Cover

Prolog

Behutsam strich sie über die Zeilen längst vergangener Augenblicke. Das alte Pergament war von der Zeit gezeichnet, die Seiten waren ausgefranst und rissig, das Papier vergilbt. Die Schrift war verblasst, kaum noch zu entziffern. Nur der Schutz der Hülle bewahrte es vor dem endgültigen Zerfall. Umso merkwürdiger waren die Randnotizen, die offensichtlich erst später hinzugefügt worden waren, um dem kryptischen Text einen Sinn zu geben.

Solch wertvolle Texte durften nicht beschrieben werden. Sie sollten nur noch die Vergangenheit lehren, von Wissen erzählen, das sonst in der Zeit verloren ging. Sie sollten von dem berichten, was einst geschehen war und in der Zukunft nicht fehlen durfte.

Saana rollte das alte Leder über den Schriften zusammen und sah sich vorsichtig in der untersagten Bibliothek um, ob sie auch niemand an diesem Regal gesehen hatte. Sie sollte hier nach Texten über die Entstehung des Codex suchen. Ihr Aufsatz war schon in wenigen Tagen fällig, doch dieses Regal hatte sie neugierig gemacht. Die alten Lederrollen bargen so viel Wissen, dass sie einfach nicht hatte widerstehen können. Dieses Wissen wollte sie ihr eigen nennen.

Wissbegierig zu sein war keine Schande, wie ihr Papá ihr allzu oft erklärte, doch gab es auch Wissen, dass nicht für sie bestimmt war. Saana war das bewusst und trotzdem blickte sie sich ein weiteres Mal um, um auch wirklich sicher zu gehen, dass sie allein war, bevor sie mit der Lederrolle an der Brust zwischen deckenhohen Bücherregalen aus der Bibliothek huschte. Sie würde sie zurück bringen, aber erst, wenn sie sich die Worte angeeignet hatte, die nur für die oberen Frauen im Zirkel gedacht waren.

Dies sagte sie sich immer wieder, als sie mit klopfendem Herzen die Treppe hinunter in den Arbeitssaal des Zirkels nahm. Hier achtete niemand auf sie und die Dinge, die sie bei sich trug. Alle waren zu sehr in ihre Studien vertieft.

Vielleicht wäre es gescheiter gewesen, wenn die mit der Rolle auf ihr Zimmer gegangen wäre, doch der Zauber auf diesem Haus verhinderte, dass Schriften aus ihm entfernt werden konnten, und ihre Räumlichkeiten befanden sich in einem anderen Gebäude. Die Hexen liebten ihre Macht und hüteten ihre Kenntnisse eifersüchtig. Kein Außenstehender würde jemals etwas davon erfahren.

Ein Glück für Saana, dass sie keine Außenstehende war.

Weit hinten im Saal, verborgen von hohen Regalen unter einem großen Fenster, gab es einen einsamen Sessel. Er war alt und hässlich und Saanas liebster Platz in diesem Raum. Hier, verborgen vor den Blicken der anderen, ließ sie ihren Beutel auf den Boden gleiten, um es sich in dem alten Sessel bequem zu machen.

Ihr Herz schlug immer noch zu schnell, weswegen sie sich ein weiteres Mal versicherte, dass sie auch niemand bemerkt hatte. Erst dann entrollte sie das alte Leder erneut und breitete damit den Stapel von zwei Dutzend handgeschriebener Texte auf ihrem Schoß aus.

Trotz der Hülle glaubte sie, das alte Pergament riechen zu können. Sie liebte den Geruch von Tinte und Papier, nur hatte sie in ihren vierzehn Lebensjahren noch nie solch alte Schriften in den Händen halten dürfen. Das machte diesen Moment zu etwas ganz besonderem.

Beinahe liebevoll strich sie über die erste Seite, folgte dem Muster der feinen Schrift. Erst dann lehnte sie sich zurück, um das Wissen aufzunehmen, dass das Pergament ihr bot.

 

Von der Magie geebnet, öffnet Stärke den Weg an jenen Ort, den der Geist sieht, auch wenn das Auge blind für ihn ist.

Der Wunsch ist die Kraft, der Gedanke das Ziel und der Akt der Weg. Doch ist der Gang ohne Gedanken, so ist es die Caput Vena, die den Weg bestimmt; direkt und ohne Kreuz.

Von Größe ganz unterschiedlich, ist jedes Abbild ein Tor zu fernen Zielen, die niemand zu Land, zu Wasser, oder zu Luft jemals erreichen kann.

Sie werden nicht erschaffen, bestehen seit der Magie, seit dem Ursprung, seit der ersten Seele, die auf ihrer Wanderung durch die Welt das Leben stärkte.

Die Kraft des Geistes ist der Schlüssel, der nicht nur öffnet zu fernen Welten. Er leitet auch die Schritte, die uns führen.

Doch hat alles seinen Preis. Es ist nicht die Stärke, nicht der Wille und auch nicht das Herz, die als Zoll zurückgelassen werden. Es ist das Sein des Wesens, das genommen wird, ohne es zu berühren, ohne es zu verändern.

Von dort nach hier bleibt der Geist zurück. Von hier nach dort ist es die Magie in ihrer reinsten Form, die uns verlässt.

Nur die Rückkehr kann uns wieder vereinen und uns zu dem machen, was wir wirklich sind.

 

Gez.: Noam von Dahan

Der Spiegel bringt einen an sein Ziel, solange der Gedanke nur klar formuliert ist

 

 

Ist das Ziel nicht bekannt, so leitet die Caput Vena einen auf dem Ursprungspfad

 

Jeder Spiegel kann als Tor zur anderen Seite dienen, egal wie klein er sein mag, egal wo er einst entstand

 

 

Die erste Seele: Siehe Irina von Sternheim Text 3

 

Starker Wille, starker Wunsch

 

 

Der Weg in die Welt jenseits des Spiegels wird mit der eigenen Magie bezahlt; der Pfad zu uns mit den Erinnerungen

 

 

 

 

 

Nach der Rückkehr kommt das alte Sein zurück.

 

Es brauchte nur einen kurzen Moment, bis Saana verstand, um was es hier ging. Abbild, das war das Schlüsselwort. Abbilder seines Selbst fand man in den Spiegeln. Hier ging es um die Spiegel, die als Tore zu anderen Welten galten. Sie hatte bereits davon gehört, doch gesehen hatte sie noch keines. Als Novizin war sie noch zu jung, um in diese Art von Wissen eingeführt zu werden. Dazu musste sie zumindest den ersten Grad haben und bis dahin war es für sie noch ein weiter Weg.

Jeder Spiegel kann als Tor zur anderen Seite dienen, egal wie klein er sein mag, egal wo er einst entstand.

Bedeutete das, dass sie sogar mit dem großen Spiegel in ihrem Schrank in ferne Welten reisen konnte, wenn sie es sich nur stark genug wünschte? Wenn sie nur den Willen hatte? Die Kraft?

Die Kraft des Geistes ist der Schlüssel.

Wenn das stimmte und wenn sie es richtig verstand, dann bedeutete es, dass jeder Spiegel, den es gab, ein Tor war. Man musste nur wissen, wie man es öffnete.

Doch hat alles seinen Preis.

Bei dem Gedanken wurde Saana ganz anders. Sollte sie sich irgendwann dazu entschließen, in die andere Welt zu gehen, sollte sich dieses Erlebnis ergeben, so war sie sich nicht sicher, ob sie in der Lage wäre, einen solch hohen Preis zu bezahlen. Magie war Leben. Was sollte noch von ihr übrig bleiben, wenn diese ihr genommen wurde? Darüber wollte sie gar nicht so genau nachdenken. Nur der Tod konnte einem die Magie nehmen.

Gedankenverloren fuhr Saana die Randnotizen mit dem Finger nach.

Ist das Ziel nicht bekannt, so leitet die Caput Vena einen auf dem Ursprungspfad.

Jeder Spiegel kann als Tor zur anderen Seite dienen, egal wie klein er sein mag, egal wo er einst entstand.

Die erste Seele: Siehe Irina Zamova Text 3.

Saana stutzte. Die erste Seele. Diesen Begriff hatte sie noch nie gehört und er machte sie neugierig. Was sich wohl dahinter verbarg?

Sehr vorsichtig blätterte sie die Dokumente durch, bis sie eines fand, das mit dem Namen ‚Irina von Sternheim‘ unterzeichnet worden war. Ein Brief, der die Aufstände um den Elfenkönig und Tyrannen Erodin beschrieb. Über die erste Seele verlor dieser Text jedoch kein Wort.

Saana blätterte weiter, Seite um Seite, las Wort um Wort. Die Abenddämmerung schickte bereits ihr rotes Zwielicht durch die Fenster, als sie endlich fand, wonach ihr Wissensdrang verlangte. Ein weiterer Brief von Irina von Sternheim, aus dem sie jedes Wort in ihr Innerstes bannte.

 

Meine liebe Freundin,

 

heute wende ich mich an dich mit der Frage, die das Bewusstsein vieler Gelehrter erfüllt, so auch das meine. Die Frage nach dem Ursprung, nach der Ersten Seele, die, geschaffen aus roher Magie, ihren Weg durch die Welt fand.

In den Jahren meiner Studien grub ich in Schriften, die so alt waren, dass sie allein durch eine Berührung zu Staub zu zerfallen drohten. Der Weg war lang, doch nun glaube ich, endlich fündig geworden zu sein. In der Roten Ebene verbirgt sich das Geheimnis, so offensichtlich, dass es unbemerkt vor unseren Augen liegt.

In dem Brief, den Ori vom Fluss Nhat einst den Gelehrten von Rajatal übergab, trugen sie den Namen der Säulen. In den Schriften vom Zuchtdiwan sind sie das Gleichgewicht und der Anker, doch nur in der Schriftrolle des Gelehrten Abani von Sternheim fand ich die Bezeichnung, die meines Erachtens als einzige der Ersten Seele würdig ist. Der Obelisk.

Warum ich dir nun schreibe, meine liebe Freundin. Vor kurzem bin ich in den Besitz eines alten Textes gelangt, der Geheimnisse hütet, die sich mir nicht erschließen wollen. Es gab nur ein Wort darin, das mein ehrliches Interesse weckte: Obelisk. Daher glaube ich, dass dies der Text ist, aus dem der Gelehrte Abani von Sternheim einst sein Wissen bezog.

Leider ist die Tinte sehr verblasst und das Dokument stark beschädigt, weswegen der lückenhafte Text nur wenig preisgibt. Das, meine liebe Freundin, ist der Grund, warum ich mich an dich wende und hoffe, dass die nachfolgende Abschrift dich dazu verleitet, meinen Studien beizuwohnen.

 

Manifestation des Lichtes, die Seele wandelt als erste. Eine Wanderung durch das Nichts. Beseelt von der Bitte, der Einsamkeit zu entrinnen, zu […] Die Form des Wunsches […] zu vielen hier und dort. Der Gang zu zweit, der erschuf ohne Magie, entfremdet von ihr. Erst wenige, dann mehr und mehr. Sie sind es. Sie gaben Form und Farbe, gestalteten die Welt, die nur lebt durch den Ersten, durch die Obelisken, die geschaffen aus Magie, um die Welt zu erschaffen. So gaben […] stützen.

Die Verbindung, die […]

Auch nach der Vollendung sind die Obelisken die Säulen der Welt. Sie alleine sind die Waage, der Leiter. Ohne […] aus den Fugen.

Die Obelisken sind die Welt. Ohne sie bleibt nur das Nichts, das […] der rohen Magie bleibt kein Leben, kein […]

 

Nach diesen Worten, liebste Freundin, ist das Dokument so stark beschädigt, dass wohl kein Wesen jemals erfahren wird, was dort einst niedergeschrieben wurde, und meine Bemühungen der Restauration brachten bisher nicht den gewünschten Erfolg. Daher hoffe ich, bald von dir zu hören, um das Geheimnis der Vergangenheit lösen zu können.

 

Deine geschätzte Irina von Sternheim

 

Die Entstehung.

Saana bekam mit jeder Zeile größere Augen. In diesem Brief ging es um die Geheimnisse der Entstehung der magischen Welt. Alle Wesen wurden einst aus Magie geboren. Dieses Wissen bekamen bereits die Kleinsten, doch wie genau dies geschehen war, war ein Geheimnis, um das sich die Gelehrten, Forscher und Wissenschaftler noch heute stritten.

Das war ein Schatz, wie ihn nur wenige jemals zu Gesicht bekamen, und Saana wusste um die Bedeutung dessen, um das Geheimnis der Entstehung. Wissen war Macht.

Irina von Sternheim. Diesen Namen prägte Saana sich ein. Sie würde herausbekommen, was die kryptischen Worte bedeuteten, sie würde das Geheimnis lüften, weil ihr Wissensdurst einfach danach verlangte, und sie würde versuchen, an das Schriftstück zu gelangen, von dem Irina von Sternheim in ihrem Brief sprach. Und wenn sie dazu weitere Schriften aus der untersagten Bibliothek entwenden musste, um sie heimlich in irgendeiner Ecke zu lesen - sie würde es tun.

 

°°°°°

Tag Eins

 

Tropf.

Tropf.

Langsam driftete mein Geist an die Oberfläche, hinaus aus den Trugbildern meiner Träume, die nur aus Dunkelheit und Schatten bestanden.

Tropf.

Es war ein Auftauchen wie aus großer Tiefe und weiter Ferne, ein Geräusch, das mich aus den Unergründlichkeiten meines Verstandes lockte. Wasser. Ein topfender Wasserhahn.

Oder?

Ich runzelte die Stirn, stöhnte sogleich auf. Oh Gott, diese Schmerzen!

Der erste Gedanke der mir durch den Kopf schoss, als ich schlaftrunken versuchte, den Nebel aus meinen Augen zu blinzeln, war: Was zum Teufel hab ich jetzt schon wieder angestellt?! Das lag nicht daran, dass mein Schädel sich anfühlte, als würde er von einem Presslufthammer bearbeitet werden. Auch nicht daran, dass mein Rücken mir zuschrie, mir gefälligst ein anderes Bett zu suchen. Oder daran, dass ich einen Geschmack nach alter Pappe im Mund hatte – nicht, dass ich genau wusste, wie alte Pappe schmeckte. Nein, es lag einzig und allein an der Umgebung, in der ich mich befand.

Ich blinzelte in die fahle Helligkeit hinein, versuchte meine schweren Augenlieder offen zu halten, um meine Umgebung genauer unter die Lupe nehmen zu können. Dabei war mir nicht ganz sicher, ob ich nicht vielleicht einer Halluzination unterlag, denn was ich sah, konnte nicht real sein. Raue, steinerne Wände, die nicht nur feucht schimmerten, sondern auch noch einen modrigen Geruch absonderten. Glitzernde Partikel, auf ewig mit dem rauen Gestein verbunden. Katzengold.

Um mich herum verstreut lagen ramponierte Möbel. Alte, kaputte Stühle, ein gesplitterter Tisch mit nur noch einem Bein, eine Couch, die nur noch aus Sprungfedern zu bestehen schien. Der einst blaue Stoff hing in Fetzen von dem modrigen Gerippe herunter – oder war das mal grün gewesen? Direkt davor lag ein alter Spiegel mit blinden Flecken. Regale, Bretter, ein kaputter Schrank, bei dem die Türen fehlten, und dazwischen immer wieder vereinzelter Hausrat, der schon seit langer Zeit nicht mehr genutzt wurde.

Es sah aus, als hätte hier vor langer Zeit jemand gelebt. Vor sehr langer Zeit, so verrottet und zerstört, wie die Einrichtung war. Nur leider half mir diese Erkenntnis nicht bei der Frage, wie und wo ich hier gelandet war.

Nein, das war keine Halluzination. Ohne Zweifel – und warum auch immer – ich befand mich in einer feuchten Höhle. Der harte Untergrund, auf dem ich lag, war der letzte Hinweis, den ich brauchte, um mich in meiner Vermutung bestätigt zu sehen.  

Als ich langsam meinen Kopf drehte, um den Schmerz in meinem Hirn nicht noch anzustacheln, entdeckte ich sogar eine Feuerstelle unter einem großen Loch in der Decke. Wärmende Sonnenstrahlen fluteten hindurch und ließen Staubkörner in der Luft tanzen. Wurzeln krochen wie Schlangen über die Decke und die Wände und verschwanden in den Schatten und Spalten des Gesteins.

Die kleinen Steinchen, die sich unangenehm in meine Wange gruben, animierten mich dazu, mich langsam aufzurappeln, bis ich stöhnend auf den Knien hockte. Verdammt noch mal, was war nur mit meinem Kopf los? Ich konnte mich nicht erinnern, schon jemals solche Schmerzen gehabt zu haben.

Als ich die Hand zu meiner Schläfe heben wollte, um sie vorsichtig zu massieren, bemerkte ich den Zettel in ihr. Nein, kein Zettel, das war ein Brief. Ein Brief, der mit Tesafilm an meine Hand geklebt worden war. Das wurde ja immer seltsamer. Nicht nur, dass ich an diesem komischen Ort erwacht war - wer wickelte einem denn einen zerknitterten Brief mit Tesafilm um die Hand? Da schien jemand darauf bedacht gewesen zu sein, dass ich ihn auf keinen Fall verlor.

Ich ließ meinen Blick noch einmal durch die Höhle gleiten. Kurz unter dem Rauchabzug befand sich im Gestein ein kleiner Vorsprung, etwa zwei Meter über dem Boden. Ein Stück von mir entfernt lag ein roter Rucksack, der zum Bersten gefüllt war. Zwar befand sich ein wenig Dreck daran, aber ansonsten schien er nagelneu zu sein. Neben mir war er wohl der einzige Farbtupfer in dieser Höhle.

Langsam drangen auch die Geräusche der Umgebung an meine Ohren. Wind und das Wiehern eines Pferdes.

Draußen vor dem Eingang konnte ich ein paar knochige Bäume erkennen, die lange Schatten auf den sandigen Boden warfen und die Welt rot erstrahlen ließen. Durch den Rauchabzug war ein strahlend blauer Himmel zu erkennen, doch weit und breit keine Menschenseele.

Nur ich.

Und dieser Brief.

Vielleicht würde er mir ja Aufschluss über meine Lage verschaffen. Schließlich klebte er an meiner Hand und war somit wohl für mich bestimmt. Davon war zumindest auszugehen.

Vorsichtig zog ich meine Hand aus dem Tesafilm. Der Kleber ziepte und … aber was war das? Auf meinem Handballen war eine kleine Zeichnung, wie eine Kinderkritzelei. Ein kleines Pentagramm aus roten Strichen. Filzstift. Vielleicht hatte ich ja Langeweile gehabt und es dort raufgekritzelt. Ich konnte mich auf jeden Fall nicht daran erinnern, wie es dorthin gelangt war.

Da es kaum noch seltsamer werden konnte, widmete ich mich erstmal dem einzigen, was mir vielleicht helfen würde, das alles zu verstehen: dem Brief. Ich drehte ihn in der Hand. Ein Wort war in einer sauberen schrägen Schrift auf den Umschlag geschrieben worden. Tiara.

Wurden so nicht die kleinen Krönchen für Prinzessinnen genannt?

Als bei meinem Stirnrunzeln Schmerz in meiner Schläfe aufkam, zwang ich mich sofort dazu, sie wieder zu glätten. Hölle noch mal, was war nur mit meinem Kopf los? Das war doch nicht normal.

Ich versuchte, den Schmerz von mir zu schieben, und riss den Umschlag an der Seite auf. Dann zog ich vier vollgeschriebene Zettel heraus. Und mit vollgeschrieben meinte ich auch vollgeschrieben. Sie waren beidseitig von der ersten bis zur letzten Zeile gefüllt und in der gleichen sauberen Handschrift verfasst, die auch schon auf dem Umschlag stand. Schon der erste Satz verursachte bei mir gleich wieder ein Stirnrunzeln.

 

Wenn es stimmt, was Tal und Veith mir seit Monaten weißzumachen versuchen, und das hier wirklich funktioniert, dann wird es mich nach meinem Erwachen als erstes nach einer Kopfschmerztablette verlangen. Deswegen: Aspirin und Wasserflasche befinden sich in den Seitentaschen.

 

Mein Blick schweifte zu dem roten Rucksack. Konnte es wirklich sein, dass das gemeint war, was der Brief mir weismachen wollte? Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszubekommen.

Ich ließ den Brief auf den Boden sinken, zog den Rucksack zu mir heran und untersuchte die Seitentasche. Die versprochene Wasserflasche war schnell gefunden und auch das Aspirin fehlte nicht. Ich wusste nicht, welchem Engel ich diesen Glücksfall zu verdanken hatte, doch ich zögerte keinen Moment, mir gleich drei von den Tabletten einzuwerfen und sie mit einem großen Schluck Wasser runterzuspülen. Und weil ich in diesem Moment erst merkte, wie durstig ich war, leerte ich gleich die halbe Falsche.

Das tat gut. Auch wenn die Schmerzen nicht sofort verschwanden, konnte ich mir doch einbilden, dass sie schon besser wurden. Die Macht der Suggestion.

Als ich die Flasche und die Tabletten zurück in den Rucksack packte, war ich für einen Moment versucht, ihn zu durchstöbern um herauszufinden, was da noch alles drin war. Es schien ja schließlich meiner zu sein. Oder zumindest war er für mich bestimmt – glaubte ich. Aber der Brief würde mir wahrscheinlich mehr Aufschluss geben.

Warum nur konnte ich mich nicht erinnern? Hatte ich vielleicht zu viel getrunken und einen Blackout gehabt? Aber wie betrunken musste ich denn gewesen sein, um mich in einer solchen Lage wiederzufinden? Das ergab doch keinen Sinn.

Ich zögerte, entschied mich dann aber dafür, erstmal den Inhalt der Tasche zu überprüfen, doch was dabei zum Vorschein kam, war nicht sehr informativ. Zwei Stapel Wechselkleidung, eine Zahnbürste, eine Haarbürste und ein Handy ohne Empfang. Zwei weitere Wasserflaschen, ein kleines Erste-Hilfe-Set, eine Nagelpfeile, ein Stift, ein Schreibblock und ein Fotoapparat. Dann waren da noch eine Tüte Trockenfleisch, ein paar Schokoriegel und ein Päckchen Kekse.

Was ich aber sofort vermisste, war ein Portemonnaie. Da war keines. Weder in dem Rucksack noch in den Taschen meiner blauen Shorts. Nichts, was mir Aufschluss über diese Tasche hier geben konnte. Ganz unten am Boden fand ich nur noch ein kleines Taschenmesser und einen Kassenbon über den Kauf eines roten Rucksacks. Das war‘s.

Nichts von den Sachen, die ich fand, war hilfreich oder sagte mir, wie und warum ich mich in einer Höhle befand. Oder warum ich mich nicht erinnern konnte, wie ich hier gelandet war. Diese Dinge waren mir auch alle völlig unbekannt. Ich wusste nicht, von wem die Sachen kamen, aber meine waren es mit Sicherheit nicht.

Ich griff nach dem Handy. Der Ladebalken war voll, doch weder das Lesen des Adressbuchs noch der Nachrichten sagte mir etwas. Keiner der abgespeicherten Namen kam mir bekannt vor.

Ich scrollte durch das Menü ins Fotoalbum. Unbekannte Männer und Frauen lächelten mich an. Bilder von Partys und einem Ritterfest. Eine junge blonde Frau mit kurzen Haaren und grünen, leicht schrägen Augen. Sie war hübsch. Auf fast jedem Foto war sie mit einem Adonis von einem Mann zusammen. Nur sein Gesicht war etwas zu kantig. Doch das wirklich seltsame an ihm waren die gelben Augen. Das waren doch Kontaktlinsen, oder? Solche Augen gab es doch gar nicht.

Ich fand auch ein Foto, auf dem die blonde Frau mit einer anderen Blondine abgelichtet worden war. Die beiden glichen sich wie ein Ei dem anderen. Das waren eineiige Zwillinge. Der einzige Unterschied zwischen ihnen bestand in der Länge ihrer Haare. Bei der einen waren sie zu einer modernen Kurzhaarfrisur geschnitten, bei der anderen reichten sie lang und glatt bis auf den Rücken.

Seufzend ließ ich das Handy sinken. So kam ich nicht weiter. Da blieb nur noch der Brief.

Wie aus einer Gewohnheit heraus ließ ich das Handy in meiner Hosentasche verschwinden und griff mir den Stapel mit den Blättern.

 

Wenn es stimmt, was Tal und Veith mir seit Monaten weißzumachen versuchen, und das hier wirklich funktioniert, dann wird es mich nach meinem Erwachen als erstes nach einer Kopfschmerztablette verlangen. Deswegen: Aspirin und Wasserflasche befinden sich in den Seitentaschen.

Zwar bezweifle ich es immer noch, doch ich schreibe das jetzt einfach mal so, als würde die ganze Geschichte stimmen. Demnach weiß ich jetzt nichts mehr. Ich weiß nicht, wie ich heiße, ich weiß nicht, wie alt ich bin, und auch nicht, wie meine Schuhgröße lautet.

Um herauszufinden, ob das stimmt, hier einfach mal eine Frage. Wie lautet mein Name?

 

Nach diesem Satz stockte ich.

Wie lautet mein Name?

Ich kramte in meiner Erinnerung, grub so tief ich konnte, aber an der Stelle, an der solche Informationen abgespeichert sein sollten, befand sich nichts weiter als ein großes schwarzes Loch. „Mein Name“, flüsterte ich. „Wie ist mein Name?“ Gleichzeitig erschrak ich beim Klang meiner eigenen Stimme. Sie war so … fremd. Ein bisschen zu hoch, aber auch ziemlich sanft. Doch was mein Herz zum Rasen brachte, war das fremdartige darin. Ich erkannte meine eigene Stimme nicht.

Verdammt, was war hier eigentlich los?!

Ich drehte mich zu allen Seiten, als ob da jemand wäre, der sich einen riesengroßen Scherz mit mir erlauben würde, aber nach wie vor war ich alleine. Natürlich war da niemand, aber … ich konnte es mir nicht erklären. Und wenn ich diesen Brief selbst verfasst hatte, wie hatte ich vorher wissen können, dass ich das alles vergessen würde? Wie war das überhaupt möglich?

Jetzt rasten die Fragen in meinem Kopf. Nicht nur jene nach meinem Namen, auch all die anderen Dinge, die einen Menschen auszeichneten. Alter, Hobby, Freunde, Familie. Zum Teufel, ich wusste nicht einmal, wie ich aussah!

Mein Blick schweifte zu dem großen Spiegel mit den blinden Flecken. Mit den Zetteln in der Hand kroch ich darauf zu und konnte im ersten Moment nicht glauben, was ich da sah. Das war die junge Frau von den Fotos im Handy! Die mit den langen, weißblonden Haaren und den grünen Augen. Ich war einer der Zwillinge.

Das wurde ja immer kurioser!

Wie in Trance starrte ich mein eigenes Spiegelbild an, fuhr mit den Augen jede Kontur meines Ichs nach.

Ich hatte große grüne Augen, die leicht schräg standen, und helle Haut. Mein Körper war schlank und durchtrainiert, als wäre ich körperliche Arbeit gewohnt. Aber abgesehen von meinem herzförmigen Gesicht waren meine Rundungen wenig ausgeprägt.

Die Kleidung, die ich trug, war leger. Eine kurze Stoffhose und ein enges Shirt. Dazu einfache Turnschuhe.

Das war … ich konnte … oh mein Gott. Ich wusste nicht einmal mehr, was ich denken sollte. Warum war mir nicht gleich aufgefallen, dass mit meinem Gedächtnis etwas nicht stimmte? Aber viel wichtiger, wie war ich eigentlich in diese Lage geraten?

Das … ich … warum … unmöglich!

Ich verstand es nicht. Es war einfach nicht zu verstehen. Das Gedächtnis verschwand doch nicht einfach so. Das war … unmöglich.

Auch wenn es mir schwer fiel, meinen Blick von dem so fremden Spiegelbild abzuwenden, riss ich den Brief wieder hoch. Wenn ich antworten bekommen wollte, dann würden sie darin stehen – das zumindest hoffte ich.

 

Wenn ich diese Frage beantworten kann, dann ist das ganze doch Humbug. Sollte es aber wirklich so sein, dass ich nicht einmal das mehr weiß, dann muss ich meinen Blick auf die Welt wohl ein bisschen verändern. Doch wenn es wirklich so ist, dann wird der Blick auf die Welt mich im Moment wahrscheinlich nicht wirklich interessieren, deswegen jetzt erstmal ein paar Informationen zu mir. Mein Name ist Tiara Kleiber, aber alle nennen mich nur Tia. Ich wohne am Rande der bayrischen Hauptstadt, zusammen mit meinem Vater und meiner Schwester Talita. Seit einer Weile wohnt auch ihr neuer Freund Veith bei uns. Ich bin vor kurzem zweiundzwanzig Jahre alt geworden, zusammen mit meiner Schwester, ich bin nämlich ein Zwilling. Genaugenommen bin ich sieben Minuten nach meiner Schwester Talita geboren.

Meine größten Hobbys sind Karate und Gymnastik. Ich habe sogar schon einige Wettkämpfe gewonnen.

Eigentlich bin ich ziemlich normal, weswegen ich diese ganze Geschichte auch unwahrscheinlich finde. Doch meine ganze Familie beharrt so sehr darauf, dass ich mich dazu entschlossen habe, es herauszufinden.

Angefangen hat alles mit diesem Schleimbeutel Sven. Er tauchte vor etwa drei Jahren in unserem Leben auf. Talita fand ihn von Anfang an toll, obwohl er mir gleich sehr suspekt vorkam. Leider hatte ich Recht. Sven hat Talita sehr wehgetan, so sehr, dass sie daran fast zerbrochen wäre. Deswegen hat meine Mutter sie in ein Rehabilitationszentrum geschickt, wo sie keine Kontakte zur Außenwelt haben durfte – das zumindest hat sie damals behauptet.

Fast zwei Jahre habe ich meine Zwillingsschwester weder gesehen noch gesprochen. Es war, als wäre sie einfach vom Erdboden verschluck worden. Ich habe immer wieder versucht, meine Eltern zu überreden, mir zu sagen, wo sie sich befindet. Ich habe sie teilweise angefleht, aber sie wollten es mir nicht sagen, und eigene Nachforschungen haben auch nichts ergeben. Ich konnte nichts tun.

Mittlerweile habe ich schon geglaubt, dass ihr etwas zugestoßen ist und meine Eltern es mir nicht sagen wollen, um mich zu beschützen. Mit jedem Tag, der verstrich, malte ich mir schlimmere Szenarien aus. Ich kam einfach nicht damit klar, dass sie verschwunden ist.

Etwa ein Jahr nach Tals Verschwinden war ich sogar so verzweifelt, dass ich Sven aufgesucht habe, weil ich befürchtet habe, dass er etwas damit zu tun hat. Das Ganze hat in einer Anzeige wegen Körperverletzung gegen mich geendet, doch Talita blieb verschwunden und machte diese bohrende Angst immer schlimmer. Es war wie damals mit Tylor, meinem großen Bruder. Er ist bei einem Badeunfall gestorben …

 

Bei diesem Satz stockte ich. Ich hatte einen Bruder? Einen … toten Bruder? Das war … warum nur fühlte ich bei diesem plötzlichen Wissen nichts? Hatte ich ihn nicht lieb gehabt? „Taylor“, flüsterte ich und in diesem Moment schoss das Bild eines jungen, schwarzhaarigen Mannes durch meine Erinnerung.

„Weihnachtsmann, dein Bart rutscht!“, hörte ich Taylor lachen.

„Das ist Papa!“ Anklagend zeigte das kleine, blonde Mädchen auf den dickbäuchigen Mann, dem langsam aber sicher der falsche Bart aus dem Gesicht rutschte. Auch schnelles Zupacken half da nicht mehr. Der Bart war nicht mehr zu halten.

Ich konnte nicht glauben was ich da sah. Wie war das möglich? „Ist Papa der Weihnachtsmann?“ Ich spürte Tränen aufsteigen. Wo war der Weihnachtsmann?

Mama sah aus, als könnte sie sich kaum noch das Lachen verkneifen.

„Nein“, sagte Taylor sanft und zog mich auf seinen Schoß. „Der Weihnachtsmann hatte nur so viel zu tun, dass er Papa gebeten hat, für ihn einzuspringen.“

Die Tränen liefen über. „Aber ich will den Weihnachtsmann!“

War das … eine Erinnerung? Aber ich dachte, ich könnte mich nicht mehr erinnern? Doch jetzt … ich spürte plötzlich seine Arme, wie sie mich als kleines Kind gehalten hatten. Die Wärme und Zuneigung. Dieses Vertraute, das mir heute fehlte. Ich hatte meinen Bruder geliebt, ich fühlte es, doch … es war irgendwie nur noch ein ferner Klang. Wie lange war er schon tot? Hatte es etwas damit zu tun?

Ich zwang meine Gedanken von diesen Fragen weg und richtete meine Augen wieder auf das Blatt. Wenn ich auf irgendwas eine Antwort haben wollte, musste ich den Brief zu Ende lesen. Vielleicht würde mir das Aufschluss darüber geben, was mit mir geschehen war.

 

Er ist bei einem Badeunfall gestorben und meine Eltern haben es uns tagelang verheimlicht, weil sie nicht wussten, wie sie es uns sagen sollten. Das war wohl das Schrecklichste, was mir in meinem bis dahin kurzen Leben widerfahren ist.

Doch dann, fast zwei Jahr nach Tals plötzlichem Verschwinden, stand sie plötzlich mit diesem Typen bei uns vor der Tür. Von da an fing es an wirklich, seltsam zu werden. Plötzlich behaupteten alle, dass sie niemals in diesem Rehabilitationszentrum war, sondern in einer anderen, magischen Welt. Einer Welt, in der es von Wesen aus Märchen und Mythen nur so wimmeln sollte. Und auch ihr neuer Freund sollte zu ihnen gehören. Er ist laut der Aussage meiner Familie ein Werwolf, obwohl ich ja der festen Überzeugung bin, dass er ein Verbrecher ist, der sich bei uns vor der Mafia versteckt. Das würde zumindest einiges erklären. Ich verstehe sowieso nicht …

 

Ich ließ das Blatt sinken und wusste nicht recht, was ich davon halten sollte. War das ein Scherz auf meine Kosten? Denn ganz ehrlich, magische Welten mit Sagengestalten oder auch Mafia - das klang beides ziemlich weit hergeholt, obwohl ich mich für die Magie entscheiden müsste, wenn ich die Wahl hätte.

Doch das konnte einfach nicht stimmen. Das war so absurd, dass es nur ein Witz sein konnte.

Plötzlich kam mir der ganze Brief unglaubwürdig vor. Es gab eigentlich nur zwei Dinge, die mit meiner Situation übereinstimmten. Das eine war die Tatsache, dass ich mich an nichts erinnern konnte, so sehr ich es auch versuchte. Und das andere war der Aufbruch. Der Verfasser dieses Briefs wollte sich scheinbar auf eine Reise begeben und neben mir befand sich ein Rucksack, der darauf hindeutete, für so etwas vorbereitet worden zu sein. Und die Tabletten waren ja auch da gewesen.

Aber das konnte nicht stimmen, das war einfach zu unwahrscheinlich. Aber was war dann mit diesem Taylor? Als ich seinen Namen gelesen hatte, war diese Erinnerung an ihn aufgetaucht.

Okay, im Augenblick hatte ich absolut keine Ahnung, was ich denken sollte. Nur bei einem war ich mir sicher. Ein Teil des Briefes entsprach der Wahrheit. Zumindest hatte es den Anschein.

Mein Blick glitt zum Ausgang. Vielleicht sollte ich hier einfach verschwinden und mir Hilfe suchen. Andererseits konnten in dem Brief noch weitere Informationen versteckt sein. Ich biss mir auf die Unterlippe, so konzentriert auf die Frage, was ich nun tun sollte, dass ich bei dem plötzlichen Schrei heftig zusammenzuckte und dann so schnell zum Höhleneingang herumwirbelte, dass sich der Schmerz in meinem Kopf wieder bemerkbar machte. Nicht so schlimm wie noch zu Anfang, aber er war deutlich da.

Als gleich darauf ein zweiter Schrei zu hören war, hielt mich nichts mehr auf meinem Platz. Ohne lange nachzudenken, ließ ich den Brief einfach fallen und rannte nach draußen. Dass mein Kopf dabei unangenehm pochte, versuchte ich zu ignorieren, denn es war gerade nicht wichtig. Nichts war mehr wichtig, denn da draußen hatte ein Kind geschrien – ein verängstigtes Kind.

Ich rannte hinaus, kollidierte dabei fast noch mit einem Baum, weil der rote Sand unter meinen Füßen durch den Schwung wegrutschte, und schaute hektisch in alle Richtungen.

Die kargen Bäume verdeckten nur wenig. Ich befand mich am Fuß eines Bergplateaus; die Höhle war darin intrigiert. Und soweit das Auge reichte, war nichts weiter als eine endlose karge Landschaft zu sehen, die mich sofort an eine Wüste denken ließ. Auch der strahlend blaue Himmel über mir passte dazu.

Bevor ich wieder zu der Frage zurückkommen konnte, wie ich an einen solchen Ort gelangt war, drangen die Geräusche an meine Ohren. Das Wiehern von Pferden, die panische Stimme eines Mannes und das verängstigte Wimmern eines Kindes.

Und dann entdeckte ich sie. Keine fünfzig Meter von mir entfernt standen weitere Bäume. In einem von ihnen hing ein Kind und versuchte krampfhaft, nicht herunterzufallen. Es konnte nicht älter als zehn sein. Unten, um den Stamm herum, befand sich eine Herde von schwarzen und weißen Pferden – acht Tiere insgesamt. Fünf von ihnen sprangen nach dem Kind. Es sah fast so aus, als wollten sie es mit den Zähnen packen und aus dem Baum ziehen, doch sie verfehlten es immer wieder um Haaresbreite.

Der Mann brüllte etwas und stach mit einem Speer auf die drei anderen Pferde ein. Er wollte zu dem Kind, doch die Tiere drängten ihn immer weiter weg. Er konnte nichts anderes tun, als zurückweichen und sich vor den Hufen zu ducken. Das tat er so geschickt, dass ich beinahe ins Staunen geriet, nur wunderte ich mich über seine Hautfarbe. Sie war rot. Vermutlich von dem roten Sand.

Als das Kind plötzlich wieder aufschrie, erschrak ich fast zu Tode. Es rutschte, konnte sich kaum noch halten. Der Mann versuchte nach vorne zu kommen und wurde dabei von einem Huf so heftig an der Schulter getroffen, dass er zu Boden stürzte und sich nun von dort aus mit dem Speer verteidigen musste.

Oh Gott, ich musste etwas tun!

Hastig suchte ich nach einer Waffe und noch ehe ich begriff, was ich da eigentlich tat, nahm ich einen faustgroßen Stein vom Boden, rannte auf die Herde zu und warf ihn während des Laufs mit aller Kraft. Er flog unbemerkt auf sein Ziel zu, traf es aber mit voller Wucht an der Flanke.

Das weiße Pferd wirbelte sich zu mir herum und schnaubte wütend.

„Hey!“, rief ich, schnappte mir einen weiteren Stein und warf ihn wieder. „Los, kommt schon, hier bin ich!“

Zwei weitere Pferde drehten sich zu mir um.

Der rote Mann schaute nur einen Moment überrascht in meine Richtung, bevor er den Speer nach vorne stieß – direkt in die Brust des Pferdes.

Das Geräusch, das das Tier von sich gab, würde ich wohl niemals vergessen. Es war fast ein Schrei, ein markerschütternder Schrei. Seine Augen waren weit aufgerissen und dann ging es einfach zuckend zu Boden.

Die anderen beiden wichen ein wenig zurück, während eines der Pferde noch immer nach dem Kind sprang. Es sah wirklich so aus, als wollte es den kleinen Jungen beißen.

Meine Augen flogen ein weiteres Mal hektisch über den Boden. Ich brauchte noch einen Stein, ich musste die Viecher von den beiden weglocken. Und gerade, als ich einen weiteren kleinen Felsbrocken ins Auge fasste und mich danach bückte, bemerkte ich, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. „Oh scheiße.“

Mein Plan war aufgegangen, die Herde ließ von den beiden ab. Doch nun rannten sie genau auf mich zu und schienen nicht allzu nett zu sein.

In dem Moment, in dem mir das klar wurde, entdeckte ich das Horn.

Die Pferde – jedes einzelne von ihnen – hatten auf ihren Stirnen Hörner. Wie … wie Einhörner.

Das konnte nicht sein, das war unmöglich. Wie …

Das Wiehern riss mich aus meiner Erstarrung. Diese … Was-auch-immer rannten direkt auf mich zu. Und die Augen … das waren bodenlose Höhlen.

Keine Ahnung, was sie vorhatten, aber es war besser abzuhauen.

Ich warf noch den letzten Stein, achtete gar nicht darauf, ob ich auch traf, wirbelte herum und nahm die Beine in die Hand. Weg, nur weg.

Leider war der sandige Boden so weich und locker, dass ich nur schwer vorankam. Ich wusste auch nicht, wohin ich laufen sollte.

Ein kurzer Blick über die Schulter zeigte mir, dass sie direkt hinter mir waren. Aber nicht nur das. Der rote Mann hatte das Kind aus dem Baum geholt und kletterte mit ihm nun eilig die steile Felswand auf das Plateau nach oben – ohne auch nur einen Blick in meine Richtung zu werfen.

Er ließ mich im Stich!

Ich biss die Zähne zusammen, aber mir wurde schnell klar, dass ich so nicht entkommen konnte. Der Boden war einfach zu weich. Deswegen gab es für mich nur einen Ausweg: Die Höhle. Da lag so viel Schrott, dass ich sicher etwas finden würde, mit dem ich mich verteidigen konnte.

Mein Puls raste und mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich das letzte Stück nach vorne heizte und dann so hastig um den Ecke bog, dass ich wegrutschte.

Ich knallte auf die Seite und schlitterte ein Stück in die Höhle hinein.

Draußen hörte ich das Schnaufen und Wiehern der - ich wusste nicht, wie ich sie nennen sollte. Die Geräusche der Hufe erinnerten mich an die vier Reiter der Apokalypse. Wie sollte ich mich nur gegen sieben von ihnen wehren?

Keine Zeit nachzudenken, denn schon kam das erste um die Ecke geschossen.

Ich glaubte nicht, dass ich in meinem ganzen Leben schon einmal so schnell auf den Beinen gewesen war wie in diesem Moment. Nur ein Blick auf den Schrotthaufen genügte und ich hatte eine Waffe ausgemacht. Ein altes Tischbein. Ich konnte es als Knüppel benutzen.

Ich sprang über die kaputte Couch, kickte dabei ausversehen auch noch einen Topf weg und packte das Holzbein. Doch als ich daran zog, rutschte mir das Herz in die Hose. Es war verkanntet, ich bekam es nicht frei. Und die Viecher …

Das vorderste setzte gerade zum Sprung über das alte Sofa an. Ich konnte mich nur noch zur Seite werfen, um nicht von den Hufen getroffen zu werden.

Ich wusste nicht, wogegen ich knallte, doch der Schmerz schoss mir durch die Seite, so schlimm, dass ich es fast nicht zurück auf die Beine schaffte.

Ein schwarzes Pferd versuchte von der anderen Seite an mich heranzukommen. Es stieg und trat dabei ein wenig von dem Unrat frei. Daneben waren noch zwei andere und ein weiteres versuchte, über den Berg von Sperrmüll zu mir zu gelangen.

Sie hatten mich umzingelt.

Oh Gott!

Panisch suche ich nach einem Ausweg, aber da war nichts, nur der Rauchabzug in der Decke und der war mindestens drei Meter vom Boden entfernt – vorausgesetzt, ich würde direkt darunter stehen. Nein, nein, nein, wie sollte ich denn … und dann sah ich ihn, den Vorsprung an der Wand.

Ich zögerte keinen Moment, kletterte auf den halb zusammengebrochenen Schrank und streckte mich, bis meine Hände die Kannte des Vorsprungs erreichten.

Unter mir wurde das Getöse lauter. Der Schrank vibrierte, als eines dieser Viecher dagegen trat.

Mir blieb keine Wahl - jetzt oder nie. Mit aller Kraft stieß ich mich am Schrank ab, merkte dabei, wie das Holz unter mir einsank, und zog mich hoch. Zumindest war es so geplant gewesen, doch ich bekam gerade mal meine Arme rauf.

Unter lautem Krachen verschwand der Schrank unter mir und ein Luftzug verriet mir, dass der Schwarze nach mir geschnappt hatte.

„Komm schon“, murmelte ich und stemmte mich so gut es ging hoch. Erst nur die Schultern, dann ein Stück vom Oberkörper. Meine Arme zitterten vor Anstrengung, meine Seite schmerzte und mein Kopf malträtierte mich, doch ich biss die Zähne zusammen und arbeitete mich Stück für Stück nach oben. Als der Oberkörper dann endlich weit genug über die Kante war, atmete ich einen Moment durch, bevor ich auch die Beine nachzog.

Ich war in Sicherheit. Vorerst.

Schwer atmend, warf ich einen Blick nach unten. Die … die Einhörner zertrampelten alles, was ihnen unter die Hufe kam. Der ganze Sperrmüll hatte sich über eine große Fläche verteilt und das laute Klirren verriet mir, dass nun auch der Spiegel zu Bruch gegangen war. Und nicht nur das. Ihre Hufe hatten auch den Inhalt des Rucksacks verteilt und … den Brief!

Oh nein, was wenn dort vielleicht doch noch wichtige Informationen verbogen waren? Was wenn …

Als eines der Einhörner laut wieherte, weiteten sich meine Augen vor Überraschung. Die Zähne. Unmöglich. Das waren Zähne wie bei einem Piranha, das waren die Zähne eines Fleischfressers!

Das … aber … wie?

Plötzlich sah ich aus dem Augenwinkel einen roten Funken. Ich drehte gerade noch rechtzeitig den Kopf, um zu sehen, wie eines der weißen Pferde Feuer legte. Die Flamme schoss einfach aus seinem Horn heraus.

Langsam glaubte ich wirklich, verrückt zu werden. Ein Pferd das Feuer legte, ein Pferd mit einem Horn, das Feuer legte! Das war genauso abwegig wie die Dinge, die dort im Brief angedeutet worden waren.

Plötzlich behaupteten alle, dass sie niemals in diesem Rehabilitationszentrum war, sondern in einer anderen, magischen Welt, einer Welt, in der es von Wesen aus Märchen und Mythen nur so wimmeln sollte.

Was, wenn es wirklich wahr war?

Mir blieb keine Gelegenheit, diesen Gedanken genauer ins Auge zu fassen, denn die anderen Einhörner eiferten dem ersten nach. Sie steckten den ganzen Sperrmüll in Brand und obwohl er so feucht war, loderte er wie Zunder. Innerhalb kürzester Zeit war die ganze Höhle von Rauch erfüllt. Noch immer sprangen sie nach oben, um mich vom Vorsprung runterzuziehen. Das Feuer schien ihnen nicht das Geringste anhaben zu können.

Ich musste hier weg und zwar ganz schnell!

Wieder flog mein Blick durch die Höhle, aber da war immer noch nichts, außer dem Loch in der Decke. Kaum einen Meter von mir entfernt, doch gleichzeitig unerreichbar. Aus diesem Winkel würde ich es niemals schaffen.

Meine Kehle begann zu kratzen. Ich hustete und zog mein Shirt über Nase und Mund. Der Rauch brannte mir in den Augen und ließ sie tränen. Ruß schwärzte die Luft.

Ich schaute nach unten, sah, wie das Feuer auf die Wurzeln an den Wänden übergriff und - aber natürlich, die Wurzeln! Die Wände und die Decke waren voller Wurzeln. Ich könnte mich an einer zum Loch hangeln und dann nach draußen klettern. Dorthin würden die Einhörner mir nicht folgen können.

Mit den Augen suchte ich die stabilste Wurzel raus, die zum Loch führte. Sie war kaum dicker als mein Zeigefinger. Aber welche Wahl hatte ich schon? Langsam spürte ich die Hitze des Feuers und der Rauch wurde immer dichter.

Ich ließ mein Shirt von Nase und Mund rutschen und packte die Wurzel mit beiden Händen. Ein kräftiger Zug riss sie von der Wand. Kleine Steinchen lösten sich und rieselten herab. Das Wiehern unten wurde lauter, als wüssten sie, dass ihnen ihre Beute gleich durch die Lappen gehen würde.

Ein weiterer kräftiger Zug riss die Wurzel so weit herunter, dass sie wie eine Liliane durchs Loch hing. Ich packte sie fester, wickelte sie mir sogar ums Handgelenk und zerrte noch ein letztes Mal daran, um zu prüfen, ob sie mein Gewicht auch halten würde. In diesem Moment geschah es. Die Wurzel riss einfach durch und fiel nach unten ins Feuer.

Nein, das konnte nicht sein, das durfte nicht sein!

„Spring!“

Mein Blick schnellte nach oben zum Loch.

Der rote Mann war zurück!

Er lag auf dem Bauch an der Kante des Rauchabzugs und streckte mir die Arme entgegen.

„Spring endlich!“

Ich sollte springen? Über den Einhörnern und dem ganzen Feuer? War der verrückt geworden?! Aber was blieb mir denn sonst für eine Wahl?

Meine größten Hobbys sind Karate und Gymnastik. Ich habe sogar schon einige Wettkämpfe gewonnen.

Hoffentlich stimmten die Worte aus dem Brief.

Ich ließ die Wurzel fallen, stellte mich an die äußerste Kante des Vorsprungs und warf noch einen letzten Blick nach unten. Mir blieb wirklich keine andere Wahl. Aber springen? Ich kratzte meinen ganzen Mut zusammen. Das hier war verrückt, völlig verrückt! Trotzdem streckte ich die Arme soweit es ging nach vorne. Nur ein paar Zentimeter, dann könnte ich ihn berühren. Ein paar Zentimeter, die ich einfach nicht überwinden konnte, so sehr ich mich auch streckte.

„Spring!“, forderte er mich erneut auf.

Es ging nicht anders. Ohne dem Geschehen unter mir weitere Aufmerksamkeit zu schenken, stieß ich mich einfach ab.

Die Zeit schien stehen bleiben zu wollen. Einen Moment fühlte ich mich schwerelos. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich falle! Dieser Gedanke setzte sich wie ein Schrei in meinem Kopf fest. Es war ein Fehler, ich falle!

Doch ich fiel nicht. Im Bruchteil einer Sekunde umschlossen seine Hände meine Handgelenke in einem sicheren Griff. Leider zog ich ihn durch meine Gewicht und meinen Schwung ein Stück nach vorne.

Nein!

Steinchen rieselten von der Kante, Sand landete auf meinem Kopf. Unter mich fauchten Feuerlohen.

Ich würde fallen und ich würde ihn mit mir in die Tiefe reißen.

Das geschah nicht. Verbissen hielt er sich an der Kante fest und schien nicht mal in Erwägung zu ziehen, mich einfach loszulassen.

„Hör auf zu zappeln!“, fauchte er mich an.

Mein Blick schnellte wieder nach oben. Die Angst hatte mich fest in ihrem Griff. Ich hing hier mitten in der Luft, während unter mir das Feuer tobte und die Einhörner wütend wieherten. Und dann ging es plötzlich ein Stück aufwärts.

Der rote Mann biss die Zähne fest zusammen und zog mich hoch, während ich mich an ihm festkrallte und -mit den Beinen in der Luft - versuchte, irgendwo Halt zu finden. Doch da war nichts, ich musste mich ganz auf ihn verlassen. Und das war wohl das Schlimmste in dieser Situation.

Sehr langsam – nach meinem Geschmack viel zu langsam – robbte er Stück für Stück zurück und zog mich mit sich. Erst nur ein kleines Stückchen, aber sobald er die Ellbogen oben hatte, ging es leichter.

Dann war plötzlich noch ein Paar Hände da – viel kleiner und dünner. Der kleine Junge. Er griff meinen Arm und half dem Mann, mich nach oben zu ziehen. Erst nur der Oberkörper, dann der Rest.

Und dann lagen wir drei schwer atmend neben dem Loch, aus dem in der Zwischenzeit schwarzer Rauch zum Himmel hinaufstieg. Und auch wenn ich nun endlich in Sicherheit war, wollte mein Herzschlag sich einfach nicht beruhigen. Ich war gerade in einer Höhle fast von Einhörnern gefressen worden!

Und dann war dieser Mann gekommen und hatte mich gerettet. „Danke“, keuchte ich noch schwer atmend und stemmte mich auf die Arme. Meine Muskeln zitterten vor Anstrengung, aber das war im Moment völlig egal. „Du hast mir gerade das Leben gerettet.“ Wer konnte schon sagen, wie es ohne ihn ausgegangen wäre? „Ich bin dir wirklich sehr …“

„Hab ich dir nicht gesagt du sollst zurückbleiben?!“, fuhr der Mann in dem Moment das Kind an, das vorsichtshalber den Kopf einzog und ein wenig zurückwich.

„Ja, Papá.“

Ich blickte auf. Und erst jetzt, draußen im Sonnenlicht und ohne fleischfressende Pferde auf meinen Fersen, konnte ich ihn mir richtig ansehen. Die rote Haut war nicht vom Staub dieser Gegend eingefärbt, wie ich zuerst angenommen hatte, nein, sie war einfach rot. Ein dunkles Rot, das mich an Wein erinnerte – genau wie die des kleinen Jungen. Beide hatten keine Haare auf dem Kopf, weswegen ich die spitzen Ohren genau sehen konnte. Aber das wirklich bemerkenswerteste an den beiden waren diese Augen. Sie waren sehr dunkel, fast schwarz. Und sie schienen von innen heraus zu leuchten. Nicht wie bei einer Taschenlampe, nein, es war so eine Art Glanz, den ich mir nicht erklären konnte.

Sie waren wunderschön und lenkten mich beinahe so sehr ab, dass ich die lange Narbe an der Schläfe des Mannes fast übersah. Sie zog sich fast bis zum Kinn hinunter und war so ausgefranst und wulstig, dass ich mir sicher sein konnte, dass sie von keinem scharfen Gegenstand stammte. Mir kamen eher Krallen und Zähne in den Sinn.

Doch so durchtrainiert und großgewachsen, wie er gebaut war, hatte er sicher keine großen Probleme damit, wilde Tiere davonzujagen. Ganz im Gegensatz zu dem kleinen Jungen, der schmal und schmächtig wirkte.

Ich runzelte die Stirn. Das, was ich sah, konnte ich mir nicht erklären. Es war genauso seltsam wie alles, was ich seit meinem Aufwachen erlebt hatte. „Was seid ihr?“

Ohne zu antworten oder mich aus den Augen zu lassen, griff er zur Seite in den Sand. Dort hatte er seinen Speer hingelegt. Doch nun zeigte die Spitze direkt auf mich – und die war scharf.

Meine Augen weiteten sich ein kleinen wenig und mein Herz beschleunigte seinen Takt wieder.

Als er sich erhob, tat er das fast lauernd – so als erwartete er jeden Moment eine Attacke von mir. Sein Blick schien jede meiner Bewegungen zu studieren, doch da war nur das Heben und Senken meiner Brust, denn ich war wie erstarrt.

Ich hatte gesehen, wie er mit diesem Stock das Einhorn erstochen hatte. Es klebte sogar noch Blut daran. „Ähm …“

„Folg uns nicht“, befahl er und ging leicht in die Knie.

Sofort kam der Junge angelaufen und kletterte auf seinen Rücken, als hätte er das schon tausende von Malen gemacht, legte ihm die Arme um den Hals und schlang die Beine um seine Taille.

„Meine Schuld ist beglichen, Hexe“, sagte der rote Mann und wich vor mir zurück – immer weiter. „Wenn du uns nachläufst, werde ich dich töten.“

Mein Mund klappte auf. Er meinte das ernst. Ich sah es an dem Ausdruck in seinem Gesicht. Ja, er hatte mich gerettet, doch nun glaubte ich, in seinen Augen etwas wie Angst zu erkennen. Und sollte ich zu ihm gehen, würde er sicher seinen Speer benutzen.

Mein Puls hatte sich gerade erst ein wenig beruhig, aber nun schnellte er wie eine Rakete wieder nach oben. „Aber … warum?“ Ich musste das einfach fragen, denn ich verstand es nicht.

Der Mann antwortete nicht. Langsam ging er rückwärts, die Augen und den Speer immer auf mich gerichtet. Doch irgendwann wirbelte er herum und dann rannte er einfach fort.

Einem Impuls folgend, sprang ich auf die Beine und wollte hinterher, doch schon nach einem Schritt stoppte ich wieder.

Wenn du uns nachläufst, werde ich dich töten.

Ich konnte nichts anderes tun als dazustehen und zuzugucken, wie er immer kleiner wurde, bis er in der Ferne verschwand. Und ich blieb zurück, mit einem rauchenden Loch und fehlender Erinnerung.

 

°°°

 

Das zerklüftete Land, das sich vor mir erstreckte, erschien mir so unwirklich, dass es mich völlig gefangen nahm. Es hatte eine grausame Schönheit, die mich entfernt an das australische Outback erinnerte. Es war heiß und erbarmungslos, gemischt mit einer Prise der Sahara. Es wirkte genauso unwirklich wie der rote Mann.

Ich senkte meinen Blick. Die Luft war so brennend, dass sie in der Ferne flimmerte und mir Trugbilder schickte. Für einen kurzen Moment hatte ich sogar geglaubt, dass der rote Mann zurückkam, doch es waren nichts weiter als die vertrockneten Überreste eines knochigen Baumes gewesen, hinter dem sich die endlose Weite dieses Landes ausdehnte.

