner, hatte auch der andere, auf dem Deckel, eine Beschriftung. Zwar konnte ich sie nicht lesen, aber ich ging einfach mal davon aus, dass es der Name einer anderen Frau war, die hier in einen Becher gepinkelt hatte.

„Ich möchte dir noch etwas Blut abnehmen und eine Ultraschaltuntersuchung machen“, erklärte Killian, als ich mich zu ihm herumdrehte.

„Eine was?“

Ein kleines Lächeln kletterte auf seine Lippen. „Ultraschall. Falls es zu einer Schwangerschaft gekommen ist, kann ich sie damit vielleicht schon feststellen. Es würde dir auf jeden Fall etwas Ruhe vor Agnes einbringen.“

„Weil die alte Hexe dann zufrieden gestellt wäre.“

Dafür bekam ich ein richtiges Lächeln. „Alles im Namen der Menschheit.“

Aber sicher doch.

Killian erhob sich hinter seinem Schreibtisch und ging zu den Schränken auf der linken Seite. Dort begann er die inzwischen vertrauten Utensilien für die Blutabnahme herauszusuchen. „Möchtest du darüber sprechen?“

„Worüber?“

„Über das, was gestern auf der Parade geschehen ist.“

Nachdem was er gesagt hatte? Bestimmt nicht. „Es ist nichts geschehen. Wie du bereits gesagt hast, ich habe mich wohl geirrt und die Frau auf dem Bild einfach verwechselt.“ Ich lehnte mich mit verschränkten Armen an die Anrichte und forderte ihm mit einem Blick heraus mir zu widersprechen.

„Das ist wohl die naheliegendste Erklärung“, sagte er, ohne auch nur einen Blick in meine Richtung zu werfen. „Mir selber ist das schon häufiger passiert. Naja, hier wimmelt es ja auch von Mehrlingen, da ist es manchmal gar nicht so einfach die Leute auseinanderzuhalten.“

Dem konnte ich nicht widersprechen. Wenn ich nur an meine erste Begegnung mit Killian dachte. War das wirklich erst einen knappen Monat her? Ich hatte das Gefühl, bereits seit Jahren hier festzusitzen.

Mit einem „So“, wandte er sich mir zu, doch bevor er auch nur auf die Idee kommen konnte, mich mit irgendeiner Nadel zu piken, summte sein Schreibtisch. Nein, ich halluzinierte nicht, der Schreibtisch summte wirklich.

Killian gab ein Seufzen von sich, trat wieder an den Tisch und berührte einen blinkenden Punk auf der Fläche. „Ja?“

„Wenn sie einen Moment Zeit hätten“, sagte eine blecherne Frauenstimme aus dem Tisch. Das war wohl die integrierte Komkon. „Ich habe hier ein Problem mit der Akte von Frau McClanahan.“

Irgendwie kam mir diese Stimme bekannt vor. War das nicht das Weib, dass ich hier einmal bei einer Knutscherei mit Killian erwischt hatte?

„Hat das nicht noch einen Moment Zeit?“, wollte Killian wissen

„Es geht um die HELLP-Untersuchung. Ich muss die Daten dringend an Doktor Bishop weiterleiten.“

Killian seufzte. „In Ordnung, einen Augenblick.“ Er schaute zu mir herüber. „Das dauert sicher nur einen Moment. Du kannst dich ja schon mal setzten, wir machen dann gleich weiter.“

Ich nickte. Was sollte ich auch sonst tun? Ich würde mich sicher nicht beschweren. Doch als er dann zur Tür hinaus verschwunden war, blieb ich eine ganze Weile allein. Erst tat ich genau das was er gesagt hatte und setzte mich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Nach ein paar Minuten wurde das so langweilig, dass ich begann lustlos im Raum umherzuschlendern und mir das ganze Zeug, dass er hier hatte, etwas genauer anzuschauen.

Ein paar der Dinge kannte ich natürlich schon, aber da war immer noch so viel, dessen Sinn sich mir auch nicht erschloss, als ich es zwischen den Fingern hin und her drehte.

Ich nahm gerade ein silbernes Teil in der Hand, das wie ein verzerrter Blitz aussah, als mein Blick wieder auf die beiden Pinkelbecher fiel und mir eine Idee kam. Wie hatte Killian gesagt? Wenn ich bereits schwanger wäre, würde Agnes mich vorerst in Ruhe lassen. Es waren zwar nur noch zwei Tage, bis zu unserer geplanten Flucht, aber alles was mich vom Radar der Despotin holen würde, wäre sicher hilfreich.

Ich legte das Teil in meiner Hand zurück auf die Arbeitsfläche, warf einen Blick zur Tür und horchte auf Geräusche. Die Tür war zwar offen, aber alles war still. Aus diesem Winkel konnte auch Carrie mich nicht sehen. Vermutlich hatte sie ihr Gesicht sowieso wieder in ihrem Screen zu stecken.

Einen Moment zögerte ich, aber dann eilte ich zum Tablett, griff nach meinem Becher und schraubte eilig den Deckel ab. Das gleiche tat ich mit dem anderen Becher und dann tauschte ich die Deckel einfach aus. Zwar wusste ich nicht, ob die Frau die in den anderen Becher gepinkelt hatte, schwanger war, aber wenn sie es war, würde mir das sicher das Wohlwollen der Despotin einbringen.

Sobald beide Becher wieder fest verschraubt waren, stellte ich sie zurück auf das Tablett und …

„Was machst du da?“

Ertappt wirbelte ich herum und stieß mir auch noch die Hand an der Anrichte – au, verdammt! Dann starrte ich Killian an, der nun in der offenen Tür stand und mich interessiert musterte. So ein Mist, wo kam der den so plötzlich her?!

„Kismet?“ Seine Stirn zog sich leicht in Falten. „Alles in Ordnung?“

„Ja natürlich, ich … ähm, was sollte denn nicht in Ordnung sein?“ Ja genau, stell dich nur blöd. Als wenn das alles wieder in Ordnung bringen würde. Hatte er etwas gesehen?

Nachdenklich trat Killian in den Raum und schloss die Tür hinter sich. Sein Blick glitt einen kurzen Moment auf das Tablett.

Oh Himmel, ich musste ihn ablenken. Warum nur hatte ich nicht besser aufgepasst? Er durfte nicht bemerken, was ich getan hatte. Wenn Agnes davon erfuhr … ich wollte mir gar nicht vorstellen, was dann geschah. „Ähm …“ Denk nach! „Ich wollte dich noch was fragen“, sagte ich eilig und bewegte mich um ihn herum Richtung Schreibtisch, damit die Anrichte aus seinem Blickfeld verschwand. Wie erhofft drehte er sich mit mir.

„So, wolltest du?“ Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „Dann frag.“

Ja, das war ein ausgezeichneter Vorschlag. Oh Gaia, was nur sollte ich ihn fragen?

Als ich still blieb, wollte Killian sich wieder der Anrichte zuwenden.

Beinahe schon panisch machte ich einen Schritt nach vorne, packte ihm am Kragen seines weißen Kittels und riss ihn wieder zu mir herum.

Überrascht zog er die Augenbrauen nach oben, wehrte sich aber nicht gegen meinen Griff. Er schien sich einfach nur zu wundern und musterte mich verwundert. „Bist du dir sicher, dass alles in Ordnung ist?“

Ich nickte nur, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte.

Killian wartete einfach ab und beobachtete mich mit seinem ruhigen Blick. Er versuchte zu verstehen, was mit mir los war. Doch dann wollte er den Kopf wieder zur Anrichte drehen.

In dem Moment geriet ich ein wenig in Panik und tat ich etwas sehr Törichtes, aber auf die Schnelle, fiel mir einfach nichts besseres ein. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und drückte meinen Mund auf seinen. Es war nur zur Ablenkung gedacht, doch als unsere Lippen sich berührten, begannen sie zu prickeln und Gefühle zu wecken, die viel zu lange geschlummert hatten. Sie brachten mich nicht nur dazu, länger zu verweilen, sie ließen mich auch ein wenig näher rücken.

Killian brauchte nur eine Sekunde um seine Überraschung zu verdauen und dann erwiderte er den Kuss. Vorsichtig, sanft, als sei er sich nicht sicher, wie viel ich ihm erlauben würde.

Bei Gaias Güte, das fühlte sich toll an. Mein Körper schien zum Leben zu erwachen und all meine Sinne reagierten auf seine Nähe. Er schmeckte so gut. Und sein Geruch erst. So was hatte ich schon lange nicht mehr erlebt. Es war fast wie ein Rausch, der langsam von mir Besitz ergriff.

Als er dann auch noch eine Hand in meinen Nacken wanderte, während die andere sich an meine Taille legte, drängte ich mich ein wenig näher an ihn heran und genoss einfach nur den Moment.

Ich begann seine Nähe zu genießen, die Berührung und die Art wie er mich im Arm hielt. Darum fiel es mir auch nicht ganz einfach, mich wieder von ihm zu lösen und mich zurück auf die Fersen sinken zu lassen.

Killian folgte mich nicht. Er schaute mich nur an, als sei er gespannt darauf, was als nächstes geschehen würde. Seine Lippen waren leicht gerötet und seine Augen glänzten.

Einen Moment sahen wir uns nur an und forschten im Gesicht des jeweils anderen, nach dem, was wir nun zu erwarten hatten.

Wie mir nach ein paar Sekunden auffiel, hielt ich ihn immer noch am Kragen seines Kittels fest und irgendwie schaffte ich es auch nicht, meine Finger dazu zu bewegen, ihn loszulassen. Was war das nur auf einmal in mich gefahren?

„Das war unpassend“, sagte er dann leise.

Das war alles was ihm dazu einfiel?

„Tut mir leid.“ Das war alles was mir dazu einfiel?! Oh Gaia.

Aber trotz seiner Bemerkung, gab er mich nicht frei. Der Griff an meiner Hüfte wurde sogar ein kleinen wenig fester. In seinen Augen lag ein innerer Zwiespalt, den er mit einem „Ach scheiß drauf“ beendete und seine Lippen erneut mit meinen vereinte.

Ich wehrte mich nicht, oder stieß ihn gar fort, nein, ich kam ihm sogar noch entgegen und drückte mich gegen seinen festen Körper. Keine Ahnung was in diesem Moment über mich kam, aber ich wollte das. Nein, ich brauchte das. Das Gefühl seiner Nähe, seine Körperwärme, einfach einem anderen Menschen so nahe zu sein. Einem Menschen, dem ich vertrauen konnte – wenn auch nur ein kleinen wenig.

Seine Lippen und dieser besitzergreifende Griff … es fühlte sich so unglaublich gut an. Und endlich schaffte ich es meine Hand von seinem Kittel zu lösen, aber auch nur, um sie über seinen Körper zu schieben und diesen Mann in all seiner Pracht zu erkunden.

Der Kuss wurde so intensiv, das mir ganz warm wurde. Eine Hitze, wie ich sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Sie zog durch meinen Körper und ließ jede Faser meines Seins strammstehen. Ich konnte gar nicht anders, ich wollte ihn fühlen. Seine Haut, die Muskeln. Aber da war diese störende Kleidung im Weg. Die musste weg. Also versuchte ich ihm den Kittel von den Schultern zu streifen, während er damit begann mich langsam rückwärts zu drängen. Das Problem war nur, dass er mich scheinbar nicht loslassen wollte. „Zieh ihn aus“, verlangte ich und zerrte etwas nachdrücklicher an dem Kittel.

Killian nahm für genau zwei Sekunden die Hände von mir, damit ich das störende Kleidungsstück entfernen konnte. Als sie zurückkehrten, waren sie noch fordernder als zuvor. Ich spürte, wie er über meine Hüfte strich, hinunter zum Saum meines Kleides. Seine Finger berührten die nackte Haut an meinem Bein. Diese zarte Berührung ließ meinen ganzen Körper summen.

Meine Hände krallten sich in sein Hemd und zogen es aus seiner Hose. Dann schlüpfte ich ohne auch nur einen Moment inne zu halten, mit ihnen darunter und endlich konnte ich seine Haut spüren. Bei Gaias Güte, ja, das war es was ich wollte.

Ich trank seinen Atem, nahm ihn mit jeder Faser meines Körpers auf und genoss es, dass er unter meiner Berührung eine Gänsehaut bekam.

Doch dann spürte ich auf einmal den Schreibtisch in meinem Rücken. Killian hatte mich bis an das Möbelstück gedrängt – nicht das ich mich daran störte und wenn ihr ehrlich war, war das sogar ganz praktisch. Kurzerhand griff ich hinter mir nach der Kante, sprang mit dem Hintern auf den Schreibtisch und zog ihn dann sofort wieder an mich heran.

Um ihm so nahe wie möglich sein zu können, schlang ich meine Beine um seine Hüfte, presste ihn gegen mich und entlockte ihm damit ein Stöhnen. Dann begann ich damit sein Hemd aufzuknöpfen, während er versuchte mich mit dem Mund zu verschlingen.

Seine Hände schienen auf einmal überall zu sein. Er zog mich fester an sich, erkundete begierig meinen Mund und entlockte mir einen Seufzer. Leidenschaftlich hart und doch sanft, erkundete er jeden Winkel meines Gesichts, küsste meine Wange hinunter, zu meinem Hals. Seine Hand löste sich aus meinem Nacken, fand ihren Weg hinunter, bis sie an meinem Hintern liegen blieb.

Ich drückte meinen Rücken durch, als eine seiner Hände sich an meine Brust verirrte und sie sanft liebkoste. Das Gefühl war einfach nur herrlich. Auf einmal spürte ich eine Sehnsucht, wie ich sie vermisst hatte und in der ich mich verlieren konnte. „Killian“, seufzte ich, als seine freie Hand langsam und provozierend an mir herunter wanderte. Er fuhr jede Kurve nach, jedes Tal und jeden Berg, bis er wieder bei meinem Schenkel angekommen war.

Meine Finger arbeiteten währenddessen fieberhaft daran, dieses blöde Hemd aufzubekommen und als dann auch der letzte Knopf durchs Loch gegangen war, hatte ich endlich freien Zugang zu seiner Haut. Ich nutzte es ohne jede Scham aus, strich über die feste Landschaft, liebkoste seine Brust, so wie er es mit mir tat und bekam eine Gänsehaut, als er leise stöhnte. Es war neu und elektrisierend und erstaunlich.

Ich schaffte es, mich so weit von ihm zu lösen, um diesen Anblick auch mit den Augen verschlingen zu können. Die straffe Brust, den flachen Bauch, die Muskeln, die unter meinen Berührungen zuckten. Meine Hände schoben das Hemd zur Seite und da sah ich den großen, rötlichen Fleck an seiner Hüfte.

Was war das denn?

Er war größer als meine beiden Handflächen zusammen und erinnerte mich ein wenig an eine Flamme. Vorsichtig strich ich mit den Fingerspitzen am Rand entlang. Die Haut fühlte sich normal an.

„Ignoriere das“, raunte Killian, als er bemerkte, wie ich darauf starrte und ließ seine Hand erneut zum Saum meines Kleides wandern. Dieses Mal jedoch spreizten sich seine Finger an meinem Schenkel und schoben sich langsam unter mein Kleid. Ein herrliches Ziehen im Unterleib begann mir die Sinne zu vernebeln. „Es ist nur ein Geburtsmal.“ Sein Mund fand mein Ohrläppchen, küsste es, biss leicht herein und streifte es mit den Lippen, bis ich beinahe zitterte.

„Tut es weh?“, fragte ich leise und schloss die Augen. So konnte ich seine Nähe noch intensiver spüren.

„Nein.“ Da er wohl gerade keine Lust hatte sich über solche unwichtigen Dinge zu unterhalten, verschloss er meinen Mund kurzerhand mit seinem und ließ seine Hand dabei an meinem Bein immer höher wandern.

Oh Himmel, fühlte sich das gut an. Aber was er konnte, das konnte ich schon lange. Also schob ich meine Hände an seiner Brust nach unten, bis sie den Bund seiner Hose erreichten und dann begann ich damit sie langsam über die Hüfte zu schieben.

Gleichzeitig strich er mir die Träger meines Kleides von den Schultern. Der Stoff bauschte sich um meine Hüfte, während ein kühler Hauch meine nackte Hat streifte.

Eine sehr große, warme Hand, legte sich auf meine Brust. Ich seufzte und legte den Kopf in den Nacken, als er den Kopf senkte und damit begann, die empfindliche Spitze, mit der Zunge zu liebkosen.

Das plötzliche Summen des Schreibtisches schreckte mich auf. Es war das gleiche Geräusch wie vorhin, als die Arzthelferin ihn herausgebeten hatte. Dieses Mal jedoch ignorierte Killian es einfach und fuhr unbeirrt damit fort, mich langsam und systematisch, in den Wahnsinn zu treiben. Mittlerweile war seine eine Hand auf meinen Innenschenkel gewandert, während die andere noch immer mit meiner Brust zugange war.

So kurz vor dem Ziel.

Meine Beine begannen zu zittern und …

Wieder summte der Schreibtisch und dieses Mal warf Killian sogar einen kurzen Blick darauf. Aber erst als er noch ein drittes Mal summte, hielt er in seinem Tun inne. Er zögerte, löste dann aber schwer atmend seine Lippen von meiner Brust und griff an mir vorbei auf die Tischplatte zu dem blinkenden Punkt.

„Ja?“, fragte er so ruhig, als wäre hier drinnen alles normal.

Ich schob währenddessen meine Hand in seine Hose und lächelte, als er unter dieser Berührung scharf die Luft einsog.

„Olives Pfleger haben sich gerade gemeldet, ihre Wehen haben eingesetzt, sie ist auf dem Weg in den Kreissaal.“

Das war für Killian wie eine kalte Dusche. Augenblicklich griff er nach meiner Hand, um sie still zu halten. Das war wohl kein Moment, in dem er weiter gereizt werden wollte. „Wann ist sie hier?“

„Fünf bis zehn Minuten.“

Killian schloss die Augen, als hätte er das bereits befürchtet.

„Soll ich ihre restlichen Termine für heute absagen?“

Er musste zweimal tief durchatmen, bevor er ein „Ja“ herausbrachte. Als er dann die Hand von der Tischplatte nahm und mich wieder anschaute, bat sein Blick mich um Entschuldigung. „Da muss ich hin“, sagte er leise.

„Dann solltest du wohl gehen“, erwiderte ich genauso leise und nahm sämtliche Gliedmaßen von ihm. Das was sich eben noch so gut angefühlt hatte und mir so richtig erschien war, baute sich nun zu einer Blockade zwischen uns auf. Ich konnte seinen Kuss noch immer spüren und allein der Gedanke an das, was gerade fast passiert wäre, ließ meinen ganzen Körper kribbeln. Doch als er die Hand an mein Gesicht legen wollte, zuckte ich davor zurück. „Nicht.“

Seine Züge verhärteten sich kaum merklich. „Mach das nicht. Bitte.“

„Ich muss“, sagte ich mit fester Stimme und bedeckte mich eilig.

Seufzend stieß Killian sich vom Schreibtisch ab und begann damit seine eigenen Sachen in Ordnung zu bringen. Dabei bemerkte ich die kleinen Blicke, die er mir immer wieder zuwarf. Seine Haare sahen ziemlich zerzaust aus und seine Lippen waren ganz rot.

Erst als ich ihn beobachtete, wie er sich nach seinem Kittel bückte und ihn wieder überstreifte, wurde mir wirklich bewusst, was hier gerade fast passiert wäre. Bei Gaias dunkelsten Geheinissen, ich hatte das wirklich gewollt. Doch jetzt … es fühlte sich nicht an wie ein Fehler, was es gleich viel schlimmer machte. Was war nur los mit mir? Das Ganze sollte doch nur eine Ablenkung sein und jetzt … jetzt wusste ich nicht mehr was ich machen sollte.

Als Killian sich durch die Haare fuhr, um zu retten, was noch zu retten war, warf er mir wieder einen kurzen Blick zu. „Wenn ich hier fertig bin … also, wäre es in Ordnung, wenn ich kurz bei dir vorbeischaue?“

Mein erster Impuls war es „Ja“ zu sagen, aber stattdessen biss ich mir auf die Unterlippe.

„Nur kurz“, fügte er schnell hinzu, als befürchtete er mich sonst zu verschrecken. „Ich will nur reden.“

Schon bevor er geendet hatte, schüttelte ich den Kopf. Nicht weil ich nicht wollte, sondern weil ich nicht wusste, was mit mir los war und mir gerade selber nicht traute. „Das sollten wir lassen.“ Das was hier gerade fast geschehen war … es hätte nicht passieren dürfen. Ich durfte mich nicht nach einer weiteren Berührung sehnen, oder danach seine Lippen noch einmal zu spüren. Ich sollte mir nicht wünschen, dass er seine Hand noch einmal dort hinlegte, wo sie zum Schluss gewesen war, aber genau das war es was ich in diesem Moment wollte.

Hätte die Komkon sich nicht bemerkbar gemacht … außer mit Taavin und dem Fremden auf dem Markt, war ich noch nie mit einem Mann zusammen gewesen.

Der Gedanke an mein vorheriges Leben, ernüchterte mich so plötzlich, dass ich eilig von der Tischplatte hüpfte und mein Kleid zurecht zupfte. Nicht das ich es nötig hatte, aber das gab mir die Gelegenheit seinem Blick auszuweichen.

„Kismet, wir …“

„Stopp“, unterbrach ich ihn sofort. „Es gibt kein wir.“ Und es würde auch niemals eines geben. Das hier war nur aus der Situation heraus geschehen und würde sich sicher nicht wiederholen. Niemals würde ich einem Städter erlauben, mir so nahe zu kommen. Naja, noch mal.

Oh Himmel, was hatte ich mir nur dabei gedacht? Gar nichts, ich hatte gar nichts gedacht, ich hatte es einfach getan und mich so plötzlich in den Berührungen verloren, dass ich nichts mehr hatte dagegen tun können. Ich war nicht mal auf den Gedanken gekommen, etwas dagegen zu tun. Ich hatte das gewollt. Doch nun war mein Verstand wieder klar.

Killian hob die Hand und rieb sich damit nervös übers Kinn. „Das ist nicht richtig, wir können das nicht einfach so stehen lassen.“ Er fixierte mich. „Ich will das nicht einfach so stehen lassen.“

Sein Pech. „Dir wird nichts anderes übrigbleiben.“ Mein Blick glitt zur Tür. Eine schnelle Flucht nach vorne wäre wohl die beste Methode sich dieser Situation zu entziehen. Auf einmal war es mein sehnlichster Wunsch, schnellstens von hier zu verschwinden und das alles zu vergessen.

Aber mein Arzt schien es nicht vergessen zu wollen. „Das geht nicht. Was erwartest du jetzt von mir?“

„Nichts, absolut gar nichts.“ Und so traurig es auch klang, es war die reine Wahrheit. Ich erwartete nichts von einem Städter, nichts außer der Schmach, die sie mir sowieso bereits jeden Tag bereitwillig zukommen ließen.

Die drückende Stille, die daraufhin entstand, wurde erst unterbrochen, als der Schreibtisch ein weiteres Mal summte.

Dieses Mal ignorierte Killian es nicht, sondern ging direkt dort hin und berührte den blinkenden Punkt, was mich dazu brachte, ein paar Schritte vom Tisch zurückzuweichen. Er bemerkte es. „Was?“ Seine Stimme klang ungeduldig, ja beinahe schon verärgert. Das war neu.

„Olive Vark ist eben eingetroffen. Sie befindet sich auf der Entbindungsstation, Kreißsaal sieben.“

„Ich komme gleich.“ Er nahm den Finger vom Licht und schaute wieder zu mir herüber. Sein Mund öffnete sich, zwei Mal, doch erst beim dritten Versuch schaffte er es zu sprechen. „Kismet …“

„Lass es“, sagte ich leise und verstand nicht, warum ich mich plötzlich so schlecht fühlte. Es war richtig auf Distanz zu gehen. „Du bist nur ein Arzt aus Eden, mehr nicht. Und dabei sollten wir es auch belassen.“ Mit diesen Worten verließ ich fluchtartig die Praxis.

Ja, ich hatte mich ruhig gegeben, aber in meinem Inneren tobte ein Sturm und ich wusste nicht einmal warum. Ich brauchte Zeit, musste über das nachdenken, was passiert war. Ich musste … es vergessen. Es gab wichtigere Dinge, um die ich mich kümmern musste. Die Flucht, Nikita, eine Uniform der Garde.

Killian war nur irgendein Städter und das würde er auch immer bleiben. Und wenn ich mir das nur oft genug sagte, könnte ich es irgendwann vielleicht auch glauben.

 

oOo

Kapitel 53

 

Geh aus meinem Kopf, geh aus meinem Kopf, bei Gaias allumfassender Güte, geh verdammt noch mal aus meinem Kopf!

Aber das tat er nicht. Ich wurde den Gedanken an das, was gestern zwischen Killian und mir vorgefallen war, einfach nicht mehr los. Das war fast noch schlimmer als die Sache mit Sawyer, und das sollte schon etwas heißen, denn auch dieses Erlebnis hatte sich in mein Hirn eingebrannt.

Oh Himmel, was machte diese Stadt nur mit mir? Zwei Männer, zwei Küsse – wobei der zweite zu etwas anderem geführt hätte, wenn wir nicht unterbrochen geworden wären. War ich verdammt noch mal von allen guten Geistern verlassen?!

Das hätte nicht passierten dürfen. Nichts von dem was hier geschah, hätte passieren dürfen. Doch das Schlimmste daran war, dass ich es freiwillig getan hatte. Es gab nichts, womit ich es rechtfertigen konnte, keine Ausreden, keine Entschuldigung und auch keine logische Erklärung. Das wusste ich nur zu genau, denn ich hatte eine schlaflose Nacht damit verbracht, mir etwas einfallen zu lassen. Erfolglos, wie ich nicht extra betonen musste.

Ich befand mich bei meiner Schicht im Paradise. Es war Vormittag und nur wenig los, aber die wenigen Gäste die hier waren, störten mich trotzdem. Einer von ihnen was Sawyer, der mit Celste am Tisch mir gegenübersaß und mir schon ein paar Mal unzufriedene Blicke zugeworfen hatte. Das lag wohl weniger an der Frau neben ihn, als viel mehr daran, dass ich noch immer keine Uniform besorgt hatte.

Dann mach es doch selber!, hätte ich ihm am liebsten zugerufen, nur leider würde das keines meiner Probleme lösen.

Seufzend wischte ich das Kondenswasser vom Tresen und warf den Lappen anschließend achtlos in die Spüle. Dann widmete ich mich den dreckigen Gläsern. Leider war ich mit den Gedanken ganz woanders und achtete nicht wirklich darauf, was ich hier tat. So kam es, wie es kommen musste. Als ich das Glas zur Seite stellen wollte, knallte ich damit gegen die Kante des Tresens. Das Glas zersprang klirrend und schnitt mir in den Daumen

„Verdammte Scheiße!“, fluchte ich und schreckte Carrie, die auf einem Hocker am Tresen saß, damit so sehr auf, dass sie fast ihren Screen weggeschmissen hätte.

„Bei allem was mir heilig ist, Kismet.“ Erst starrte sie mich an, dann die Scherben. „Ich weiß zwar nicht was heute mit ihnen los ist, aber ihre Laune ist wirklich fürchterlich.“

„Gar nichts ist los“, knurrte ich, nahm mir eine Serviette und tupfte damit vorsichtig den Schnitt ab. War zum Glück nur ein kleiner Schnitt, nicht der Rede wert.

„Das glaube ich nicht.“

Sollte sie doch glauben, was sie wollte. Meine Laune war nicht fürchterlich, aber mein Kopf wurde von allem Möglichen in Beschlag genommen. Ich war verunsichert und wütend – wütend auf mich selber. Wie kam es nur immer, dass ich in Killians Gegenwart vergaß, wer er war? Was machte dieser Mann mit mir? Vielleicht sollte ich darum bitten, einen anderen Arzt zu bekommen. Andererseits war ich sowieso ab Morgen weg, also hatte es im Grunde sowieso keine Bedeutung mehr.

„Wollen sie das nicht wieder aufräumen?“, fragte Carrie mit Blick auf die Scherben.

„Darf ich vielleicht erstmal dafür sorgen, dass ich nicht verblute?“

Ihr Schnalzen kam nicht unerwartet. „Zum Glück wird sich ab nächste Woche ihre Assistentin um sie kümmern müssen, dann habe ich nichts mehr damit zu tun.“

Sie würde schon ab morgen nichts mehr damit zu tun haben.

Mit diesem Gedanken schnappte ich mir die Kehrschaufel und beseitigte mein Missgeschick. Dabei ignorierte ich sowohl Carrie, als auch Sawyer, der mir wieder einen dieser auffordernden Blicke zuwarf. Am liebsten hätte ich ihn angefaucht, dass das nicht hilfreich war. Stattdessen leerte ich die Scherben in den Mülleimer und kam dann hinter dem Tresen hervor. „Ich bin dann mal im Lager.“ Da wäre ich wenigsten ein paar Minuten, vor den ganzen Blicken geschützt.

„Ich werde auf sie warten.“

Als wenn das ein Ansporn für mich wäre.

Sobald ich den Tresen den Rücken gekehrt hatte und in das Lager trat, war Carrie vergessen. Stattdessen richteten meine Gedanken sich wieder auf mein dringlichstes Problem. Mir lief die Zeit davon. Bereits morgen war Salias Geburtstag und eine Uniform war weit und breit …

Meine Gedanken stoppten und ich blieb abrupt stehen. Das Tor zum Hinterhof, über das wir unsere Waren bekamen, stand offen. Am Himmel waren noch immer dunkle Wolken zu sehen, was die Luft sehr drückend machte, da es nicht wie erwartet geregnet hatte. Durch das offene Tor, gab es im Club ein wenig Durchzug. Und darum konnte ich nun auch sehen, was dort draußen vor sich ging.

Gleich dort draußen, direkt vor den großen Müllcontainern, stand eine Frau und telefonierte mit einer handlichen Variante seines Komkon. Diese Frau gehörte der Garde an. Das konnte ich so genau sagen, weil sie in einer Unform der Gardisten steckte. Der Helm lag neben ihr auf dem Container.

Das war sie, das war meine Gelegenheit. Wahrscheinlich die Einzige, die ich bekommen würde.

Mein Herz begann schneller zu schlagen. Ich brauchte einen Plan und zwar schnell.

Das Erste was mir einfiel, war, sie einfach niederzuschlagen und mir ihre Uniform anzueignen, aber das könnte Lärm machen und andere Leute auf den Plan rufen. Selbst wenn ich es schaffen würde, unnötige Geräusche zu vermeiden, bedeutete das noch lange nicht, dass nicht plötzlich jemand auftauchte und mich erwischte.

Vielleicht sollte ich sie einfach weglocken, irgendwohin wo wir ungestört sein würden. Allerdings müsste ich dann dafür sorgen, dass sie mich später nicht verraten konnte. Ich wusste, dass ich dazu fähig war zu töten um mich zu schützen, ich hatte es schon einmal getan, aber auch nur, weil die Umstände mich dazu gezwungen hatten. Außerdem würde eine tote Gardistin sehr viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen und das wollte ich eigentlich vermeiden.

Noch während ich mit meiner Überlegung der besten Vorgehensweise beschäftigt war, drehte die Frau sich, weswegen ich schnell hinter das nächste Regal sprang, um mich vor ihren Blicken zu verbergen. Sie wirkte verärgert. Egal mit wem sie sich da unterhielt, es war scheinbar kein vergnügliches Gespräch.

Vielleicht sollte ich es einfach riskieren. Sie war allein und hier hinten war fast nie jemand. Es war also unwahrscheinlich, dass jemand auftauchte.

Unwahrscheinlich, war nicht unmöglich.

Aber wann würde sich mir noch mal so eine Gelegenheit bieten?

In Ordnung, ich würde es tun. Ich musste es tun. Aber zuerst musste ich auf den richtigen Moment warten. Darum blieb ich ganz still und beobachtete sie.

Ihr Gesicht verzerrte sich wütend. „Willst du mich verdammt noch mal verarschen?“, schrie sie plötzlich so laut, dass ich es in meinem Versteck hören konnte. „Versuchst du gerade wirklich mir die Schuld in die Schuhe zu schieben, weil du ihn nicht in der Hose behalten kannst?!“

Das war gut. Wenn sie solchen Lärm machte, würde sie mich nicht kommen hören. Ich musste nur warten, bis sie mir den Rücken kehrte, dann konnte ich sie vielleicht überraschen und dann … naja, das würde ich dann sehen, wenn es so weit war.

Ich hatte nur diese eine Chance. Ich musste schnell sein und leise. Nur ein Fehler und der ganze Plan war zum Scheitern verurteilt.

Es dauerte fast zwei Minuten, in denen ich immer angespannter wurde, bis sie plötzlich knurrte und mir wütend den Rücken kehrte. Ihr Schultern bebten vor Anspannung.

Das war der Moment auf den ich gewartet hatte.

Auf Zehenspitzen schlich ich aus dem Versteck, hielt mich dabei so gut es ging hinter ihr und achtete darauf, wo ich meine Füße hinsetzte. Dann huschte ich geduckt auf sie zu.

Es war wie eine Jagd und meine Beute befand sich direkt vor mir.

„Deine Entschuldigung kannst du dir sonst wo hinstecken“, fauchte sie. „Ich habe keine Lust mehr auf diesen ganzen Mist!“

Noch zwei Meter, einer.

„Weißt du was? Du bist ein Schwachkopf. Und ein Lügner. Und ein Betrüger. Fick dich doch ins Knie!“ Wütend schaltete sie das Komkon aus und schien versucht, es so weit wie möglich von sich zu schleudern.

Das war der Moment, in dem ich ihr einfach auf den Rücken sprang und meinen rechten Arm um ihren Hals schlang.

Durch die Wucht und das plötzliche Gewicht wurde sie nach vorne geschleudert. Sie gab noch einen überraschten Laut von sich, da krachten wir auch schon gemeinsam zu Boden. Ihr Komkon flog davon. Ich klammerte meine Beine um sie, nahm sie in den Schwitzkasten und drückte mir aller Kraft zu. Dabei verhedderten sich meine Beine auch noch fast in meinem Rock.

Natürlich ließ sie das nicht einfach so über sich ergehen. Sie griff nach mir und versuchte den Arm von ihrem Hals zu lösen. Ihre Beine strampelten haltlos herum, aber irgendwie schaffte sie es so, uns beide auf die Seite zu rollen, nur brachte ihr das nichts, denn ich weigerte mich locker zu lassen. Selbst als sie damit begann, mir den Arm zu zerkratzen, gab ich nicht nach. Wegen ihrer Handschuhe schaffte sie es nicht mal mich zu verletzten.

Während des Gerangels, stießen wir gegen den Container. Der Helm fiel herunter, krachte auf den Boden und rollte weg.

Langsam begann sie zu röcheln. Ihre Bewegungen wurden panischer. Ich drückte noch ein kleinen wenig fester zu.

Komm schon, werde ohnmächtig.

Mit einer letzten Kraftastregung warf sie den Kopf nach hinten, doch die Bewegung war so langsam, dass es für mich ein leichtes war ihr auszuweichen.

Jetzt verlier endlich das Bewusstsein!

Wenn ich noch fester drückte, würde ich sie erwürgen und das wollte ich eigentlich vermeiden. Wie bereits erwähnt, Leichen zogen Aufmerksamkeit auf sich. Aber dann wurden ihre Bewegungen endlich schwächer. Trotzdem verringerte ich den Druck nicht. Selbst als sie erschlaffte, hielt ich den Griff noch einen Augenblick aufrecht. Ich wollte nicht riskieren, dass sie mir nur etwas vorspielte. So wie ich sie erwischt hatte, konnte sie mich nicht gesehen haben und das sollte auch so bleiben.

Erst als ich mir sicher war, dass sie wohl ersticken würde, wenn ich nicht endlich losließ, nahm ich meinen Arm von ihrem Hals und lag dann selber außer Atem neben ihr. Das war anstrengender gewesen, als ich es vermutet hatte, aber ich hatte es geschafft.

Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Ich hatte es wirklich geschafft. Naja, zumindest war sie ausgeschaltet. Jetzt musste ich ihr nur noch die Uniform klauen. Und da es sicher nicht ratsam war, sich neben einer fast Toten erwischen zu lassen, sah ich zu, dass ich vorankam.

Sie zu entkleiden erwies als nicht weiter schwer, doch noch während ich es tat, stellte sich mir bereits das nächste Problem. Ich konnte hier nicht einfach mit einer geklauten Uniform im Gebäude herumrennen. Die Ausrüstung samt Gürtel konnte ich vielleicht noch in der Kleidung einwickeln, aber die Stiefel und der Helm waren viel zu Auffällig, als dass sie unbemerkt bleiben würden. Selbst eine unaufmerksame Person konnte sie bemerken und sich fragen, was ich damit wollte, oder woher ich sie hatte.

Dann würde ich sie wohl irgendwo im Lager verstecken müssen. Es war ziemlich vollgestellt, da würde sich sicher eine Ecke finden lassen, wo ich das Zeug bis morgen aufbewahren konnte.

Ich war gerade damit beschäftigt, ihre Stifel aufzuschnüren, um die Hose von ihren Beinen zu bekommen, als ich mich nach dem Helm umsah. Er war runtergefallen, also wo …

Ich erstarrte.

Der Helm lag nur sechs Fuß von mir entfernt. Hinter dem Helm standen zwei Stiefel und in diesen Stiefeln steckte ein Riese von einem Gardisten, der mir gerade dabei zuschaute, wie ich seiner Kollegin die Uniform klaute.

Wolf.

Seinen Helm hatte er unter seinen Arm geklemmt.

Keiner von uns beiden bewegte sich. Wolf ließ nicht erkennen, was in seinem Kopf vor sich ging, wir starrten uns einfach nur an. Ich selber wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte. Ich konnte nur denken, dass ich jetzt richtig tief in der Scheiße steckte.

Vielleicht auch nicht, immerhin war er ja ein … Bekannter.

Mist, Mist, Mist.

Wolfs Blick glitt von mir zu dem Helm vor seinen Füßen. Er hob ihn auf, trat damit auf mich zu und hielt ihn mir vor die Nase.

Nur zögernd hob ich die Hand und nahm ihn an mich. Ich war mir immer noch nicht sicher, was ich von dieser Situation halten sollte. Offensichtlich wollte er mich für meine Tat nicht zur Rechenschaft ziehen.

Sobald ich den Helm in der Hand hielt, nickte er mir einmal kaum merklich zu, kehrte mir den Rücken und ging dann durch die Hintertür in den Laden gegenüber.

Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, schlug mir mein Herz bis zum Halse. Was würde er jetzt machen? Würde er mich verpetzen, oder so tun, als hätte er nichts gesehen? Was auch immer er vorhatte, ich musste mich beeilen. Sein Auftauchen zeigte doch, dass hier jeden Moment wieder jemand erscheinen konnte. Also beeilte ich mich, schnappte mir dann die gesamte Uniform, brachte sie ins Lager und versteckte sie im hintersten Winkel, in einem alten Karton, der sicher schon seit Jahren nicht mehr geöffnet worden war. Es war also recht unwahrscheinlich, dass sich das in den nächsten vierundzwanzig Stunden ändern würde.

Sobald alles verstaut war, schob ich sicherheitshalber noch ein paar andere Kisten davor und schnappte mir dann ein paar Flaschen Eistee, die ich mit in den Club nehmen würde. Sie würden mein Alibi sein. Genau, nur um diese Flaschen zu holen, war ich ins Lager gegangen. Das war glaubhaft.

Bevor ich allerding wieder nach vorne ging, schaute ich noch mal eilig nach der Frau, um sicher zu gehen, dass sie auch noch atmete. Erst dann sah ich zu, dass ich wieder hinter meinen Tresen kam. Ich war eigentlich schon viel zu lange weg, aber niemand schien sich darum zu kümmern. Nicht einmal Carrie.

Als ich zurückkam und die Falschen unter dem Tresen, im Kühlschrank verstaute, schaute sie nur ganz kurz von ihrem Screen auf, bevor sie sich weiter mit ihrem Kram beschäftigte.

Ich jedoch stützte mich mit den Händen am Tresen ab und atmete erstmal tief durch.

Geschafft. Bei Gaias Güte, ich hatte es wirklich geschafft mir eine Uniform zu besorgen.

Ganz langsam breitete sich ein Lächeln auf meinen Lippen aus. Endlich hatte mal etwas so funktioniert, wie ich es mir vorgenommen hatte. Das war ein unglaublich tolles Gefühl und deswegen nahm ich mir einen Augenblick, um einfach darin zu schwelgen. Es war, als hätte ich Eden einen herben Schlag versetzt und auch wenn ich und Wolf bis jetzt die Einzigen waren, die davon wussten, sie alle würden es noch zu spüren bekommen.

Ja, es war eine bittersüße Rache und ich genoss sie einfach nur.

Blieb nur zu hoffen, dass Wolf auf meiner Seite war und das Erlebte für sich behielt.

Leider konnte ich nicht allzu lange in diesem Gefühl schwelgen, denn die Arbeit rief, in Form einer Schwangeren mit blauen Haaren und Kriegsbemalung im Gesicht. Schwungvoll und ein wenig plump, hievte Roxy sich auf einen der Barhocker und grinste mich breit an.

„Dich habe ich Gesucht.“

„Du hast mich gefunden.“ Hoffentlich konnte ich sie schnell abwimmeln. Auf ein Gespräch mit ihr, hatte ich im Moment so viel Lust, wie auf eine zweite Runde mit der Gardistin. „Willst du etwas trinken?“

„Ja, bitte, gib mir ein Wasser.“ Sie rutschte auf dem Hocker ein wenig hin und her und stützte ihre Unterarme auf den Tresen. „Also, dann lass mal hören, was war da los gewesen?“

Sie hatte also nicht vor, so schnell wieder zu verschwinden. Super. „Was meinst du?“ Ich schnappte mir ein Glas aus dem Regal und eine Flasche eisgekühltes Wasser aus dem Kühlschrank und goss ihr ein.

„Ach bitte, stell dich nicht dumm. Wir alle haben mitbekommen, wie du bei Agnes‘ Ansprache ausgeflippt bist.“

Ich war nicht ausgeflippt, ich war nur etwas … unbedacht gewesen.

„Du hast richtig verängstigt ausgesehen“, fügte sie noch hinzu, um mich zu einer Erwiderung zu ermutigen.

Verdammt, Roxy war hartnäckig. So einfach würde sie sich nicht abwimmeln lassen. Die Wahrheit wollte ich ihr nicht erzählen, weil das zu viele Fragen aufgeworfen hätte, auf die ich selber keine Antwort wusste. Also eine Lüge, das würde sie vielleicht zufrieden stellen. „Es war mir alles zu viel“, sagte ich, gab noch eine Zitronenscheibe in ihr Glas und schob es ihr zu. Die Flasche ließ ich wieder im Kühlschrank verschwinden. „Die Menschen, der Lärm. Ich bin das einfach nicht gewohnt.“

Sie nickte mitfühlend, als würde sie mich verstehen. „Du hattest wahrscheinlich sowas wie eine Panikattacke. Das alles muss für dich ziemlich überwältigend gewesen sein. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das alles für dich sein muss.“

Da musste ich ihr ausnahmsweise einmal zustimmen.

„Na wenigstens bist du jetzt in Ordnung.“ Sie nahm ihr Glas, steckte den Finger hinein und schob die Zitronenscheibe darin hin und her. „Als du weggebracht wurdest und dann einen ganzen Tag verschwunden warst, habe ich mir richtig Sorgen gemacht.“

Ach wirklich? Wieso? „Ich komme allein klar.“

„Du hast auf jeden Fall nichts verpasst.“ Sie nahm den Finger raus, lutschte ihn ab und trank dann einen Schluck. „Naja, außer dass einer von den Showhunden Lija ans Bein gepinkelt hat. Sie ist völlig ausgeflippt.“

„Mein Mitgefühl hält sich in Grenzen.“ Ich nahm mir einen Lappen und begann den sauberen Tresen zu wischen, um schwer beschäftigt zu wirken. Vielleicht würde sie den Wink mit dem Zaunpfahl verstehen.

„Darf ich dich etwas fragen?“

Plan gescheitert. „Würde es dich aufhalten, wenn ich nein sage?“

„Vermutlich nicht.“ Sie grinste breit. Ihr war nicht klar, dass ich keinen Scherz gemacht hatte. „Alsooo“, begann sie langezogen. „Wie gut kennst du Wolf?“

Bei dem Namen hielt ich einen Moment inne, zwang mich dann aber weiter zu machen. Ich durfte mich nicht seltsam verhalten, nur weil ich seinen Namen hörte. „Keine Ahnung, nicht gut. Ich habe ihn auf dem Weg hier her kennengelernt.“ Nicht das uns beiden eine große Wahl geblieben war. „Er war mit mir zusammen im Bus der Tracker in dieser Zelle eingesperrt.“

Das fröhliche Lächeln verblasste ein wenig. „Er ist also nicht von sich aus in die Stadt gekommen?“

Ich schnaubte in Erinnerung daran, wie man ihn ans Bett gefesselt hatte, oder auch daran, wie er nach unserer Ankunft in der Dusche durch die Tür gebrochen war. „Definitiv nicht.“ Anfangs hatte man ihn sogar in Ketten gelegt, weil er seinen Unmut sehr deutlich zum Ausdruck gebracht hatte.

„Aber jetzt scheint er sich hier ganz wohl zu fühlen“, sagte sie vorsichtig, ja vielleicht sogar ein wenig hoffungsvoll.

„Das kann ich nicht beurteilen.“ Ich zuckte mit den Schultern und legte den Lappen wieder ans Waschbecken. Langsam wurde es albern, so zu tun, als ob, da sie in absehbarer Zeit sowieso nicht verschwinden wurde. Das kannte ich bereits von ihr. „Das wirst du ihn wohl selber fragen müssen.“

Roxy schieg einen Moment und spielte mit einem tropfen Kondenswasser an ihrem Glas herum. Dann lächelte sie wieder, als würde sie an etwas Schönes denken. „Ich mag ihn, er ist lustig.“

Ähm … ja. Wie reagierte man darauf jetzt am besten? „Aha.“

Die Tür zum Büro wurde geöffnet und Archie schob seinen massigen Leib heraus. Er schaute kurz zum Eingang, ging dann aber Richtung Tresen.

„Er hat mir Zeichensprache beigebracht. Hier, schau mal.“ Sie fuchtelte mit ihren Händen in der Luft herum. „Das bedeutet Hallo.“

„Aha.“ Wie Wortgewandt ich heute doch mal wieder war. Aber mal ehrlich, was sollte ich dazu auch groß sagen? Schon ab morgen, würde nichts von alle dem noch eine Bedeutung für mich haben. Oder noch weniger, als jetzt schon. Mit diesem Wissen war es richtig anstrengend, so zu tun, als wäre alles ganz normal.

Geschäftig durchquerte Archie den Raum und zwängte sich dann zu mir hinter den Tresen. Er grinste mich kurz an, bevor er damit begann, in dem Wasserfallregal die Flaschen hin und her zu schieben.

Ich ignorierte ihn.

„Ich glaube, ich frage ihn mal, ob er mit mir ausgehen möchte“, erklärte Roxy dann. „Meinst du, er würde ja sagen?“

„Keine Ahnung.“ Woher sollte ich das wissen?

„Du bist keine große Hilfe.“ Sie seufzte übertrieben theatralisch. „Na gut, ich verschwinde dann mal wieder. Ich habe einen Termin in der Spa-Lounge gebucht und den will ich auf keinen Fall verpassen. Einen ganzen Tag Wohlfühlprogramm, der pure Luxus. Die Schwangerschaft wird langsam ganz schön Anstrengend, da wird mit ein wenig Entspannung sicher guttun.“

Ich hatte zwar keine Ahnung, wovon genau sie sich erholen musste, aber ich würde sie sicher nicht aufhalten. Ganz im Gegenteil, wenn sie wollte, würde ich sie sogar noch hinaus rollen. „Viel Spaß.“

„Ich würde dich ja fragen, ob du mitkommen willst, aber ich bin mir ziemlich sicher, eine Abfuhr zu bekommen.“

Ein kleines Grinsen, konnte ich nicht unterdrücken. „Wie gut du mich mittlerweile schon kennst.“

Sie erwiderte das Grinsen – nur ein wenig fröhlicher. „Für den Moment lasse ich dich davonkommen, aber irgendwann werden wir beide zusammen die Spa-Lounge besuchen.“

Unwahrscheinlich.

„Na gut, ich bin dann mal weg.“ Sie drehte sich auf dem Barhocker und kletterte dann mit ihrer dicken Wampe herunter. „Sei heute Abend im Club, sonst spüre ich dich auf und hänge mich sie eine Klette an dich. Dann wirst du mich nie wieder los.“

„Welch haarsträubende Drohung.“

„Dann bis nachher.“ Zum Abschied hob sie die Hand. „Tüdelü.“

Als ich ihr mit dem Blick nach draußen folgte, bemerkte ich wieder Sawyer und seine Unzufriedenheit, die er auf mich abschoss. Langsam ging er mir wirklich auf den Keks.

Ich musste ein Stück zur Seite rücken, als Archie sich am Regal entlang bewegte. „Nächste Woche müssen wir Inventur machen“, sagte er dabei zu mir. „Weißt du was das ist?“

„Nein.“ Und es interessierte mich auch nicht. Nächste Woche wäre ich sowieso schon lange weg.

„Das heißt, wir müssen unseren Bestand durchzählen und alles aufschreiben. Aber keine Sorge, du wirst dafür ein Gerät bekommen, dass dir die Arbeit ein wenig abnimmt.“

Juhu. Ich schnappte mir das Glas von Roxy, kippte das restliche Wasser weg und fischte dann das Stück Zitrone aus dem Waschbecken, um es in den Müll zu feuern. Die Leute hier waren wirklich verschwenderisch.

„Und du wirst auch nicht allein sein.“ Archie drehte sich zu mir herum. „Es werden noch ein paar Helfer kommen.“

Auf einmal löste Carrie ihren Blick vom Screen, blickte auf und runzelte die Stirn.

„Und du darfst sie sogar alle herumkommandieren“, fügte er noch grinsend hinzu.

Als Carrie den Hals reckte und nach hinten zum Lager schaute, hörte ich es auch. Durch die leise Hintergrundmusik des Clubs, waren aufgeregte Stimmen zu hören.

Auch Archie schien es nun mitzubekommen. „Was ist denn da hinten los?“

Sofort beschleunigte sich mein Herzschlag ein wenig. Hatten sie die Frau etwa schon entdeckt? Das kleine Hochgefühl, dass mich vorhin noch durchflutet hatte, lag nun plötzlich schwer in meinem Magen. Die ganze Zeit hatte ich nur daran gedacht die Uniform zu bekommen und sie sicher unterzubringen. An das, was geschehen würde, wenn man die Frau fand, hatte ich keinen Gedanken verschwendet. Das war dumm gewesen, einfach nur dumm.

„Da ist eindeutig etwas passiert“, bemerkte Carrie, als die Stimmen lauter wurden.

„Ich werde mal nachschauen gehen.“ Archie schob seinen massigen Leib hinter dem Tresen hervor und verschwand dann nach hinten zum Lager.

Ich unterdessen wusste nicht genau, wie ich mich verhalten sollte. Neugierig? Gleichgültig? Da Carrie den Hals reckte, um besser sehen zu können, tat ich das auch. Für eine unwissende Person, war das wohl eine normale Reaktion. Und die leichte Unruhe, konnte ich so auch ein wenig überspielen.

Aber was, wenn die Frau mich bei meinem Angriff doch erkannt hatte? Das könnte alles ruinieren. Nicht nur den Plan. Ich wollte gar nicht wissen, was sie mit mir tun würden, wenn herauskam, was ich getan hatte

Mittlerweile waren auch ein paar der Gäste auf die Unruhen aufmerksam geworden. Dann kam Archie wieder in den Club geeilt. Sein Gesicht war rot und ein paar Scheißperlen hatten sich an seinen Schläfen gebildet.

„Eine Frau wurde überfallen und niedergeschlagen, eine Gardistin“, erklärte er und kam zum Tresen geeilt. „Kismet, schnell, gib mir eine Falsche Wasser.“

Erschrocken schlug Carrie die Hand vor den Mund. „Geht es ihr gut?“

Ich holte eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und stellte sie vor ihm am.

Archie schnappte sie sich. „Keine Ahnung. Sie ist bewusstlos. Die Sanitäter wurden schon gerufen und müssten gleich da sein.“

Nach diesen Worten geriet der Club in Aufruhe. Einige wenige, begannen aufgeregt miteinander zu tuscheln, während andere aufstanden und eilig nach hinten ins Lager verschwanden, um mit eigenen Augen zu sehen, was dort vor sich ging.

Ich hielt mich vorsichtig im Hintergrund und musste mich zwingen, ruhig zu bleiben.

„Aber das ist nicht das Seltsamste“, fügte Archie noch hinzu. „Sie ist nackt, jemand hat ihre Uniform geklaut. Keiner weiß, wie lange sie da schon liegt und was passiert ist.“

„Unfassbar“, sagte Carrie schockiert.

„Wenn die Sanitäter kommen, schickt sie nach hinten.“ Damit wandte Archie sich ab und hastete davon. Wenn es die Situation erforderte, konnte dieser Mann sich sehr schnell bewegen.

Ich schaute dabei zu, wie er verschwand und auch wie Carrie von ihrem Hocker rutschte und versuchte aus der Ferne etwas zu erkennen. Wäre ich nicht gewesen, wäre sie ihm wohl hinterhergerannt. Zu ihrem Pech, wollte ich dort im Moment am allerwenigsten sein. Deswegen zog ich mich ein wenig zurück. So geriet Sawyer wieder in mein Blickfeld. Völlig entspannt saß er auf seinem Stuhl und lehnte sich zurück. Ein kaum merkliches Lächeln erschien auf seinen Lippen.

 

oOo

Kapitel 54

 

Mit einem „Hast du schon das Neuste gehört?“, begrüßte Cameron mich zu unserer Lernstunde. Kein „Hallo“, oder „Wie geht es dir“, nicht mal ein „Schön dich zu sehen.“ Nein, seine Begrüßung war eine Anspielung auf den neusten Klatsch und Tratsch. Die Edener liebten Gerüchte, je skandalöser, desto besser.

„Nein, was denn?“ Desinteressiert tippte ich ein paar Buchstaben auf dem Digital-Desk. Das Programm teilte mir mit, dass ich das Wort richtig geschrieben hatte.

„Eine Frau von der Garde, wurde heute Morgen hinterm Club Paradise überfallen und man hat ihr ihre Uniform geklaut.“ Er stellte seine Tasche auf dem Digital-Desk, in dem kleinen Arbeitszimmer der Bibliothek ab und setzte sich neben mich auf den zweiten Stuhl.

Ich stockte kurz, zwang mich dann aber damit, weiter zu machen.

„Keiner weiß wer es war, auch die Frau nicht. Sie wurde fast erwürgt. Die Ärzte sagen, sie hat einen gequetschten Kehlkopf. Agnes ist fuchsteufelswild.“

Ja, reib es mir doch noch ein bisschen unter die Nase. „Aha.“ Genau, immer schön gleichgültig bleiben, das würde ihn vielleicht davon abbringen, weiter darauf herumzureiten.

Leider schien ihn dieses Thema viel zu sehr zu begeistern, als dass er es einfach fallen lassen konnte. „Zuerst haben die Yards geglaubt, es sei ein sexueller Übergriff gewesen, weil man die Frau nur in Unterwäsche gefunden hat.“ Er griff in seine Tasche und holte seinen Screen heraus. „Aber wie es scheint, hatte der Täter es nur auf ihre Kleidung abgesehen, die ist nämlich spurlos verschwunden.“

Nein, das war sie nicht. Man musste nur wissen, wo man nach ihr suchen sollte. Trotzdem machte ich wieder „Aha“ und tippte das nächste Wort ein. Das Bild daneben, war ein roter Ball mit weißen Punkten.

Doch Cameron war noch immer nicht fertig. „Es gibt keine Spuren von dem Täter, nicht mal ein Haar, aber Agnes ist sich sicher, dass es ein Mann war“, erklärte er weiter. „Ich möchte ja nicht in seiner Haut stecken, wenn sie ihn erwischen.“

Nein ich auch nicht, weil es nämlich meine Haut wäre und auf die hatte die Despotin es sowieso bereits abgesehen.

Cameron legte seinen Screen auf den Digital-Desk, doch anstatt mit dem Unterricht zu beginnen, wandte er sich mir wieder zu. „Sag mal, du arbeitest doch im Paradise.“

Mir blieb fast das Herz stehen. „Ja“, sagte ich vorsichtig. Ahnte er etwas? Hatte er sich zusammengereimt, was auf dem Hinterhof passiert war?

„Dann weißt du das ja schon längst, oder?“

Puh, noch mal Glück gehabt. „Ich habe mitbekommen, wie sie gefunden wurde.“ Das war keine Lüge. „Aber es hat mich nicht wirklich interessiert.“ Das auch nicht.

„Ach so.“ Irgendwie schien ihn das zu enttäuschen. Seine Begeisterung schrumpfte ein wenig in sich zusammen und er besann sich wieder auf das, was er hier eigentlich machen sollte und schaltete seinen Screen an. „Das heißt, du hast also keine Insiderinformationen.“

„In-was?“ Das Wort war mir ja noch nie untergekommen. Ich wusste nicht mal, ob ich es aussprechen konnte.

Cameron lächelte flüchtig. „Informationen aus erster Hand, etwas das es noch nicht auf Skye zu lesen gibt.“

Ach daher wusste er das alles. „Nein.“ Ich musterte ihn. Er hatte eine neue Brille und seine blauen Haare waren heute etwas unordentlich. „Dich scheint dieser Überfall ja ziemlich zu begeistern“, merkte ich an und versuchte mich an dem nächsten Wort. Dieses Mal war ein kleiner Baum abgebildet.

„Naja“, druckste er herum und ich konnte dabei zusehen, wie die Spitzen seiner Ohren sich leicht röteten. „Nicht wirklich begeistern. Es ist nur … sowas passiert hier eigentlich nicht. Die Leute hier bekommen alles was sie wollen, also gibt es für sie keinen Grund sowas zu tun. Aber jetzt ist es passiert und alle fragen sich warum. In der ganzen Stadt gibt es kein anderes Thema.“

Ähm … ja, das war nicht gut, aber eigentlich hätte ich damit rechnen müssen. Doch solange niemand ahnte, dass ich etwas damit zu tun hatte, war ich auf der sicheren Seite. Naja, Sawyer wusste, dass ich es war. Und Wolf hatte mich sogar auf frischer Tat ertappt. Aber solange die beiden dichthielten, sollte ich mit heiler Haut aus der Sache herauskommen.

„Findest du das denn gar nicht merkwürdig?“

„In dieser Stadt gibt es viele Dinge, die ich merkwürdig finde. Diese eine fällt da nicht weiter auf.“ Das Programm sagte mir, dass Wort sei falsch geschrieben. Dann eben noch einmal.