Die karge Fläche erstreckte sich bis zum Horizont und berührte dort einen Himmel von einem solch strahlenden Blau, als hätte ein Maler die Farbe dort mit viel Liebe hingepinselt – so wirkte das Land in der Richtung, in der mein Retter verschwunden war.

Seufzend drehte ich mich um. Jetzt lag vor mir der Abhang des Plateaus. Hier wirkte dieses Outback nicht ganz so unwirklich. In weiter Ferne war die zerklüftete Kette eines Gebirges zu erkennen. Der Boden, der dorthin führte, war rissig und ausgetrocknet und nur von einer spärlichen Flora bedeckt. Ich erkannte Affenbrotbäume, Dornenbüsche und Akazien. Zumindest glaubte ich, dass es sich um diese Pflanzen handelte, denn sicher sein konnte ich mir nicht. Im Moment konnte ich mir über gar nichts sicher sein. 

Mit den Augen suchte ich die scheinbar endlose Weite um mich herum ab. Ich hoffte auf etwas, das mir sagen würde, was ich nun tun, oder wohin ich mich wenden sollte, doch da war nichts außer dieser Wildnis in dieser Hitze.

In der letzten Stunde war es so heiß geworden, dass die Luft zu flimmern begonnen hatte und mir der Schweiß in Strömen über die Schläfen lief. Nicht mal der Schatten der zwei Bäume, in dem ich mich niedergelassen hatte, brachte wirklich Kühlung. Die Luft war einfach zu heiß. Zu gerne wäre ich wieder hinunter in die Höhle gegangen. Die Einhörner waren schon vor einer Weile verschwunden, aber es qualmte noch immer aus dem Loch. Wahrscheinlich wäre es da unten im Moment sowieso kaum kühler als hier oben.

Über meine eigenen Gedanken konnte ich nur den Kopf schütteln. Einhörner - und dann auch noch fleischfressende. Dabei hatten sie so wunderschön ausgesehen. Ihre Felle waren so glänzend gewesen und erst das Horn. Doch ihre Augen …

Bei der Erinnerung daran überlief mich eine Gänsehaut. Das waren nicht die zartfühlenden Wesen gewesen, wie ich sie aus Märchen kannte. Diese Tiere waren nur eines: Raubtiere. Und sie hatten Hunger gehabt.

Wie es dem Mann und seinem Kind jetzt wohl ging? Wohin waren sie unterwegs? Vielleicht waren sie ja so etwas wie Eingeborene. Die Klamotten jedenfalls würden zu dieser Theorie passen. Die beiden hatten nur Hosen aus Tierleder getragen, was mich sehr entfernt an indianische Kleidung erinnerte.

Aber was mir wirklich nicht aus dem Kopf ging, waren diese leicht schrägstehenden Augen. Sie faszinierten mich und ließen den Mann auf eine exotische Weise sehr gut aussehen. Oh je, wo war ich nur mit meinen Gedanken?

Schnaubend warf ich den Kopf in den Nacken und blickte mit zusammengekniffenen Augen hinauf in den Himmel. Zwei Sonnen standen dort oben. Ich hatte sie entdeckt, kurz nachdem ich allein in dieser Einöde zurückgelassen worden war.

Sonnen. Mehrzahl.

Kein Wunder, dass es so heiß und trocken war.

Plötzlich behaupteten alle, dass sie niemals in diesem Rehabilitationszentrum war, sondern in einer anderen, magischen Welt. Einer Welt, in der es von Wesen aus Märchen und Mythen nur so wimmeln sollte.

Langsam kamen mir die seltsamen Worte aus dem Brief gar nicht mehr so abwegig vor. Sie würden auf jeden Fall ein paar Dinge erklären. Warum nur hatte ich ihn zurückgelassen und mir nicht in die Hosentasche gesteckt? Das Feuer dort unten hatte er sicher nicht überlebt, doch bevor ich nicht nachgesehen hatte, konnte ich mir nicht sicher sein. Ich würde noch einmal hinuntergehen, denn ich musste es wissen. Aber zuerst musste das Feuer erlöschen, dann konnte ich mir überlegen, wie es weitergehen sollte.

Doch was sollte ich bis dahin tun? Hier draußen in der Hitze zu stehen, erschien mir nicht besonders schlau – nicht bei meiner hellen Haut. Wenn nur der rote Mann nicht verschwunden wäre. Er könnte mir meine Fragen wahrscheinlich beantworten – zumindest ein paar. Doch jetzt war ich auf mich alleine gestellt und wusste einfach nicht, was ich tun sollte.

Ich brauchte den Brief. Sicherlich würde dort etwas Nützliches drinstehen. Vielleicht ein Hinweis – wenn auch nur ein kleiner. 

 

°°°

 

Noch immer lag der Geruch von Ruß und Verkohltem in der Luft, doch das Feuer hatte sich bereits alles geholt, was es hier gab. Die Nahrung war ihm ausgegangen und damit auch sein Leben. Nur ein paar kleine Glutherde erinnerten noch daran, was hier vorgefallen war.

Vorsichtig schob ich die verkohlten Trümmer eines Holzscheits mit der Spitze meines Schuhs zur Seite und seufzte enttäuscht auf. Das waren keine Reste des Briefes, das war nur irgendwelcher Unrat, der sein Ende in dieser Höhle fristete. Ich hatte es ja befürchtet; der Brief war verloren und damit auch das ganze Wissen, das er enthalten hatte.

Was sollte ich denn jetzt nur tun?

Mutlos ließ ich meinen Blick durch die Höhle wandern. Die Einhörner hatten wirklich alles zerstört, was sie erreichen konnten. Vorher hatte man noch erahnen können, was die einzelnen Dinge gewesen waren. Nun war nichts als Asche übrig. Doch es gab auch Sachen, denen das Feuer nichts hatte anhaben können, und diese suchte ich nun.

Das kleine Taschenmesser war mir bereits in die Hände gefallen und auch den Stift hatte ich unter etwas Undefinierbaren hervorgezogen. Doch er war so zusammengeschmolzen, dass er nicht mehr zu verwenden war. Selbst den Rucksack hatte ich ausgebuddelt und noch ein paar andere Sachen, die darin enthalten gewesen waren. Leider waren die Überreste alle zu nichts mehr zu gebrauchen.

Seit nun schon einer halben Ewigkeit durchsuchte ich die Überbleibsel, doch es war nichts mehr da. Kein Essen. Keine Wasserflasche. Meine Kehle wurde allein bei dem Gedanken daran trocken. In dieser Hitze brauchte ich Wasser – und zwar ganz dringend. Doch die Flaschen waren geschmolzen und das Wasser ausgelaufen.

Wieder bückte ich mich nach einem Haufen, schob das warme Holz zur Seite und grub, in der Hoffnung auf etwas, das mir wirklich helfen konnte, aber auch hier war nichts mehr zu finden – gar nichts. Ich musste es einsehen. In dieser Höhle gab es nichts mehr außer verkohlten Überresten.

Ich spürte, wie meine Augen zu brennen begannen. Was sollte ich denn jetzt nur machen? Ich wusste nicht, wie ich hierhergekommen war. Ich wusste nicht einmal, wo hier war. Befand ich mich nun wirklich in einer magischen Welt, so wie es der Brief angedeutet hatte, oder träumte ich einfach nur? Aber wenn das kein Traum war, wenn das die Wirklichkeit war, wenn ich mein Gedächtnis verloren hatte, woher sollte ich dann wissen, was nun zu tun war? Woher sollte ich wissen, was real war und was nicht?

Mir blieb nichts, keine Antworten. Alles, was ich jetzt noch besaß, war das Taschenmesser in meiner Hand und eine wage Erinnerung an die wenigen Worte aus dem Brief. Doch hier rumzustehen und zu grübeln brachte mich auch nicht weiter. Ich brauchte Hilfe, ich brauchte jemanden, der mir erklären konnte, was um mich herum vor sich ging. Nur wo sollte ich so jemand finden? Ich hatte Stunden auf dem Plateau gesessen und in die Ferne gestarrt, aber bis auf ein paar Eidechsen mit sechs Beinen und ein paar Bäume hatte ich nichts gesehen. Trotzdem musste es dort draußen noch jemanden geben. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass dieses Land bis auf mich und den roten Mann leer sein sollte. Das wäre dann doch zu viel des Zufalls gewesen.

Hier gab es sicher eine kleine Ortschaft oder eine Stadt. Ich musste sie nur ausfindig machen. Und das würde mir nicht gelingen, wenn ich weiter hier rumstand und Müllberge durchforstete.

Entschlossen blinzelte ich das Brennen in meinen Augen zurück und trat aus der stickigen Luft der Höhle hinaus unter die heißen Wüstensonnen.

Sonnen.

Ich konnte es immer noch nicht fassen. Seltsamerweise beunruhigte mich dieser Gedanke nicht so sehr, wie er eigentlich sollte. Ganz im Gegenteil, irgendwie … faszinierte er mich sogar. Wenn das hier wirklich eine Welt voller Magie war, dann wäre das doch phantastisch – irgendwie.

Was war ich nur für ein Mensch, dass mich dieses Unbekannte nicht ängstigte?

Wenn ich es nur herausfinden könnte. Wenn es nur einen Weg gäbe, an meine Erinnerungen zu kommen. Vielleicht wäre dann alles viel einfacher.

Im Schatten der Bäume versuchte ich mich ein wenig zu orientieren. Welche Richtung sollte ich einschlagen? Ich konnte wieder das Plateau erklimmen und versuchen, den Weg zu finden, den der rote Mann genommen hatte. Aber dort schien das Land so endlos zu sein, dass ich sehr leicht die Orientierung verlieren konnte. Nein, ich brauchte ein Ziel, etwas, nach dem ich mich richten konnte.

Meine Augen suchten das Gebirge in der Ferne. Wahrscheinlich würde ich dort eher auf Menschen treffen als irgendwo mitten im Nirgendwo. Andererseits wusste ich, dass es in der anderen Richtung jemanden gab.

Wenn du uns nachläufst, werde ich dich töten.

Nein, es war besser, wenn ich mich an das Gebirge hielt. Wahrscheinlich wäre der Weg dorthin auch einfacher.

Okay, es war entschieden.

Gerade wollte ich mich in Bewegung setzen, als ich ein seltsames Flattern im Wind hörte. Es war nur ganz leise und hätte ich mich nicht gedreht, wäre es mir wahrscheinlich gar nicht aufgefallen. Ich konnte auch nicht sagen, warum es mich stutzig machte – vielleicht einfach, weil es nicht in die Umgebung passte – doch ich drehte mich um meine eigene Achse, um den Ursprung auszumachen. Dann entdeckte ich es.

Halb hinter einem Baum verborgen, verheddert in einem Büschel Stachelkopfgräser, hingen die angekokelten Überreste eines Papiers. War es wirklich möglich, dass es das war, was ich zu sehen glaubte?

Nur zwei Schritte, dann hielt ich es in meinen Händen.

Der untere Teil war vollkommen verschwunden, abgefackelt, und die Seiten waren mit deutlichen Brandspuren versehen. Aber ich erkannte die feine, saubere Handschrift. Meine Handschrift – zumindest wenn es stimmte, was darin geschrieben stand.

Es war der Brief!

Der Wind musste ihn hinausgeweht haben, bevor das Feuer ihn gänzlich vernichten konnte.

Zu meiner Enttäuschung war es aber der Teil des Briefes, den ich schon kannte, bis hin zu der Stelle, an der ich diesen Sven aufgesucht hatte. Der Rest fehlte. Doch einen kleinen Lichtstreifen gab es noch. Der Brief war beidseitig beschriftet gewesen.

 

…ießen sie einfach zurück. Doch das war für sie auch sowas wie Glück gewesen. So konnte sie nicht nur lernen, was es bedeutete, in dieser Welt zu leben; sie hatte auch Einblick hinter die Kulissen des Wesensmeisters. Und das half ihr dabei herauszubekommen, wer hinter Islas Verschwinden steckte – zumindest glaubte sie das zu diesem Zeitpunkt noch, denn zum Schluss ist wohl alles anders gekommen.

Tal hat nicht genau erklärt, was diese Worte zu bedeuten hatten. Ich glaube, das hat etwas mit ihrem Mafiafreund zu tun, doch egal, was es war, es half ihr nicht, nach Hause zu kommen.

Aber darum geht ja auch gar nicht. Die Kernaussage ist immer noch die, dass sie in der ganzen Zeit angeblich mit Wesen zusammen war, die es einfach nicht geben konnte. Ich meine, es wäre doch schon irgendwie faszinierend. Wenn ich mir das nur vorstelle, Magie in Hülle und Fülle. Was man damit nicht alles tun könnte! Obwohl Talita ja angeblich eine Werkatze ist. Die können nicht zaubern. Ich weiß nicht mal, ob sie - außer ihre Gestalt zu wechseln - überhaupt etwas können. Vielleicht Haarbällchen spucken.

Andererseits wäre es schon irgendwie toll, wie eine Katze nachts durch die Gegend schleichen zu können.

Ich wünschte wirklich, ich könnte all diese Geschichten glauben. Es wäre immer noch besser, als hier zu bleiben und diesen Schmerz zu ertragen. Talita glaubte sie. Ich weiß nicht, was während ihrer Abwesenheit mit ihr geschehen ist, aber sie glaubte wirklich daran. Ich merkte es daran, wie sie mit mir sprach, oder hörte es in Momenten, wenn sie sich mit ihrem Mafiafreund alleine glaubte. Sie redeten über diese magische We…

 

Und hier endete der Text. Der Rest war verbrannt.

Vor Enttäuschung drückte ich die Lippen aufeinander. Die ganze Zeit hatte ich gehofft, dass dort irgendetwas Wichtiges stehen könnte, das mir in meiner Situation weiterhalf, doch da war nur noch mehr Gerede von einer magischen Welt und dass ich nicht daran glaubte.

Aber wenn ich es nicht glaubte, warum war ich dann eigentlich hier? Wenn ich wirklich Tiara war, musste ich doch einen Grund gehabt haben, warum ich mich dazu entschlossen hatte, mich auf den Weg zu machen. Der Brief und auch der vollgepackte Rucksack deuteten darauf hin, dass ich mich vorbereitet hatte.

Was hatte meine Meinung geändert? War etwas vorgefallen, das mich auf diesen Weg führte? Oder war es schlicht und ergreifend Neugierde gewesen? Aber laut des Briefes war ich bereits zweiundzwanzig Jahre alt. In dem Alter jagte man doch nicht mehr kopflos irgendwelchen Hirngespinsten hinterher. So kam ich nicht weiter. Ich musste einen anderen Menschen finden. Vielleicht könnte der mir verraten, was hier eigentlich los war.

Kopfschüttelnd faltete ich den Brief zusammen und steckte ihn in meine Hosentasche. Vielleicht brachte er nicht viel, aber er war der einzige Anhaltspunkt, den ich noch hatte.

Ich versuchte, meine Gedanken daran zur Seite zu schieben, denn ich musste mich nun auf das konzentrieren, was vor mir lag. Eine Wanderung durch die Wüste. Ohne Wasser, ohne eine Ahnung, wohin ich eigentlich gehen sollte.

Einen Moment zögerte ich. Vielleicht wäre es besser, einfach hier zu bleiben und darauf zu warten, dass mich jemand fand. Aber ich hatte hier bereits Stunden zugebracht, ohne auch nur eine Menschenseele in der Ferne zu erblicken. Naja, außer dem roten Mann. Leider würde er nicht zurückkommen – da war ich mir sicher. Seine gute Tat des Tages hatte er ja bereits hinter sich gebracht. Für ihn gab es also keinen Grund, nochmal hier aufzutauchen. Und wenn ich an den Funken von Angst dachte, den ich in seinen Augen entdeckt zu haben glaubte, war ich mir auch sicher, dass er in Zukunft einen großen Bogen um mich machen würde – warum auch immer.

Nein, hier zu warten würde mich nicht weiterbringen. Ich musste es auf eigene Faust versuchen. „Na, dann mal los.“

Damit trat ich aus dem Schatten in die sengende Wüstenhitze.

 

°°°

 

„Sag allen hier, ich bin unterwegs, es gibt so viel Neues zu seh´n. Der Himmel ist blau, ich bin unterwegs, ich möchte gar nicht anderswo …“ Mein gemurmeltes Lied verstummte, als plötzlich trockener Wind aufzog und mir den Sand nicht nur in den Mund, sondern auch in die Augen wehte und mir gar nichts anders übrig blieb, als mich hustend abzuwenden, bevor ich einen ganzen Sandkasten in der Kehle hatte.

Das war in den letzten Stunden schon häufiger passiert. Aber mittlerweile hatte meine Kraft nachgelassen und jeder weitere Windwirbel war nur noch anstrengend.

Nicht zum ersten Mal überlegte ich, ob es nicht vielleicht doch ein Fehler gewesen war, die Höhle zu verlassen. Zumindest in dieser Hitze. Nachts wäre es sicher kühler gewesen. Hinzu kam, dass mir noch immer meine Seite vom Sturz in der Höhle wehtat. In der Zwischenzeit hatte sich dort ein hübscher, blauer Fleck gebildet. Ein Glück für mich, dass ich mir dabei nicht die Rippen angeknackst hatte. Schmerzhaft war es trotzdem.

So gut es ging, wischte ich mir den Sand aus dem Gesicht. Schweiß lief mir über die Schläfen. Die Sonnen brannten erbarmungslos auf mich nieder und zerrten an meinen Kräften. Ich hatte bereits mein Shirt ausgezogen und es mir um den Kopf gewickelt, doch auch der Gang in BH machte diese sengende Hitze nicht besser. Meine einzige Zuflucht war im Moment der große Felsen weiter vor mir. Dort würde ich hoffentlich ein wenig Schatten finden. Vielleicht sogar genug, dass ich bis zur Nacht dort ausharren könnte.

Ich setzte meine Beine wieder in Bewegung. Mittlerweile waren sie schwerfällig geworden und der lockere Sand machte es mir auch nicht einfacher. Außerdem war meine Kehle völlig ausgedörrt. Selbst das Schlucken war unangenehm.

Schweiß und Staub hatten sich zu einer unangenehmen Mischung auf meiner Haut verbunden und ließen sie jucken. Es war beinahe unerträglich. Sand und Dreck schienen in jeder Pore zu kleben. Und der Wüstenboden war so heiß, dass ich die Wärme durch die Schuhe spüren konnte.

Seit Stunden war ich nun schon unterwegs. Um das zu wissen, brauchte ich keine Uhr. Der Nachmittag war sicher schon angebrochen und an dem war es ja bekanntlich am wärmsten.

Zielstrebig lief ich die letzten Meter, die mich noch von meinem schattigen Plätzchen trennten, und ließ mich dann aufatmend in den warmen Sand sinken. Oh ja, das tat gut. Für diese kleine Pause bedankten sich auch meine Beine. Genau wie meine Schuhe waren sie von dem roten Sand eingefärbt. Ich wollte lieber gar nicht wissen, wie der Rest von mir aussah. Obwohl, eigentlich wollte ich das doch.

Es war immer noch seltsam, nicht zu wissen – nicht richtig zu wissen – wie man selbst aussah. Ich hatte lange, blonde Haare, aber die Form meines Gesichts verblasste vor meinem inneren Auge bereits wieder. Wie kam es eigentlich, dass ich einerseits wusste, wie eine Wüste aussah oder was ein Stein war, während ich keine Ahnung hatte, ob Tiara wirklich mein Name war? War das nicht so eine Art von Gedächtnisschwund? Hieß es, dass ich krank war oder einen Unfall hatte? Vielleicht lag ich ja sogar im Koma und träumte das alles wirklich nur.

Aber es wirkte so real.

Ich wollte nicht glauben, dass diese unwirkliche Wildnis mit ihren seltsamen Bewohnern nur eine Ausgeburt meiner Phantasie war. Aber genauso wenig konnte ich glauben, dass ich mich in der Realität befand. Es war einfach zu abwegig. 

Seufzend lehnte ich mich mit dem Rücken gegen den hohen Felsen und zuckte sofort mit einem Zischen davor zurück. Oh nein, bitte nicht.

Bei dem Versuch, mir meinen Rücken anzusehen, verdrehte ich mir beinahe den Hals, doch ein einfacher Blick auf meine Schultern reichte bereits aus, um mich in meinem Verdacht bestätigt zu sehen. Ich hatte einen Sonnenbrand – und zwar einen richtig üblen. Damit hätte ich eigentlich rechnen müssen.

Jetzt wusste ich genau, wie ich aussah: wie ein Krebs.

Bei dem Gedanken zuckte doch tatsächlich mein Mundwinkel. Tja, solange ich noch Sinn für Humor hatte, war noch nicht alles verloren.

Da mein Rücken es sicher nicht gutheißen würde, wenn ich es noch mal wagen sollte, mich anzulehnen, zog ich die Knie an die Brust und legte den Kopf darauf, wie schon oben auf dem Plateau. Und wieder war mein Blick in die Ferne gerichtet.

Würde diese schreckliche Hitze mich nicht so quälen, könnte das hier eine der schönsten Landschaften sein, die mir jemals zu Gesicht gekommen waren. Rau und wild. Die Natur in ihrer ganzen Ausstrahlung. Obwohl, selbst die Sonnen passten dazu. Genau wie der rote Mann. Nur ich gehörte hier nicht her. Zumindest nicht, solange meine Erinnerung mir verschlossen blieb.

Andererseits hatte ich mich doch vorhin erinnert. An Taylor. Dieser kurze Moment, der aufgeblitzt war, schwirrte noch immer durch meine Gedanken. Das war doch eine Erinnerung gewesen, oder? Es hatte sich jedenfalls so angefühlt. Aber dann wäre die Aussage, dass ich mich an nichts erinnern könnte, falsch. Oder hatte es dafür einen Auslöser gegeben? Aber welchen?

Ich hatte auf dem Boden gesessen und den Brief gelesen und da hatte sein Name gestanden. Aber ich hatte auch andere Namen gelesen und bei denen war nichts geschehen. Warum? Hatte ich meinem Bruder näher gestanden als jedem anderen Menschen? Aber ich war doch ein eineiiger Zwilling. Hieß es nicht immer, dass Zwillinge am stärksten miteinander verbunden waren?

Mist, so kam ich nicht weiter.

Ich schloss die Augen und dachte an diesen Weihnachtsabend. Ich hatte mich wirklich elend gefühlt, als ich herausgefunden hatte, dass unter dem roten Mantel mein Vater steckte. Doch auch, wenn ich genau vor Augen hatte, wie ihm der Bart von der Oberlippe gerutscht war, so blieb sein Gesicht doch verschwommen. Nur das von Taylor stach heraus.

„Taylor.“

Ohne anzuklopfen, riss ich die Tür zu Taylors Zimmer auf und stürmte hinein. Und blieb sofort wie angewurzelt stehen. Die neue blöde Freundin von meinem Bruder zog blitzschnell ihr Shirt herunter, während Taylor in seinem Bett zu mir herumwirbelte.

„Verdammt, Tia! Hast du noch nie etwas von Anklopfen gehört?!“

Ich zog den Kopf ein. Wenn mein Bruder so mit mir sprach, war er wirklich sauer auf mich. Dabei wollte ich ihm doch nur den tollen Käfer zeigen, den ich im Garten gefunden hatte. Ich konnte doch nicht wissen, dass es gerade mit der blöden Ziege kuschelte. „Tut mir leid“, flüsterte ich und senkte den Kopf, damit er die Tränen nicht sah, doch das leise Schniefen hörte er trotzdem.

„Mann Tia, das war …“

„Ich mach’s nie wieder“, versprach ich und rannte aus seinem Zimmer.

„Nein Tia, warte. Tiara.“

Warum nur musste ich immer so schnell weinen?

Ich blinzelte in den strahlenden Tag. Das war noch eine Erinnerung gewesen, ich fühlte es ganz genau. Und wieder war es darin um Taylor gegangen. Das Gesicht seiner Freundin dagegen blieb ein verschwommener Fleck im Nebel.

Aber wie …? Natürlich, ich hatte seinen Namen laut ausgesprochen. So war es auch in der Höhle gewesen. War das wirklich der ganze Trick mit der Erinnerung? Brauchte ich nur etwas laut auszusprechen und schon war alles wieder da?

„Taylor“, flüsterte ich ein weiteres Mal.

„Vielleicht ein Springbock?“, überlegte Taylor.

Ich schüttelte den Kopf und machte kniend auf dem Boden ein weiteres Mal einen Buckel.

Taylor sah es sich geduldig an, doch irgendwann schüttelte er den Kopf. „Nein, keine Ahnung, was das sein soll.“

„Eine Katze. Das ist eine Katze, die einen Buckel macht.“ Wütend stand ich auf und setzte mich mit verschränkten Armen neben meinen unwissenden Bruder. Scharade spielen machte keinen Spaß, wenn ich mit ihm in einer Gruppe sein musste. Er war so schlecht darin, dass Papa und Tal eigentlich schon gewonnen hatten, bevor die erste Runde überhaupt beendet war.

Es funktionierte. Ich konnte es nicht glauben, aber es funktionierte wirklich.

Aufgeregt griff ich in meine Hosentasche und zog die Reste des Briefes hervor. Da hatten auch Namen drauf gestanden. Ganz viele sogar. Ich nahm den ersten Namen, gleich das fünfte Wort: „Tal.“

Mit hängendem Kopf saß Tal in der Klasse auf ihrem Platz und starrte auf das Zeugnis auf dem Tisch. Der Unterricht hatte gerade geendet, doch ich konnte sie einfach nicht dazu bewegen, sich zu erheben. „Damit kann ich den Ausflug am Wochenende vergessen. Papa wird mich niemals mit zum Zelten nehmen.“

Ich konnte nur den Kopf schütteln. „Wegen einer drei? Wir wissen doch alle, dass du kein Ass in Sport bist.“

So böse, wie sie mich anguckte, waren das wohl nicht die Worte, die sie hören wollte.

„Außerdem magst du Zelten doch sowieso nicht besonders.“ Ich lehnte mich gegen den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Es ist immer noch besser, als den ganzen Tag zu Hause zu sitzen und büffeln zu müssen.“

„Ganz ehrlich, Tal, Sport lässt sich im Wald beim Zelten besser büffeln als zu Hause an deinem Schreibtisch.“

Ich konnte es spüren, meine Verbindung zu ihr und auch den unbedingten Wunsch, sie zu beschützen. Ich hatte eine Schwester, eine eineiige Zwillingsschwester. Und auch wenn ich das seit dem Moment wusste, in dem ich diesen Brief das erste Mal gelesen hatte, so konnte ich es doch jetzt erst spüren. „Tal“, flüsterte ich erneut.

Tals Lachen wurde auf seltsame Weise von den Spiegeln zurückgeworfen.

Ich war es gewohnt, uns doppelt im Spiegel zu sehen, doch dieses Spiegelkabinett war irgendwie unheimlich. Plötzlich gab es uns hundertfach. Manchmal sahen wir lustig aus, manchmal auch gruselig. Aber wir waren plötzlich so viele, dass ich meine Schwester nicht mehr ausmachen konnte. „Tal, wo bist du?“

„Ich bin hier!“, antwortete sie sofort und lachte wieder, doch egal, wie sehr ich meine Augen anstrengte, ich wusste nicht, wer die echte Tal war.

Tränen begannen in meinen Augen zu brennen. Ich wollte hier nicht alleine umherirren. Warum nur hatte ich ihre Hand losgelassen? „Wo denn?“

„Na hier.“ Hundertfach winkten mir ihre Spiegelbilder zu. „Hier, Tia, ich bin hier!“ Und dann rannte sie einfach los.

„Tal, nicht so schnell!“

Ich erinnerte mich an diesen Moment. Ich hatte Tal fast verzweifelt gesucht, doch sie hatte erst Halt gemacht, als sie mich weinen gesehen hatte. Ich konnte allerdings nicht sagen, wie ich in dieses Spiegelkabinett hinein- oder wieder aus ihm hinausgelangt war. Diese Erinnerungen, sie waren nur klitzekleine Bruchstücke meines Lebens.

Es war wie ein Puzzle. Ein paar Teile hatte ich schon gefunden und an die richtigen Stellen gelegt, doch solange die andern fehlten, würde es niemals ein ganzes Bild ergeben. Es mussten noch tausende fehlen. Ganze Jahre und Jahrzehnte.

Wie lange würde es dauern, die ganzen Erinnerungen auf diese Art zurückzubekommen? Vielleicht nur ein paar Tage. Vielleicht aber auch mein ganzes Leben. Würde es mit der Zeit einfacher werden?

Ich starrte den Namen meiner Schwester an. Natürlich würde ich auf diese Art einiges über sie rausbekommen, aber wie halfen mir im Moment Kindheitserinnerungen weiter? Es war natürlich schön, solche Erinnerungen zu haben, aber …

Eine Bewegung, die ich aus dem Augenwinkel wahrnahm, ließ mich aufblicken.

Nur ein paar Meter von mir entfernt saß ein Tier im Wüstensand und hob witternd die Nase in die Luft, als versuchte es herauszufinden, was ich war.

Umgekehrt war es genauso. Das Tierchen sah aus wie ein Fennek, ein schlanker Wüstenfuchs mit sehr großen Ohren und kurzem Fell, das so rot war wie der Sand. Es schien noch sehr jung zu sein, noch ein halbes Baby. Die großen, schwarzen Knopfaugen glänzten in der Sonne und im Gegenteil zu mir schien ihm die Hitze nichts auszumachen. Jedenfalls blieb es einfach in der knallenden Sonne sitzen und beobachtete mich.

War das wirklich ein ganz normaler Fennek, oder würde er sich gleich in ein riesiges Raubtier verwandeln? Heute war wirklich alles möglich.

Um sicherzugehen, faltete ich den Brief langsam zusammen und steckte ihn vorsichtig zurück in meine Hosentasche. Ich wollte kein Risiko eingehen, falls ich plötzlich losrennen müsste. Doch das kleine Tierchen hatte seine Augen nur aufmerksam auf mich gerichtet. Es rannte nicht fort, kam aber auch nicht näher. Das war doch gut, oder?

Trotzdem, diesen Funken von Misstrauen konnte ich einfach nicht beiseiteschieben. Als es sich plötzlich erhob, sah ich mich in meiner Vermutung doch bestätigt. Nicht der, dass dieses kleine Wesen ein bösartiges Monster war, sondern jener, dass es sich von den Fenneks unterschied, die ich kannte. Dieses hier hatte zwei buschige Schwänze, die es steil nach oben richtete, als wollte es damit größer wirken.

Es drehte den Kopf, stellte die Ohren auf und gab dann ein Geräusch von sich, das mich an ein melodisches Zirpen erinnerte. Zweimal tat es das, dann blickte es mich wieder an, nur um gleich wieder wegzusehen und die Ferne anzuzirpen.

Ich folgte dem Blick, musste aber die Augen zusammenkneifen, um in der flimmernden Hitze etwas erkennen zu können.

Dort hinten, weit von mir entfernt, wehte eine dicke rote Staubwolke über den Boden. Aber nicht wie von diesen kleinen Sandwehen, sondern so, als ob sich dort etwas sehr schnell fortbewegen würde. Sofort dachte ich an ein Auto und ein Auto bedeutete Menschen. Ich sprang auf die Beine – was meinen kleinen Fuchs einen überraschten Sprung nach hinten machen ließ – und rannte ein paar Schritte.

Doch genauso plötzlich, wie ich losgelaufen war, stoppte ich auch wieder. Was, wenn das gar kein Auto war? Was, wenn das überhaupt nichts mit Menschen zu tun hatte? Es konnten genauso gut wieder die Einhörner oder andere gefährliche Tiere sein. Und wenn ich jetzt darauf zulief, wäre ich nicht nur die bisherige Strecke umsonst gelaufen, sondern würde mich auch noch als Mahlzeit anbieten.

Nein, es war besser, an meinem Plan festzuhalten und weiter auf das Gebirge zuzulaufen. Dort jemanden zu finden war immer noch wahrscheinlicher als hier draußen in diesem erbarmungslosen Nichts.

„Zeit zu gehen“, sagte ich leise, als mein Entschluss stand, und warf dem Kleinen einen Blick zu. „Oder was meinst du?“

Er zirpe, blickte in die Richtung der Staubwolke und machte ein paar Schritte rückwärts – weg von dem Ungewissen, was dort lauern konnte.

Tja, es hieß doch immer, dass Tiere ein besseres Gespür als Menschen hatten, und das war wohl ein eindeutiges Zeichen. Ich schaute noch einmal in die Ferne und drehte ihr dann den Rücken zu. Die Pause war beendet.

Was ich nicht sofort bemerkte, war, dass der zweischwänzige Fennek mir mit einigem Abstand folgte. Doch da von ihm keine Gefahr auszugehen schien, jagte ich ihn nicht davon.

Außerdem wanderte es sich zu zweit doch gleich viel besser.

 

°°°

 

Sahara und Arktis. Diese beiden Orte waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht, Sommer und Winter, Ying und Yang. Und dieser Ort hielt es genauso. Den ganzen Tag hatten die Sonnen brutal auf mich runtergeschienen und an meinen Kräften gezerrt. Erst in der Dämmerung war es etwas angenehmer geworden. Doch jetzt war das Dunkel der Nacht über mir zusammengebrochen und wurde nur von den fernen Sternen am Firmament erhellt. Und mit der Dunkelheit war die Kälte gekommen.

Ich zog meine Beine ein wenig fester an meinen Körper, rieb meine Hände aneinander. Kleine Steinchen bohrten sich von unten in meinen Hintern und die Rinde des Baumes hinter mir war so trocken und rau, dass ich beinahe das Gefühl hatte, an grobem Sandpapier zu lehnen.

Gleichzeitig glühte meine ganze Haut. Der heftige Sonnenbrand machte es mir schwer, überhaupt eine Position zu finden, in der nicht mein ganzer Körper schmerzte. Dazu war die Müdigkeit, die mich in den letzten Stunden überfallen hatte, so allumfassend, dass ich sie bis tief in die Knochen spürte. Trotzdem konnte ich nicht schlafen.

Ich befand mich unter freiem Himmel und die Geräusche der Nacht ließen meine Augen immer wieder aufspringen. Ein Windstoß, ein fernes Heulen, das Rascheln der Zweige über mir.

Immer wieder suchte ich mit den Augen die Umgebung ab, aber ich hätte schon die Augen einer Eule benötigt, um weiter als zehn Meter sehen zu können.

Und das Schlimmste von allem war dieser schreckliche Durst. Meine Kehle war so ausgetrocknet, dass sie selbst eine Wüste sein könnte.

Hier einsam in der Nacht zu hocken, war entmutigend. Ich war den ganzen Tag durch diese sengenden Sonnen gelaufen und hatte nichts außer Sand, knochigen Bäumen und endloser Hitze gefunden. Kein Dorf, keine Stadt, keine Menschenseele.

Ich war allein. Naja, nicht ganz allein.

Mein Blick glitt zu der kleinen Mulde unweit von mir im Sand. Zwei lange Ohren schauten daraus hervor und zuckten in alle Richtungen, um auch jedes Geräusch in dieser Dunkelheit einfangen zu können. Der kleine Fennek war mir den ganzen Tag gefolgt. Ich hatte ihm zwar ein paar Mal erklärt, dass ich nichts zu essen für ihn hatte, aber das schien ihn nicht weiter zu interessieren.

Wo bekam er wohl sein Wasser her? Diese Frage hatte ich mir in den letzten Stunden mehr als einmal gestellt, doch leider konnten Tiere nicht sprechen und so blieb das sein kleines Geheimnis.

Seufzend legte ich meinen Kopf auf die Knie und schloss die Augen. Das würde eine lange Nacht werden.

 

°°°°°

Tag Zwei

 

Es war ein seltsamer Zirplaut, der mich langsam aus meinen unruhigen Träumen in das Jetzt und Hier beförderte. Meine Lider waren schwer und ließen sich kaum öffnen. Sand klebte mir in den Wimpern und bildete eine Kruste, die mir das Sehen noch erheblich erschwerte.

Ich blinzelte in die fahle Helligkeit des Morgens und brauchte einen Moment, um mich daran zu erinnern, warum ich mit brennender Haut neben einem Baum schlief. Als dann die Geschehnisse des gestrigen Tages zurückkehrten, hätte ich fast laut aufgelacht. Erinnern, das war fast ein schlechter Scherz.

Doch nach Lachen war mir nicht zumute. Meine Kehle war völlig ausgedörrt und mein Magen schmerzte vor Hunger. Wenn ich bald nicht wenigstens etwas Wasser fand, würde ich wirklich ein Problem bekommen.

Ein weiterer Zirplaut ließ mich den Kopf heben.

Wenige Meter von mir entfernt saß mein neuer Freund und starrte mich mit großen Augen auffordernd an. Als ich nicht reagierte, zirpte er noch einmal.

„Was ist los, kleiner Freund?“ Allein diese wenigen Worte taten schon weh. Meine Kehle kratzte so sehr, als hätte ich einen ganzen Sandkasten verschluckt. Aber wenn man bedachte, wo ich mich befand, war das vielleicht gar nicht so abwegig.

Der kleine Fennek richtete bei meiner Stimme die Ohren nach vorne und lauschte neugierig.

„Du hast nicht zufällig einen Schluck Wasser dabei, oder?“

Still beobachtete er mich. Es schien fast, als wollte er mich zu etwas auffordern.

„Hab ich auch nicht gedacht.“ Aber Hoffnung starb ja bekanntlich zum Schluss. Seufzend richtete ich mich auf und verzog dabei das Gesicht. Nicht nur, dass mir der Sand in der Zwischenzeit in jeder Pore zu kleben schien, selbst die kleinste Bewegung schmerzte mich. Es war nicht nur der Sonnenbrand, auch meine Muskeln wollten nach der Anstrengung des gestrigen Tages nicht so recht und der blaue Fleck an meiner Seite tat noch immer weh.

Die Nacht war nicht wirklich erholsam gewesen und die Erschöpfung steckte mir noch tief in den Knochen. Wenigstens war es noch nicht so heiß.

Mein Magen gab ein sehr vernehmliches Geräusch von sich, das den kleinen Fennek wieder die Ohren spitzen ließ.

Eine angenehme Brise wehte über das Land und strich mir beruhigend über die glühende Haut, während sich gleichzeitig eine Melodie auf meine Lippen schlich. „Vollkornbrot mit Goudakäse und Spaghetti Bolognese, eine Handvoll Erdbeeren mit Quark! Apfelstücke, dazu Nüsse, ab und zu mal Schokoküsse, das sind Dinge, die ich gerne mag.“

Der kleine Wüstenfuchs stand auf und neigte den Kopf leicht zur Seite.

Ich lächelte. „Kirschen, Kekse und Kakao, was mir schmeckt, weiß ich genau. Ich wünsche mir, dass jedes Kind mit Frühstück seinen Tag …“

Ein plötzlicher Knall in der Ferne ließ nicht nur mich vor Schreck zusammenzucken, sondern meinen kleinen Freund auch einen halben Meter in die Luft springen.

Ich wirbelte herum und zischte laut, als sich der Sonnenbrand bemerkbar machte. Doch das war vergessen, als ich die Ursache für den Knall fand.

Ein Scheinwerfer!

Das war der erste Gedanke, der mir bei diesem Anblick durch den Kopf ging. Aber das war kein Scheinwerfer. Es war … es war … im ersten Moment wusste ich nicht, wie ich es nennen sollte.

Eine Lichtsäule. In weiter Ferne fuhr eine blendende Lichtsäule zum Himmel. Sie war so gleißend hell, dass sie die morgendliche Dämmerung um sich herum vertrieb und ich die Augen ein wenig zusammen kneifen musste, um nicht geblendet zu werden.

Ich blinzelte. War das real, oder spielten meine Sinne mir aufgrund der Umstände einen Streich?

Wind kam auf und mit ihm eine seltsame Vibration, die mir verlockend über die geschundene Haut strich. Ein angenehmer Schauer lief mir über den Rücken und lähmte mich gleichzeitig. Ich war nicht fähig, mich zu bewegen oder gar den Blick abzuwenden.

Dieses Schauspiel nahm mich völlig gefangen.

Und dann musste ich zusehen, wie die Lichtsäule langsam ausdünnte, bis sie schließlich einfach erlosch. Der Wind erstarrte und über die Wüste legte sich eine geheimnisvolle Stille. Es schien, dass selbst die Natur den Atem anhielt und darauf wartete, was als nächstes geschehen würde.

Vielleicht dauerte es nur Sekunden, vielleicht waren es aber auch Minuten, doch mit dem Voranschreiten der morgendlichen Dämmerung begann auch das Leben, ins Outback zurückzukehren. Die Lichtsäule blieb verschwunden und nichts deutete drauf hin, dass sie jemals existiert hatte.

Hatte sie das vielleicht auch gar nicht? Vielleicht hatten meine Sinne mir wirklich nur einen Streich gespielt. Ich schaute zu meinem kleinen Verfolger. „Du hast es doch auch gesehen, oder?“

Er stellte wieder die Ohren auf und zirpte seinen hohen Ton.

„Ich werde doch nicht verrückt“, flüsterte ich zu mir selbst, auch wenn das all die seltsamen Dinge um mich herum erklären würde. Ich fühlte mich nicht verrückt. Erschöpft, ja, aber nicht verrückt. Mein Verstand war klar und meine sieben Sinne alle beieinander. Aber war es nicht so, dass Verrückte gar nicht begriffen, was mit ihnen los war?

Diese Gedanken waren müßig und brachten mich nicht weiter, da ich hier keine Antworten darauf finden würde. Doch der Nachhall dessen, was ich gerade gesehen hatte, lag noch immer auf meinen Augen. Was war das nur gewesen? Ich kannte nichts, was ich damit vergleichen konnte, außer … mein erster Gedanke war ein Scheinwerfer gewesen. Konnte ich damit vielleicht Recht gehabt haben? Aber er war so hell gewesen ...

Doch wenn es wirklich ein Scheinwerfer war, dann … dann musste es dort auch Menschen geben!

Bei dem Gedanken wurde ich ganz aufgeregt. Natürlich, egal was es gewesen war, dort musste es Menschen geben. Menschen erschufen schon seit Jahrtausenden Dinge, warum also nicht auch einen Hyperscheinwerfer?

Aber was, wenn es nicht so war? Wenn es etwas anderes war, etwas Gefährliches?

Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. War es sinnvoller, weiter Richtung Gebirge zu laufen, oder sollte ich mich lieber ins Unbekannte wagen? Obwohl das Gebirge ja im Grunde auch unbekannt war. Ich wusste nicht, was mich dort erwarten würde. Oder besser  gesagt - ob mich dort überhaupt etwas erwarten würde.

„Was meinst du, kleiner Freund?“

Der Fennek neigte den Kopf zur Seite, als versuchte er, meinen Worten einen Sinn zu geben.

Ich blickte hinauf in den Himmel. Noch war es angenehm, doch das aufkommende Blau kündigte bereits jetzt wieder von einem heißen Tag. Ich sollte mich bald entscheiden. Später würde mir das Vorankommen sicher schwerer fallen.

Also, Gebirge oder Scheinwerfer?

Eigentlich brauchte ich darüber nicht weiter nachzudenken. Die Entscheidung war bereits gefallen, als das Phänomen mich aufgeschreckt hatte. Ja, es könnte gefährlich sein, aber dort war etwas geschehen und dort, wo etwas geschah, musste es auch Leben geben. Das Gebirge dagegen lag die ganze Zeit nur ruhig vor mir und schien trotz meiner stundenlangen Wanderung kein Stück näher gekommen zu sein.

Eigentlich gab es nur einen Weg, herauszufinden, ob ich Recht hatte. „Na, dann mal los.“ Ich erhob mich vorsichtig und strebte dem Punkt in der Ferne entgegen, der die Dämmerung des Morgens für einen Augenblick in einen gleißenden Tag verwandelt hatte.

Der Fennek zirpte zweimal, streckte dann seine Schwänze in die Höhe und huschte mir hinterher – immer mit genügend Abstand. Dabei hüpfte und sprang er, als würde er sich freuen, dass wir endlich wieder unterwegs waren.

Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Der Kleine war wirklich noch sehr jung, ein halber Welpe, und wie es schien, würde er mir auch weiterhin folgen. „Na, hoffentlich führe ich uns nicht in die Irre.“

Das war wirklich zu hoffen, denn mein Durst quälte mich noch immer. Lange würde ich die Strapazen sicher nicht mehr durchhalten. Ich brauchte Wasser – dringend.

 

°°°

 

Die Sonnen brannten erbarmungslos auf mich nieder. Jeder weitere Schritt war ein Kampf, es fiel mir zusehends schwerer, die Füße zu heben und voreinander zu setzen. Sie waren so schwer. Ich musste mich dazu zwingen weiterzulaufen, jedes Mal aufs Neue. Die Erschöpfung hatte sich bis in meine Knochen gefressen. Wenn ich nur nicht solchen Durst gehabt hätte, vielleicht würde es dann einfacher sein.

Sand knirschte zwischen meinen Zähnen und rieb wie Schmirgelpapier über meine wunde Haut. Mit jedem weiteren Schritt wurde neuer Sand aufgewirbelt. Es piekte, juckte und kratzte. Dann noch die Hitze. Ich glaubte nicht, dass ich Sand schon einmal als so unangenehm empfunden hatte wie in diesem Moment.

Meine Lippen waren trocken und aufgesprungen, mein Mund ausgedörrt. Selbst das Schlucken war mittlerweile zu einer Qual geworden. Ich hatte nicht mal mehr genug Speichel, um meinen Mund zu befeuchten, und immer noch erstreckte sich vor mir diese endlose, zerklüftete Weite.

Ich musste mich beschäftigen, musste mich ablenken, sonst würde ich noch verrückt werden. „Talita“, flüsterte ich daher, wie so oft in den letzten Stunden.

Ein lautes Lachen, begleitet von einem derben Fluch, ließ mich den Blick von meiner Zeitschrift heben und nach nebenan in die Küche gucken. Talita stand da und wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel, während Veith betölpelt an sich herunterblickte. In der Hand hielt er noch immer das Rührgerät, von dem Schokopudding tropfte. Der Rest davon klebte an seinem Hemd und in seinem Gesicht.

Talita trat an ihn heran, strich mit dem Finger über sein Kinn, steckte ihn sich dann in den Mund und schloss genießerisch die Augen. „Hm … lecker“, sagte sie und drückte ihm einen Kuss auf den Mund.

Ich schnaubte nur und wandte mich wieder meiner Zeitschrift zu. Mit dem Kerl stimmte etwas nicht und ich würde schon noch herausfinden, was es war.

Meine brennende Stirn legte sich leicht in Falten. Veith. Der Name hatte auch in dem Brief gestanden. Wie hatte ich ihn da genannt? „Mafiabruder.“

„Okay, ich bin so weit.“ Ich ließ mich neben Talita auf die Couch plumpsen und griff nach der Fernbedienung.

„Wir müssen noch auf Veith warten“, protestierte mein Schwesterherz.

„Warum? Er fragt nur wieder tausend Dinge und ruiniert dann den ganzen Film.“ Ich erinnerte mich noch an den ersten Filmabend mit Veith, da hatte er Freddy Krüger angeknurrt.

„Fragen ist nichts schlechtes“, ließ der Herr in diesem Moment von der Tür hören. Er trat zu uns an die Couch und quetschte sich dabei zwischen Tal und mich. Dann warf er mir einen bösen Blick zu.

Ich wusste genau, was der bedeutete. Seiner Meinung nach gehörte Tal ihm. Aber nur, solange ich da kein Wörtchen mitzusprechen hatte. „Dumme Fragen schon“, konterte ich und startete den DVD-Player.

Fragen? Was für dumme Fragen?

„Veith“, flüsterte ich erneut.

Mit dem leeren Joghurtbecher in der Hand schlenderte ich in die Küche und blieb sofort stehen. Da war er, dieser Typ, den Talita vor vier Tagen angeschleppt hatte. Irgendwas stimmte mit dem nicht. Manchmal benahm er sich einfach seltsam, genau wie jetzt wieder. Er starrte die Mikrowelle an, als würde es sich um eine schwere mathematische Aufgabe handeln.

„Weißt du, wie sie funktioniert?“

Ich brauchte einen Moment, um zu merken, dass er mich meinte. Woher wusste er, dass ich im Türrahmen stand? „Du etwa nicht?“

„Nein.“ Er blickte mit diesen seltsamen Augen über die Schulter. Diese Augen irritierten mich. Kein Mensch hatte solche Augen. „Talita hat gesagt, damit kann ich Essen warm machen, aber ich verstehe nicht, wie.“

Und genau das war es, was ich gemeint hatte. „Du bist echt seltsam.“

Das war nicht hilfreich, das sagte mir rein gar nichts. All diese Erinnerungen waren so … alltäglich und brachten mich einfach nicht weiter. „Veith“, knurrte ich nun schon fast. Irgendwann musste doch auch mal etwas Nützliches dabei herauskommen.

Seine Hände hatten sich so fest um das Geländer der Veranda geschlossen, dass seine Knöchel fast weiß hervorstachen. All seine Muskeln waren zum Zerreißen gespannt.

„Was hast du mit ihr gemacht?“

So, wie er die Schultern anspannte, hatte ich ihn wohl überrascht. Das war mir in den ganzen Monaten, die er nun schon bei uns lebte, nicht ein einziges Mal gelungen. „Geh rein, Tiara.“

Ich kniff meine Augen zu einem Spalt zusammen. „Ich lasse mir von dir keine Befehle geben. Also, was hast du mit ihr gemacht?“

„Nichts.“ Sein Griff wurde noch ein wenig fester. „Ich habe nichts getan.“

„Und warum sitzt sie in ihrem Zimmer und weint?!“ Ich trat einen Schritt nach vorne, packte ihn an seinem Ärmel und riss ihn zu mir herum. Er wusste, dass ich Karate machte, und trotzdem schien er von meiner Kraft einen Moment überrascht. „Ich schwöre dir, Veith, solltest du ihr wehtun, dann werde ich dir wehtun. Das ist ein Versprechen.“ Ich würde nicht noch einmal zusehen, wie sie sich selbst verlor und hinter sich nichts als Scherben zurückließ.

Zwischen seinen Augen entstand wieder diese Falte. „Du weißt es“, flüsterte er und seine Augen forschten in meinem Gesicht. „Du kennst ihr Geheimnis.“

Ihr Geheimnis?

„Du weißt, warum sie manchmal anfängt zu zittern, wenn ich sie berühre.“

„Sie ist meine Zwillingschwester und ich weiß alles über sie.“ Ich ließ sein Hemd so abrupt los, als hätte ich mich daran verbrannt. „Und ich weiß auch, dass du nicht gut genug für sie bist.“

„Ich werde nicht gehen.“ Seine Stimme war fast ein Knurren.

„Du verletzt sie!“

„Sie ist alles, was ich habe.“

Das glaubte ich ihm nicht, ich konnte einfach nicht. Irgendwas stimmte mit dem Kerl nicht und ich würde herausbekommen, was es war. Dann konnte ich Talita zur Vernunft bringen. Nein, ich würde ihn keinen Tag länger …

Mein Fuß blieb an einem Stein hängen. Ich strauchelte und fiel in den Sand. Der Aufprall war hart, aber viel schlimmer waren die Sandkörner, die wie ein Reibeisen über meine misshandelte Haut scheuerten und mir einen kleinen Schrei entlockten. Meine Haut hatte bereits damit begonnen, sich abzuschälen, und der Sand darin tat höllisch weh. Dann auch noch die Hitze, die diese Wüste abstrahlte.

Wie lange konnte ich diese Tortur noch durchhalten?

Mein kleiner Freund zirpte aufgeregt und sprang um mich herum, als wollte er mich dazu animieren, wieder auf die Beine zu kommen. Aber was sollte das bringen?

Sandkörner flogen auf mich, was mir ein Zischen entlockte. „Okay“, sagte ich leise. „Okay, ich stehe ja schon auf.“

Sehr langsam rappelte ich mich auf die Knie und machte dann eine kurze Verschnaufpause. Ich schluckte und spuckte den Sand aus. Er war wirklich überall. Und wenn ich nicht bald …

Ein Kreischen über mir ließ mich erschrocken den Kopf heben. Dort oben kreisten drei große Vögel. Im ersten Moment glaubte ich, es wären Geier – wahrscheinlich, weil das einfach passend gewesen wäre. Aber das waren keine Geier, sie hatten nicht mal annähernd Ähnlichkeiten mit den Aasfressern. Diese Vögel hier waren rot. Und nicht nur das - sie brannten!

Mir fiel sprichwörtlich die Kinnlade herunter. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, würde ich behaupten, es wären … das konnte nicht stimmen! Aber sie sahen genauso aus. Das wunderschöne Federkleid brannte und die Anmut, mit der sie sich bewegten ...

Phönixe.

„Siehst du das auch, oder werde ich jetzt wirklich verrückt?“

Der kleine Fennek hob die Ohren.

Obgleich mir die Augen vom Sonnenlicht schmerzten, konnte ich sie nicht von diesem Anblick abwenden. Die Schleifen, die die Vögel flogen, und das Lied, mit dem sie meinen Ohren schmeichelten - es war einfach wunderschön.  

Plötzlich behaupteten alle, dass sie niemals in diesem Rehabilitationszentrum war, sondern in einer anderen, magischen Welt. Einer Welt, in der es von Wesen aus Märchen und Mythen nur so wimmeln sollte.

Vielleicht war es wirklich wahr, vielleicht befand ich mich an einem Ort, den es eigentlich gar nicht geben durfte. Das würde so vieles erklären.

Nur … wie war ich überhaupt hierhergekommen?

Die Antwort auf diese Frage lag versteckt in meiner Erinnerung und da ich nicht wusste, wie ich sie herauslocken sollte, schaute ich einfach den Phönixen dabei zu, wie sie ihre Kreise zogen, bevor sie langsam in der Ferne verschwanden.

„Ich träume“, flüsterte ich leise. Und im Moment war ich mir nicht sicher, ob ich aufwachen wollte. Wenn es hier Einhörner und Phönixe gab, was barg dieses Land dann noch für Geheimnisse?

 

°°°

 

Ich war so müde. Am liebsten hätte ich mir einfach ein schattiges Plätzchen gesucht und mich dort zusammengerollt, doch ich war mir nicht sicher, ob ich wieder aufwachen würde.

Jeder Schritt war mit Blei gefüllt. Die Muskeln in meinen Beinen brannten fast schlimmer als meine Haut und ich hatte solchen Durst.

Dieses Land, so schön es auch war und so herrliche Wesen es auch barg, zeigte sich mir mit all seiner erbarmungslosen Brutalität. Hier wurde niemand geduldet, der nicht die Kraft besaß zu überleben. Aber ich hatte diese Kraft, da war ich mir sicher. Ich musste sie einfach haben. Das war der einzige Grund, warum ich mich weiterschleppte. Schritt und Schritt, Stück um Stück. Ich musste nur endlich Wasser finden. Aber ob es hier überhaupt welches gab?

Mein Blick schweifte zu meinem kleinen Freund, der in einigem Abstand wie ein Reh über den Sand hopste. Die Hitze schien ihn nicht zu stören, nicht der Brand der Sonne und auch nicht die flirrende Weite.

Doch ich kam damit nicht so gut klar. Meine Haut brannte. Es tat so weh, dass mir immer wieder Tränen in die Augen traten und sich mit dem Staub zu einem widerlichen Brei vermengten. Aber ich konnte nicht stehen bleiben, das durfte ich einfach nicht. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, auf die verschwundene Lichtsäule zuzuhalten. Ich konnte mir nicht einmal mehr sicher sein, ob ich noch in die richtige Richtung lief. Alles sah so gleich aus, jeder Stein, jeder Baum. Auch mein Standpunkt zum Gebirge schien sich kein bisschen zu ändern. Einen klaren Gedanken zu fassen, war fast unmöglich.

Kraftlos strich ich mir mein schweißfeuchtes Haar aus der Stirn, dabei vertrat ich mich. Es ging alles so schnell, dass ich bereits im Sand lag, bevor ich überhaupt verstand, was gerade geschehen war. Ich hustete und spuckte den Dreck aus. Mein Atem ging so schwer, als wären meine Lungen mit Wasser gefüllt. Doch da war kein Wasser – nirgends. Alles, was da war, war der heiße Sand unter mir.

Ich schloss die Augen und ließ meine Stirn auf meine Hände sinken. Ich musste mich ausruhen, nur einen kurzen Moment. Ich brauchte einfach eine Pause.

Etwas traf mich an der Seite. Sandkörner. Ein Zirplaut folgte. Als ich nicht reagierte, flogen weitere Sandkörner auf mich.

Ich zischte, die Reibung schmerzte. Doch der Sand flog weiter auf mich – außer in Momenten, in denen der kleine Fennek zirpte.

Mühsam öffnete ich die Augen. Mein kleiner Freund stand mit dem Hintern zu mir und buddelte im Erdreich herum. Einen Moment hielt er inne, blickte mich über die Schulter an und zirpte wieder. Dann ging es weiter.

„Okay“, murmelte ich. „Okay, ich stehe auf.“ Es war nicht das erste Mal, dass er mich auf diese Art wieder auf die Beine brachte. Und so, wie ich mich fühlte, würde es wohl auch nicht das letzte Mal gewesen sein.

Seine Ohren stellten sich aufmerksam auf, während er mit den Augen jede meiner Bewegungen verfolgte.

Sehr langsam drückte ich mich vom Boden hoch, bis ich im weichen Sand kniete. Mir tat alles so weh.

Wieder gab mein kleiner Freund ein Geräusch von sich. Es war, als wollte er mich auffordern, meinen Hintern schneller zu erheben.