„Hm“, machte Cameron. „Von deinem Standpunkt aus gesehen, hast du vermutlich recht. Ah, da fällt mir ein, ich habe ja noch etwas für dich.“ Er zog seine Tasche zu sich heran und begann darin herumzuwühlen. Dann holte er eine dünne Schachtel heraus und legte sie direkt vor meine Nase, sodass ich mein Wort nicht zu Ende schreiben konnte. „Ich hoffe sie gefällt dir.“

Ich nahm die Schachtel, um mir das Bild darauf anzuschauen. „Ein neuer Screen?“ Ich wusste zwar nicht, wozu ich den brauchte, aber er gefiel mir besser als meiner. Meiner war grau, dieser hier war bunt. Das Bild war ein Baum im Nebel, an dessen Fuß ein geisterhaftes Tier hockte.

Grinsend schüttelte er den Kopf. „Nein, kein neuer Screen, eine Hülle für deinen Screen.“ Plötzlich schien er ein wenig verlegen. „Ich dachte … also, wenn er dir nicht gefällt, dann ist das völlig in Ordnung. Ich wollte dir nur eine kleine …“

Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn. Wie schauten beide hinüber zur offenen Tür und als ich sah, wer dort stand, beschleunigte mein Puls sich augenblicklich. Ungewollte Bilder flackerten vor meinem inneren Auge und zerrten meinen Geist zu einem Moment, den ich die ganze Zeit zu verdrängen versuchte.

Killian.

Bei Gaias Güte, was wollte er denn hier? Ich hatte ihm doch gesagt, er sollte nicht herkommen.

Er schaute von Cameron zu mir und mir fiel sofort auf, dass er nicht lächelte. „Kann ich dich mal einen Moment sprechen?“ Noch ein Blick auf Cameron. „Alleine?“

Alleine? Mit ihm? War er von allen guten Geistern verlassen? „Ähm … nein. Ich habe Unterricht.“

„Es ist aber wichtig“, sagte er sehr nachdrücklich.

Ich schüttelte einfach den Kopf. Nachdem, was das letzte Mal geschehen war, als ich mich mit ihm alleine in einem Raum befunden hatte, wollte ich ganz sicher nicht, dass Cameron diesen Raum verließ. „Agnes will, dass ich Lesen und Schreiben lerne.“ Was für eine lahme Ausrede.

So wie Killian mich anschaute, sah er das ganz genauso. „Dann sag mir wann dein Unterricht beendet ist, dann komme ich noch mal wieder.“

Bei Gaias Zorn. „Ich habe heute keine Zeit mehr.“

Er fixierte mich mit einem Blick, der mir gar nicht gefallen wollte. „Ich muss wirklich dringen mit dir sprechen.“

„Ähm“, machte Cameron und schaute von einem zum anderen. „Ich glaube ich gehe mal kurz nach draußen, bis ihr das hier geklärt habt.“

„Nein!“, rief ich sofort, während Killian „Danke, das wäre nett“, sagte.

Oh Himmel, er konnte mich doch nicht mit diesem Mann alleine lassen. Aber genau das tat er. Er erhob sich einfach und ging aus dem Raum. Als Killian dann auch noch die Tür hinter ihm schloss, kam ich mir plötzlich wie ein in die Ecke gedrängtes Tier vor.

„Ich habe dir gesagt, du sollst nicht herkommen“, fuhr ich ihn an, bevor er auch nur den Mund öffnen konnte. „Ich will nicht darüber reden. Was da passiert ist, ist unwichtig und wird nicht noch einmal geschehen.“ Das zumindest war sicher.

Sein Mundwinkel zuckte ein wenig. „Deswegen bin ich gar nicht hier, aber schön zu wissen, dass ich hier nicht der Einzige bin, der noch immer daran denken muss.“

Ähm … ja, damit hatte er mich nun all meiner Argumente beraubt, ihn aus meinem Zimmer zu werfen. „Du bist nicht deswegen hier?“ fragte ich vorsichtshalber noch einmal nach. Schließlich war er es gewesen, der das Gespräch hatte suchen wollen.

„Nein.“

„Und da bist du dir sicher?“ Ja ich war misstrauisch. Vielleicht war das ja auch nur ein Trick.

Vor Belustigung, funkelten seine Augen. „Ja, ganz sicher. Es geht nicht um das was zwischen uns passiert ist, aber wenn du möchtest, können wir hinterher gerne noch darüber sprechen. Scheinbar beschäftigt es dich ja noch.“

Darauf würde ich nicht eingehen. „Warum bist du dann hier?“

Die Spur seiner Erheiterung verblasste und auf einmal war er sehr ernst. Er schaute mich einen Moment an, seufzte dann und fragte: „Was weißt du über das HELLP-Syndrom?“

Ähm … was? „Das sagt mir nichts.“

Er nickte einmal, als hätte er nichts anderes erwartete. „Das HELLP-Syndrom ist eine ernstzunehmende Erkrankung“, erklärte er dann. „Bei Mehrlingsschwangerschaft und Schwangerschaften durch künstliche Befruchtung, kann es immer mal wieder auftreten – besonders durch einen starken Eingriff in den Hormonhaushalt. Deswegen werden alle unsere Evas während der Schwangerschaft mehrfach darauf getestet. Im Moment haben wir nur eine Frau, die an dem HELLP-Syndrom leidet und der ich deswegen, meine ganz besondere Aufmerksamkeit schenke. Genau wie du, war sie gestern bei mir in der Praxis gewesen und hat eine Urinprobe zurückgelassen. Seltsamerweise fand ich in ihrer Probe weder Hinweise auf eine Erkrankung, noch auf eine bestehende Schwangerschaft – und das in der siebenunddreißigsten Woche. Seltsam, oder?“

Oh verdammt, das war doch wohl ein Witz.

Dumm stellen. Einfach dumm stellen.

Tja, das klappte aber auch nur, wenn man den Mund aufmachte. Ich jedoch blieb einfach stumm auf meinem Stuhl sitzen und schaute ihm schweigend entgegen.

Als ihm klar wurde, dass ich nichts dazu sagen würde, fuhr er fort. „Aber ihre Probe war nicht die Einzige Überraschung, die mich erwartete. Deine war auch sehr interessant. Es ist nicht ungewöhnlich, so früh eine Schwangerschaft festzustellen, aber absolut ausgeschlossen ist es, jetzt schon das HELLP-Syndrom bei dir diagnostizieren – besonders da du bei einem Adam warst und keine In-vitro-Fertilisation bekommen hast.“ Er fixierte mich auf eine Art, die mich schlucken ließ. „Hast du mir etwas zu sagen?“

Scheiße! „Nein.“

Das war wohl nicht das was er hatte hören wollen. „Verdammt Kismet!“ Er sah sich schnell nach der Tür um, in der Befürchtung, zu laut gesprochen zu haben. Dann machte er ein paar Schritte auf mich zu und blieb auf der anderen Seite des Desks stehen. „Du hast die Proben ausgetauscht!“, zischte er mich an.

Abstreiten. Einfach alles abstreiten. Ich war so kurz davor hier rauszukommen, da war eine weitere Lüge auch völlig egal. „Warum bitte sollte ich sowas Bescheuertes tun?“

„Das ist genau das, was mich im Moment auch interessiert.“ Er fixierte mich mit einem Blick, als wolle er die Antwort direkt aus meinem Gehirn ziehen. „Ich müsste eigentlich zu Agnes gehen und ihr das sagen!“

„Aber das hast du nicht.“ Erst als ich die Worte ausgesprochen hatte, wurde mir bewusst, was das bedeutete. Und das stürzte mich in Verwirrung. „Warum hast du es nicht getan?“, fragte ich ihn. „Warum kommst du zu mir und gehst nicht zu ihr?“

Einen Moment schaute er mich an, dann schnaubte er, strich sich unruhig durch die Haare und wandte sich ab. „Weil du schon genug Schwierigkeiten hast.“ Er lief einen unruhigen Schritt auf und ab und blieb dann erneut vor dem Tisch stehen. „Glaubst du wirklich, ich will dir deine Situation noch erschweren?“

Wenn ich ehrlich war: „Nein.“ Neben Nikita gehörte Killian zu den wenigen Personen in dieser Stadt, denen ich keine Hintergedanken unterstellte – naja, nicht mehr so oft.

„Nein“, stimmte er mir zu und fixierte mich erneut. „Ich will dir helfen, Kismet. Vom ersten Moment an hattest du bei mir so ziemlich jede Freiheit, die ich dir bieten konnte. Ich habe dich nie unter Druck gesetzt, oder etwas verlangt, zu dem du nicht bereit warst und wenn du Probleme hattest, habe ich versucht dir zur Seite zu stehen. Aber wie kann ich dir helfen, wenn du sowas tust?“

„Ich habe dich nie gebeten, mir zu helfen.“ Ja, es klang ein wenig patzig, aber es war die Wahrheit und immer noch besser, als sich mit dem schlechten Gewissen zu beschäftigen, das mich plötzlich überfiel. Was er zu mir sagte, gefiel mir nicht, doch was mit besonders missfiel, war die Tatsache, dass es mich wirklich traf.

Killian schüttelte den Kopf, als wüsste er selber nicht so genau, was er eigentlich hier machte. „Nein, das hast du nicht und das brauchtest du auch nicht, weil gern getan habe, aber …“ Er suchte nach den richtigen Worten. „Kismet, warum hast du das getan?“

Mist, diese Frage hatte ja kommen können. Da die Wahrheit sicher nicht gut ankommen würde, dachte ich mir schnell eine Ausrede aus. Doch aus irgendeinem Grund, fiel es mir ein wenig schwer, sie über die Lippen zu bringen. „Um Agnes zufriedenzustellen.“ Naja, das war zumindest ein wenig Wahrheit. „Du hast gesagt, wenn ich schwanger bin, dann würde sie mich in Ruhe lassen, weil sie dann hat was sie will. Und wenn sie hat was sie will, nimmt sie mir Nikita nicht weg.“ Das hörte sich glaubwürdig an.

Einen Moment stand er einfach nur still da. Dann seufzte er als sei ihm die Kraft ausgegangen und setzte sich ungefragt neben mich auf den zweiten Stuhl.

Ich rutschte sofort ein Stück von ihm weg. Nachdem, was zwischen uns geschehen war, war das eindeutig zu nahe.

„Kismet“, begann er nun ruhiger. „Ich verstehe ja, dass du Angst hast, aber falls du nicht schwanger bist, würde das eher früher als später auffallen. Was glaubst du denn, würde passieren, wenn Agnes wegen deinem kleinen Trick denkt, du seist schwanger und dann stellt sich heraus, dass du es dann doch nicht bist?“

Gar nichts, weil ich bis dahin schon von hier verschwunden wäre. „Sicher nichts Gutes.“

„Nein, mit Sicherheit nicht“, stimmte er mir zu. „Bitte, tu so etwas Dummes nie wieder.“

„Mach ich nicht.“ Auch das war die Wahrheit. Da ich diesem Ort schon morgen den Rücken kehren würde, müsste ich sowas auch nie wieder tun. Allerdings musste ich jetzt noch eine Frage stellen. „Wirst du es Agnes sagen?“

Er schwieg einen langen Moment, schüttelte dann aber ganz leicht den Kopf. „Nein, das werde ich nicht. Es ist besser, wenn das unter uns bleibt.“

„Danke“, sagte ich und meinte es zu meiner eigenen Verwunderung auch ehrlich. Auf den letzten Drücker noch Stress mit der Despotin zu bekommen, konnte all unsere Pläne zunichtemachten. Im Nachhinein war das mit den Bechern wirklich dumm von mir gewesen und hier und jetzt konnte ich einfach nur froh sein, dass Killian im Gegensatz zu mir so blind vertraute. Der Gedanke schmeckte bitter.

„Darum hast du es getan, oder?“

Verwirrt wandte ich mich ihm zu. „Was getan?“

„Der Kuss. Du hast mich geküsst, weil ich dich bei den Proben erwischt habe.“

Tja, in diesem Fall brauchte ich nun auch nicht mehr lügen. „Ich habe befürchtet, dass du bemerkt hast, wie ich die Deckel ausgetauscht habe. Ich wusste nicht wie lange du schon in der Tür gestanden hast und wollte dich irgendwie ablenken. Leider ist mir in dem Moment nichts besseres eingefallen.“ Es klang wie eine Entschuldigung, aber wenn ich ehrlich zu mir selber war, dann tat es mir nicht leid und das war definitiv falsch.

„Ablenken.“ Er schnaubte belustigt. „Oh ja, das mit der Ablenkung ist dir definitiv gelungen.“

„Das es so ausufert, war nicht geplant gewesen.“

Nachdem ich das gesagt hatte, schaute er mich ganz merkwürdig an. Er öffnete den Mund, brauchte aber einen Moment, um die Worte zu formulieren. „Warum ist es dann so ausgeufert?“

Ja, das war eine Frage, die mich immer noch beschäftigte. „Vielleicht einfach, weil ich trotz der vielen Menschen hier … ich weiß nicht … ach egal. Vergiss es.“

Das tat er natürlich nicht. Stattdessen musterte er mich. „Weil du trotz der vielen Menschen hier einsam bist.“

Ich biss mir auf die Unterlippe und weigerte mich, etwas dazu zu sagen. So paradox es auch klang, es stimmte. An diesem Ort war ich so alleine, wie noch nie in meinem Leben und die Erklärung war gut, aber … ich … ach, keine Ahnung, ich konnte nur hoffen, dass sie zutraf, denn alles andere wäre ein absolutes Desaster für mein Seelenheil.

„Kismet.“ Er hob die Hand, um mich am Arm zu berühren, doch bevor ihm das gelang, sprang ich aufgeschreckt auf die Beine und nahm eilig ein paar Schritte Abstand zu ihm.

„Ich glaube, du solltest jetzt besser gehen.“

Aber er ging nicht. Er erhob sich zwar von seinem Stuhl, doch anstatt sich Richtung Tür zu bewegen, trat er vor mich, sodass ich erneut ein Stück vor ihm zurückwich. „Ich habe es dir schon einmal gesagt, es ist nichts schlimm, wenn du mich magst.“ Sein Mundwinkel hob sich ein wenig. „Ich jedenfalls habe dich sehr gerne und das nicht nur als meine Patientin.“

Bei Gaias Zorn, warum musste er denn jetzt sowas sagen? „Tja, dein Pech, ich kann dich nämlich nicht leiden.“

Irgendwas daran brachte ihn zum Lächeln. „Dann muss ich mir wohl ein wenig mehr Mühe geben.“

Darauf würde ich sicher nicht antworten. Ich streckte einfach den Arm aus und zeigte sehr nachdrücklich auf die Tür.

Er ließ ein leises Lachen erklingen, kam meiner Aufforderung dieses Mal aber nach und wandte sich der Tür zu. „Bis bald“, sagte er noch leise und trat dann hinaus. Leider war ihm nicht bewusst, dass bereits morgen Salias Geburtstag war.

Zum ersten Mal machte mich dieser Gedanke ein wenig traurig. Es würde kein „bis bald“ geben, da ich bereits morgen um diese Zeit verschwunden sein würde. Das bedeutete, dies war meine letzte Begegnung mit ihm. „Lass es dir gut gehen“, sagte ich leise und wollte mich schon abwenden, doch da wurde die Tür wieder geöffnet. Nein, es war nicht Killian, der seinen Abschied noch etwas herauszögern wollte, es war Cameron.

Bei Gaias Güte, den hatte ich ja völlig vergessen.

 

oOo

Kapitel 55

 

Es gab eine Sache, für die alle Menschen in Eden lebten: Klatsch und Tratsch. Die Sache mit der Gardistin war nicht nur in aller Munde, es war das einzige Thema, über das die Anwesenden sprachen, als ich später für meinen abendlichen Abstecher ins Paradise zurückkehrte.

Eigentlich hatte ich ja lieber in meinem Zimmer bleiben wollen, doch da hatten meine Gedanken sich die ganze Zeit nur um die morgige Flucht gedreht und mich fast in den Wahnsinn getrieben. Es gab so viel was schieflaufen könnte. Was wenn ich den Keychip nicht bekam, oder man mich dabei erwischte, wie ich die geklaute Uniform holte? Was wenn die Wartungsschleuse nicht funktionierte, oder ich einfach verschlief?

Ich hatte Ablenkung gebraucht, um mich von diesen Gedanken wegzubringen, bevor ich noch durchdrehte. Also war ich hergekommen, nur um mit dem konfrontiert zu werden, vor dem ich wegzukommen versuchte. Nun saß ich hier, auf meinem angestammten Platz auf der Fensterbank, lieferte mir mit Blue einen Starrwettbewerb und versuchte die aufgeregten und empörten Stimmen um mich herum zu ignorieren.

„Nein“, sagte ich zu der aufdringlichen Katze.

Ihre Augen verengten sich ein ganz kleinen wenig.

„Ich werde dich nicht streicheln. Such dir jemand anderes.“

Sie nahm die Herausforderung an, indem sie sich von ihrem Platz auf dem Sessel erhob und zu mir auf die Fensterbank sprang. Sie gab ein leises Maunzen von sich und schmiegte ihren warmen Körper an meine aufgestellten Beine. Dann fixierte sie mich wieder mit ihrem durchdringenden Blick. Eine klare Aufforderung.

„Hier gibt es so viele Menschen, warum hast du es nur immer auf mich abgesehen?“

Zur Antwort stricht sie noch einmal an mir entlang, kletterte dann auf meinen Bauch und machte es sich dort mit einem Schnurren bequem.

Seufzend legte ich ihr eine Hand auf den kleinen Körper und begann sie zu kraulen. Von einer mickrigen Katze besiegt, diese Scharte würde ich nie wieder ausbessern können. Manchmal war ich doch wirklich ein Weichei. „Das nächste Mal wird dir das nicht gelingen.“

Blue schnurrte unbesorgt weiter. Sie hatte mal wieder den Sieg davongetragen und war sich sicher, dass es nicht das letzte Mal gewesen war.

Dabei war es das letzte Mal, denn morgen um diese Zeit würde ich nicht mehr hier sein. Wenn alles klappte, wie wir es geplant hatten, wäre ich morgen Abend bereits frei und zusammen mit meiner Schwester auf den Weg nach Hause.

Und damit waren wir wieder beim Thema. Egal mit was ich mich beschäftigte, am Ende landete ich immer wieder an dieser Stelle – das war belastend.

Eigentlich war es nicht mal mehr ein ganzer Tag, nur noch ein paar Stunden, aber wenn man die damit verbrachte, angespannt auf den passenden Zeitpunkt zu warten, zogen die sich unendlich in die Länge. Dann wurden aus ein paar Stunden schon mal gefühlte Wochen. Und dann musste man auch noch so tun, als wäre alles ganz normal. Vielleicht hätte ich doch in meinem Zimmer bleiben sollen.

Hinten bei den Billardtischen lachte Joshua laut auf. Heute Abend schienen sich alle herrlich zu amüsieren, allen voran Sawyer, der sich immer phantastischere Überlegungen ausdachte, wer und warum die Uniform der Gardistin geklaut haben könnte. Dabei wusste dieser Mistkerl ganz genau, dass ich sie hatte.

Mit einem erschöpften Seufzen tauchte Roxy neben mir auf, ließ sich neben mir in den Sessel fallen und schwang in der gleichen Bewegung ihre Füße auf den freien Teil der Fensterbank. In dieser Position ragte ihr Bauch empor, als hätte sie einen kleinen Ball verschluckt. „Meine Güte, ich hätte nie gedacht, dass eine Schwangerschaft im achten Monat so anstrengend sein könnte. Wenn die nicht bald mit ihrer überfürsorglichen Fürsorge aufhören, werde ich mich demnächst schreiend aus dem Fenster stürzen.“ Dann grinste sie mich an. „Und, was hast du so den ganzen Tag getrieben?“

Eine Frau überfallen und sie ausgeraubt, die Konsequenzen eines Betrugsversuchs vereitelt und die beste Strategie für meine Flucht morgen ausgearbeitet. „Das Übliche.“

„Klingt ja spannend.“ Sie blies ihre Backen auf, legte ihre Hände auf ihren Bauch und neigte dann den Kopf zur Seite. „Du hast sicherlich auch schon von der Gardistin gehört.“

Und damit waren wir auch schon bei dem Thema angelangt, das ich eigentlich nicht besprechen wollte. „Wie hätte mir das entgehen können?“

Wieder lachten die Männer. Joshua machte eine obszöne Geste, woraufhin Tican ihn leicht schubste.

„Es ist schon irgendwie seltsam“, meinte Roxy nachdenklich. „Ich meine, wer macht den sowas und warum?“

„Keine Ahnung, interessiert mich auch nicht.“ Ich ließ die Finger durch Blues weiches Fell gleiten.

„Warum nur wundert mich das nicht?“

Da ich keine Lust hatte, darauf zu antworten, ignorierte ich diese Frage einfach.

Roxy ließ ein weiteres Seufzen hören, dass mir deutlich mitteilte, für wie schwierig sie mich hielt. „Aber irgendwie ist es doch spannend, ein richtiges Rätsel.“

Verstanden, sie wollte sich nicht ignorieren lassen.

„Ich meine, in dem einen Moment hat einer der Gardisten sie noch beim Telefonieren gesehen und plötzlich ist sie bewusstlos und ihre Kleidung fehlte. Ich habe gehört, man hat sie ganz nackt ausgezogen.“

Warum behaupteten das nur alle? Ich war doch kein Unmensch, sie hatte noch ihre Unterwäsche angehabt. Und auch die Uhr, die hatte ich nämlich nicht von ihrem Handgelenk abbekommen. Keine Ahnung, wie der Verschluss funktionierte.

„Das ist alles voll rätselhaft“, versuchte sie mich erneut zu begeistern.

 „Wenn du es sagst.“

Sie ließ sich nicht beirren. „Ich habe darüber nachgedacht. An sich sehen die Uniformen ja alle gleich aus, allerdings sind die für Frauen ein wenig kleiner. Deswegen muss es eine Frau gewesen sein.“

Vielleicht sollte ich sie auf andere Gedanken bringen. Nach meinem Geschmack, kam sie der Wahrheit viel zu nahe. Nachher erriet sie wirklich noch, wer es war. „Wie geht es deinem Baby?“

„Mit dem ist alles in Ordnung.“ Sie trippelte nachdenklich mit ihrem Finger auf ihrem Bauch herum. „Aber welche Frau ist stark genug, um eine andere fast zu erwürgen? Ich meine, ich könnte das nicht.“

Themenwechsel fehlgeschlagen. Dann musste ich sie eben auf eine andere Spur bringen. „Es muss keine Frau gewesen sein. Es kann auch ein Bekannter gewesen sein, ein Freund, oder ein Liebhaber. Vielleicht war er sauer auf sie und hat die Uniform nur gestohlen, um von der eigentlichen Tat abzulenken.“

„Hm“, machte sie. „Da könnte was dran sein.“ Ihr Blick glitt über die Personen im Raum, als erwartete sie, dass irgendwo ein leuchtender Pfeil auftauchte, der genau auf den Kopf des Täters zeigte. In meine Richtung aber schaute sie nicht.

Ich wusste nicht, ob ich ihr für ihr Vertrauen danken, oder über ihre Naivität den Kopf schütteln sollte.

„Es könnte praktisch jeder gewesen sein. Solange wir nichts über das Motiv wissen, ist jeder ein Verdächtiger.“

„Auch Agnes?“

Sie grinste mich an.

Von den Männern kam ein lautes Johlen, Joshua klatschte Sawyer ab und schubste ihn dann in unsere Richtung. Er zeigte Joshua den Mittelfinger, kam aber weiter auf uns zu.

Ich beäugte ihn misstrauisch. Er hatte wieder dieses spöttische Lächeln auf den Lippen, was nie etwas Gutes bedeutete.

„Hallo Ladys“, schnurrte er und lehnte sich mit der Schulter an die Wand. Da ich ihn so praktisch hinter mir hatte, drehte ich mich ein kleinen wenig. Es war nicht ratsam, Sawyer im Rücken zu haben. „Was treibt ihr gerade?“

Roxy wirkte nicht weniger misstrauisch als ich. „Wir haben über die Gardistin gesprochen.“

„Das trifft sich ja gut.“ Ein spitzbübisches Funkeln trat in seine Augen. „Ich habe mit den Jungs gerade eine kleine Wette laufen. Um zu gewinnen, müsst ihr mir nur meine Vermutung bestätigen.“

Mein Misstrauen wuchs.

Roxy ließ sich auf das Spiel ein. „Und wie lautet deine Vermutung?“

„Ich habe mit Tican gewettet. Er sagt, Lija hat die Gardistin überfallen, du weißt schon, für ein Rollenspiel der versauten Art.“

Roxy grinste. „Du bist anderer Meinung?“

„Na klar, ich weiß wer es war und auch warum sie es getan hat.“

Meine Augen weiteten sich ein wenig. Das würde er nicht tun. Nein, auf keinen Fall.

„Ach ja?“ Roxy nahm ihn nicht ernst. „Na dann, erhelle uns mit deiner Weisheit.“

„Du.“ Nein, er meinte nicht mich, er meinte Roxy.

„Ich?“ Sie schmunzelte. „Und warum sollte ich sowas tun?“

„Du brauchst für Halloween noch ein Kostüm.“

Sie schnaubte. „Ich schätze, diese Wette verlierst du.“

Er zuckte mit den Schultern, als sei das nicht weiter wichtig. Dann drehte er den Kopf in meine Richtung. „Weißt du, du kannst ruhig mal lächeln, deswegen bricht dein Gesicht nicht gleich auseinander.“ Er setzte eine nachdenkliche Mine auf. „Obwohl, vielleicht doch.“

„Das war jetzt aber gemein.“ Roxy stieß ihn nicht allzu sanft mit dem Fuß an.

Sawyer grinste. „Ach, Kismet mag es, wenn ich gemein zu ihr bin. Dann hat sie noch mehr Grund ihren Hass auf mich zu schüren.“ Er zwickte mir in die Nase und ich schlug verärgert seine Hand weg.

„Lass das.“

Von dem Gerangel aufgeschreckt, sprang Blue von mir runter und setzte sich mit einem empörten Blick in meine Richtung, ans andere Ende der gepolsterten Fensterbank.

„Aber warum denn?“ Wieder griff er nach mir und wich gerade noch meiner Hand aus.

„Ich habe gesagt, du sollst das lassen.“ Langsam wurde ich sauer. Was sollte der Blödsinn?

„Ach komm schon, ist doch nur Spaß.“ Als er dieses Mal nach mir griff, packte ich ihn an der Hand und zog ihn mit einem Ruck zu mir heran. Leider lehnte er noch halb an der Wand und knallte wegen der plötzlichen Bewegung mit dem Kopf voran gegen diese. Es gab einen dumpfen Laut, dann hielt er sich sein Gesicht und gab mehrere sehr originelle Flüche von sich.

Die Männer am Billardtisch brachen in Gelächter aus, sie hatten es gesehen. Roxy kicherte hinter hervorgehaltener Hand.

Mist, das hätte ich wahrscheinlich nicht tun sollen.

„Verdammte Scheiße.“ Sawyer tupfte sich gegen die Nase und schaute dann auf seine Hand, als vermutete er da Blut. War aber keines.

„Selber Schuld“, kommentierte Roxy.

Ich schwang die Beine von der Fensterbank und erhob mich. „Ich geh mal aufs Klo.“ Das hier war mir zu blöd. Keine Ahnung was er damit bezweckte, aber mich nervte es nur.

Ohne auf Sawyers bösen Blick, oder das Lachen der Männer zu achten, verzog ich mich in den hinteren Teil des Raums, wo ein schmaler Gang zu den Toiletten führte. Sie waren weiß gekachelt und mit viel Chrom und Marmor verziert. Über dem Waschtisch mit zwei Waschbecken, hing ein großer beleuchteter Spiegel und es gab sogar ein paar Hocker, falls man sich während seines Aufenthalts hier ausruhen musste.

Mir war das alles egal, Hauptsache ich war einen Moment für mich. Bei Gaia, ich hätte wirklich auf meinem Zimmer bleiben sollen. Warum nur hatte ich es für eine gute Idee gehalten, an meinem letzten Abend, hierherzukommen, um so zu tun, als wäre alles ganz normal?

Weil es richtig war. Ich hatte nichts falsch gemacht. Die viel interessantere Frage war doch, was Sawyer mit dieser albernen Show bezweckt hatte. Sowas machte er doch sonst nie. Also mir auf den Sack gehen schon, nur nicht so rumzublödeln. Vielleicht war er ja einfach ein wenig Überdreht, wegen dem, was uns bevorstand.

Mit den Armen auf dem Waschtisch aufgestützt, stand ich einfach nur da und starte in den Spiegel, als lägen dort alle Antworten, die ich brauchte. Aber es gab keine Antworten, nur mein Spiegelbild.

Vielleicht interpretierte ich da aber auch nur etwas rein und er war einfach nur ein Idiot, der mich langsam aber sicher in den Wahnsinn trieb.

Als sich die Tür zur Damentoilette öffnete, drehte ich den Kopf, um zu sehen, wer mich da störte. Es war Sawyer. Er schlüpfte in den Raum und verschloss dann die Tür hinter sich. In seiner Hand, hielt er seinen Screen

„Dir ist schon aufgefallen, dass du auf dem falschen Klo gelandet bist?“

Er spießte mich mit einem tödlichen Blick auf, ging dann zum Spiegel und legte den Screen auf dem Waschtisch ab. Dann betrachtete seine gerötete Nase und tippte vorsichtig dagegen. „Ich habe noch keine Frau erlebt, die so gewaltbereit ist wie du.“

Jedem das, was er verdiente. „Was willst du hier?“

„Dir einen Gefallen tun.“ Er tupfte noch einmal vorsichtig an seine Nase und bedachte mich dann mit einem weiteren finsteren Blick. „Und zum Dank dafür, brichst du mir fast die Nase.“

Einen Gefallen? „Was für einen Gefallen?“

Anstatt zu antworten, griff er nach dem Screen und tippte darauf herum. Dann schob er mir das Gerät zu.

Meine Augen weiteten sich. Auf dem Display war ein Bild, dass Bild von Olive und meiner Mutter, vor dem Turm der Evas.

Ich schnappte mir das Gerät, um mir das Foto genauer anzusehen. Ihr Gesicht, ihre Haare, ihr Lächeln. Ich hatte mich nicht getäuscht, das war meine Mutter. „Wie?“, war alles was ich fragen konnte.

Sawyer lehnte sich mit dem Hintern an den Waschtisch und legte links und rechts seine Hände ab. „Ich habe einen Bekannten in der Stadt, ein Techniker für Datenverarbeitung. Vor einem Jahr hatte ich ein paar Probleme mit meinem Desk und er ist gekommen, um sie zu beheben, da kamen wir ein wenig ins Gespräch. Ist ein netter Kerl.“

Ich warf ihm einen kurzen Blick zu, schaute dann aber sofort wieder auf das Bild meiner Mutter. Elf Jahre, solange war es in der Zwischenzeit her, dass ich ihr Gesicht gesehen hatte. Und damals hatte sie nicht gelächelt. Aber hier tat sie es. Sie lächelte, als hätte sie keine Sorgen.

„Du warst dir so sicher, mit dem Foto, dass ich ihn kontaktiert habe. Ich habe ihn nach den Bildern von der Diashow gefragt und herausbekommen, dass nicht alle auf die öffentliche Datenbank überspielt wurden. Es gab irgendeinen Fehler bei der Übertragung und weil es nicht besonders wichtig war, hatten man diesen noch nicht behoben.“ 

„Ein Fehler“, murmelte ich und strich über die Kinnlinie meiner Mutter. Auf diesem Bild war sie noch so jung.

„Auf meine Bitte hin, hat mein Bekannter mir alle Bilder geschickt, die noch nicht in der Bibliothek waren. Ich habe sie durchgesehen. Das hier kam deiner Beschreibung am nächsten. Es ist auch das Einzige, auf dem Olive abgebildet ist.“

Aber was bedeutete das? Wie konnte dieses Bild existieren?

Sawyer neigte den Kopf leicht zur Seite. „Ist das wirklich deine Mutter? Sie sieht dir nicht im Geringsten ähnlich.“

„Ich schlage nach meinem Vater.“ Hatte mein Vater gewusst, dass meine Mutter in Eden gewesen war? Vielleicht war es meiner Mutter ja genauso ergangen, wie mir. Man hatte sie in den Ruinen gefunden, sie nach Eden gebracht und dort hatte sie gelebt, bis sie fliehen konnte. Sie war offensichtlich als Eva vorgesehen, schließlich war sie fruchtbar gewesen. „Sie war hier gewesen.“

„Scheint so.“

Das zu wissen, war … ich wusste es nicht genau. Im Moment war ich einfach nur verwirrt. Hilfesuchend schaute ich zu Sawyer. „Aber … wie?“

Er überlegte kurz, dann streckte er mir die Hand entgegen. „Gib mir mal den Screen.“

Ich wollte ihm ihn nicht geben, da war das Bild meiner Mutter drauf. Aber das war albern und vielleicht konnte er mir weitere Antworten geben. Also überließ ich ihm sein Eigentum und lehnte mich neben ihn an den Waschtisch, um zu sehen, was er da tat.

Er schloss die Datei und öffnete eine Suchleiste. „Wie war der Name von deiner Mutter.“

„Hannah.“ Als ich ihn aussprach, zog sich etwas in mir zusammen. Ich hatte ihn schon so lange nicht mehr gehört.

Er tippte etwas in die Suchleiste, woraufhin der ganze Bildschirm mit Ergebnissen gefüllt wurde. „Der Name ist zu weit verbreitet. Hatte sie einen Nachnamen?“

Ja, den hatte sie, aber er war mit ihr gestorben. Trotzdem erinnerte ich mich noch gut an ihn. „Dubios.“

Wieder tippte er, doch dieses Mal spukte der Screen kein einziges Ergebnis aus.

„Was bedeutet das?“

„Das in den letzten dreihundert Jahren niemand unter dem Namen Hannah Dubios in Eden gelebt hat.“

„Aber das kann nicht stimmen“, regte ich mich auf. „Ich habe doch gerade ihr Bild gesehen, sie war hier gewesen, eindeutig.“

„Das war sie, aber sie muss ihren Namen geändert haben, nachdem sie die Stadt verlassen hat.“

Ein anderer Name? „Aber warum sollte sie das tun?“

„Keine Ahnung.“ Er stellte das Gerät auf Standby und legte es wieder auf den Waschtisch. „Es kann viele Gründe geben. Vielleicht hat sie ihren richtigen Namen abgelegt, weil sie ihn zusammen mit der Stadt hinter sich lassen wollte. Oder vielleicht hat sie ihren Namen geändert, als sie deinen Vater kennen lernte. Viele Frauen nehmen den Nachnahmen ihrer Ehemänner an – auch in der freien Welt. Vielleicht hat sie aber auch nur versucht, auf diese Art unentdeckt zu bleiben. Wenn jemand eine Susi sucht, die sich jetzt aber Charlotte nennt, ist sie schwerer aufzuspüren.“

Das klang alles einleuchtend. Nur … „Wie war dann ihr richtiger Name?“

Er zuckte mit den Schultern. „Keinen Schimmer.“

Das wurde ja immer verworrener. Kannte ich meine Mutter überhaupt? Sie schien eine Vergangenheit zu haben, von der ich bisher nicht mal etwas geahnt hatte.

„Ich kann dir nur sagen, dass das Foto vor ungefähr siebenunddreißig Jahren aufgenommen wurde. Das sagt mir der Zeitstempel. Aber ansonsten gibt es keine Informationen zu der Aufnahme. Es gibt Millionen von Fotos in den Datenbanken und nur die wenigsten haben eine Beschreibung. Olive können wir auch nicht fragen, die ist völlig hinüber. Selbst wenn sie noch etwas weiß, ist es fraglich, ob sie es uns mitteilen kann.“

Da hatte er recht, aber seine Worte hatten eine neue Möglichkeit eröffnet. „Olive kann sich vielleicht nicht erinnern, aber wenn meine Mutter wirklich hier gewesen ist, dann muss es noch andere Leute geben, die sie gekannt hatten.“ Ich wurde ganz aufgeregt. Konnte es wirklich so einfach sein?

„Wahrscheinlich, aber …“

„Aber?“

„Ich weiß, dass du das als eine Chance betrachtest, aber hältst du es wirklich für klug, jetzt Nachforschungen dazu anzustellen?“

Meine Euphorie verblasste ein wenig. Er hatte recht. Morgen war bereits unsere Flucht, ich hatte keine Zeit mehr, ein wenig in der Vergangenheit herumzustochern. Und selbst wenn ich die Zeit hätte, wollte ich das wirklich tun? Was wenn mir nicht gefiel, was ich dabei zutage beförderte? Meine Mutter hatte sicher einen Grund gehabt, warum sie diesen Teil ihres Lebens verheimlicht hatte. Wobei sie es ja nicht nur verheimlicht hatte, sie hatte uns auch eindeutig davor gewarnt. In ihren Geschichten, war der böse Mann immer ein Monster aus Eden gewesen.

„Ich sollte die Sache ruhen lassen“, sagte ich und drückte dann die Lippen aufeinander. Meine Mutter war tot, aber sie hatte sicher nicht gewollt, dass ich hier in Eden versauerte. Darum zählte jetzt auch nur, dass Nikita und ich aus diesen Abgründen verschwanden. Was vergangen war, war vergangen und ließ sich heute nicht mehr ändern, darum hatte es keine Bedeutung mehr.

„Das wäre wohl das Klügste.“

„Ich werde niemals Antworten auf meine Fragen bekommen.“

„Vermutlich nicht“, stimmte er mir zu.

„Ich hasse das.“ Das war einfach nicht gerecht. Warum nur hatte dieses verdammte Bild auf der Leinwand erscheinen müssen? Jetzt blieben mir nichts als Fragen und ungeklärte Rätsel, die das Bild meiner verstorbenen Mutter verzerrten. Mir wäre es lieber gewesen, wenn ich nie etwas davon erfahren hätte.

Sawyer atmete tief ein und richtete seinen Blick wieder auf mich. „Diese ganze Geschichte ist schon ziemlich mysteriös.“

 „Ein Rätsel, das ich wohl niemals lösen werde.“

„Ja, aber dann auch noch die Sache mit deinem Bruder.“

Ich schaute zu ihm auf. Akiim? „Was meinst du?“

„Das mir das alles sehr seltsam vorkommt.“ Er kaute kurz auf seiner Unterlippe herum, als müsste er die Gedanken in seinem Kopf erstmal ordnen. „Deine Mutter wird von Trackern getötet, nachdem sie offensichtlich in Eden gelebt hat. Und deinen Bruder lassen sie gleich mit verschwinden. Dass passt nicht zusammen.“

„Wie kommst du darauf?“ Ich fand schon, dass es gut passte. Diese Monster waren schließlich zu allem fähig.

„Naja, die Tracker laufen draußen herum, um jeden Menschen einzusammeln, den sie finden können. Dabei stoßen sie auf deine Mutter und deinen Bruder. Dass deine Mutter gestorben ist, weil sie versucht hat, die Tracker anzugreifen, kann ich irgendwo noch nachvollziehen, aber welchen Grund sollten sie gehabt haben, deinen Bruder umzubringen? Er war nur ein Kind, schwächer und völlig hilflos.“

Wenn er das so ausdrückte, war das schon seltsam. Normalerweise war es den Trackern ja egal, was die Menschen, die sie herbrachten, wollten und dachten. Warum also sollten sie ein Kind töten, auch wenn sie gerade seine Mutter umgebracht hatten? Kinder waren leicht zu manipulieren und zu formen – ganz anders als ich und mich hatten sie ja auch hergebracht.

„Der Name Akiim, ist sehr selten, also habe ich nach ihm in der Datenbank gesucht und …“

„Was? Wann?“ Und warum?

„Nachdem du mir die Geschichte erzählt hast.“ Er tippte mit dem Finger rhythmisch gegen den Waschtisch. „Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Tracker einen kleinen Jungen töten, anstatt ihn einfach nach Eden zu bringen, deswegen habe ich nach ihm gesucht.“

Mein Herz begann plötzlich einen Zahn zuzulegen. Deutete er gerade wirklich das an, was ich vermutete? „Akiim? Er ist … ist er hier?“ Konnte das wirklich sein? Hatten die Tracker ihn vielleicht gar nicht getötet, sondern in die Stadt gebracht?

Sawyer schüttelte den Kopf. „Nein. Ich hatte vermutet, dass es so ist, habe in der Datenbank aber niemand mit diesem Namen gefunden. Alle Bewohner der letzten dreihundert Jahre, sind im Melderegister mit Geburtsdatum und Todestag verzeichnet. Er ist nicht hier und war auch niemals hier.“

Das kurze Aufflackern von Hoffnung, erlosch wieder. „Also ist er doch tot.“ Und es war dumm gewesen, auch nur für eine Sekunde etwas anderes zu glauben. Tote erwachten nicht einfach wieder zum Leben und standen plötzlich vor einem, nur weil man sich das wünschte. Ich wusste das sehr genau. Ich konnte gar nicht mehr zählen, wie oft ich mir als Kind meine Eltern zurückgewünscht hatte. Es war erst besser geworden, als Marshall in mein Leben getreten war, hatte aber nie aufgehört.

Sawyer zuckte mit en Schultern. „Vermutlich. Aber es ist halt alles … seltsam.“

Ja, das war es wirklich. Alles war seltsam. Die ganze Stadt war seltsam und seit ich hier war, auch mein Leben. Und so gerne ich auch auf alle meine Fragen eine Antwort hätte, so war es im Moment doch völlig bedeutungslos. Egal wie die Wahrheit lautete, es würde nichts an meiner Einstellung, oder an meinen Plänen ändern, deswegen sollte ich die Vergangenheit auch einfach ruhen lassen. Es würde mir doch nur Kummer und Sorgen bringen, weiter darüber nachzudenken.

Schweigend lehnten wir nebeneinander am Waschtisch, bis Sawyer sich abstieß und seinen Screen zur Hand nahm. „Ich sollte mich wieder vorne blicken lassen, sonst fragen die sich vielleicht noch, ob ich ins Klo gefallen bin.“

Ich nickte nur.

„Warte ein paar Minuten, bevor du rauskommst. Man sollte uns besser nicht zusammen sehen.“

Wieder ein Nicken.

Als er mir dann den Rücken kehrte und zur Tür ging, murmelte ich noch ein leises: „Danke.“

„Alles nur Eigennutz, Baby, vergiss das bloß nicht.“

Das würde ich nicht. Trotzdem war ich ihm irgendwie dankbar. Wenigstens wusste ich jetzt, dass ich mir das Bild auf der Leinwand nicht eingebildet hatte – auch wenn ich jetzt mehr Fragen hatte als vorher.

Sawyer drehte sich nicht noch mal um, er ging einfach hinaus.

Ich blieb noch eine ganze Weile im Waschraum und hing meinen Gedanken nach. Erst als Lija hereinkam und mich mit einem hochnäsigen Blick bedachte, gab ich meinen Posten auf und schmiss mich wieder ins Getümmel. Dies war mein letzter Abend in Eden und mit ein bisschen Glück, war er bald vorbei.

 

oOo

Kapitel 56

 

Hm, grau, schlicht, nichtssagend. Die Zimmertür der Despotin Agnes Nazarova war genau wie jede andere Tür in diesem Gebäude. Da sie immer so hoheitlich auftrat, hatte ich ja eigentlich mit etwas Außergewöhnlichem und Prunkvollem gerechnet, wie Gold und Edelsteinverzierungen. aber nein. Diese Tür hätte genauso gut meine eigene sein können.

Ich hatte die ganze Nacht wachgelegen und überlegt, wie ich es am besten anstellte. Wichtig war es, Agnes zu erwischen, bevor sie in ihr Büro ging, da ihre privaten Räume im Turm der Evas, der einzige Ort war, an den sie sich ohne ihre Aufpasser aufhielt und Zuschauer konnte ich jetzt wirklich nicht gebrauchen.

Bis zu diesem Moment war ich noch nie hier oben im Penthouse gewesen. Im Gegensatz zu den Evas, die in diesem Turm nur Suiten bewohnten, hatte die Despotin die komplette Etage ganz für sich alleine. Doch durch Umstände, die sicher jeder nachvollziehen konnte, hatte ich bisher nie das Bedürfnis verspürt, hier hoch zu kommen. Heute jedoch blieb mir gar keine andere Wahl. Ich brauchte ihren Keychip – unbedingt. Und dann wäre ich hier sowas von weg.

In Ordnung, nur die Ruhe bewahren und sich ganz normal verhalten. Einmal tief einatmen … und auch wieder aus. Ich konnte das, ich würde das schaffen. Ich musste das schaffen, davon hing alles ab.

Wahrscheinlich war es nicht besonders schlau, mich jetzt auch noch selber unter Druck zu setzen.

Ein letztes Mal atmete ich tief ein, um mich zu beruhigen, dann hob ich entschlossen die Hand und klopfte gegen die Zimmertür der Despotin. Dann wartete ich und hoffte, dass sie bereits wach war. Es war zwar schon kurz nach sechs, aber ich hatte keine Ahnung, wann Agnes morgens das Bett verließ.

Es dauerte ein wenig, was nicht unbedingt gut für meine Nerven war, aber dann hörte ich hinter der Tür Schritte und kurz darauf schob sich die Pneumatiktür in die Wand und Agnes stand vor mir.

„Kismet.“ Verwundert musterte sie mich. Ihr weißes Haar fiel ihr offen über den Rücken und sie hatte sich in einen silbrigen Morgenmantel gehüllt, der bei jeder Bewegung leicht schimmerte. „Was tun sie denn hier?“

„Ich würde gerne etwas mit ihnen besprechen.“ Und zwar in ihrem Zimmer, völlig ungestört vor neugierigen Blicken.

„Ach so?“ Entgegen meiner Erwartungen, bat sie mich nicht in ihr Zimmer. „Warum geht es denn?“

Sawyer hatte wohl recht gehabt, sie fürchtete sich tatsächlich davor, mit jemanden allein zu sein. Wer hätte das gedacht? „Es geht um ein paar Menschen aus der freien Welt.“ Ja, ich hatte mir eine Tarngeschichte überlegt und konnte jetzt nur hoffen, dass sie darauf einging. „Ich möchte gerne, dass sie hergebracht werden.“

Damit hatte ich sie überrascht. „Sie möchten, dass wie ein paar Streuner holen?“

„Mir wurde gesagt, man erfüllt einer Eva hier jeden Wunsch.“ Komm schon, lass mich rein.

„In der Tat.“ Ihre Augen verengten sich ein ganz kleinen wenig. „Aber warum kommen sie mit diesem Anliegen zu mir? Die Tracker sind für die Jagd verantwortlich. Es wäre wohl besser, sie wenden sich damit an sie.“

Jagd, war für eine passende Beschreibung. „Ich möchte nicht, dass irgendjemand erfährt, woher das Wissen um diese Gruppe kommt.“

„Eine ganze Gruppe?“ Interessiert neigte sie den Kopf. „Wie groß?“

„Sechs Leute.“ Ich schaute über die Schulter, als würde ich befürchten, belauscht zu werden. Wenn sie nicht bald darauf einging, würde ich frontal auf sie losgehen müssen und das wollte ich eigentlich vermeiden. „Vier Frauen und zwei Männer, darunter eine Mutter mit ihrem Sohn.“ Nun lass mich endlich rein, noch schmackhafter kann ich es dir doch gar nicht machen.

„Eine Mutter. Was ist mit dem Vater?“

Ich zuckte nichtssagend mit den Schultern. „Keine Ahnung, den kenne ich nicht. War wohl ein Reisender.“

Ihr Blick wurde ein wenig eindringlicher, aber dann trat sie endlich zur Seite und bat mich mit einer einladenden Geste hinein.

Ja!

Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich ließ mir nichts anmerken, als ich an ihr vorbei trat. Weder die Freude darüber, hineingekommen zu sein, noch die Nervosität, die langsam aber sicher von mir Besitz ergriff. Ich durfte mir keinen einzigen Fehler erlauben, alles hing von mir ab. Doch sobald ich in ihrer Wohnung stand, blieb ich erstmal erstaunt stehen. Wow. Und ich hatte geglaubt, ein luxuriöses Zimmer zu bewohnen, aber das war gar nichts im Gegensatz zu dem, was sich mir hier bot. Die ganze Wohnung bestand aus einem einzigen riesigen Raum. Selbst das Bad war nur durch Milchglas abgetrennt. Und überall funkelte Gold. An den Möbeln, am Stuck, ja selbst an den bodenlangen Fensterrahmen und den Vorhängen.

Die Tür hatte nicht königlich gewirkt, aber dieser Raum tat es.

„Möchten sie auch etwas essen?“, fragte Agnes mich und ging an mir vorbei, zu dem großen Esstisch, vor den Fenstern. An ihm hätten locker zehn Mann Platz gefunden, aber ich bezweifelte, dass außer der Despotin noch andere Menschen in den Genuss kamen, einmal an einem solchen Tisch Platz nehmen zu dürfen. Sie bewegte sich ohne ihren Gehstock, ging langsam, humpelte ein wenig.

„Nein danke.“ Ich schaute mich nach einer Kommode um, auf der eine hölzerne Schmuckschatulle stand. In den Deckel war ein hübsches Muster eingraviert. Goldene Bemalungen verzierten den Rand.

„Nichts anfassen, bitte.“ Agnes ließ sich auf einen der Stühle nieder. Vor ihr war eine Mahlzeit ausgebreitet, mit der ich meine ganze Gruppe mehrere Tage lang ernähren könnte. Wie wollte sie das nur alles Essen? „So, dann erläutern sie mir ihr Anliegen doch bitte ein wenig genauer. Sie möchten, dass wir eine Gruppe von Streunern in die Stadt holen?“

„Die Gruppe ist mir egal“, sagte ich und schaute mir eine kleine Statur an. Eine kniende Frau, die ihre Arme zum Himmel ausgestreckt hatte. „Es geht nur um den einen Mann, aber ich denke nicht, dass sie die anderen einfach dort draußen lassen werden, wenn die Tracker sie erstmal gefunden haben.“

So wie sie schaute, hatte ich damit wohl recht. Naja, zumindest, wenn es diese Gruppe wirklich existieren würde.

„Ein Mann also.“ Sie nahm sich eine Weintraube, ließ sie in ihrem Mund verschwunden und kaute sie genüsslich. „Dein Mann?“

„Mein Freund. Wir treffen uns jedes Jahr zur Jagd, wenn wir den Herden folgen. Ich habe ihn gerne.“ Ich maß die Größe der Statur. Sie war ein wenig zu groß, um sie unbemerkt nehmen zu können, damit ich sie Agnes über den Kopf ziehen konnte.

„Und jetzt möchten sie, dass ich ihn herholen lasse.“

„Ja.“ Ich wandte mich einem anderen Stück zu. Einer kleinen Tischuhr. Sie war hübsch und aus Metall. Und wenn die Zeiger sich bewegten, gab sie keinen Laut von sich. „Aber er darf nicht erfahren, dass ich es war, der ihn verraten hat. Niemand darf das erfahren, das ist meine Bedienung.“

„Sie stellen Bedingungen?“

„Ich bitte darum.“ Ich stellte mich mit dem Rücken zu ihr, damit die Uhr aus ihrem Sichtfeld verschwand. Mein Herzschlag beschleunigte sich ein wenig. „Einen Menschen an Eden auszuliefern ist Verrat. Er wird nicht freiwillig herkommen, aber … ich vermisse ihn.“

„Und da ich die Despotin bin, wird niemand Fragen stellen, wenn ich die Anweisung dazu gebe, ein paar Streuner einzufangen.“

„Ja.“ Geschickt ließ ich die Uhr unter dem weiten Glockenärmel meiner Bluse verschwinden. Dann drehte ich mich mit verschränkten Armen zu ihr herum. Die Uhr blieb in den Falten des Ärmels verborgen. „Zu diesem Schluss bin ich auch gekommen.“

Agnes legte die Hände in ihrem Schoß und musterte mich sehr eindringlich. „Woher kommt dieser Sinneswandel? Sie selber möchten nicht hier sein und jetzt bitten sie mich, ihren Freund hier her zu holen. Das erscheint mir ein wenig … unlogisch.“

„Ich hatte keinen Sinneswandel. Wenn ich dürfte, würde ich gehen, aber … ich bin nun schon seit einem Monat hier und die Menschen hier, die sind so …“ Ich tat so, als würde ich nach den richten Worten suchen und näherte mich ihr dabei. „Ich weiß nicht, anders, sie verstehen mich nicht.“

„Du bist einsam.“

Ja, das war ich, aber das hatte nichts mit dieser Situation zu tun. „Ich hätte einfach gerne jemanden bei mir, mit dem ich reden kann, jemand Vertrautes und da sie Nikita ja nicht zu mir lassen, habe ich gedacht, dass sie mir das vielleicht gestatten.“ Ich stellte mich direkt neben sie und schaute auf die herab. Von nahem sah sie noch älter aus. Meine Finger zuckten, aber ich durfte jetzt nicht hektisch werden. Ich hatte es fast geschafft.

„Wie kommen sie darauf, dass ich ihn zu ihnen lassen würde? Noch dazu, wenn er kein Adam ist? Die Unfruchtbaren haben im Herz nichts zu suchen, wenn sie hier nicht arbeiten. Dies ist eine geschützte Zone.“

„Dann geben sie ihm doch einfach eine Arbeit hier.“

Einen Moment schaute sie mich schweigend an, dann drehte sie das Gesicht zum Tisch und griff nach einem der Brötchen.

Das war meine Chance. Ich sah noch wie sie den Mund zu einer Erwiderung öffnete, aber da holte ich schon blitzschnell aus und schlug ihr die Uhr mit aller Kraft auf den Hinterkopf. Es ging ganz schnell. Schwung, Schlag, ein dumpfer Treffer und der einzige Laut, der noch über ihre Lippen kam, war ein leises Stöhnen. Dann sackte sie einfach über ihrem Teller zusammen und blieb mit dem Gesicht in ihrem Frühstück liegen.

Im ersten Moment stand ich einfach da und starrte auf das, was ich da gerade angerichtet hatte. Aber dann passierte genau das, war auch gestern geschehen war, als ich die Uniform geklaut hatte. Ein Hochgefühl reiner Freude überschwemmte mich. Nicht nur weil ich es wirklich geschafft hatte, in Agnes' Zimmer zu kommen und sie auszuschalten. Damit dass sie nun bewusstlos vor mir lag, war das Ziel nun zum Greifen nahe.

Ich würde hier rauskommen. Ich würde heute wirklich die Stadt verlassen und niemand konnte mich aufhalten!

Noch während ich sie einfach anschaute und sich bei diesem Gedanken ein glückliches Lächeln auf meinen Lippen ausbreitete, besann ich mich wieder auf meine eigentliche Aufgabe. Ich hatte weder Zeit, in dem Gefühl zu schwelgen, noch mich auf meinen Lorbeeren auszuruhen, da ich nicht wusste, wie lange sie bewusstlos bleiben würde. Darum stellte ich schnell die Uhr auf dem Tisch ab, eilte dann zu dem riesigen Bett in der Ecke, das ein wenig erhöht auf einem Podest stand und schmiss das Bettzeug herunter, um an das Laken zu kommen. Als ich es von der Matratze zerrte, fiel ich fast noch hinein.

Jetzt nur nicht hektisch werden.

Es dauerte keine zwei Minuten, da war ich auch schon wieder bei ihr, griff mir das Brotmesser vom Tisch und zerriss mit seiner Hilfe das Laken in mehrere Streifen. Vermutlich wäre es einfacher gewesen, das Messer dazu zu benutzen, ihrem Leben ein Ende zu setzen – verdient hätte sie es – aber auch wenn die Menschen in Eden mich für eine Wilde hielten, ich tötete nicht, wenn es nicht sein musste. Es war in Ordnung, wenn ich Nahrung brauchte, oder mich verteidigen musste, aber einfach eine wehrlose alte Frau umbringen? Das brachte ich einfach nicht über mich – dafür war ich eben doch zu weich.

Aber mit dem Laken würde es schon gehen.

Ich lehnte sie auf ihrem Stuhl zurück und stopfte ihr einen Ballen Stoff in den Mund. Dann wickelte ich noch einen langen Streifen um ihren Kopf, damit sie ihn nicht einfach wieder ausspucken konnte, wenn sie erwachte.

Zwei weitere Streifen benutzte ich, um ihr die Arme auf den Rücken zu binden und dann waren ihre Füße dran. Das Ganze dauerte vielleicht fünf Minuten, dann war sie fest verschnürt und würde auch nichts mehr tun können, selbst wenn sie auf einmal die Augen aufschlug. Aber das tat sie nicht, ich musste sie gut erwischt haben.

Danach schubste ich sie wieder nach vorne, weil ich an ihre Hand ranmusste. Ihr Kopf schlug auf den Tisch und ließ das Geschirr klirren. Ich kümmerte mich nicht weiter darum, griff nur nach ihrer Hand und tastete dort nach dem Keychip.

Als ich ihn entdeckte, begann mein Herz ein wenig schneller zu schlagen. Gleich hätte ich es geschafft, gleich würde mir der Schlüssel zu dieser Stadt gehören und dann konnte mich nichts mehr aufhalten. Leider war das Messer ein wenig stumpf, weswegen ich ihr die halbe Hand aufschneiden musste, um an dieses reinkorngroße Stück Technik heran zu kommen. Das Blut machte die ganze Sache dann auch noch ziemlich glitschig, aber dann hielt ich ihn endlich in meiner Hand: Agnes' Keychip.

Staunend nahm ich ihn in Augenschein. Er sah genauso aus wie der, den ich mir aus meiner Hand geschnitten hatte.

Apropos, wo wir schon mal dabei waren, meinen musste ich ja auch noch loswerden, schließlich wollte ich nicht geortet werden. Allerdings missfiel mir der Gedanke, mir meine Hand genauso abzusäbeln, wie ich es bei ihr getan hatte. Darum schaute ich auf dem Tisch nach etwas anderem. Dabei entdeckte ich zwei Dinge. Zum einen eine kleine durchsichtige Tüte, in der kleine bunte Bonbons drinnen waren und ein seltsam gekrümmtes Messer, das bei dem Käse lag – warum hatte ich das nicht schon vorher bemerkt?

Die Bonbons aus der Tüte kippte ich einfach auf ihren Teller und benutzte sie dann dazu, Agnes' Keychip aufzubewahren. So würde ich ihn nicht verlieren können. Das Messer nahm ich an mich. Um meinen Chip würde ich mich später kümmern, noch brauchte ich ihn.

Ich ließ beides in meiner Rocktasche verschwinden und wollte mich schon zur Tür wenden, um schnellstmöglich das Weite zu suchen, aber dann zögerte ich. Wenn hier jemand rein kam, um nach Agnes zu schauen, würde er sofort sehen, dass hier etwas nicht stimmte. Besser wäre es doch, alles wieder so herzurichten, wie ich es vorgefunden hatte und die Despotin verschwinden zu lassen.