Ich schnaubte. Jetzt bildete ich mir schon ein, dass ein Tier logisch denken konnte. Dem war nicht so, auch wenn ich wusste, dass ich aufstehen musste. Hier konnte ich nicht bleiben, nicht in der prallen Sonne. Doch wohin sollte ich mich wenden? Langsam glaubte ich nicht mehr daran, dass es in dieser Richtung etwas gab, das mir helfen konnte. Es schien alles so … aussichtslos.

Als mich ein weiterer Schwall Sand traf, wandte ich hastig das Gesicht ab, um ihn nicht in die Augen zu bekommen. „Ist ja gut, ich habe …“ Ich stockte mitten im Satz. War das möglich? Konnte das wirklich wahr sein, was meine Augen mir da zeigten, oder spielten meine Sinne mir einen Streich?

Ich blinzelte, versuchte das Flirren der Luft auszublenden.

Es war immer noch da.

Häuser. Ich sah sie ganz deutlich. Dort hinten waren … Häuser.

Neue Hoffnung begann sich in mir zu regen, doch sie war nur sehr zaghaft. Vielleicht war das ja eine Fata Morgana oder ich hatte einen Hitzestich. Vielleicht bildete ich mir das wirklich nur ein.

Ich wandte das Gesicht ab, rieb mir über die Augen und blickte wieder hin.

Die Häuser waren noch da.

„Wasser“, flüsterte ich und spürte, wie meine Kehle sich zusammenzog. Häuser bedeuteten Menschen und Menschen bedeuteten Wasser. Sie brauchten es, um zu überleben. Ich brauchte es, um zu überleben.

Wie an Fäden gezogen, kam ich auf die Füße. Es war, als hätte mein Körper nach diesen Strapazen einfach auf Autopilot umgeschaltet. Meine Bewegungen waren ungelenk und mehr als einmal kam ich ins Straucheln, doch ich gab nicht auf. Ich konnte nicht aufgeben – nicht so kurz vor dem Ziel.

Ich musste weiter, immer weiter. So strebte ich auf den einzigen Lichtblick zu, der sich mir seit dem Beginn dieser Tortur geboten hatte.

 

°°°

 

Häuser!

Ich konnte es gar nicht glauben, als ich meine Hand auf das marode Holz der Außenwand legte. Es war alt und von dem roten Staub dieses Landes bedeckt, aber das war egal. Ein Haus bedeutete Leben und Leben bedeutete Hilfe.

Dieses Haus lag ein wenig abseits zum Rest des Dorfes und ich hatte gleich gesehen, dass es leer stand. Die Fenster waren von Wind und Wetter zerschlagen worden und ein Teil des Daches war eingesunken. Hier wohnte niemand mehr. Aber da waren noch all die anderen Häuser. Sie waren so nah, ich musste sie nur erreichen.

Meine rissigen Finger strichen an der Wand entlang, als ich mich Schritt um Schritt weiterschleppte.

Hinter mir zirpte mein kleiner Freund wie wild. Das tat er schon eine ganze Weile. Dieser Ort schien ihn nervös zu machen und das hatte mich mehr als einmal zögern lassen. Doch nun war ich so nah dran, ich konnte mich einfach nicht mehr zurückhalten.

„Hilfe“, flüsterte ich in der Hoffnung, dass mich dort hinten jemand hören würde. Doch meine Stimme war so leise und kraftlos, dass ich selbst Mühe hatte, sie zu verstehen. Trotzdem flüsterte ich ein zweites Mal „Hilfe“, während ich mich weiter auf das Dorf zu schleppte.

Ein Schub neuer Kraft schien mich zu beflügeln. Ich rannte, so schnell ich konnte, immer das Dorf vor Augen, doch schon auf halbem Wege wusste ich, dass hier etwas nicht stimmte. „Nein“, hauchte ich bei dem klaffenden Loch, das ich halb hinter den vertrockneten Bäumen in einer Außenwand erblickte. Dieses Haus sah genauso marode und alt aus wie das andere.

Ich lief schneller, wollte einfach nicht glauben, was meine Augen dort sahen, doch auch an dem nächsten Haus hatte der Zahn der Zeit mit Zähnen und Klauen genagt.

Meine Füße trugen mich ins Dorf hinein. Eingebrochene Dachgiebel, eingesunkene Veranden, zerschlagene Fenster und Türen, die nur noch halb in den Angeln hingen, und Straßenschilder, die von dem starken Wind dieses Landes halb über die Straßen geweht worden waren.

„Nein“, flüsterte ich wieder, während ich nichts anderes tun konnte, als die alten, verwitterten Häuser anzustarren. Wege und Straßen waren mit der Zeit unter Sandwehen begraben worden. Ich rannte auf ihnen entlang und konnte nicht glauben, was sich mir präsentierte. Dort hinten stand ein verwittertes Haus, das so windschief war, dass es jeden Moment einfach in sich zusammenbrechen konnte.

Ein alter Holzkarren lag quer über der Straße, ein Rand fehlte. Es war weit und breit nicht zu sehen.

Die Straßen wurden gesäumt von unlesbaren Schildern und verrosteten Zäunen, die krumm und schief in den Himmel zeigten. Sie waren wie düstere Mahnmahle, Kreuze eines Grabmals, denn das hier war nur noch ein Friedhof.

„Nein, bitte nicht“, flüsterte ich, doch hier war niemand, der mich hören konnte.

In den düsteren Schatten lagen ausgeblichene Skelette von Tieren. Es wirkte, als wären sie an diesen Ort gekommen, um Schutz vor der Hitze zu finden – genau wie ich. Doch sie hatten hier keinen Schutz gefunden, nur den Tod.

Als mir die Ausweglosigkeit meiner Situation klar wurde, stiegen mir Tränen in die Augen. War das mein Schicksal? Würde ich genauso enden wie diese Tiere? Nur ein Skelett in der heißen Wüstensonne?

Ich war gelaufen, fast zwei Tage. Und das einzige, was ich gefunden hatte, waren ein paar alte, verwitterte Häuser. Hier gab es niemanden mehr. Die einzige Bewegung, die ich hier wahrnahm, war ein alter knochiger Steppenläufer, der getrieben vom Wind einsam an mir vorbeirollte.

Dieser Ort war nicht nur alt und unbewohnt, er war wie eine Geisterstadt, die den winzigen Funken Hoffnung in mir einfach zerschlug und mit den Füßen auf den Scherben herumstampfte.

Das letzte bisschen Kraft, das ich hatte zusammenkratzen können, verpuffte einfach wie ein Tropen auf dem Wüstenstein. Ich spürte, wie meine Beine unter mir nachgaben und ich in mich zusammensackte. Warum sollte ich auch noch kämpfen? Ich würde nichts finden. Hier gab es nichts außer ein paar ungewöhnlichen Tieren - und dem roten Mann. Aber der war weit weg und selbst, wenn ich noch die Kraft dazu gehabt hätte, glaubte ich nicht daran, dass ich ihn noch finden würde.

Ich war verloren.

Allein.

Gefangen im Nichts.

Ohne Wasser.

Tränen liefen mir über die Wangen. Mein Schluchzen zerriss die Stille um mich herum und selbst das aufgeregte Zirpen meines kleinen Freundes in der Ferne verstummte.

Was sollte ich denn nun tun? Wohin sollte ich mich wenden? Den Weg zum Gebirge würde ich niemals schaffen, da brauchte ich mir gar nichts vorzumachen, aber ich konnte doch auch nicht einfach hier sitzen bleiben und aufgeben. Doch ich war so müde!

Mit dem Handrücken wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht, doch es kamen immer mehr. Die Ausweglosigkeit meiner Situation hatte mich in ihren Klauen und meine Verzweiflung wuchs mit jeder Sekunde.

Ich wollte nicht, dass es so endete, das durfte es einfach nicht. Aber da gab es einfach keinen Silberstreifen am Horizont mehr.

So saß ich da, im heißen Sand unter den erbarmungslosen Wüstensonnen, während um mich herum die Welt in der Hitze flimmerte. Minutenlang, ohne mich zu regen.

„Bitte“, flehte ich. „Hilfe.“ Ich brauchte Hilfe, denn ich wusste wirklich nicht mehr weiter.

Ich wusste nicht, woher ich die Kraft nahm, um wieder auf die Beine zu kommen. Vielleicht war es einfach nur die sengende Hitze, die mich zu verbrühen drohte und aufs nächste Haus zutrieb. Nein, ich wusste nicht, was ich nun tun sollte, aber ich war am Ende meiner Kräfte angelangt und würde keinen Schritt mehr gehen können, nicht, solange es noch hell war. Und ich war so müde.

Sand knirschte unter meinen Schuhen, als ich die alte, verwitterte Veranda eines früheren Einfamilienhauses betrat. Die Tür war schon vor langer Zeit verschwunden und das Fliegengitter davor völlig zerrissen. Als ich hineintrat, knarrten Dielenbretter unter meinem Gewicht. Ein kurzer Flur. Hier gab es keine Möbel mehr und die Tapete an den Wänden hatte bereits damit begonnen, sich von alleine zu lösen.

Der Boden war zugeschüttet mit rotem Sand, der Staub klebte in jeder Ritze. Dieses Bild war irgendwie … unwirklich.

Meine Füße trugen mich in den angrenzenden Raum, eine alte Küche.

In der Ecke stand ein dreibeiniger Stuhl. Nur eines der zwei Fenster war noch intakt, aber so dreckig, dass es kein Licht durchließ. Die Luft war stickig und trocken, aber hier drinnen würde mich wenigstens das Licht der Sonnen nicht mehr malträtieren können.

Plötzlich regte sich in mir ein kleines Fünkchen Hoffnung. Zwei kaputte Anrichten standen in der Ecke. Die Türen fehlten und die Schubladen waren halb herausgezogen. Soweit ich es erkennen konnte, waren sie leer. Doch das war es nicht, was mich vorwärts trieb. Es war das Waschbecken, oder genauer gesagt, der rostige Wasserhahn.

Wie von Sinnen stürmte ich darauf zu und zwang meine zitternden Finger um das Rädchen. Es klemmte, wollte meinem Willen nicht folgen, doch ich war mittlerweile so verzweifelt, dass ich alles, was ich noch hatte, dafür gab, es in Bewegung zu setzen.

Es knarrte und dann ... brach es einfach ab. 

Einen Moment konnte ich nichts anderes tun, als das rostige Rad in meiner Hand anzustarren. Dann warf ich es mit einem Schrei durch das letzte intakte Fenster, bevor ich in dem klirrenden Scherbenregen an der Anrichte zusammensackte und nichts mehr tun konnte, als meiner Verzweiflung Ausdruck zu verleihen.

Das war das Ende, ich konnte einfach nicht mehr.

 

°°°

 

Um sich vor der Kälte zu schützen, hatte sich mein ganzer Körper angespannt. Meine Muskeln schmerzten und meine Zähne klapperten nur nicht, weil ich sie so fest aufeinander gedrückt hatte. Ich hatte nicht wirklich geschlafen, fühlte mich noch immer müde und erschlagen, als ich meine Augen langsam öffnete und in die Dunkelheit spähte.

Die Nacht war über mir hereingebrochen. Nur der matte Schein der Sterne, der durch das kaputte Fenster drang, spendete ein wenig Licht und ließ mich nicht ganz allein in der Dunkelheit. So entdeckte ich auch die großen Knopfaugen, die mich aus der Ecke beobachteten.

Ein sprödes Lächeln, das meine rissigen Lippen unangenehm spannte, erschien auf meinem Mund. „Hallo, kleiner Freund.“

Der kleine Fennek spähte durch den Türrahmen. Die Nase nach oben gestreckt, witterte er, während sich seine Ohren in alle Richtungen drehten.

„Warst du einsam?“

Er zirpte, legte sich an Ort und Stelle auf den Boden und schien nicht gewillt, mich auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen.

„Ich glaube, du solltest gehen, kleiner Freund.“ Meine Stimme war so schwach, dass ich sie kaum wiedererkannte. „Es ist vorbei“, flüsterte ich, denn ich hatte kaum noch die Kraft, die Augen offenzuhalten. Sie waren so schwer und ich war so verdammt müde. Doch der Blick des Kleinen ließ mich einfach nicht los. Ich hatte das Gefühl, als ob er mir etwas sagen wollte.

„Ich will hier weg, ich will hier raus, ich will die Zeit zurück.“ Die Worte waren nicht mehr als ein Hauch auf meinen spröden Lippen. „Ich atme ein, ich atme aus, doch nichts verändert sich. Wo ist die Nacht, wo ist der Weg? Wie weit, wie weit noch?“ Ich verstummte. Es gab kein wie weit noch, es war vorbei. Es gab einfach nichts mehr, auf das ich zugehen konnte.

Meine Augen schlossen sich. Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich es nicht ändern können. Erst das eindringliche Zirpen meines kleinen Freundes ließ mich die Lider wieder schwerfällig heben.

War ich eingeschlafen? Draußen jedenfalls war es noch Nacht. Der Himmel war so klar, dass jeder Stern wie ein fernes Funkeln strahlte.

Ein Kratzen vor mir brachte mich dazu, meine Aufmerksamkeit dorthin zu richten. Der kleine Fennek lag kaum einen Meter von mir entfernt, die glänzenden Augen ohne Unterlass auf mich gerichtet.

Wieder fielen mir die Augen zu und als ich sie das nächste Mal öffnete, war der Kleine noch näher gekommen, nur noch einen halben Meter entfernt. Wenn ich die Hand ausstrecken würde, könnte ich ihn berühren.

„Du bist noch hier“, flüsterte ich. Meine Stimme war schwach, so schwach. Das Schlucken schmerzte, doch es war nichts im Vergleich zu dem Brennen meiner Haut.

Draußen wehte der Wind in einem unheimlichen Heulen um die alten, maroden Häuser. Es war, als wären es die Stimmen der Vergangenheit, die den Lebenden eine Warnung zukommen lassen wollten. Überall knarzte und knackte es.

Es war keine stille Nacht.

Einen kurzen Moment bildete ich mir sogar ein, in der Ferne das laute Lachen eines Mannes zu hören.

Ich werde verrückt, dachte ich und blinzelte langsam. Aber wer sollte es mir verübeln?

Mein kleiner Freund zirpte leise.

„Du solltest gehen.“

Er ging nicht, ganz im Gegenteil. Seine kleine Pfote tastete sich nach vorne, die Krallen kratzten dabei über das knarrende Holz.

„Willst du mir die Hand geben?“

„Zriiip ziiip.“

So schwer es mir auch fiel, ich schaffte es wirklich, ein kleines Lächeln zustande zu bringen. 

Zögerlich robbte mein kleiner Freund noch ein Stück nach vorne. Er streckte die Pfote erneut aus, zuckte zweimal zurück, bevor er mich beim dritten Mal an der Hand anstupste und dann schnell Reißaus nahm, als würde nun etwas Schreckliches passieren. Er flitzte aus dem Raum, nur um nach ein paar Sekunden wieder den Kopf durch den Türrahmen zu stecken und mir mit aufgerichteten Ohren entgegen zu zirpen.

„Ich kann jetzt nicht spielen.“ Meine Stimme war so leise, dass sie vom Heulen des Windes übertönt wurde. Meine Augen fielen wieder zu, nur meine Ohren nahmen die Nacht noch wahr - den Schrei eines Vogels und weit in der Ferne ein Lachen.

Nein!

Ich kniff die Augen fester zusammen, da war kein Lachen, das bildete ich mir nur ein. Da konnte einfach keines sein. Dieses Fünkchen Hoffnung, ich würde es kein weiteres Mal zulassen. Es war undenkbar.

„Ziiiir.“

Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Da ist nichts, das bilde ich mir nur ein. Aber was, wenn ich mich täuschte? Was, wenn das die Gelegenheit war, die ich gesucht hatte? Die einzige Gelegenheit, die ich bekam?

Nein, nein, nein. Ich konnte es einfach nicht glauben.

Und trotzdem spitzte ich die Ohren.

Doch die Nacht blieb still. Da war nichts außer dem Heulen des Windes und dem Knarren der alten Häuser.

War das Lachen wieder fort? Hatte ich es mir nur eingebildet?

Mein Kopf war wie in Nebel gehüllt. Ich konnte nicht mehr klar denken und doch hatte ich plötzlich das dringende Bedürfnis, aufzustehen und nach draußen zu gehen, um das Lachen zu finden.

Ohne wirklich zu wissen, was ich da eigentlich tat, stemmte ich mich auf die Arme. Mein Kopf war erfüllt von dem Lachen, während ich wie aus weiter Ferne das Zirpen meines kleinen Freundes hörte. Doch meine Muskeln spielten nicht mit. Mit einem Stöhnen sank ich einfach wieder zusammen.

Komm schon, hoch mit dir!

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bevor ich den zweiten Versuch wagen konnte. Das Herz in meiner Brust trommelte wie wild und mein Atem ging so schwer, als hätte ich gerade einen ganzen Marathon hinter mich gebracht.

Bis ich es auf alle Viere geschafft hatte, schien die halbe Nacht an mir vorbeigezogen zu sein. Außer dem aufgeregten Gezirpe meines kleinen Freundes hörte ich nichts mehr. Mein Kopf war voller Watte und ich wusste nicht mehr, warum ich die Anstrengung auf mich nahm. Ich wusste nur noch, es war wichtig. Ich musste nach draußen – unbedingt. Dieses Drängen ließ sich einfach nicht leugnen. Trotzdem brauchte ich sehr lange, bis ich auf wackligen Beinen stand.

Eine Hand an der Wand abgestützt, rang ich um Atem. Mein Blick verschwamm, klarte wieder auf und verschwamm ein weiteres Mal. Den Türrahmen in der Dunkelheit auszumachen, war eine Meisterleistung. Eigentlich konnte ich nur dem Zirpen folgen.

Vorsichtig tastete ich mich an der Wand entlang und kam so Schritt für Schritt vorwärts. Erst durch die Küche, dann in den kleinen Flur.

Um mich herum war aufgeregtes Getrippel, doch auch, nachdem ich mehrmals geblinzelt hatte, konnte ich nicht sagen, woher es stammte.

Ich hatte den Flur fast verlassen, als meine Beine einfach aufgeben wollten. Ich klammerte mich an die Wand, um aufrecht stehen zu bleiben, doch das Zittern ließ sich nicht verleugnen. Es wurde immer stärker. Mein Körper war an seinem Ende angelangt.

Weiter!, befahl ich mir selbst. Komm schon, ich schaff das!

Ein Schritt auf die Haustür zu. Noch einer. Meine Hände fanden den Holzrahmen, klammerten sich an ihn.

Draußen war es nicht ganz so dunkel wie drinnen, doch so oft ich auch blinzelte, mein Blick wollte sich einfach nicht klären.

Doch das durfte mich nicht aufhalten. Ich musste weitergehen. Daran führte kein Weg vorbei.

Ich zwang mein Bein einen Schritt nach vorne. Und noch einen. Die alte Veranda knarzte unter meinem Gewicht. Ein weiterer Schritt. Meine Hände bekamen das alte, halb verrottete Geländer zu fassen, doch als ich mich mit meinem Gewicht dagegen lehnte, gab es einfach nach.

Ich schaffte es nicht, mein Gleichgewicht wiederzufinden. Dann kam schon der Schmerz des Aufpralls. Ein Schrei entrang sich meiner Kehle. Etwas Spitzes hatte sich in meine Seite gebohrt. Es tat so fürchterlich weh, dass mir die Tränen in die Augen schossen, und als ich versuchte, mich davon wegzudrehen, wurde es nur noch schlimmer.

Ich konnte mich nicht bewegen.

Das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass es vorbei war. Auf dem Rücken liegend, mitten in der Wüste, aufgespießt von einem Stück Holz. Ich war am Ende meiner Kraft angelangt.

Über mir strahlte der sternenklare Himmel in seiner ganzen Pracht. Nur der Schatten eines Vogels ließ sie hin und wieder verschwinden. War es ein Geier? Wahrscheinlich wieder ein Phönix. Ich konnte es nicht klar erkennen, die Welt um mich herum war nur noch ein verschwommener Fleck.

Neben mir hörte ich wieder das aufgeregte Getrippel. Mein kleiner Freund, er war noch immer bei mir. „Tut … mir leid“, flüsterte ich. „Ich kann … nicht mehr.“

Das schien dem kleinen Fennek nicht zu passen. Er zirpte und stupste mich immer wieder mit der Pfote an, nur um dann schnell Abstand zu nehmen.

Ich hatte keine Kraft mehr, mich darum zu kümmern.

Der Stoff an meiner Seite war feucht und klebrig. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was das bedeutete. Es war schon anstrengend genug, Luft zu bekommen.

Über mir kreiste noch immer der Schatten des Vogels. Er kam näher.

„Kommt ein … Vogel geflogen, setzt … sich …“ Meine Stimme versagte. Meine Augenlider wurden immer schwerer.

Der kleine Fennek begann an meinem Shirt zu zupfen und wild zu zirpen, doch ich hatte weder die Kraft noch die Muße, mich darum zu kümmern. Der Schmerz in meinem Körper ließ langsam nach. Es war, als würde alles taub werden, was nach dieser Tortur ein richtiger Segen war.

Ein seliges Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Mein ganzer Körper fühlte sich mollig warm an. So gut hatte ich mich seit Tagen nicht mehr gefühlt. Naja, zumindest nicht, solange ich mich zurückerinnern konnte.

Die Schatten um mich herum schienen sich zu verdichten, während der Himmel immer dunkler wurde. Die Sterne verloschen. Meine Augen fielen zu.

Federn raschelten, ein kräftiger Windstoß strich mir übers Haar. Etwas berührte mich vorsichtig an der Wange, bevor ein lauter Ruf den Frieden der Nacht störte.

Ich wollte, dass er still war, wollte das Hier und Jetzt genießen, doch kein Wort verließ meinen Mund. Und es war auch egal.

Langsam drifte ich ab. Selbst das Heulen des Windes war nur noch ein fernes Rauschen.

Doch dann war da wieder dieses Gefühl an meiner Wange, wie ein vorsichtiges Tätscheln. Mein Fennek. Er war noch immer bei mir.

Ich zwang mich dazu, meine Augen ein letztes Mal zu öffnen. Er war bei mir geblieben, bis zum Schluss. Das war das Mindeste, was ich tun konnte. Doch es war schwer. Ich musste meine ganze Kraft und meinen ganzen Willen aufbringen und schaffte trotzdem nur einen kleinen Spalt.

Über mich gebeugt lag ein Schatten. Der Mund war so nah, dass ich die Bewegung wahrnahm, doch ich hörte nichts. Da war nichts als dieses Rauschen in meinen Ohren.

Etwas Weiches strich über meinen Arm. Weich, wie eine Feder.

Plötzlich verschwand die Welt um mich herum. Ich schwebte und wurde gleichzeitig von einem festen Körper umfangen. Arme - jemand hielt mich im Arm.

Ich war nicht mehr allein. Konnte das stimmen? Wer bist du?, wollte ich fragen, doch es war nur ein unverständliches Nuscheln, das meinen Mund verließ.

Ich zwang mich, meine Augen weiter zu öffnen.

Die Gestalt war nicht wirklich zu erkennen. Da war nur dieses helle Licht auf seinem Kopf und … Flügel. Die Federn wisperten leise im Wind.

Das Lächeln auf meinem Gesicht wurde noch ein wenig seliger. Ein Engel. Ich sterbe und nun werde ich von einem Engel geholt.

Die Welt um mich herum versank im Nichts.

 

°°°°°

Tag Vier

Es war ein langsames Erwachen aus den tiefen Gefilden meines Bewusstseins. Nach und nach drangen gedämpfte Geräusche an meine Ohren und auch, wenn meine Gedanken noch zähflüssig dahinflossen, so waren sie klar und deutlich.

Ich versuchte meine Augen zu öffnen, doch meine Lider waren schwer und in meinem Kopf spürte ich ein leichtes, aber stetiges Pochen. Doch ansonsten fühlte ich mich … gut. Das war seltsam. Meine Haut brannte nicht mehr und auch der unsagbare Schmerz in meiner Seite war nichts als eine bloße Erinnerung. Wie konnte das sein? Nur meine Kehle, die tat noch immer weh, und das Schlucken fiel mir nicht wirklich leichter.

Ich versuchte, die letzten Minuten meines Wachseins zu rekonstruieren, doch das einzige, an das ich mich noch erinnern konnte, war der Sturz von der Veranda. Und dann dieser Schmerz.

Ganz in der Nähe hörte ich das Lachen einer Frau.

Jetzt wusste ich genau, dass hier etwas nicht stimmte. In den letzten Tagen hatte ich viel gehört, aber nichts davon war auch nur annähernd menschlich gewesen.

Meine Augen dazu zu überreden, sich zu öffnen, war nicht so einfach, wie man glauben sollte. Ich brauchte mehrere Anläufe, bis sie gehorchten und mir einen Blick auf die Welt gestatteten – aber nur einen kleinen Spalt.

Ich war … ja, das war eine ausgezeichnete Frage. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand.

Über mir war ein Dach aus einer dicken, weißen Plane. Die Wände links und rechts waren nichts weiter als Laken, die mich vom Rest abschirmten. Nur was war dieser Rest?

Seufzend ließ ich meine müden Augen wieder zufallen. Wie oft ich in den letzten Tagen orientierungslos erwacht war, konnte ich gar nicht mehr zählen, und langsam musste ich sagen, wurde es lästig. Und doch befand ich mich schon wieder in dieser Situation. Wie auch beim letzten Mal hatte ich keine Ahnung, wie ich hier gelandet war.

Die Luft um mich herum war warm uns stickig, kein Lüftchen wehte. Trotzdem war es noch immer angenehmer als die Wanderung durch die Wüste.

Ein Husten ganz in meiner Nähe ließ mich erneut blinzeln. Ich sah niemanden, aber ich hörte es.

Hm, wahrscheinlich sollte ich dem auf den Grund gehen. Nur war dieses Bett so bequem und … Moment, Bett?

Meine Hände tasteten über die weiche Matratze und als ich den Kopf drehte, stellte ich fest, dass meine Vermutung stimmte. Doch was ich da sah, war noch viel besser. Neben meinem Bett stand ein kleiner Beistelltisch und auf diesem thronte eine kleine Schüssel mit halbgeschmolzenen Eiswürfeln.

Ich zauderte nicht lange, richtete mich in eine sitzende Position auf und in dem Moment fiel mir etwas vom Kopf. Zuerst schaute ich wohl etwas verdutzt aus der Wäsche und es wurde auch nicht besser, als ich danach griff. Ein nasser Lappen. Jetzt erst bemerkte ich auch die Kleidung, die ich am Leib trug. Das waren nicht meine Klamotten.

Jemand hatte mir eine weiße Tunika aus leichten Leinen mit langen Ärmeln angezogen. Sie reichte mir bis kurz über die Knie. Auch meine Beine steckten nicht mehr in den kurzen Shorts, sondern in einer locken Leinenhose. Beide Kleidungsstücke hatten einen leichten Rotstich.

Stirnrunzelnd griff ich mir zwei Eiswürfel und ließ sie in meinem Mund verschwinden. Das kühle Gefühl war einfach herrlich. Es beruhigte meine Kehle und betäubte den kratzenden Schmerz.

Wer hatte sie dort hingestellt? Jemand hatte sich um mich gekümmert – eindeutig. Nicht mal mehr der Dreck der Wüste klebte an meiner Haut, was bedeutete, dass ich sogar gewaschen worden war. Wie ich das finden sollte, war mir nicht ganz klar, besonders nicht, nachdem ich mich ein weiteres Mal zu der Schüssel beugte und dabei feststellte, dass ich nicht mal mehr Unterwäsche trug.

Es war mir nicht peinlich, ich war einfach nur neugierig. Kannte ich die Person, die mich hierhergebracht hatte, oder nicht? Eigentlich gab es nur einen Weg, das herauszufinden.

Ich schlug das dünne Laken zur Seite und schwang die Beine aus dem Bett. Vorsichtig setzte ich einen Fuß auf den Boden, dann den zweiten, um zu prüfen, ob sie auch mein Gewicht trugen. Irgendwie konnte ich dem ganzen noch nicht richtig trauen. Nach den letzten Tagen war das einfach zu surreal.

Doch bevor ich mich endgültig erhob, fiel mein Blick noch einmal auf die Wasserschüssel. Trotz der Eiswürfel war meine Kehle immer noch ziemlich ausgedörrt – obwohl ich seltsamerweise nicht mehr so einen brennenden Durst verspürte wie vor meiner Bewusstlosigkeit. Trotzdem befand sich die Schüssel nur einen Moment später an meinen Lippen.

Das kalte Schmelzwasser war wie ein Schock für meine Sinne und doch konnte ich nicht aufhören zu trinken, bis nur noch halbgeschmolzene Eiswürfel übrig waren. Auch davon ließ ich noch ein paar in meinem Mund verschwinden, bevor ich mich vorsichtig auf die Beine stellte. Sie waren ein wenig wacklig, aber es würde gehen.

Zögernd bewegte ich mich vorwärts und spähte um die Laken herum, die als Trennwände dienten. Links von mir war ein großer, offener Bereich, der schwer nach einer provisorischen Arztpraxis aussah - Liege, Schreibtisch, Regale und Schränke. Die Außenwände waren genau wie das Dach aus einer schweren, weißen Plane.

Durch zwei große fliegenvergitterte Fenster erhaschte ich einen Blick nach draußen und war nicht wirklich überrascht, die Weiten der roten Wüste zu erblicken.

In der anderen Richtig des Zeltes waren weitere Séparées – so wie meines. Und aus einem davon kam wieder das Husten.

Ich war mir nicht ganz sicher, aber einer Eingebung folgend, glaubte ich, mich in einem Lazarett zu befinden.

„Hallo?“ Ich horchte, aber niemand reagierte. Vielleicht sollte ich einfach mal rausgehen und einen Verantwortlichen suchen, um herauszufinden, was hier los war. Irgendjemand musste mir ja schließlich sagen können, wie ich hierhergekommen war.

Aber ob ich einfach so rumstromern durfte? Andererseits, wer sollte mich daran hindern?

Ich versicherte mich noch einmal, dass hier wirklich kein Zuständiger war, und trat dann hinaus auf den schmalen Gang. Sofort wurde die Luft anders. Wärmer, stickiger. Ich spürte, wie ich zu schwitzen begann, während ich auf den Ausgang zulief – eine geteilte Plane, die im Luftzug leicht flatterte.

Das Séparée neben meinem war leer, genau wie das darauf folgende. Ordentliche, frischbezogene Betten, die nur darauf zu warten schienen, einen Patienten zu beherbergen.

Das nächste jedoch war besetzt, was mich zum Stehen brachte.

Ich blinzelte. Und blinzelte noch einmal, doch das Bild, das sich mir bot, veränderte sich nicht.

Auf dem Bett, die langen Beine in ihrem dünnen Laken verhakt, lag eine junge Frau. Der rechte Arm war in einen dicken Gips verpackt. Ihr Atem ging gleichmäßig ruhig, sie schlief. Genau wie die vielen Schlangen, die aus ihrem Kopf zu wachsen schienen.

O-kay.

Ich blickte nach oben, suchte die Wand hinter mir ab, ja, drehte mich mehrmals im Kreis, um die versteckte Kamera zu finden. Da war keine – zumindest keine, die ich entdeckte. Es überraschte mich nicht wirklich. Ich war fleischfressenden Einhörnern begegnet und hatte brennende Vögel am Himmel gesehen, warum nicht also auch eine Frau, die Schlangenhaare besaß?

Sollte es mich beunruhigen, dass mich dieser Anblick überhaupt nicht beunruhigte? Was bitte hatte ich in meinem Leben erlebt, dass ich einen solchen Anblick mit einem Schulterzucken hinnehmen konnte? Das war … seltsam.

Das Husten im nächsten Séparée ließ mich aufhorchen. Mit einem letzten Blick auf die Schlangenfrau trat ich um das Laken herum und wusste im ersten Moment nicht, was ich da vor mir hatte.

Es war ein etwas älterer Mann, seine Haut erinnerte mich an Stein. Nicht nur die Farbe, nein, sie wirkte auch hart. Auf seinem Kopf saßen zwei nach hinten geschwungene Hörner und aus seinem Rücken wuchsen zwei riesige Schwingen, die kraftlos aus dem Bett hingen. Hände und Füße endeten in Klauen. Der Rest hingegen wirkte einfach nur menschlich.

Ich neigte den Kopf zur Seite. Was nur kam mir an ihm so bekannt vor? Woran erinnerte er mich? Moment, natürlich. Notre Dame. In dem Bett lag ein Gargoyle.

Irgendwie schockierte mich diese Erkenntnis mehr als die Tatsache, dass im Nebenbett eine Frau mit Schlangen auf dem Kopf schlief. Als der Mann dann auch noch anfing zu husten, hätte ich vor Schreck beinahe einen Satz rückwärts gemacht.

Wie war es möglich, dass solche Wesen existierten? Träumte ich vielleicht wirklich? Ich kniff mir in den Arm und zischte. Das tat weh, also doch kein Traum. Wenn ich aber nun träumte, dass es wehtat, dann befand ich mich doch in einem Traum.

Das war verwirrend.

Der Mann atmete schwer und hustete wieder.

Ich wusste nicht, was mich dazu brachte, aber plötzlich trat ich neben das Bett und erwischte mich dabei, wie ich die Hand nach einem der Flügel ausstreckte. Ganz langsam und sehr vorsichtig.

Die Flugmembrane fühlte sich glatt und warm an, überhaupt nicht wie Stein.

„Geh weg“, nuschelte der Mann und ich fiel vor Schreck beinahe nach hinten. Er hob seinen Flügel halb an und positionierte ihn neu. Dann war wieder Ruhe. Ich war mir nicht mal sicher, ob er wirklich aufgewacht war.

Auf jeden Fall sollte ich seiner Bitte nachkommen. Egal was er war, er war eindeutig krank und brauchte seine Ruhe. Es war wohl besser, wenn ich mir jemand anderen für meine Fragen suchte.

So leise ich konnte, huschte ich aus dem Séparée auf den Eingang zu, zupfte die Plane zur Seite und spähte hinaus. Sofort schlug mir die Hitze des Tages entgegen. Die beiden Sonnen leisteten wieder ganze Arbeit. Ich spürte geradezu, wie mir der Schweiß aus allen Poren ausbrechen wollte. Und doch war es angenehmer als in meinen eigenen Klamotten. Irgendwie … luftiger, und das, obwohl meine Sachen wesentlich weniger Stoff hatten.

Vor mir lag ein großes Lager aus Zelten. Große und kleine, eckige und runde, helle und dunkle. Manche schienen nur aus Stoff zu bestehen, andere aus Planen. Sie standen so kreuz und quer, dass ich keinerlei System hinter der Aufstellung erkennen konnte – zumindest keines, das ich verstand. Und zwischen ihnen saßen, standen und liefen Menschen herum, die geschäftig ihrem Alltag nachgingen.

Nein, es waren nicht nur Menschen. Genaugenommen waren diese in der Minderheit.

Hinten an einem blauen Zelt sah ich einen Mann verschwinden, der mit der Frau im Krankenbett verwandt sein musste. Naja, zumindest wuchsen auch ihm Schlangen aus dem Kopf – nur etwas kürzer.

Weiter hinten vor einem anderen Zelt saß eine … eine Harpyie und schnitzte an einem Stück Holz herum.

Ein lautes Knallen ließ mich den Kopf herumreißen. Ein Mann, der in der gleichen weißen Kleidung wie ich steckte, beschwerte sich lautstark, dass der blasse Typ doch besser aufpassen sollte, während sie einen Karren abluden. Wenn ich mich so umsah, musste ich feststellen, dass hier alle diese weiße Kleidung mit dem leichten Rotstich trugen. Entweder sollte das zeigen, dass sie zusammengehörten, oder es war bei dieser Hitze einfach das angenehmste.

Der einzige Unterschied bestand in den langen Kopftüchern, die mich sehr an Arabien erinnerten. Manche waren einfarbig, andere kariert oder gestreift. An einem entdeckte ich sogar Münzen, die im Wind klimperten. Diese Kopftücher hatten nur eine Sache gemeinsam und das war die Art, wie sie gebunden waren. Ein einfacher Strick hielt sie auf den Köpfen.

Neben einem der Zelte stand eine wunderschöne Frau mit Lederschwingen auf dem Rücken und kicherte leise. In ihrer Hand hielt sie die Zügel von zwei … Diese Wesen konnte ich beim besten Willen nicht benennen. Es waren auf jeden Fall Tiere. Ein geschmeidiger Körper, wie bei einem Gepard. Die Beine eines Hirschs, doch Hals und Kopf waren die einer Schlange. Das Wesen besaß ein sandbraunes Fell am ganzen Körper, das mit dunklen Tupfen übersät war. Die Hufe waren groß und mit längerem Fell behangen, genau wie die Spitze des Schwanzes. Eine kurze Mähne zierte seinen Kopf.

Es sah wunderschön aus. Edel.

Gerade als ich den Kopf wieder drehte, sah ich einen großen weißen Flügel hinter einem der Zelte verschwinden. In meiner Erinnerung blitzte ein Schatten auf. Ein großer Vogel, der das Sternenlicht verdeckte. Ein goldener Haarkranz. Das Wispern von Federn.

Wo kam diese Erinnerung her?

„Hey!“, rief da plötzlich der Mann von vorhin und im ersten Moment glaubte ich, er meinte mich, doch sein Blick ging an mir vorbei. „Asha, komm mal.“ Er winkte wild mit der Hand. „Elias hat sich einen Splitter eingefangen.“

Der blasse Typ boxte den Sprecher mit der linken Faust gegen die Schulter. Die rechte konnte er nicht benutzen, denn die blutete, als hätte er versucht, sich mit einem Messer anzulegen – mit wenig Erfolg. Das war definitiv mehr als nur ein Splitter.

Ein Stück weiter steckte eine Frau mit einer sehr langen Nase und einem rotkarierten Kopftuch das Gesicht aus einem Zelt. Sie hatte die Augen leicht zusammengekniffen und seufzte entnervt, als sie das Dilemma sah. „Ich komme gleich“, verkündete sie und tauchte wieder im Zelt ab.

Ich trat aus dem Lazarett hinaus. Vielleicht sollte ich einen von diesen Leuten fragen, wo ich mich befand und wie ich hierhergekommen war. Und auch, was das alles überhaupt zu bedeuten hatte. Andererseits war ich neugierig darauf, was ich hier sonst noch so zu sehen bekommen könnte. Dieser Ort wimmelte nur so von ungeahnten Eindrücken.

Ich zog meine Unterlippe zwischen die Zähne und schaute mich vorsichtig um. Nicht dass ich Angst hatte, erwischt zu werden – schließlich stand ich hier ganz offen rum – aber ich war mir nicht sicher, ob es diesen Leuten recht war, wenn ich mich einfach auf eigene Faust auf Achse machte.

Obwohl, wenn es ihnen nicht passte, würden sie mich sicher aufhalten.

Mein Blick schweifte für einen Moment zum Himmel. So, wie die Sonnen standen, mussten wir frühen Nachmittag haben. Zum ersten Mal fragte ich mich, wie lange ich eigentlich geschlafen hatte. Es war tiefe Nacht gewesen, als ich das letzte Mal die Augen geschlossen hatte.

Ich würde jemanden fragen müssen, aber nicht jetzt. Jetzt war ich gespannt darauf, was mich an diesem Ort noch alles erwartete.

Als hätte ich jedes Recht dazu, entfernte ich mich vom Lazarett, um das Lager zu erkunden. Der Trick dabei war, so zu tun, als dürfte man es. So zog man weniger Aufmerksamkeit auf sich. Dafür gab es hier aber allerlei Dinge, die meiner Aufmerksamkeit bedurften. Zum Beispiel das Zelt, vor dem ein Dutzend Tische und Bänke stand. Ein ziemlich haariger Mann schaute aus der offenen Zeltplane und reichte einen Teller mit Essen an eine Frau.

Einen Moment überlegte ich, welches Wesen sich unter den vielen Haaren verbergen mochte, kam dann aber zu dem Schluss, dass er einfach nur einen guten Stoffwechsel besaß.

Unter einem der Tische im Schatten lag ein Hund mit drei Köpfen. Die Augen waren geschlossen, doch die sechs Ohren drehten sich unablässig in alle Richtungen.

Wunderschön, fiel mir dazu nur ein.

Je weiter ich durch das Lager wanderte, desto klarer wurde mir eines: die meisten Wesen hier waren so ganz anders als ich und doch schienen sie einem ganz normalen Alltag zu folgen.

Ich entdeckte ein paar Greife, majestätische Tiere in verschiedenen Farben, die ein paar Reiter aus dem Lager hinaustrugen. Ein Stück weiter war etwas wie eine provisorische Koppel, auf der die gefleckten Schlangenhirsche standen. Daneben war das einzige Holzgebäude auf dem ganzen Gelände. Ein Stall, in dem weitere Greife und Schlangenhirsche verweilten.

Ich wusste nicht, wie lange ich mich durch das Lager bewegte. An jeder Ecke schien es etwas Neues zu geben, das mich fesseln konnte. Dieser Ort war so faszinierend, dass ich jede Kleinigkeit wie ein Schwamm einfach in mich aufsog.

Ziemlich am Rand des Lagers befand sich ein großer Freiplatz unter den sengenden Sonnen. Im Boden steckte ein Dutzend dicker Pfähle, die in einem Kreis angeordnet waren. Schimmernde Stricke hingen von ihnen hinab und wehten im warmen Wind.

Ich runzelte die Stirn. Darauf konnte ich mir keinen Reim machen. Vielleicht waren sie ja dazu gedacht, die Reittiere festzubinden. Ein Greif würde sonst sicher einfach davonfliegen.

Ein lauter Jubelchor zog meine Aufmerksamkeit auf sich.

Ich folgte den Stimmen und Rufen zwischen den Zelten entlang und kam so zurück zu dem Zelt, an dem das Essen ausgegeben wurde. Eine Traube hatte sich um den kleinen Platz davor gebildet und jubelte zwei Männern zu, die sich in der Mitte mit einem breiten Grinsen gegenüberstanden. Besser gesagt, sie belauerten sich.

Der eine Mann hielt in seinen Händen ein langes Schwert, während der andere nur mit zwei kleinen Dolchen bewaffnet war. Doch diese hatten einen seltsamen Glanz, den ich nicht definieren konnte.

Meine Augen waren wie gebannt von diesem Glanz, der in Wellen über die Seiten zu laufen schien. Fasziniert von diesem Anblick, trat ich zwischen die Zuschauer. Niemand schien mich zu bemerken oder mir gar seine Aufmerksamkeit schenken zu wollen.

„Worauf wartest du, Kiran?“, wollte der Mann mit dem Schwert wissen. Das Tuch auf seinem Kopf verdeckte seine Haarfarbe, nicht jedoch das kantige Gesicht mit der wettergegerbten Haut. Er war mindestens doppelt so alt wie der andere Mann.

„Alter vor Schönheit“, sagte Kiran nur und ließ ein Lächeln aufblitzen, das einen angeschlagenen Zahn preisgab.

„Schönheit ist ein Wort, das ich nur mit Frauen in Verbindung bringe, oder möchtest du mir sagen, dass du ein Mädchen bist?“

Eine junge - ich wusste nicht recht, was sie war. Auf jeden Fall gab sie ein leises Kichern von sich.

„Hör endlich auf zu labern und greif an“, forderte Kiran seinen Gegner auf.

„Wie du willst.“ Und noch bevor das letzte Wort seinen Mund verlassen hatte, setzte er sich in Bewegung. Es ging so schnell, dass selbst dieser Kiran überrascht wurde.

Der alte Mann machte einfach einen großen Schritt nach vorne, schwang dabei sein Schwert und drehte sich so, dass er seinem Gegner wohl den Kopf abgeschlagen hätte, wenn dieser sich nicht blitzschnell weggedreht hätte.

Die Leute um mich herum klatschten Beifall, während ich entsetzt nach Luft schnappte. Das waren doch keine echten Schwerter, oder? Da konnte doch nicht wirklich etwas passieren?

Der alte Mann hatte ein breites Grinsen im Gesicht. Für sein Alter war er noch verdammt wendig. Mit jedem weiteren Hieb trieb er Kiran vor sich her. Der konnte gar nichts anderes tun, als ständig auszuweichen, um nicht von der Klinge getroffen zu werden. Sogar die Leute traten weiter zurück, als er näherkam.

Doch egal, wie sehr er zum Rückzug gezwungen wurde, das Lächeln auf seinem Gesicht verschwand nicht. Ganz im Gegenteil, es wurde immer breiter.

Dann passierte etwas Seltsames. Die beiden Dolche in seiner Hand begangen zu glühen. Der wallende Schein auf ihnen wurde schneller und plötzlich wuchsen sie wie von Zauberhand, bis aus den Dolchen zwei glühende Einhandschwerter geworden waren, mit denen er sofort einen Schlag von seinem Gegner parierte.

„Du willst es also auf die harte Tour“, grinste der alte Mann und ein verschnörkeltes Muster erschien auf den flachen Seiten seines Schwertes. Sie begangen rot zu glühen. Dann war die Luft von klirrenden Schlägen und Lichtschweifen erfüllt.

Ich stand nur da und konnte kaum glauben, was sich vor meinen Augen abspielte. Das war … das war magisch! Die beiden führten einen Tanz auf. Geschmeidig wichen sie den Angriffen aus oder konterten sie. Begleitet wurde dieser Tanz von den Lichtern der Schwerter, das dem Ganzen etwas so faszinierendes gab, dass ich den Blick nicht abwenden konnte.

Sie drehten und wanden sich umeinander, belauerten sich, um dann wieder zum Angriff überzugehen, während die Leute um mich herum ihren Favoriten anfeuerten.

Der Tanz bewegte sich auf mich zu und plötzlich war da ein Vibrieren in der Luft. Es war wie ein Kitzeln, das meine Haut streichelte, und etwas in mir wollte sofort darauf zustreben.

Verwirrt machte ich einen Schritt zurück. Es war das gleiche Gefühl, das mich überlaufen hatte, als ich die Lichtsäule in der Ferne gesehen hatte. Es war verlockend und einen Moment traute ich mir selbst nicht. Wenn ich nur …

„Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?!“

Bei der Stimme neben mir war ich nicht die Einzige, die zusammenzuckte. Selbst die beiden Kontrahenten stellten ihren Kampf sofort ein und schauten überrascht auf.

„Reicht es nicht, dass ich euch so schon oft genug zusammenflicken muss?“ Resolut schritt die Frau mit der langen Nase an mir vorbei. Das Tuch auf ihrem Kopf war fort und zeigte nun einen langen, schwarzen Flechtzopf, der auf ihrem Rücken wippte. Ihre Augen standen leicht schräg, was ihr einen orientalischen Touch gab, und die Haut war so tief gebräunt, als würde sie sich täglich unter diesen zwei Sonnen bewegen – was sie vermutlich auch tat.

Ihre Augen funkelten aufgebracht, als sie zwischen Kiran und seinen Gegner trat und ihnen entschlossen ihre Waffen abnahm. „Das macht ihr doch nur, um mich zu ärgern.“

„Ach, Asha“, seufzte Kiran, händigte ihr aber sofort die beiden Schwerter aus, als sie danach verlangte. Bei der Übergabe schrumpften sie wieder in sich zusammen, bis sie nichts weiter als seltsame Dolche waren. Damit verschwand auch das komische Gefühl von meiner Haut. „Wir haben doch nur ein bisschen rumgealbert. Uns wäre schon nichts …“

„Erzähl mir nicht, dass euch nichts passiert wäre“, schimpfte sie. „Das hast du beim letzten Mal auch gesagt und dann kamst du mit einer Fleischwunde bei mir an.“

Er zuckte nur mit den Schultern. „Ich hab halt nicht richtig aufgepasst.“

„Nein, ich weiß, und deswegen muss ich es ja auch tun. Und nun geh und mach dich nützlich.“ Sie drehte sich zu den neugierigen Zuschauern um. „Und ihr auch. Na los.“ Sie machte mit den Händen eine Kusch-kusch-Bewegung, die die Leute auseinandertrieb. Mit den Waffen in der Hand sah das schon seltsam aus.

Auch ich trat vorsichtshalber ein wenig zur Seite, als sie kopfschüttelnd an mir vorbeilief und dabei etwas von ‚Männer und ihre Kinderein‘ murmelte.

Meine Augen folgten ihr. Was mochte sie in dieser Gruppe für einen Stand haben, dass alle ihr so widerstandslos gehorchten? War sie sowas wie die …

Meine Gedanken verflüchtigten sich, als ich sah, auf wen sie zusteuerte.

Federn raschelten, ein kräftiger Windstoß strich mir übers Haar. Etwas berührte mich vorsichtig an der Wange, bevor ein lauter Ruf den Frieden der Nacht störte.

Die Schatten um mich herum schienen sich zu verdichten, während der Himmel immer dunkler wurde. Die Sterne verloschen. Meine Augen fielen zu.

Ein Engel.

Dort, mitten zwischen zwei flatternden Zelten in einer Windböe, stand ein blonder Mann mit einem breiten Lächeln auf den schmalen Lippen. Genau wie bei allen anderen hier, war seine Haut dunkel gebräunt. Seine kurzen Haare standen ihm chaotisch in alle Richtungen ab, er trug die gleiche Kleidung wie alle anderen und aus seinem Rücken wuchsen zwei riesige weiße Schwingen, die im Sonnenlicht seidig schimmerten. In seinen Augen schienen Lichtfunken zu tanzen.

Die Arme vor der Brust verschränkt, sagte er etwas zu dieser Asha, nahm ihr dann die Waffen ab und beugte sich leicht vor, um sie auf den Mund zu küssen. Dabei spreizten sich seine Flügel leicht, was ihn noch unglaublicher aussehen ließ.

Als normaler Mann wäre er nicht besonders auffällig gewesen, obwohl das Grübchen an seinem Kinn schon ziemlich niedlich war, doch diese Flügel verliehen ihm etwas … Engelhaftes.

Nun hörte sich einer mal meine Gedanken an. Engelhaftes. Natürlich war er engelhaft, schließlich war er ein … Engel.

Dieser Gedanke überforderte mich völlig. Ich konnte nichts anderes tun, als dazustehen und die beiden anzustarren. Sie waren so vertraut miteinander, so … zärtlich. Er schaute sie an, als wäre sie das himmlische Geschöpf. Zumindest, bis seine Augen sich plötzlich auf mich richteten.

Ich brauchte einen Moment, bis die Erkenntnis, ertappt worden zu sein, bis in mein Gehirn durchsickerte, und noch einen weiteren, bis sich ein entschuldigendes Lächeln auf meine Lippen legte. Erwischt. Nicht, dass es mir peinlich gewesen wäre, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass es die beiden freute, in so einer Situation begafft zu werden.

Ein überraschter Ausdruck legte sich auf das Gesicht des Engels. Er sagte etwas zu dieser Asha und zeigte auf mich, was sie herumwirbeln ließ.

Einen Moment schien auch sie überrascht. Dann trat wieder dieser entschlossene Ausdruck auf ihr Gesicht, während sie beherzt auf mich zukam. „Was glaubst du, was du hier draußen tust?“

Mein Mund ging auf, doch ich kam gar nicht dazu, ihr eine Antwort zu geben.

„Wenn du glaubst, wieder gesund genug zu sein, um hier rumzulaufen, dann hast du dich aber getäuscht.“

„Ich …“

„Zurück ins Bett mit dir, bis ich etwas anderes sage.“ Sie zeigte in die Richtung, in der ich das Lazarett vermutete, und kniff die Augen leicht zusammen.

Ich wollte ihr eigentlich sagen, dass es mir wieder gut ging, aber ihr Blick ließ mich verstummen, bevor ich überhaupt ein Wort über die Lippen gebracht hatte. Nicht, dass er bösartig oder gar furchteinflößend wäre, es war eher die Strenge und Sorge darin, die mich seufzen und ihren Worten folgen ließen.

„Irgendwann treibt ihr mich alle noch in den Wahnsinn“, schimpfte sie, was den Engel schmunzeln ließ. „Ihr seid wie Kinder. Lässt man euch nur einen Moment aus den Augen, macht ihr nur Blödsinn. Und du brauchst gar nichts so zu grinsen“, fuhr sie den Engel an. „Du bist einer von den Schlimmsten.“

„Und trotzdem liebst du mich.“ Seine Stimme war tief und weich, wie ein Streicheln der Seele.

„Hmpf“, machte Asha nur und schritt mit mir im Schlepptau an ihm vorbei.

Der Engel folgte uns lächelnd und ich schaffte es die ganze Zeit nicht, den Blick von ihm abzuwenden.

War ich im Himmel gelandet? Vielleicht träumte ich ja doch nur.

 

°°°

 

Das Bett knarrte unter meinem Gewicht, als ich mich langsam drauflegte. Ich hatte zwar so getan, als würde es mir wieder bestens gehen, aber die Erschöpfung der letzten Tage steckte mir immer noch in den Knochen und ich war ganz froh, mich noch ein bisschen ausruhen zu können. Worüber ich mich nicht freute, war die Decke, mit der Asha ankam und die sie in ihrem fürsorglichen Wahn über mich warf. Mir war auch so schon viel zu warm, trotzdem ließ ich sie gewähren.

„Das nächste Mal, bevor du dieses Bett verlässt, fragst du mich, oder ich werde einen der Männer dazu bringen, sich auf dich zu setzen, bis ich etwas anderes sage.“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und musterte mich mit kritischem Blick von oben bis unten. „So, und jetzt sag mir, wie es dir geht. Hast du Hunger oder Durst? Tut dir etwas weh?“

Mein Blick huschte zu dem Engel, der mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen vor dem Séparée stand. „Ähm … ich könnte ein Aspirin vertragen.“

Asha zog die Stirn in Falten. „Ein was?“

Wie ‚ein was‘? „Etwas gegen Kopfschmerzen.“ Mein Kopf pochte noch immer leicht.

„Natürlich.“ Geschäftig zog sie sich einen Stuhl ans Bett und ließ sich darauf nieder. Sie war etwas jünger, als der erste Blick verriet, vielleicht Anfang dreißig. „Allein im Hinterland herumzulaufen war wirklich sehr töricht von dir.“ Sie legte ihre Handflächen zusammen und rieb sie aneinander, als wollte sie sie aufwärmen. Dabei lag ein konzentrierter Ausdruck in ihren Augen. „Besonders zu dieser Jahreszeit. Hätte Ryu dich nicht gefunden, wärst du jetzt vermutlich nur noch ein Stück Trockenfleisch.“

Wie nett. „Wer ist Ryu?“

Ohne den Blick von ihren Händen abzuwenden, machte sie mit dem Kopf eine Geste in Richtung des Engels. „Wie kommt man überhaupt auf die Idee, dort draußen mutterseelenallein rumzulaufen? Was hast du da nur gemacht?“

Der Engel hatte mich gerettet? Wieder beobachtete ich ihn aus dem Augenwinkel. Die Hände mit den Waffen vor der Brust verschränkt, beobachtete er mich eingehend.

„Dann auch noch so unvorbereitet.“ Sie zog ihre Handflächen leicht auseinander und plötzlich erschien zwischen ihnen ein sanftes Leuchten.

Das Wispern kehrte auf meine Haut zurück und das erste Mal, seit ich den Engel Ryu gesehen hatte, war meine Aufmerksamkeit von etwas anderem gefangen.

„Das hätte wirklich böse für dich enden können“, schimpfte Asha weiter, ohne meine plötzliche Faszination zu bemerken. Sie machte Licht. Mit ihren Händen! „Ich habe schon seit Ewigkeiten keinen so extremen Sonnenbrand mehr gesehen.“

„Naja, ich war da ja nicht mit Absicht“, versuchte ich zu erklären, immer noch völlig gebannt von ihrem Tun.

Ashas Hände verharrten einen Moment in der Bewegung, bevor sie ungläubig den Kopf schüttelte. „Nicht mit Absicht? Bist du etwa zufällig aus den Wolken gefallen und dort gelandet?“

„Ich … ich weiß nicht.“ Wieder huschte mein Blick zu Ryu. Er war aus den Wolken gefallen. Dann hatte er mich gerettet. Ein Engel hatte mich gerettet.

Irgendwie war die Tatsache, einen Engel vor der Nase zu haben, tausendmal einschüchternder als alles andere, was mir in den letzten Tagen vor Augen gekommen war. Ich meinte - er war ein Engel! Da fehlte eigentlich nur der Heiligenschein.

„Wie kann man das nicht wissen?“ Asha zog ihre Handflächen auseinander. Jede war von einem blauen Schimmer überzogen, der etwas Geisterhaftes an sich hatte. Es sah hübsch aus, doch als sie sich dann zu mir nach vorne beugte und mit ihren Händen nach meinem Gesicht griff, zuckte ich reflexartig zurück. Ich meinte, etwas zu sehen und davon fasziniert zu sein, war eine Sache, aber deswegen wollte ich dem noch lange nicht zu nahe kommen. Besonders nicht, wenn ich nicht wusste, was es war.

Von meinem plötzlichen Rückzug überrascht, verharrte Asha mitten in der Bewegung. „Was hast du?“

Ich drückte mich etwas tiefer ins Kissen. „Was … was wird das?“

„Was? Das?“ Verständnislos hob Asha die Hände. „Du hast gesagt, du hast Kopfschmerzen.“

„Ja, deswegen wollte ich ein Aspirin.“

In ihren Augen tauchte Sorge auf. Sie tauschte einen kurzen Blick mit Ryu, dann verschwand das Leuchten. Trotzdem zuckte ich wieder zurück, als sie mir den Handrücken auf die Stirn legte. „Geht es dir wirklich gut?“

„Vielleicht hat sie ja einen Sonnenstich“, überlegte Ryu.