Ein schneller Blick durch den Raum machte mich auf einen großen Kleiderschrank aufmerksam. Kurzerhand hievte ich Agnes hoch – oh Himmel, die war schwerer, als sie aussah – und schleppte sie zum Schrank.

Nach kurzem herumfummeln, fand ich heraus, dass man die Türen zur Seite schieben musste, um sie zu öffnen. Dann verfrachtete ich sie mit einem Ächzen in das Möbelstück und schob die Türen wieder zu.

Als nächstes war das Bett dran, dann der Tisch. Dabei bemerkte ich ein wenig Blut, dass ich mit den Resten des Lakens eilig aufwischte. Es landete bei Agnes im Schrank. Dann musste ich nur noch die Uhr zurück an ihren Platz stellen und alles sah wieder genauso wie bei meiner Ankunft aus. Naja, bis auf die alte Frau, von der war nichts mehr zu sehen.

Zeit zu verschwinden.

Eilig durchquerte ich den Raum und öffnete die Tür. Aber ich stürmte nicht einfach hinaus, ich vergewisserte mich erstmal, dass niemand draußen zu sehen war. Erst dann verließ ich das Zimmer, schloss die Tür von außen und eilte zum Ende des Korridors, wo das Treppenhaus lag.

Mein Herz schlug mit bis zum Hals und mein Körper war angespannt wie eine Feder. Zwar hatte ich den Keychip nun, doch der wirklich schwierige Teil lag noch vor mir. Ich musste mich der Garde anschließen und mit ihr auf die vierte Ebene kommen. Und das alles, ohne entdeckt zu werden. Doch als erstes musste ich noch mal in den Club.

Das Treppenaufgang, war völlig verwaist. Niemand begegnete mir auf dem Weg nach unten ins Erdgeschoss und das lag nicht nur an der frühen Morgenstunde. Irgendwie erstaunte es mich, dass ich völlig ruhig blieb. Die letzten Tage hatte ich an nichts mehr außer der Flucht denken können und jetzt wo es so weit war, blieb die Aufregung aus. Nicht dass das etwas Schlechtes wäre. Jetzt durfte nur nicht mehr schiefgehen, denn sonst würden sich vor mir Abgründe auftun, die ich nicht beschreiten wollte. Das was ich getan hatte, würde Agnes mir mit Sicherheit niemals verzeihen.

Sobald ich unten angekommen war, verließ ich den Turm so schnell ich es wagte und ging draußen direkt hinüber zum Fahrdienst.

Ein frischer Wind wehte und ließ mich leicht frösteln. Heute war es merklich kühler, als die ganzen letzten Wochen und das lag nicht nur an der frühen Morgenstunde. Der Herbst klopfte vorsichtig an. Die ersten Blätter an den Bäumen, hatten sich bereits verfärbt. Nicht mehr lange, dann würden die Bäume damit beginnen, ihr Laub abzuwerfen.

Schon seltsam, worauf man in einem solchen Moment achtete.

Unten an der Treppe standen zwei Gardisten, die sich miteinander unterhielten, mir aber keine weitere Beachtung schenken. Scheinbar war es nicht sehr ungewöhnlich, dass eine Eva, um diese Zeit, den Turm verließ.

Sobald ich im Wagen saß, wies ich den Fahrer an, mich zu Freizeitcenter zu fahren und schon warn wir unterwegs.

Die Fahrt bot mir die Möglichkeit, mich ein wenig zu entspannen. Ich konnte es immer noch nicht richtig glauben, dass ich es wirklich geschafft hatte. Aber ich hatte den Keychip, ich spürte ihn in meiner Rocktasche. Das Tütchen knisterte leise, wenn ich dagegen drückte.

Wir kamen ziemlich zügig voran. Die Straßen waren weitestgehend verwaist. Nur hin und wieder erblickte ich einen Menschen. Erst als wir dem Freizeitcenter näherkamen, wurde sie ein wenig mehr. Es waren mehr als mir lieb waren, aber weitaus weniger, als ich befürchtet hatte.

Knapp zehn Minuten, nachdem ich in den Wagen gestiegen war, hielten wir am Zielort. Ich bedankte mich, sagte ihm, dass er nicht warten musste und stieg aus.

Als ich das Center betrat, zwang ich mich, stur nach vorne zu kommen. Er wäre sicher auffälliger, wenn ich mich verstohlen nach allen Seiten umsah, als hätte ich etwas unrechtes im Sinn. Wobei das einzige Unrecht, dass hier begannen wurde, von dieser Stadt ausging. Ich brachte die Dinge gerade nur wieder in Ordnung.

Zielstrebig ging ich am Koiteich vorbei, direkt hinüber zum Paradise. Der Club öffnete erst um zehn und Archie tauchte selten vor neun auf. Auch die Keller, die hier arbeiteten, würden jetzt noch nicht da sein, deswegen wunderte es mich gar nicht, vor einer verschlossenen Tür zu stehen. Aber ich arbeitete hier, darum hatte ich jederzeit Zugang zu diesen Räumen. Ich musste also nur mit meinem Keychip über den Scanner fahren und schon schob die Pneumatiktür sich mir einem Zischen in die Wand. Jetzt musste ich nur noch hinein huschen und sie schnell wieder hinter mir verschließen.

Geschafft.

Ich gönnte mir einen kurzen Moment zum Durchatmen, horchte darauf, ob ich auch wirklich allein war und huschte dann nach hinten ins Lager. Ich musste mich beeilen, ich hatte schließlich nicht ewig Zeit. Ich musste rechtzeitig bei der Kaserne sein, damit sie nicht einfach ohne mich abfuhren und ich hatte keine Ahnung, wie lange ich dorthin brauchen würde. Eine Stunde? Vielleicht länger? Ich musste immerhin noch ein ganzes Stück laufen.

Als ich im Lager ankam, schaute ich vorsichtshalber in alle Ecken, um sicher zu gehen, dass ich auch wirklich alleine war – ich wollte schließlich keine bösen Überraschungen erleben. Wie nicht anders zu erwarten, war ich die einzige Seele hier hinten. Gut. Dann auf zum nächsten Teil.

Die Kiste mit der Uniform war schnell gefunden und aus dem Regal geholt. Ich hatte mir überlegt, dass es am sinnvollsten war, sie direkt anzuziehen. Sie unbemerkt durch die Gegend zu tragen, wäre für mich so gut wie unmöglich und als Gardistin, würde man mich in Ruhe meiner Wege gehen lassen. Doch bevor ich in die Uniform schlüpfen konnte, musste ich noch etwas anderes tun.

Ich holte das Tütchen mit Agnes' Keychip heraus, schon den Ärmel meiner Bluse hoch und legte den Medi-Reif frei. Wie hatte Sawyer gesagt? Dieser Keychip war der Schlüssel zu jedem Schloss in dieser Stadt und der Medi-Reif besaß ein Schloss. Nun würde ich herausfinden, ob Sawyer recht hatte.

Meine Finger waren ein wenig zitterig, als ich den kleinen Chip an den Verschluss hielt. Ich hielt den Atem an und dann wurde das kleine rote Lämpchen grün. Es klickte. War sie offen?

Beinahe schon zögernd griff ich nach dem Reif und zog an dem Verschluss. Er ging einfach auf. Bei Gaias Güte, er ging wirklich auf! Vor Freude stieß ich einen kleinen Ruf aus und war versucht dieses Drecksteil einfach von mir zu schleudern, aber dann überlegte ich es mir anderes und legte es einfach neben mich auf den Boden. Da der Medi-Reif die Yards auf den Plan rufen konnte, wenn ich etwas Falsches tat, würde man mich darüber sicher auch orten können. Besser ich brachte das Ding irgendwo hin, wo es von meiner Spur ablenken würde.

Aber der Reif war nicht das Einzige, was mich in Zugzwang bringen konnte. Darum zog ich als nächstes das Messer aus dem Rock und legte meine Hand auf mein Knie.

Ich schaute auf die inzwischen fast verheilte Wunde. Den zweiten Keychip hatte Killian mir ein wenig oberhalb eingesetzt. Das würde jetzt wehtun.

Messer ansetzten, noch einmal tief durchatmen und dann schnitt ich mir ins eigene Fleisch. Bei Gaias Zorn, tat das weh. War das beim Letzten Mal auch so schlimm gewesen? Ich biss die Zähne zusammen und schnitt etwas tiefer. Blut sickerte hervor, meine Hand begann zu zittern. Aber das hielt mich nicht auf. Ich wollte hier raus und ich würde jedes Hindernis beseitigen, egal wie sehr es mich auch schmerzte.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern und ich musste zwischendurch mehrmals absetzten. Es war wirklich nicht leicht, sowas bei sich selber zu machen, aber am Ende war das Mistteil draußen und meine Hand völlig blutverschmiert.

Keine Zeit sich die Wunden zu lecken.

Ich legte den Chip zu der Fessel, wischte mir die Hand notdürftig an meinem Rock ab und begann damit mich zu entkleiden. Dann schlüpfte ich in die Uniform der Garde, stutzte aber, als ich das Namenschild über meiner Brust bemerkte. Konnte das zu einem Problem werden? Ich konnte den Namen nicht lesen, aber die anderen könnten es und es musste der Name der überfallenen Gardistin sein. War es riskanter mit, oder ohne diesen Namen bei der Kaserne aufzutauchen? Ich ließ ihn dran, denn ein fehlendes Schild, würde vermutlich mehr Aufmerksamkeit erregen, als ein falsches Schild.

Es war ein seltsames Gefühl Hosen anzuziehen. Und dann die Stiefel erst. Das hatte ich seit dem letzten Winter nicht mehr getan. Aber besonders komisch kam ich mir vor, als ich mir die Sturmmaske über den Kopf zog. Wenigsten versteckten die Handschuhe die frische Wunde.

Ich schnappte mir das Messer von Agnes und steckte es mir in die Tasche – man konnte ja nie wissen – doch bei dem Chip in der Tüte zögerte ich kurz. In der Tasche nutzte er mir nicht viel und es wäre sicher seltsam, wenn jemand beobachtete, wie ich ihn aus der Tasche zog, um ihn zu benutzen. Kurzerhand steckte ich ihn mir samt Tüte in den Handschuh.

Als ich dabei an die frische Wunde kam, zischte ich. Am besten ich bewegte diese Hand erstmal nicht.

Jetzt fehlte nur noch der Gürtel, mit dieser ganzen Ausrüstung und der Helm. Da war ein langer in Leder gebundener Schlagstock. Er war nicht so gut wie meine Machete, aber es würde funktionieren.

Bei dem Gedanken an das Erbstück meiner Eltern, wurde mein Herz ein wenig schwer. Aber ich hatte keine Ahnung, wo es sich befand und musste es deswegen zurücklassen. Es gefiel mir nicht, aber es ging nicht anders.

Zu dem Schlagstock gesellten sich noch ein paar Handschellen und eine Waffe. Aber die sah nicht so aus wie die Waffen, die die Tracker bei mir benutzt hatten. Diese hier war etwas kleiner und aus Metall. Ich war mir nicht ganz sicher, wie sie funktionierte, doch ich steckte sie mir an den Gürtel, einfach weil sie zur Ausrüstung dazu gehörte.

Dann kamen noch so komische Teile, die ich mir über die Knie und die Ellenbogen ziehen musste. Wahrscheinlich waren sie zum Schutz gedacht, doch wenn ich ehrlich war, behinderten sie mich in meiner Bewegungsfreiheit. Hoffentlich konnte ich das ganze Zeug bald wieder ausziehen, ich mochte diese Aufmachung absolut nicht.

Sobald ich alles anhatte, stopfte ich meine Kleidung, meinen Medi-Reif und mein Chip, in den leeren Karton und schob ihn ins Regal in der Ecke. Dann setzte ich mir noch den Helm auf und klappte das Visier herunter. Damit war ich bereit zum Aufbruch.

Einen Moment überlegte ich, ob ich wieder durchs Center gehen sollte, entschied mich dann aber für den Hinterhof. Da dürfte um diese Zeit eigentlich niemand unterwegs sein. Perfekte Voraussetzung.

Mit dem gestohlenen Keychip im Handschuh, öffnete ich das hintere Tor und späte ins Freie. Wie erwartet, war es völlig verwaist. Alles ah wie immer aus. Selbst die Spuren, vom gestrigen Rettungseinsatz, waren bereits alle beseitig worden.

Ich schlüpfte ins Freie, verschloss die Tür hinter mir und bewegte mich dann eilig durch die lange Gasse, zur Westseite des Freizeitcenters. Das war die Seite, die am nächsten zur Mauer stand.

Solange ich mich in der Gasse befand, joggte ich, denn ich wollte keine Zeit verlieren. Erst als ich zu einem der Durchgänge zur Straße kam, wurde ich langsamer. Rennende Menschen zogen Aufmerksamkeit auf sich und auch wenn noch nicht viele Leute unterwegs waren, und ich in dieser Verkleidung steckte, wollte ich nicht, dass jemand allzu genau hinschaute. Darum zwang ich mich auch langsam zu laufen, sobald ich auf die Straße trat.

Eine Handvoll Menschen begegneten mir. Jedes Mal begann mein Herz ein wenig schneller zu schlagen, aber keiner von ihnen würdigte mich eines zweiten Blickes. Schon Bald hatte ich die Straße und die Läden hinter mir gelassen und stampfte durch die Begrünung, die wohl die Sicht auf den hässlichen Beton der Mauer ein wenig verbergen sollte.

Zwischen der Begrünung und dem Mauerring, gab es einen schmalen Pfad, dem ich folgte, bis ich die Wartungsschleuse erreichte, von der Sawyer gesprochen hatte. Sie zu öffnen, war genauso leicht, wie bei jeder anderen Tür in dieser Stadt. Einfach nur den Keychip auf den Scanner legen und darauf warten, dass das rote Lämpchen auf grün sprang. Als es zischte und die Schleuse wie eine Pneumatiktür sich in die Seite schob, begann mein Herz ein wenig schneller zu schlagen. Das war er, mein Weg in die Freiheit und jetzt konnte mich nichts und niemand mehr aufhalten.

Ich schaute nicht mehr zurück. Für mich gab es jetzt nur noch den Weg nach vorne.

 

oOo

Kapitel 57

 

Vorsichtig spähte ich um die Ecke des Gebäudes, auf den Herzplatz. Von hier aus hatte ich einen sehr guten Blick auf den Eingang der Kaserne und auch zu den ganzen Wagen, die am Straßenrand parkten. Wie hatte Sawyer die genannt? Sprinter und Kleinbusse. Sie sahen wirklich aus, wie ein Bus im Kleinformat. Außer der Wagen ganz vorne in der Reihe, das war ein ganz normaler Wagen.

An den Autos tummelte sich bereits eine ganze Horde von Gardisten. Sie standen in einer locken Gruppe beieinander und unterhielten sich. Ein paar hatten sich auch in die offenen Türen der Wagen gesetzt. Die Atmosphäre war nicht unbedingt ausgelassen, aber entspannt.

In eines dieser Fahrzeuge musste ich hineinkommen.

Das Problem war nur, sollte ich mich doch irren und das Ziel dieser Autos wäre nicht die vierte Ebene, dann würde ich wer-weiß-wo landen und das wäre alles andere als erfreulich.

Der Weg hier her war ereignislos verlaufen. Wie ich gehofft hatte, wurde ich dank der Uniform, von jedem den ich begegnet war, einfach ignoriert. Das Spannendste, das mir auf meinem Marsch hier her widerfahren war, betraf eine Frau, die meinen Weg gekreuzt hatte. Sie war mit ihrem Blick so sehr auf ihren Screen fixiert gewesen, dass sie den Bordstein nicht beachtet hatte und fast auf die Nase gefallen wäre. Ansonsten hatte ich die letzte Stunde nur damit verbracht, eilig an mein Ziel zu gelangen.

Und nun stand ich bereits seit mehreren Minuten unschlüssig im Verborgenen und war mir nicht ganz sicher, wie ich jetzt fortfahren sollte. Wäre es besser in das Gebäude hinein zu gehen und sich dort umzuschauen, oder sollte ich mich lieber zu den Leuten an den Autos gesellen? Sie waren eben erst aus der Kaserne gekommen, schienen aber noch nicht im Aufbruch begriffen. Fragen über Fragen und keine Antwort in sich.

Ich musste auch noch herausfinden, wie ich mich ihnen am Besten näherte.

Sie trugen zwar alle diese Uniformen samt den Helmen, wodurch sie praktisch unkenntlich wurden, doch sie waren sicher eine eingespielte Gruppe und erkannten sich auch ohne die Gesichter sehen zu müssen.

Wenn ich allerdings noch lange hier herumstand und nichts tat, würde ich am Ende noch ohne mich abfahren und ich müsste ganz allein auf die vierte Ebene finden müssen. Und selbst wenn mir dieses Kunststück gelingen sollte, war es mehr als unwahrscheinlich, dass ich pünktlich kommen würde. Bei meinem Glück, wäre die Geburtstagsparty dann schon längst vorbei und Sawyer und Salia wieder sicher im Herzen verwahrt. Und Nikita hätte ich dann sicher auch verpasst.

Nun gut, meine besten Chance bestand wahrscheinlich wirklich darin, zu der Gruppe auf dem Parkplatz zu stoßen. Alles andere müsste ich je nach Situation dann improvisieren.

Na dann mal los.

Wichtig war sich so zu verhalten, als würde ich zu ihnen gehören. Also schlich ich nicht aus meinem Versteck, sondern setzte mich einfach ganz normal in Bewegung. Der Trick war so zu tun, als wenn ich die Berechtigung hätte hier zu sein und als würde ich wissen, was ich tat – was leider nicht der Fall war.

Ich war kaum aus meinem Versteck getreten, als eine Gruppe von sieben Gardisten aus der Kaserne trat und zu den anderen hinüber gingen. Einer von ihnen schaute nach links, direkt zu mir hinüber.

Danz ruhig, lass dir nichts anmerken. Sie können dich unter dem Helm nicht erkennen.

Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich mich ihnen anschloss, doch schon nach zwei Schritten, wurde der Kerl neben mir langsamer. Dann bleib er stehen, griff dabei nach meinem Arm und brachte mich damit sehr wirksam zum Anhalten. Ich konnte seine Augen nicht sehen, aber sein Blick schien auf das Namensschild auf meiner Brust gerichtet zu sein.

Verdammter Mist! In Ordnung, jetzt nur keine Panik. „Was ist?“, fragte ich und war erstaunt, wie ruhig meine Stimme klang, wo mein Herz doch gerad drohte, vor Schreck, aus meiner Brust zu springen. Und dann erst registrierte ich die Körpergröße des Mannes. Das war Wolf. Zumindest hatte ich hier noch keinen anderen Mann mit einer solchen Statur gesehen.

Der Mann – Wolf? – warf einen kurzen Blick zu den anderen, drehte sich dann herum und ging zurück in die Richtung, aus der er gerade gekommen war. Mich zog er einfach mit sich.

Nein! „Hey, was soll das?“

Er knurrte mich an, als wollte er mich dazu bringen, still zu sein. Dann schob er mich in die Ecke neben den Eingang, griff nach dem Namensschild auf meiner Brust und riss es mit einem Ruck ab.

Ich wäre vor Schreck fast an die Decke gesprungen.

Wolf ließ das Schild in seiner Hosentasche verschwinden. Dann zeigte er erst auf mich und dann auf den Boden. Ich interpretierte es als „Bleib genau hier stehen.“

Als ich nicht darauf reagierte, wiederholte er seine Geste und erst, als ich etwas zögerlich genickt hatte, wandte er sich ab und ging in das Gebäude.

Mist, was hatte er jetzt vor? Sollte ich wirklich hier warten, oder mein Glück bei den Autos probieren? Vielleicht verriet er mich genau in diesem Augenblick und ich tat nichts anderes, als blöd hier herum zu stehen. Andererseits hatte er mich gestern auch nicht verraten, warum also sollte er es jetzt tun?

Ich schaute wieder zu den Gardisten auf den Herzplatz. Sie standen immer noch locker zusammen, aber die Atmosphäre schien sich ein wenig geändert zu haben. Sie waren jetzt aufmerksamer, als würden sie jemanden in ihrer Mitte lauschen. Von hier war das leider schwer auszumachen.

Ein Blick zur Tür verriet mir nur, dass sie weiterhin geschlossen war. Wie lange sollte ich noch warten? Ich stand bereits seit ein paar Minuten hier und so wie es an den Autos aussah, hatte ich nicht mehr viel Zeit, mich zu ihnen zu gesellen. Aber Wolf hatte gewollt, dass ich hierblieb.

Unsicher biss ich mir auf die Lippen und hatte mich schon fast dazu entschlossen, mich in Bewegung zu gehen, als die Pneumatiktüren der Kaserne sich wieder öffneten und der Riese herauskam.

Er war alleine, was schon mal eine Erleichterung war, da es wahrscheinlich bedeutete, dass er mich nicht verraten hatte.

Ohne zu zögern, trat er vor mich und zeigte mir ein Namensschild, das in seiner behandschuhten Hand lag. Die Buchstaben darauf sahen anders aus, als bei dem Schild, dass er von meiner Brust gerissen hatte. Er warf einen eiligen Blick zu der Gruppe am Straßenrand, klebte mir das Schild dann auf die Brust und winkte mir, ihm zu folgen.

Ich atmete einmal tief durch. Jetzt würde es ernst werden.

Sich völlig normal und ruhig zu verhalten, während das Herz immer schneller schlug und man praktisch vor Nervosität Schweißausbrüche bekam, war gar nicht so einfach. Ich musste all meine schauspielerischen Künste zusammenkratzen, um auch mich selber davon zu überzeugen, dass hier alles nach Plan lief und ich einer von ihnen war.

Die Leute auf dem Herzplatz waren in der Zwischenzeit näher zusammengerückt und lauschten den Worten eines Mannes, der seinen Helm als einziger nicht auf dem Kopf trug, sondern unter den Arm geklemmt hatte. Ich erkannte ihn sofort, das war Luzian Hagen, der Glatzkopf, der mit bei dem Elysiumfest den modifizierten Medi-Reif angelegt hatte. Bedeutete das, dass dieser Dante auch hier war? Nicht, dass das im Moment wichtig wäre.

Während ich mich ihnen zusammen mit Wolf näherte, begann ich zu zählen. Da sie absolut stillstanden, war das nicht weiter schwer. Ich kam auf zwanzig Leute, wer allerdings Mann und wer Frau war, war nicht so einfach auszumachen, aber das war auch egal.

Als ich sie fast erreicht hatte, drehte sich ein großgewachsener Mann – ja, das war eindeutig ein Mann – zu mir um, was mich vor Schreck fast aus dem Tritt brachte. Aber er warf mir nur einen kurzen Blick zu und konzentrierte sich dann wieder auf Luzian.

Bleib ruhig, alles ist in Ordnung. Du bist einen von ihnen.

Naja, zumindest sollte es ein Weilchen so wirken.

Still und ohne weitere Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, stellte ich mich direkt zu ihnen und tat das gleiche, was auch die anderen taten. Ich lauschte dem großen Anführer.

„… die Hälfte von euch immer im direkten Umkreis der Beiden haben“, sagte er gerade. „Die andere Hälfte wird sich ein wenig verteilen und im Hintergrund bleiben. Sprecht euch mit den Yards ab, um den Schulkindern nicht in die Quere zu kommen. Ich möchte keine unnötigen Zwischenfälle.“ Nach diesen Worten sah er uns alle nacheinander sehr streng an. Als sein Blick über mich glitt, spannte ich mich direkt an, aber er verblieb bei mir nicht länger, als bei den anderen. „Außerdem möchte ich noch einmal betonen, dass dies ein Geburtstag ist und Despotin Nazarova wünsch ausdrücklich, dass das Mädchen sich an diesem Ausflug erfreuen kann.“

Hm, im Augenblick wünschte sie sich wahrscheinlich eher, aus ihrem Schrank herauszukommen.

Ein paar Plätze weiter schnaubte jemand. „Sollen wir etwa bunte Ballons und einen Kuchen mitbringen?“

„Wir sollen dafür sorgen, dass dies ein unvergesslicher Tag für die Kleine wird.“

Oh ja, unvergesslich würde dieser Tag werden und das nicht nur für Salia.

„Nun gut.“ Luzian pflanzte sich seinen Helm auf den Kopf, wodurch seine Stimme nun etwas gedämpft wurde. „Dann mal ab in den Wagen. Jansen in die Eins, Monnik in die zwei. Düwell und Laboom fahren bei mir in der Limousine mit. Wolf, du hängst dich an De Vries ran und machst, was er sagt. Dann mal los, setzt euch in Bewegung.“

Und genau das taten auch alle. Nach und nach verteilten sie sich auf die Fahrzeuge. Da ich keine spezielle Zuweisung bekommen hatte, hängte ich mich einfach an Wolfs Fersen. Das war sicher nicht verkehrt.

Während die Schlange vor mir kürzer wurde und ich äußerlich geduldig darauf wartete einzusteigen, schlug mein Herz immer schneller. Gleich würde ich zusammen mit ihnen darin eingesperrt sein. Das war der Teil des Plans, vor dem ich mich am meisten fürchtete. Wenn sie darin entdeckten, wer ich wirklich war, wäre ich ihnen hilflos ausgeliefert. Aus einem fahrenden Wagen mit ausgebildeten Wachleuten zu entkommen, wäre fast unmöglich. Ich müsste …

Eine Berührung an der Schulter ließ mich beinahe aus der Haut fahren. Ich fuhr so schnell herum, dass ich fast über meine eigenen Füße stolperte.

„Hey, immer mit der Ruhe.“

Der hatte leicht reden. Hatten sie mich durchschaut? Einen Moment wollte ich einfach losrennen, aber ich zwang mich genau dort stehen zu bleiben, wo ich gerade stand.

„Sag mal, du bist doch die Neue, oder?“ Es war Luzian. Zwar sah ich sein Gesicht nicht mehr, aber ich erkannte seine Stimmte. Sein Blick fiel auf mein Namensschuld. „Emma Klein.“

Ja, oder nein? Was war die passende Antwort? Sollte ich überhaupt antworten?

Ich wusste es nicht, weswegen ich einfach zögernd nickte. Dann schaute ich zu Wolf, aber der war schon im Wagen. Von ihm hatte ich also keine weitere Hilfe zu erwarten.

„Habe ich es mir doch gedacht.“ Er musterte mich. „Was machst du hier? Solltest du nicht beim Training sein?“

Wenn er so fragte, dann sollte ich das wahrscheinlich. Naja, nicht ich, sondern diese Emma Klein. „Ähm …“, machte ich, da er offensichtlich auf eine Antwort wartete. „Man hat mich hergeschickt.“ Hoffentlich ließ er das durchgehen.

Was ich dann allerdings von ihm bekam, war ein genervtes Seufzen. „Ich hasse es, wenn die immer die Pläne ändern. Wer soll denn da noch den Überblick behalten?“

Ich zuckte nur ratlos die Schultern, während ich Gaia anflehte, dass er doch einfach einsteigen lassen sollte. Aber das tat er nicht.

„Nun gut, ich kann es nicht ändern. Dann komm mal mit.“

„Mitkommen?“

„Zur Limo. Die anderen Wagen sind schon voll, aber in der Limo werden wir sicher noch ein Plätzchen für dich finden.“

Ich wusste nicht ob es mir gefallen sollte, oder ob es doch besser wäre, in der Masse einfach unterzugehen, aber da ich schlecht widersprechen konnte, folgte ich ihm.

Die Limousine stellte sich als ein auf hochglanzpolierter Wagen mit wirklich bequemen Sitzen heraus. Luzian nahm am Steuer Platz. Hinten saßen bereits zwei Leute aus der Garde. Ich schaute sie nur kurz an, als ich ihnen gegenüber auf den Sitz kletterte.

Es war ein Wunder, dass keiner meine Anspannung bemerkte. Selbst mein Herz klopfte mittlerweile so laut, dass sie es eigentlich hören müssten. Aber sie beachteten mich nicht mal. Die beiden auf der Rückbank unterhielten sich nur leise miteinander. Dann startete der Redner den Motor und fuhr ohne jegliche Verzögerung los. Die anderen Fahrzeuge, taten es uns gleich.

Ich zwang mich zur völligen Ruhe und richtete meinen Blick nach draußen. Nicht das ich gerade ein Interesse daran hatte, mir die Gegend anzuschauen, aber wenn ich die ganze Zeit diese Leute im Blick hätte, würde ich mich nur unentwegt fragen, wann sie bemerken würden, dass ich nicht zu ihnen gehörte. Es war besser den Kopf einzuziehen und sich unauffällig zu verhalten. Ich musste nur noch diese Fahrt durchstehen, dann hätte ich es geschafft.

„Ich finde das ja zu riskant“, sagte der Mann mir gegenüber. „Vierte Ebene. Da könnten wir die beiden doch auch gleich zu den Partisanen bringen, um ihnen die Arbeit zu ersparen.“

Luzian schnaubte. „Du übertreibst. Kein Partisan ist jemals über eine der Mauern gekommen.“

Hm, was war den ein Partisan?

„Das vielleicht nicht“, sagte der Kerl unwillig. „Aber sie waren auch noch nie so dreist, wie in den letzten Monaten. Erst vor zwei Tagen haben sie wieder eine Lieferung vom Industriedorf lahmgelegt. Sie kommen der Stadt immer näher.“

„Sie sind nichts weiter als lästiges Ungeziefer“, widersprach Luzian. „Was richten sie den schon mit ihrer Sabotage aus? Nichts. Es nervt einfach nur, weil die Arbeit wegen ihnen doppelt und dreifach ausgeführt werden muss.“

„Ich finde es trotzdem zu riskant“, betonte er noch einmal, als fürchtete er, man würde ihn sonst einfach überhören.