„Nein.“ Asha schüttelte den Kopf, ließ von mir ab und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. „Ihre Hautfarbe ist normal. Sie hat auch weder Fieber, noch hat sie sich übergeben. Das einzige, was dafür sprechen würde, sind ihre Kopfschmerzen, aber die …“

„Ich habe keinen Sonnenstich“, unterbrach ich sie und schaute von einem zum anderen. „Wirklich“, fügte ich hinzu. Vielleicht wurde ich langsam verrückt, weil ich Dinge sah, die es eigentlich nicht geben durfte und mich das Ganze nicht mal beunruhigte. Aber einen Sonnenstich hatte ich mit Sicherheit nicht.

Ashas Stirn hatte sich tief in Falten gelegt. „Warum schaust du Ryu immer so an?“

Das hatte sie bemerkt? Mist. „Weil … äh … naja“, druckste ich ein wenig herum. „Er ist ein Engel.“

„Ja“, stimmte Asha zu und wartete. Als von mir nichts mehr kam, fragte sie: „Und weiter?“

„Nichts weiter.“ Ich zeigte in seine Richtung. „Er … er ist ein Engel.“

Wieder tauschten die beiden diesen Blick.

„In Ordnung.“ Asha rückte ein wenig näher an mich heran und wollte nach meiner Hand greifen, doch als ich sie wegzog, beließ sie es dabei. „Möchtest du mir vielleicht verraten, wie du heißt?“ Plötzlich war ihre Stimme viel weicher. Jegliche Strenge war daraus verschwunden. Es war, als versuchte sie sich vorsichtig einem scheuen Tier zu nähern.

„Tiara. Mein Name ist Tiara … äh …“ Was stand noch mal in dem Brief? Der Brief! Hektisch riss ich die Decke fort und suchte in meinen Hosentaschen nach dem einzigen Gegenstand, der ein wenig Licht in mein Dunkel bringen konnte, aber wie erwartet war er nicht da.

„Alles in Ordnung?“, fragte Asha besorgt, obwohl offensichtlich war, dass nichts in Ordnung war.

„Nein, mein Brief ist weg. Er war in meiner Hose und …“ Ich hielt inne. „Wo ist meine Hose?“

„Ich habe deine Kleidung in die Wäsche gegeben. Sie war völlig verdreckt“, erklärte Asha.

Oh nein. „Ich brauche meinen Brief!“ Ich wollte aus dem Bett steigen – hoffentlich hatten sie meine Sachen noch nicht gewaschen – aber Asha hielt mich fest und drückte mich sanft aber bestimmt zurück ins Bett.

„Wenn du von diesem verbrannten Zettel sprichst, den du bei dir getragen hast, dann …“

„Ja, genau!“, unterbrach ich sie. „Mein Brief.“

Etwas Weiches legte sich auf ihre Züge. „Keine Sorge, ihm ist nichts passiert. Ich habe deine Taschen geleert, bevor ich die Kleidung in die Wäsche gegeben habe.“ Sie drehte sich zu Ryu um. „Kannst du mal auf meinem Schreibtisch nachsehen? In dem kleinen Korb auf der Kante? Da müssten die Sachen drin sein.“

Ryu nickte und verschwand aus unserem Blickfeld.

„Keine Sorge, hier kommt nichts so schnell weg“, versuchte sie mich zu beruhigen.

Und tatsächlich. Kaum eine Minute später reichte Ryu mir meine Sachen, diesmal ohne die Waffen in den Händen – er musste sie auf den Schreibtisch gelegt haben. Und da war nicht nur der Brief, sondern auch das Taschenmesser. Und das Handy. Das hatte ich ja ganz vergessen. Ich hatte es in der Höhle in meine Hosentasche gesteckt.

Der Bildschirm war jedoch schwarz, der Akku war in der Zwischenzeit bestimmt leergeworden.

„Was ist das?“, wollte Asha wissen und zeigte auf das Mobiltelefon.

Ich runzelte die Stirn. War das eine ernsthafte Frage? Sie schien jedenfalls keine Scherze zu machen. „Ein Handy. Ich glaube, es ist meins.“

„Du glaubst?“

Wie sollte ich das am besten ausdrücken? „Ich erinnere mich nicht.“ Meine Finger spielten an der Einschalttaste herum und als es plötzlich zum Leben erwachte, war ich selbst überrascht. Es funktionierte nicht nur, der Akku war auch noch fast voll. Wie war das möglich? Hatte ich es ausgeschaltet, bevor ich es in meine Hosentasche gesteckt hatte?

„Du erinnerst dich nicht.“ Asha neigte den Kopf leicht zur Seite. „Kannst du das erklären?“

Ich zuckte mit den Schultern, während ich die Galerie aufrief, um mir die Fotos ein weiteres Mal anzusehen. „So mehr oder weniger. Ich verstehe es selbst nicht richtig.“

„Versuch es bitte.“

Vor mir ploppte das Bild von mir und meiner eineiigen Zwillingsschwester auf. Erneut überfiel mich dieses befremdliche Gefühl. Natürlich wusste ich nun, wer die beiden waren – jetzt jedenfalls. Trotzdem fühlte es sich seltsam an. „Ich bin in dieser Höhle aufgewacht. Ohne Erinnerung. Ich war allein. Da war nichts außer mir und diesem Brief.“

„Was für eine Höhle?“, wollte Ryu wissen.

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Eine Höhle eben. Sie ist irgendwo da draußen in der Wüste, aber ich glaube nicht, dass ich sie wiederfinden könnte.“ Davon abgesehen, dass ich zwei Tage ohne wirkliche Orientierung durch die Wüste geirrt war, wusste ich nicht mal, wo ich mich im Augenblick befand. Ich blickte auf. „Wo bin ich hier eigentlich?“

„Im Lager der Jäger, im roten Hinterland.“ Asha hatte die Stirn in Falten gezogen. „Darf ich den Brief einmal sehen?“

„Hast du ihn denn noch nicht gelesen?“ Für mich schien das eine berechtigte Frage zu sein, schließlich hatte sie ihn, seitdem ich hier angekommen war, in ihrem Besitz gehabt, doch sie schien durch diese Frage beleidigt zu sein.

„Der Brief gehört dir. Also nein.“

„Sorry“, sagte ich kleinlaut und reichte ihr meinen wertvollsten Schatz. „Eigentlich war er mehrere Seiten lang, aber die restlichen sind verbrannt.“

Asha überflog die wenigen Zeilen und ließ den Brief dann langsam in ihren Schoß sinken. Ihre Augen waren vor Erstaunen weit aufgerissen. „Tiara, beantworte mir eine Frage. Was bedeutet Magie?“

Ähm … was sollte ich darauf antworten? „Kaninchen aus dem Hut zaubern?“, riet ich einfach mal ins Blaue hinein. Mein Blick glitt zu Ryu. „Dinge, die es nicht geben kann.“

„Magie bedeutet Leben“, flüsterte sie. Ihre Hand wanderte ganz langsam zu ihrem Mund. „Du erinnerst dich wirklich an gar nichts mehr?“

„Naja, an die letzten beiden Tage schon, aber was davor war … da sind nur ein paar Bruchstücke. Wenn ich etwas laut ausspreche, zum Beispiel einen Namen, erinnere ich mich an etwas, das damit zusammenhängt. Aber ich kann es nicht kontrollieren. Mein Hirn spuckt dann einfach ganz spontan irgendwelche Sachen aus.“

„Sag Spiegel“, forderte sie mich auf.

Ich runzelte die Stirn. „Spiegel?“

Der Stift hinterließ rote Lilien auf meinem Handballen, bis das Pentagramm komplett war. Ich steckte die Kappe darauf und ließ ihn dann achtlos auf meinen Schreibtisch fallen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Entweder Tals Geschichte stimmte und ich würde dem hier entkommen, oder ich würde mich jetzt völlig zum Affen machen.

Als ich nach meinem Rucksack griff, schlug mein Herz ein klein wenig schneller. Irgendwie war ich schon aufgeregt. Selbst Mama und Papa behaupteten, dass diese Geschichten stimmten. Das war wohl auch der einzige Grund, der mich dazu bewog, die Klinge des Taschenmessers aufzuklappen und sie nach einem tiefen Atemzug über meinen Zeigefinger zu ziehen. Sofort bildete sich ein dicker Tropfen auf meiner Fingerkuppe.

Ich ließ das Taschenmesser in meinem Rucksack verschwinden, schulterte diesen und atmete ein weiteres Mal tief durch.

Jetzt oder nie.

Mein Finger berührte den großen Spiegel in meinem Kleiderschrank, während mir diese völlig absurden Worte über die Lippen kamen. „Ich will in die magische Welt.“

Plötzlich begann sich die Oberfläche des Spiegels in wellenartigen Bewegungen zu winden. Ein inneres Leuchten breitete sich aus. Erschrocken wollte ich die Hand wegziehen, doch die Scheibe begann mich einzusaugen. Erst nur die Hand, dann den Arm bis zum Ellenbogen, und bevor ich mich versah, wurde ich vom Spiegel verschluckt.

Überrascht weiteten sich meine Augen. „Woher …“ Ich riss meine Hand hoch. An das kleine Pentagramm erinnerte ich mich noch. Ich hatte es in der Höhle gesehen und es für eine Kinderkritzelei gehalten, doch nun war es weg. Auch von dem Schnitt im Zeigefinger war nichts mehr zu sehen.

„Viator“, sagte Asha fast ehrfürchtig. „Du bist ein Viator.“

„Ein was?“ Nein, da war wirklich kein Schnitt. Ich untersuchte meine andere Hand, aber auch dort konnte ich nichts finden. Wo war er hin? Okay, da konnte ich auch fragen, wo mein Sonnenbrand hin war. Oder meine Erinnerung. Warum hatte ich eigentlich nicht schon längst darüber nachgedacht? Warum nur beunruhigte mich das alles nicht so sehr, wie es eigentlich sollte? Ich meinte, ich wusste ja nicht einmal, wo genau ich wohnte, wie meine Schuhgröße lautete, oder wer meine Eltern waren.

„Ein Viator“, wiederholte Asha, ließ den Brief in meinen Schoß fallen und verschwand aus dem kleinen Séparée. Einen Moment später kam sie mit einem dicken Buch wieder und ließ sich damit zurück auf den Stuhl fallen. Sie klappte das Inhaltsverzeichnis auf, ließ ihre Augen konzentriert über die Zeilen wandern und blätterte dann hektisch weiter.

Ryu trat hinter sie und schaute ihr über die Schulter. „Das ist doch das Buch von Saana.“

Ashas Mundwinkel zuckte. „So könnte man es auch sagen, aber eigentlich …“ Sie verstummte und hielt beim Blättern inne. Ihr Blick huschte über die offene Seite. „Es sind die wenigsten von uns, denen das Glück beschert ist, einen Blick über die Welt hinaus zu werfen“, las sie vor. „Doch ist der Preis, den wir für dieses Wissen zahlen müssen, die Magie, die wir zurücklassen, denn an jenem fernen Ort, der nur durch Kenntnis beschritten werden kann, existiert sie nicht. Auch jene, die uns entgegenkommen, können nicht ihr ganzes Sein mitnehmen. Es ist nicht die Magie, die ihnen genommen wird, denn diese besitzen sie nicht. Doch der Wert ist nicht weniger minder. Es sind die Erinnerungen an ihr bisheriges Leben. Es ist ein Weg, der einen hohen Preis fordert und nur durch einen Titel belohnt wird: Viator.“

„Ich …“ Ich runzelte die Stirn. „Tut mir leid, aber damit kann ich nichts anfangen.“

„Es gibt zwei Welten“, erklärte Asha und klappte das Buch zu. Der Ausdruck in ihren Augen war noch immer fast ehrfürchtig. „Nur die wenigsten wissen davon, da es ein Geheimnis der Hexen ist und diese ihr Wissen am liebsten für sich behalten.“

„Zwei Welten“, wiederholte ich, weil mir nicht ganz klar war, was sie mir damit sagen wollte. Sollte das heißen, ich war auf einem anderen Planeten und die beiden waren Aliens? Diese Theorie war doch ein wenig zu abwegig. Andererseits … es würde eine Menge erklären.

„Zwei Welten“, bestätigte Asha. „Die eine – unsere – ist eine Welt voller Magie. Wir leben durch die Magie, sind ein Teil von ihr, genauso wie wir aus ihr geboren sind. Magie ist Leben. Ohne die Magie würde es keinen von uns geben. Nicht mich, oder Ryu, oder dich.“

„Mich?“ Was hatte das denn jetzt mit mir zu tun?

„Natürlich. Du bist eine Hexe und deswegen …“

„Ich bin eine was?!“

„Eine Hexe.“ Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. „Genau wie ich. Wir sind Hexen.“ Wie um ihre Worte zu beweisen, hob sie die Hand ich die Höhe und ließ bunte Funken von ihren Fingern springen, die in der Luft einfach verpufften.

„Soll das heißen, ich kann zaubern?“

„Ja, natürlich. Jede Hexe kann zaubern.“ Sie runzelte die Stirn.

Ich sollte zaubern können? Das wurde langsam wirklich verrückt. Also noch verrückter.

Meine Schuld ist beglichen, Hexe. Wenn du uns nachläufst, werde ich dich töten.

Woher die Worte des roten Mannes plötzlich kamen, wusste ich nicht. Doch sie waren so deutlich, als hätte er sie mir gerade erst zugeflüstert.

Meine Schuld ist beglichen, Hexe.

Hexe.

Er hatte es gewusst.

Ich hatte es nur für eine Beleidigung gehalten, aber er hatte es genauso gemeint, wie er es gesagt hatte. Er hatte mich erkannt. Er hatte gewusst, dass ich eine Hexe war. Zumindest, wenn das alles stimmte und ich mittlerweile nicht doch mit einem Hitzschlag mitten in der Wüste lag und vor mich hinvegetierte.

„Tiara, bitte sag mir, an was du dich erinnerst. Nicht aus den letzten Tagen, sondern von davor. Erzähl mir davon.“

Ich sollte es ihr erzählen? Aber ich wusste doch kaum etwas. „Meine Erinnerung ist weg“, erinnerte ich sie.

„Ich spreche nicht von deinem persönlichen Leben, sondern von der Welt, in der du gelebt hast.“ Ihr Blick huschte auf mein Handy.

„Du meinst vom einundzwanzigsten Jahrhundert? Naja, was soll ich da erzählen?“ Ich überlegte einen Augenblick. „Die Technologie entwickelt sich rasend schnell. Wir haben seit weiß nicht wie vielen Jahren zum ersten Mal eine Kanzlerin als Oberhaupt und die Busse fahren nie nach Fahrplan – niemals“, plapperte ich einfach drauf los, da ich keine Ahnung hatte, was genau sie hören wollte. Aber woher wusste ich das überhaupt? Wie konnte es sein, dass meine persönlichen Erinnerungen alle in meinem Bewusstsein verschollen waren, ich aber so etwas Banales wie die Unpünktlichkeit der Busse wusste? Oder auch, dass ich im einundzwanzigsten Jahrhundert lebte? Oder wie ein Handy funktionierte?

Ich senkte den Blick und ließ das Bild mit meiner Schwester erneut aufleuchten. „Die Umweltverschmutzung hat in den letzten Jahren extrem zugenommen, weswegen die Autos nun strengen Kontrollen …“

„Du bist nicht von hier“, unterbrach sie mich verwundert.

Ich blickte auf. „Ich weiß.“ Zumindest glaubte ich, es zu wissen.

„Aber du bist eine Hexe.“ Sie blickte zu Ryu auf. „Wie ist das möglich?“

Danach kehrte für einen Moment Schweigen ein, den ich dazu nutzte, meine Gedanken zu ordnen. Wenn ich das jetzt richtig verstanden hatte, wollte Asha mir Folgendes vermitteln: Ich wurde nicht verrückt, das alles hier war real. „Es gibt zwei Welten“, sprach ich laut aus.

Sie nickte.

„Eine magische und eine nicht-magische.“

Wieder ein Nicken.

Und wenn ich in der nicht-magischen gelebt hatte, konnte es eigentlich nur eines geben, was sie mir zu sagen versuchte. „Ich befinde mich also seit zwei Tagen in einer magischen Welt?“

„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf und verwirrte mich damit vollends. „Du bist zwei Tage durch das rote Hinterland gewandert. Dann hat Ryu dich gefunden. Vorgestern.“

„Ich hab zwei Tage geschlafen?!“ Das wurde ja immer besser.

„Ich habe dich in einen Heilschlaf versetzt. Du brauchtest die Zeit, um zu genesen. Die Sonnen hatten dir wirklich sehr zugesetzt.“

Heilschlaf. Magie. Ich griff nach dem Brief, um mir noch einmal jede Zeile vor Augen zu führen. Plötzlich schien hinter jedem Wort eine andere Bedeutung zu liegen. Ich versuchte mich daran zu erinnern, was ich über mich und mein Leben gelesen hatte, und fing an zu erzählen. „Ich bin Tiara Kleiber, geboren in München und dort mit meiner Zwillingsschwester aufgewachsen, bis sie für zwei Jahre spurlos verschwunden ist. Als sie wieder auftauchte, erzählte sie mir von einer magischen Welt, und weil ich ihr nicht glauben wollte oder konnte, oder wegen was-weiß-ich für Gründen, habe ich mich selber auf dem Weg gemacht, um herauszufinden, was an ihren Worten dran ist.“ Das klang doch schon mal fast wie ein Lebenslauf.

Asha und Ryu lauschten meinen Worten schweigend.

„Ich bin durch einen magischen Spiegel gestiegen, in einer magischen Höhle gelandet und wurde fast von magischen Einhörnern gefressen, als ich versucht habe, einen magischen roten Mann zu retten. Dann …“

„Was für ein roter Mann?“, unterbrach Ryu mich. Auf sein Gesicht war ein wachsamer Ausdruck getreten.

Ich blickte von meinem Brief auf. „Der Mann, der mich vor dem Feuer gerettet hat und dann einfach abgehauen ist.“

„Beschreib ihn mir bitte“, bat mich der Engel.

„Okay.“ Und so begann ich ihnen die ganze Geschichte seit meinem Erwachen in der Höhle zu erzählen. Als ich zu der Beschreibung des roten Mannes kam, öffnete Ryu den Mund, doch Asha brachte ihn mit einem „Schhhht“ zum Verstummen, noch bevor er einen Ton hervorgebracht hatte und bedeutete mir weiterzusprechen.

Nach und nach berichtete ich ihnen alles, was in den letzten zwei Tagen vorgefallen war. Als ich den Fennek erwähnte, runzelten die beiden die Stirn, weil sie mit dem Begriff nichts anfangen konnten, und bei der Lichtsäule zuckten sie mit keiner Wimper, genau wie bei den Phönixen. Diese Dinge schienen für sie völlig normal zu sein.

Ich erzählte ihnen, an was ich mich bisher erinnerte und dass ich den Verdacht hatte, dass das mit bestimmten Schlagwörtern zu tun hatte.

Als ich zu dem alten Dorf kam, legte sich ein Schatten über Ryus Augen. „Ich weiß auch nicht mehr, was genau mich dazu bewogen hat, nach draußen zu gehen. Vielleicht der kleine Fennek. Ich weiß nur, dass ich unbedingt nach draußen musste. Und als ich mich dann an dem Geländer festgehalten habe, ist es unter meinem Gewicht einfach gebrochen.“ An den Schmerz erinnerte ich mich noch sehr genau, auch wenn er von meinem bescheidenen Allgemeinzustand etwas abgedämpft wurde. „Ein Teil hat sich in meine Seite gebohrt.“

„Deswegen hast du vermutlich geschrien“, überlegte Asha und erklärte, als sie meinen verwirrten Blick sah: „So hat Ryu dich gefunden. Du hast geschrien. Und dann war da ein Fennlix, der einen gigantischen Lärm veranstaltet hat.“

„Mein kleiner Freund.“ Wo war er eigentlich? Ich sah mich in dem Séparée um, als würde er plötzlich unterm Bett hervorkrabbeln. „Wo ist er?“

„Der Fennlix? Er ist weggelaufen, als ich gelandet bin.“

„Du hattest wirklich Glück“, erklärte Asha. „Hätte der Kleine nicht so einen Lärm gemacht, dann hätte Ryu dich nicht so schnell gefunden.“ Sie lächelte leicht. „Sie sind wirklich Glücksbringer.“

„Wer? Der kleine Fennek?“ Ich runzelte die Stirn. „Fennlix“, verbesserte ich mich.

Asha nickte. „Fennlixe gibt es schon, solange es die Wüste gibt. Man sagt, ein Fennlix begleitet und beschützt reine Seelen, die verloren herumirren, um sie zurück auf den richtigen Weg zu führen.“

Auf den richtigen Weg hatte er mich ja nicht wirklich geführt, aber dass ich verloren herumgeirrt war, stimmte schon. Andererseits hatte ich es ihm zu verdanken, dass ich so schnell gefunden worden war. Wie lange hätte Ryu sonst gebraucht? Außer dem kurzen Schrei einer Fremden hatte er ja nichts gehabt. „Also hat mein kleiner Freund mir das Leben gerettet.“

Asha nickte. „Ryu hätte dich vermutlich trotzdem gefunden, doch ich bezweifle, dass er dich dann noch rechtzeitig in Lager hätte bringen können.“ Sie schwieg einen Moment. „Bei deiner Ankunft hier stand es wirklich schlecht um dich.“

Hatte ich mich wirklich so kurz vor dem Ende befunden? Irgendwie konnte ich das nicht richtig glauben – wie so vieles im Moment. Eine magische Welt. Ich war eine Hexe. Aber eigentlich stammte ich ja gar nicht von hier. Gab es Zuhause auch Hexen? Nur eben welche ohne Magie? War eine Hexe ohne Magie überhaupt eine Hexe?

Diese Fragen waren wirklich müßig.

Aber trotz allem war ich nun hier. In der Gesellschaft einer Hexe und eines Engels. Irgendwo in einem Zeltlager.

Das Stirnrunzeln wollte gar nicht mehr aus meinem Gesicht verschwinden. „Was genau ist das hier eigentlich? Ich meine, ihr und die ganzen Leute dort draußen ...“ Leute? Durfte ich sie so überhaupt nennen, oder sahen sie das vielleicht sogar als Beleidigung an? „Menschen … ähm … Wesen“, verbesserte ich mich schnell.

„Mortatia.“

„Bitte?“

Asha schmunzelte. „Leute, die Wesen dieser Welt, alle, die als humane Wesen im Codex stehen, werden als Mortatia bezeichnet. Wir sind Mortatia.“

Alle. Wirklich alle? „Auch Leute mit Schlagen auf dem Kopf?“

Ihr Mundwinkel zuckte. „Ja. Und auch Männer mit Flügeln auf dem Rücken. Aber um auf deine eigentliche Frage zurückzukommen, wir befinden uns im Lager der Dämonenjäger.“

Leerlauf. Das war es, was nach diesen Worten in meinem Kopf entstand. „Ihr seid Jäger“, versicherte ich mich noch einmal.

„Ich nicht“, sagte Asha. „Ich bin Heilerin, aber Ryu ist Jäger.“

„Ryu ist Jäger“, wiederholte ich und schaute zum Engel auf. „Und du jagst Dämonen.“

Er nickte.

„Wie in dem ganzen Gott-und-Satan-Ding?“

Ryus Augenbrauen zogen sich leicht zusammen. „Ich weiß nicht, was du damit meinst.“

„Na Gott, den Teufel und die Bibel.“ Ich sah von einem zum anderen. „Adam und Eva? Die Entstehungsgeschichte? Der Apfel? Verbannung aus dem Paradies?“ Die Fragezeichen in ihren Gesichtern wurden immer größer. „Ihr kennt keine Götter? Du bist ein Engel, jagst Dämonen und hast trotzdem keine Ahnung von Religion?“

„Ryu ist mit den Riten der anderen Welt noch weniger vertraut als ich und mein Wissen beschränkt sich schon auf ein Minimum“, verteidigte Asha ihn. „Alles, was ich weiß, habe ich aus diesem Buch.“ Sie tätschelte den dicken Wälzer auf ihren Beinen.

„Okay, kein Gott, kein Teufel, aber Engel. Und ihr jagt Dämonen.“ Ein Lager voller Dämonenjäger. Jetzt hatte ich wirklich alles gehört. Mortatia, die auf Dämonen Jagd machen. Verrückter ging es wohl kaum – nicht in Anbetracht dessen, dass sie selbst zum Teil sehr skurrile Gestalten waren.

„Nur so kann die Ordnung wieder hergestellt werden“, bestätigte Ryu.

Asha dagegen senkte den Blick. Sie schien mit ihrem Freund – Mann? – nicht einer Meinung zu sein.

„Was machen sie denn, diese Dämonen?“, wollte ich wissen.

Ein Schatten legte sich über ihre Gesichter.

„Sie sind grausame Wesen“, flüsterte Asha. „Sie folgen allein ihren Instinkten und nehmen sich alles, was sie wollen. Sie töten und morden, bedrohen die Mortatia. Selbst vor ihresgleichen machen sie keinen Halt. Und wer ihnen in die Quere kommt, sollte gut vorbereitet sein.“

In meinem Kopf entstand das Bild eines schrecklichen Monsters mit Zähnen und Klauen, dem der Geifer aus dem Maul tropfte. Leere Augenhüllen, die ins Nichts zu führen schienen, und ein Brüllen, das einen bis ins Mark erschüttern konnte. Nachts schlichen sie durch die Dunkelheit und fraßen alles, was ihren Weg kreuzte. Oh Gott, ich hatte zu viel Phantasie.

„Du brauchst keine Angst zu haben“, beruhigte Asha mich und tätschelte meine Hand. Dieses Mal ließ ich es zu. „Die Dämonen würden es niemals wagen, in unser Lager zu kommen. Sie wissen, dass wir ihnen gefährlich werden können.“

„Das sagen sie in den Horrorfilmen auch immer. Und am Ende sind dann doch alle tot“, sagte ich düster.

Asha schaute mich verständnislos an.

„Schon gut“, wiegelte ich ab. Das war wohl wie mit Himmel und Hölle, es sagte ihnen nichts.

Ich fasste mir an den Kopf. Langsam wurden die Schmerzen schlimmer. Es war ja auch eine ganze Menge, was ich zu verdauen hatte.

„Ich glaube, du brauchst langsam wieder deine Ruhe“, ließ Asha plötzlich verlauten und stand geschäftig auf. „Du bist immer noch nicht wieder fit und solltest dich ausruhen.“

Ausruhen? Jetzt? Nachdem, was sie mir alles gesagt hatte? „Nein, ähm … mir geht es gut.“ Da war doch noch so viel, was ich wissen wollte.

„Nein, tut es nicht. Und deswegen werde ich dieses Gespräch vorerst beenden.“

„Aber …“

„Du kannst später noch Fragen stellen.“ Wie schon vorhin rieb sie ihre Hände aneinander und ich konnte dabei zusehen, wie sich langsam das milde Licht darauf ausbreitete. „Du brauchst dich davor nicht zu fürchten. Es vertreibt nur die Kopfschmerzen“, versuchte sie mich zu beruhigen, als sie meinen Blick auffing.

„Ich werde mal Amir Bericht erstatten“, erklärte Ryu. „Und dann muss ich auf Hatz.“

„Sei vorsichtig“, mahnte Asha ihn, beugte sich vor und gab ihm einen Kuss. Ihr besorgter Blick folgte ihm, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war.

Ich kam nicht umhin, es zu bemerken. „Ist es gefährlich?“

Asha wandte sich zu mir um und rieb die Hände weiter aneinander, aber auch ihr Lächeln konnte mich nicht über die Sorge in ihren Augen hinwegtäuschen. „Ryu ist erfahren, er weiß, was er tut“, antwortete sie ausweichend.

Wieder erschien das Bild eines Monsters in meinem Kopf. „Warum tut er es dann?“

„Damit Kinder in einer besseren Welt aufwachsen können. So, und nun halt einen Moment still.“

Misstrauisch beobachtete ich, wie sie sich vorbeugte, und obwohl ein Reflex mich dazu bewegen wollte, erneut auszuweichen, zwang ich mich stillzuhalten. Was gab es schließlich für einen besseren Beweis für Magie, als sie leibhaftig zu spüren? Außerdem war da wieder dieses verlockende Summen auf meiner Haut. War es die Magie selbst, die ich da spürte?

Asha legte mir die Hände auf die Schläfen und augenblicklich breitete sich eine angenehme Wärme in meinem Kopf aus, die den Schmerz nicht nur dämpfte, sondern ihn fast vollständig vertrieb. „Wow“, flüsterte ich und konnte mir ein erleichtertes Seufzen nicht verkneifen.

„Besser?“

„Und wie.“ Ich schaute auf ihre Hände, als sie sie wieder fortnahm, aber das Leuchten war bereits erloschen. „Ich wünschte, ich könnte das auch.“ Nicht nur, um mich von lästigen Kopfschmerzen zu befreien. Allein der Gedanke, zaubern zu können – wirklich und wahrhaftig – faszinierte mich schon.

„So ein kleiner Heilzauber ist nicht weiter schwer.“

„Für dich vielleicht nicht.“

Asha neigte den Kopf zur Seite und musterte mich sehr intensiv. „Und du hast wirklich keine Erinnerungen aus dieser Welt?“

„Außer den letzten beiden Tagen?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Das ist wirklich seltsam, denn du bist eindeutig eine Hexe.“

„Woran siehst du das?“ Hatte ich plötzlich eine haarige Warze auf der Nase? Ich schielte zu meiner Nasenspitze. Nein, alles okay.

„Ich spüre es. Die Magie ist für uns wie ein Streicheln auf der Haut. Mal ist sie kaum wahrzunehmen und dann wieder so intensiv, dass man sich zu ihr hingezogen fühlt.“

Das beschrieb genau das, was ich spürte.

„Das ist nur für eine Hexe so. Andere Wesen können sie nicht spüren, nicht auf diese Art. Das unterscheidet uns von ihnen. Aber nicht nur das. Wir haben auch das sogenannte magische Auge. Eigentlich ist es viel mehr ein Gespür, das wir mit der Zeit lernen. Wir können die Wesen auseinanderhalten, ohne sie sehen zu müssen. Ich kann dir zum Beispiel genau sagen, wer sich gerade in der Nähe des Zeltes befindet. Ich kann sie spüren, jeden einzelnen von ihnen.“

So konnte sie wenigstens niemals von hinten überrascht werden. „Ich kann das nicht.“

„Du kannst es lernen. Wenn du es wirklich möchtest.“

„Wirklich?“

„Natürlich.“ Sie nahm das Buch vom Stuhl und legte es mir auf die Beine. „Wenn du möchtest, kannst du darin ein wenig herumblättern.“

Und ob ich wollte! „Das ist Wahnsinn!“, strahlte ich sie an.

Asha schmunzelte. „Aber übernimm dich nicht. Du bist noch immer nicht wieder ganz gesund und ich möchte, dass du dich ausruhst.“

„Klar, kein Problem.“ Zwar fühlte ich mich im Augenblick fast euphorisch, doch ich wusste nur zu genau, was ich hinter mir hatte.

„Schön. Wenn du noch was brauchst, ich bin gleich nebenan. Du musst mich nur rufen.“

In dem Moment erklang ein paar Séparées weiter ein fürchterliches Husten.

„Oh je, Gaio.“

Ich kam nicht mal mehr dazu, ihr zu danken, da war sie auch schon verschwunden und ließ mich mit dem Buch und meinen Gedanken zurück. Einen Moment war ich versucht, über das Gesagte nachzudenken, doch es juckte mich in den Fingern, das Buch aufzuschlagen. Vielleicht war es einfach die Furcht vor dem, was passieren konnte, wenn ich mich wirklich auf meine Gedanken einlassen würde. Vielleicht war es aber auch schlicht und ergreifend Neugierde.

Ich konnte und wollte mich nicht entscheiden. Dafür wollte ich wissen, was in diesem Buch stand. Darum schlug ich es auf.

 

°°°

 

„Abendessen.“

Bei Ashas Ruf blicke ich erstaunt von dem dicken Wälzer auf. „Abendessen?“ War es wirklich schon so spät?

Ein freundliches Lächeln strahlte mir vom Fußende meiner Pritsche entgegen. Mit einem Tablett in der Hand kam sie um das Bett herum und stellte eine Suppenschüssel mit etwas Brot auf den kleinen Beistelltisch. „Gefällt dir das Buch?“

„Ich finde es faszinierend“, sagte ich ganz ehrlich. „Aber da sind so einige Begriffe drin, die mir überhaupt nichts sagen.“ Meistens in Bezug auf die Magie, was mich schon ein wenig nervte, da ich so nämlich nicht mal die einfachsten Zauber nachvollziehen konnte. Ich hatte es probiert. Es war nichts passiert.

„Welche denn?“

„Was ist die Caput Vena?“

„Die Magie in ihrer reinsten Form.“ Sie ließ sich auf das Fußende meines Bettes sinken.

Ich runzelte die Stirn. „Aber hier ist immer die Rede von einem Strom, aus dem wir zusätzliche Macht gewinnen können.“

„Das ist richtig. Du musst dir das so vorstellen: In ihrer reinsten Form hat Magie weder Farbe noch Kontur, nur ein inneres Leuchten. Aber das ist meist so schwach, dass wir es nicht wahrnehmen können. Außer an Orten, wo sie konzentriert auftritt. Meistens sind es Adern unter der Erde, oder tief im Gestein verborgen. Diese Orte, diese Ströme, werden als Caput Vena bezeichnet.“

In meiner Vorstellung nahm ihre Erklärung die Form von unterirdischen Wasserleitungen an. Nur eben ohne die Leitung. Und ohne das Wasser. „Und die kann man anzapfen“, stellte ich fest.

Asha nickte, griff nach der Suppenschüssel und hielt sie mir unter die Nase. „Iss jetzt, dann erzähle ich weiter.“

Das hörte sich nach einem Deal an. Ich klappte das Buch zusammen, schob es zur Seite und nahm die Schüssel entgegen. Schon vom Geruch begann mein Magen zu knurren. Doch als ich einen Blick hinein warf, stutzte ich. Was ich da sah, würde ich niemals mit dem Begriff ‚Suppe‘ in Verbindung bringen. Es erinnerte mich eher an brodelnden Schleim oder ein Hexengebräu in einem alten Kupferkessel, der über einem offenen Feuer köchelte.

„Stimmt etwas nicht?“, wollte Asha wissen.

Ich schaute nur einen Moment zu ihr auf. „Nein, ich … was ist das?“

„Olus.“

Mit dem Begriff konnte ich überhaupt nichts anfangen.

Ashas Schmunzeln zufolge, sah sie es mir genau an. „Olus ist nichts anderes als eine Suppe aus Heilpflanzen, die ich nach einem alten Familienrezept zubereitet habe. Sie ist genau das, was du im Moment brauchst.“

Beeindruckt betrachtete ich eine dicke Blase in meiner Schüssel, die mit einem lauten Plopp zerplatzte. Ihr folgte eine zweite und dritte. „Und das ist wirklich essbar?“ Es hatte die Konsistenz von flüssigem Gummi, duftete dabei aber würzig.

„Natürlich ist es das“, kam es schmunzelnd von ihr. „Du wirst schon sehen, es schmeckt.“ Sie tätschelte mir die Schulter. „Und nun iss. Ich muss den anderen beiden auch noch etwas bringen, aber wenn du mich brauchst, ruf einfach und ich bin sofort da.“

„In Ordnung“, sagte ich, ohne näher darüber nachzudenken. Erst als sie aus dem Séparée verschwunden war, fiel mir wieder ein, dass sie mir ja noch mehr erzählen wollte. Einen Moment war ich versucht, sie zurückzurufen, aber da hörte ich sie mit den anderen Patienten sprechen. Dann würde das wohl noch etwas warten müssen. Außerdem gab es im Moment erstmal eine andere Aufgabe, der ich mich stellen musste.

Entschlossen griff ich nach meinem Löffel, tauchte ihn in die Masse und hielt ihn mir dann vor die Nase. Also, wirklich essbar wirkte es ja nicht, aber der Geruch war ziemlich verführerisch. Deswegen tippte ich mit der Zungenspitze vorsichtig in den grünen Glibber und riss erstaunt die Augen auf. Das schmeckte ja wirklich. Es erinnerte mich an würzigen Rotkohl und Hühnchen.

Genießerisch ließ ich den ganzen Löffel in meinem Mund verschwinden und schloss die Augen. Hmmm, wirklich lecker.

„Schmeckt es?“

Überrascht riss ich die Augen auf. Am Fußende meines Bettes stand ein großgewachsener Mann mit einem ziemlich kantigen Gesicht, das ihn ziemlich rau aussehen ließ. Er trug die gleiche weiße Kleidung wie alle hier, nur fehlten bei ihm die Ärmel, was seine muskulösen Oberarme deutlich zur Geltung brachte. Auch war seine Kleidung nicht mehr wirklich weiß; der rote Sand des Landes hatte sie verfärbt. An seiner Hüfte baumelte eine aufgerollte Peitsche aus dunklem Leder. Aber was meine Aufmerksamkeit wirklich auf sich zog, war alles oberhalb seines Halses.

Auf seinem Kopf tummelte sich ein ganzes Gewirr von Schlangen, die ihre Köpfe züngelnd in alle Richtungen streckten. Seine Pupillen waren nur Schlitze und sein kantiges Kinn ließ ihn hart aussehen. Doch was mich beunruhigte, war der rote Fleck auf seinem Hemd. Er hatte nach meinem Verständnis zu viel Ähnlichkeit mit Blut.

„Ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte er, als ich noch immer stumm blieb.

Ich ließ den Löffel aus meinem Mund gleiten. „Sie haben mich nicht erschreckt. Sind Sie verletzt?“ Der Fleck war einfach zu groß, um von einem kleinen Kratzer zu stammen.

Der Mann sah an sich hinunter. „Das ist von der Hatz. Ich bin gerade erst zurückgekommen und hatte noch keine Zeit mich umzuziehen.“

Das erklärte den roten Staub auf seiner Kleidung. „Sie wollen sich also nicht von Asha verarzten lassen?“

„Asha? Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin wegen dir hier.“

„Wegen mir?“

Sein Mundwinkel zuckte. „Vielleicht stelle ich mich erstmal vor. Ich bin Amir aus dem Zuchtdiwan, der Anführer der Dämonenjäger. Ich war schon ein paar Mal hier, aber da hast du noch geschlafen.“

„Asha hat mich in einen Heilschlaf versetzt.“ Wie leicht mir diese Worte über die Lippen kamen, so als wäre das völlig normal und alltäglich für mich. Was stimmte nur nicht mit mir?

„Ich weiß.“ Amir ließ sich auf den Stuhl neben meiner Pritsche sinken und musterte mich auffällig. „Du siehst besser aus.“

Ich verzog die Lippen. „Soweit ich gehört habe, ging es sowieso kaum noch schlimmer.“

„Da muss ich dir leider Recht geben. Als Ryu dich hergebracht hat, war dein Zustand sehr kritisch.“ Er schwieg einen Moment. „Deswegen wollte ich auch mit dir reden.“

„Weil mein Zustand so schlecht war, oder weil Ryu mich hergebracht hat?“

Sein Mundwinkel zuckte erneut. „Weder noch. Weil du endlich aufgewacht bist. Ryu war gerade mit mir auf der Hatz und hat mir da so einiges erzählt. Du bist ein Viator.“

„Ähm … ja, das hat Asha mir gesagt.“

„Und du bist eine Hexe, kommst aber aus der anderen Welt.“

Ich runzelte die Stirn. „Ich dachte, es gibt nur wenige Leute, die davon wissen. Also nicht von mir, sondern von dieser Viator-Sache.“ Hatte ich da was falsch verstanden?

„Ich weiß über viele Dinge Bescheid, von denen der Großteil der Mortatia keine Ahnung hat.“ Es klang nicht, als wollte er damit angeben, sondern schlicht und ergreifend als wollte er eine Tatsache benennen, hinter der sich mehr verbarg, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte.

„Das ist gut. Denke ich mal.“

Das Zucken seines Mundwinkels verriet nicht viel. „Ryu hat gesagt, dass du keine nennenswerten Erinnerungen besitzt.“

„Auf jeden Fall nichts, was vor meinem Erwachen in der Höhle stattgefunden hat. Naja, zumindest was meine persönlichen Erinnerungen angeht.“

„Du erinnerst dich an deine Welt, aber nicht an dich.“

Ich runzelte die Stirn. Wie er das sagte. „Sind Sie auch ein Viator?“

Mit der Frage schien ich ihn doch zu überraschen. „Ich? Nein. Ich bin nur ein einfacher Serpens. Und bitte duze mich, sonst komme ich mir noch älter vor.“

„Okay. Sie … äh, ich meine, du kannst mich Tia nennen.“

„Tia ist ein hübscher Name. Er klingt wie Musik.“

„Äh … danke?“ Was sollte man da auch anderes sagen?

Wieder zuckte sein Mundwinkel. „Eigentlich bin ich hier, um zwei Dinge mit dir zu besprechen. Das eine ist der rote Mann, der dich gerettet hat. Ryu hat mir davon erzählt“, erklärte er auf meinen fragenden Blick hin.

„Was ist mit ihm?“

„Ich möchte wissen, ob du mir sagen kannst, wo genau du ihm begegnet bist.“

Ich runzelte die Stirn. Irgendwas an seinem Ton und seinem Blick gefiel mir nicht. „Warum?“

„Weil wir ihn finden müssen.“

„Warum?“, wiederholte ich meine Frage.

Amir lehnte sich auf dem Stuhl zurück. „Du weißt nicht, wem du da begegnet bist, oder?“

„Er hat mir seinen Namen nicht verraten, wenn es das ist, was du meinst.“

„Sein Name ist nicht von Belang.“ Eindringlich war sein Blick auf mich gerichtet. „Tia, dieser rote Mann ist ein Dämon.“

Das kam unerwartet. Mein Mund ging auf, klappte aber gleich wieder zu. In meinem Kopf hatte sich das Bild eines Monsters verfestigt, das sich nicht im Geringsten mit dem roten Mann vereinbaren ließ. „Ein Dämon?“

„Genau genommen ein Rubin.“ Als ich nicht reagierte, stützte er sich auf die Ellenbogen. „Es gibt vier Arten von Dämonen. Rubine, Saphire, Smaragde und Zirkone. Jede Art verfügt über spezielle Fähigkeiten. Feuer, Wasser, Erde, Luft.“

„Die vier Elemente.“

Amir nickte. „Und sie sind sehr gefährlich.“

„Aber der rote Mann hat mir das Leben gerettet.“ Ich wusste nicht, warum ich ihn so verteidigte, schließlich hatte er mich anschließend einfach in der Wüste zurückgelassen, aber ich konnte in ihm einfach nicht das Monster sehen, das Ryu und Asha mir beschrieben hatten. Klar, er war ein wenig ruppig rübergekommen, doch weder aggressiv noch gefährlich.

Wenn du uns nachläufst, werde ich dich töten.

In Ordnung. Aber er hatte mir zumindest eine Warnung zukommen lassen.

„Du hast vorher das seine gerettet“, erklärte Amir schlicht.

„Du meinst die Einhörner?“ Okay, das stimmte, aber wenn er wirklich so grausam war, dann hätte er anschließend doch einfach verschwinden können. Aber das war er nicht.

„Du hast von dieser Welt keine Ahnung. Du bist eine Hexe, Tia, niemand steht freiwillig in der Schuld einer Hexe, nicht mal ein Dämon.“

Meine Schuld ist beglichen, Hexe. „Das verstehe ich nicht.“

„Du hast ihm das Leben gerettet. Einer solchen Schuld wohnt immer etwas Magisches bei und sie ist zudem auch noch bindend. Du hättest es zu deinem Vorteil ausnutzen können, ihm zum Beispiel deinen Willen aufzwingen können. Selbst wenn er dich hätte sterben lassen, wäre er der Schuld nicht entgangen, denn sie wäre einfach auf dein nächstes Familienmitglied übergegangen.“

„Das heißt, er hat mich nur gerettet, um daraus seinen eigenen Vorteil zu ziehen?“

„Eines musst du dir immer vor Augen halten: Egal, was ein Dämon tut und wie selbstlos die Tat auch erscheinen mag, er macht nichts ohne Hintergedanken.“

Seine Worte waren wie ein Dämpfer. Irgendwie hatte ich den roten Mann immer als eine Art Held betrachtet. Er hatte mir schließlich das Leben gerettet. Zumindest, bevor er mich einfach in der Wüste zurückgelassen hatte. Aber ein Dämon? Trotz allem kam er mir noch immer nicht wie das Böse in Person vor. Andererseits waren meine Eindrücke von den letzten Tagen vielleicht getrübt. Es war ja auch alles so schnell gegangen.

Aber Dämonen kümmerten sich doch nicht um ihre Kinder, oder? Dieser Mann hatte ein Kind und er hatte es gegen die Einhörner verteidigt. Was sollte ich bloß denken?

„Tiara, es ist wichtig, diesen Dämon aus dem Verkehr zu ziehen, bevor er weitere Gräueltaten begehen kann.“

„Gräueltaten?“

„Er tötet“, sagte er eiskalt. „Es liegt ihm im Blut und deswegen müssen wir ihn finden.“

Ich biss mir auf die Unterlippe. Es fühlte sich falsch an, auch nur eine weitere Information über den roten Mann preiszugeben, doch wenn es stimmte, was Amir sagte, wie konnte ich dann schweigen? „Ich kann eigentlich gar nichts genaues sagen“, wiegelte ich ab.

„Versuch es. Jede Kleinigkeit kann hilfreich sein.“

Ja, vielleicht. „Es war in einer Höhle. Sie war auf einem Plateau und voller Sperrmüll, so als hätte dort vor langer Zeit einmal jemand gelebt. Dann hab ich die Geräusche gehört und bin rausgerannt. Er kämpfte mit einer Herde Einhörnern. Ich habe Steine nach ihnen geworfen und sie so von ihm weggelockt.“ Warum nur erzählte ich nichts von dem Sohn? Ganz einfach, er war noch ein Kind, ein kleines, unschuldiges Kind. Ganz egal, was sein Vater oder andere seiner Art getan hatten, Kinder waren immer unschuldig. „Ich bin zurück in die Höhle gerannt. Die Einhörner haben den Müll in Brand gesteckt, sodass ich auf einen Vorsprung in der Wand fliehen musste. Oben in der Decke war ein alter Rauchabzug, durch den hat der rote Mann mich gerettet.“

„Was geschah dann?“

„Er sagte mir, dass seine Schuld beglichen sei und er mich töten würde, wenn ich ihm folgen sollte. Dann ist er weggerannt.“ Aber war da nicht diese Angst in seinen Augen gewesen, oder hatte ich mir das aufgrund der Situation und der vielen Eindrücke nur eingebildet? Plötzlich war ich mir gar nicht mehr sicher, was von dem, was ich glaubte, auch wahr war.

„Kannst du mir sagen, wo genau das war?“, wollte Amir, nichtsahnend von meinen Gedanken, wissen.

Ich zuckte mit den Schultern. „Nicht wirklich, für mich sieht dort draußen alles gleich aus.“ Warum hatten Asha und Ryu mir eigentlich nicht gleich gesagt, dass der rote Mann ein Dämon war?

„Versuch es bitte, es ist wichtig.“

Ich biss mir auf die Unterlippe. „Von der Höhle aus bin ich auf das Gebirge zugelaufen.“

„Auf das Drachengebirge?“

Meine Augen wurden groß. Hatte ich das gerade richtig verstanden? „In dem Gebirge leben Drachen?“

Der plötzliche Themenwechsel schien Amir etwas ins Schleudern zu bringen. „Ähm … ja, deswegen heißt es so.“

Drachen. Wie geil war das denn?! Echte lebende Drachen! „Kann ich mir die mal ansehen?“

Amir runzelte die Stirn. „Manchmal kann man sie am Himmel fliegen sehen, aber es ist keine gute Idee, sich ihnen zu nähern. Drachen sind Raubtiere.“

„Wie schade.“

So, wie Amir mich ansah, musste er glauben, dass ich einen Knall hatte. Oder doch einen Sonnenstich. Aber Drachen! Einen echten, lebenden Drachen zu sehen, musste doch toll sein.

„Tia, könntest du bitte meine Frage beantworten?“, lenkte er das Gespräch aufs eigentliche Thema zurück. „Bist du aufs Drachengebirge zugelaufen?“

Ich nickte. „Ja, ungefähr einen Tag, aber zwischendurch habe ich Pausen gemacht. Und die Nacht über habe ich geschlafen.“ So mehr oder weniger.

„Und am nächsten Tag?“, fragte er weiter.

„Da war so eine riesige Lichtsäule, wie ein Hyperscheinwerfer.“ Ich machte eine Pause, hoffte, dass er mir vielleicht erklären konnte, was das gewesen war, doch er schaute mich nur stirnrunzelnd an. „Ich dachte, da müssten Menschen sein, also bin ich darauf zugelaufen. Ich weiß nicht, ob ich die Richtung die ganze Zeit beibehalten habe, irgendwie sah alles gleich aus.“

„Hast du den … Hyperscheinwerfer gefunden?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Gegen Mittag fand ich das kleine Dorf. Ich hab gehofft, dort Menschen zu treffen, aber da war niemand und ich war mit meiner Kraft auch ziemlich am Ende, deswegen habe ich mich in eines der Häuser zurückgezogen. Am Abend hat Ryu mich dort gefunden.“

„Gegen Mittag sagst du?“

Ich nickte.

„Das schränkt das Gebiet zumindest ein.“ Er erhob sich von seinem Platz und kehrte mir den Rücken zu. „Iss deine Suppe, sie hilft dir.“

„Okay.“ Er war schon halb aus dem Séparée raus, als ich noch eine Frage stellen musste. „Wirst du ihn finden?“ Ich wollte das nicht. Und dann wieder doch. Eigentlich wusste ich in diesem Moment nicht, was ich wirklich wollte.

Amir neigte den Kopf zur Seite. Die Schlangen auf seinem Kopf folgten der Bewegung. „Ich kenne dieses Land besser als mich selbst, also stehen die Chancen ganz gut.“

Das waren gute Neuigkeiten. Oder? Warum störte mich der Gedanke, dass die Jäger den roten Mann finden könnten, so sehr? Es wäre doch das Beste. Aber dann musste ich wieder an den Funken Angst denken, den ich wahrgenommen zu haben glaubte. Das war irritierend.

„Sonst noch etwas?“

„Nein, ich denke …“ Ich zuckte hilflos mit den Schultern. „Wird … Moment, wolltest du nicht zwei Sachen mit mir besprechen?“

„Ach ja. Meine Leute machen regelmäßig Touren in die nächste Stadt, um Vorräte zu besorgen. Sobald du wieder gesund bist, werden sie dich mitnehmen und zu einem Hexenzirkel bringen, damit du wieder nach Hause kannst.“

„Nach Hause?“

„Der Ort, woher du gekommen bist. Du willst doch sicher wieder nach Hause, oder?“

„Ja, sicher“, sagte ich, obwohl es eigentlich eher ein Reflex war. Aber eigentlich war es doch nur logisch, dass ich wieder nach Hause ging. Auch wenn ich die Wunder dieser Welt noch nicht mal in ihren Anfängen erfasst hatte.

„Asha wird mir Bescheid sagen, wenn du soweit bist, dann bringen wir dich nach Sternheim.“

„Okay.“

„Gut. Und jetzt iss deine Suppe. Wir sehen uns.“ Damit verschwand er um die Ecke.

Nach Hause. Warum war mir dieser Gedanke eigentlich noch nicht von alleine gekommen? Es wäre doch das Normalste der Welt. Zumindest der Welt, aus der ich kam. Dort wären meine Familie, Freunde, Dinge die ich sicher vermisste - wenn ich mich an sie erinnern könnte.

Vielleicht war das das Problem. Ich konnte mich an all das nicht erinnern, da war nichts als ein schwarzes Loch und obwohl ich schon laufen und sprechen konnte, war es doch, als hätte mein Leben erst vor wenigen Tagen begonnen. Eigentlich wollte ich auch gar nicht wissen, was davor gekommen war. Warum nicht? Das war doch nicht normal.

Warum sehnte ich mich nicht nach den Dingen, die ich verloren hatte? Warum wollte ich nicht wissen, was für ein Mensch ich gewesen war und was mein Leben ausgemacht hatte? War es vielleicht ein innerer Reflex, der mich vor etwas bewahren wollte? Aber vor was?

Einen Moment war ich versucht, ein paar Erinnerungen hervorzulocken, doch plötzlich hatte ich Angst vor dem, was ich erfahren konnte.

In den Brief hatte gestanden, dass ich aus reiner Neugierde durch den Spiegel gegangen war, doch was, wenn da mehr dahinter steckte? Und … nein, da hatte es doch diesen einen Satz gegeben.

Ich wünschte wirklich, ich könnte all diese Geschichten glauben. Es war immer noch besser, als hier zu bleiben und diesen Schmerz zu ertragen.

Ich starrte in meine Schüssel. Was für einen Schmerz?

Plötzlich war ich zu müde, um mich all diesen Fragen zu stellen, und die Suppe schien auch nicht mehr so verlockend wie noch vor Amirs Besuch.

Ich stellte die Schüssel auf den Beistelltisch und drehte mich auf die Seite. Schlaf war doch bekanntlich die beste Medizin und er würde mich wenigstens eine Zeit lang vor all den neuen Eindrücken und meinen wirren Gedanken bewahren. Doch meinem Gehirn war das völlig egal. Es arbeitete unablässig weiter und stellte dabei immer die gleichen zwei Fragen. Wollte ich wirklich zurück nach Hause? Und wenn nicht, warum?

 

°°°°°

Tag Fünf

 

Der Blick nach oben in die Sonnen ließ mich blinzeln. Wieder schienen sie heiß und erbarmungslos auf mich herunter. Auch die Kleidung der Jäger half nur wenig gegen diese trocknende Wüstenhitze, aber wenigstens war ich der stickigen Luft im Zelt entkommen. Der Wind hier draußen war zwar nicht kühl, dafür aber angenehm, bei weitem besser als alles, was mir das Lazarett zu bieten hatte.

Dieses Mal hatte ich das Bett sogar mit Ashas Erlaubnis verlassen. Zwar war sie heute Morgen ein wenig verstimmt gewesen, weil ich meine Suppe praktisch stehen gelassen hatte, doch nachdem ich das Mittagessen wie ein hungriger Wolf verschlungen hatte, durfte ich vorläufig auf Freigang – vorausgesetzt, ich überanstrengte mich nicht.

Ich wusste gar nicht, wie ich mich im Moment überanstrengen sollte. Ich fühlte mich wieder topfit, selbst die Kopfschmerzen waren verschwunden. Nur die Müdigkeit wollte sich nicht so ganz von mir lösen. Das konnte aber auch daran liegen, dass ich in der Nacht nicht viel Schlaf bekommen hatte.

Denk jetzt nicht darüber nach. Das hatte ich in der Dunkelheit schon genug getan.

Über mich selbst den Kopf schüttelnd, setzte ich mich in Bewegung, um mich ein wenig umzuschauen. Dabei glitt mein Blick zu der Gebirgskette, die in der Ferne als Silhouette in den Himmel ragte.

In dem Gebirge leben Drachen?

Ja, deswegen heißt es so.

„Drachen“, flüsterte ich und beschwor so eine Reihe von Bildern und Filmszenen aus meiner Erinnerung hinauf. Sahen sie so aus? Oder unterschieden auch sie sich, wie alles andere, was ich kannte, von dem, was hier lebte? Ich wünschte mir, einen Drachen zu sehen, doch wie nicht anders zu erwarten, tat mir in diesem Augenblick keiner von ihnen den Gefallen, über den Himmel zu fliegen, um meine Neugierde zu befriedigen.  

Das bellende Lachen eines Mannes ließ mich aufhorchen. In meinem Gedächtnis klingelte etwas, doch ich konnte es nicht zuordnen.

Die Frau mit dem dicken Gips, die gestern noch im Lazarett gewesen war, lief mit einem entnervten Seufzen an mir vorbei. Serpens. Das war doch die Bezeichnung gewesen, oder? Dabei wäre Medusa oder Gorgone doch viel passender.

Ich folgte ihr mit dem Blick, bis sie in einem etwas freistehenden Zelt verschwand. Die Ursache für ihre Laune konnte ich nicht ausmachen.

Als es hinter mir knallte, wäre ich vor Schreck fast aus der Haut gefahren, doch es war nur der ältere Mann mit dem Schwert von gestern, dem eine Kiste runtergefallen war. Kein Wunder, so beladen, wie er war.

Einen kurzen Moment wollte ich ihm helfen, doch dann hörte ich wieder dieses bellende Lachen. Warum nur kitzelte es bei dem Klang in meiner Erinnerung? Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.

Mehrere Zelte ließ ich hinter mir, bis ich Ryu in einer Gruppe von Männern entdeckte, die alle konzentriert auf den Boden vor sich starrten. Sie saßen im Kreis um etwas, das ich nicht sehen konnte, und blendeten die Welt um sich herum aus.

Der Schatten eines Zeltes schützte sie vor der mittäglichen Hitze und ließ die Sonnen in Maßen erträglich erscheinen.

Bei ihnen saß auch dieser Kerl mit den Dolchen. Kiran, oder?

„Ha!“, sagte er, strahlte triumphierend und bewegte den Arm. Dann lachte er dieses bellende Lachen. „Und wieder ein Punkt für mich.“

„Noch hast du nicht gewonnen“, erwiderte Ryu schlicht und zog die Stirn konzentriert zusammen.

Jetzt war ich neugierig. Völlig dreist setzte ich mich neben Ryu und schaute auf den Boden. Ein Spielbrett. Es war eine Mischung aus Mah-Jongg und Schach. Zwölf mal zwölf Felder, alle weiß. Die Spielsteine waren rund und flach und jedes mit einem anderen Zeichen versehen, einer Mischung aus japanischen Schriftzeichen und ägyptischen Hieroglyphen – so jedenfalls kamen sie mir vor. Nein, das stimmte nicht, bemerkte ich bei genauerer Betrachtung. Zu jedem schwarzen Spielstein mit weißem Zeichen gab es einen passenden weißen Spielstein mit schwarzem Zeichen. Vierundzwanzig Spielsteine in jeder Farbe, die sich kreuz und quer über das ganze Brett verteilten.

Manche der schwarzen Steine thronten auf den weißen und umgekehrt, wobei die schwarzen überwogen.

„Hey, wen haben wir denn da?“, fragte Kiran, als Ryu einen der weißen Steine ein Feld zur Seite bewegte. „Unser Findelkind.“

Ich schenkte ihm ein Lächeln. „Ich bin Tiara.“

„Kiran“, lächelte er zurück und reichte mir die Hand.

„Ich weiß.“

„Kiran, du bist dran“, ermahnte ihn ein älterer Mann und nickte mir freundlich zu.

Genau wie Ryu vorher, machte er nach kurzer Überlegung einen Zug und strahlte den Engel dann an. „Ha, mal sehen, wie du das kontern willst.“

So wie Ryu schaute, war das wohl gar nicht so einfach.

„Was ist das für ein Spiel?“, wollte ich wissen.

„Thron“, sagte der Mann neben mir. Ich erkannte ihn als den blassen Kerl, der sich gestern einen Kratzer zugezogen hatte. Wie konnte man mitten in der Wüste nur so blass sein? Vielleicht war er ja noch nicht so lange dabei.

Ryu machte einen Zug zur Seite und kesselte damit einen von Kirans Steinen ein, was diesem gar nicht zu gefallen schien. „Du bist dran.“

„Wie funktioniert das?“

Ryu ließ das Spielfeld nur einen kurzen Moment aus den Augen. „Du musst versuchen, deinen Spielstein auf das Pendant deines Gegners zu setzen. Pro Zug darfst du drei verschiedene Steine jeweils nur ein Feld bewegen. Und nur jeden zweiten Zug darfst du einen Stein ein Feld rückwärts setzen, ansonsten nur vorwärts oder zur Seite.“

„Und wenn du einen Stein auf den des Gegners setzt …“ Kiran machte es vor und begrub so einen der weißen Steine unter seinem schwarzen. „… dann geht der Punkt an dich und die beiden Steine dürfen nicht mehr bewegt werden. Allerdings darfst du dann auch keinen weiteren Zug in dieser Runde machen, also ist es immer am besten, wenn man diesen erst setzt, nachdem man seine anderen beiden Züge gemacht hat.“

Ryus Mundwinkel sanken ein Stück nach unten.

„Ryu, mein Freund, was ist los?“, lachte der blasse Mann. „Sonst schlägt dich doch auch keiner in diesem Spiel.“

Und da entdeckte ich sie, die beiden Fangzähne in seinem Mund. War er etwa … „Bist du ein Vampir?“

Der blasse Mann schaute mich etwas verdutzt an. „Im Allgemeinen nennen mich die Leute Elias, aber ja.“

„Wow“, kam mir nur über die Lippen. „Und du trinkst Blut?“

Er runzelte die Stirn. „Ja, hin und wieder.“

„Aber du kannst in die Sonne gehen, ohne zu verbrennen.“ Anders wäre es wohl etwas seltsam, wenn er sich in der Wüste aufhalten würde.

„Das kannst du doch auch“, erwiderte er nun etwas verwirrt, was mich lachen ließ. Ein Vampir in der Wüste. Dieser Ort wurde mit jedem Moment hinreißender.

„Ja, das kann ich“, grinste ich nur. „Obwohl ich beim nächsten Spaziergang durch die Wüste besser meine Sonnencreme einpacken sollte, um nicht wieder wie ein Brathähnchen zu enden.“

„Ach, so knusprig warst du doch gar nicht“, widersprach Kiran, ließ Ryu dabei aber nicht aus den Augen. Der bewegte gerade seinen zweiten Stein und setzte seinen dritten dann auf den von Kiran. Damit hatte er sieben oben, Kiran aber schon neun.

„Du bist dran“, ließ Ryu verlauten.

Aller Augen waren gebannt auf Kirans Hände gerichtet.

Plötzlich war da wieder dieses Kribbeln auf meiner Haut. Magie. Asha hatte gesagt, ich könnte Magie spüren. War es das, was sie gemeint hatte? Ich ließ meinen Blick umherfliegen, um die Ursache zu finden. Da, einer der Steine unten in der Ecke. Wie von Zauberhand erhob sich der weiße, der den schwarzen von Kiran unter sich begraben hatte, und setzte sich zwei Felder weiter wieder auf das Spielbrett.

„Die Steine können auch fliegen?“, fragte ich verwundert. Hatte Kiran eben nicht gesagt, dass die Stapel nicht mehr bewegt werden durften?

Fünf Paar Augen richteten sich auf mich.

„Was meinst du mit fliegen?“, wollte Elias wissen.

„Der Stein da ist gerade von dem anderen runtergeflogen.“

Alle Blicke folgten meinem Finger, nur um sich dann auf Kiran zu richten.

„Du schummelst“, murrte Ryu.

Kiran zuckte nur grinsend mit den Schultern. „Irgendwie muss ich dich ja mal besiegen.“

„Du hast das grade gezaubert?“, fragte ich, bevor jemand anderes noch etwas dazu sagen konnte.

„Klar.“

„Wow.“ Er hatte etwas bewegt, ohne es auch nur zu berühren. Die Möglichkeiten, die es beinhaltete, das zu können! Einfach etwas durch die Luft fliegen zu lassen. Ich starrte den kleinen, weißen Stein an. „Das will ich auch können.“

Kiran runzelte die Stirn. „Kannst du es denn nicht? Du bist doch eine Hexe.“

„Das zumindest behaupten alle.“ Ich schaute von Kiran zu Ryu, in dessen Blick eine unausgesprochene Warnung lag. Durften sie etwa nicht wissen, woher ich kam?

Es gibt zwei Welten. Nur die wenigsten wissen davon, da es ein Geheimnis der Hexen ist und die ihr Wissen am liebsten für sich behalten.

Sollte das bedeuten, dass es ein Geheimnis bleiben sollte? Warum?

„Tiara hat ihre Erinnerung verloren“, sagte Ryu da. „Sie weiß weder, wer sie ist, was sie ist, noch woher sie kommt.“

Das war zumindest zum Teil die Wahrheit.

„Wirklich?“, fragte Kiran. „So ganz und ohne Wenn und Aber?“

Ich zögerte. Irgendwie war es mir zuwider, wissentlich zu lügen, aber Ryu würde sicher einen Grund haben – und nach dem würde ich ihn fragen müssen. „Naja, so ein paar Kleinigkeiten weiß ich in der Zwischenzeit wieder.“

„Wie ihren Namen“, fügte Ryu hinzu.

Betroffene Gesichter bemitleideten mich.

„Das muss wirklich hart sein“, kam es von Elias.

Ich zuckte nur die Schultern und wich dabei seinem Blick aus. Okay, was Ryu und ich hier gesagt hatten, war nicht wirklich eine Lüge, aber es fühlte sich so an.

Kiran neigte den Kopf zur Seite. „Dann weißt du auch nicht mehr, wie man zaubert? Nicht das kleinste bisschen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, keine Ahnung.“ Das zumindest war die Wahrheit.

„Pass auf, das ist ganz einfach.“ Kiran erhob sich von seinem Platz und drängte sich zwischen Elias und mich. Das Spiel war vergessen. „Eigentlich ist es nur eine Sache der Konzentration. Du musst die Magie in dir spüren und ihr deinen Willen aufzwingen. So zumindest funktioniert es bei den kleinen Zaubern.“ Er nahm einen der Spielsteine und legte ihn vor mich auf den Boden. „Die Magie folgt deinem Willen. So, und jetzt versuch es.“

„Was?“

„Lass den Spielstein schweben.“

„Jetzt? Einfach so?“

„Klar.“

Na, ob das funktionieren konnte? Andererseits, was hatte ich schon zu verlieren? Ich konzentrierte meinen Blick auf den kleinen Stein und befahl: flieg!

Nichts geschah.

„Du musst es wirklich wollen.“

Wirklich wollen. Das bekam ich hin. Vor Konzentration runzelte sich meine Stirn. Ich fixierte den Stein mit allem, was ich hatte, und befahl ein weiteres Mal: flieg!

Wieder blieb er leblos auf dem Boden liegen.

„Ich glaub, der Stein hat keine Lust zu fliegen“, seufzte ich.

„Der Stein ist nur ein lebloses Ding“, erwiderte Kiran schlicht. „Es hängt wirklich alles von deinem Willen ab. Spüre deine Magie, lenke sie und dann lass den Stein fliegen.“

Ach ja, Magie spüren. Das hatte ich ja ganz vergessen. Nur … wie spürte ich meine eigene Magie? „Wo ist meine Magie?“

Dass entlockte allen einen kleinen Lacher.

„Hier.“ Kiran tippte mir gegen das Brustbein. „In dir drin.“

Ich horchte in mich hinein, aber außer meinem Herzschlag und meinem Puls konnte ich nichts spüren. „Kannst du mir eine genaue Ortsangabe machen?“, wollte ich wissen und ließ die Runde damit ein weiteres Mal lachen. Dabei war das aber eigentlich mein Ernst gewesen.

Auch Kiran konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. „Das ist kein Ort, den man genau beschreiben kann. Es ist vielmehr ein Gefühl, ein Teil von dir, wie dein Geist. Du kannst ihn nicht sehen, aber du weißt, dass er da ist, und kannst ihn deswegen auch irgendwie spüren.“

Diese Erklärung war nicht sehr hilfreich.

„Wir könnten sie ja mit dem Mal der Hexen versehen“, überlegte Elias. „Vielleicht klappt es ja dann.“

Kiran verzog das Gesicht. „Da lasse ich dir den Vortritt. Ich mach das nicht.“

Aber Elias sah nicht so aus, als wäre er sehr erpicht darauf. „Asha könnte das machen.“

Ich schaute etwas ratlos zwischen den beiden hin und her. „Was ist das Mal der Hexen?“

Mit den Eintrittskarten in der Hand stürmte ich in Tals Zimmer. „Ich hab sie bekommen!“, rief ich begeistert uns sprang auf ihr Bett, völlig unbeeindruckt davon, dass Veith darin lag und versuchte zu lesen. „Loge, Mitte. Kino - wir kommen!“

Tal hob ihren Blick aus ihrem Kleiderschrank, in der Hand ihre Lieblingsbluse, die ich ihr zu ihrem siebzehnten Geburtstag geschenkt hatte. „Wie hast du denn das geschafft? Die Vorstellung ist doch überall ausverkauft.“

„Tja, ich bin eben ein Wunder der Natur.“ Im Schneidersitz ließ ich mich neben Veith aufs Bett plumpsen. „Ich konnte sogar eine für deinen Mafiafreund abstauben.“

Tal verdrehte nur die Augen und begann damit, sich ihr Shirt über den Kopf zu ziehen.

Veith ließ sein Buch sinken. „Was ist das eigentlich, dieses Mafia?“

Gerade als ich zu einer Antwort ansetzen wollte, sah ich es. Ein Pentagramm, umschlungen von einer Dornenranke mit Rosen, die ihr aus der Haut zu wachsen schien. „Seit wann hast du ein Tattoo?“, entfuhr es mir überrascht.

Talita hielt in der Bewegung inne und schaute sich über die Schulter. „Mama hat es mir verpasst, kurz bevor ich in die andere Welt gegangen bin.“

Fing das schon wieder an? Aber viel wichtiger: „Mama hat dir eine Tätowierung stechen lassen?!“ Meine Mutter?!

„Sie hat mich mit dem Mal der Hexen versehen, damit ich leichter gefunden werde.“ Ihr Mundwinkel zuckte. „Nur leider bin ich in einem Rudel Lykaner gelandet.“

Als Veith leise lachte, konnte ich nur verwirrt die Stirn runzeln. Was hatte das nun wieder zu bedeuten?

Zwei Finger schnipsten vor meiner Nasenspitze herum, sodass ich mit dem Kopf zurückzuckte.

Wieder waren fünf Paar Augen auf mich gerichtet und Ryu hatte sogar seine Hand auf meinen Arm gelegt.

„Ein Pentagramm“, sagte ich und runzelte die Stirn. War es das? War das Mal der Hexen ein Pentagramm? „Wer kann einen finden, wenn man das Mal der Hexen trägt?“, fragte ich ins Blaue hinein.

„Äh … die Hexen?“ Kiran beugte sich ein Stück vor. „Alles in Ordnung bei dir?“

„Ja, ich … ich hab mich nur gerade an etwas erinnert.“ Etwas, das nicht wirklich Sinn ergab. War meine Schwester auch eine Hexe? Aber in dem Brief hatte doch gestanden, dass sie sich in eine Katze verwandeln konnte. Und was hatte meine Mutter damit zu tun? „Können Hexen sich in Katzen verwandeln?“

Alle schüttelten den Kopf.

„Nein“, sagte Kiran. „Die Gestalt können nur Lykaner und Therianer ändern.“

Sie hat mich mit dem Mal der Hexen versehen, damit ich leichter gefunden werde. Nur leider bin ich in einem Rudel Lykaner gelandet.

Werwölfe.

„Ist wirklich alles in Ordnung?“, wollte Kiran wissen.

„Vielleicht ist es doch ein bisschen viel für sie“, sagte Ryu. „Du solltest zu Asha …“

„Nein!“ Oh je, das kam wohl ein wenig zu hastig raus. „Ich meine nein, mir geht es gut. Wirklich.“ Außerdem waren wir noch immer mit meinem Unterricht beschäftigt. Das wollte ich auf keinen Fall verpassen. „Also Herr Meisterhexer, wie geht es jetzt weiter?“

„Magier. Das männliche Gegenstück zu dir ist ein Magier.“

„Hexen gibt es nicht in männlicher Form?“

„Nicht mit dieser Bezeichnung.“

„Also gibt es auch keine Magierinnen?“

„Nein.“ Kiran zog die Augenbrauen zusammen. „Vielleicht …“

„Gut, dann Herr Meistermagier, was ist der nächste Schritt, um Spielsteine fliegen zu lassen?“, unterbrach ich ihn, bevor sie wirklich noch auf die Idee kamen, mich einfach wegzuschicken. Das wollte ich jetzt unbedingt lernen.

Er schwieg einen Moment und musterte mich schweigend. Ob er überlegte, wie er mich am schnellsten loswerden konnte? „Komm mit“, sagte er dann und erhob sich. „Ich will was versuchen.“

Also wollte er mich doch nicht loswerden.

Ich sprang praktisch auf die Beine, was ihm ein Lächeln entlockte. Aber nicht nur ich, auch die anderen erhoben sich vom Boden und folgten Kiran durch das Lager. Das Spiel war gelaufen.

„Sag mir, wenn du etwas verspürst“, forderte Kiran, als ich an seine Seite aufschloss.

„Spüren? Meinst du sowas wie Hunger?“

Er lachte leise und bog an einem großen, runden Zelt nach links ab. „Da solltest du dich eher an Elias wenden, der ist nämlich unter anderem für die Küche zuständig.“

Ich warf dem Vampir einen kurzen Blick zu, verwundert, dass es mich noch immer nicht beunruhigte. Er trank Blut, das hatte er selbst gesagt, aber … es störte mich einfach nicht. „Was soll ich denn dann spüren?“

„Das wirst du schon merken. Denke ich.“

Diese kryptischen Worte halfen mir nicht wirklich weiter, aber da ich außer einem kleinen Lächeln wohl nichts von ihm bekommen würde, konzentrierte ich mich auf meine Umgebung. Ich sollte etwas spüren, nur was? Da waren der warme Wind und die Hitze der Sonnen, die nun, da wir nicht mehr im Schatten saßen, brennend auf uns niederschienen. Außerdem spürte ich noch die Kleidung auf meiner Haut und die Blicke der anderen Männer, die uns noch immer neugierig folgten.

Aber das waren sicher nicht die Sachen, die er meinte, oder? Ich konnte es mir zumindest nicht vorstellen.

Neben dem runden Zelt standen in Reih und Glied noch vier etwas kleinere Zelte, die scheinbar als Lager verwendet wurden. Ungefähr zwanzig Meter daneben, gerade außerhalb der Reichweite der Schatten, war der Platz mit den zwölf Pfählen. Die Stricke an ihnen schimmerten im Sonnenlicht.

Kiran jedoch führte mich im Schatten der vier Zelte weiter.

Wenn er nicht gleich abbog, würden wir das Lager verlassen. War das …

Es war nur ein kurzer Hauch, eine Vibration, die sanft über meine Haut strich, doch sie ließ mich einen Moment stutzen. Es war wie gestern, als Asha ihren Zauber gewirkt hatte. Magie, flüsterte meine innere Stimme. Das ist Magie.

Ich sah hinüber zu den Pfählen. Die Seile hatten definitiv etwas Magisches – da war ich mir sicher – aber es schien nicht von dort zu kommen. Nein, es war weiter vorne. „Magie“, flüsterte ich.

Kiran schenkte mir ein bezauberndes Lächeln. „Du spürst sie also.“

Ich nickte.

„Kannst du sie auch finden?“

Das war eine ausgesprochen gute Frage. „Muss ich dazu wie ein Spürhund auf dem Boden rumschnüffeln?“

Elias gab ein leises Lachen von sich, während Ryu das ganze eher skeptisch beobachtete.

„Das kannst du gerne tun“, sagte Kiran frech grinsend – wahrscheinlich belustigte ihn allein die Vorstellung. „Aber eigentlich sollte das nicht nötig sein.“

„Gut zu wissen.“ Ich machte ein paar Schritte vorwärts, bis dieser Hauch mich wieder umwehte – stärker dieses Mal. Die feinen Härchen auf meinen Armen stellten sich auf. Ich lief einen weiteren Schritt, während die Männer jede meiner Bewegungen verfolgten. Sie waren stehen geblieben, als wollten sie nicht im Weg sein.

Mein Blick glitt zu den Zelten. Kam es vielleicht daher? Doch nur ein Schritt in diese Richtung sagte klar und deutlich „Nein“. Irgendwo hier musste es sein, doch da waren ansonsten nur noch die Pfosten. Die hatte ich schon vorher ausgeschlossen. War das ein Fehler gewesen? Nein. Egal woher die Magie kam, die ich spürte, sie kam nicht von dort.

Verwirrt, weil hier sonst nichts war, machte ich noch einen Schritt nach vorne.

Wie elektrisiert durchfuhr es mich. Mein Blick fuhr nach unten. Dort, direkt unter meinem Fuß, da war es. Aber … da war doch nur Sand.

„Du kannst es also spüren.“

Ich runzelte die Stirn. „Was ist das?“

„Eine kleine Magieader.“ Kiran trat neben mich.

Natürlich. „Caput Vena.“ So hatte Asha sie doch genannt. Sie verbargen sich unter der Erde und in Gestein. Darauf hätte ich eigentlich auch gleich kommen können.

Abwägend wippte Kiran mit dem Kopf. „Fast. Die Caput Vena ist die Hauptader. Das ist … stell es dir wie den Blutkreislauf vor. Die Caput Vena ist wie eine Arterie. Sie versorgt die ganze Welt mit Magie. Aber sie ist nur ein dicker Strang. Um also auch in andere Gebiete zu kommen …“

„Hat sie Kapillaren.“ Der Boden unter meinen Füßen schien vor Energie zu vibrieren. „Dann ist die Caput Vena eigentlich nichts anderes als die Aorta.“

Kiran nickte. „Das hier ist nur eine kleine Kapillare, die unser Lager versorgt. Und jetzt möchte ich etwas mit dir ausprobieren. Komm.“ Er ließ sich zu meinen Füßen nieder und klopfte einladend neben sich auf den Boden. „Setz dich.“

Nur langsam folgte ich seiner Aufforderung und beobachtete dabei, wie Kiran seine Hand genau über die Kapillare legte. „Du scheinst zwar Schwierigkeiten zu haben, deine eigene Magie zu finden, aber diese hast du ohne Probleme ausmachen können.“

„Das war nicht wirklich schwer.“

„Aber nur, weil du eine Hexe bist. Und jetzt pass auf. Genau wie unsere eigene Magie, können wir auch die aus der Caput Vena benutzen und nach unserem Willen formen. Das einzige, was du dafür tun musst, ist dich mit ihr zu verbinden.“ Sehr langsam hob er die Hand vom Boden. Dabei zog er einen Faden aus reinem Licht mit. Nein, kein Licht - Magie. Sie kam direkt aus dem Boden und schien in Kiran reinzulaufen, mit ihm zu verschmelzen. „Wenn du alles hast, was du brauchst“, erklärte er weiter, „musst du die Verbindung kappen.“ Mit einem Ruck riss der Faden aus Magie und zog sich zu einem Ball aus Licht in seiner Hand zusammen. Doch nur einen kurzen Moment, dann schien sie in Kirans Haut einzudringen. „Und wenn du die Magie hast, kannst du sie nach deinem Willen formen.“

Links von mir kam ein kleines Steinchen angeflogen und schwebte direkt vor mir auf den Boden, wo es regungslos liegen blieb.

„Ich soll also immer noch Steinchen fliegen lassen?“, grinste ich und schob meine Hand über den Boden. Die Vibrationen darunter waren wie ein Leitfaden. Ich wusste sofort, wann ich mein Ziel erreicht hatte. Dieses Gefühl, es war unbeschreiblich. Wie ein Streicheln der Seele, verlockend, einnehmend. Mein Herzschlag beschleunigte sich ein wenig.

„Als erstes solltest du versuchen, dich mit ihr zu verbinden, der Rest kommt danach. Spüre die Magie, lass dich von ihr umschmeicheln und mach sie dir zum Untertan.“

Kirans Worte schienen immer weiter in die Ferne zu rücken. Ich spüre dich. Es war ein Flüstern in meinem Kopf. Wir sind gleich. Komm zu mir.

Meine Finger gruben sich leicht in das Erdreich. Meine Lippen bewegten sich, ohne dass ich wusste, was ich eigentlich sagte. Es war, als würde ich mich von außen beobachten.

Die Magie pulsierte unter meiner Hand. Komm zu mir. Ich spürte es, spürte, wie sie sich auf mich zubewegte, spürte die erste Berührung wie eine sanfte Liebkosung. Komm zu mir.

„So ist gut“, sagte Kiran leise. „Und jetzt heb deine Hand.“

Komm zu mir. Es war wie ein Rausch. Dieses Gefühl nahm mich völlig gefangen. Es war, als wäre ich kurz vor dem Verdursten und die Magie konnte mir alles geben, was ich im Moment brauchte.

„Tia, heb deine Hand“, forderte Kiran wieder – nun schon etwas nachdrücklicher.

Aber ich konnte nicht. Ich konnte nicht riskieren, dass die Verbindung unterbrochen wurde, und krallte meine Hand nur noch tiefer in den weichen Sand.

Kiran griff nach meinem Arm, riss ihn hoch, nur um mich mit einem Zischen sofort wieder freizugeben.

„Was zum …“, begann Ryu, verstummte bei dem Anblick aber wieder.

Dort, wo bei Kiran ein dünner Faden aus dem Boden gekommen war, war es bei mir eine dicke Ader, und vor unseren Augen wurde sie breiter und breiter. Meine Hand begann zu leuchten. Erst war es nur der Schein, der von der Magie durchdrang, doch schon in der nächsten Sekunde war es die Hand selbst.

Das Leuchten wurde stärker, kroch langsam meinen Arm hinauf, bis zu meiner Schulter. Dieser Anblick, dieses Gefühl, es war der Wahnsinn. Ich war so bezaubert, dass ich den Blick nicht abwenden konnte.

„Tia!“

Erst bei dem Ruf bemerkte ich, dass Kiran mich schon mehrmals angesprochen haben musste. „Es ist wundervoll“, lächelte ich selig.

„Du musst die Verbindung kappen“, forderte er. „Jetzt!“

Kappen? Warum? Ich war sogar versucht, die zweite Hand auch noch auf den Boden zu legen.

Währenddessen breitete sich der Schein immer weiter auf mir aus. Es war, als würde ich selbst von innen heraus leuchten.

Dieses Licht, es war so wunderbar, so warm. Wie verzaubert beobachtete ich, wie es immer weiter auf mich übergriff.

„Mist“, hörte ich Kiran fluchen, bevor er leise ein paar Worte zu murmeln begann.

„Die Welt ist dunkel“, begann ich leise zu singen, „wenn spät am Abend der Ruf der Eule dich lockt bis tief in die Nacht.“

„Tiara?“, fragte Ryu leise und beugte sich ein wenig vor. Das Licht der Magie schimmerte auf seinen Flügeln, die leise im Wind raschelten.

„In deiner Seele ruht ein Geheimnis.“ Das Licht breitete sich immer weiter aus. Ich konnte es am – im – ganzen Körper spüren. „Wie eine Quelle, die deine Sehnsucht …“

Plötzlich schob Kiran seine Hand in den breiten Magiestrahl. Sie war mit einem bläulichen Schimmer belegt, der die Magie abzustoßen schien. Ich spürte, wie die Verbindung riss, und im gleichen Moment wurde ich mit einem ohrenbetäubenden Knall nach hinten geschleudert.

Mit dem Rücken krachte ich in etwas Weiches, etwas schepperte. Lautes Fluchen war zu hören. Sand und Staub wirbelten in einer dicken Wolke auf und hüllten alles ein. Es wurde gehustet und gestöhnt. Dann senkte sich Stille über uns wie der rote Staub.

Schwer atmend schaute ich auf die Männer, die alle in einem Umkreis von drei Metern weggeschleudert worden waren und sich nun fluchend aufrappelten. Sie waren auf der Seite oder dem Rücken gelandet. Elias schien sich sogar den Kopf angeschlagen zu haben. Ich dagegen hatte Glück gehabt, war ich doch mit dem Rücken in die Zeltwand geschleudert worden.

Rufe nach „Was war das?“ und „Das kam vom Pfahlplatz“ wurden laut. Von allen Seiten kamen die Jäger angelaufen.

Ich konnte nur daliegen und etwas verdutzt dreinschauen, denn egal, was gerade passiert war, mir ging es gut.

„Wow“, hörte ich da Kiran staunen. Er lag unweit von mir in einer Wolke aus Sand und starrte mich mit großen Augen an. Dann begann er aus voller Kehle zu lachen.

Ich kicherte. Erst nur leise und dann immer lauter, bis ich mich wie er vor lauter Lachen nicht mehr halten konnte.

Auch Elias und der ältere Mann stimmten mit ein, während die verdutzten Blicke der anderen Jäger zwischen uns hin und her pendelten. Eine Menge davon blieb sogar an mir hängen.

Auch Asha war von dem Knall angelockt worden. „Was zum …“ Ein Blick auf mich ließ sie verstummen. Sie sah das Leuchten. Die Magie war noch da, schien aber mit jeder verstreichenden Sekunde schwächer zu werden. Nein, nur das Leuchten wurde schwächer, die Magie selbst sickerte in mich hinein. Ich konnte es spüren und dieses Gefühl belebte mich. Es war, als würde man eine leere Batterie aufladen.

„Seid ihr eigentlich noch zu retten?!“, fauchte Asha plötzlich los. Sie stürzte an meine Seite, legte mir eine Hand auf die Stirn und musterte mich besorgt.

„Mir geht es gut“, versuchte ich sie glucksend abzuwehren, doch als ich mich erheben wollte, bekam ich einen leichten Schwindelanfall, der meine Worte sofort Lügen strafte. Ich ging in die Knie und versuchte das Gefühl abzuschütteln.

„Das sehe ich.“ Sie warf Kiran einen finsteren Blick zu. „Was habt ihr hier eigentlich gemacht? Das ganze Lager hat gebebt!“

„Nun übertreib mal nicht.“ Kiran setzte sich auf und versuchte, den roten Staub aus seiner Kleidung zu klopfen – zwecklos. „Tia wollte zaubern, und da hab ich …“

„Zaubern?!“ Asha schaute ihn an, als wären ihm plötzlich Hörner aus der Stirn gewachsen. „Tiara ist noch viel zu schwach zum Zaubern!“

„Das ist nur die Hitze“, versuchte ich sie zu beruhigen. Die Euphorie verflog langsam, doch das Echo dessen, was ich erlebt hatte, ließ mich noch immer lächeln. „Ich hab mich noch nicht daran gewöhnt.“ Was auch stimmte. „Mir geht’s gut. Wirklich.“

„Ich entscheide, wann es dir gut geht. Hier.“ Sie nahm sich ihr kariertes Tuch vom Kopf und setzte es mir auf. „Gewöhn dir an, nur mit einem Ghutra aus dem Zelt zu gehen.“

„Einem was?“

„Einem Kopftuch.“ Sie zupfte an meiner Kopfbedeckung. „Und jetzt ab mit dir ins Zelt.“

Ihre Worte ließen keine Widerrede zu, genau wie der strenge Gesichtsausdruck. Daher blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit einem Seufzen zu erheben und zum Zelt zu trotten. Auch Kirans aufmunternder Blick half da nicht wirklich. Ich kam mir vor wie ein kleines Kind, das beim Griff in die Keksdose erwischt worden war.

„Würdest du mir bitte erklären, was da gerade passiert ist?“, fragte Asha, als wir uns ein wenig von den anderen entfernt hatten, und sah sich nach Ryu um, der bereits mit langen Schritten auf uns zukam. Auch er wirkte nicht belustigt.

„Kiran wollte mir zeigen, wie man zaubert, an der Caput Vena. Und … oh, das war der Wahnsinn! Ich habe die Magie gespürt, sie ist in mich hineingelaufen!“ Ob sie meinen Worten wohl meine Begeisterung entnehmen konnte?

Asha jedoch runzelte nur die Stirn.

„Und plötzlich habe ich geleuchtet. Die Magie war überall. Sie war … sie war wie ein eigenes Wesen. Es war klasse!“

„Es hätte dich töten können“, hielt Asha dagegen und bog nach rechts zum Lazarett ab.

Diese wenigen Worte versetzten meinem Hochgefühl einen kleinen Dämpfer.

Ryu kam an Ashas Seite und warf mir einen merkwürdigen Blick zu.

„Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so viel Magie in sich aufnehmen konnte.“ Die Worte schienen nicht an mich gerichtet zu sein, es war eher, als würde Asha mit sich selbst sprechen.

„Und das ist … schlecht?“

Sie sah mich an, einen sorgenvollen Ausdruck in den Augen. „Ich weiß es nicht.“

 

°°°

 

Sanft gleitend schwebte die kleine Lichtkugel über der Spitze meines Fingers. Der Schein, den sie abstrahlte, war weich und erinnerte mich irgendwie an Zuckerwatte, auch wenn er optisch völlig glatt war. Ich bewegte den Finger leicht, sah zu, wie das Licht immer im gleichen Abstand darüber blieb. Es war wirklich faszinierend. Ich konnte davon einfach nicht genug bekommen. Nicht von der Magie und auch nicht von diesem Land - ja, selbst dieser rauen Natur, ihrer grausamen Schönheit konnte ich etwas abgewinnen.

Ich ließ den Finger kreisen, beobachtete das Licht wie hypnotisiert. Es war wirklich erstaunlich.

Angefangen hatte es, kurz nachdem Asha mich zurück in mein Bett gesteckt hatte – nicht ohne mir noch einmal sehr nachdrücklich mitzuteilen, dass ich mich in Bezug auf Magie von Kiran fernhalten sollte, weil er verantwortungslos wäre und nichts als Flausen im Kopf hätte. Aber dafür hatte sie mir angeboten, dass sie mir helfen würde, die Magie zu verstehen, wenn ich es lernen wollte. Und noch während ich über ihre Worte nachgedacht hatte, wurde ich mir dieses seltsamen Gefühls bewusst. Es war … ich wusste gar nicht, wie ich es richtig beschreiben sollte. Es war wie ein Leuchten unter meinem Herz, das im gleichen Rhythmus pulsierte. Es hatte keine feste Substanz, war nur ein Gefühl und trotzdem war es da. Und sobald ich mir dessen bewusst geworden war, begann meine Haut vor Energie praktisch zu summen. Bunte Lichtfunken waren von meinen Fingern gesprungen und in der Luft verglüht.

Zuerst hatte ich mich ziemlich erschrocken, aber schon in der nächsten Sekunde wurde mir klar, dass es nichts Schlimmes sein konnte. Die Fünkchen hatten auf die gleiche Art geleuchtet wie ich an der Caput Vena. Es war nichts als Magie gewesen. Und bevor ich mich versah, hatte ich begonnen, die Fünkchen miteinander zu verschmelzen. Ein Instinkt hatte mich geleitet, mein Instinkt. Ich wusste ganz genau, was ich tun musste, ohne dass es mir jemand erklärt hatte.

Faszinierend.

Seltsam, aber faszinierend.

Und nun schaffte ich es bereits, eine kleine Kugel aus Licht zu fabrizieren, die lustig von einem Finger zum anderen sprang, wenn ich es wollte, und dabei auch noch ihre Farbe veränderte.

Kiran hatte Recht gehabt. Es war wirklich nur eine Sache der Konzentration. Die Magie folgte meinem Willen. Nur leider schien sie auch ganz schön an meinen Kräften zu zerren. Vielleicht hatte Asha ja Recht und ich war wirklich noch nicht ganz auf der Höhe. Ich spürte zusehends, wie sich die Erschöpfung in meine Knochen schlich und sich ein Gähnen auf meine Lippen legte. Vielleicht wäre es wirklich besser, die Magie für dieses Abend ruhen zu lassen, doch der Anblick nahm mich einfach gefangen. Ich wollte nicht aufhören, es war fast wie eine Droge. Konnte Magie süchtig machen?

Ich war so vertieft in diese Frage, dass ich vor Schreck zusammenzuckte, als dieser Gargoyle Gaio in seinem Séparée zu husten begann. Die kleine Kugel hüpfte von meinem Finger, fiel auf den Rand meines Bettes und rollte von dort auf den Boden, wo sie einfach verlosch. Nun war sie doch weg.

Seufzend lehnte ich mich in meine Kissen zurück und schloss die Augen. Die Hitze machte mir echt zu schaffen und das, obwohl es im Zelt kühler war als draußen – eine seltsame Tatsache, an der aber nicht zu rütteln war.

Vielleicht war ich ja ein winterliebender Mensch. Durfte ich mich überhaupt noch als Mensch bezeichnen? „Winter“, flüsterte ich.

Alles weiß, soweit das Auge reichte. Schon seit Jahren hatte es nicht mehr so viel geschneit. In diesem Jahr verdiente unser Garten die Bezeichnung Winterwunderland. Aber ich war nicht dort draußen. Ich saß in meinem warmen Zimmer am Fenster. Etwas schön zu finden, war die eine Sache, aber deswegen musste ich mich noch lange nicht der Kälte aussetzen.

Ich blinzelte. Das war letzten Winter gewesen, kurz nach Talitas Rückkehr. Ein Runzeln legte sich auf meine Stirn. Woher wusste ich das?

Mit dieser Frage war ich noch beschäftigt, als kurze Zeit später jemand das Zelt betrat. Ich versuchte zu spüren, wer das war, so wie Asha es mir erklärt hatte, doch nur die Stimmen verrieten mir, dass sie zu zweit waren. Einen kurzen Augenblick verharrten sie bei Gaio, unterhielten sich leise mit ihm.

Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber es war angenehm, diese Stille unterbrochen zu sehen. Hier war es bereits den ganzen Tag zu still gewesen. So könnte ich schlafen.

Meine Augen wurden schwer. Ich musste zugeben, Asha hatte Recht. Der Tag hatte an meinen Kräften gezerrt. Ich schloss die Augen.

„Tiara?“

Ein Blinzeln. War ich eingeschlafen?

„Entschuldige, dass ich dich störe, aber wir würden uns gerne mit dir unterhalten.“

Ich blinzelte Ryu und seinem Anführer Amir entgegen, rieb mir über die Augen und gähnte herzhaft. „Schon gut.“ Ich musste wirklich weggenickt sein. „Wie spät ist es?“

„Kurz vor zehn.“ Die Schlangen auf seinem Kopf streckten witternd ihre Zungen raus. „Würdest du uns ein Stück begleiten?“

Neugierig blickte ich den beiden Männern entgegen. Ein kleiner Spaziergang wäre schon nicht schlecht und was die beiden mit mir zu besprechen hatten, würde mich schon interessieren, aber es gab da eine Heilerin, die mir klare Anweisungen gegeben hatte. „Bekomme ich Ärger mit Asha, wenn ich das Bett verlasse?“

Ryus Mundwinkel hob sich um einen liebevollen Zug. „Ich werde mit ihr reden.“

Na, wenn das so war. „Ich könnte sowieso ein wenig frische Luft gebrauchen.“ Ich schlug die Decke zurück, angelte mit den Füßen nach meinen Schuhen und griff nach dem Ghutra von Asha.

„Den brauchst du nicht“, erklärte Amir. Er schien ein wenig ungeduldig zu sein. Vielleicht war er aber auch nur müde vom Tag und wollte eigentlich nur noch in sein Zelt.

Ich zuckte mit den Schultern, ließ den Ghutra liegen und folgte den beiden Männern hinaus ins Freie. Dabei bemerkte ich, wie Gaio mir einen seltsamen Blick hinterherwarf. Das hatte er heute schon mal getan. Bestimmt erinnerte er sich daran, wie ich seinen Flügel angefasst hatte, und passte jetzt auf, dass das kein zweites Mal vorkam. Ich würde mich wohl bei ihm entschuldigen müssen.

Kühle Luft empfing mich, als ich hinaustrat. Im Zelt war es nach dem heißen Tag angenehm gewesen, doch hier draußen fröstelte ich nun schon ein wenig.

„Es wird nicht lange dauern“, versicherte Amir mir, als er sah, wie ich mir über die Arme rieb. Im Schein des Mondes wirkte seine Silhouette geheimnisvoll. Selbst die Schlangen auf seinem Kopf passten in dieses Bild. Wie sie sich umeinander wandten … ich wollte sie anfassen.

Oh je, diesen Gedanken sollte ich mir ganz schnell aus dem Kopf schlagen, sonst würde er mich demnächst genauso ansehen wie Gaio. „Okay.“

Amir und Ryu setzten sich in Bewegung. Ich blieb zwischen ihnen.

Ein Stück lang schwiegen sie beharrlich, aber es war nicht unangenehm, es machte mich einfach noch neugieriger.

„Gefällt es dir bei uns?“, fragte Amir und beobachtete ein paar Jäger, die lachend am Lagerfeuer saßen.

„Naja, viel hab ich ja noch nicht gesehen, aber das Lazarett ist sehr schön.“ Ich folgte seinem Blick, blieb aber an seiner Seite, als er sich in eine andere Richtung wandte.

Der Abglanz eines Lächelns zeigte sich auf seinen Lippen.

„Aber Asha ist toll. Und auch Ryu.“ Ich schenkte dem Engel ein verlegenes Lächeln, das er nicht bemerkte, da sein Blick beim Laufen auf den Boden gerichtet war.

„Hat dir schon jemand genau erklärt, was wir hier tun?“, wechselte Amir das Thema.

„So ein bisschen.“ Der Schein des Lagerfeuers verschwand hinter einem Zelt und nur noch die Sterne über uns spendeten ein wenig Licht. „Ihr jagt Dämonen.“ Wesen wie den roten Mann. Das Bild von ihm ließ sich noch immer nicht mit dem Monster vereinbaren, das in meinem Kopf Gestalt angenommen hatte.

„Um es kurz zusammenzufassen, ja, aber die Arbeit der Jäger beherbergt viel mehr.“ Jeder seiner Schritte wirbelte ein rotes Wölkchen auf. „Weißt du, die Dämonen sind sehr gefährlich. Sie sind wie Geschwüre, die die Welt krank machen.“ Er schwieg einen Moment, in dem nur unsere Schritte zu hören waren. „Diese Welt ist krank und es gibt nur einen Weg, sie zu heilen.“

„Die Ausrottung einer ganzen Spezies?“ Ich wollte es nicht so scharf klingen lassen, doch seine Worte kamen mir irgendwie falsch vor. „Ich meine …“

„Ich verstehe sehr wohl, was du meinst. Und Schönreden würde nichts bringen. Es ist genauso, wie du sagst. Aber du siehst das Bild nicht im Ganzen. Diese Welt muss heilen, damit unsere Kinder eine Zukunft haben. Vielleicht klingt es ein wenig fanatisch, aber das Böse muss getilgt werden, damit die Welt erblühen kann.“

Er hatte Recht, das klang fanatisch – nur ein ganz klein wenig. „Und die Dämonen sind böse.“

Er nickte. Trotzdem konnte ich es nicht wirklich glauben. Ich hatte gesehen, wie der rote Mann sein Kind mit dem Einsatz seines Lebens verteidigt hatte. Wie konnte so jemand bis aufs Blut böse sein? Das passte einfach nicht.

„Sie mögen nicht danach aussehen, aber genau das sind sie. Und unsere Aufgabe ist es, für eine bessere Zukunft zu kämpfen.“

„Recycling wäre ein guter Anfang“, überlegte ich. „Und härtere Strafverfolgung.“

Amir schüttelte den Kopf. „Das sind nur Tropfen auf dem heißen Stein. Nein.“ Er schüttelte entschlossen den Kopf. „Das reicht nicht mehr. Es muss sich etwas Grundlegendes ändern und das funktioniert nur auf diesem Weg.“

Ich wusste nicht, was ich von seinen Worten halten sollte. Was brachte es der Welt, eine ganze Spezies auszulöschen? Selbst wenn sie so böse waren, wie die Jäger behaupteten, war es einfach nicht logisch, dass sich mit der Ausrottung etwas Großes ändern würde. Dafür waren wahrscheinlich viel zu wenig Wesen dieser Welt wirklich davon betroffen.

Andererseits, zählte nicht jedes Leben? Und wenn nur eines gerettet werden konnte, war es die Sache nicht wert? Doch wer entschied denn, dass das Leben eines Mortatias mehr wert war als das eines Dämons?

Amir lenkte unsere Schritte nach links an den Rand, zu dem Platz mit den Pfählen, und blieb dort stehen. „Findest du es falsch, was wir machen?“, fragte er mich ganz direkt. Die Schlangen auf seinem Kopf starrten mich dabei genauso intensiv an wie er selbst.

„Ich weiß nicht“, antwortete ich ganz ehrlich und verschränkte die Arme vor der Brust. Langsam wurde es wirklich ein wenig kalt. „Ich verstehe, was du sagst, aber ich weiß nicht, ob es wirklich richtig ist.“

„Es ist richtig“, sagte er in einem Ton, der keine Widerrede zuließ. Er hatte seine Überzeugung und würde auch nicht davon abrücken. „Die Dämonen bringen so viel Leid über die Wesen, die ihnen begegnen. Ich habe viel gehört und noch mehr gesehen. Vertrau mir dieser Hinsicht einfach.“

„Naja, ich kenne dich ja nicht wirklich.“

Wieder zuckte sein Mundwinkel. „Da muss ich dir zustimmen, aber vielleicht kann ich diesen Zustand ja ändern.“ Er blickte über die Pfähle hinweg ins offene Land. „Das war nämlich nicht der Grund, warum ich mit dir sprechen wollte. Ich wollte nur, dass du verstehst, was wir hier tun und auch, warum wir es tun.“

„Ihr wollt etwas zum Besseren wenden.“ Nur war ich mich nicht sicher, ob dies die Richtige Art war. 

Amir nickte. „Und deswegen möchte ich dich um etwas bitten.“

„So?“ Damit waren wir wohl beim eigentlichen Punkt angelangt. Neugierig blickte ich zu ihm hoch und musste feststellen, dass er jünger war, als ich auf den ersten Blick geglaubt hatte, vielleicht Mitte zwanzig. Sein scharfgeschnittenes Gesicht hatte etwas Edles. Mit diesem durchtrainierten Körper konnte ich ihn mir gut in einem Anzug vorstellen. Jedenfalls würde er dort meiner Meinung nach besser hinpassen als in diese endlose Wildnis – zumindest, was den äußeren Anschein anging. „Um was möchtest du mich denn bitten?“, fragte ich schnell, um zu vertuschen, dass ich ihn angestarrt hatte. Nicht dass es mir peinlich war, es gehörte sich einfach nicht.

Na gut, ein wenig peinlich war es mir schon.

Amir schien davon aber nichts mitbekommen zu haben. „Ryu hat mir heute etwas sehr interessantes erzählt.“

Ich sah zu dem Engel, doch auch sein Blick war in die Ferne auf einen Punkt gerichtet, der mir entging.

„Du hast mit Kiran das Zaubern geübt.“

Ach, darüber wollte er sprechen. „Naja, eigentlich habe ich nur wie ein Glühwürmchen geleuchtet.“ Gezaubert hatte ich später ein wenig, aber das behielt ich lieber für mich – besonders nachdem Asha es mir so ausdrücklich verboten hatte.

„Du hast dich aufgeladen.“

„Bitte?“

Amir senkte den Blick auf mich. Er war einen halben Kopf größer als ich. „Aufgrund von Ryus Erzählungen habe ich eine Theorie entwickelt.“

Na, da war ich ja mal gespannt.

„Es lässt sich ja nun schwer bestreiten, dass du nicht von hier stammst. Wie auch immer es möglich ist, deine Heimat ist eine Welt ohne Magie, also warst du auch nie in der Lage, deine eigene Magie zu entwickeln, oder sie in dich aufzunehmen.“

Wäre zumindest logisch.

Die Schlangen auf Amirs Kopf wiegten sich leicht hin und her, eine streifte mit ihrer Zunge seine Wange. Er schien es nicht einmal zu merken. „Nun bist du zwar schon ein paar Tage hier, doch deine Magie ist nicht erwacht. Warum?“

„Ähm …“ War das eine Fangfrage? „Ich weiß nicht. Weil ich gar keine hatte?“

„Ganz genau. Hatte ist hier das richtige Wort. Ich glaube, es brauchte einen Auslöser, um deine Magie zu wecken. Nichts ist so rein wie die Caput Vena und nichts vollbringt solche Wunder wie sie.“ Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „Was ich nun glaube, ist, dass der Kontakt mit der reinen Magie dein innerstes Wesen geweckt hat. Doch es war so ausgetrocknet, dass es begonnen hat, sich wie ein Schwamm vollzusaugen, sobald es die Gelegenheit dazu bekommen hat. Kurz gesagt, du warst leer und nun bist du wieder voll. Vielleicht zum ersten Mal in deinem Leben.“

„Du meinst wie bei einer Batterie?“

Kleine Fältchen bildeten sich auf seiner Stirn. „Ich weiß nicht, was dieses Wort bedeutet.“

Er wusste nicht, was eine Batterie war? „Naja, das ist …“ Wie beschrieb ich das am besten? „Das ist so ein kleines Gehäuse, indem man Energie aufbewahren kann, um damit zum Beispiel … äh … man kann damit zum Beispiel eine Taschenlampe in Betrieb nehmen.“

Nun sah auch Ryu mich so seltsam an. „Was soll man denn mit einer Lampe in seiner Tasche?“

Eine Lampe in der Tasche. Bei dieser Logik konnte ich gar nicht anders, als leise zu lachen. „Ich glaube, wir bleiben doch besser bei dem Vergleich mit dem Schwamm.“ Das würde den beiden zumindest kein Kopfzerbrechen bereiten. Und mir auch nicht. Trotzdem fand ich es seltsam, dass die beiden nicht zu wissen schienen, wovon ich sprach.

„Das ist wahrscheinlich das Beste.“ Amir wandte seinen Blick wieder in die Ferne. „Und jetzt zu meiner Bitte. Doch bevor du darauf antwortest, möchte ich, dass du ganz genau darüber nachdenkst. In Ordnung?“

Langsam wuchs meine Neugierde. „Okay“, sagte ich, ohne zu zögern.

„Ich möchte dich bitten, dich uns anzuschließen.“ Er schaute mich nicht an, doch die Köpfe seiner Schlangen waren alle in meine Richtung gedreht. Konnte er mich durch sie auch sehen? Das war ein unheimlicher Gedanke. Damit wurde der Spruch „Augen im Hinterkopf haben“ ganz neu definiert. „Ich möchte dich einladen, dich meinen Jägern anzuschließen, um mit uns für eine bessere Welt zu kämpfen.“

In meinem Kopf herrschte für einen Moment Leere. Dann fragte ich das Erstbeste, was mir einfiel. „Du willst, dass sich bei euch mitmache? Warum?“ Das war vielleicht nicht die Erwiderung, die er sich erhofft hatte, aber es war das, was ich wissen wollte.

„Eine einfache Frage, die von Intelligenz zeugt. Und darauf gibt es eine genauso einfache Antwort. Du bist wohl eine der mächtigsten Hexen, die es zurzeit gibt. Ungeübt, ja, aber nichtsdestoweniger sehr mächtig.“

Mächtig? Ich? „Wie kommst du darauf?“

„Ryu hat es mir erzählt. Und nicht nur er.“ Amir gab seine Beobachtungen auf und blickte wieder zu mir. „Kiran und auch Asha haben gesagt, dass sie noch nie jemanden gesehen haben, der eine solche Menge reiner Magie in sich aufnehmen konnte, ohne sich dabei selbst zu schädigen. Und hätte Kiran dich nicht unterbrochen, hättest du dich noch weiter der Caput Vena bedient; unbeschadet, wie ich vermute. Selbst für eine Hexe bist du unglaublich mächtig. Du musst nur ein wenig trainieren, um deine Kräfte kontrollieren zu können, dann wärst du für die Jäger eine Bereicherung, die wir dringend gebrauchen können.“

Ich sollte eine mächtige Hexe sein? Wirklich? Ich? Und dann auch noch so mächtig, dass die Jäger mich in ihren kleinen Club aufnehmen wollten? Als Jäger der Dämonen.

Dieser Gedanke ernüchterte mich ein wenig. Sie wollten, dass ich half, andere Wesen zu jagen, sie umzubringen. „Ich kann niemanden töten.“ Das war ausgeschlossen.

„Das musst du auch nicht.“

„Nicht?“ Hatte ich da etwas falsch verstanden?

„Einen Dämon zu töten ist keine leichte Aufgabe. Wir haben Jahre gebraucht, um eine perfekte Technik zu entwickeln, und nur wenige von uns beherrschen sie wirklich. Es wäre zu aufwendig, sie dir zu vermitteln – zumindest, solange du noch nicht einmal in der Lage bist, mit deiner eigenen Magie umzugehen.“

„Aber wozu brauchst du mich dann?“

„Um sie zu jagen. Das Schwerste an der Hatz ist, sie zu finden. Wir müssen sie einfangen, hierher bringen und schwächen.“

„Schwächen?“

Er nickte zu den zwölf Pfählen. „Wir schwächen sie. Anders ist es fast unmöglich, sie zu töten.“

Wie er das sagte … plötzlich fror ich bis auf die Knochen. Ich sollte Wesen jagen, damit andere sie töten konnten? Wesen wie den roten Mann? Er hat mir das Leben gerettet. Ja, und dann hatte er mich zum Sterben in der Wüste zurückgelassen.

Ich blickte auf die Pfähle. Nun konnte ich mir plötzlich sehr gut vorstellen, wozu die Seile daran gedacht waren. „Das ist … grausam.“ Das musste einfach gesagt werden.

Amir schwieg eine ganze Weile, als wäre er plötzlich tief in Gedanken versunken. „Hast du schon einmal ein Baby im Todeskampf schreien hören, weil es so sehr verletzt wurde, dass selbst der beste Heiler nichts mehr dagegen ausrichten konnte?“

Bitte?

„Hast du schon einmal eine tote Frau gesehen, die praktisch zerrissen wurde? Weißt du, was für ein Gefühl das ist, zu wissen, dass wenn du nur fünf Minuten früher gekommen wärst, du es vielleicht hättest verhindern können?“

Oh Gott.

„Ich habe Dinge gesehen, Dinge von solcher Grausamkeit und Brutalität, dass sie mich mein Leben lang verfolgen werden“, sagte er leise. „Und ich habe einen Weg gefunden, es aufzuhalten. Solche Dinge dürfen nicht passieren. Dämonen sind wie Geschwüre, deswegen müssen sie entfernt werden.“

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Plötzlich waren Bilder in meinem Kopf, solch grausame Bilder.

„Und ich biete dir nun an, uns zu helfen, etwas besser zu machen. Deswegen frage ich dich noch einmal: Möchtest du uns zur Seite stehen, oder ist es dein Wunsch, nach Hause zurückzukehren?“

„Nach Hause.“

Eine Schlange auf seinem Kopf zischte leise. „Nach Hause. Wenn du möchtest, werde ich dich nicht aufhalten. Aber solltest du dich für uns entscheiden; solltest du dich dafür entscheiden, etwas Gutes für diese Welt zu tun, dann wirst du nicht nach Hause zurückkehren können.“ Er wandte sich mir zu und blickte mir tief in die Augen. „Das muss dir klar sein.“

„Aber ich … wenn ich in einem halben Jahr sage, ich will gehen, dann …“ Ich ließ den Satz unvollendet, plötzlich nicht sicher, was ich hören wollte.

„Natürlich kannst du dann gehen. Jedoch wäre es dann besser, wenn du gleich gehst, weil wir sonst nur unsere Zeit verschwenden würden, wenn wir dich ausbilden.“

Natürlich, das verstand ich. Genau wie viele andere Dinge, die er gesagt hatte, doch … ich wusste nicht, ob ich eine solche Aufgabe bewältigen konnte.

„Lass dir Zeit mit deiner Antwort“, sagte Amir in meine Gedanken hinein. „Ich würde mich freuen, dich zu meinen Jägern zu zählen, aber solange Asha dich noch nicht für gesund erklärt hat, eilt es nicht. Und falls du es wirklich nicht möchtest, dann werden wir dich nach Sternheim bringen. Aber so schätze ich dich nicht ein.“

Ich senkte den Blick auf den Boden.

„Sag mir einfach, wie du dich entschieden hast.“ Er drehte sich um und verließ den Platz mit den Pfählen.

Ryu trat an mich heran, drücke meine Schulter kurz und folgte ihm dann, um mich mit meinen Gedanken allein zu lassen.

Wenn ich ihnen helfen sollte, würde ich etwas Gutes tun, etwas zum Besseren wenden. Dieser Gedanke hatte schon etwas Verlockendes. Aber ich wusste nicht, was ich von dem Ergebnis halten sollte. Wären es diese Monster, wie sie in meiner Vorstellung geboren worden waren, dann wäre die Antwort klar. Natürlich würde ich ihnen helfen. Aber da war immer noch diese Erinnerung an den roten Mann. Er wirkte zu menschlich, um ein Monster zu sein. Er hatte sein Kind verteidigt. Und dann hatte er auch noch mein Leben gerettet – wenn auch nur, um eine Schuld zu begleichen.

Ich wusste einfach nicht, wie ich diese ganzen Informationen einordnen sollte. Und das waren ja auch noch nicht mal alle. Wenn ich mich für die Jäger entschied, entschied ich mich damit gegen meine Vergangenheit, gegen mein Zuhause.

Noch immer war ich mir nicht im Klaren darüber, ob ich mich erinnern sollte oder es besser war, mit dem Vergessen zu leben. Und jedes Mal, wenn ich darüber nachdachte, wurde ich unsicherer. Der Brief hatte so wenig preisgegeben.

Im Moment schien es nur eine Sache zu geben, derer ich mir sicher sein konnte. Und das war, dass ich mir absolut nicht sicher sein konnte.

Seufzend ließ ich mich in den weichen Sand sinken und starrte die Pfähle an.

Wir schwächen sie.

Die Schlaufen schaukelten leicht im Wind. Plötzlich wirkten sie unheilvoll und viel bedeutender, als sie eigentlich waren. Ein grausames Werkzeug, oder zumindest ein Teil davon, denn das wirklich grausame würden die beiden Sonnen sein.

Ich hatte am eigenen Leib zu spüren bekommen, wie erbarmungslos sie waren. Konnte ich also wirklich dabei mitwirken, anderen Wesen diese Gräuel zuzumuten?

Mein Blick richtete sich in weite Ferne. Aber wenn Dämonen nun wirklich solche Monster waren, wie konnte ich dem dann einfach den Rücken kehren und so tun, als würde ich von nichts wissen? Ich hatte Amirs Augen gesehen, als er von der toten Frau gesprochen hatte. Egal wer sie gewesen war, sie schien ihm etwas bedeutet zu haben. Trübte das vielleicht sein Urteilsvermögen? Aber da waren doch noch all die anderen Jäger. Sie konnten doch nicht alle falsch liegen.

Ich seufzte schwer.

Plötzlich glommen am anderen Ende des Platzes zwei Punkte in der Luft auf. Nein, keine Punkte - Augen. Kleine Augen. Und sie schlichen auf mich zu.

Im ersten Moment wollte ich auf die Beine springen, doch dann hörte ich das vertraute Zirpen. Das war doch … wie hatte Asha es noch gleich genannt? Ach ja, das war ein Fennlix. Mein Fennlix. „Hallo, kleiner Freund.“

Er zirpte wieder, bleib aber auf der anderen Seite der Pfähle.

„Hast du dir Sorgen um mich gemacht?“ Ich jedenfalls freute mich, ihn zu sehen. Er hatte mich durch die Wüste begleitet und am Ende sogar gerettet – irgendwie. Aber bei meinem akuten Problem konnte er mir wahrscheinlich nicht helfen. Was sollte ich nur tun?