So wie sich das anhörte, war da jemand, der die Arbeit in der Stadt störte. Partisan. Den Begriff sollte ich mir merken, auch wenn ich absolut keine Ahnung hatte, was das sein sollte. Eine Familie? Ein Name? Was kümmerte es mich eigentlich? Ich war gerade auf dem Weg aus der Stadt raus. Es war völlig egal, was sie hier für Probleme und Sorgen hatten, wichtig war im Moment nur der Plan.

Als der Wagen plötzlich hielt, runzelte ich die Stirn. Wir waren noch keine Zwei Minuten unterwegs und konnten unmöglich schon am Ziel sein. Ja selbst für Tor zwei war da zu schnell gegangen. Aber wir standen vor einem Tor. Wir standen nicht nur davor, wir warteten sogar darauf, dass es geöffnet wurde. Nur war es nicht Tor zwei, sondern Tor eins, das Portal, dass uns ins Herz brachte.

Ich hatte nicht darauf geachtet, wohin wir gefahren waren, aber jetzt wurde mir klar, dass wir nur gewendet hatten. Die anderen Wagen waren weg, wahrscheinlich auf den Weg zu Ebene vier, doch dieser hier wollte ins Herz.

Ich begann das Schlimmste zu befürchten. Hatten sie mich doch durchschaut? War das nur ein Trick, um mich widerstandslos zurückbringen zu können?

Ich glaubte nicht daran, doch als das Tor sich öffnete, wäre ich fast aus dem Wagen gesprungen.

Ganz ruhig, jetzt nur keine Panik, es gab sicher für alles eine logische Erklärung. Nur wie die lautete, war mir nicht ganz klar.

Entgegen all meiner Instinkte, zwang ich mich dazu, einfach still sitzen zu bleiben. Ich wusste, wie die Gardisten sich normalerweise in meiner Gegenwart verhielten: Aufmerksam und wachsam, jederzeit bereit, sich auf mich zu stürzen. Diese hier aber beachteten mich gar nicht. Was auch immer hier vor sich ging, es hatte nichts mit mir zu tun.

Das sagte ich mir immer wieder, als wir das Tor passierten und durch die Straßen im Herzen fuhren. Und dann wurde es mir endlich klar. Nein, sie hatten mich nicht durchschaut, dieser Wagen war auf dem Weg zu Sawyer, um ihn und Salia abzuholen.

So viel Glück konnte doch wieder nur ich haben. Da schaffte ich es endlich aus dem Herzen raus und dann landete ich doch wieder hier. Das Schicksal hatte wirklich einen komischen Sinn für Humor.

Als wir dann wirklich an der Straße vor Sawyers Haus hielten, verschwanden auch noch meine letzten Zweifel. Wir mussten nicht mal aussteigen, Sawyer stand bereits an der Straße und erwartete uns.

In einer schwarzen Hose und einem offenen Hemd schaute er gelangweilt den Wagen an. Neben ihm stand ein Gardist, der etwas zu ihm sagte, woraufhin er sich gemeinsam mit ihnen in Bewegung setzte, die Limousine umrundete und die Seitentür aufriss.

Während Sawyer sich neben mich auf den Sitz schob, beachtete er weder mich noch die beiden anderen.

Vorne öffnete der Gardist, der mit Sawyer gewartet hatte, die Beifahrertür und ließ sich neben Luzian in den Sitzt fallen. „Und sie wissen, was die Despotin gesagt hat“, sagte er zu Sawyer, als wären die beiden Männer mitten in einem Gespräch.

„Nein, weiß ich nicht.“ Sawyer hatte nur einen äußerst geringschätzigen Blick für den Mann übrig. „Ich bin dumm wie ein Fisch und kann mich an nichts erinnern, was länger als zehn Minuten zurück liegt.“

Der warf einen finsteren Blick nach hinten. „Benehmen sie sich einfach.“

„Darin besteht meine Lebensaufgabe.“

Aber natürlich. Sawyer war schließlich ein anständiger Kerl, der niemals aus der Reihe tanzte. Nur wäre er niemals auf den Gedanken gekommen, was wirklich Sawyers Kopf vor sich ging. Den an die Regeln halten, würde er sich heute ganz sicher nicht.

„Anschnallen bitte“, sagte Luzian und startete den Wagen dann wieder.

Sawyer kam der Aufforderung nicht nach. Stattdessen verschränkte er die Arme vor der Brust und fixierte die beiden Leute ihm gegenüber.

Luzian seufzte nur und setzte die Limousine wieder in Bewegung.

Ich währenddessen überlegte fieberhaft, wie ich ihn darauf aufmerksam machen konnte, dass ich es war, die neben ihm saß und auch, dass ich den Keychip von Agnes hatte. Er musste das schließlich wissen. Aber hier im Wagen bot sich mir keine Möglichkeit. Da waren zu viele Ohren und es würde wohl verdächtig wirken, wenn ich das Tütchen mit dem Chip hervorziehen und es ihm unter die Nase halten würde.

Wieder einmal musste ich mich auf Marshalls Weisheit besinnen. Ruhe und Geduld, brachten einen ans Ziel. Nur leider bewirkte dieses Mantra bei mir wie immer das Gegenteil. Je öfter ich es mir sagte, desto unruhiger wurde ich.

Ich begann auf meinem Sitz hin und her zu rutschen und stieß dabei auch noch zufällig gegen Sawyer. Beim ersten Mal sagte er nichts, beim zweiten wandte er sich mir genervt zu.

„Hör zu Täubchen, ich weiß, dass ich die Frauenwelt verrückt mache und auch, wenn es sicherlich ein netter Zeitvertreib wäre, ich habe im Moment keinerlei Interesse an Kuscheln. Ich bin nicht im Dienst, also rück mir nicht ständig auf die Pelle.“

Als wenn ich ein Interesse daran hätte ihm auf die Pelle zu rücken. „Dann solltest du dich vielleicht nicht so breit machen.“

Sawyer neigte kaum merklich den Kopf. Hatte er mich erkannt? „Ich bin ein Adam.“

Scheinbar nicht. Ich konnte mich gerade noch so daran hindern zu seufzen und ihm zu erklären, dass er kein Adam, sondern ein Idiot war.

Da ich mich aber zurückhalten musste, um mich nicht zu verraten, rutschte ich einfach soweit es mir möglich war, von ihm weg und verlegte mich wieder darauf, aus dem Fenster zu schauen.

Der nächste Stopp den wir einlegten, war nur ein paar Häuser weiter, wo ein kleines Geburtstagskind, aufgeregt an der Hand ihrer Betreuerin, auf und ab hüpfte und ein kleines Kuschelschaf an ihre Brust drückte. Sie trug ein gelbes Kleid, auf dem eine große, glitzernde Wolke aufgenäht war und dazu eine schwarze Leggins.

Als Salia unseren Wagen kommen sah, riss sie sich einfach los und lief uns trotz der Rufe der Frau entgegen. Deswegen war sie auch schon am Wagen, bevor wir überhaupt angehalten hatten.

„Salia!“, rief die Frau ihrem Schützling gehetzt hinterher.

Das kleine Mädchen kümmerte sich nicht darum, wartete nur bis die Limousine stand und riss dann die Tür neben Sawyer auf.

„Aber hallo“, sagte er sofort und griff eilig nach vorne, um sie abzufangen, als sie sich praktisch auf ihn stürzte. „Wir sind wohl heute ein wenig stürmisch.“

„Ich habe ja auch Geburtstag!“, rief sie begeistert und kletterte mit seiner Hilfe auf seinen Schoß, während die Betreuerin unzufrieden zum Wagen eilte.

„Ach wirklich?“ Sawyer tat völlig überrascht. „Warum hat mir das denn niemand gesagt?“

„Ich habe es dir gesagt“, protestierte sie sofort und schaute ihn sehr streng an. „Gestern.“

Das ließ nicht nur ihren Vater schmunzeln.

„Ja stimmt. Deswegen habe ich das hier wohl auch eingesteckt.“ Aus seiner Hosentasche zog er ein kleines Etui. „Alles Gute, mein Schatz.“

Es war wirklich faszinierend, Sawyer mit seiner Tochter zusammen zu sehen. In ihrer Gegenwart wurde er zu einem ganz anderen Menschen. Nicht nur umgänglicher, auch … menschlicher. Dieses ganze arrogante und menschenfeindliche Gehabe, fiel einfach von ihm ab.

„Salia“, rief die Betreuerin wieder, als sie endlich am Wagen ankam, wurde von der Kleinen völlig ignoriert. Die war nämlich viel zu sehr damit beschäftigt, Sawyer das kleine Geschenk abzunehmen und das bunte Papier darum abzureißen. „Du sollst doch nicht immer weglaufen.“

Die ganze Herzlichkeit, die Sawyer seiner Tochter entgegenbrachte, fiel einfach von ihm ab, als er sich der Frau in der offenen Wagentür zuwandte. „Gibt es einen Grund, warum sie noch hier sind?“

Die Frau spitzte die Lippen leicht und hob das Kinn. „Sie sollten wirklich lernen, sich ein wenig zurückzuhalten, Herr Bennett.“

„Ja, wahrscheinlich“, stimmte er ihr zu, aber allein sein Ton verriet, dass er damit nur über sie spottete.

Ich beobachtete währenddessen, wie Salia das kleine Etui aufklappte. Ja, ich war neugierig darauf, was Sawyer wohl seinem Lieblingsmädchen schenkte. Die Antwort darauf war genauso schlicht wie niedlich.

„Schau mal Papa“ rief sie erfreut und zog eine Halskette mit einem rosa Anhänger heraus. War das ein Scharf?

Sofort war die Frau in der Tür vergessen und seine ganze Aufmerksamkeit wieder bei dem kleinen Mädchen auf seinem Schoß.

„Die ist so hübsch.“

„Sie gefällt dir also?“

Zur Antwort gab es einen Kuss auf die Wange. Dann hielt sie ihm fordernd die Kette unter die Nase. „Machst du sie mir um?“

„Aber natürlich.“ Er drehte sie ein wenig, nahm ihr dann das Schmuckstück aus der Hand und versuchte es ihr ungeschickt anzulegen.

„Lassen sie mich das machen“, sagte die Betreuerin und wollte sich schon in den Wagen beugen, doch Sawyer griff einfach nach der offenen Tür und schlug sie ihr vor der Nase zu.

Langsam bekam ich den Eindruck, dass er sie nicht mochte.

Die Frau plusterte sich ein wenig auf, aber als Sawyer dann auch noch den Wagen verriegelte, funkelte sie ihn nur an, kehrte uns allen dann den Rücken und marschierte zurück zum Haus.

Nachdem der Störenfried nun ausgeschlossen war, versuchte Sawyer sich erneut an der Kette. Es dauerte ein wenig – auch weil Salia die ganze Zeit kichernd auf Sawyers Schoß herumhampelte – aber am Ende schaffte er es und schaute dann in das strahlende Gesicht einer frischgebackenen Siebenjährigen. Das kleine rosa Schaf, blitzte an ihrem Hals.

Luzian, der sich bis jetzt zurückgehalten hatte, drehte sich auf seinem Sitz zu uns nach hinten. „Bitte schnallen sie das Kind an, damit ich losfahren kann.“

„Ob sie es glauben oder nicht, das hatte ich vor“, gab Sawyer ein wenig bissig zurück und verfrachtete Salia auf dem Platz zwischen sich und der Tür. Und dann ging es endlich auf zur vierten Ebene, wodurch ich mindestens genauso aufgeregt wurde wie die Kleine.

Bald, sagte ich mir. Nicht mehr lange und ich würde der Stadt für immer den Rücken kehren können.

 

oOo

Kapitel 58

 

Dicht an dicht, reihte sich ein Acker an den nächsten. Das angebaute Getreide, stand hoch auf den Feldern und wartete nur darauf, geerntet zu werden.

Wir waren nicht durch das südliche Tor gefahren, so wie bei meiner Ankunft, sondern hatten uns, kaum dass wir das Herz verlassen hatten, nach Westen gewandt. Da Sawyer aber ruhig geblieben war und sich die ganze Zeit mit dem aufgeregten Geburtstagskind unterhalten hatte, hatte auch ich versucht, mich zu entspannen. Er würde sicher nicht so ruhig bleiben, wenn hier etwas falsch lief.

Als wir dann endlich die vierte Ebene erreicht hatten, sah es nicht viel anders aus, als beim südlichen Tor. Doch jetzt, wo wir uns langsam Tor fünf nährten, bemerkte ich doch die Unterschiede. Es gab ein paar kleinere Koppeln mit Vieh darin und die Felder mit dem Getreide, waren viel kleiner. Und mir fielen auch die Kinder auf, die zusammen mit ein paar erwachsenen am Rande der Felder standen und sich offensichtlich etwas erklären ließen. Ein bisschen abseits, standen auch ein paar Yards und überwachten das Ganze.

Das musste mit diesem Schuldings zusammenhängen, mit dieser Projektwoche. Das Bedeutete, irgendwo hier musste auch Nikita sein. Allerdings konnte ich sie im Moment noch nicht entdecken, egal wie sehr ich den Hals regte. Noch dazu musste ich es unauffällig tun, da sich in diesem Wagen ziemlich viele Augen befanden.

Wir fuhren die Straße hinunter. Tor fünf ragte direkt vor uns auf. Die Freiheit war so nahe, ich konnte sie beinahe schon schmecken.

Rechts an der Straße lagen die Felder, links standen ein paar kleinere Gebäude und Häuser. Kurz bevor dir das Tor erreichten, bogen wir nach links auf einen Parkplatz ein. Mittlerweile schaffte ich es kaum noch still zu sitzen.

Es fiel mir wirklich schwer, die Unbeteiligte zu geben und so zu tun, als würde ich dazu gehören und hätte jedes Recht hier zu sein. Dass ich überhaupt hier war … dass Sawyers Plan wirklich funktionierte … irgendwie schaffte ich noch immer nicht, es richtig zu realisieren. Vielleicht rührte meine Nervosität aber auch daher, dass da eine alte Frau niedergeschlagen, gefesselt und geknebelt in einem Schrank saß und jeden Moment entdeckt werden konnte. Oder auch daran, dass unser Ziel zum Greifen nahe vor uns lag. Nur noch dieses eine Hindernis, dann winkte endlich die Freiheit und diese Stadt würde uns niemals wiedersehen.

„Bitte bleiben sie und das Kind noch einen Moment im Wagen sitzen“, bat Luzian, als er den Wagen eingeparkt hatte und den Motor ausschaltete. „Wir holen sie dann.“

„Ja, ja, ich weiß wie das läuft“, sagte Sawyer und fummelte an Salias Gurt herum.

Luzian und der Gardist auf dem Beifahrersitz stiegen als erstes aus und gesellten sich zu der Gruppe von Gardisten, die bereits auf dem Parkplatz wartete.

„Da sind sie!“, rief Salia begeistert und drückte sich die Nase am Fenster des Wagens platt. „Schau Papa, da sind die Schafe!“

Gleich auf der anderen Straßenseite, befand sich eine kleine Koppel, die bereits von ein paar Kindern umringt wurde. Darauf standen eine ganze Menge Wattebäusche mit Stelzenbeinen, die sich von den Kindern mit Gras füttern ließen, während sie dem Mann lauschten, der zwischen den Wollknäulen stand und ihnen offensichtlich etwas erklärte.

„Ich sehe es“, sagte Sawyer, während er noch immer am Verschluss vom Gurt herumfummelte. Salias Herumgehopse machte es ihm schwer, das Ding zu öffnen. Aber dann schaffte er es doch und der Verschluss sprang endlich auf.

Die beiden Männer mir gegenüber folgten ihrem Beispiel ihrer Kollegen, doch ich ließ mir extra viel Zeit beim Aussteigen. Das war eine Gelegenheit, die ich nicht ungenutzt lassen durfte, da ich nicht sicher war, wie ich Sawyer noch mal so nahekommen konnte.

„Ich will austeigen, Papa!“, forderte Salia.

„Ist ja schon gut.“ Entgegen dessen, was er eben noch gesagt hatte, half er Salia aus dem Wagen, die sofort davon stürmte, doch als er ihr folgen wollte, packte ich ihn hastig am Oberarm, um ihn noch einen Moment aufzuhalten.

Noch bevor er etwas sagen konnte, klappte ich eilig mein Visier hoch. Zwar trug ich darunter noch die Maske, aber meine Augen würde er ja wohl erkennen. „Ich habe ihn“, sagte ich ohne nähere Erklärung.

Diese drei Worte reichten, um auf seinem Gesicht ein wirklich boshaftes Lächeln aufblitzen zu lassen. „Dann halt dich bereit, ich kümmere mich um die Ablenkung.“

Auch hier waren keine weiteren Ausführungen nötig. „Gib mir etwas Zeit, ich muss erst noch Nikita finden.“

„Beeil dich“, war alles was er sagte, dann zog er seinen Arm aus meinem Griff und stieg eilig aus, um Salia nicht aus den Augen zu verlieren.

Bevor noch jemand bemerken konnte, dass ich nicht die war, für die ich mich ausgab, klappte ich das Visier schnell wieder herunter. Dann tat ich es den anderen gleich und verließ den Wagen. Dabei musste ich mich zwingen ruhig zu bleiben. Jetzt rauszuspringen und loszurennen, würde den ganzen Plan vollkommen ruinieren. Doch die Freiheit … sie war so nahe. Sie lauerte genau hinter dieser Mauer und wartete nur auf mich. Ihr Klang war wie der Ruf einer Sirene.

Geduld, ich musste nur noch ein kleinen wenig länger durchhalten. Und Nikita, die musste ich vorher auch noch finden.

Der Parkplatz war recht klein und abgesehen von den Fahrzeugen der Gardisten, standen hier noch zwei große Busse. Mit denen hatten sie wahrscheinlich die Schüler und Lehrer hergeschafft. Vorne am Tor gab es ein Wachhäuschen, leicht zu erkennen, an der gesicherten Tür. Alle Tore hatten diese Wachhäuschen.

Sobald Sawyer und Salia losgelaufen waren, begannen die Gardisten ihnen zu folgen und sich zu verteilen und erst jetzt wurde mir klar, wie viel hier durch die Projektwoche eigentlich los war.

Begrüßt wurden wir durch das Geschrei von Kindern und Erwachsenen, die versuchten, sich Gehör zu verschaffen. Die Straße, die Koppeln und Felder, waren voll von ihnen. Irgendwie hatte ich nie realisiert, wie viele Kinder es in Eden eigentlich gab. Vielleicht kamen sie mir im Moment aber auch nur so übermächtig vor, weil ich sie noch nie alle auf einem Haufen gesehen hatte.

Die älteren Kinder standen alle in Gruppen beisammen und lauschten den Männern und Frauen, die ihnen Dinge erklärten. Die jüngeren rannten, sehr zum Leidwesen ihrer Erzieher, kreuz und quer durcheinander und wollten nicht recht auf sie hören.

Sawyer war mit Salia direkt zur Koppel mit den Schafen gegangen. Aus dieser Entfernung konnte ich nicht verstehen, was sie sagten, aber die Begeisterung der Kleinen war nicht zu übersehen. Sie freute sich wirklich hier zu sein, um ihre Wolken sehen zu können.

Es tat mir leid, dass wir ihr dieses Erlebnis gleich ruinieren würden und ich schwor mir, dass ich es wieder gut machen würde, wenn ich die Chance dazu bekam, aber es ging nun mal leider nicht anders. Dies war unser Weg in die Freiheit und es geschah ja auch zu ihrem Besten.

Ein paar Nachzügler der Gardisten, verließen gerade den Parkplatz. Einer von ihnen war eindeutig Wolf. Ich erkannte ihn nicht nur an seiner Größe, sondern auch daran, dass er zwei Mal verstohlen in meine Richtung schaute. Er lief auch langsamer, als die anderen, zögerte, als fragte er sich, warum ich hier war und was ich vorhatte.

Er hatte mich nicht verraten. Er hatte mir geholfen, ohne Fragen zu stellen, oder Erklärungen zu fordern. Ohne ihn wäre ich vielleicht gar nicht in den Wagen gekommen. Und trotzdem war ich mir nicht sicher, ob ich ihm vertrauen konnte. Aber ich war mir ziemlich sicher, dass er nicht hier sein wollte. Ich erinnerte mich noch sehr genau daran, wie sie ihn hatten ans Bett fesseln müssen, um ihn in die Stadt zu bringen. Oder wie er in Ketten gelegt im Speiseraum des Aufnahmeinstituts gesessen hatte.

Ich konnte nicht einfach verschwinden und ihn hierlassen.

Ihm alles zu sagen, wäre ein Risiko.

Ihm nichts zu sagen, wäre ein Risiko.

Die Frage war nicht, ob ich ihm vertraute, sondern ob ich damit leben konnte, ihn hier zurück zu lassen.

„Verdammt“, knurrte ich und ärgerte mich ein wenig über mich selber. Manchmal wäre es vielleicht gar nicht so schlecht, ein wenig rücksichtslos zu sein. „Wolf?“

Er blieb sofort stehen.

Ich versicherte mich kurz, dass niemand auf mich achtete, dann eilte ich zu ihm rüber. „Bleib in meiner Nähe“, sagte ich ihm. Ihm jetzt den ganzen Plan zu erklären, wäre viel zu kompliziert. „Vertrau mir.“

Er nickte. Er zögerte nicht einen Moment, er nickte einfach nur. Scheinbar hatte der Mann mehr Vertrauen in andere Menschen, als ich.

Nun gut, damit hätte sich dieser Teil auch erledigt. Jetzt musste ich in diesem Chaos nur noch meine Schwester finden. Ein Kinderspiel.

Ich nickte Wolf noch einmal zu, dann setzte ich mich in Bewegung.

Einen Überblick zu bekommen, war gar nicht so einfach und da Nikita ihr Äußeres so stark an das Aussehen der Städter angepasst hatte, war es auch gar nicht so leicht, sie auswindig zu machen. Aber dann bemerkte ich, dass die älteren Kinder in kleinen Gruppen beieinanderstanden, was es zumindest in dieser Hinsicht ein wenig übersichtlicher machte. Trotzdem brauchte ich noch einen Moment, um sie aufzuspüren. Doch sie stand gar nicht bei den anderen Kindern, sondern etwas abseits in der Nähe von Tor fünf und als ich sie entdeckte, setzte mein Herz einen Schlag aus. Nicht wegen ihrer Aufmachung, in der sie mehr den jäh wie ein Städter aussah, sondern wegen dem Mann mit dem Pferd neben ihr.

Killian.

Er stand neben Geysir und hielt ihn an den Zügeln fest, während Nikita bewundernd über das seidige Fell streichelte.

Bei Gaias Zorn, das war doch wohl ein schlechter Scherz. Ausgerechnet Killian! Was hatte er hier zu suchen? Musste er sich nicht um seine Patienten kümmern? Was sollte ich denn jetzt machen? Killian kannte mich nicht nur, er war leider auch ziemlich aufmerksam. Würde er mich erkennen, wenn ich mich ihnen nährte? Oder war meine Verkleidung gut genug, um auch ihn zu täuschen?

Verdammt, das war eine Komplikation, mit der ich nicht gerechnet hatte. Das war nicht gut.

Ich schaute zu Sawyer, der gerade mit Salia und einem Unbekannten zusammen auf die Koppel ging, wo man ihr ein kleines Lämmchen in den Arm drückte. Dann wieder zu Nikita, die sich sehr angeregt mit Killian unterhielt. Wenn ich da jetzt einfach reinplatzte, würde das sicher für Aufsehen sorgen.

Nun gut, dann würde ich mich eben nur in ihrer Nähe aufhalten und sie mir einfach schnappen, wenn es an der Zeit war. Das war zwar kein guter Plan, aber etwas Besseres fiel mir auf die Schnelle nicht ein.

Wie es auch die anderen Gardisten taten, begann ich damit, herumzulaufen und tat so, als würde ich die Umgebung im Auge behalten wollen. Dabei näherte ich mich immer weiter meiner Schwester, bis ich nur noch wenige Meter von ihr entfernt stand.

Ihre Stimme war mir so vertraut, dass ich sie selbst über die Lautstärke der Anwesenden verstehen konnte.

„… fremd vor. Darum glaube ich, es tut ihr ganz gut, wenn sie hier einen Freund hat.“

Killian lächelte. „Ich würde mich nicht gerade als ihr Freund bezeichnen, aber ich denke, ich bin wohl der einzige hier, dem sie auch nur im Ansatz ein wenig Vertrauen entgegenbringt. Natürlich abgesehen von dir.“

„Das ist ja auch keine große Kunst, schließlich ist sie meine Schwester.“

Oh Gaia, die sprachen da über mich!

„Oh Glaub mir, ich kenne auch Geschwister, die nicht besonders gut miteinander auskommen. Du kannst für Kismet wirklich dankbar sein.“ Er griff nach dem Zaumzeug von Geysir und strich dem Gaul über den großen Kopf. „Sie ist eine tolle Frau.“

„Ja“, stimmte Nikita ihm zu. „Das finden irgendwie alle.“

Verwundert kräuselte sich meine Stirn. Hatte ich da etwa einen unterschwelligen Ton in ihrer Stimme gehört?

Der Schrei eines Kindes zu meiner Rechten, ließ mich den Kopf drehen, doch es waren nur ein paar Kleinwüchsige, die herumrannten und versuchten, sich gegenseitig zu fangen. Eine der Begleiterinnen rief ihnen ein paar Mal zu, dass damit aufhören sollten, doch die Kinder beachteten sie gar nicht.

Es war schon erstaunlich. Sowas würde sich kein Kind in der freien Welt nicht erlauben, wenn es vorhatte, den folgenden Tag lebend zu erreichen. Dort draußen hörte man zu, wenn die Erwachsenen etwas sagten, denn das konnte überlebenswichtig sein.

„Und, hast du dich hier schon eingewöhnt?“, wollte Killian wissen. „Für dich ist das ja auch alles neu.“

„Ja, es ist toll hier.“ Sie strahlte ihn geradezu an. „Besonders interessant finde ich den Unterricht. Ich hatte ja keine Ahnung gehabt, wie vielfältig die Welt früher war und was man alles tun konnte. Hast du gewusst, dass es allein in diesem Land über achzigmillionen Menschen gegeben haben soll? Jetzt gibt es auf der ganzen Welt schätzungsweise nur noch ein paar Millionen.“

„Ja, das war mir bewusst.“

Mir nicht und mir war auch nicht bewusst gewesen, dass Nikita sich für sowas interessierte. Zum Glück würde das heute ein Ende haben, bevor ich meine Schwester gar nicht mehr wiedererkannte.

Ich schaute mich nach Sawyer um, aber da waren gerade so viele Kinder an der Koppel, dass ich kaum noch die Schafe sehen konnte.

Moment, war das da nicht Salia, die da quer über die Wiese rannte?

„Ja klar ist dir das bewusst“, schäkerte Nikita. „Du hast das ja selber alles in der Schule gelernt. Ich finde Schule einfach klasse.“

Das ließ Killian lächeln. „Da bist du aber wohl eines der wenigen Kinder. Ich selber habe immer nur gestöhnt, wenn ich wieder in die Schule musste.“

„Ja, das sehen die anderen auch so. Dabei verstehen die alle nicht, was für ein Glück sie eigentlich haben. Das ganze Wissen hier … sowas findet man da draußen nicht.“

„Nein, aber dafür finden man dort draußen andere Dinge.“

Von dem Ton überrascht, musterte sie Killian. „Willst du mal da raus?“

„Aus der Stadt raus?“ Er lächelte. „Das war ich bereits. Einmal im Jahr findet eine Exklusion in die Alte Welt statt, an der jeder der den Wunsch verspürt, teilnehmen kann. Ich habe mich ihnen bereits vier Mal angeschlossen. Ich finde es spannend zu sehen, was von früher noch übrig ist.“

„Ruinen, Dreck und Einsamkeit.“ Nikita strich Geysir über die Schulter und begann zu lächeln, als er an ihrem Oberarm knabberte. „Hier in der Stadt ist er viel aufregender. Es gibt jeden Tag etwas Neues zu sehen und zu lernen. Hast du gewusst …“

Plötzlich schallte ein durchdringendes Warnsignal über den Platz, dass so ziemlich jedes Gespräch um mich herum für einen kurzen Moment verstummen ließ. Alle begannen sich verwundert umzuschauen und die ganzen Aufpasser, waren mit einem Mal ziemlich aufmerksam.

„Was …“, begann Killian und hob den Blick zu den Toren, über dem rote Signalleuchten wie wild zu flackern begannen. Es gab zwei weitere Warnsignale und die Tore gaben ein mehrfaches Klicken von sich. Die Ordner am Pförtnerhäuschen kamen heraus und riefen sich Befehle zu.

Ein eiserner Ring legte sich um meine Brust. Was war hier plötzlich los? Was bedeutete dieses Signal? Da war bestimmt nicht das Ablenkungsmanöver von Sawyer, oder?

„Das ist der Sicherheitsalarm, sie riegeln die Tore ab“, sagte Killian, als hätte er meine Gedanken gehört und schaute selber verwundert umher.

„Was?“ Nikita runzelte die Stirn.

Nein. Nein, bitte nein! Das konnten sie doch nicht tun – nicht so kurz vor meinem Ziel!

„Was meinst du damit, sie riegeln die Tore ab?“, wollte sie wissen.

„Irgendwas muss passiert sein.“ Er schaute sich um, als würde die Antwort auf seine Fragen sich irgendwo in der Nähe verstecken. „Es muss einen Grund dafür geben.“

Scheiße. So eine beschissene Scheiße mit beschissenem scheiß Käse obendrauf! Ich wusste genau, was passiert war. Agnes saß nicht länger im Schrank und ihre Leute waren jetzt auf der Suche nach mir.