 

°°°°°

Tag Elf

 

Das Zelt warf einen langen Schatten. Langsam kroch er auf die Pfähle zu. Leider würde er sie niemals erreichen, doch mir spendete er ein wenig Schutz.

Die Sonnen brannten heiß hinunter und der Schweiß klebte mir im Nacken. Die Temperaturen waren wieder auf weit über dreißig Grad geklettert. Auch die wiederkehrenden Windböen sorgten für keine Kühlung. Sie wirbelten nur Staub auf, der sich in der Kleidung und dem Ghutra verfing.

„Konzentrier dich“, wies Asha mich an. „Mach, was ich dir gesagt habe.“

Ruhig legte ich die Hand auf das trockene Erdreich. Ich konnte das Geheimnis in ihm spüren, die verborgene Magie. Sie war wie eine Vibration, lockte mich, wollte von mir benutzt werden. Es war, als hätte die Magie eine Seele, ein eigenes Wesen, eine Stimme. Und sie rief nach mir.

Ich atmete tief durch, konzentrierte mich, wie ich es in den letzten Tagen gelernt hatte, und hob die Hand dann langsam an. Ein dünner Lichtstreifen hatte sich mit mir verbunden, kribbelte auf meiner Haut. Ich zog meine Hand höher. Der Lichtstreifen wurde immer länger, bis ich ihn mit einem kräftigen Ruck von der Ader abriss.

„So ist gut“, lobte Asha mit ruhiger Stimme.

Unter ihrer Aufsicht war der Glühwürmchen-Effekt kein weiteres Mal aufgetreten und auch das Anzapfen der Caput Vena verlief nun viel kontrollierter.

„Und nun nimm sie in dich auf, verbinde dich mit ihr.“

Das konnte ich. Ich wusste zwar nicht, wie ich es tat, aber das bereitete mir keine Probleme. Es passierte einfach.

Der Faden aus Licht sammelte sich in meiner Hand und ohne mein Zutun versank er einfach in meiner Haut, bis er verschwunden war – zumindest optisch, denn ich spürte ihn noch, spürte, wie er mich erfüllte, bis wir Eins wurden.

Lächelnd schloss ich die Hand.

Mein kleiner Freund zirpte Beifall.

Er lag ein Stück weiter in einer kleinen Erdmulde und ließ mich keine Sekunde aus den Augen. Seit er vor einer knappen Woche aufgetaucht war, fand ich ihn immer irgendwo in der Nähe. Ein paar der Jäger hatten sich bereits darüber gewundert und Kiran hatte gescherzt, er könnte ja unser kleines Maskottchen werden.

Aber egal wie nahe er kam, er blieb immer außerhalb des Lagers. Doch wenn ich am Rand des Lagers auftauchte oder hinunter in die kleine Lagune ging, war er immer sofort zur Stelle. Mittlerweile war er mein kleiner Wächter.

„Du solltest ihm einen Namen geben“, überlegte Asha, die meinem Blick gefolgt war.

„Einen Namen?“

„Ja, denn ich glaube nicht, dass er noch einmal verschwinden wird.“

Einen Namen. Wie nannte man ein kleines magisches Wesen? Ich hatte keine Ahnung. Besaß ich ein Haustier? Also Zuhause? Ich schüttelte den Kopf. In diese Richtung wollte ich meine Gedanken gar nicht erst gleiten lassen.

„So, und nun möchte ich, dass du die Magie wieder hervorbringst“, unterbrach Asha meine Gedanken. „Und zwar in der gleichen Form, in der du sie in dich aufgenommen hast.“

Ich neigte den Kopf. Reine Magie? Diese Aufgabe war neu. „Was muss ich tun?“

„Das gleiche, was du tust, wenn du dich von der Caput Vena nährst, nur umgekehrt.“

Bei diesem Wortlaut musste ich schmunzeln. Das hörte sich ja so an, als würde ich die Magie essen. „Das heißt, ich soll die Hand auf meinen Körper legen?“

„Nein. Dein Körper ist Magie, deswegen ist das nicht nötig.“

Mein Körper war Magie. In Ordnung. Das hieß … dass ich keine Ahnung hatte, wie ich sie dort rausbekommen sollte. Bisher war ich immer einer Vibration gefolgt, aber die gab es hier nicht. Zwar hatte ich bereits ein paar einfache Zauber gelernt – ich konnte nun Steinchen schweben lassen – aber die Magie in ihrer reinsten Form hatte ich noch nicht beschwören müssen. Und mir eine Hand abzuhacken, fand ich dann doch eine ein wenig zu drastische Maßnahme. „Kannst du mir erklären, wie ich das machen muss?“

„Natürlich kann ich das.“

Ich spitzte die Ohren.

„Aber ich werde es nicht tun.“

Dazu fiel mir im ersten Moment gar nichts ein. „Warum nicht?“ Wie sollte ich es denn schaffen, wenn ich nicht wusste, was ich zu tun hatte?

„Am besten lernt man durchs probieren. Du musst deine Fähigkeiten und Grenzen kennenlernen. Ich kann dir nur das sagen, was du bereits von Amir zu hören bekommen hast. Du bist sehr mächtig. Doch wie und wann du diese Macht einsetzt, musst du selbst entscheiden.“

„Aber dazu muss ich es doch erstmal können“, jammerte ich.

Asha hatte nur ein mildes Lächeln für mich übrig.

„Na gut.“ Mir blieb ja gar keine andere Wahl, wenn ich es lernen wollte.

„Denk einfach an das, was ich dir bereits beigebracht habe, dann dürfte es kein Problem sein.“

Das sagte sich so einfach, sie konnte das alles schließlich schon. Aber aufgeben war etwas, das gar nicht in Frage kam. Ja, dieses Wort gab es in meinem Wortschatz nicht einmal. Und im Notfall würde Asha mir sicher trotz ihrer Worte helfen.

Also, die Magie so heraufbeschwören, wie ich sie in mich aufgenommen hatte. Ich öffnete meine rechte Hand. Die Handfläche war leer. Natürlich war sie leer, doch das würde ich nun ändern.

Ich schloss die Augen und begann mich auf meinen Leib zu konzentrieren, wurde mir jedes einzelnen Körperteils bewusst. Ich spürte das Leben in mir und auch … diesen neuen Teil: die Magie. Sie war wie ein eigenständiges Lebewesen, das aber trotzdem zu mir gehörte. Etwas das in mir geboren wurde und dann doch wieder nicht.

Ein heftiger Windzug kam auf und jagte den trockenen Wüstenstaub über die Ebenen. Er brachte keine Kühlung, nur noch mehr Wärme. Ich spürte die Hitze trotz des Schattens. Genau wie mein Haar, das mir im schweißfeuchten Nacken klebte. Nachher musste ich dringend zur Lagune, am frühen Abend, wenn die Hitze des Tages langsam nachließ.

„Ja, so ist gut.“

Ich schlug die Augen auf. Auf meiner Handfläche lag ein feiner Schimmer, den ich mit viel Fantasie als Magie erkennen konnte.

„Halt sie fest und zwing sie weiter aus dir hinaus.“

Festhalten und hinauszwingen. Verstanden. Vor Anstrengung und Konzentration brach mir der Schweiß aus. Ich konnte spüren, wie die Magie unruhig unter meiner Handfläche vibrierte. Sie war da, aber sie wollte mich nicht verlassen. „Komm schon“, murmelte ich und konnte zusehen, wie der Schimmer stärker wurde.

Eine weitere Windböe fegte über mich hinweg und brachte die Planen der Zelte zum Flattern.

Ich versuchte die Magie festzuhalten, doch der aufgewirbelte Sand lenkte mich ab. Plötzlich überkam mich ein leichter Schwindel, der mich zwang, mich am Boden abzustützen, wenn ich nicht umfallen wollte.

Die Magie zog sich in mich zurück. Vorbei. „Mist“, fluchte ich und schüttelte das Schwindelgefühl ab. „Ich hab’s fast gehabt.“

„Es wird schon noch klappen.“

Nicht wenn mir weiterhin die Wüste dazwischen kam. „Diese blöde Hitze“, grummelte ich. Obwohl ich nun schon seit fast zwei Wochen hier lebte, wollte es einfach nicht besser werden. Die Hitze setzte mir zu und war bereits an mehr als einem Schwindelanfall schuld gewesen.

„Du wirst dich noch daran gewöhnen“, erklärte Asha. „Du wirst schon sehen. Am Anfang geht es jedem so.“

„Dir auch?“

Lächelnd schüttelte sie den Kopf. „Bei mir ist das etwas anderes. Ich bin zwar in Sternheim geboren, aber hier bei den Jägern im roten Hinterland aufgewachsen. Mein Vater war Jäger.“

„Also kennst du das alles hier bereits, seit du ganz klein bist.“

Sie lächelte. „Das rote Hinterland ist mein Zuhause. Hier gibt es alles, was ich brauche.“

Zuhause. In den letzten Tagen hatte ich es vermieden, dieses Wort überhaupt zu denken. Amirs Bitte lag mir noch immer in den Ohren, aber eine Entscheidung war nicht gefallen, einfach weil ich mich nicht entscheiden konnte. „Lebst du gerne hier?“

Sie zuckte etwas nichtssagend mit den Schultern. „Seit mein Vater gestorben ist, ist es nicht mehr dasselbe wie früher.“

„Dein Vater ist tot?“

„Er ist von einem Dämon getötet worden.“ Ihre Lippen verzogen sich zu einen freudlosen Lächeln. „Er hat für die Dämonenjagd gelebt, genau wie Ryu. Die beiden sind sich so ähnlich und manchmal …“ Sie verstummte und senkte die Augen.

„Du hast Angst um ihn.“

„Ich habe Angst davor, dass er eines Tages nicht zurückkommt.“

Verständlich. Auch in diesem Moment war Ryu mit Amir und den anderen Jägern wieder auf der Hatz. In den letzten Tagen hatten sie keinen einzigen Dämon mitbringen können. Nur einmal war ihnen einer begegnet, doch der konnte ihnen entwischen. Ich wusste nicht, ob diese Tatsache mich erfreuen oder beunruhigen sollte.

Mein kleiner Freund gab ein leises Zirpen von sich, gähnte dann herzhaft und rollte sich in der prallen Sonne zu einem kleinen Ball zusammen. Ich hatte mich bereits mehr als einmal gefragt, wie er das aushielt.

„Weißt du, manchmal frage ich mich, ob ich es nicht vielleicht doch so wie meine Schwester hätte machen sollen“, sagte Asha leise. Ihr Finger malte Kreise in den Sand.

„Du hast eine Schwester?“ Ich hatte ja bereits alle Jäger kennengelernt und von einem Großteil sogar die Namen behalten, aber von Ashas Schwester war dabei nie die Rede gewesen.

Asha lächelte. „Saana. Sie ist vier Jahre älter als ich und sie wollte nie ein Teil der Jäger sein, nicht so wie die anderen. Sie war immer ein Mortatia des Wissens.“

Oh nein. Ich traute mich kaum zu fragen. „War?“  

„Ist“, verbesserte Asha sich. „Weißt du, als wir noch kein waren, wollte mein Vater, dass wir die Möglichkeit haben, richtige Hexen zu sein, und brachte uns zu einem Zirkel. Saana war von diesem Ort vom ersten Moment an begeistert. So viel Wissen und die ganzen Bücher. Manchmal habe ich sie tagelang nicht gesehen. Aber mich konnte dieser Ort nicht halten, denn ihm fehlte etwas.“

„So? Was denn?“

„Ryu.“ Ihre Augen begannen vor Freude beinahe zu strahlen. „Es hat meinen Vater wahnsinnig gemacht, dass ich wegen diesem Jungspund meine Zukunft aufs Spiel gesetzt hab und immer abgehauen bin, um wieder zu den Jägern zurückzukommen, aber … naja, was hätte ich denn sonst tun sollen?“

Das klang irgendwie romantisch – vielleicht auch ein wenig schnulzig. Und trotzdem musste ich lächeln. „Also so eine richtige Lovestory?“

„Ja. Und … hey, guck mal, wer da kommt.“

Ich drehte mich um und blickte Gaio entgegen. Er war in der Zwischenzeit wieder gesund geworden, aber seiner Laune schien das trotzdem nicht geholfen zu haben. Immer wenn ich ihm begegnete, schaute er mich auf eine sehr seltsame Weise an, genau wie jetzt auch wieder. Aber vielleicht war das auch nur sein normaler Gesichtsausdruck.

Er umrundete den Platz mit den Pfählen. In seiner Hand trug er mehrere Zeitungen, die im leichten Wind flatterten.

Ohne Asha zu beachten, wandte er sich direkt an mich. „Was treibst du hier eigentlich für ein Spielchen?“

„Ich … was?“ Was war denn nun kaputt?

„Tu nicht so. Ich wusste gleich, dass mir dein Gesicht bekannt vorkommt, und jetzt weiß ich auch wieder warum.“

„Ähm …“ Etwas ratlos schaute ich zu Asha, aber auch die schien nicht zu wissen, was er mir eigentlich sagen wollte. „Ich habe wirklich keine Ahnung, worauf du hinaus möchtest.“

„Auf die Lykaner, Frau Talita Kleiber aus München.“ Er warf mir den Stapel Zeitungen in den Schoß und gleich vom obersten blickte mir mein eigenes Gesicht entgehen. Aber … was hatte das nun wieder zu bedeuten?

„Ich weiß nicht, was du hier für ein Spiel spielst, aber Amir wird das erfahren. Du bist nämlich nicht das, was du vorzugeben scheinst. “

Verwundert griff ich nach der obersten Zeitung und schaute in mein eigenes Gesicht. Aber was …

Ich runzelte die Stirn. Das Erbe der Lykaner, lautete die Überschrift. Und darunter etwas kleiner: Schützt sie Mörder? Lykaner? Das waren doch Werwölfe, oder? Es gab Werwölfe? Wenn man bedachte, dass ich bereits einen Vampir kennengelernt hatte, war die Frage wohl überflüssig. Nur wie kam mein Bild auf eine Zeitung, die fast eineinhalb Jahre alt war? Und auch der Inhalt gab nicht viel Preis. Es ging um eine Verhandlung und den sogenannten Codex. Und auch, dass Talita Kleiber aus München einer der größten Gegner des Antrags war.

Talita.

„Meine Schwester“, flüsterte ich und griff nach der nächsten Zeitung. Das Bild auf der Titelseite zeigte einen Pulk von Protestanten, die wütend unter lauten Parolen ihre Schilder schwangen. Dahinter befand sich eine Art … Urwald. Davor stand eine … ich glaubte, eine Frau. Sie sah seltsam aus, eine Mischung aus Mensch und Katze, die auf zwei Beinen lief. Direkt neben ihr stand ein großer weißer Wolf. War das ein Lykaner?

Hüterin verhindert Exekution der Bestien, lautete die Schlagzeile. Und direkt darunter: Zwei Tote, wie viele folgen noch?

„Hast du gar nichts dazu zu sagen?“, wollte Gaio wissen.

Doch, natürlich hatte ich das. „Darf ich die behalten?“

„Was?“ Das war wohl nicht das gewesen, womit er gerechnet hatte, aber was hatte er geglaubt, würde ich sagen, wenn er mir so etwas vorlegte?

Fast zwei Jahre nach ihrem plötzlichen Verschwinden stand Tal plötzlich mit diesem Typen bei uns vor der Tür. Und von da an fing es an, seltsam zu werden. Plötzlich behaupteten alle, dass sie niemals in diesem Rehabilitationszentrum war, sondern in einer anderen, magischen Welt. Einer Welt, in der es von Wesen aus Märchen und Mythen nur so wimmeln sollte.

Das war der Beweis, dass meine Zwillingsschwester hier gewesen war, dass die Worte in dem Brief stimmten, und so konnte ich erfahren, was sie hier erlebt hatte. „In diesen Artikeln geht es nicht um mich, sondern um meine Schwester. Talita.“

Plötzlich schien Asha ein Licht aufzugehen. Sie griff sich eine der Zeitschriften und studierte das körnige Bild darauf. „Die Hüterin der verlorenen Wölfe. Deine Schwester ist weltberühmt.“

„Ist das dein Ernst?“ Das wurde ja immer besser.

„Talita hat es als eine der wenigen Außenstehenden geschafft, sich in die Gesellschaft der Lykaner zu integrieren, und war einer ihrer größten Verfechter, als der ehemalige Wesensmeister der Stadt Sternheim versucht hat, ihnen den Status eines Mortatias aberkennen zu lassen.“

„Ähm … was?“ Da waren ein-zwei Worte enthalten, die mir absolut gar nichts sagten. „Was ist ein Wesensmeister?“ Moment, das hatte ich doch schon einmal gelesen. In dem Brief hatte dieses Wort auch gestanden.

„Der Regent einer Stadt“, antwortete Asha gedankenverloren und schnappte sich die nächste Zeitung.

Etwas ratlos sah ich zu Gaio hinauf, doch der schien mit der Situation auch ein wenig überfordert – und das, obwohl er sie herbeigeführt hatte.

„Diese Talita ist deine Schwester?“

„Eineiige Zwillingsschwester.“ Ich runzelte die Stirn. „Glaube ich zumindest.“ Zwar gab es für diese Vermutung ziemlich eindeutige Indizien, aber eben keine Beweise, und solange ich mich meiner Erinnerung verweigerte, würde ich auch nicht erfahren, ob es der Wahrheit entsprach.

Gaio zog die Augenbrauen zusammen. „Du glaubst?“

Eine Erwiderung blieb mir erspart, weil in dem Moment der Ruf eines Jägers durch das Lager tönte. „Sie haben einen!“

Sofort kam Bewegung ins Lager und links und rechts strömten die Jäger herbei, was meinen kleinen Freund dazu veranlasste, sich schnell zurückzuziehen.  

„Was ist los?“, wollte ich wissen und erhob mich, um den Blicken der anderen zu folgen. Da, nicht weit entfernt, sah ich Amir mit den anderen von der Hatz zurückkehren. Ihre Silhouetten flimmerten in der heißen Wüstensonne und sie zerrten etwas hinter sich her.

„Sie haben einen Dämon gefangen.“ Auch Asha erhob sich. Auf ihrer Stirn waren ein paar Sorgenfalten erschienen. 

Was? Sie hatten … oh nein. Ich reckte den Hals, um besser sehen zu können.

Amir und Ryu führten die kleine Gruppe auf ihren Greifen an. Zwischen ihnen war ein Seil gespannt und … nein. In ihrer Mitte führten sie den Dämon. Sie hatten seine Hände zusammengebunden und an den Handgelenken zwei lange Leinen befestigt, mit denen sie ihn an den Sätteln gesichert hatten. Und damit zerrten sie ihn hinter sich her.

Die Spannung der Seile entstand durch die Versuche des Dämons, sich zu befreien. Er wehrte sich nach Leibeskräften, stürzte sogar ein paar Mal, aber das kümmerte die Jäger gar nicht. Sie zogen ihn achtlos weiter. Er musste aus eigener Kraft wieder auf die Beine kommen, doch das gelang ihm nicht. Er wurde einfach durch den Sand gezerrt. „Oh Gott.“

„Es ist ein Rubin“, erklärte Asha mir. „Ein Feuerdämon.“

Oh nein, die Färbung seiner Haut kam gar nicht vom Sand, das war der rote Mann! Wie von selbst machte ich einen Schritt nach vorne, nur um mich dann daran zu erinnern, dass das vielleicht keine gute Idee war. Ich meinte, was sollte ich denn machen?

„Gaio, mach dich mal nützlich“, ordnete Asha an und lief der Gruppe entgegen.

Ich konnte nichts anderes tun, als auf diese unmenschliche Erbarmungslosigkeit zu blicken.

Nur wenige Meter neben dem Platz mit den Pfählen hielt der kleine Konvoi. Ryu sprang von seinem Greif, übergab die Zügel des schnaubenden Tieres an Gaio und zog Asha in seine Arme.

„Bist du verletzt?!“, waren die ersten Worte, die sie an ihn richtete, und ich konnte sie verstehen. Ein Teil seiner Kleidung war angesengt, am Arm hatte er eine kleine Brandwunde und sein ganzes Gesicht war rußverschmiert.

„Nein“, sagte er ruhig und fing ihre Hände ein, die ihn auf der Suche nach Verletzungen überall antasten wollten. „Asha, mir geht es gut.“

„Aber …“

„Der Dämon hat ein paar Bäume in Brand gesetzt“, erklärte Amir und schwang sich von seinem Greif. Das Tier tänzelte nervös auf der Stelle und stieß einen röhrenden Schrei aus. Seine keuchende Fracht war ihm wohl nicht geheuer. „Er hat versucht, sich darin zu verstecken.“

„Ist ihm nicht gelungen“, grinste Kiran und lenkte seinen Greif an Ashas Seite. Der Schnabel des Tieres begann an ihrer Hose zu zupfen, als würde er darin etwas zu Fressen vermuten. „Ryu ist einfach reingeflogen und hat ihn rausgezogen.“

„Du bist was?!“, frage Asha.

Ryu warf dem anderen Jäger einen Blick zu, der deutlich sagte, er möchte das nächste Mal doch bitte einfach die Klappe halten.

In dem Moment begann der Dämon wütend zu knurren. Zwei Jäger zerrten ihn rücksichtslos auf die Beine und verpassten ihm einen heftigen Schlag gegen den Hinterkopf, als er versuchte, nach ihnen zu schnappen. Seine Zähne … er hatte richtige Fänge! Nicht wie bei einem Vampir, eher wie bei einem Raubtier.

Er knurrte wieder, versuchte sich aus ihrem Griff zu winden und dann sah er in meine Richtung. Seine Augen verengten sich zu wütenden Schlitzen.

Aber … das war gar nicht der rote Mann. Dieser hier war viel schmaler gebaut und hatte auch keine Narbe im Gesicht. Einen Moment wollte ich erleichtert aufatmen, doch sofort wurde mir klar, dass ich das nicht durfte. Dieser Dämon, dieser Rubin, war vielleicht nicht mein Retter, aber deswegen war sein Leben noch lange nicht weniger wert.

„Und nun hat sich die Sanduhr für ihn gedreht“, grinste Kiran weiter.

„Dafür werdet ihr alle sterben!“, schrie der Dämon auf einmal und begann wie ein sturer Esel zu bocken.

Einer der Jäger gab ihn einen kräftigen Tritt in die Kniekehlen, der ihn sofort zu Boden gehen ließ. „Wirst du nun endlich mit dem Theater aufhören?!“

Wieder knurrte der Dämon.

Gaio und Amir lösten die Seile von den Sätteln, während die anderen beiden Jäger ihn fest bei den Armen gepackt hielten. Ich wusste, was als nächstes kommen würde. Die Pfähle. Fast unheilbringend schimmerten die Seile an ihnen. Und die Handgriffe der Männer … sie wirkten so geübt.

„Warum macht ihr das?“, flüsterte ich. Ich konnte diese Worte nicht verhindern. Das war grausam, das war … unendlich grausam.

„Amir hat es dir erklärt“, sagte Ryu ruhig und ließ es stillschweigend über sich ergehen, dass Asha die Wunde an seinem Arm genauer inspizierte. „Wir müssen sie schwächen und manchmal … ja, manchmal bekommen wir sogar ein paar Informationen von ihnen, um andere zu finden.“

„Was?!“ Die Dämonen verrieten ihre eigenen Leute?

„Dämonen sind nicht loyal zueinander.“ Er blicke kurz zu Amir, der das Seil wieder etwas spannte, als der Rubin erneut versuchte, sich zu befreien. „Sie denken sich, wenn sie schon untergehen, dann nehmen sie gleich noch ein paar Widersacher mit.“

„Oder sie hoffen einfach, dass die anderen Dämonen uns umbringen“, warf Kiran ein.

Asha beobachtete skeptisch, wie der Dämon sich in dem Griff der Jäger wandte. Obwohl sie zu viert waren und er ganz alleine, schien er ihnen echte Probleme zu bereiten.

„Schau nicht so“, sagte Ryu und drückte sie an sich. „Du weißt doch, dass nichts passieren kann, solange er die Fesseln um hat.“

„Warum nicht?“, wollte ich wissen.

„Weil in den Seilen Magie verwoben ist und die unterdrückt die Fähigkeiten des Dämons. Solange er mit unseren Seilen gefesselt ist, kann nichts passieren.“

Sie unterdrückten seine Magie. Sie hatten ihn gefesselt, durch die Wüste geschliffen und wollten ihn nun an einen Pfahl binden.

„Und falls es doch mal einer schaffen sollte sich loszureißen, wird er von der Glocke aufgehalten“, fügte Kiran noch hinzu.

„Glocke?“

„Ein magischer Schild“, erklärte Asha. „Er liegt über dem Platz mit den Pfählen und dient als zweite Barriere, sollte es doch mal einem Dämon gelingen, sich irgendwie von den Seilen loszureißen. Ohne die Hilfe einer Hexe oder eines Magiers ist es ihm unmöglich, dort rauszukommen.“

„Hinein sieht die Sache natürlich ganz anders aus“, erklärte Kiran noch. „Von außen kommt jeder und alles hinein.“

„Noch nie ist es einem Dämon gelungen, dort aus eigener Kraft zu entkommen“, endete Ryu.

 „Hört auf damit“, flüsterte ich. Das alles zu hören … das war einfach nur grausam. Wie sie ihn behandelten. Ich konnte nicht verstehen, wie diese Wesen, die mich so offen und gutherzig willkommen geheißen hatten, so kalt und erbarmungslos sein konnten. Sahen sie denn nicht die Angst in den Augen des Rubins? Die Verzweiflung?

Mitleidig legte Asha ihre Hand auf meine Schulter, doch ich schüttelte sie sofort wieder ab. Ich brauchte kein Mitleid.

„Tia“, sagte Asha. „Ich weiß …“

„Was zum … ahhh!“

Bei dem Schrei wirbelten wir alle herum und sahen, wie einer der Jäger an uns vorbeisegelte und dumpf in den Sand krachte.

Ryu rettete sich und Asha mit einem Sprung zur Seite, bevor er von einer Flammenzunge getroffen wurde, und der Greif von Amir machte sich mit einem Schrei davon.

Der Dämon, er war frei!

„Nun werdet ihr alle sterben!“

„Er hat die Seile durchgerissen!“, brüllte Gaio und drehte sich haarscharf zur Seite, bevor er von einer weiteren Flammenzunge getroffen werden konnte.

Plötzlich geschah etwas Unglaubliches. Ein rotglühendes Feuer glomm in den Augen des Dämons auf. Es breitete sich auf seine Haut aus. Funken sprühten und dann brach aus jeder Pore Feuer hervor. Der Dämon ging in Flammen auf. Von einem Moment auf den anderen war er in knisterndes Feuer gehüllt, das auf die Jäger in seiner Nähe überzuspringen drohte.

Und dann ging alles ganz schnell.

Amir riss die Peitsche von seiner Hüfte und schlug sie einmal im Kreis, damit sie sich zu ihrer vollen Länge ausrollte. Zeitgleich wirbelte der Dämon herum. In seinen Augen loderte nicht nur sein Element, sondern auch ein solcher Hass, dass ich einen Schritt zurückwich.

Ein Schrei löste sich aus seiner Kehle und eine lodernde Feuerzunge raste direkt auf Asha zu. In Sekundenbruchteilen drehte Ryu sich schützend vor sie und wurde von dem Feuerstrahl voll erwischt. Er schrie auf, das Feuer fraß sich über seinen Arm und den Flügel.

„Packt ihn!“, brüllte Amir, ließ seine Peitsche vorschnellen und mit einem Knall auf den Dämon niedersausen. Der brüllte auf vor Schmerz, ließ sein Feuer noch heller und heißer brennen und schrie etwas, das ich über das Tosen der Flammen nicht verstehen konnte.

Sein Feuer begann zu pulsieren. Einmal. Zweimal.

„Passt auf!“, schrie Gaio und riss schützend seine Flügel um sich, genau in dem Moment, in dem eine Welle aus heißen Flammen wie eine Druckwelle auf uns alle zuraste.

Die Zeit schien sich zu verlangsamen. Ich sah Ryu, der unter Schmerzen auf den Boden gesunken war. Asha versuchte, die Flammen auf seinem Körper mit bloßen Händen zu ersticken. Gaio hatte seine Flügel so fest um sich zusammengezogen, dass sie ihn in einen Felsen aus Stein verwandelten. Die Peitsche fiel in Zeitlupe zu Boden, als Amir Elias am Arm packte und versuchte, ihn hinter einen Felsblock zu ziehen, während Kiran völlig erstarrt zu sein schien und der Feuerbrunst, die auf ihn zuraste, nur mit aufgerissenen Augen entgegenblicken konnte.

Meine Hände schnellten nach oben, als wollten sie die Flammen aufhalten. Es war eine instinktive Handlung. Genau wie die Woge aus purer Magie, die aus ihnen hervorschoss und mit dem Feuer kollidierte.

Die beiden Kräfte prallten aufeinander. Ich spürte die Hitze auf meiner Haut, spürte die enorme Kraft, die dahinter lag, doch ich sah auch das Entsetzen in den Gesichtern der Jäger. Ich konnte nicht zulassen, dass einem von ihnen etwas geschah. Das durfte einfach nicht passieren.

Die Zeit schnappte zurück. Die Magie krachte mit einer solchen Kraft auf das Feuer, dass sie es einfach zurückdrängte und wie ein Orkan überrannte. Sie riss alles mit, was sich auf ihrem Weg befand. Das Feuer, den Dämon - und auch die Jäger.

Ich hörte ein ersticktes Keuchen, einen überraschten Ausruf, mehrere dumpfe Aufschläge. Dann war plötzlich alles still.

Das Herz in meiner Brust donnerte gegen meinen Brustkorb. Mein Atem ging schnell und stoßweise, während meine Augen noch immer zu erfassen versuchten, was hier gerade geschehen war.

Was hatte ich getan?

Kraftlos sanken meine Hände an die Seiten. Meine Beine zitterten so stark, dass ich mich nicht aufrecht halten konnte und einfach in den warmen Sand sank. Das Feuer war weg, der Dämon bewusstlos zu Boden geglitten und meine Magie völlig erschöpft.

Aber der Dämon war nicht der einzige, der zu Boden gegangen war. Keiner der Jäger stand noch auf den Beinen. Sie alle waren von meiner Magie einfach umgeweht worden und versuchten nun mühsam wieder hochzukommen.

Wind kam auf und wehte Sandwehen über uns hinweg.

„Das war der Wahnsinn“, durchbrach Kiran die Stille. Er hatte sich aufgesetzt und schüttelte sich grinsend den Sand aus den Haaren. „Du hast ihn einfach so umgemäht.“

Wahnsinn? Das war nicht der Wahnsinn, das war grauenhaft gewesen. Diese Feuerbrunst hätte uns alle umbringen können.

Auch Amir rappelte sich wieder auf die Beine und klopfte sich Sand und Staub aus der Kleidung. „Hör auf, so einen Stuss zu reden, und mach dich lieber nützlich“, fuhr er Kiran an. Die Schlangen auf seinem Kopf zischten aufgebracht. „Bindet den verdammten Dämon endlich an den Pfahl!“, befahl er. „Ihr drei sammelt die Mounts wieder ein und dann will ich verdammt noch mal wissen, wie das passieren konnte!“

Seine Wut ging in Wellen von ihm aus und keiner wagte es, ihm zu widersprechen. Bewegung kam unter die Jäger, während Amir seine Peitsche vom Boden klaubte und wieder aufrollte.

Der bewusstlose Dämon wurde grob an den Armen gepackt und zu den Pfählen geschliffen. Ein blasser Schimmer, wie eine Seifenblase, leuchtete auf, als er durch das Schild gezerrt wurde. Die Jäger setzten ihn mit dem Rücken an den Pfahl, rissen ihm die Arme über den Kopf und zurrten sie mit den schillernden Seilen fest. Dann überließen sie ihn einfach der Sonne.

„Du musst stillhalten“, befahl Asha mit einem nervösen Ton in der Stimme.

Ryu keuchte. Er hatte die Augen vor Schmerz zusammengekniffen, gab aber ansonsten keine Geräusche von sich. Sein Arm … oh Gott. Sein ganzer Arm war verbrannt, nichts weiter als eine offene Fleischwunde. Der Geruch ließ mich würgen.

Der Dämon hatte ihn bei lebendigem Leibe verbrennen wollen.

Seine Federn … ein Teil davon war verbrannt und angesengt. Diese Schmerzen. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was er in diesem Moment für Schmerzen erleiden musste.

Mit einer kleinen Staubwolke traten zwei Füße in mein Sichtfeld. „Alles in Ordnung mit dir?“

Langsam sah ich an den Beinen hinauf, bis ich Amirs Augen fand, aber jedes Wort blieb mir in der Kehle stecken. Auch seine Kleidung war zum Teil angesengt und auf seiner Wange war ein rußiger Schmierfleck, doch ich konnte nicht sagen, ob der noch von der Hatz stammte oder von dem Zwischenfall gerade.

Zwischenfall, wie sich das anhörte, als wäre das Ganze nur eine kleine Lappalie. Aber das war es nicht gewesen, es war viel mehr als das.

„Tiara“, sagte er sanft und hockte sich vor mich. Seine Augen suchten meinen Blick, während die Schlagen auf seinem Kopf langsam hin und her wogen. Eine besonders kecke streckte sich mir sogar entgegen und züngelte, als wollte sie mich berühren. „Ich möchte dir danken“, sagte er leise. „Das hätte auch anders ausgehen können.“

Mein Blick glitt zu Ryu, der mit Hilfe von Kiran und Elias auf die Beine kam und unter Ashas wachsamen Augen Richtung Lazarett gebracht wurde.

„Dein beherzter Eingriff hat verhindert, dass unser Lager in Flammen aufgegangen ist.“ Und alles und jeder, der sich darin befand. Die Worte blieben unausgesprochen, doch sie hingen in der Luft. Dieser Dämon war gefährlich und wenn sie alle so waren … ich wollte gar nicht darüber nachdenken.

Du bist wohl eine der mächtigsten Hexen, die es zurzeit gibt. Ungeübt, ja, aber nichtsdestoweniger sehr mächtig. Ich möchte dich einladen, dich meinen Jägern anzuschließen, um mit uns für eine bessere Welt zu kämpfen.

„Tiara.“

Als mich etwas an der Wange berührte, blickte ich erschrocken auf. Amir hatte mir die Hand ans Gesicht gelegt und musterte mich eindringlich. Meine Haut kribbelte unter dieser Berührung.

„Vielleicht solltest du auch zu Asha gehen. Ich glaube, etwas Ruhe würde dir im Augenblick ganz gut tun.“

Ruhe. Ja, Ruhe war gut. Ich brauchte Zeit zum Nachdenken, musste meine Gedanken sortieren. Was ich hier gerade erlebt hatte, was ich gerade getan hatte … ich wusste einfach nicht, wie ich damit umgehen sollte.

Dämonen sind wie Geschwüre, deswegen müssen sie entfernt werden.

Er hätte uns alle getötet, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.

„Oder vielleicht sollte ich …“, begann er.

„Nein, nein, schon gut.“ Ich wich vor ihm zurück, fiel dabei noch fast über meine Beine, weil sie so wacklig waren. Mir war leicht schwindlig, als ich mich auf die aufrappelte. Die Hitze und dann noch die Verausgabung meiner Magie … ich wunderte mich fast, dass ich nicht sofort wieder im Sand landete. Das was hier gerade geschehen war, was ich getan hatte … „Ich glaube, ich geh mich mal frischmachen.“

Ich stolperte fast über meine eigenen Füße, so eilig hatte ich es plötzlich wegzukommen. Keine Ahnung wohin, einfach nur weg, um für einen Augenblick allein zu sein.

 

°°°

 

Knisternd züngelten die Flammen über das trocknende Holz. Mein Mund stand bestimmt seit fünf Minuten offen, aber ich konnte immer noch nicht glauben, was ich da gesehen hatte. Kiran hatte das Lagerfeuer entzündet, aber nicht mit einem Streichholz oder Feuerzeug. Er hatte auch keine Stöcke aneinander gerieben, er hatte es einfach gemacht und dann auf das Holz geworfen. In einem Moment war seine Hand noch leer gewesen und im nächsten hatte er eine kleine Flamme darin gehalten, die er wie einen Ball in die Scheite geworfen hatte. Das war wirklich … faszinierend.

Langsam wandte ich ihm das Gesicht zu. „Also diesen Trick musst du mir unbedingt beibringen.“ Ich hatte keine Ahnung, ob das jemals zu etwas nützlich wäre, aber ich wollte das auch können.

„Klar mach ich das.“ Ein wenig zu selbstgefällig lehnte er sich auf seinem Baumstumpf zurück und grinste mich an. „Ich kann dir …“

„Gar nichts tust du“, unterbrach Asha ihn. „Wenn überhaupt, bringe ich ihr das bei. Du hast schon bei deinem ersten Versuch zu viel Schaden angerichtet.“

Gelassen zuckte er mit den Schultern, ließ sich davon aber nicht die gute Laune verderben.

Elias lachte. „Und wenn man überlegt, was sie heute getan hat, dann solltest vielleicht eher du bei ihr Unterricht nehmen.“ Als Kiran nach ihm schlug, wich er grinsend zur Seite aus.

Mein Lächeln dagegen verblasste zusehends.

Wenn man überlegt, was sie heute getan hat.

Mehr als einmal waren heute Jäger auf mich zugekommen und hatten mich zu meiner Leistung beglückwünscht. Sie hielten mich nun für eine der ihrigen, für die Heldin des Tages. Ich hatte sie nicht nur gerettet, ich hatte auch ihre Beute gesichert. Den Dämon.

Mein Blick schweifte vom Lagerfeuer durch den Spalt zwischen den Zelten. Dort hinten, ganz am Rand des Lagers, wo der Schein des Feuers nicht hinreichte, erspähte ich in der Dunkelheit immer mal wieder eine kleine Bewegung. Aber es war nicht mein kleiner Freund – der war seit den Ereignissen am Mittag verschwunden. Diese abgehackten Bewegungen … ich wusste genau, was dort los war. Der Dämon zog und zerrte an seinen Fesseln und versuchte sich zu befreien.

Ich hatte ihn beobachtet, hatte seine Versuche gesehen, diesen verbissenen Zug um seinen Mund und den lodernden Hass in seinen Augen. Ich hatte sein Brüllen gehört, seine Wut und seinen Frust.

„Er kommt dort nicht alleine raus“, hatte Amir mir versichert, als er neben mich getreten war. Nur wenige Stunden, nachdem ich ihn einfach stehen gelassen und er mich auf meinem kleinen Beobachtungsposten unter dem einsamen Baum gefunden hatte. „Für ihn gibt es keine Möglichkeit mehr zu entkommen.“

„Das wurde mir heute schon einmal versichert.“ Deswegen hatten Ryu und auch ein paar andere im Lazarett behandelt werden müssen.

„Der Knoten der Fesseln hatte sich gelockert“, hatte Amir mir erklärt und beobachtet, wie der Dämon wieder und wieder gegen den Pfahl trat. „Manchmal passiert so etwas.“

Aber so etwas durfte nicht passieren. Alles, was heute geschehen war … es war einfach nur unmenschlich. Nicht nur das, was der Dämon getan hatte, auch die Jäger sollten einen Teil der Schuld auf ihre Schultern laden. Aber das taten sie nicht. Völlig entspannt, wie fast jeden Abend, saßen sie um das Lagerfeuer in der Nähe der Feldküche und ließen den Tag ruhig ausklingen. Alle, bis auf einen.

Als Kiran laut auflachte, wandte ich meine Aufmerksamkeit von dem Dämon ab, doch auch hier ließen die trüben Gedanken mich nicht in Ruhe. Alle von ihnen waren verletzt worden. Die meisten hatten nur leichte Blessuren davongetragen - ein paar Kratzer, Abschürfungen oder Blutergüsse - aber niemand war unbeschadet davon gekommen; niemand außer Gaio. Seine Haut war immun gegen Feuer, die Elemente konnten ihm nichts anhaben – keine äußeren Einflüsse. Aber dafür wurde er von einem Schnupfen so schnell niedergestreckt, als hätte ihm jemand einen Dolch ins Herz gestoßen. Deswegen war er auch so lange unter Ashas Aufsicht im Lazarett geblieben.

Ryu dagegen hatte das Feuer sehr wohl etwas anhaben können. Die Verbrennungen, die er erlitten hatte … ich hatte seinen Schrei gehört, als Asha ihm die verbrannte Haut bis aufs rohe Fleisch heruntergeschält hatte. So zumindest hatte es sich angehört. Als ich sie danach gesehen hatte, war ihr Gesicht voller Tränenspuren gewesen. Ryu dagegen hatte völlig erschöpft in einem der Betten geschlafen, den Arm dick bandagiert.

Natürlich hatte Asha sein Leid durch Heilzauber lindern können und mit irgendwelchen Salben und Tiegelchen das Zellwachstum beschleunigt, doch heilen musste er trotzdem ganz von alleine.

Trotz allem saß nun auch er wie jeden Abend bei uns am Lagerfeuer. Doch ich sah den Schmerz in seinen Augen aufblitzen, wenn er sich bewegte, und auch die Sorge in Ashas Gesicht, wenn sie ihn beobachtete.

Ihn hatte es von allen am schlimmsten getroffen. Selbst die Handschwinge seines rechten Flügels hatte etwas abbekommen. Asha hatte die halb verbrannten Federn ausrupfen müssen. In der nächsten Zeit würde der Engel nicht fliegen können und ich kam nicht umhin, mich zu fragen, wie er trotz dieser Tatsache hier mit uns sitzen und über Kirans Albernheiten lachen konnte.

Wenn ich nicht eingegriffen hätte, wäre das ganze völlig anders verlaufen, dann würde er jetzt wahrscheinlich nicht mehr hier bei uns sein. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich dann noch hier sitzen würde.

Dämonen sind sehr gefährlich. Sie sind wie Geschwüre, die die Welt krank machen.

Die Gefahr, die von diesem Wesen ausging, war nicht zu bestreiten, aber andererseits hatte er doch nur versucht, sein Leben zu schützen. Und genau das war der ganze Knackpunkt an dieser Sache. Der Dämon hatte nur versucht, sich in Sicherhit zu bringen und die auszuschalten, die eine Gefahr für ihn darstellten. Konnte ich ihm das verübeln? Eigentlich nicht. Es zeigte nur, dass er nicht dumm war. Er wusste um die Gefahr, in die er geraten war, er musste einfach wissen, was ihm nun bevorstand.

Doch leider machte das seine Taten nicht ungeschehen. Er war stark, gefährlich und … ich wusste einfach nicht mehr, was ich denken sollte. Was heute passiert war, wollte ich nie wieder erleben, doch ich war mir nicht sicher, ob die Ausrottung der Dämonen wirklich die Lösung war.

Die Jäger schienen das zu glauben.

Wieder driftete mein Blick zu der Lücke zwischen den Zelten, doch dieses Mal konnte ich keine Bewegung ausmachen. Hatte er aufgegeben? Vielleicht war er einfach nur erschöpft. Wenn ich mir nur vorstellte, wie viele Stunden sie ihn heute unter den brennenden Sonnen hatten sitzen lassen, musste ich schlucken. Und jetzt, in der Nacht, wurde es so kalt, dass ich schon am Lagerfeuer leicht fror.

Egal was er getan hatte, egal wie das ganze geendet hätte, wenn ich nicht eingegriffen hätte, er tat mir leid. Das Wissen, dass ein Wesen einem anderen so etwas antun konnte, schmerzte mich. Niemand hatte das verdient. Und ich konnte einfach nicht glauben, dass er durch und durch böse war. Der rote Mann war es doch auch nicht gewesen.

Er hatte mir geholfen, mir das Leben gerettet. Natürlich, das war nur aus Eigennutz geschehen, aber trotzdem ließ sich nicht daran rütteln, dass ich heute nicht hier sitzen würde, wenn er nicht da gewesen wäre. Ich konnte einfach nicht glauben, dass es ein Wesen gab, dem es von der Geburt an schon vorbestimmt war, bis aufs Blut böse zu sein.

Andererseits, was verstand ich denn schon von der magischen Welt? Das alles war noch so neu für mich. Was, wenn die Jäger Recht hatten? Ich drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Ich wusste einfach nicht, was ich denken sollte. Das Ganze war so kompliziert.

Das einzige, was ich mit Sicherheit sagen konnte, war, dass Dämonen unweigerlich gefährlich waren und auch, dass ich nie wieder sehen wollte, wie jemand die Jäger verletzte. Sie hatten mich aufgenommen, waren in der Stunde der Not für mich da gewesen, ohne dafür etwas zurückzuverlangen. Und nun wollten sie sogar, dass ich bei ihnen blieb.

Diese Leute waren gute Leute. Aber niemand konnte behaupten, dass gute Leute nicht auch Fehler begingen.

Eine Bewegung an den Zelten zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Die schlanke Gestalt von Amir erkannte ich sofort, genau wie die breiten Schultern von Gaio. Der Gargoyle gestikulierte wild und hielt Amir immer wieder einen Stapel Zeitschriften vor die Nase.

Ach ja.

Hüterin verhindert Exekution der Bestien.

Das hatte ich ja völlig vergessen.

Gaio schien sauer zu sein, doch Amirs Blick blieb völlig ruhig, während er sich geduldig anhörte, was der Jäger ihm mitzuteilen hatte. Seine Blicke waren nur mäßig interessiert.

Da ich mir sicher war, dass sie über mich sprachen, erhob ich mich von meinem Platz und verließ den warmen Feuerschein.

„… das gewusst?“, fragte Gaio gerade ungläubig. Er bemerkte nicht, wie ich mich ihm näherte. Amir dagegen hatte mich bereits entdeckt, als ich mich von Baumstamm erhoben hatte.

„Glaubst du wirklich, dass es in diesem Lager etwas gibt, das sich meiner Kenntnis entzieht?“

Ich runzelte die Stirn. „Du wusstest, dass meine Schwester hier war?“ Aber warum hatte er mir das nicht gesagt?

Bei meiner Stimme warf Gaio einen wütenden Blick über seine Schulter.

„Ich wusste, dass ich dein Gesicht kenne“, erwiderte Amir. „Ich wusste auch, wer Talita Kleiber aus München war. Nach dem, was sie getan hat, kennt wohl die ganze Welt ihren Namen.“

„Aber?“, fragte ich, denn dieses Wort schwebte deutlich zwischen uns in der Luft.

„Aber ich wusste nicht, dass sie deine Schwester ist, auch wenn ich mir sicher war, dass sie mit dir in Verbindung steht. Eure Ähnlichkeit ist schließlich nicht zu übersehen.“

Ähnlichkeit war gut. „Und warum hast du es mir nicht gesagt?“

„Weil ich erst herausfinden wollte, wie diese Verbindung aussieht.“

Ich kniff die Augen leicht zusammen. In meinen Ohren klang das nach einer Ausrede. Keine Schlimme, aber ich wusste nicht recht, was ich davon halten sollte.

„Ich bin einfach gerne informiert.“ Es klang nicht wie eine Entschuldigung, einfach nur wie eine Tatsache. Und er schien zu merken, dass ich mit diesen Worten nicht zufrieden war. „Würdest du uns einen Moment alleine lassen?“, bat er Gaio.

Der gab nur ein frustriertes Schnauben von sich und wandte sich ab, doch bevor er gehen konnte, streckte Amir die Hand aus.

„Die Zeitungen“, erklärte er auf Gaios fragenden Gesichtsausdruck hin.

Gaio warf mir einen bösen Blick zu, drückte Amir dann die Zeitschriften in die Hand und stampfte davon. Nicht zum Lagerfeuer, von dem lautes Lachen erschallte, sondern hinein in die Dunkelheit.

„Er mag mich nicht.“ Das war offensichtlich.

„Er ist Fremden gegenüber sehr misstrauisch. Gib ihm Zeit, er wird sich an dich gewöhnen.“

„Glaubst du?“ Ich war mir da nicht so sicher.

Das Papier knisterte in Amirs Hand, als er sich das Titelbild der ersten Seite ansah - eine weitere Aufnahme vom Gesicht meiner Schwester. „Ich habe dein Gesicht sofort erkannt“, lenkte er das Gespräch in eine andere Richtung. „Noch während Ryu dich ins Lazarett getragen hat. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch die anderen dich erkennen würden.“

„Aber ich bin nicht sie.“ Oder? Konnte ich die junge Frau auf dem Bild sein? Nein. Alle Indizien sprachen dagegen.

„Das weiß ich jetzt auch. Aber im ersten Moment glaubte ich, dass du sie wärst.“

Das konnte ihm wohl niemand verübeln.

Er ließ die Zeitschriften sinken und richtete den Blick auf mich. „Die erste Frage, die ich mir stellte, war: Wie bist du in die Wüste gekommen? Vor einem knappen Jahr, kurz nach der Verhandlung, ist Talita einfach von der Bildfläche verschwunden. Die Leute glauben, dass sie nun bei den Lykanern ist, und die leben sehr zurückgezogen.“

Er streckte die Hand aus, berührte mich mit dem Finger an der Wange, so wie er es schon heute Mittag getan hatte. Wieder war da dieses leichte Kribbeln. „Doch dann hat Asha bei ihrer ersten Untersuchung festgestellt, dass du eine Hexe bist. Es ist allgemein bekannt, dass Talita Kleiber aus München ein Therianer ist, und somit konntest du nicht sie sein. Aber wer warst du dann?“ Sein Finger senkte sich ein wenig, strich die Kontur meines Kinns nach. „Wir haben den Brief bei dir gefunden. Er enthält nicht viele Hinweise, aber …“

Empört riss ich den Kopf zurück. „Asha hat gesagt, dass sie ihn nicht gelesen hat.“

Amirs Mundwinkel kletterte ein kleines Stückchen nach oben. „Das glaube ich ihr, aber ich bin nicht Asha. Ich habe die wenigen Zeilen gelesen und konnte dem ganzen so ein paar Puzzleteile hinzufügen. Das Bild ist noch lange nicht vollständig, aber es zeichnet sich bereits etwas darauf ab.“

„Das sie nicht ich ist.“

„Das sie in ihre Welt zurückgekehrt ist und dort eine neugierige Schwester hatte, die unbedingt wissen wollte, wie viel Wahrheit hinter ihren Worten steckte.“

War es wirklich die Neugierde, die mich hierher getrieben hatte? Oder war es das Vergessen, das mich lockte? Solange ich mich nicht traute, mich zu erinnern, würde ich es wohl nicht erfahren.

„Nur auf eine Sache kann ich mir einfach keinen Reim machen“, sagte er leise und senkte seinen Blick wieder auf die Zeitungen.

„Welche?“

„Sie ist ein Therianer. Du nicht.“

Ja, das hatten wir in der Zwischenzeit bereits öfter festgestellt. „Und das ist … schlecht?“

Ein leichtes Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Du bist wohl die mächtigste Hexe, der ich jemals begegnet bin.“

Vielleicht irgendwann mal, wenn ich meine Kräfte unter Kontrolle hatte. „War das ein Kompliment?“

„Es ist eine Tatsache.“

Also kein Kompliment.

„Aber du sagst, du bist ihre Schwester, und das geht auch aus dem Brief hervor. Noch dazu seid ihr eineiige Zwillingsschwestern. Nur - wie ist das möglich? Die Rassen können sich nicht vermischen. Das, was wir im Moment für eine Tatsache halten, ist nicht möglich. Zwei Wesen, die das gleiche Gesicht haben und doch beide etwas völlig anderes sind.“

Ich war mir nicht sicher, ob er noch mit mir sprach oder einfach nur in Gedanken versunken war. „Tja, ich bin eben ein Wunder der Natur.“

Er neigte den Kopf leicht zur Seite. Die Schlangen wogen auf seinem Kopf. „Du bist auf jeden Fall etwas ganz Besonderes und nach dem heutigen Tag möchte ich dich nicht mehr missen müssen.“

Mein Herz machte bei seinen Worten einen seltsamen Hüpfer, bis mir klar wurde, wovon genau er sprach. Der Angriff des Dämons. Ich hatte ihn nicht nur aufgehalten, sondern auch niedergestreckt. „Ich hab mich noch nicht entschieden“, sagte ich leise und senkte den Kopf. Mein Fuß malte kleine Kreise in den feinen Sand.

„Das finde ich schade.“

Ich zuckte nichtssagend mit den Schultern. „Ich weiß einfach nicht … ich meine … ich finde es nicht richtig, wie ihr ihn behandelt habt.“

Stille breitete sich zwischen uns aus. Nur das Gelächter vom Lagerfeuer war hin und wieder zu hören.

Hatte ich ihn verärgert? Ich wagte einen vorsichtigen Blick, doch er beachtete mich gar nicht. Seine Augen waren in weite Ferne gerichtet.

„Du musst behütet aufgewachsen sein.“ Er seufzte. „Ich verstehe deine Ansicht. Was wir hier tun, muss dir grausam erscheinen, doch du musst bei all dem bedenken, dass jeder der hier anwesenden Mortatia durch einen Dämon einen schweren Schicksalsschlag erlitten hat. Sie sind keine Jäger geworden, weil ihnen dieser Beruf so gut gefällt. Sie alle haben ihre Geschichte und nicht bei allen sind die Motive so edel wie bei mir und meinem engsten Kreis. Manche von ihnen sinnen einfach nur auf Rache.“

„Rache ist kein gutes Motiv.“

„Nein, das ist es nicht“, stimmte er mir zu. „Aber sie sind gute Leute. Und mit dem, was sie tun, tun sie etwas Gutes.“

Vielleicht stimmte das, vielleicht aber auch nicht. Und genau das war mein Problem. Ich wusste einfach nicht, was ich denken sollte, und egal wie oft ich dieses Problem hin und her wälzte, ich kam einfach zu keinem Ergebnis. Was war richtig und was falsch? Gab es darauf überhaupt eine klare Antwort?

„In vier Tagen werde ich eine Gruppe nach Sternheim schicken, um unsere Vorräte aufzustocken.“

„Vier Tage?“

„Bis dahin hast du Zeit, dich zu entscheiden.“

Vier Tage. Ich hatte vier Tage, um eine Entscheidung für mein Leben zu treffen. „Und wenn ich mich nicht entscheide?“

„Dann wirst du sie nach Sternenheim begleiten, damit du zurück in deine Welt geschickt werden kannst.“

Was so viel hieß, wie, dass meine Unentschlossenheit auch als Nein gewertet werden würde.

„Aber ich hoffe noch immer, dass du bei uns bleibst“, fügte er leise hinzu.

„Ich … ich weiß nicht.“

„Denk einfach darüber nach. Hier.“ Er hielt mir die Zeitungen entgegen, bis ich sie nahm und an meine Brust drückte.

„Danke.“

„Sag mir einfach Bescheid, wie du dich entschieden hast.“ Ein letztes Mal hob er die Hand, um mir über die Wange zu streichen, dann drehte er sich um und lief zu den anderen ans Lagerfeuer. Dabei schien es, als ob seine Schlangen mich keinen Moment aus den Augen ließen.

Ich hoffe noch immer, dass du bei uns bleibst.

Meine Hand legte sich auf die Stelle, die er berührt hatte. Langsam breitete sich ein Lächeln auf meinen Lippen aus. Er war schon irgendwie … anders.

Das Lächeln verschwand auch nicht, als ich mit den Zeitschriften an der Brust ins Lazarett zurückkehrte. Hier war alles ruhig. Trotz des Vorfalls mit dem Dämon waren alle Betten unbenutzt, nur meines nicht.

Eigentlich brauchte ich keine ärztliche Versorgung mehr, aber da ich mich immer noch nicht entschieden hatte, ob ich blieb oder nicht, war das hier nun mal mein Lager.

Würde ich ein eigenes Zelt bekommen, wenn ich mich für die Jäger entschied? Die anderen hatten auch alle ihr eignes kleines Reich.

Ich schüttelte den Kopf, um diese unnützen Gedanken loszuwerden, und ließ mich mit den Zeitschriften auf meinem Bett nieder. Das Gestell knarzte leicht unter meinem Gewicht, als ich die Zeitungen darauf ausbreitete. Das Papier knisterte. Woher nur hatte Amir gewusst, dass ich sie haben wollte? Es schien wirklich nur wenig im Lager zu geben, was sich seiner Kenntnis entzog.

Ich starrte auf die Titelseiten. Von vielen blickte mir mein eigenes Gesicht entgegen - oder besser gesagt, das meiner Schwester. Ihre Haare waren kürzer als meine – der einzige Unterschied zwischen uns.

Sie ist ein Therianer. Du nicht.

Okay, vielleicht nicht der einzige.

Fast zögernd griff ich nach der ersten Zeitung und begann Zeile um Zeile zu lesen. Dann nahm ich mir die nächste vor. Konzentriert arbeitete ich mich durch den Stapel, schaute mir jedes einzelne Bild an, um ihm seine Geheimnisse zu entlocken, und schon bald hatte ich eine ungefähre Ahnung von den Geschehnissen, die in Verbindung mit meiner Schwester standen.

Was ich las, war einfach unglaublich.

Wie es schien, war Talita irgendwie in einem Rudel Lykaner gelandet und hatte ihnen dann geholfen, einen Magier zu fassen, der die Werwölfe verschleppt hatte, um mit ihrer Hilfe an ein Drachenherz zu kommen. Der Magier hatte es nicht überlebt - genau wie der Drache und viele der Lykaner. Was dann geschah, verstand ich nicht ganz. Der Magier hatte vor seinem Tot scheinbar die Magie der Lykaner zerstört und Talita hatte sich bereit erklärt, über sie zu wachen, bis sie wieder geheilt werden konnten. Dabei hatte es wohl einen Todesfall gegeben, woraufhin die komplette magische Gesellschaft begonnen hatte, die Lykaner zu schneiden, und versucht hatte, sie aus dem Codex zu entfernen.