 

oOo

Kapitel 59

 

Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Warum bei Gaias dunkelsten Geheinissen, musste der Alarm ausgerechnet jetzt losgehen? Hatte das etwas mit unserer geplanten Flucht zu tun, oder war das schlicht und ergreifend ein Fall von extrem miesem Timing? Zu meinem Leidwesen glaubte ich nicht an Zufälle.

Sie hatten Agnes gefunden, ich war mir ganz sicher.

Ein lauter Knall im Schafsgehege ließ mich zusammenzucken und herumwirbeln. Eine dunkle Rauchwolke stieg aus der Mitte der kleinen Viehkoppel auf. Die Tiere begannen in Panik laut zu blöken und dann wurde es erst richtig chaotisch, denn das Gatter der Koppel stand weit offen und es gab nichts, was die aufgeschreckten Schafe daran hindern konnte, fluchtartig in alle Richtungen davonzustürmen.

„Was ist hier los?!“, wollte Nikita wissen.

„Ich weiß es nicht.“ Killian hatte Probleme Geysir festzuhalten. Die Schafe waren scheinbar nicht die einzigen, die sich vor dem lauten Knall erschrockenen hatten. Die Augen des Gauls waren weit aufgerissen und das panische Wiehern übertönte sogar das Schreien der verwirrten Kinder. Und dann stieg das Pferd.

Ich sah nur wie die Vorderhufen nach vorne ausschlugen, sprintete das kurze Stück, das mich von Nikita trennten und riss sie aus der unmittelbaren Gefahrenzone.

Killian hatte nicht so viel Glück. Beim Steigen, riss das Pferd seinen Kopf mit einer Kraft herum, sodass Killian hochgerissen wurde. Er verlor den Halt an den Zügeln, wurde zu Boden geschleudert und konnte dann nur noch dabei zuschauen, wie sein Gaul eilig das Weite suchte. Dabei rannte es sogar noch ein Schaf über den Haufen, das laut blökend gegen einen der Erzieher gestoßen wurde. Der Mann fiel haltlos zu Boden.

„Bist du von allen guten Geistern verlassen?!“, schrie ich meine kleine Schwester durch das Visier an. „Wolltest du dich niedertrampeln lassen?!“

Nikita riss die Augen auf. „Kiss?“

Ich antwortete nicht, schaute nur zu Killian, aber auch wenn er noch nicht wieder ganz auf die Beine geschafft hatte, schien ihm nichts weiter passiert zu sein.

Warum kümmerte mich das überhaupt? Ich sollte das Chaos nutzen und mich auf den Weg machen.

Um mich herum wurden unter den Kindern Schreie laut. Alle versuchten den wildgewordenen Schafen auszuweichen und verwandelten die ganze Straße damit in ein unübersichtliches Tollhaus.

Ich schnappte Nikita am Arm, damit sie nicht einfach verloren gehen konnte und schaute mich nach Sawyer um, aber in dem Durcheinander konnte ich weder ihn noch Salia entdecken. Auch Wolf schien verschwunden. Verdammt, wo waren die denn auf einmal alle?

Da waren überall nur Kinder die versuchten, sich eilig in Sicherheit zu bringen, Bauern, Erzieher und Begleitpersonen die sie beruhigen wollten. Selbst die Yards und die Gardisten, hatten komplett den Überblick verloren und suchten verzweifelt nach ihren beiden Schützlingen.

„Was machst du hier?“ Nikita zog an meinem Arm um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. „Warum hast du diese Uniform an?“

Ich ignorierte sie.

Das Blöken um uns herum war ohrenbetäubend und ich musste mehr als einmal ausweichen, um nicht von einem wildgewordenen Schaf umgerannt zu werden.

„Kiss!“

Als Killian hörte, wie Nikita meinen Namen rief, wurden auch seine Augen rund und ich konnte zusehen, wie seine Lippen lautlos einen Namen aussprachen – meinen Namen.

„Kismet!“ Irgendwo zwischen den ganzen Leuten hörte ich Sawyers Ruf. Dann tauchte er aus heiterem Himmel vor mir auf. Salia klammerte sich an seinen Hals. Aber nicht mehr lange. Er drückte mir ohne viel Federlassen seine Tochter in die Arme. „Komm, wir dürfen keine Zeit verlieren!“ Ohne zu zögern, nahm er den Schlagstock von meiner Hüfte an sich, wirbelte herum und rannte Richtung Wachstube.

Ich verlagerte das Gewicht von der verwirrten und auch leicht ängstlichen Salia auf meine Hüfte, schnappte mir Nikitas Hand und folgte ihm durch die Menge.

Nikita stolperte verunsichert hinter mir her, während ich Sawyer über den Parkplatz hinterherrannte, Schafen und Leuten auswich und dabei versuchte, ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

Wir können es schaffen, wir können es schaffen, wir können es wirklich schaffen! Immer wieder sagte ich mir das.

„Was geht hier vor?“, wollte Nikita erneut von mir wissen. „Was machst du?“

„Wir verschwinden jetzt von hier“, war alles, was sie zur Antwort bekam. Ich wich einem kleinen Jungen aus. Als ich wieder nach vorne sah, musste ich zu meinem Entsetzten feststellen, dass Sawyer gerade versuchte, sich aus dem Griff, eines übereifrigen Gardisten zu befreien.

„Wo ist ihre Tochter?“, verlangte er zu wissen.

„Nimm deine Scheißflossen von mir!“ Sawyer versuchte ihn zu schlagen, woraufhin der Gardist seinen Griff veränderte und Sawyer herumwirbelte, bis er ihm dem Arm auf den Rücken gedreht hatte. „Scheiße!“

Mist, Mist, Mist. „Pass auf sie auf“, forderte ich Nikita auf und stellte Salia auf den Boden. Dann sprintete ich zu Sawyer und sprang dem Gardisten ungebremst auf den Rücken. Doch irgendwie schaffte der Kerl es nicht nur auf den Beinen zu bleiben, er versetzte mir mit dem Ellenbogen auch noch einen gezielten Stoß in die Rippen.

Ob es nun Zufall war, oder nicht, er traf so gut, dass der Schmerz in meiner Seite explodierte. Ich verlor den Halt und klatschte auf den Boden.

Der Gardist wirbelte herum, zog dabei seine Waffe und richtete sie auf mich. „Was ist los mit dir?!“, fauchte er mich an. Dabei hielt er Sawyers Arm noch immer fest auf den Rücken gedreht.

In dem Moment stürmte von der Seite ein Riese heran, schlug dem Kerl die Waffe aus der Hand und versetzte ihm gleichzeitig einen Kinnhacken, der ihn benommen zu Boden gehen ließ.

Sawyer nutzte seine neu erworbene Freiheit dazu, herumzuwirbeln, und dem am Bodenliegenden einen kräftigen Tritt gegen den Kopf zu geben.

Dieses Mal wurde der Mann bewusstlos.

„Verdammtes Arschloch!“, wütete Sawyer, wischte sich übers Gesicht und schaute sich nach mir um. „Wo ist Salia?“

„Bei Nikita.“ Ich ließ mich von Wolf auf die Beine ziehen. „Danke.“

Sawyer musterte den Riesen.

„Er kommt mit“, sagte ich bestimmt.

Sawyer warf mir einen kurzen Seitenblick zu, murmelte dann etwas davon, dass er uns nicht im Weg stehen sollte und drehte sich zu seiner Tochter um, die noch immer neben Nikita stand.

Ich ging sofort zu den Kindern. Da mir aber von dem Schlag in die Rippen die Seite weh tat, drückte ich Wolf die Kleine in den Arm und nahm Nikita wieder an die Hand.

Sawyer wartete nicht länger und eilte zum zur Tür des Wachhauses. „Der Chip!“, rief er mir zu.

Noch zehn Fuß, fünf. „Ich habe ihn in meinem Handschuh.“ Umständlich versuchte ich ihn herauszuziehen, da wurde die Tür von innen geöffnet und zwei Yards kamen heraus. Wir mussten hastig zur Seite treten, um nicht von ihnen über den Haufen gerannt zu werden. Dabei stieß Sawyer auch fast noch gegen einen der geparkten Autos.

Von den beiden Uniformierten hatte nur einer einen kurzen Blick für uns übrig, dann waren sie beide auch schon in dem herrschenden Chaos verschwunden. Wahrscheinlich waren es die Uniformen von Wolf und mir, die sie dazu veranlassten, sich nicht weiter um uns zu kümmern.

Genau, immer schön weitergehen, hier gab es nichts zu sehen.

Sawyer trat geistesgegenwärtig in die Tür, damit sie sich nicht wieder schloss. „Dann los.“ Und schon war er im Inneren verschwunden.

„Bleib bei mir“, befahl ich Nikita. In dem Moment hörte ich von drinnen einen lauten Knall. Hastig schob ich mich selber in die kleine Stube.

In der Mitte des Raumes stand eine halbrunde Konsole, an der ein älterer Yard mit weit aufgerissenen Augen auf einem Drehstuhl saß. Direkt hinter ihm lag ein weiterer Mann zusammen mit seinem Stuhl stöhnend und mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden und hielt sich seinen Hinterkopf. Blut sickerte zwischen seinen Fingern hervor. Er musste einen mit dem Schlagstock über die Rübe bekommen haben.

Sawyer stand neben dem am Boden liegenden, den Schlagstock drohend erhoben, bereit ein weiteres Mal zuzuschlagen. „Wie öffne ich die Tore?!“

Über der Konsole an der Wand, hingen mehrere Bildschirme, die den Tumult vor dem Tor zeigten, genauso wie die gähnende Leere, auf der anderen Seite. Und diese gähnende Leere war unser Ziel. Wir waren dem Ziel so nahe …

Der Mann auf dem Stuhl hatte Schweißperlen auf der Stirn. „Die Tore lassen sich nicht öffnen, der Alarm wurde ausgelöst und deswegen …“

„Das habe ich nicht gefragt“, erwiderte Sawyer gereizt.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wieder andere Mann sich bewegte. „Vorsicht!“, rief ich eine Warnung.

Sawyer wirbelte herum, genau in dem Moment, in der Wolf entschlossen seine Waffe zog und auf den Kopf des blutenden Mannes richtete

„Glaubst du, das hier ist ein blöder Witz? Soll ich dir noch mal eine überbraten?“

Der Mann schluckte sichtlich, die Augen auf den Lauf der Waffe gerichtet.

Ich ließ Nikitas Hand los und schaute kurz zu Wolf. „Pass auf sie auf“, ordnete ich an, nahm die Handschellen von meiner Hüfte und machte mich daran, den Mann auf dem Boden zu fesseln, bevor er noch etwas unsagbar Dummes tun konnte. Dabei streifte ich meinen Helm und die Sturmmaske ab und warf sie achtlos auf den Boden. Sie behinderten mein Sichtfeld. Das mochte ich nicht.

Sobald ich dem Mann die Arme auf den Rücken gezerrt hatte und mit den Handschellen gesichert hatte, richtete Wolf seine Waffe auch schon auf den Mann am Pult.

„Erklär mir wie man die Tore öffnet“, forderte Sawyer erneut. „Und keine Spielchen, denn ich habe es sowas von satt, den Lustknaben zu spielen und mich den Launen dieser notgeilen Schlampen zu unterwerfen.“

Seit ich Sawyer kannte, hatte ich ihn noch niemals so ernst erlebt. Es hatte beinahe etwas Beängstigendes an sich.

„Man … man muss …“ Der alte Kerl schluckte, fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen und versuchte es noch einmal. „Das Tastenfeld, man muss einen Code eingeben und dann den Keychip über den Scanner ziehen. Dann muss man die rote Taste drücken und die Tore gehen auf.“

„Gib den Code ein.“

Die Waffe klickte und der Mann spannte sich sichtlich an.

„Und keine Dummheiten, verstanden?“

Er nickte eifrig. „Natürlich nicht“, fügte er noch hastig hinzu und griff dann nach einem Nummernfeld links neben sich. Seine Finger flogen über die Tasten. Dann gab es einen leisen Piepton. „Es wird nichts nützen, die Stadt ist abgeriegelt. Mein Keychip kann die Tore nicht öffnen.“

Seiner nicht, aber der den ich bei mir trug, schon. Deswegen war ich auch sofort an Sawyers Seite und zog den Chip in der durchsichtigen Plastiktüte aus meinem Handschuh heraus. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und das Blut rauschte in meinen Adern, als ich den Chip mit zitternden Fingern samt Tütchen über den rot leuchtenden Scanner zog.

Bitte, bitte.

Es piepte und dann wurde der Scanner grün.

Der alte Yard riss schockiert die Augen auf. „Wie …“

„Der Knopf“, rief Sawyer aufgeregt.

Ich drückte den Knopf. Kein Zögern, kein Zaudern. Wir hatten keine Zeit für Verzögerungen.

Ein lauter Warnton schallte aus den Lautsprechern neben den Monitoren. Ich schaute auf die Bildschirme und konnte dadurch mitverfolgen, wie die Tore sich langsam öffneten.

„Sie sind offen“, hauchte ich. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir gar nicht klar gewesen, wie sehr ich am Erfolg unseres Planes gezweifelt hatte. Und jetzt badete ich geradezu in Hoffnung und Erleichterung. Die Tore waren offen, die Freiheit rief nach uns und nichts konnte uns noch aufhalten.

„Los!“, rief Sawyer und schlug dem Mann mit dem Schlagstock gegen die Schläfe. Der gab noch ein Stöhnen von sich und sackte dann einfach bewusstlos in seinem Stuhl zusammen. Das nannte man dann wohl einen Volltreffer.

Ich ließ den Chip in meiner Tasche verschwinden und wirbelte herum, nur um sofort wieder zu erstarren. In der offenen Tür zum Wachraum, stand Killian. Seine Augen waren weit aufgerissen und der Mund leicht geöffnet. Er konnte nicht fassen, was sich vor ihm abspielte.

Langsam und sehr auffallend nahm ich den Schlagstock von Wolfs Gürtel und schlug ihn einmal drohend auf meine Handfläche. Die Nachricht dahinter war deutlicher, als jedes Wort es hätte sein können. „Du solltest gehen, Killian.“ Denn auch von ihm würde ich mich nicht aufhalten lassen. Niemals.

Unsicher schaute er von mir zu Sawyer und dann weiter zu Wolf, der allein durch seine enorme Größe Eindruck machte.

„Ich will dir nicht wehtun, aber ich werde es tun, wenn du mir nicht aus dem Weg gehst“, warnte ich ihn während ich mich langsam auf ihn zubewegte. Der Schlagstock in meiner Hand war ein ungewohntes Gefühl, aber ich würde ihn zu nutzen wissen.

Killians Blick huschte kurz zu meiner Waffe. „Kismet …“

„Letzte Chance.“ Ich legte so viel Nachdruck in diese zwei Worte, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb als zu verstehen, wie ernst es mir war.

Er zögerte. Schaute zu Nikita und Salia und wieder zurück zu mir. Seine Lippen pressten sich zu einem dünnen Strich zusammen, doch dann trat er endlich aus der Tür hinaus.

„Gute Entscheidung“, murmelte Sawyer, steckte den Schlagstock in seinen Hosenbund und eilte an mir vorbei. Hastig nahm er Salia entgegen, warf Killian im Vorbeigehen einen finsteren Blick zu und schlüpfte nach draußen. Wolf war gleich hinter ihm.

Ich schnappte mir Nikitas Hand und folgte seinem Beispiel. Dabei vermied ich es, Killian auch nur einen kurzen Moment anzuschauen. Bei dem Gedanken, ihn hier zurück zu lassen, machte sich ein dumpfer Schmerz hinter meinem Herzen breit. Er war ein Städter, ja, aber ich würde ihn trotzdem vermissen.

Das war wohl das erste Mal, dass ich zugeben konnte, Killian zu mögen.

Draußen herrschte noch immer das pure Chaos. Das speerangelweit geöffnete Tor hatte die Verwirrung der Leute nur noch gesteigert und das Durcheinander komplett gemacht. Niemand schien genau zu wissen, was zu tun war.

„Kismet!“, jaulte Nikita, die hinter mir her stolperte.

Sawyer war direkt vor mir und kämpfte sich zum Tor durch.

„Kismet, nun warte doch mal!“

„Ich werde sicher nicht warten.“

„Aber nun hör doch. Vor uns liegt noch eine ganze Ebene, wir werden nicht schnell genug sein um ihnen zu entkommen!“

„Doch, das werden wir.“ Wir mussten nur daran glauben. Die Freiheit war so nahe, ich würde sie mir nicht wieder nehmen lassen.

„Nein, das werden sie nicht. Sie haben Autos und hier gibt es absolut keine Deckung.“

Sawyer, der gerade das Tor erreicht hatte, blieb abrupt stehen und wirbelte zu uns herum. Er hatte gehört, was Nikita gesagt hatte. „Sie hat Recht.“

„Nein hat sie nicht!“, widersprach ich sofort und wollte an ihm vorbei, doch er packte mich am Arm und hielt mich fest. Damit brachte er mich sehr wirksam zum Stehen – naja gut, fast sogar zum Fallen, weil ich zu viel Schwung hatte. Er hatte eine unglaubliche Kraft. Damit hätte ich im Leben nicht gerechnet.

„Doch hat sie. Sobald die hier auch nur ein bisschen Ordnung reinbekommen haben und verstehen, was geschehen ist, wird man uns verfolgen“, hielt er dagegen und kaute auf seiner Unterlippe herum.

Das mochte vielleicht stimmen, aber: „Wenn wir hier herumstehen hilft uns das auch nicht, also lass mich endlich los!“

„Nein.“ Hecktisch schaute er sich um. Sein Blick fiel auf den Parkplatz. „In Ordnung, komm mit, ich habe eine bessere Idee.“ Er hatte noch nicht mal zu Ende gesprochen, da setzte er sich auch schon wieder in Bewegung. Leider nicht dorthin, wohin ich wollte.

„Was machst du? Wir müssen in die andere Richtung!“

„Nein, müssen wir nicht.“ Er rannte am Kontrollraum vorbei zum anliegenden Parkplatz. „Ich habe so viele Stunden im Simulator gesessen, um den Highscore zu halten und das zahlt sich jetzt hoffentlich aus.“

Irgendwo hinter uns knallte es. Kinder schrien auf und gingen in Deckung. Ein Mann versteckte sich hinter einem Baum. Ich kümmerte mich nicht weiter darum. Vermutlich versuchten sie so die wildgewordenen Schafe unter Kontrolle zu bringen.

„Highscore? Moment, redest du von Fight Car Raicing?“

„Wovon sonst? Es ist ein Simulator. Er müsste genauso funktionieren, wie echte Autos.“

Ich erinnerte mich nur zu gut an die Autos in dieser Simulation. Und auch an die Unfälle, die dort immer unter lautem Jubel stattgefunden hatten. „Oh Gaia, das kann doch nicht dein Ernst sein!“

„Hast du eine bessere Idee?“

Nein, die hatte ich nicht. Blieb nur zu hoffen, dass er ein echtes Auto besser fahren konnte, als das in der Simulation.

Noch ein Knall. Ich war versucht mich umzudrehen und herauszufinden, was da los war, aber ich war viel zu sehr damit beschäftigt nicht hinzufallen, oder Nikita nicht zu verlieren.

Gerade als Sawyer die Limousine erreichte, mit der wir gekommen waren, stolperte Nikita über ihre Füße und riss mich fast mit sich zu Boden.

„Gib mir Agnes‘ Keychip!“, forderte er.

Als ich das Verlange aus der Tasche zog und Sawyer reichte, bekam Nikita große Augen. „Agnes‘ Keychip?!“ Ihre Stimme überschlug sich fast, aber keiner beachtete sie.

Sawyer zog ihn über den Scanner. Die Türen entriegelten sich. „Rein mit euch.“

Seine Worte gingen in zwei weiteren Schüssen unter. Einer davon ließ unweit von uns den Erdboden aufspritzen. Und dann fing Salia plötzlich an zu schreien.

Erschrocken wirbelte ich herum und musste dabei zuschauen, wie der gelbe Ärmel der kleinen sich langsam rot färbte. Es stand im krassen Gegensatz zu dem plötzlich kalkweißen Gesicht von Sawyer. Salia war verletzt, jemand hatte auf sie geschossen und zum ersten Mal fragte ich mich, ob die Schüsse nicht schon die ganze Zeit uns gegolten hatten.

Wolf streckte den Finger aus und zeigte auf den Gardisten, den Sawyer vorhin einen Tritt gegen den Kopf versetzt hatte. Er war wieder aufgewacht und versuchte offensichtlich uns aufzuhalten.

„Steig ein!“, schrie ich Nikita an und schubste sie zum Beifahrersitz.

Wieder stolperte sie. „Aber …“

„Steig in den verdammten Wagen!“, fauchte ich und eilte die zwei Schritte zu Sawyer. „Gib sie mir und bring uns hier raus!“

Als noch ein Schuss ertönte, setzte Wolf sich in Bewegung, direkt auf den Gardisten zu.

Über Salias Wagen rollten dicke Tränen. Ihr Schluchzen schüttelte ihren ganzen Körper durch. Der Blutfleck war größer geworden. Sogar Wölkchen, die sie krampfhaft an ihre magere Brust drückte, war nicht mehr ganz weiß.

„Sawyer!“ Bitte raste jetzt nicht aus, bitte.

Nur sehr langsam glitt sein Blick zu mir.

„Wir müssen hier weg. Jetzt!“

Er brauchte ein paar wertvolle Sekunden, um meine Worte zu verarbeiten, doch dann wich sein Schock endlich grimmiger Entschlossenheit. Er drückte mir seine Tochter mit ein paar beruhigenden Worten in die Arme und wandte sich ab. Doch gegen meine Vermutung, dass er sich hinter das Lenkrad klemmte, rannte er zurück zum Wachraum.

Was …

Nein, nicht zum Kontrollraum, sondern zu Killian, der am Rande des Parkplatzes stand und uns angespannt beobachtete.

Sawyer packte ihn ohne zu zögern sehr grob beim Kragen. Ich verstand nicht was gesagt wurde, aber Sawyers ganze Körperhaltung war eine einzige Drohung. Dann stieß er Killian von sich, genau in meine Richtung.

Da Killian sich aber nicht bewegte, sondern nur den Kopf schüttelte und ergeben die Hände gehoben hatte, versetzte Sawyer ihm einen Faustschlag mitten ins Gesicht, der meinen Arzt sichtlich ins Taumeln brachte. Dann packte er ihn an der Jacke, zerrte ihn hinter sich her zum Wagen und gab ihn einen weiteren Stoß in meine Richtung, der ihn fast vor meine Füße zu Boden gehen ließ.

„Steigt ein, alle.“ Er zog den Schlagstock aus seinem Gürtel und erhob ihn drohend. „Und keine Dummheiten, verstanden? Kümmere dich um Salias Arm.“

Verdammter Mist … er wollte Killian mitnehmen?!

Killian starrte ihn an. Er wirkte nicht verängstigt, nur angespannt und ein wenig unsicher.

„Sofort!“, bellte Sawyer.

Ich wartete nicht mehr länger, riss die Hintertür auf und rutschte mit der weinenden Salia auf dem Arm auf den Sitz.

Mit einem letzten Stoß schubste Sawyer auch Killian in den Wagen, schlug die Tür zu, ohne darauf zu achten, ob mein Arzt bereits alle Gliedmaßen im Wagen hatte und eilte dann zum Fahrersitz.

Nikita hatte sich zu mir nach hinten gewannt, ihre Augen waren riesig.

Killian setzte sich mir gegenüber auf die Bank. Seine Wange war von dem Schlag stark gerötet.

Sawyer ließ sich in den Fahrersitz fallen, schlug die Tür zu und benutzte Agnes‘ Chip, um den Wagen zu starten.

„Das ist doch verrückt“, ließ Killian verlauten.

„Halt die Klappe und kümmere dich um Salia!“, schnappte Sawyer und versuchte den Wagen in Bewegung zu setzten. Er machte einen Satz nach vorne und krachte beinahe in den Wagen vor uns. Vielleicht hätten wir doch besser versucht, zu Fuß zu fliehen. „Du bist doch Arzt, oder? Also tu was du am besten kannst!“

Ach deswegen hatte er Killian geholt. Das ergab natürlich Sinn, auch wenn ich noch nicht wusste, was ich davon halten sollte.

„Wir können Wolf nicht zurücklassen“, sagte ich. „Er ist losgerannt, um sich um den Schützen zu kümmern.“

Sawyer knurrte etwas Unverständliches.

Der Wagen bewegte sich erneut, dieses Mal rückwärts und dann scherte Sawyer so heftig nach rechts aus, dass Killian fast auf mich fiel. Ich hielt mich an der Seite fest und versuchte dabei auch noch die weinende Salia schützend an mich zu drücken.

„Das klappt nie“, kam es von Nikita mit einem leicht panischen Unterton in der Stimme. „Wir werden alle drauf gehen!“

„Die positive Einstellung scheint in eurer Familie weit verbreitet“, kommentierte Sawyer spöttisch und trat dann so plötzlich auf die Bremse, dass ich dieses Mal fast auf Killian fiel.

Die Seitentür wurde aufgerissen. Wolf stieg eilig ein und noch bevor er sich neben Killian gesetzt hatte, drückte Sawyer bereits wieder das Gaspedal durch. Dann beschleunigten der Wagen und ich wurde in den Sitz gedrückt.

Killian versuchte noch sich richtig hinzusetzen und seine langen Beine unter zu bringen.

„Kein tolles Gefühl, einfach so geschnappt und weggebracht zu werden, oder?“, fragte ich ihn, mehr um etwas zu sagen, als ihn wirklich anzugreifen.

Er öffnete den Mund, doch genau in dem Moment schrie Nikita: „Vorsicht!“

Etwas donnerte gegen den Wagen und wurde weggeschleudert. Den Aufprall spürte ich bis in die Knochen. War das ein Schaf gewesen? Bei Gaias Güte, zum Glück war Salia gerade so sehr mit sich selber beschäftigt, dass sie das unmöglich hatte mitbekommen können.

Dann gab Sawyer richtig Gas und wir rasten ungebremst durch das Tor.

In dem Moment, als wir den fünften Mauerring hinter uns ließen, überschwemmte mich ein Gefühl wie ich es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Die Enge in meiner Brust lockerte sich und mein Herz schien freier schlagen zu können. Schade nur dass wir es noch nicht ganz hinter uns hatten, denn noch lag die unfertige Mauer vor uns. Wir hatten Eden noch nicht ganz verlassen.

„Das ist doch Wahnsinn“, sagte Nikita zu keinem Bestimmten.

„Ich fürchte, ich muss ihr zustimmen.“ Killian beugte sich nach vorne und griff nach Salias Arm. Sie zuckte sofort vor ihm zurück und ein neuer Sturzbach an Tränen, brach aus ihren Augen hervor. „Ganz ruhig. Ich bin Arzt und ich möchte mir deinen Arm ansehen. Ich werde ganz vorsichtig sein, in Ordnung?“

Sawyer bedachte unsere Geisel einen Moment wachsam durch den Rückspiegel, drückte die Lippen grimmig zusammen und ließ den Wagen noch schneller fahren.

Salia schluchzte und hickste, nickte aber zögerlich.

„Okay. Halt dich an Kismet fest, dann tut es nicht so weh.“

Der Arm den sie um meinen Hals geschlungen hatte, drückte ein wenig fester zu.

„So ist es gut.“ Erneut griff Killian nach ihr und versuchte vorsichtig ihren Ärmel hochzuschieben. Ihre Lippe begann zu beben und er hörte sofort wieder auf. „So wird das nichts.“ Er wechselte auf meine Sitzbank, beugte sich über den Rücksitz und begann den Inhalt des Kofferraums auseinander zu nehmen.

„Wir haben es gleich geschafft“, murmelte Sawyer, als wolle er sich selber Mut zureden. „Gleich sind wir aus der Stadt raus.“

Die kahle Landschaft flog an uns vorbei. Die unfertige Mauer mit den Baugerüsten und schweren Maschinen kam immer näher. Ich konnte schon die ersten Leute erkenne, die sich dort bewegten.

„Wo wollen wir eigentlich hin?“, fragte Nikita unruhig und rutschte nervös auf ihrem Sitz herum. Dabei spielte sie wieder an dieser blöden Uhr herum. „Die werden uns doch finden.“

„Du bist ein echter Sonnenschein“, teilte Sawyer ihr mit. Wir hatten die Mauer beinahe erreicht.

„Aber ich meine …“

„Erstmal nur weg“, unterbrach ich sie. Und dann nach Hause. Diese Worte erfüllten mich mit so viel Sehnsucht, dass meine Brust davon schmerzte. Nach Hause, das war alles was ich wollte.

Killian ließ sich neben mich in den Sitz fallen und brachte einen großen grünen Plastikkasten mit auf den Rücksitz. Er klappte ihn auf und begann darin zu wühlen. Verbandszeug, wurde mir klar.

„Erstmal nur weg ist kein Plan“, bemerkte meine kleine Schwarzmalerin. „Das hier ist so ein Irrsinn. Wir müssen uns überlegen, was genau wir tun wollen.“

Meine Stirn runzelte sich. War sie wirklich so verängstigt, dass sie alles nur negativ sehen konnte? So kannte ich sie ja gar nicht.

„So, dann wollen wir mal.“ Killian hatte eine gebogene Schere aus dem Kasten genommen und nährte sich damit Salia. Als sie wieder zuckte, hielt ich ihren Arm mit der freien Hand fest.

„Denk an was Schönes“, riet ich ihr, um sie abzulenken. „Denk an Wolken. Große Wolken und kleine Wolken.“

„Schäfchenwolken?“

„Ja, auch an Schäfchenwolken.“

Mit der Schere schnitt Killian ihr den Ärmel bis zur Schulter auf. Der Stoff klappte einfach zur Seite. Darunter kam eine längliche Fleischwunde zum Vorschein.