Und auch hier hatte Talita eine große Rolle gespielt, denn zum Ende des Verfahrens hatte sie herausbekommen, dass alles ein großer Schwindel war, und so das Wohlwollen der Lykaner ein zweites Mal errungen.

Danach schien sie von der Oberfläche verschwunden zu sein. Es gab nur noch kleine Artikel, die über den Verbleib der Hüterin der verlorenen Wölfe rätselten.

Das alles lag ein knappes Jahr zurück.

Und nun war ich hier.

Langsam ließ ich die Zeitung sinken und starrte auf das Titelbild. Es zeigte Talita, umringt von Männern und Frauen, die nichts weiter als einen Lendenschurz am Leib trugen.

„Da hast du ja eine Menge erlebt, Schwesterchen“, murmelte ich.

 

°°°

 

Seit Jahrmillionen galten die Gesetze der Natur. Diese war wild, unbezähmbar und manchmal auch unzugänglich. Eine rohe Gewalt, der sich niemand widersetzen konnte. Sie erschuf Stürme, die alles überrollten, was sich ihnen in den Weg stellte, und sorgte gleichzeitig für die Wunder der Entstehung. Aus einem kleinen Keim konnte ein riesiger Mammutbaum wachsen, der selbst dem schlimmsten Orkan standhalten konnte.

Oh ja, manchmal konnte die Natur wirklich ungnädig sein.

Sie lebte nicht nur ihre eigenen Gesetze, sie half auch bei deren Einhaltung. Die Natur sortierte die Schwachen und Alten aus, sorgte dafür, dass nur die Stärksten überlebten, und selbst bei denen fand sie noch Wege, die Spreu vom Weizen zu trennen. So hatte Charles Darwin die Evolutionstheorie dargestellt. Doch bei all dem wissenschaftlichen Kram hatte er eine entscheidende Sache vergessen: eine volle Blase. Wen interessierte es schon, dass nur der Stärkste überleben konnte, wenn der Druck auf der Blase einen mitten in der Nacht aus dem wohlverdienten Schlaf riss und alles daran setzte, einen zum Aufstehen zu bewegen? Natürlich, ich konnte den Ruf der Natur auch einfach ignorieren und liegen bleiben, aber das könnte ein peinliches Malheur zur Folge haben, dem ich mich nicht aussetzen wollte.

Seufzend drehte ich mich herum und versuchte meine müden Beine dazu zu bekommen, meinem Willen zu folgen und mir aufzuhelfen. Bei der Suche nach meinen Schuhen stieß ich mir auch noch den Zeh und humpelte so, leise fluchend, aus dem Zelt. Außer mir war das Lager vollkommen leer, aber Zeltwände waren sehr dünn und ich wollte nun nicht die ganze Jägerschar über meinen nächtlichen Gang informieren.

Der Toilettenplatz lag weit am Rand des Lagers.

Bei Nacht hatte dieser Ort etwas Ruhiges, Friedliches an sich. Das Chaos des Tages hatte sich gelegt und einer geborgenen Stille Platz gemacht. Die Jäger schienen alle zu schlafen. Meine einzigen Begleiter waren die Sterne, die über meinen Weg wachten. Das zumindest glaubte ich, bis ich mich auf dem Rückweg befand und vor Schreck einen Kiekser von mir gab, als sich im Schatten eines Zeltes etwas bewegte. Erst in der nächsten Sekunde bemerkte ich die großen Ohren und das rötliche Fell.

„Oh Gott.“ Hastig legte ich mir eine Hand auf die Brust, doch auch dadurch wollte sich mein schneller Herzschlag nicht beruhigen. „Du hast mich erschreckt“, teilte ich meinem kleinen Freund mit, doch der stellte bei meiner Stimme nur neugierig die Ohren auf und zirpte leise.

Wie sollte man so großen Augen nur lange böse sein? Ich brauchte auch so große Augen.

Seufzend hockte ich mich hin. „Vielleicht sollte ich dir ein Glöckchen umhängen.“ Aber das würde er mir sicher nicht danken. Außerdem, wie sollte er noch auf mich aufpassen können, wenn ihn jeder gleich hörte? Darüber wäre mein kleiner Wachhund sicher nicht glücklich.

„Wachhund“, flüsterte ich. „Wie ein kleiner Wächter.“

Er zirpte wieder.

„Du passt immer noch auf mich auf, stimmt’s?“ Natürlich antwortete er mir nicht, aber dafür kam mir eine Idee. „Guardian“, flüsterte ich und neigte den Kopf zur Seite. „Das wäre doch ein passender Name für dich. Was meinst du?“

Seine beiden Schwänze wippten, als würde er sich freuen. Es machte wirklich den Eindruck, als würde er mich verstehen, doch es war wahrscheinlicher, dass er einfach nur auf meine Stimme reagierte.

„Guardian“, flüsterte ich ein weiteres Mal und wollte die Hand nach ihm ausstrecken, doch in diesem Moment sah ich ihn. Er war nichts weiter als eine Silhouette im Mondlicht, die mit hängendem Kopf an ihrem Pfahl lehnte.

Dämonen sind sehr gefährlich. Sie sind wie Geschwüre, die die Welt krank machen.

Wie so oft an diesem Tag erschien das Bild des roten Mannes vor meinem inneren Auge. Ich sah, wie er mir die Hände entgegenstreckte, um mich vor dem Feuer zu retten. Und ich sah auch, wie er davonlief – ohne mich zu töten. Das ergab einfach keinen Sinn. Wenn es um die Schuld ging, hätte er mir doch den Speer zwischen die Rippen stechen können, sobald er mich aus dem Feuer gezogen hatte. Aber das hatte er nicht getan. Er konnte also nicht abgrundtief böse sein.

Vielleicht hatten seine Hoffnungen ja auch darauf gebaut, dass ich in der Wüste einfach verenden würde. Aber da war dieser Funke in seinen Augen gewesen. Furcht. Wenn er und seinesgleichen so grässlich waren, wie alle glaubten, wovor sollte er sich dann fürchten?

Auch dieser Rubin sah alles andere als grauenerweckend aus. Er machte auf mich eher einen verlorenen Eindruck. Völlig allein, dem Feind ausgeliefert.

Ich befand mich schon auf halbem Weg zu ihm, bevor ich überhaupt realisierte, dass ich mich in Bewegung gesetzt hatte. Und genauso still, wie ich losgegangen war, blieb ich nun neben dem Pfahlplatz stehen. Er schien mich nicht einmal zu bemerken.

Er hatte die Augen geschlossen und den Kopf gegen den Pfahl gelehnt. Seine Hände waren noch immer über seinem Kopf befestigt. Selbst bei dieser Dunkelheit sah ich, wie wund und aufgescheuert die Handgelenke waren. Seine Hose war nichts weiter als ein Fetzen aus Tierleder. Er hatte Schrammen an Armen und Beinen und tiefe Ringe unter den Augen.

Bei seinem Anblick wurde mir das Herz schwer. Wie konnten die Jäger nur glauben, dass dies der richtige Weg war?

„Hör auf mich anzustarren!“, fauchte der Dämon mich in diesem Moment an. Seien Augen waren plötzlich weit aufgerissen und in ihnen loderte ein solcher Hass, dass ich einen Schritt zurückwich.

„Ich … es tut mir leid, ich wollte nicht …“

„Dir tut es leid?! Was tut dir leid? Dass ich an diesem Pfahl sitze und sterben werde, oder dass es deine Schuld ist?!“

„Meine Schuld?“ Wie kam er darauf, dass es meine Schuld war? Ich war doch bei der Hatz nicht einmal dabei gewesen.

„Wenn ich hier rauskomme, wirst du die erste sein, die sterben wird!“, fauchte er, ohne auf meine Frage einzugehen. „Ich werde dir die Haut vom Körper brennen, ganz langsam und vorsichtig, damit du auch lange etwas davon hast, Hexe!“

Unwillkürlich musste ich schlucken. Weniger wegen seiner Worte – obwohl die nichts für sanfte Gemüter waren. Es war das Versprechen in seiner Stimme und der Ausdruck in seinen Augen. Freude. Der Gedanke daran, mir wehzutun, erfreute ihn.

„Ich werde dich blenden und deine Eingeweide entfernen, sodass du es noch mitbekommst. Du wirst für das, was du getan hast, leiden. Du wirst so lange leiden, wie ich es mir wünsche, so lange, bis du mich anbettelst, dich zu töten, und noch länger.“

Aber ich hab doch gar nichts getan!, wollte ich schreien, doch allein die Vorstellung sorgte dafür, dass mir jedes Wort in der Kehle stecken blieb.

„Ich werde dir wehtun, und allen, die du liebst.“ Ein grausiges Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus.

Jedes Härchen auf meinen Armen stellte sich auf, während mir ein Schauer der Angst über den Rücken kroch. Seine Worte … er meinte jedes einzelne davon so, wie er es sagte. Ich konnte es ihm ansehen, ich spürte es. Wenn er die Gelegenheit bekam, wenn er sich wirklich befreien könnte, er würde all das mit mir machen.

Dämonen sind sehr gefährlich. Sie sind wie Geschwüre, die die Welt krank machen.

Böse.

Ein anderes Wort gab es dafür nicht. Ich hatte es nicht glauben wollen, doch nun sah ich es mit eigenen Augen vor mir. Das reine Böse. „Warum?“, flüsterte ich. „Ich will nicht …“

Als er plötzlich aufsprang und sich mit einem Fauchen in meine Richtung warf, schreckte ich mit einem Schrei zurück. Mein Fuß blieb an etwas hängen und ich landete rücklings im Sand. Der Puls raste in meinen Adern und mein Herz schien mir aus der Brust springen zu wollen.

„Angst, kleines Mädchen?“ Ein unheimliches Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. Dann warf er den Kopf in den Nacken und begann aus tiefster Kehle zu lachen, so schaurig , dass mir das Blut in den Adern zu gefrieren drohte.

„Ich hab es dir gesagt“, ertönte in diesem Moment eine leise Stimmer hinter mir.

Mir blieb fast das Herz stehen und ich brauchte zwei Sekunden, um die Stimme zu erkennen. Amir. Er lehnte am Zelt und beobachtete den lachenden Dämon.

„Ich hab dir gesagt, dass sie gefährlich sind. Ihnen ist es egal, wer du bist und was du getan hast.“

„Aber ich habe nichts getan.“ Nicht wirklich. Ich hatte nur die Jäger beschützt.

„Das interessiert ihn nicht. Keinen von ihnen.“

Das Lachen des Dämons wurde beinahe hysterisch und so schrill, dass es in den Ohren schmerzte.

„Deswegen möchte ich dich ein weiteres Mal fragen.“ Er stieß sich vom Zelt ab, trat vor mich und streckte mir seine Hand zum Aufhelfen entgegen. Seine Finger waren schwielig und von seinem Leben gezeichnet. Sie fühlten sich rau in meiner Hand an und besaßen enorme Kraft. Das merkte ich daran, wie leicht es ihm fiel, mich mit einem Ruck auf die Beine zu ziehen. So nahe zu sich heran, dass ich ihm direkt in die Augen sehen konnte.

Amir war nur ein paar Zentimeter größer als ich. Und diese Augen. Ich hatte noch nie so seltsame Augen gesehen - wie die einer Schlange.

„Willst du dich uns anschließen?“, fragte er leise. „Willst du helfen, die Welt zu reinigen, und sie damit zu einem besseren Ort zu machen?“

Mein Blick huschte zu dem Rubin.

Sein Lachen schallte noch immer wie ein schauriges Flüstern über die endlosen Weiten der Wüste.

 

°°°°°

Tag Zwölf

 

„Ja.“ Ich wandte meinem Blick von dem Dämon ab und richtete ihn auf Amir. „Ja, ich werde helfen. Sowas wie heute … das mit den anderen …“ Ich wedelte mit der Hand, weil ich nicht genau wusste, wie ich den Satz beenden sollte.

„Du brauchst nicht weiterzusprechen, ich verstehe dich schon.“

Nein, das glaubte ich nicht. Mir ging es nicht darum, andere Wesen zu töten, oder dafür zu sorgen, dass ein anderer es tat, um ein Gräuel aus der Welt zu schaffen. Ich sah nur die Gefahr in diesen Dämonen, hörte noch immer die Laute, die Ryu von sich gegeben hatte, als Asha seine Verletzungen behandelt hatte. Und dieser Dämon war daran schuld gewesen. So etwas wollte ich nie wieder erleben.

„Du zweifelst noch.“

Überrascht sah ich zu ihm auf.

„Ich kann es sehen. Du bist im Zwiespalt, weil du so etwas noch nie getan hast, aber glaub mir, du hast die richtige Entscheidung getroffen.“

„Na, wenigstens ist sich da einer von uns beiden sicher.“ Meine Augen glitten wieder zu dem Dämon. Sein Lachen war verstummt, aber sein wilder Blick lag auf mir und erzählte von Versprechen, die mich schaudern ließen.

„Du wirst schon sehen.“ Als ich das vertraute Kribbeln an meiner Wange spürte, wandte ich mich ihm wieder zu. Seine Hand lag an meiner Haut. „Und ich werde dich ja auch nicht gleich morgen auf die Hatz schicken. Zuerst musst du lernen.“

„Meine Magie.“ Was nützte schon eine Hexe, wenn sie außer farbigen Lichtfunken kaum einen Zauber wirken konnte?

„Das auch, aber Magie allein wird nicht ausreichen. Dämonen sind gefährliche Gegner, dass musst du dir immer vor Augen halten.“

Das tat ich. Seit dem Vorfall am Mittag konnte ich an nichts anderes mehr denken.

„Asha wird sich sicher weiter um deine magische Ausbildung kümmern, aber ich werde dir auch noch einen Mentor suchen, der dich im Kampf und im Umgang mit Waffen unterrichtet.“ Nachdenklich zog er die Augenbrauen zusammen. „Am besten wäre Ryu geeignet, aber durch seine Verletzung wird er ein paar Tage ausfallen.“

„Nur ein paar Tage?“ Der Dämon hatte ihm die Haut doch praktisch bis aufs Fleisch runtergebrannt.

„Ashas Heilzauber sind exzellent“, erwiderte Amir geistesabwesend. „Am besten wäre es wohl, wenn ich dich selbst unterrichte.“ Er ließ seine Hand sinken und sah mich so intensiv an, dass es ganz komisch kribbelte. Aber es war nicht unangenehm. „Ich werde dir alles beibringen, was du wissen musst. Du wirst sehen, das wird fabelhaft. Eine Hexe mit deiner Kraft wird uns helfen, die Welt zu reinigen.“ Die Begeisterung in seiner Stimme ließ mich lächeln. „Ich werde gleich mit Asha reden. Deine Ausbildung muss beschleunigt werden.“

Ohne weiter auf mich zu achten, drehte er sich um.

„Ähm … Asha schläft“, gab ich zu bedenken und eilte an seine Seite.

Hinter mir hörte ich den Dämon brüllen. Ich warf einen schnellen Blick über die Schulter und schauderte bei dem Hass und der Wut in seinen Augen.

„Dann rede ich eben morgen früh mit ihr.“ Plötzlich blieb er stehen und wirbelte zu mir herum.

Ich war so überrascht, dass ich fast in ihn hinein lief.

„Du musst mir aber eines versprechen.“

„Ähm … okay.“ Hm, vielleicht sollte ich erstmal abwarten, was er von mir wollte, bevor ich einwilligte.

„Du hältst dich von den Dämonen fern. Solange du nicht meine ausdrückliche Erlaubnis bekommst, will ich dich nicht in ihrer Nähe sehen. Dafür bist du zu wertvoll.“

Bei dem Ton in seinen letzten Worten erblühte etwas in mir. Aber er hatte das sicher nicht so gemeint, wie er es gesagt hatte, oder?

„Eine Hexe mit deiner Kraft … wir können nicht riskieren, dass dir etwas zustößt, bevor du bereit dafür bist.“

Nein, hatte er nicht. Seufz.

„Die Welt war einmal rein und mit deiner Hilfe wird sie es wieder sein.“

„Rein?“

„Rein wie ein unschuldiges Kind.“

Seltsamer Vergleich. Welt. Kind. Hm …

„Aber jetzt solltest du zurück ins Bett gehen. Das Training beginnt früh, ich will keine Zeit verlieren. Wir sind so nahe dran.“ Er drehte sich wieder um, wartete dieses Mal aber, bis ich an seiner Seite war, bevor er den Weg zum Lazarett einschlug.

„Nah dran?“

„Der Welt Flügel zu verleihen.“ Ein geheimnisvolles Lächeln huschte über seine Lippen. „Es hat begonnen und mit deiner Hilfe wird es bald geschafft sein.“

Ich runzelte die Stirn. „Du weißt, dass du für mich in Rätseln sprichst?“

„Du wirst es schon noch verstehen.“

Bei dem intensiven Blick, mit dem er mich bedachte, rann ein Schauer über meinen Rücken. Und dieses Mal war er nicht so angenehm.

Als ich mich zehn Minuten später in meinem Bett befand, hing mir dieser Blick immer noch nach. In ihm lag ein Geheimnis, das ich nicht auf Anhieb entschlüsseln konnte. Andererseits schien der ganze Mann ein Geheimnis zu sein.

Mein erster Eindruck von ihm war nicht unbedingt der beste gewesen. Nicht dass ich mich schlecht behandelt gefühlt hatte, aber es hatte doch den Eindruck erweckt, als wäre ich nur eine kurze Geschäftssache gewesen, die man schnell abwickeln musste. Jetzt allerdings … ich wusste nicht, wie ich es beschreiben sollte. Einschmeichelnd war das falsche Wort. Zuvorkommend?

Andererseits würde ich nun eine seiner Jägerinnen werden. Es war doch logisch, dass er sich um die seinen eher kümmerte als um eine Fremde, die da aus der Wüste spaziert kam.

Und er wollte mich ausbilden. Wie diese Ausbildung wohl aussah? Die magischen Dolche von Kiran kamen mir in den Sinn. Und auch seine Peitsche. Würde er mir den Umgang mit Waffen beibringen? Nahkampf?

Der Gedanke verursachte mir Unwohlsein. Egal zu welchem Zweck sie benutzt wurden, Waffen waren nie etwas Gutes. Damit verletzte man andere Menschen … ähm, Mortatia. Ich war nicht dumm, ich wusste genau, zu welchem Zweck er mich ausbilden wollte.

Die Zweifel, die mich bereits bei meiner Entscheidung geplagt hatten, wurden stärker. Er hatte gesagt, er bräuchte mich, um die Dämonen zu finden, das Töten würden die anderen übernehmen. Aber ich war mir nicht sicher, ob das die Sache so viel besser machte.

 

°°°

 

„Ich weiß nicht, ob ich das wirklich packe, das ist das Problem.“

Asha verschob die Tiegel und Fläschchen auf ihrem Tablett, um auch jedes Staubkörnchen mit ihrem Lappen zu erwischen. „Das kann ich dir auch nicht sagen, das musst du selber wissen. Doch wenn es dir nur darum geht, bei uns zu bleiben, dann würde sich hier sicher auch ein anderer Platz finden lassen.“

Wenn es nur das wäre, würde ich es glatt machen, aber ich wollte mich nicht mehr so machtlos fühlen wie gestern. Der Blick des Rubins ging mir einfach nicht aus dem Kopf und die Erinnerung an seine Worte verursachte mir immer noch eine Gänsehaut. „Amir sagt …“

„Amir sagt viel, wenn der Tag lang ist.“ Sie räumte das Tablett auf die Seite und begann damit, den Schreibtisch so gründlich zu reinigen, dass ich Angst um die Lackierung bekam. „Die Jagd birgt unvorhersehbare Gefahren, das muss dir klar sein. Du brauchst eine gute Kondition, Ausdauer und eine Gewitztheit, die sich nicht antrainieren lässt. Dieser Job ist nicht einfach und auch nicht harmlos. Du hast selbst gesehen, wozu ein Dämon in der Lage ist.“ Sie rubbelte mit so einem Elan über eine bereits blitzblanke Stelle, als wollte sie das Holz entfernen. „Ryu hat Glück gehabt, dass nicht mehr passiert ist.“

Das Wort Glück würde ich anders definieren. „Er kommt schon wieder auf die Beine.“ Genaugenommen war er das bereits, aber ich war sicher, dass sie wusste, was ich meinte.

Asha schüttelte den Kopf. „Darum geht es nicht. Was ich dir sagen will, ist, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, uns zu helfen. Im Lager gibt es immer etwas zu tun. Du könntest in der Küche aushelfen, dich um die Mounts kümmern oder mir assistieren. Ich kann dir alle Heilzauber beibringen, die ich kenne. Hexen sind hervorragende Heiler.“

Ich lehnte mich an die Anrichte und strich mir einen Zipfel Ghutra aus dem Gesicht. In ihren Worten steckte viel Wahrheit, aber … „Ich will nicht erst dazukommen, wenn es darum geht, Wunden zu versorgen. Ich will diese Wunden vermeiden.“ Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen. „Und außerdem möchte ich lernen, was es bedeutet, ein Jäger zu sein.“ Der Gedanke, dass Amir mir den Umgang mit Waffen zeigen würde, ließ mich nicht mehr los, seit er mir gestern Abend zum ersten Mal gekommen war.

Ich hatte gesehen, wie Amir seine Peitsche geschwungen hatte und wie Schwerter plötzlich zu leuchten angefangen hatten.

„Du willst ein Jäger sein?“ Asha stellte ihren Putzwahn ein und drehte sich zu mir um. „Tiara, wenn du bereits mit Zweifeln an die Sache herantrittst, glaubst du dann wirklich, dass es das Richtige für dich ist?“ Sie legte mir eine Hand auf den Arm. „Wenn du dir nicht sicher bist, dann …“

„Versuchst du mir gerade unsere neue Rekrutin abzuwerben?“ Amir trat ins Lazarett und fixierte Asha mit einem undurchschaubaren Blick. Die Schlangen auf seinem Kopf zischten.

„Ich zeige ihr nur ihre Möglichkeiten auf“, erklärte Asha. „Das ist etwas, das du nicht getan hast.“

„Weil es eine Verschwendung wäre, ihre Talente nicht zu nutzen. Diese Ressourcen können wir anderweitig besser gebrauchen.“

Asha zog die Augenbrauen hoch, was ihr einen erstaunten Ausdruck verlieh. „Du findest, die Heilung unserer Leute sind verschwendete Ressourcen?“

Der Ausdruck in Amirs Gesicht wurde völlig gefühllos. „Versuch nicht, mir das Wort im Munde umzudrehen. Für dich mag die Heilung von Verletzten eine heilige Aufgabe sein, die auch deinen Fähigkeiten entspricht. Aber Tiara wäre an diese Aufgabe verschwendet. Nicht nur, dass ihre Macht weit über deiner steht, du brauchst auch keine Hilfe.“

„Woher willst du wissen, ob ich Hilfe gebrauchen könnte?“ Verärgert warf sie ihr Putztuch auf den Tisch und funkelte ihn an. „Dich hat noch nie etwas anderes als die Hatz interessiert. Die Folgen kümmern dich nicht. Alles für das große Ziel.“ Sie spie ihm die Worte praktisch entgegen.

Oh je, was war denn jetzt los? Etwas beunruhigt schaute ich von einem zum anderen.

Amir ließ sich von ihren Vorwürfen nicht beeindrucken. „Sag mir, Asha, warum bist du hier?“

Sie drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und funkelte ihn an.

Wegen Ryu. Sie hatte es mir selbst gesagt.

„Denk über diese Frage nach. Wenn du eine Antwort gefunden hast, dann können wir uns weiter unterhalten. Begleite mich.“

Ich brauchte einen Moment, um festzustellen, dass der letzte Teil mir gegolten hatte. Hastig stieß ich mich von der Anrichte ab, winkte Asha zu und beeilte mich, an seine Seite zu kommen.

Draußen begrüßten mich die frühmorgendlichen Sonnen. Die Stunde des Zwielichts war gerade erst vorbei und die Luft noch angenehm. Trotzdem herrschte im Lager bereits die tägliche Betriebsamkeit. Das Frühstück war bereits vorbei.

Ich entdeckte Kiran, der zwei Glatisante durch das Lager zur Lagune führte, um Wasser zu holen, und Gaio, der über den Platz hinwegflog.

Diese Alltäglichkeit des morgendlichen Treibens hatte in der Zwischenzeit etwas Beruhigendes für mich. Es war eine Symphonie, in der sich jeder einbringen konnte. Eine magische Symphonie. Und ich würde bald ein Teil davon sein.

Aber nicht alle spielten im Gleichklang.

Ich sah zu Amir hoch. Eine von den Schlangen erwiderte meinen Blick und züngelte in meine Richtung. Meine Hand zuckte. Irgendwann würde ich mal eine berühren, aber nicht im Moment.

„Du bist so ruhig“, bemerkte Amir und wandte sich dem hinteren Ende des Lagers zu.

„Ähm … ja. Ich weiß nicht … du und Asha …“

„Sie kommt nicht über den Tod ihres Vaters hinweg. Sie gibt mir die Schuld daran“, sagte er ganz direkt. „Ich war dabei, als er starb. Ein Smaragd hat die Erde gespalten. Ashas Vater stürzte und der Dämon nutzte seine Gelegenheit. Ich war zu weit weg, um ihm zu helfen, und dass kann sie mir nicht verzeihen.“

„Aber wenn das stimmt, dann trifft dich doch gar keine Schuld“, empörte ich mich. Asha war mir bisher nicht wie jemand vorgekommen, der irrational handelte.

Amir schenkte mir das Zucken seines Mundwinkels. „Du hast in deinem Leben noch nie jemanden verloren, oder?“

„Nein ich …“ Taylor. „Doch.“

Damit hatte ich ihn wohl überrascht.

„Ich glaube, ich hatte mal einen Bruder. Das stand zumindest in dem Brief. Ich weiß nicht.“

Er nickte verstehend. „Wenn jemand, den du liebst, stirbt, dann geht für dich eine Welt unter. Und wenn derjenige auch noch auf brutale Weise umgebracht wird, dann suchst du dir deinen Schuldigen. Asha weiß, dass der Dämon es war, der ihren Vater getötet hat, das wirft sie mir gar nicht vor. Ihr Vorwurf lautet, ich hätte ihn nicht gerettet.“

„Aber wenn du zu weit weg warst?“

„Das ist völlig irrelevant. Ich bin mit ihm allein auf die Hatz gegangen. Ich war der Jüngere, der Geschicktere von uns beiden. Und nur durch einen Trick war es dem Smaragd gelungen, uns für einen Moment voneinander zu trennen.“

In meinen Ohren klang es, als würde er sich auch selber dafür Vorwürfe machen. „Das hört sich so an, als wenn dieser Smaragd ganz schön gefährlich gewesen wäre.“

„Jeder Dämon ist gefährlich. Du darfst sie niemals unterschätzen.“

Wir hatten das hintere Ende des Lagers erreicht.

Die Zelte waren im Windschatten einer kleinen Felsformation errichtet worden, die auf der anderen Seite sogar eine Lagune beherbergte.

Auf dieser Seite jedoch befand sich die Sandgrube im Schatten von ein paar Akazien - das Übungsfeld der Jäger. Elias trainierte gerade mit einem Schwert. Seinem imaginären Gegner setzte er schwer zu und unterbrach sich nur, wenn Ryu ihm vom Rand etwas zurief.

„Ich habe gesehen, wozu sie fähig sind“, sagte ich, als wir an die Kante des Feldes traten.

„Was du gesehen hast, war nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete, wie Elias einen Ausfallschritt nach vorne tat, sich dabei drehte und sein Schwert in einem geübten Kreis zog, als würde er jemanden den Kopf vom Rumpf trennen wollen.

Dieser Gedanke ließ mich schlucken, doch ich drängte die wiederaufkommenden Zweifel sofort zur Seite. Ich musste das hier tun.

„Um einen Dämon zu fangen, musst du ihn verstehen“, erklärte Amir weiter.

„Kenne deinen Feind.“ Irgendwie war der Spruch abgedroschen, aber ich fand, dass er passte. Amirs Nicken bestätigte mir diese Vermutung.

„Was weißt du bisher über Dämonen?“

„Nicht viel.“ Ich verlagerte mein Gewicht auf die Fußballen und wippte ein wenig auf und ab. „Im Grunde nur das, was du mir gesagt hast. Es gibt vier Arten, jede steht für ein Element. Und sie sind durch und durch böse.“

Er nickte. „Rubine beherrschen das Feuer, Saphire das Wasser und Smaragde die Erde. Aber die mit Abstand gefährlichsten sind die Zirkone. Warum?“

„Zirkone?“ Wenn die anderen Feuer, Wasser und Erde waren, musste es sich bei ihnen um Luft handeln. Was konnte an der so viel gefährlicher sein als an Feuer? Smaragde konnten einen schließlich bei lebendigem Leib verbrennen. Oder Wasser - allein die Vorstellung, einem von ihnen zu begegnen und zu ertrinken, ließ mich schaudern. „Ich weiß nicht“, gab ich achselzuckend zu.

„Zirkone beherrschen das, was jeder von uns jede Minute des Tages zum Leben braucht und von dem wir immer umgeben sind.“

„Luft.“ Ganz klar.

„Sie können dir die Luft entziehen und dich damit ersticken. Sie können Windböen erschaffen, die dich zerdrücken. Sie können dich mit einer einzigen Bewegung ihrer Hand durch die Luft schleudern, ohne dich zu berühren.“

„Und die gute Neuigkeit?“

Ich bekam wieder dieses kleine Mundwinkelzucken. Wie er wohl aussah, wenn er richtig lächelte?

„Es gibt einen sehr einfachen Weg, sie auszuschalten. Wenn man schnell genug ist. Kommst du drauf?“

Wie sollte man denn bitte Luft ausschalten? Luft war allgegenwärtig. Man konnte sie nicht einfach einsperren und wegschließen. Aber um ihnen ihre Kraft zu nehmen, musste man ihnen wohl die Luft entziehen. Mal überlegen, wie könnte das möglich sein?

Ich sah Elias dabei zu, wie er über den Boden tänzelte und plötzlich innehielt, weil Ryu etwas zu ihm sagte, ihn in seiner Haltung korrigierte. Sein Atem ging schwer. Atem. Atmen bedeutete, Luft einzuatmen und Kohlendioxid auszuatmen. Kohlendioxid? Konnte die Lösung wirklich so einfach sein? „Rauch“, riet ich einfach mal ins Blaue hinein und schaffte es damit, Amir ein halbes Lächeln zu entlocken.

„Rauch. Auch er enthält Luft, doch er ist für einen Zirkon schwieriger zu kontrollieren. Rauch ist ihre Schwachstelle. Hüll sie in Rauch und schwäche sie damit.“ Er verlagerte sein Gewicht. „Jeder Dämon hat eine Schwachstelle, du musst sie nur kennen. Kannst du dir auch die Schwachstellen der anderen Dämonen vorstellen?“

„Wasser bei einem Rubin“, sagte ich wie aus der Pistole geschossen. „Feuer bei einem Smaragd.“

Ein leises Zirpen erregte einen Augenblick lang meine Aufmerksamkeit. Ich wusste sofort, wer es war, doch ich brauchte einen Moment, um seine Herkunft zu ergründen. Da, eine kleine Spalte im Felsmassiv. Es sah fast aus wie eine kleine Höhle. Nur Guardians Kopf schaute heraus. Ach, da verbrachte mein kleiner Freund seine Tage.

„Das ist richtig. Und bei einem Saphir?“

Wasser. Was war der natürliche Feind von Wasser? Hitze. Bei Hitze verdunstete es. Aber es würde zu lange dauern, um ihn auszutrocknen. Erde? Sie absorbierte Wasser, aber wenn ein Smaragd wie ein Rubin einen Körper besaß, wäre das ziemlich unwahrscheinlich. Eine Wolke? Okay, nun musste ich über meinen eigenen Gedanken den Kopf schütteln. Wir befanden uns vielleicht in einer Welt, die aus Magie bestand, doch dies war dann etwas zu abwegig. „Ich weiß nicht“, gab ich schlussendlich zu.

„Ein Blitz.“

„Ein Blitz?“ Natürlich! Wasser leitete Elektrizität. Darauf hätte ich eigentlich auch selbst kommen können.

Amir nickte wieder. „Magier können Blitze erschaffen.“ Er wandte mir den Blick zu. „Und Hexen.“

Der Gedanke gefiel mir nicht.

„Aber ihre Schwachstellen allein zu kennen, reicht nicht immer aus. Um sie bekämpfen zu können, musst du sie als erstes finden. Dazu musst du wissen, wie sie denken und durch was sie angetrieben werden.“

Was einen Dämon antrieb. In meinen Gedanken tauchte das Bild vom roten Mann auf, wie er sein Kind vor den Einhörnern verteidigt hatte. Was hatte ihn getrieben? Vaterliebe? Oder einfach nur der Instinkt, der dafür sorgte, dass die Art überleben konnte?

„Unter den Dämonen gibt es eine strikte Rollenverteilung. Der Mann beschützt die Familie, die Frau kümmert sich um die Kinder.“

„Hört sich nicht wirklich grauenhaft an.“

„Nein, tut es nicht. Nicht bis man weiß, wie es dazu kommt.“

Diesen Satz verstand ich nicht. „Was meinst du damit?“

„Ich rede vom Brennen.“

„Ähm … nein, das sagt mir auch nichts.“

Amir legte den Kopf in den Nacken und sah zu den Sonnen hinauf. Seine Schlangen folgten der Bewegung. Es war schon ein wenig wärmer geworden, aber noch lange nicht so brütend heiß, wie es bereits in einer Stunde sein würde. „Welche Dämonen sind deiner Meinung nach gefährlicher - Frauen oder Männer?“

Hm, schwere Frage. „Ich weiß nicht. Männer sind den Frauen wahrscheinlich an körperlicher Kraft überlegen, aber Frauen können ziemlich hinterlistig sein.“

„Ich sehe, ich habe mich in dir nicht getäuscht.“

War das jetzt ein Kompliment? Bei Amir war das immer schwer zu entscheiden.

„Frauen sind der gefährlichere Part“, erklärte er. „Sie sind rücksichtsloser, hören mehr auf ihre Instinkte und können von einem Moment zum anderen völlig loswüten. Dann sind nicht einmal ihre eigenen Kinder oder Partner vor ihnen sicher. Dämonen sind durch und durch diabolisch, sie haben Spaß an dem, was sie tun, und Frauen kennen keine Grenzen. Männer dagegen sind etwas kontrollierter, überlegter.“ Eine Schlange züngelte sich an seiner Wange entlang. „Es gibt nichts, was eine wütende Dämonin kontrollieren kann. Wild, unbeherrscht und erbarmungslos, so könnte man sie beschreiben. Deswegen hat die Natur sich etwas ausgedacht. Männliche Dämonen können weibliche brennen. Sie drücken ihnen ihre Magie auf und können damit ihren Willen beherrschen.“

Ich runzelte die Stirn. „Das verstehe ich nicht.“

„Du musst wissen, bei Dämonen gibt es keine Liebe, nur den Instinkt der Fortpflanzung und der Erhaltung der Art. Wenn ein Männchen sich ein Weibchen aussucht, dann tut er das nach physischen Kriterien. Gesundheit und Stärke zum Beispiel. Wenn das Männchen sich ein Weibchen ausgesucht hat, dann nimmt er es sich einfach, er brennt sie und zeichnet sie damit als die seine. Sie hat da kein Mitspracherecht.“

„Das ist … das ist …“ Da fehlten mir glatt die Worte.

„Er drückt ihr sein Mal auf und kontrolliert damit ihren Willen.“

„Er kann sie zwingen zu tun, was er möchte?!“ Das war ja entsetzlich.

„Nein.“ Amir schüttelte den Kopf. „Er kann sie zu nichts zwingen, er kann nur verhindern, dass sie etwas tut, das sie seiner Meinung nach nicht tun sollte.“ Auf meinen verständnislosen Blick hin erklärte er: „Will sie ihn töten, kann er das verhindern – allein durch einen Gedanken. Will sie sich von ihm entfernen, kann er sie durch seinen Willen davon abhalten.“

Sie war an ihn gefesselt.

„Zusammengefasst: Da Weibchen sehr launisch und unberechenbar sind und manchmal nicht nur ihre Männer, sondern auch die eigenen Kinder töten, belegt der männliche Dämon das Weibchen mit einer Markierung, in die er seine Magie einwebt. Dadurch kann er das Weibchen teilweise kontrollieren und lässt sich gleichzeitig sehr attraktiv auf das Weibchen wirken. Sie kann ihm nun nicht mehr widerstehen. Bei Dämonen geht es nicht um Liebe, sondern um Fortpflanzung. Es entstehen nur sehr selten tiefere Gefühle. Gleichzeitig verpflichtet sich das Männchen mit der Markierung dazu, für das Weibchen und die gemeinsamen Kinder zu sorgen. Rivalen werden von da an von beiden Geschlechtern getötet und das Weibchen akzeptiert auch keine fremden Kinder.“

„Keine fremden Kinder?“ Dieser Satz wollte mir so gar nicht gefallen.

„Begibt sich ein fremdes Kind in die Reichweite einer Dämonin, kann es schon passieren, dass sie es tötet.“

Oh Gott.

„Aber auch die eigenen Kinder sind nicht sicher. Oder gar die Männer. Es soll schon vorgekommen sein, dass ein Weibchen das Männchen bei der Fortpflanzung verletzt oder gar getötet hat.“

Wie eine schwarze Witwe.

„Deswegen nutzen die männlichen Dämonen das Brennen. So können sie der Gefahr entgehen.“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und dachte über das Gesagte nach. Es ließ sich einfach nicht mit dem Bild vereinbaren, das ich vom roten Mann hatte. Dagegen schienen wenigstens kleine Teile auf den Rubin aufm Pfahlplatz zuzutreffen. „Du hast gesagt, dass sie keine Liebe empfinden, sich aber manchmal, ganz selten, tiefere Gefühle zwischen einem Paar entwickeln.“

„Sie sind wie Tiere, Tia. Auch Tiere haben Gefühle, nur sind sie nicht mit denen der Mortatia gleichzusetzen. Sympathie, Zuneigung, Sicherheit. Das sind die Gefühle, über die ich gesprochen hab.“ Der Zug um seinen Mund wurde hart. „Aber sie sind selten – und wenn überhaupt – nur in gebrannten Verbindungen zu finden. Dämonen töten jeden, dem sie begegnen, sogar ihre gleiche Art. Unter ihnen herrscht ein Machtkampf, wie du ihn nirgendwo sonst findest. Und ihnen ist egal, wen sie damit in den Untergang ziehen.“

„Aber …“ Ich biss mir auf die Lippen und wich seinem Blick aus. Es klang schon schlüssig und auch interessant, was er erzählte. Und doch sagte mir mein Gefühl, dass es nicht richtig sein konnte.

„Aber?“ Als ich nichts sagte, berührte er mich an der Schulter.

„Der Rubin“, flüsterte ich. „Der aus der Wüste. Er hat mich gerettet und danach nicht getötet.“ Obwohl er die Gelegenheit dazu hatte. Das war einfach etwas, das nicht in das Bild passte.

„Er befand sich in einer heiklen Situation. Die Einhörner waren noch in der Nähe und selbst ein Dämon weiß, welche Gefahren von diesen Tieren ausgehen. Du hast ihn gerettet, er dich. Und dann hat er sich aus dem Staub gemacht, weil es zu gefährlich war, dort zu verharren.“ Er drückte meine Schulter leicht. „Sie können nett sein, aber das ist immer nur eine Täuschung. Sie tun nichts, was ihnen nicht zu ihrem eigenen Vorteil gereicht. Sie bringen nur Schrecken über die Welt – selbst unter ihrer eigenen Art – und deswegen müssen wir sie vernichten.“

„Aber das ist nicht so einfach, hast du gesagt.“

„Nein, das ist es nicht. Das Schwierige bei der Tötung ist dabei, nicht selbst zu sterben. Wenn sie sterben, darf man nicht in ihrer Nähe sein.“

Meine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Das verstehe ich nicht.“

„Das brauchst du auch noch nicht.“

Das verstand ich noch weniger.

„So, aber nun habe ich dir genug Stoff zum Nachdenken gegeben, es wird Zeit, mit dem eigentlichen Training zu beginnen.“ Forschen Schritts entfernte er sich von mir und marschierte zu Elias aufs Übungsfeld.

Ich jedoch runzelte die Stirn. Wie sollte man jemanden töten, wenn man nicht in seiner Reichweite war? Und wieso ereilte einen selbst der Tod, wenn man sich in ihrer Nähe befand? Das ergab doch keinen Sinn. Und dann dieses Brennen. Vielleicht war es ein Schutzmechanismus der Natur, aber in meinen Augen war es nichts weiter als Sklaverei. Allein der Gedanke an eine solche Verbindung ließ mich unangenehm schaudern.

„Tiara, komm her!“, forderte Amir mich auf. Mittlerweile stand er allein in der Sandkuhle. Elias hatte sich neben Ryu an den Rand gesetzt und sah mir gespannt entgegen.

Ich atmete noch einmal tief durch. Plötzlich war ich ziemlich aufgeregt. Was er mir wohl zeigen würde? Ich hatte die Jäger bei ihrem Training schon beobachtet und sie alle strahlten eine Eleganz aus, die mich faszinierte. Es war jedes Mal wie ein Tanz – ein tödlicher Tanz.

„Du brauchst keine Angst zu haben“, sagte Amir, der mein Zögern falsch interpretierte. „Wir fangen mit ein paar einfachen Sachen an.“

Daran zweifelte ich nicht.

Eine Windböe trieb über das Felsmassiv, als ich mich zu ihm gesellte. Sand wurde gegen meine Kleidung geweht. Der Boden unter meinen Füßen fühlte sich weich an. Es erinnerte mich an den Moment, als ich vor den Einhörnern geflohen war. Auf diesem Untergrund Halt zu finden, würde gar nicht so einfach sein.

Als ich vor ihm zum Stehen kam, warf er über die Schulter einen mahnenden Blick zu den beiden anderen, bevor er sich auf mich konzentrierte. Was sollte das denn?

„Als Hexe liegt deine Stärke im Angriff aus der Ferne, deswegen werden wir mit dem Nahkampf beginnen“, eröffnete er mir. „Das ist einer der wichtigsten Aspekte bei der Hatz. Dämonen gehen sehr oft auf direkte Konfrontation und du musst wissen, wie du dich aus einer solchen Situation befreien kannst. Daher möchte ich als erstes deine Fähigkeiten austesten. Ohne Magie.“

„Okay. Was soll ich tun?“ 

„Greif mich an. Ich muss wissen, wo ich bei deinem Training ansetzen muss.“

„Ähm …“ Etwas unschlüssig schaute ich kurz zu unserem Publikum. „Einfach so?“

Er nickte. „Keine Sorge, du wirst mich nicht verletzen können.“

Ich zog die Augenbrauen skeptisch nach oben. Das klang ja fast wie eine Herausforderung. Und so, wie er und auch die Schlangen auf seinem Kopf mir entgegenblickten, konnte das auch durchaus eine sein. „Ich nehme dich beim Wort.“

Tief durchatmend schloss ich für einen Moment die Augen. Mein Körper reagierte darauf, als wäre es für ihn nichts Neues. Eine ausgeglichene Ruhe überkam mich.

Ich schlug die Augen wieder auf und brachte mich in Position. Wie von selbst nahm mein Körper diese Haltung ein. Doch auch, wenn ich nicht wusste wieso, so war ich mir sicher, dass es richtig war.

Amir zog nur eine Augenbraue nach oben.

Noch einmal atmete ich tief durch, dann gab ich einen Kampfschrei von mir und preschte vor. Ich täuschte einen Schlag links an, ließ dann den rechten Arm vorschnellen, um ihm die Faust gegen die Brust zu rammen, doch er sah ihn kommen und wich aus. Er startete keinen Gegenangriff, wich nur zurück und wartete darauf, was ich als nächstes tat.

Aber was da kam, überraschte ihn dann doch. Ich jagte ihm einen Frontkick direkt in die Brust. Und ich war schnell. Mein Schrei hallte noch in meinen Ohren, als er einfach nach hinten umfiel und luftschnappend nach Atem rang.

„Oh nein!“ Ich hastete an seine Seite, genau wie Ryu und Elias. „Es tut mir leid“, entschuldigte ich mich und griff besorgt nach seiner Brust. Doch bevor ich ihn berühren konnte, fing er meine Hände in der Luft ab.

„Alles … in Ordnung“, japste er. Doch der Blick dabei … ich wusste nicht, was er bedeuten sollte.

Guardian zirpte aus seiner Höhle, als wollte er mir applaudieren.

„Was war das?“, fragte Ryu. Er stand neben Amirs Kopf.

„Karate“, sagte ich ohne nachzudenken. „Jiyu-Kumite.“

Elias runzelte die Stirn, während er Amir wieder auf die Beine zog. „Was?“

Meine größten Hobbys sind Karate und Gymnastik. Ich habe sogar schon einige Wettkämpfe gewonnen. Die Zeile aus meinen Brief.

Oh je. „Das ist eine Nahkampfsportart. Ich glaube, das habe ich Zuhause gemacht.“ Erst nachdem ich die Worte ausgesprochen hatte, wurde ich mir Elias‘ Anwesenheit richtig bewusst. Mist.

„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen“, sagte Amir und lehnte sich sitzend nach vorne. Ich hatte ihn wohl wirklich ganz schön hart getroffen. „Elias weiß, dass du ein Viator bist. Genau wie Gaio.“

„Aber …“ Ich warf dem schieflächelnden Vampir einen kurzen Blick zu. „Ich dachte, das ist ein Geheimnis.“

„Ist es auch.“ Er lehnte Elias Hilfe ab, als er sich wieder auf die Beine arbeitete. „Aber vor meinen Vertrauten habe ich keine Geheimnisse.“

Vertraute. Wie er das Wort aussprach.

„Ich habe dich wohl unterschätzt“, gab Amir zu und reichte mir die Hand, um mich auf die Beine zu ziehen. Ein kurzer Ruck reichte, dann stand ich ihm wieder gegenüber. „Das wird mir kein zweites Mal passieren.“

„Du willst weitermachen?“

„Natürlich.“ Mit einem Handzeichen schickte er Ryu und Elias wieder vom Feld und baute sich vor mir auf. „Also los, versuch das noch einmal.“

So kampflustig, wie er mich ansah, wusste ich nicht, ob das eine so gute Idee war. Trotzdem nahm ich etwas Abstand von ihm und brachte mich wieder in Stellung. „Bereit?“

„Ich warte nur auf dich.“

Das machte ihm Spaß, wurde mir klar. Okay, dann würde ich ihn mal nicht enttäuschen. Ich bewegte mich mit voller Geschwindigkeit, als ich um ihn herumtrat, während er mich keinen Moment aus den Augen ließ. Ich zielte auf seine Kniekehlen, doch er war vorbereitet, erwischte mich, bevor ich ihn erwischen konnte, und schickte mich zu Boden. Ein ganzer Sandkasten landete in meinem Mund.

Aber das hinderte mich nicht daran, wieder auf die Beine zu kommen und mich ihm erneut entgegenzustellen. Es war einfach nur eklig.

Amir wartete nicht, bis ich wieder bereit war. Dieses Mal ging er zum Angriff über und mir blieb nichts anderes übrig, als ihn mit den Armen abzublocken. Ich blockte, blockte wieder, drehte mich herum und wich zurück, um ihn davon abzuhalten, einen Treffer zu landen.

Es folgte ein Schlagabtausch aus Antäuschungen und Treffern. Seine Schläge waren nicht hart, aber sie verdeutlichten mir, dass es für ihn nicht allzu schwer war, mich zu treffen. Er begann mich zurückzudrängen, Schritt um Schritt.

Das konnte ich nicht zulassen. Mein Körper übernahm das Ruder. Plötzlich lief ich wie auf Autopilot. Es war, als wüsste er ganz genau, was er zu tun hatte, und das, obwohl ich mich nicht daran erinnerte, es jemals getan zu haben.

Amir kämpfte anders als ich, aber deswegen noch lange nicht schlechter. Und ich genoss diesen Schlagabtausch, genau wie er ihn zu genießen schien. Auch wenn mein Atem bereits schwer ging und mir Schweiß und Sand unangenehm auf der Haut klebten, so waren meine Muskeln locker und geschmeidig. Es machte wirklich Spaß, sich mit Amir zu messen.

Ich verteilte Tritte und Schläge und konnte mich nur schwer zurückhalten, wollte seine Grenzen austesten, so wie er die meinen auslotete. Doch als ich einen Roundhouse-Kick versuchte, fing er mein Bein ab, drehte mich herum und schickte mich erneut auf den Boden, sodass ich Sand spuckte.

Amir wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß aus dem Gesicht. Auch er atmete schwer, doch in seinen Augen stand das gleiche Leuchten wie in meinen.

Über die Schulter sah ich zu ihm nach oben. Er setzte gerade dazu an, etwas zu sagen, als ich meine Gelegenheit sah. Er hatte seine Deckung komplett fallen gelassen.

Blitzschnell warf ich die Beine herum und riss ihn mit einer Schere von den Füßen, sodass er neben mir im Sand landete.

Damit waren wir quitt.

Ich grinste ihn an. „Genug oder weiter?“

„Wo hast du dich nur versteckt?“, fragte er leise und der Ausdruck in seinen Augen … plötzlich kribbelte es in meinem Magen.

Ohne auf eine Antwort zu warten, setzte er sich auf und atmete einmal tief durch. Auch auf seine Haut hatte sich der rote Staub wie eine zweite Haut gelegt. Schweiß lief ihm über die Schläfen und seine Schlangen schienen agiler als sonst. Wieder überkam mich der Impuls, die Hand auszustrecken und sie zu berühren. „Ich habe dich wirklich unterschätzt“, gab er zu. „Du bist kein Anfänger. Manche meiner Jäger könnten sogar noch etwas von dir lernen.“

Okay, das war jetzt aber ein Kompliment gewesen. Ich konnte es mir nicht verkneifen, noch ein wenig breiter zu grinsen. „Du bist auch nicht schlecht“, konnte ich ohne Neid zugeben.

„Danke“, sagte er trocken und rappelte sich wieder auf die Beine. Doch über den Schalk in seinen Augen konnte sein Ton nicht hinwegtäuschen. „Hoch mit dir, dieses Mal machen wir ernst. Ich will, dass du nicht zurückhältst.“

„Ähm …“ Mein Lächeln fiel ein wenig in sich zusammen. „Bist du sicher?“ Ich kannte mich nicht gut genug, um zu wissen, wie fest ich zuschlagen konnte. Das machte mehr oder weniger alles mein Körper. Daher war ich mir nicht sicher, ob ich das wirklich wollte.

„Steh auf“, forderte er mich wieder auf.

Ich zögerte einen Moment, kam dann aber auf die Beine und beobachtete ihn misstrauisch. Jede Belustigung war aus seinen Zügen verschwunden und einem wachsamen Ausdruck gewichen. Er ließ mich nicht aus den Augen, als ich mich in Position brachte.

Meine Finger streckten sich und ballten sich zur Faust, bevor ich meine Stellung richtig einnahm.

Und dann standen wir da und belauerten uns. Jeder wartete auf den ersten Schritt des anderen, aber irgendwie wollte keiner den Anfang machen.

Langsam umkreisten wir uns. Dann preschte er plötzlich vor. Mir blieb gerade noch genug Zeit zum auszuweichen. Ich versuchte einen Schlag gegen seine Schulter, öffnete damit meine Deckung und spürte daraufhin den Schmerz in meiner Seite.

Er hatte mich getroffen – und zwar nicht zu knapp. Und dann war er plötzlich hinter mir, packte mich an meinem Ghutra samt Haaren und riss meinen Kopf zurück, bis ich gegen seine Schulter knallte. Ich gab einen Laut des Schmerzes von mir.

Er hielt mich nur einen kurzen Moment fest, verdeutlichte mir damit, wie sehr ich ihm in diesem Moment ausgeliefert war, und ließ mich dann los.

Der Ghutra fiel in den Sand, während ich ein Stück Abstand zu ihm nahm.

„Das war die Lektion des Tages“, sagte er leise und eindringlich. „Dämonen spielen niemals fair. Sie nutzen jede Angriffsfläche, die sie erreichen können. Das musst du dir merken.“

Ich nickte verstehend und rieb mir über die Kopfhaut. Das hatte wirklich wehgetan. „Das hättest du mir auch einfach sagen können.“ Ja, vielleicht klang ich in diesem Moment etwas beleidigt, aber meine Kopfhaut brannte und das war eben ein Angriff gewesen, mit dem ich nie gerechnet hätte.

„Deine Haare sind ein Angriffsziel, das du nicht unterschätzen darfst“, erklärte er. „Wenn du uns zur Hatz begleitest, musst du es dir in einem Knoten an den Kopf stecken. Oder alternativ abschneiden.“

Abschneiden? Ich fasste nach meiner blonden Haarpracht. Eigentlich hatte ich sie ganz gerne. Aber ich verstand, was er mir sagen wollte. „Ich werde es mir merken.“ Und mir vor dem nächsten Training die Haare fest an den Kopf stecken.

Amir nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. „Gut, dann versuchen wir es noch einmal. Und dieses …“

Als Guardian plötzlich ein lautes Kreischen von sich gab, wirbelten wir alle zu ihm herum. Er schoss aus seiner Höhle heraus, rannte mitten durch die Sandkuhle und verschwand zwischen den Zelten des Lagers.

„Was …“, begann ich, als der Boden unter mir plötzlich zu zittern begann. Ich richtete meinen Blick nach unten, als plötzlich ein solcher Ruck durch die Erde ging, dass ich nach vorne stolperte und nur nicht fiel, weil ich mich an Amir abstützte.

Auch Ryu und Elias waren auf die Beine gesprungen und schauten sich verwirrt um. Im Felsmassiv keimte ein Riss auf und zog sich blitzschnell durch das Gestein.

„Achtung!“, rief Ryu und warf sich zur Seite, als sich plötzlich ein Brocken ablöste und in die Sandkuhle bretterte.

Amir stolperte zurück und riss mich mit.

Auf einmal kamen aus dem Lager Rufe. Ich sah eines der Zelte zusammenbrechen. Die Erschütterungen wurden immer stärker.

„Erdbeben“, keuchte ich und versuchte mein Gleichgewicht zu wahren. Doch ein weiter Ruck ging durch den Boden und warf mich auf die Knie.

Ich hörte die Mounts in den Stallungen blöken und schreien. Aufgeregte Rufe und Schreie hallten durch das Lager. Jäger rannten umher und versuchten sich vor den zusammenbrechenden Zelten in Sicherheit zu bringen.

„Asha“, hauchte Ryu und sprang auf die Beine. Im nächsten Moment war er in dem Chaos verschwunden.

Amir riss mich zurück auf die Beine und stolperte vom Felsmassiv weg – Eilas direkt hinter uns.

Und dann, genauso plötzlich wie es begonnen hatte, hörte es auch wieder auf.

Die Erde schien ein letztes Keuchen von sich zu geben, dann war alles still – bis auf die Rufe der Jäger.

Mein Atem ging schwer, während ich darauf wartete, dass es wieder beginnen würde. Auch Amir und Elias blieben noch wachsam. Wir drei standen einfach da und warteten - und zuckten heftig zusammen, als hinter uns Guardian leise zirpe.

Amir funkelte meinen kleinen Freund an.

„Ich glaube, es ist vorbei“, sagte Elias und richtete sich wieder auf. Doch der Schreck saß und seine Wachsamkeit wollte nicht nachlassen.

„Das war … ein Erdbeben“, fasste ich das Offensichtliche zusammen und sah Amir erschrocken an.

Er jedoch schaute zum Lager hinüber. „Elias, sieh nach, welche Schäden wir haben, und sorg dafür, dass sie behoben werden.“

Der Vampir nickte und verschwand im Getümmel. Kurz darauf hörte ich ihn Befehle geben und das Chaos ordnete sich langsam.

„Passiert sowas öfter?“ Das wollte ich nicht noch einmal erleben. Wenn man sich dem Boden unter seinen Füßen nicht sicher sein konnte, was war dann überhaupt noch sicher?

Amir schüttelte den Kopf. „Nein. Es war das erste Mal, dass ich sowas erlebt habe.“ Aber es schien ihn nicht zu beunruhigen, ganz im Gegenteil. Etwas wie Freude schien sich durch seine Wachsamkeit drängen zu wollen.

Das bildete ich mir doch ein, oder? Niemand freute sich über ein Erdbeben. Es war erschreckend.

„Komm.“ Er zog mich an der Hand ins Lager, um das Ausmaß des Bebens zu inspizieren. Es hatte nur wenige Minuten angedauert, doch der Schaden war enorm. Überall eingebrochene Zelte und umgekippte Waren. Der Stall war beschädigt worden und die Mounts geflüchtet. Amir erteilte sofort den Auftrag, sie wieder einzufangen.

Aber bei all dem Chaos schien wenigstens niemand verletzt worden zu sein.

Ich schauderte bei dem Gedanken daran, was alles hätte passieren können, und machte mich an die Arbeit, die Schäden zu beseitigen. Jede Hand wurde gebraucht. Die Tätigkeit lenkte mich ein wenig von meiner inneren Unruhe ab.

 

°°°

 

Die nächsten Stunden waren die Jäger nicht nur damit beschäftigt, die Schäden im Lager zu beheben. Sie waren wachsam, immer wachsam, ob die Erschütterungen der Erde erneut einsetzen würden. Doch selbst, als alles ruhig blieb, atmeten wir nicht auf. Der Schreck saß uns eben immer noch in den Knochen und das würde wohl auch nicht so schnell vergehen. Trotzdem musste das Leben weitergehen und so fand ich mich am nächsten Tag nach dem Frühstück wieder mit Amir in der Grube ein. Auch Elias war wieder dabei.