„Ein Streifschuss. Das ist gar nicht so schlimm“, versicherte Killian ihr freundlich. „Das haben wir gleich.“

Die Mauer vor uns wurde immer größer. Wir hatten sie fast erreicht. Vielleicht noch fünfzig Meter. Dreißig.

Ja, wir würden es schaffen, wir würden entkommen.

Zehn.

Niemand konnte uns jetzt noch aufhalten. Niemand.

Gleiche Höhe.

Ein paar der Arbeiter schauten verwirrt zu uns rüber, als wir so schnell an ihnen vorbeirasten. Und dann hatten wir dir Stadtgrenze hinter uns gelassen und nichts als jede Menge Chaos und einer Staubwolke, war von uns zurückgeblieben.

 

oOo

Kapitel 60

 

Die Anspannung, die ich in jeder Faser meines Körpers gespürt hatte, ließ schlagartig nach. „Wir haben es geschafft“, flüsterte ich, während der Wagen nun durch die offene Landschaft bretterte und Eden im Rückspiegel immer kleiner wurde. Links und rechts zogen die Felder mit den Windrädern vorbei und schon bald hatten wir auch die hinter uns gelassen. „Wir haben es wirklich geschafft!“ Ich stieß einen Jubelschrei aus, in den sich all meine Emotionen entluden. Es war wie ein Befreiungsschlag, der vor Freude und Glück strahlte. Noch nie in meinem Leben hatte sich etwas so gut angefühlt, wie dieser Moment.

Selbst Sawyer lächelte einmal, ohne jeglichen Spott und ließ dabei sogar seine Zähne aufblitzen. „Scheint als wären wir ein ganz gutes Team.“

Es kam einfach über mich. Ich erhob mich halb und schlang meinen freien Arm um den Vordersitz und damit auch um Sawyer. In diesem Moment musste ich in einfach drücken. Dabei vergaß ich für einen Moment sogar Salia auf meinem Schoß, die sich eilig an mir festklammerte. „Bei Gaias Güte, wir sind Eden entkommen!“

Sawyer drückte kurz meine Hand, legte seine dann aber sehr schnell wieder ans Steuer. Er traute wohl seinen eigenen Fahrkünsten nicht.

Wolf brummte Zustimmend. Er nahm seinen Helm und die Sturmmaske ab, schüttelte einmal den Kopf, als wollte er das Gefühl loswerden und lächelte breit. Seine Augen blitzen vor Freude. Ich hatte das Gefühl, wenn es im Wagen nicht so eng wäre, hätte er glatt ein Tänzchen aufgeführt.

Ich ließ mich wieder auf meinen Platz sinken. In den nächsten Minuten tat ich nichts anderes, als die Landschaft, die in rasantem Tempo an uns vorbeizog, wie ein Schwamm in mich aufzusaugen. All das hatte ich bereits gesehen. Die Ruinen waren mein Leben und doch erschienen sie mir heute so strahlend wie noch nie. Die Farben, die Natur, die endlose Freiheit. Unsere gelungene Flucht versetzte mich in eine solche Euphorie, dass ich sogar ein Lachen ausstieß.

Einen ganzen Monat hatte ich hinter den Mauern von Eden verbracht, hatte mich ihrem Willen beugen müssen und mich mehr als einmal, fast in der Aussichtslosigkeit der Situation, verloren. Doch irgendwie hatte ich es geschafft mich trotz allem nicht brechen zu lassen und nun war ich endlich wieder frei. Nichts stand meinem Weg nach Hause noch im Wege. Keine Mauern mehr, keine Zwänge und Gesetze. Ich war frei und endlich würde ich Marshall und die anderen wieder in die Arme schließen können. Endlich würde …

Sawyer trat plötzlich so abrupt auf die Bremse, dass wir alle nach vorne geschleudert wurden und mit dem Wagen näher Bekanntschaft machten, als mir lieb war. Der Inhalt der Plastikkästen verteilte sich im Fußraum und Salia wurde zwischen mir und dem Vordersitz nur nicht zerdrückt, weil ich so schnelle Reflexe an den Tag legte.

„Was für eine verdammte Scheiße wird das?!“, knurrte Sawyer und klang dabei wirklich wütend.

In Erwartung eines Angriffs oder eines Hinterhalts der Städter, die uns zurück nach Eden bringen wollten, schaute ich mich hastig um. Aber da war nichts außer der wildwuchernden Natur, den steil aufragenden Windrädern und ein paar kleinen Ruinen in der Ferne. „Was? Was ist los?“

Wie ich gleich darauf erfahren musste, lag der Grund für unseren abrupten Halt auch gar nicht außerhalb dieses Wagens, er befand sich innerhalb. Sawyer wirbelte nämlich zu Nikita herum, griff nach ihrem Arm und riss sie beinahe auf seinen Schoß. Dabei schaute er sie an, als wollte er ihr den Hals umdrehen.

„Hey!“, schrie sie und versuchte sich von ihm los zu machen. „Pfoten weg!“

„Was ist das?!“, fauchte er sie an und hielt ihr ihre Uhr samt Arm vor die Nase.

Mein Beschützerinstinkt meldete sich sofort zu Wort. Es war egal, dass Sawyer mir gerade zur Flucht verholfen hatte, ja sogar einen großen Anteil daran gehabt hatte, niemand rührte meine Schwester an.

Doch dann warf Nikita mir so einen seltsamen Blick zu. Eine Mischung aus Angst und einer ordentlichen Portion Trotz. Das ließ mich zögern.

Sawyer begann an dem Verschluss ihrer Uhr herumzufummeln.

Meine Schwester versuchte ihm den Arm wegzuziehen, doch wie ich selber bereits festgestellt hatte, besaß dieser Mann mehr Kraft als man ihm zutraute. „Lass mich los. Finger weg von der Uhr, das ist meine. Kiss!“

Nikita hatte Recht. Egal was plötzlich in Sawyer gefahren war, nichts gab ihm das Recht meine Schwester so grob anzufassen. „Lass sie los, Sawyer.“

„Das kannst du vergessen.“ Er fummelte weiter, bis sich die Uhr von ihrem Handgelenk löste. Dann ließ er Nikita einfach los, sodass sie gegen die Beifahrertür knallte. Es interessierte ihn nicht. Er drehte einfach die Uhr in seiner Hand, starrte auf die Rückseite und drückte seine Lippen zu einer grimmigen Linie zusammen.

Ich schob Salia auf Killians Schoß und machte mich bereit, mich auf Sawyer zu stürzen. Im Wagen war es zwar eng, aber das würde mich nicht aufhalten können. Niemand fasste Nikita so grob an und kam ungeschoren davon.

Sawyer jedoch hatte seine ganze Aufmerksamkeit auf Nikita gerichtet. „Was hast du getan?“

Sie biss sich auf die Unterlippe, wich seinem Blick aus und landete stattdessen bei mir.

Diese Situation wurde immer seltsamer. „Was bei Gaias Zorn ist hier los?“, wünschte ich zu erfahren.

„Ein Sender“, kam es dann ganz unerwartet von Killian. „Das ist eine Survival-Uhr, die normalerweise nur von den Trackern verwendet wird. Sie enthält einen Peilsender, denn man manuell aktivieren kann, sollte man sich einmal ein der Alten Welt verirren. So können die anderen Tracker einen finden.“

Als mir die Bedeutung seiner Worte klar wurde, gerieten meine Gedanken ins Stocken. Was er da sagte … ich wollte es nicht verstehen. Nein. Nein, das konnte nicht wahr sein.

„Und der Sender ist aktiv“, fügte Sawyer noch hinzu. „Deine kleine Schwester hat dafür gesorgt, dass die Tracker uns aufspüren können, indem sie den verdammten Sender aktiviert hat!“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte ich. „Sowas würde sie nicht machen.“

„Sie würde nicht nur, sie hat es getan!“ Sawyer war so wütend. Er riss seine Tür auf und warf die Uhr so weit wie möglich von sich.

„Nein!“, schrie Nikita, verstummte aber sofort wieder, als sie meinem fassungslosen Blick begegnete.

Ich konnte nicht glauben was ich da hörte. Verstört fixierte ich sie und bat sie ohne Worte darum dieses Missverständnis aufzuklären, aber das tat sie nicht und mir wurde bewusst, dass es stimmen musste, was Sawyer da sagte. Ich wollte es nicht wahrhaben, aber so musste es sein. Warum sonst sollte sie sich nicht verteidigen, oder erklären? Und dann noch dieser schuldbewusste Blick. Nicht als würde sie etwas bereuen, sondern als hätte sie nicht geglaubt ertappt zu werden.

Plötzlich kamen mir all die kleinen und großen Veränderungen, die Nikita in den letzten Wochen durchgemacht hatte, wieder in den Sinn. Wie begeistert sie von Anfang an von der Stadt gewesen war und den Anwohnern vom ersten Augenblick enthusiastisch nacheiferte. Sie hatte ihre Kleidung und teilweise sogar ihre Sprache übernommen und alles getan, um optisch eine von ihnen zu werden.

Und dann war da noch unser letzter Fluchtversuch, bei dem sie diese Uhr auch schon bei sich getragen hatte. Ich hatte geglaubt, die Yards konnten uns durch die Keychips orten, aber was, wenn ich damit die ganze Zeit falsch gelegen hatte? „Warum“, fragte ich sie verletzt, weil ich einfach nicht verstehen konnte, was sie dazu getrieben hatte. „Warum hast du das getan?“

Sie biss sich auf die Lippe, aber dann platzte es einfach aus ihr heraus. „Weil ich es satthabe!“, spie sie mir entgegen. „Ich hatte es satt, wie ein dummes Tier im Dreck zu leben, ständig am Rande des Verhungerns. Ich hatte es einfach satt diese hässliche, kratzige Kleidung zu tragen und mir immer und immer wieder deine dummen Geschichten anhören zu müssen. Ich hatte es satt wie ein widerliches Insekt auf dem Boden zu hocken und mir mit Blättern den Hintern abzuwischen. Überall ist dieser Dreck und Balic ist einfach nur eklig! Ich hatte es satt in kaltem Wasser zu baden und Tiere auszunehmen. Ich hasse Blut! Ich hasse diese ganze staubige Landschaft, die kalten Winter und kargen Mahlzeiten! Ich hasse einfach alles an diesem Leben hier draußen. Deswegen bin ich auch zu den Trackern gegangen, als sich mir die Möglichkeit bot!“

Meinem Gesicht entglitt jeder Muskel. Alles was sie gesagt hatte – jedes weitere Wort – traf mich auf eine Art, die sie sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen konnte, doch es war ihr letzter Satz der die Gefühlslosigkeit in mir aufstiegen ließ. „Was hast du getan?“ Ich sprach sehr leise, doch der drohende Unterton in meiner Stimme war nicht zu überhören.

Nikita verschränkte trotzig ihre Arme vor der Brust. „Ich habe getan was nötig war, um uns beiden ein besseres Leben zu ermöglichen. Und wenn du nur nicht immer so stur und eigensinnig wärst, hättest du auch alle Vorzüge dieser Gesellschaft auskosten können. Ich meine, verdammt Kiss, du bist eine Eva! Du bist eine Heilige für diese Menschen, ihr Messias und sie würden wirklich alles für dich tun. Das Einzige was sie dafür als Gegenleistung wollten, sind ein paar Babys! Das war doch wirklich nicht zu viel verlangt!“

Ich konnte kaum glauben was sie da von sich gab. Um mein Herz schlang sich ein eisernes Band. Es zog sich immer fester um mich zusammen und drohte mir die Luft zum Atmen zu nehmen. „Was genau bedeutet, du hast alles getan, was nötig ist?“

Dieses Mal zögerte sie einen Moment, bevor die nächsten Worte wieder aus ihr herausplatzten. Es war als wollte sie endlich alles loswerden, um sich Erleichterung zu verschaffen. „Als die Tracker zu uns in die Stadt kamen, bin ich zu ihnen gegangen.“ Sie versuchte trotzig zu wirken, aber ich hörte die Unsicherheit in ihrer Stimme. „Ich wollte mit ihnen gehen, aber ich wusste genau, du würdest dich mir niemals anschließen, also habe ich dich mit meiner angeblichen Gefangennahme zu ihnen gelockt. Ich wusste, du würdest es sein, die mich aus dem Wagen holen will, das wusste ich einfach. Sie lagen die ganze Zeit auf der Lauer und haben nur darauf gewartet, dass ich ihnen ein Zeichen gab.“

Ihre Worte trafen mich wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Ich erinnerte mich daran, wie plötzlich Dascha hinter mir aufgetaucht war. Sie war praktisch aus dem Nichts hinter mir erschienen. Ich hatte sie nicht kommen sehen können, aber Nikita hatte es. Sie war im Bus gewesen, sie hatte durch das Fenster zugeschaut, wie ich mich Kit genähert hatte und sie hatte auch Dascha heranschleichen sehen und mich nicht gewarnt.

Und dann die Betten. Bevor die Tracker mich einkassiert hatten, waren in dem Bus fünf Betten belegt gewesen, aber es hätten nur vier sein dürfen. Damals hatte ich mich gewundert, aber nach allem, was danach geschah, war diese Kleinigkeit einfach in Vergessenheit geraten. Jetzt jedoch spülte meine Erinnerung sie zurück in mein Gedächtnis und mir wurde klar, Dascha musste im Bus auf mich gelauert haben, sie war die Person in dem fünften Bett gewesen. Nikita hatte dafür gesorgt, dass sie im Bus war, um eingreifen zu können, sobald ich auf der Bildfläche erschien.

Und noch etwas fiel mir auf. Die ganze Reise über nach Eden, war der Bus angenehm klimatisiert gewesen, weil sie penibel darauf geachtet hatten, die Türen immer geschlossen zu halten. Doch in der Nacht, in der ich gekommen war, war es in dem Bus furchtbar warm gewesen, weil sie die Türen offengelassen hatten.

Jetzt wurde mir klar, dass sie sie für mich geöffnet hatten. Es war wie eine Einladung gewesen, der ich nicht hatte widerstehen können.

Und es war auch nur diese eine Nacht gewesen, in der sie nur einen einzigen Wachtposten aufgestellt hatten. Ich hatte angenommen, dass sie wegen meines Angriffs vorsichtiger geworden waren und deswegen die Anzahl ihrer Wachposten erhöht hatten, aber was, wenn es nur eine weitere Finte gewesen war, um mich in falscher Sicherheit zu wiegen?

Sie hatten wirklich an alles gedacht.

Ich war so blind gewesen, aber plötzlich war alles so klar.

Nikita hatte mich verraten.

Dieser Gedanke tat so weh, dass ich ihn trotz ihrer Worte und meiner eigenen Erkenntnisse nicht wahrhaben wollte. Aber es ließ sich nicht länger leugnen, die Beweise waren zu erdrückend und selbst ein Blinder hätte mit ihnen klargesehen. Es war eine Falle, eine Falle die auf Nikitas Konto ging. Meine Schwester hatte mich zu den Trackern gelockt und ihnen geholfen, mich zu fangen. Sie hatte meine Führsorge ausgenutzt, um das zu bekommen, was sie wollte und ich, dumm wie ich war, hatte ihr vertraut.

„Kiss?“ Plötzlich klang Nikitas Stimme wie die eines kleinen Mädchens.

Sie hatte mich ihnen ausgeliefert.

„Ich habe es für uns getan.“

Nikita, der Mensch dem ich vertraute wie keinem zweiten auf dieser Welt … sie hatte mich verraten.

„Ich wusste du würdest nicht freiwillig mitkommen, aber ich konnte doch nicht ohne dich gehen. Du bist meine Schwester, ich brauche dich doch. Wir sind eine Familie.“

In meinem Hals bildete sich ein riesiger Kloß, der sich nicht runterschlucken lassen wollte. Nikita hatte mich an die Menschen verraten, die ich auf der ganzen Welt am Meisten hasste und auch fürchtete und mich damit einem Schicksal ausgeliefert, das ich niemanden wünschte.

„Ich weiß, du bist jetzt böse auf mich“, versuchte Nikita sich zu rechtfertigen. „Aber ich habe …“

„Raus“, unterbrach Sawyer sie mit gefährlich ruhiger Stimme.

Nikita verstummte, machte aber keine Anstalten seiner Forderung zu folgen.

„Ich habe gesagt, du sollst aussteigen“, knurrte er.

Hilfesuchend schaute sie zu mir, aber ich blieb stumm. Was sie getan hatte … dieser Verrat, er schmerzte. Sie war der letzte Teil meiner Familie, das Wichtigste in meinem Leben. Aber jetzt … ich konnte ihr einfach nicht zur Hilfe kommen.

„Wenn ich es noch einmal sagen muss, dann werde ich dich mit Gewalt aus diesem Wagen zerren. Steig aus, such deine dumme Uhr und warte bis die Tracker dich finden. Das ist es doch was du willst.“

„Fass mich an und du fängst dir eine!“

Bevor Sawyer erneut den Mund öffnen konnte, oder gar seine Drohung wahrmachen konnte, fand ich meine Stimme wieder. „Er hat recht“, sagte ich leise und versuchte mir dabei meinen Schmerz nicht anmerken zu lassen. Es tat so weh. „Steig aus dem Wagen, Nikita. Sie werden dich holen kommen.“

„Aber …“

Mein Schmerz brach sich bahn. „Steig aus dem verdammten Wagen!“, schrie ich sie an und konnte spüren, wie mir eine Träne aus dem Augenwinkel lief.

Nikita wurde stocksteif, ihr Gesicht blass und bestürzt. Sie zögerte, schien einen Augenblick noch zu hoffen, dass ich es nicht so meinte, oder sie vielleicht sogar begleitete, aber diese Hoffnung war vergebens. Sie war nicht länger meine Schwester, wir waren keine Familie mehr. Sie war nichts weiter als eine Verräterin der schlimmsten Sorte. Aber noch immer stieg sie nicht aus dem Wagen.

Das war der Moment, in dem Sawyer der Kragen platzte. Ohne ein Wort, stieß er die Wagentür auf, stieg aus dem Auto und umrundete die Motorhaube. Keine drei Sekunden später riss er die Tür neben Nikita auf. Er machte sich gar nicht die Mühe, sie erneut zum Aussteigen aufzufordern, packte sie einfach am Arm und zerrte sie raus.

Wolfs Hände zuckten, als wollte er ihm helfen. Auch sein Gesicht war grimmig.

„Nein!“, schrie sie und versuchte sich noch irgendwo am Wagen festzuhalten, aber Sawyer hatte sie nichts entgegenzusetzen. Er riss sie einfach vom Sitz und ließ dann sofort wieder los, sodass sie durch den Schwung mit den Händen voran im Dreck landete.

Ein Muskel in mir regte sich, doch ich widerstand dem Impuls, ihr zur Hilfe zu eilen.

Nikita wirbelte zum Wagen herum und starrte mich dann mit weit aufgerissenen Augen an. „Kiss.“

Ihre weinerliche Stimme versetzte mir einen dumpfen Schmerz. Ich spürte den Druck in meinen Augen und wie ein Stück meines Herzens einfach abbrach und zu Staub zerfiel.

Sawyer schlug die Beifahrertür wieder zu, warf Nikita noch einen abschätzenden Blick zu und umrundete den Wagen dann wieder. Sobald er hinter dem Steuer saß und auch seine Tür wieder geschlossen hatte, startete er den Motor.

„Du machst einen Fehler!“, rief Nikita mir zu. Sie klang beinahe verzweifelt. „Wenn du jetzt gehst, werden sie dich jagen!“

Niemand von uns reagierte darauf. Sawyer ließ den Wagen einfach langsam anfahren und rollte an ihr vorbei.

Eine weitere Träne löste sich aus meinen Augen. Ich schaffte es einfach nicht länger, das Brennen zu unterdrücken, als ich die schmächtige Gestalt so verloren und ganz alleine im Staub kauern sah. Doch der Wagen gewann schnell an Geschwindigkeit und es dauerte nicht lange, da war sie einfach aus meinem Sichtfeld und auch aus meinem Leben verschwunden.

Sie hatte mich verraten. Meine kleine Schwester hatte mich verkauft, um das zu bekommen was sie unbedingt haben wollte. Seit ich elf Jahre alt war, hatte ich alles getan was nötig war, um sie am Leben zu erhalten. Ich hatte sie genährt, sie beschützt und ihr ein Dach über den Kopf gegeben und sie hat das alles einfach so weggeschmissen, als würde es gar nichts bedeuten. Ich konnte es nicht begreifen.

Im Wagen war es unnatürlich still, selbst Salia hatte aufgehört zu weinen. Wahrscheinlich spürte sie die Spannungen um sich herum.

„Sie hat sich entschieden, Baby“, sagte Sawyer leise, als würde er meinen Schmerz verstehen. „Es ist nicht deine Schuld, du konntest nichts dagegen tun.“

Wolf brummte, als wollte er Sawyer zustimmen.

„Er hat recht.“ Killian griff nach meiner Hand, doch ich zog sie weg, bevor er sie auch nur berühren konnte.

„Warum bist du eigentlich nicht gleich mit ausgestiegen?!“, fauchte ich ihn an. Ich brauchte ein Ventil, bevor ich mich in meiner Trauer einfach verlor. „Du bist doch auch nichts weiter als ein verdammter Städter und willst bestimmt nichts lieber als in dein scheiß Eden zurück!“

Killian blieb ruhig. Manchmal hasste ich diese verdammte Ruhe an ihm. Warum nur konnte er nie ausrasten? „Ich kann noch nicht zurück“, erklärte er schlicht. „Ich werde hier noch gebraucht.“

Salias Arm, natürlich.

Ich presste die Lippen zusammen, wandte mich ab und starrte aus dem Fenster. Auf einmal wurde meine hart erkämpfte Freiheit von einem bitteren Beigeschmack begleitet. Niemals hätte ich gedacht, dass Nikita mich derart hintergehen könnte. Aber so war es. Sie war nun ein Opfer ihrer eigenen Gier.

Und wieder hatte Eden mir einen wichtigen Teil meines Lebens genommen.

 

oOo

Epilog

 

Leise tickend bewegten sich die Zeiger auf der Uhr in einem stetigen Rhythmus. Sie waren das einzige Geräusch in der Stille des Raumes. Niemand von den Anwesenden wagte es, auch nur ein Wort zu verlieren, denn die Wut die von Agnes ausging, lag zum Schneiden dick in der Luft.

Sie mochte es, wenn alle taten was sie wollte, doch dieser kleine Tropfen, verdampfte auf dem heißen Stein der Erlebnisse, als sei er niemals vorhanden gewesen.

Sie saß an ihrem Schreibtisch in ihrem Büro, die Hände auf dem Tisch und schaffte es kaum ihre Wut im Zaun zu halten. Diese Schmach! Die Stelle, an der Kismet ihr ihren Keychip herausgeschnitten hatte, war in der Zwischenzeit versorgt und verbunden und von dem Schlag gegen den Kopf, nur eine Beule übriggeblieben, doch es tat trotz der Schmerzmittel noch immer weh.

Um sie herum standen Vertreter aller Sicherheitsabteilungen dieser Stadt. Und sie alle schienen kurz davor, sich vor Agnes in den Staub zu werfen. „Zwei Garde-Einheiten vor Ort“, begann sie ruhig, wurde dann jedoch mit jedem Wort lauter. „Dreißig Yards und verschlossene Tore. Wie um alles in der Welt, ist es ihr gelungen, die Stadt zu verlassen?!“

Luzian Hagen öffnete den Mund, doch bevor er auch nur ein Wort über die Lippen bringen konnte, sprach Agnes bereits mit vor Wut bebender Stimme weiter.

„Zwei Evas, ein Adam, ein Kind und ein vielversprechender Gardist in Ausbildung, einfach weg! Unsere ganzen Sicherheitsmaßnahmen überbrückt von einem unwissenden Streuner! In meinem ganzen Leben habe ich noch keine solche Blamage erlebt!“ Und auch keine solche Erniedrigung. Wenn sie nur daran dachte, wie Kismet sie niedergeschlagen und in den Schrank gesperrt hatte – eine unbedeutende Eva! – dann würde sie am liebsten irgendetwas in der Luft zerfetzen. Diese Demütigung. Kismet … sie hätte alles haben können, sie hätte ein Leben in purem Luxus führen können, aber das war nun vorbei. Agnes würde dafür sorgen, dass diese verwilderte Streunerin zurück in ihre Obhut kam, sie würde sie zurück nach Eden holen lassen und dann würde sie sie genauso gefügig machen wie damals Olive. Niemals wieder würde ihr eine Eva entkommen. Niemals.

„Unsere Bewohner sollten sich in diesen Mauern sicher fühlen, denn nur wenn wir ihnen Sicherheit geben, Wohlstand und auch Annehmlichkeiten, werden sie sich den Regeln unterordnen. Aber ein solches Desaster, zeigt deutlich, dass es hier keine Sicherheit gibt!“

Dascha wagte es den Mund zu öffnen. Es war fast amüsant, wie viel Mut sie das zu kosten schien. „Es tut mir leid, Mutter. Wäre ich dabei gewesen …“

„Dann wäre das nicht passiert.“ Sie winkte ab, als wäre das nicht weiter von Bedeutung, doch sie sah genau, wie dieses kleine Lob die Brust ihrer jüngsten Tochter vor Stolz anschwellen ließ. Deswegen blieb Agnes gar nichts anderes übrig, als ihr sofort einen kleinen Dämpfer zu verpassen. Agnes mochte es, wenn die Menschen um sie herum sich ein wenig bemühen mussten und nicht alles auf dem Silbertablett serviert bekamen. „Aber du warst nicht da“, fügte sie deswegen hinzu. „Und die Anwesenden waren zu inkompetent, um eine einfache Streunerin an der Flucht zu hindern. Das wird Konsequenzen haben. Ich will die …“

Ein Klopfen an der Tür ließ Agnes verstummen. Wie sie es hasste unterbrochen zu werden. Es war doch wirklich nicht zu viel verlangt ein wenig Höflichkeit aufzubringen. Immerhin war sie die Despotin der größten Stadt in diesem Land. Und deswegen brauchte sie auch nicht aufstehen, oder gar etwas zu sagen. Es gab genug Hände in Reichweite der Bürotür, die der Aufgabe wortlos nachkamen und einen Mann in den mittleren Jahren hineinließen. Einen Yard.

„Despotin Nazarova.“ Er machte etwas, das leicht als Verbeugung hätte durchgehen können. „Ich habe gerade Nachricht von dem Außenteam erhalten und wollte sie sofort informieren.“

Das Außenteam. Die Tracker die Agnes hinter Kismet und ihren Verbündeten hinterhergeschickt hatte. „Dann informieren sie mich.“

„Natürlich. Die Tracker sind dem Ortungssignal des Mädchens gefolgt und sind unweit vor der Stadtgrenze fündig geworden. Allerdings konnten sie nur sie aufgreifen, denn sie war alleine. Von den beiden Evas und dem Adam fehlt vorerst jede Spur. Genau wie von dem Gardisten.“

Bitte was? „Sie war alleine?“

„Wie es scheint, hat die Eva ihre Schwester aus dem Wagen geworfen und ist mit den anderen ohne sie weitergefahren. Das zumindest hat das Mädchen erzählt.“

„Kismet hat ihre Schwester zurückgelassen?“ Es gab nicht mehr viel im Leben, was Agnes überraschen konnte, doch nun war einer dieser seltenen Fälle eingetreten. Kismet hatte ihre Schwester zurückgelassen? Das Mädchen bedeutete ihr alles. Sie war das Element gewesen, mit dem Agnes sie hatte kontrollieren können. Was hatte das zu bedeuten? „Wenn das Mädchen eintrifft, bringt sie direkt zu mir, ich will mit ihr reden.“

Der Yard nickte zustimmend. „Da wäre noch etwas“, erklärte er dann vorsichtig.

Langsam ging Agnes die Geduld aus. Viel würde sie heute nicht mehr ertragen können. „Und das wäre?“

„Einige Leute sind gerade dabei, die Bänder der Überwachungsaufnahmen an Tor fünf auszuwerten. Dabei wurde entdeckt, dass noch ein weiterer Bewohner die Stadt verlassen hat.“

„Wie bitte?“ Agnes konnte kaum glauben was sie da hörte.

„Ja, wie es scheint, befand sich zum Zeitpunkt der Geschehnisse, auch Dr. Killian Vark in der Nähe von Tor fünf. Wir wissen noch nicht warum, aber auf den Aufnahmen ist deutlich zu erkennen, wie Sawyer Bennett Dr. Vark angreift und ihn dann zwingt, mit ihn in den Fluchtwagen zu steigen. Sie haben den Arzt gegen seinen Willen mitgenommen.“

Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Kismet hatte einen ihrer besten Ärzte entführt?! In diesem Moment spielte für Agnes das Warum keine Rolle. In ihrer Wut sah sie nur eine unverschämte, junge und aufrührerische Frau, die einen Anwohner ihrer Stadt, in ihre Gewalt gebracht hatte. Sie ist genau wie ihre Mutter, dachte sie und erstickte fast an dem Gedanken. „Findet sie“, befahl sie. „Nutzt alle zur Verfügung stehenden Ressourcen, geht an den Ort, wo ihr sie das letzte Mal aufgegriffen habt, stellt die ganze zerfallene Stadt auf den Kopf, aber findet sie und bringt sie mir.“

Nicht noch einmal, dachte Agnes. Das Verhalten dieser Familie würde sie sich kein zweites Mal gefallen lassen. Dieses Mal war sie am Zug. Koste es was es wolle.

 

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Publication Date: 08-21-2018

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