Dieses Mal versuchte er nicht, mein Können zu testen, sondern brachte mir bei, einen Dämon schnell und effektiv auszuschalten. Elias musste den Dämon spielen. Aber ihn zu erwischen, war gar nicht so einfach. Er war schnell – extrem schnell. Und er hatte Kraft. Irgendwann verlor ich den Überblick darüber, wie oft er mich auf den Boden geschmissen hatte, aber mein Hintern tat ziemlich weh und mir wurde deutlich bewusst, was für eine einfache Beute ich für einen Dämon wäre.

Es brauchte Tage und Wochen, bis ich eine Verbesserung feststellen konnte. Ich lernte nicht nur, mich im Nahkampf gegen Gegner zu wehren, sondern auch den Umgang mit magischen Waffen. Im Prinzip waren die meisten ganz normale Waffen, die ich mit meiner Magie noch tödlicher machen konnte. Ein Schwert, das jeden verbrannte, den es berührte, oder ein Pfeil, der Wind erzeugte.

Ich mochte das Waffentraining nicht. Was ich aber liebte, waren meine Stunden bei Asha. Meistens ging es um Kontrolle, Konzentration und Willen. Und hier stellte sich wesentlich schneller eine Verbesserung ein als beim Nahkampf oder bei den Waffen. Nach kurzer Zeit musste selbst ich einsehen, dass meine Magie unvergleichlich mächtig war. Ich konnte praktisch alles tun, wenn ich nur den Willen dazu hatte. Es gab nur wenige Einschränkungen.

So zogen die Wochen an mir vorbei und schnell erhielt der Alltag bei mir Einzug.

Ein paar Tage nach dem Erdbeben bekam ich ein eigenes Zelt zugewiesen – ganz am Rand des Lagers, nur einen Katzensprung von der Lagune entfernt. Jeder Tag begann mit einem großen chaotischen Frühstück, bei dem sich jeder Jäger blicken ließ. Danach ging es in die Sandkuhle und am Nachmittag übte ich mit Asha.

Es war eine Zeit der Freude und Faszination. Doch es gab auch Schattenseiten.

Der Rubin, der mir solche Angst eingejagt hatte, war drei Tage nach seiner Ankunft verschwunden. Amir, Gaio, Ryu und Elias hatten ihn weggebracht. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er so schwach gewesen, dass er kaum noch den Kopf heben konnte, und in seinen Augen lag eine Verzweiflung, die mich schmerzte.

Sein Leben war verwirkt.

In diesen Wochen fragte ich mich mehr als einmal, ob ich wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Die Zweifel, die ich hegte, wurden nicht schlimmer, aber sie verschwanden auch nicht. Jedes Mal, wenn sie einen neuen Dämon brachten und er nur wenige Tage später wieder verschwand, musste ich mich fragen, ob ich das hier wirklich wollte.

Natürlich, die Jäger waren super. Selbst Gaio verlor nach und nach sein Misstrauen und begann mich als eine der ihren zu akzeptieren, doch all dieses Glück hatte einen bitteren Nachgeschmack.

„Die Welt erscheint in vielen Facetten“, erklärte mir der Gargoyle einmal, als wir abends mit den anderen beim Lagerfeuer zusammen saßen. „Und nicht alle davon sind rosarot.“

Ryus Verletzungen heilten, die Federn wuchsen wieder nach, doch der besorgte Ausdruck in Ashas Gesicht wollte einfach nicht weichen. Einmal hörte ich, wie die beiden sich stritten. Asha wollte, dass er aufhörte, doch Ryu bestand darauf, dass sie blieben. Der innere Kreis brauchte ihn.

Der innere Kreis. Das waren Amir und seine drei engsten Gefährten. Sie waren es, die das Sagen hatten. Und sie waren es auch immer, die die Dämonen wegbrachten. Immer nach drei Tagen, ohne Wasser und Essen in den sengenden Sonnen. Manche von ihnen wurden mit dem Versprechen gelockt, freigelassen zu werden, wenn sie ihnen Informationen über andere Dämonen gaben. Die Jäger suchten sich dafür immer die willensschwächsten raus. Trotzdem gab es nur wenige, die darauf eingingen.

Diese Schattenseite zu sehen, war mir zuwider. Und doch schritt ich nicht ein, denn in den Wochen, die nach dem ersten Training folgten, sah ich mehr als einmal die Verletzungen, die die Jäger bei einer Hatz davontrugen.

Ich musste sogar miterleben, wie einer von ihnen an den Folgen starb.

Es war ein schwarzer Tag für die Jäger, und die Dämonen, die sich in dieser Zeit in unserer Obhut befanden, hatten nichts zu lachen.

Es waren die aufkeimenden Freundschaften, die mich an diesen Tagen über Wasser hielten. Asha und Ryu und sogar Gaio – auf seine verschrobene Art. Nur Amir konnte ich nicht einordnen. Ich mochte ihn, mit jedem Tag mehr. Doch so nah wir uns beim Kampftraining waren, so fern schien er mir außerhalb der Sandkuhle.

Tage wurden zu Wochen. Ich verschwendete nur selten Gedanken an meine Herkunft und die Menschen und Dinge, die ich zurückgelassen hatte. Die wenigen Einblicke in meine Vergangenheit gaben nicht viel preis. Vor allen Dingen mied ich meine Erinnerungen an die Zeit vor der magischen Welt aber, weil ich Angst vor dem hatte, was ans Licht kommen könnte. Ich war mir immer noch sicher, dass es einen Grund geben musste, warum ich all das hinter mir gelassen hatte, ja, sogar meine Erinnerungen aufgegeben hatte, und ich war nicht begierig darauf, ihn zu erfahren. Dafür aber erfuhr ich ziemlich viel über meine Schwester.

Es dauerte nicht lange, bis jeder im Lager von meiner Verwandtschaft zu Talita Kleiber aus München wusste. Doch niemand bedrängte mich - was wohl mit Amir zu tun hatte.

Doch trotz der Dinge, die mir nicht gefielen und vor denen ich am liebsten die Augen verschloss, überwogen die glücklichen Momente in dieser Zeit. Einer der glücklichsten war wohl der Augenblick, als Guardian begann, mich vor den anderen Jägern zu verteidigen.

Eigentlich begann es mit einem ganz normalen Training. Dieses Mal war Gaio mein Sparringspartner. Er spielte den großen, bösen Dämon, der mich bei lebendigem Leib häuten wollte –ich musste ihm zugestehen, er machte das ziemlich gut – und schmetterte mich mit so viel Inbrunst in die Kuhle, dass mir der Aufprall die Luft aus den Lungen trieb.

Das war der Moment, als Guardian laut fauchend aus seinem Spalt im Fels schlüpfte und sich auf den Gargoyle stürzte. Er verbiss sich in seine Fersen, bis der Gargoyle mit sehr ausgefallenen Flüchen zurücksprang. Dann legte er sich neben mich und fauchte jeden an, der es wagte, sich in meine Nähe zu trauen.

Erst als ich wieder zu Atem kam und ihm vorsichtig eine Hand auf den Rücken legte, beruhigte er sich wieder. Doch als wäre in diesem Moment bei meinem kleinen Freund ein Schalter umgelegt worden, ließ er sich von nun an nicht nur von mir anfassen, sondern schritt auch jedes Mal ein, wenn einer meiner Sparringspartner seiner Meinung nach zu grob mit mir umging. Das wurde so schlimm, dass wir den Trainingsort verlagern mussten. Aber als Guardian das mitbekam, begann er, mir kaum noch von der Seite zu weichen.

Von da an kam es nicht selten vor, dass er bei mir im Zelt schlief oder abends beim Lagerfeuer in meinem Schoß lag, nur um ein Auge auf mich haben zu können.

Im Großen und Ganzen lief alles prima, nur die Hitze machte mir weiterhin zu schaffen. Die Schwindelanfälle wurden mit der Zeit immer schlimmer statt besser. Anfangs war es nur leichter Schwindel, doch sieben Wochen später endeten diese Anfälle regelmäßig in einer plötzlichen Ohnmacht.

 

°°°°°

Tag Vierundsechzig

 

Der Schock des kalten Wassers im Gesicht riss mich mit der Wucht eines ICEs aus der Dunkelheit. Hustend drehte ich mich auf die Seite. Tropfen fielen aus meinem Haar, rannen mir über das Gesicht und flossen leise auf den Untergrund unter mir.

„Ruhig atmen.“ Ashas feingliedrige Hand strich mir beruhigend über mein Haar.

Ich schloss die Augen, sog hektisch Luft in meine Lungen. Schon wieder! Verdammt, was war das nur mit dieser Hitze? Eben noch hatte ich versucht, Steine durchscheinend werden zu lassen, und im nächsten Moment? Nichts mehr. Alles schwarz.

Nun lag ich keuchend am Boden und der Wassereimer in Kirans Hand verdeutlichte mir sehr klar, was während meiner Bewusstlosigkeit geschehen war. „Das einen ein holder Prinz wachküsst, ist wohl out“, überlegte ich und richtete mich halb auf.

Guardian geriet in mein Sichtfeld. Er saß direkt vor mir und beobachtete mich mit aufgestellten Ohren, als würde er darauf warten, was ich als nächstes tat.

Meine Haare waren klitschnass und meine Kleidung sah auch nicht viel besser aus. Zum Glück war der weiße Stoff der Tunika nicht durchscheinend, denn BHs waren in der magischen Welt ein Fremdwort.

Ashas Hand rutschte von meinem Kopf und glitt in ihren Schoß. „Es wird schlimmer.“ Der Ton in ihrer Stimme sprach von Sorge. „Wir haben dich nicht wach bekommen.“

„Ich muss mich nur an diese Hitze gewöhnen.“ Mein Lächeln geriet ein wenig schief und konnte die Sorge in ihren Gesichtern auch nicht vertreiben.

„Du bist seit fast zwei Monaten bei uns.“ Kiran ging in die Hocke und stellte den Eimer auf den Boden. „Du müsstest dich schon längst an die Hitze im roten Hinterland gewöhnt haben.“

„Ich glaube nicht, dass es an der Hitze liegt“, überlegte Asha.

Ich sah sie überrascht an. „Woran soll es denn sonst liegen?“ Es gab keinen anderen Einfluss, der mir so zusetzte. Aber … war das vielleicht der Grund, warum ich in die magische Welt gegangen war? War ich krank und hatte so versucht, meinem Schicksal zu entkommen? Diese Gedanken gefielen mir überhaupt nicht, deswegen schob ich sie entschieden von mir.

„Ich glaube, es liegt an der Magie“, sagte Asha vorsichtig.

„Die Magie?“ Okay, das war noch abwegiger als meine Überlegung mit der Krankheit. „Das kann ich mir nicht vorstellen.“

„Überleg doch mal“, drang sie weiter auf mich ein. „Deine Schwindelanfälle sind immer gekommen, kurz nachdem du Magie gewirkt oder mit ihr gearbeitet hast. Und je öfter du es tust, desto schlimmer wird es.“

„Es war aber auch immer heiß“, hielt ich dagegen. Die Magie sollte mich krank machen? Das konnte ich nicht glauben, dafür liebte ich die Magie und die Dinge, die man mit ihr tun konnte, einfach viel zu sehr.

Asha jedoch schüttelte den Kopf. „Kiran hat Recht. Du hättest dich längst an die Hitze gewöhnen müssen.“

„Das ist doch lächerlich“, sagte ich verärgert und machte mich von den beiden frei, um hochzukommen. Dass ich dabei einen Moment schwankte, versuchte ich zu kaschieren, aber ihren Blicken zu urteilen, war mir das nicht wirklich gut gelungen. „Das kann einfach nicht stimmen.“

„Es würde aber passen“, erklärte Kiran vorsichtig.

„Du bist eine Hexe mit so viel Macht, wie es sie eigentlich nicht geben dürfte. So etwas habe ich noch nie gesehen. Und vielleicht tut dir das nicht gut.“

Das konnte ich nicht glauben. „Gab es schon einmal eine Hexe, die von ihrer Magie geschädigt wurde?“

Asha zögerte, schüttelte dann aber den Kopf. „Nein, nicht so wie bei dir. Zumindest weiß ich von keinem Fall.“

„Und warum glaubst du dann, dass es bei mir so ist?“

„Weil es einfach zusammen passt.“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das kann nicht sein.“ Wie sollte etwas, das mir so viel Spaß machte, so schlecht für mich sein?

Guardian wurde unruhig. Er stand auf und sah unschlüssig zwischen uns hin und her.

Seufzend schüttelte Asha den Kopf. „Ich kann dich nicht zwingen, das zu glauben, aber ich bitte dich, vorsichtiger zu sein. Vielleicht solltest du deine Magie eine Zeit lang … einstellen. Dann können wir sehen, wer von uns beiden Recht hat.“

Ich kniff die Augen zusammen. Plötzlich kam mir ein ganz anderer Gedanke. „Du bist neidisch“, sagte ich leise.

„Bitte?“

„Du bist neidisch darauf, dass ich mehr Macht als du besitze, und deswegen versuchst du, sie mir madig zu machen.“

Bei der plötzlichen Anspannung richtete sich Guardians Nackenfell auf. Er schlich hinter Kiran entlang und stellte sich an meine Seite.

Nun glomm auch in Ashas Augen Verärgerung auf. „Du glaubst, ich sage das, weil ich neidisch bin?“

„Amir hat es doch einmal treffend gesagt. Ich habe die Kraft, etwas Großes zu vollbringen, und du nicht. Du bist nur eine Heilerin.“

Guardian regierte auf meinen aggressiven Ton mit einem Fauchen.

„Nur?!“ Asha ballte die Hände im Schoß zu Fäusten. „Ist das wirklich deine Meinung über mich? Glaubst du wirklich, meine Arbeit ist weniger wert als deine? Glaubst du, ich bin weniger wert als du, nur weil ich nicht über die gleiche Magie wie du verfüge?“

Nein, dass glaubte ich nicht, aber … „Ich gebe meine Magie nicht auf.“ Dafür bedeutete sie mir zu viel. Ich liebte das Gefühl, diesen leichten Rausch. Es konnte einfach nicht sein, dass meine Magie mich krank machte.

Kiran klatschte in die Hand, als wollte er unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. „In Ordnung, ich glaube, wir sollten uns jetzt alle beruhigen.“

Beruhigen? Sie wollte mir meine Magie wegnehmen. „Ich glaube, ich sollte mich ein wenig ausruhen“, entschied ich. Ich musste aus dieser Situation entkommen und das war die schnellste Möglichkeit. „Wir sehen uns sicher nachher auf dem Fest.“

Ohne ihnen die Gelegenheit weiterer Worte zu geben, wandte ich mich von ihnen ab und marschierte ins Lager – Guardian direkt in meinem Schatten.

Asha musste sich irren. Die Magie konnte nicht an meinen Schwindelanfällen schuld sein. Etwas, das sich so gut anfühlte, konnte einfach nicht schlecht sein. Ihre Vorstellungen waren absurd. Jedes Wesen in dieser verfluchten Welt besaß Magie oder wirkte sie auf seine ganz eigene Art. Warum sollte sie ausgerechnet mich krank machen? Ich war eine Hexe, eine mächtige noch dazu, und damit lebte ich nicht nur die Magie, ich war Magie.

Dieser faszinierende Gedanke hielt mich fest in seinen Klauen, seit er mir das erste Mal gekommen war. Und es war ja auch nicht so, dass ich, sobald ich Magie wirkte, in Ohnmacht fiel. In der Zwischenzeit tat ich es nämlich den ganzen Tag, bei jeder Kleinigkeit, die sich ergab.

Ich liebte die Magie, liebte die Dinge, die ich damit tun konnte, und die Möglichkeiten, die sich mir noch gar nicht eröffnet hatten. Es gab noch so viel, was ich lernen wollte. Nur leider hatte ich wohl gerade meine Lehrerin mächtig vor den Kopf gestoßen.

Als das schlechte Gewissen von mir Besitz ergriff, drückte ich die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. Der Vorwurf des Neides war ungerecht gewesen. Ich wusste das. Und ich schätzte Ashas Arbeit auch – wahrscheinlich mehr, als sie ahnte. Und trotzdem - in dem Moment, als sie mir die Magie verbieten wollte, war ich sauer geworden.

Wie ein trotziges Kind, ging es mir durch den Sinn.

Aber sie musste mich doch auch verstehen. Wie würde sie sich fühlen, wenn man ihr das nahm, was sie ausmachte?

Nein, ich hatte es ganz und gar nicht so gemeint, wie ich es gesagt hatte, und ich würde mich bei ihr entschuldigen, aber mit der Magie irrte sie sich. Es waren die Sonnen und die Hitze, die mir zu schaffen machten. Das hier war mein Körper, ich war es, die bereits mehrmals am Rande der Bewusstlosigkeit gestanden oder diese Linie sogar übertreten hatte, daher musste ich es doch am besten wissen.

Während meine Gedanken mich quälten und ich mit mir selbst unzufrieden war, lief ich durch das Lager. Ich hatte kein Ziel, wusste nur, dass ich von Asha und ihren Ansichten weg wollte. Ich achtete auch nicht darauf, wohin ich lief, also war es nicht verwunderlich, dass ich plötzlich von einer Brust wie ein Schrank gestoppt wurde. Und zwar, indem ich in sie hineinlief.

Mit einem „Uff“ prallte ich ab und landete nur nicht auf meinem Hintern, weil starke Arme nach mir griffen und mich aufrecht hielten.

„Hoppla, immer schön langsam.“ Ryu schenkte mir ein kleines Lächeln, das jedoch von einem Stirnrunzeln abgelöst wurde, als er mich musterte. „Alles in Ordnung mit dir?“

Davon abgesehen, dass ich gerade seine Freundin vor den Kopf gestoßen hatte, weil sie mir ihre absurde Theorie vorgelegt hatte? „Ja, alles bestens.“ Und trotzdem drückte mich das schlechte Gewissen nieder.

Ryu ließ seine Arme sinken. Er bewegte die Federn leicht, erzeugte damit ein leises Rascheln, wie ein Flüstern. „Sicher?“

Ein Stück hinter ihm trat Elias mit ein paar anderen Jägern aus der Feldküche. „Ryu? Wir wollen los.“

„Komme gleich“, rief er zurück, ließ mich aber nicht aus den Augen. Er wartete auf eine Antwort, doch ich war nicht bereit, sie ihm zu geben. Das war eine Sache zwischen Asha und mir und ich würde sie auch mit ihr klären.

Deswegen sah ich an ihm vorbei zu den Jägern. „Wo geht ihr hin?“ Für den Aufbruch zu einer Hatz war es bereits zu spät und von den beiden Dämonen, die sich im Moment in unserer Obhut befanden, war nur einer schwach genug, um ihn fortzubringen - und genau das taten Amir und Gaio gerade.

„Jagen. Wild. Unsere Vorräte sind ziemlich zur Neige gegangen und wir wollen für heute Abend einen schönen Braten besorgen. Und die Fallen müssen auch kontrolliert werden.“

Heute Abend, Amirs Geburtstag. Ich hatte überlegt, ihm etwas zu schenken, aber ich wusste nicht was. Bei Ryus Worten verzog ich trotzdem das Gesicht. Die Jagd war immer noch so eine Sache und da war es egal, ob es sich um einen Dämon oder ein unschuldiges Tier handelte, das wir auf den Grill packen wollten. Bisher hatte ich es noch immer geschafft, mich erfolgreich vor der Jagd zu drücken. „Ich dachte, ihr besorgt eure Vorräte in dieser Stadt. Sternheim.“ So war es die letzten Wochen zumindest immer gewesen.

„Manchmal brauchen wir eben ein wenig mehr.“ Da war wieder dieses leicht schiefe Lächeln. Er neigte den Kopf nachdenklich zur Seite und musterte mich. „Wenn du nichts Besseres zu tun hast, kannst du mitkommen. Ein paar helfende Hände können nicht schaden.“

„Ich soll mit auf die Jagd?!“

Mein Entsetzen brachte mir einen belustigten Blick ein. „Das kannst du gerne tun, aber wir brauchen auch noch ein paar andere Sachen. Beeren und Wurzeln zum Beispiel.“

Das war schon eher meine Kragenweite. Und vielleicht würde mich die Beschäftigung davon abhalten, mir weiter Vorwürfe zu machen, und diese abwegigen Gedanken aus meinem Kopf verbannen. „In Ordnung“, sagte ich deswegen. „Du Jäger, ich Sammler.“

Er nickte, verstand aber die offensichtliche Anspielung nicht. „Dann lass uns Okano holen.“

„Ich darf auf deinem Greif mitfliegen?!“

Dieses Mal war es meine Begeisterung, die ihn schmunzeln ließ. „So kommen wir schneller voran.“

Damit meinte er wohl meine Reitkünste – oder deren Nicht-Vorhanden-Sein. „Dann los.“ Ich war so schnell weg, dass ich nur noch sein Lachen hören konnte. Aber ehrlich, Okano war ein wunderschöner, schwarzer Greif. Wenn die Sonne auf sein Federkleid schien, bekam ich immer das Gefühl, den Nachhimmel mit den funkelnden Sternen zu sehen.

Welche Frau würde sich nicht freuen, einmal auf so einem wunderschönen Wesen reiten zu dürfen?

 

°°°

 

Tot - so würde ich diese Bäume beschreiben. Es war egal, was Ryu behauptete, dieses Wäldchen aus vertrockneten Gerippen war in meinen Augen nur noch Brennholz. „Was sind das für Dinger?“ Die Form der Stämme war seltsam. Sie wuchsen ein Stück in die Höhe, nur um sich dann zu kringeln, bis sie wieder den Boden berührten. Kreise, so würde ich das Aussehen beschreiben. Es gab sie in verschiedenen Größen, manche reichten mir nur bis zur Hüfte, andere überragten mich um einen ganzen Meter. Ich neigte den Kopf leicht zur Seite, um ihrem Verlauf zu folgen, aber auch jetzt wirkten sie nicht viel lebendiger. „Solche Bäume habe ich noch nie gesehen.“

„Cyclusbäume.“ Ryu stellte seinen Beutel neben mir auf den Boden. „Der beste Platz, um Chara zu finden.“

„Chara?“ Das klang in meinen Ohren wie ein Frauenname.

„Ein Pilz, der im Geschmack sehr scharf ist.“ Er band Okanos Zügel an einen der Bäume und ließ dann den Blick über die Wurzeln und Stämme gleiten.

Ich wusste nicht, was er zu entdecken glaubte, schließlich befanden wir uns in einer Wüste. Soweit ich wusste, mussten die Gebiete für Pilze feucht sein. Der Sand bot sicher keine angemessenen Nährstoffe für das Wachstum von Pilzen.

Guardian lugte hinter meinen Beinen hervor, als wollte er wissen, was Ryu dort trieb, als der vor einem Baum in die Hocke ging und an der Rinde rieb.

„Hier ist einer, komm her.“

Ich stellte mich hinter ihn und schaute über seine Flügel.

„Siehst du das?“ Er zeigte auf eine bläulich verfärbte Stelle unten am Stamm. Die Farbe schien aus dem Boden zu kommen und die Rinde hinaufzuklettern. Und irgendwie wirkte die Stelle … feucht. Seltsam.

„Nach solchen Stellen musst du Ausschau halten“, erklärte er mir. „Sie sind ein Zeichen für eine Chara. Und so bekommst du sie raus.“

Ich beugte mich ein wenig vor, um besser sehen zu können. Eine Feder kitzelte mich dabei im Gesicht.

Die bläuliche Stelle war etwas größer als Ryus Hand und mit dieser griff er, ohne zu zögern, in die blaue Masse hinein. Es gab ein glitschiges Geräusch und Rinde, die bis dahin fest gewirkt hatte, verflüssigte sich und verlief um seine Finger herum, bis sich am Fuß des Baumes eine kleine Pfütze aus Schleim bildete.

Ryu tastete tief in das entstandene Loch. Ich sah nicht genau, was er dort tat, aber als er seine Hand wieder hervorzog, befand sich darin eine blaue, schrumpelige Knolle mit einem weichen Dorn oben drauf. „Das ist eine Chara.“ Er hielt sie mir hin, damit ich sie besser sehen konnte. Auch sie wirkte leicht feucht. „Dieser Dorn“, erklärte er, „gräbt sich in den Baum hinein, um sich seine Nährstoffe nützlich zu machen. Deswegen wird der Stamm an der Stelle so weich und verfärbt sich. So findest du sie. Such einfach den Dorn, daran kannst du sie ganz leicht aus dem Boden ziehen.“ Er griff nach seinem Beutel, zog einen kleinen Stoffsack heraus und ließ die Chara dort hineinfallen. Dann reichte er mir den Sack. „Such einfach nach den blauen Stellen.“

„Reicht das denn? Also an Essen, meine ich.“

„Wir besorgen ja auch noch ein bissen was anderes und Amir schickt morgen eine Gruppe nach Sternheim, um Nachschub zu holen. Bis zu ihrer Rückkehr sollten unsere Vorräte noch reichen.“

Sternheim, die Stadt hinter dem Drachengebirge. Kiran hatte mir schon einiges darüber erzählt.

Ich nahm den Beutel und sah zu, wie Ryu seine Hand am losen Sand abrubbelte, um die Schmiere loszubekommen. Dann erhob er sich vom Boden. „Ich geh nur kurz die Fallen kontrollieren, du bleibst hier, bis ich dich abhole. Und pass auf Okano auf.“

Ich salutierte vor ihm und schlug die Hacken zusammen. „Aye, aye, Sir!“

In seinen Augen lag wieder diese Belustigung, als er sich seinen Beutel schnappte und durch das Wäldchen verschwand.

Die anderen Jäger, die mit uns losgezogen waren, hatten sich bereits in alle Himmelsrichtungen verstreut. Irgendwo sollte es eine Herde Cerva geben – was auch immer das sein mochte – und die wollten sie fürs Abendessen jagen.

Ich sah Ryu noch nach, bis das Licht der Sonnen ihn verschluckte, und machte mich dann daran, die Cyclusbäume nach blauen Stellen abzusuchen. Diese Aufgabe entpuppte sich als sehr einfach. Schon auf den ersten Blick entdeckte ich an einem Baum gleich zwei solcher Stellen.

Ich sank auf die Knie, legte den Beutel neben mich und griff freudig in die bläuliche Masse.

Diese war flüssig, leicht sämig und kühl. Je tiefer ich meine Hand in das kleine Loch schob, desto mehr quoll sie heraus, verflüssigte sich und vermischte sich mit dem roten Sand zu einer breiigen Pfütze.

Ein Geruch, der mich an Zwiebeln erinnerte, stieg mir in die Nase, während ich den Boden vorsichtig nach dem Dorn absuchte. Die Vorsicht war nicht nötig gewesen. Der Dorn war so weich, dass er sich unter meinen suchenden Fingern bog. Ich packte ihn, wie Ryu es mir erklärt hatte, und schwupp war ich im Besitz meiner ersten Chara.

Sie war ein wenig kleiner als die von Ryu, das Blau dafür aber etwas intensiver und die Haut so schrumpelig, dass sie mich an ein altes Weib erinnerte.

Der Gedanke ließ mich lächeln. Vielleicht würde ich im Alter auch mal so viele Falten haben. Nur hoffentlich würde ich dabei nicht so blau aussehen.

Grinsend verstaute ich meine Beute in dem kleinen Sack und machte mich dann an die nächste Stelle.

Ein Liedchen bildete sich auf meinen Lippen. Summend grub ich eine Chara nach der anderen aus. Doch als ich bei einem halben Dutzend angekommen war, musste ich wieder an Ashas Gesichtsausdruck denken, als ich sie bezichtigt hatte, neidisch zu sein.

Nein, nein, nein, nein - daran würde ich jetzt nicht denken. Ich hatte mich doch bereits entschlossen, mich bei ihr zu entschuldigen. Um mich abzulenken, suchte ich mit den Augen nach Guardian. Er hatte es sich in einem schattigen Plätzchen gemütlich gemacht und beobachtete eine kleine Eidechse, die an ihm vorbeirannte. Zumindest glaubte ich, dass es eine Eidechse war. So sicher konnte ich mir da auch nicht sein. 

Ihre sechs Beinchen trugen sie über den Sand, als würde sie fliegen, weg von mir und Guardian.

Mein Blick schweifte von dem kleinen Tier auf das Drachengebirge im Hintergrund. Riesig und majestätisch lag es in der Ferne.

Schatten lösten sich von dem Gestein und umkreisten die Gipfel - die Wesen, nach denen diese Berge benannt waren.

Es war nicht das erste Mal, dass ich sie erblickte – zumindest aus der Ferne. Von nahem hatte ich noch keinen gesehen und das war laut Kiran auch gut so. Er musste es wissen, denn aufgrund seiner Verwandtschaft war er früher oft in diesem Gebiet unterwegs gewesen und hatte sie bereits mehr als einmal aus der Nähe gesehen.

Sein Vater war wohl irgendein hohes Tier, das in Sternheim residierte.

„So bin ich hier gelandet“, hatte er mir eines Abends am Lagerfeuer erklärt. „Mein Papá wollte, dass ich endlich Verantwortung übernehme und die Jäger ein wenig überwache.“ Er hatte geschnaubt, als wäre allein der Gedanke daran absurd. „Ich bin wohl der einzige in diesem Lager, der nicht wegen einem Zusammenstoß mit den Dämonen hier gelandet ist. Naja, abgesehen von dir.“

Es hatte nicht so geklungen, als würde er seinem Vater diesen Schritt übelnehmen, und ich konnte ihn verstehen. Diese Wüste, das rote Hinterland, war trotz seiner erbarmungslosen Grausamkeit in all seinen Facetten wunderschön.

Es stimmte mich froh, hier gelandet zu sein und die Mortatia, die hier lebten, kennenlernen zu dürfen. Und trotzdem fragte ich mich, was es außer dieser Wüste sonst noch gab.

„Das rote Hinterland endet am endlosen Meer“, hatte Amir mir erklärt.

„Endloses Meer?“

„Es ist nicht wirklich endlos, das ist nur ein Name.“

„Und was liegt auf der anderen Seite? Hinter dem Gebirge?“

„Ein Wald. Ein Wald, der nur aus einer einzigen Art Bäume besteht: Wolfsbäume. Es ist der Wald der Lykaner, geschaffen durch ihre Magie, die sie der Erde zurückgegeben haben. Und er wird jedes Jahr größer.“

„Lykaner können Bäume erschaffen?“

„Eines ihrer wenigen Talente. Aber was wirklich beeindruckend ist, ist die gläserne Stadt Sternheim. Sie wurde von einer einzigen Hexe geschaffen, einer mächtigen Hexe. Aber auch sie kam nicht an deine Kraft heran.“

Solche Gespräche hatte es zwischen Amir und mir in den letzten Wochen zu Hauf gegeben. Egal mit welcher Frage ich an ihn herantrat, er hatte immer Zeit für mich und brachte mir eine Geduld entgegen, die er für die anderen Jäger nicht übrig hatte.

Der Gedanke an ihn ließ mich lächeln. Ich wusste nicht, was es war, aber in seiner Gegenwart fühlte ich mich immer … gut. Es war diese Ausstrahlung, die er besaß. Er war einfach … er. Ich mochte seine Gegenwart. Aber wenn morgen wirklich eine Gruppe nach Sternheim aufbrach, würde ich ihn wieder ein paar Tage nicht sehen. Amir begleitete diese Gruppen immer durch diese roten Weiten auf die andere Seite des Gebirges.

Wie es wohl dort drüben aussah? War das Land dort auch so roh und erbarmungslos unbeugsam? Nein, Amir hatte doch erzählt, dass dort ein riesiger Wald war, ein Wald voller Wolfsbäume. Ob Wolfsbäume genauso seltsam aussahen wie Cyclusbäume? Hatten sie die Form von Wölfen?

Ich versuchte mir das vorzustellen, aber irgendwie wollte es mir nicht gelingen. Okay, eine Felsformation, die zufällig die Form eines Wolfes hatte, befand sich noch in Reichweite meiner Vorstellungskraft, aber ein Baum? Das war doch …

Ein gewaltiger Knall ließ mich so schnell herumfahren, dass ich mir den Knöchel verdrehte. Guardian sprang alarmiert auf die Beine und fauchte, Okano kreischte erschrocken auf und stieg. Das einzige, was verhinderte, dass der Greif einfach davonlief, war die Leine, mit der Ryu ihn festgebunden hatte.

Ich schaute mich erschrocken um und dann entdeckte ich sie, die Lichtsäule.

Es war genau wie beim letzten Mal, als ich sie gesehen hatte. Riesig groß stieg sie in den Himmel hinauf, so gleißend hell, dass sie sogar den Schein der Sonnen übertrumpfte.

Am Boden hatte sich eine riesige rote Wolke wie ein Pilz aufgebaut, der das Phänomen noch gigantischer erscheinen ließ. Sie war noch gewaltiger als die andere, die ich gesehen hatte.

Magie trieb wie eine Welle auf mich zu, brachte meine Haut zum Summen und machte die Tiere nervös. Okano scharte mit den Krallen unruhig im Sand und tänzelte auf der Stelle, während Guardian sich mit angelegten Ohren duckte. Doch ich konnte meinen Blick einfach nicht abwenden.

Es war etwas Wunderschönes.

Magie, ging es mir durch den Kopf, das musste pure, reine Magie sein. Und genau wie beim letzten Mal, dünnte die Lichtsäule nach einem kurzen Moment einfach aus, bis sie einfach verschwand, als hätte sie niemals existiert.

Was folgte, war eine unheimliche Stille, bei der sich die Härchen auf meinen Armen aufstellten. Doch irgendwas war dieses Mal anders - oder bildete ich mir das nur ein? Es war einfach nur ein Gefühl, etwas beunruhigte mich und als Guardian plötzlich diesen Warnschrei ausstieß, fühlte ich mich an den Tag zurückversetzt, als die Erde unter meinen Füßen zu beben begonnen hatte.

Meine Atmung wurde schneller und auch das Herz in meiner Brust schlug plötzlich in einer beunruhigenden Geschwindigkeit. Mich befiel eine innere Unruhe, die ich nicht beschreiben konnte. Wenn die Erde nun zu beben begann, was sollte ich dann tun? Ich war mutterseelenallein in der Wüste. Natürlich wusste ich ungefähr, wo sich das Lager befand, aber es war fast eine Stunde von diesem Wäldchen entfernt.

Meine Muskeln waren so angespannt, dass sie fast schmerzten. Gegen das plötzliche Gefühl der Angst konnte ich nichts unternehmen, doch die Erde unter meinen Füßen blieb ruhig. Nichts geschah.

Aber da war etwas, ich spürte es genau.

Aufmerksam ließ ich meinen Blick über diese rohe Wildnis schweifen. Doch erst ein Donnergrollen brachte mich dazu, nach oben zu schauen, und was ich dort sah, verschlug mir für einen Moment den Atem.

Der Himmel hatte sich verfärbt. Das strahlende Blau war einem giftigen Grün gewichen, das ihn unwirklich erscheinen ließ.

Als es grollte, hielt ich den Atem an, aber es geschah nichts. Die Sonnen malträtierten die Welt weiter mit ihrer erbarmungslosen Hitze und die Erde brach zu meiner Erleichterung nicht auf. Da war nur dieses Grün.

Ein Knacken im Geäst ließ mich herumfahren und Guardian einen erschreckten Satz zurück machen, doch es war nur Ryu, der auf mich zugeeilt kam.

„Der Himmel … was …“

„Wir müssen zurück“, erklärte er kurz angebunden und verstaute seinen nun deutlich vollen Beutel an Okanos Sattel.

„Aber … was ist das?“ Es war doch nicht normal, dass der Himmel sich einfach grün färbte, nicht mal für die magische Welt. Oder? Jedenfalls hatte ich sowas noch nie erlebt und Ryu schien von diesem Phänomen auch leicht beunruhigt.

„Das Beste ist, wenn wir ins Lager zurückkehren“, antwortete er ausweichend und machte Okano vom Ast des Cyclusbaumes los. Sein Blick huschte kurz hinauf, dann schwang er sich in den Sattel. „Komm.“

Ich zögerte einen Moment, aber wahrscheinlich war das die klügste Entscheidung, die wir treffen konnten, denn was sollte ich schon gegen einen grünen Himmel ausrichten? Und so bedrohlich, wie er wirkte, schien von ihm doch keine Gefahr auszugehen – zumindest nicht im Moment.

Selbst Guardian tänzelte bereits nervös neben Okano herum, als wartete er nur darauf, dass wir endlich aufbrachen.

Ich schnappte meinen kleinen Stoffsack mit den Pilzen und schwang mich mit Ryus Hilfe hinter ihn in den Sattel. Er wartete kaum, bis ich richtig saß, als er Okano auch schon die Sporen gab. Dann rasten wir auch schon in einem halsbrecherischen Tempo über die Ebenen des roten Hinterlandes und ließen nichts als eine Staubwolke hinter uns zurück.

 

°°°

 

Das leise Plätschern des kristallklaren Wassers und der Wind, der über die Ebenen streifte, waren die einzigen Geräusche in der anbrechenden Dämmerung.

Der Horizont hatte sich in einen dunklen Rotton verfärbt, der das verblassende Grün des Himmels fast völlig überdeckte. Und doch wusste ich, dass er noch da war. Es war, als könnte ich es spüren. Der grüne Himmel, er hatte eine magische Note, doch weder ich noch die anderen Jäger wussten, was diese Erscheinung zu bedeuten hatte.

Als wir im Lager angekommen waren, hatten sich bereits alle versammelt. So etwas war noch nie geschehen und auch sie wussten nicht, was es zu bedeuten hatte. Die Spannung und Unruhe, die geherrscht hatten, waren greifbar gewesen, und mehr als einmal war auch bei den anderen die Erinnerung an das Erdbeben aufgekommen.

Erst Amir hatte für etwas Ruhe sorgen können. „Es schein nicht bedrohlich zu sein“, hatte er gesagt. Er war so beherrscht gewesen. Diese Erscheinung schien ihn nicht im Mindesten beunruhigt zu haben. „Und solange sich das nicht ändert, werden wir einfach weiter machen, also geht an die Arbeit.“

Das hatten die Jäger dann auch getan, doch ihre Anspannung war nicht gewichen. Die Blicke waren den ganzen Nachmittag immer wieder nach oben gewandert und hatten das Verblassen des grünen Himmels verfolgt.

Auch meine Unruhe war nicht verschwunden. Ich spürte die Anspannung noch immer in meinen Muskeln und auch Guardian, der nun im Schatten der Felsformation lag und mich beim Bad in der Lagune beobachtete, schien wachsamer als sonst zu sein.

Es war das einzige, was ich hatte tun können. Nicht nur, dass mir der Schleim der Chara noch unter den Fingernägeln klebte, der Staub des roten Hinterlandes hatte sich auch in jede meiner Poren gegraben und der Schweiß des Tages hatte den Rest dazu beigetragen. Außerdem entspannte mich das Baden in der Lagune immer ein wenig.

Es war wunderschön hier.

Die Felsformation bildete einen breiten Vorsprung, der seinen Schatten über die Lagune warf. Das Wasser stammte aus einer unterirdischen Quelle, die ihren Ursprung wohl im Drachengebirge hatte, und sammelte sich in einer großen Kuhle vor dem Steinmassiv.

Ein paar grüne Farne und Gestrüppe hatten es geschafft, am Rand Fuß zu fassen und auch in dieser rücksichtslosen Wildnis zu überleben.

Ich grub meine Zehen in den weichen Boden, der das Wasser rötlich erscheinen ließ, und genoss es, wie der Schmutz des Tages von mir abgespült wurde.

Normalerweise waren das die Momente, in denen ich völlig abschalten konnte, doch heute wollten meine Gedanken mich einfach nicht in Ruhe lassen. Nicht nur der Streit mit Asha belastete mich, auch der verfärbte Himmel verursachte mir Kopfzerbrechen. Die einzige Hoffnung, die ich noch hatte, war das Fest nachher. Vielleicht konnte ich mich so ein wenig ablenken.

Als Guardian den Kopf hob und leise zirpte, folgte ich seinem Blick, doch die wenigen Pflanzen verhinderten eine weite Sicht. Wahrscheinlich ein anderer Jäger, der sich entschlossen hatte, die Ereignisse des Tages mit einem Bad abzuwaschen.

Damit war es mit meiner Ruhe wohl vorbei. Nicht dass ich ein Problem damit hatte, mich nackt vor anderen zu zeigen, doch als Elias mich einmal so entdeckt hatte, war er sofort wieder geflüchtet und hatte mir fast eine Woche nicht mehr in die Augen sehen können.

Es war irgendwie niedlich gewesen. Trotzdem erhob ich mich nun seufzend aus dem warmen Wasser und griff nach meinem Handtuch. Genau in dem Moment, als ich die Schritte hörte, die auch sofort wieder verstummten.

„Ich wusste nicht, dass besetzt ist.“

Amir.

Okay, mit ihm hatte ich nun nicht gerechnet.

Lächelnd hob ich den Blick und wickelte mich dabei in mein Handtuch ein. „Kein Problem. Ich bin gerade fertig geworden. Du hast die Lagune für dich allein.“

Als er beobachtete, wie ich meine nassen Haare nach hinten strich, befiel mich wieder dieses leichte Kribbeln im Magen, das in seiner Gegenwart so oft auftauchte. Doch trotzdem bemerkte ich die Erschöpfung in seinem Gesicht. „Anstrengender Tag, hm?“

„Unvorhergesehen“, murmelte er und trat in den inneren Kreis der Pflanzen. Er nahm seine Peitsche von der Hüfte und ließ sie in den Sand fallen. Sein Gürtel folgte.

Mein Blick glitt, wie so oft in den letzten Stunden, hinauf in den Himmel. „Hast du eine Ahnung, was das bedeutet?“

„Ich bin mir nicht ganz sicher.“ Er zog sich die Tunika über den Kopf und ließ sie zu seinen anderen Sachen in den Sand fallen. Dabei gab er mir einen prächtigen Ausblick auf die Muskelarbeit seiner Schultern.

Amir war gut gebaut. Es war nicht das erste Mal, dass ich das sehen konnte, und bei unserem Nahkampftraining hatte ich es auch schon mehr als einmal fühlen dürfen. Die Arbeit im roten Hinterland hatte seinen Körper nicht nur geformt, sondern auch gestählt, und ich konnte ohne rot zu werden zugeben, dass mir gefiel, was ich sah.

„Nicht ganz sicher heißt, du hast eine Vermutung“, überlegte ich und bewegte mich keinen Schritt von der Lagune weg. Diesen Anblick wollte ich mir nicht entgehen lassen. Wer konnte schon sagen, was ich sonst noch zu sehen bekommen würde?

Amir befreite seine Füße von Schuhen und Socken. „Ja, habe ich.“

Diese Worte verdrängten meine Faszination für seinen Körper augenblicklich und ließen mich hellhörig werden. „Wirklich?“ Er wusste, was das bedeutete?

„Ja, wirklich.“ Er richtete sich auf und stemmte die Arme in die Hüften. Er hatte wohl nicht vor, sich vor meinen Augen weiter zu entkleiden.

„Und?“, drängte ich.

Er zuckte nur nichtssagend mit den Schultern. „Ich bin mir noch nicht sicher, deswegen möchte ich es vorerst für mich behalten. Ich möchte einfach nicht, dass Spekulationen aufkommen.“

Diese Worte hörten sich nicht sehr beruhigend an. Wieder schweifte mein Blick nach oben. Die Farbe Grün an sich war nicht gefährlich, doch wie sie entstanden war, hatte schon etwas Beunruhigendes an sich. Dabei konnte ich nicht einmal sagen, ob sie wirklich von der Lichtsäule stammte, denn außer mir war sie niemandem aufgefallen. Auch Ryu nicht und der hatte sich, laut seiner Aussage, in meiner Nähe befunden. Die Jäger waren nur durch das Grollen des Himmels darauf aufmerksam geworden, der Rest blieb vor ihrer aller Augen unentdeckt.

Ich hörte nicht, wie Amir näher trat, spürte es nur, und als ich den Blick wieder senkte, stand er direkt vor mir, in seinen Augen wie immer ein undeutsamer Ausdruck. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“ Die inzwischen vertraute Berührung an meiner Wange ließ meine Haut angenehm kribbeln. „Wenn es das ist, was ich denke, ist es eine gute Sache. Vertrau mir einfach.“

„Wie kann ein grüner Himmel eine gute Sache sein?“

Er neigte seinen Kopf in der Art, wie die Schlangen auf seinem Kopf es immer taten, die Schlangen, die sich züngelnd um sein Gesicht wiegten und immer wieder seine Haut streiften.

Wieder überfiel mich das Bedürfnis sie anzufassen, doch das verräterische Zucken meiner Hand blieb von ihm unentdeckt.

„Grün ist die Farbe des Frühlings“, sagte er leise. „Der Entstehung und Erneuerung. Sie ist rein und unschuldig.“

So hatte ich das noch nie gesehen. Für mich stand eigentlich die Farbe Weiß für Reinheit und Unschuld, doch auch in seinen Worten lag eine Wahrheit, die ich nicht ablehnen konnte. Grün, wie die Augen der Schlangen auf seinem Kopf.

Wieder zuckte meine Hand. „Ähm … darf ich dich mal etwas fragen?“

„Natürlich, das weißt du doch.“ Er ließ die Hand sinken, doch die Berührung konnte er damit nicht von meiner Haut nehmen, ich spürte sie immer noch.

„Es klingt aber vielleicht ein wenig seltsam. Und wenn du nein sagst, dann ist das auch völlig in Ordnung.“

„Jetzt machst du mich aber neugierig.“

Ich biss mir auf die Lippen. Sollte ich wirklich fragen? Warum nicht? Mehr als Nein konnte er nicht sagen. „Seit ich dich das erste Mal gesehen habe, wollte ich etwas machen.“

Seine Lider sanken ein wenig herab und seine Pupillen schienen sich zu verengen. „Und was?“

„Naja …“ Eine besonders freche Schlange züngelte sich an Amirs Wange herab. Er bemerkte es nicht einmal. „Deine Schlangen“, sagte ich langsam. „Ähm … darf ich sie mal anfassen?“ Okay, jetzt war es raus.

Was nach dieser Frage in Amirs Kopf vor sich ging, war nicht zu erraten, und ich wollte mich schon für meine aufdringliche Frage entschuldigen, als er sich mir entgegen neigte. Warum nur beschleunigte diese Geste meinen Herzschlag so?

„Nur zu“, sagte er leise.

Ich zögerte einen Moment, schloss und öffnete meine Hand, bevor ich sie nach den Schlangen ausstreckte und der an seinem Gesicht vorsichtig mit dem Finger über den Kopf strich. Sofort richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf mich. Auch ein paar der anderen Schlangen schienen meine Nähe zu wittern und streckten sich mir entgegen, um über meine Haut zu züngeln. Das kitzelte.

„Sie sind wunderschön“, hörte ich mich sagen, während ich über das glatte Schuppenkleid strich. Ich wurde mutiger und strich auch über andere Köpfe. Deswegen bemerkte ich nicht gleich, wie er mich beobachtete.

Ich konnte gar nicht anders als ihn anzulächeln. „Spürst du das?“

„Ja.“

Das ließ mich etwas breiter lächeln. „Ist es unangenehm?“

„Nein. Es ist, als würdest du über meinen Kopf streicheln.“ Seine Stimme war nur noch ein Flüstern.

Plötzlich wurde mir bewusst, wie nahe wir uns in der Zwischenzeit gekommen waren. Seine Lippen waren nur einen Hauch von meinen entfernt und diese Nähe ließ in mir einen unerwarteten Wunsch aufkeimen.

Ich ließ meine Hand sinken, rückte aber nicht ab. „Ich hab dir noch gar nicht zum Geburtstag gratuliert.“ Auf einmal wusste ich ganz genau, was ich ihm zu seinem Ehrentag geben konnte – und vor allen Dingen auch wollte.

„Dieser Tag ist mir nicht so wichtig.“

„Aber ich würde dir gerne etwas schenken.“

„Ich lege keinen Wert auf Besitztümer.“

Das glaubte ich ihm sofort. „Ein solches Geschenk meine ich nicht.“ Ich rückte ein wenig näher, spürte die Wärme, die von seinem Körper ausging, und streckte mich seinem leicht geöffneten Mund entgegen. Meine Lippen trafen vorsichtig auf seine, doch das Gefühl ließ meinen Magen wieder kribbeln. Als er dann begann, meinen Kuss zu erwidern, schlossen sich meine Augen flatternd, um dieses Gefühl noch intensiver zu erleben.

Ich wusste nicht, was er dachte, doch er folgte meinen Bewegungen. Vorsichtig, sanft, zärtlich.

Eine Berührung an der Wange ließ mich einen Moment glauben, dass er seine Hand wieder gehoben hatte, doch dann wurde mir klar, dass es eine der Schlangen war. Als würde sie mir ihre Zuneigung zeigen wollen. Und sie war auch nicht die einzige.

Doch dieser Kontakt schreckte mich nicht ab, er gehörte zu ihm und dieses Gefühl verstärkte das Kribbeln nur noch.

Meine Hände begannen ein Eigenleben zu entwickeln, als er näher an mich heranrückte. Sie schoben sich über seine Brust, strichen über die Muskeln.

Als ich die Berührung an der Hüfte spürte, wusste ich sofort, dass es sich dabei nicht um eine der Schlangen handelte. Es war seine Hand. In der Zärtlichkeit dieses Kusses begann er mich zu berühren und ließ die Haut unter meinem Handtuch prickeln.

Dieser Moment im Sonnenuntergang, er war einfach perfekt. Zumindest bis zu dem Augenblick, als sich direkt neben uns jemand räusperte.

Ich zuckte nicht zurück und auch er löste seine Lippen nur langsam von meinen. Doch diesen Blick dabei würde ich wohl niemals vergessen. Es war das erste Mal, dass ich ein Gefühl – ein echtes Gefühl – in seinen Augen wahrnahm. Zuneigung.

Ich ließ mich zurück auf die Füße sinken und lächelte ihn an.

„Ich würde gerne heute noch baden gehen“, murrte Gaio neben uns. „Also wenn ihr das woandershin verlegen könntet ...“

„Alles Gute zum Geburtstag“, flüsterte ich, ohne den Gargoyle zu beachten, und nahm meine Hände von seiner Brust. Auch er brach nach einem letzten Streicheln über meine Hüfte den Kontakt ab und trat einen Schritt von mir zurück.

Er sagte nichts, als ich meine Sachen vom Boden aufsammelte, doch seinen Blick spürte ich sogar, als ich ihm für einen Augenblick den Rücken zudrehte.

„Wir sehen uns nachher“, sagte ich zu Amir und zu Gaio: „Schön, dich zu sehen.“

Gaio grummelte nur etwas in seinen nicht vorhandenen Bart, das wahrscheinlich nicht mal er selbst verstand.

Ich lächelte den beiden Männern zu, dann machte ich mich mit Guardian an meiner Seite auf den Weg zurück ins Lager. Doch bevor ich um das Felsmassiv herum verschwand, warf ich noch einen letzten Blick über meine Schulter. Amirs Blicke folgten mir noch immer.

 

°°°

 

„Woah, nein! Kiran, lass mich runter!“

Er lachte nur und trug mich unter den jubelnden Rufen der anderen weiter auf das Trinkbecken der Greife zu.

„Das kannst du nicht machen!“

„Du hast es herausgefordert.“ Übertrieben gespielt klatschte er mir auf den Hintern.

„Nein, es war nicht so gemeint, ich schwöre es dir!“ Ich stemmte mich an seinem Rücken auf die Arme und sah bang, wie der Wassertrog immer näher kam. Dabei hatte ich doch gar nichts Schlimmes gemacht. Okay, vielleicht wäre es angebracht gewesen, nicht lauthals zu verkünden, wie sehr er schon den ganzen Abend der einen Jägerin auf den Hintern starrte, aber das hier war dann doch schon ein wenig übertrieben.

„Kiran!“

Als er anhielt, krallte ich mich in seine Tunika, was ihn nur noch breiter grinsen ließ. Er packte mich an der Hüfte, doch ich wehrte mich tapfer gegen das ungewollte Bad. Dann ging alles ganz schnell. Plötzlich wurde das Hemd rutschig – ich vermutete ja sehr stark, dass er gezaubert hatte – und ich glitt ab. Was folgte, war ein kontrollierter Fall, aber anstatt im Becken zu laden, schaffte ich es irgendwie, den Rand zu treffen.

Ich landete sehr unelegant auf meinen Füßen. Der Bottich kippte durch meinen Schwung um und das Wasser ergoss sich über Kiran. Wie genau ich das geschafft hatte, war mir nicht klar, aber ich hatte keinen Tropfen abbekommen, wohingegen Kiran von der Taille abwärts aussah wie ein begossener Pudel und irgendjemand dringend neues Wasser für den Trog ranschaffen musste.

Lautes Lachen schallte zu uns rüber.

Kiran kniff die Augen zusammen. „Das hast du mit Absicht gemacht.“

„Hab ich nicht.“ Mein Grinsen wurde immer breiter. „Aber wenn ich es gekonnt hätte, dann hätte ich es auf jeden Fall mit Absicht getan.“

„Na warte.“

Ich lachte auf, als er sich auf mich stürzte, schlug einen großen Bogen zurück zu den anderen am Lagerfeuer und versteckte mich hinter Gaios breiten Flügeln. Der mürrische Gargoyle jedoch schob mich nur genervt zur Seite und schaute mich leicht pikiert an, als ich mich trotz dieser offensichtlichen Zurückweisung ganz nahe neben ihn setzte und ihn damit in seiner Bewegungsfreiheit einschränkte.

Doch als Kiran sich neben uns aufbaute, reichte ein Blick von Gaio, damit der Magier einfach nur die Arme vor der Brust verschränkte und mich böse anfunkelte. Tja, Gaio mochte diese Kindereien halt nicht - und ich hatte das gewusst.

„Sowas hättest du dich nicht getraut, wenn du wüsstest, wer mein Papá ist“, schimpfte Kiran und ließ sich ein Stück weiter ans Lagerfeuer sinken.

„Vielleicht der Mann, der dich gezeugt hat?“

„Mein Papá ist der Vertreter der Magier im Hohen Rat.“

Da ich keine Ahnung hatte, was der Hohe Rat war, bewirkten die Worte wohl nicht das, was Kiran sich erhofft hatte.

„Keinen Respekt“, grummelte er und zupfte an seiner nassen Hose.

„Was ist denn der Hohe Rat?“

„Die Regierung unserer Welt.“ Gaio legte seinen Teller vor sich auf den Boden und stützte dann die Arme auf die Knie. Dabei rückte er deutlich ein Stück von mir ab. Das hieß dann wohl so viel wie: Rück mir nicht so auf die Pelle. „Der Hohe Rat besteht aus einem Vertreter jeder mortatischen Spezies.“

„Auch einer Hexe?“

Gaio nickte. „Und einem Gargoyle, einem Engel und natürlich dem hochgeschätzten Papá unseres kleinen Magiers.“ Diese Worte kamen ihm so spöttisch über die Lippen, dass mich Kirans böser Blick nicht verwunderte.

„Und was machen die?“

„Sie regieren die Welt.“

Die Welt regieren. Bilder der Politik kamen mir in den Sinn, sowohl aus der Vergangenheit als auch aus der Gegenwart. Demokratie, Monarchie, Diktatur. Berufe, die mit sehr viel Verantwortung, Stress und Zeit verbunden waren. „So einen Job würde ich ja nicht haben wollen.“

Kiran verzog das Gesicht. „Ich danke dir für deine offenen Worte.“

„Warum?“ Was hatte ich denn jetzt falsches gesagt?

Die Männer neben mir lachten. Elias war gerade dabei, ihnen mit sehr viel Gestik eine Geschichte zu erzählen, aber scheinbar hatte er dem Rum ein wenig zu gut zugesprochen. Seine Worte waren kaum mehr als ein Nuscheln und er geriet auf seinem Baumstamm mehr als einmal stark ins Wanken.

„Kiran ist der amtierende Nachfolger auf diesen Posten“, erklärte Gaio mir. Auch sein Blick war auf den schwankenden Elias gerichtet. „Er ist nur hier, um etwas über das Leben zu lernen.“

„Und weil der Hohe Rat der Meinung ist, dass eine Gruppe Hinterwäldler Überwachung …“ Er wich lachend zur Seite, als ein Stein auf ihn zugeflogen kam.

„Wen nennst du hier einen Hinterwäldler?“

„Wem die Jacke nicht passt …“, lächelte ich.

Neben mir gab es einen Plumps, dem lautes Gelächter folgte. Elias hatte es geschafft, er war hinten übergekippt. Aber auch die beiden Jäger neben ihm schienen nicht mehr ganz standhaft zu sein.

Als Amir einen Moment später zwischen den Zelten auftauchte, begann das Gejohle von neuem und die Jäger brachen sogar in Applaus aus.

Mich ließ sein Anblick nur lächeln und obwohl er diesen kühlen Blick behielt, als er ihn für einen Moment auf mich richtete, wusste ich genau, dass er an das gleiche dachte, was mir in diesem Moment durch den Kopf ging.

Der Kuss.

Ich war mir immer noch nicht ganz sicher, was in diesem Moment über mich gekommen war, doch ich war froh, dass ich es getan hatte. Es hatte mir gefallen, nur bei ihm war ich mir da nicht ganz sicher.

Mein Lächeln wurde ein wenig wehmütig, als er sich zu den Leuten am anderen Lagerfeuer gesellte, wo brutzelnd ein Cerva am Spieß hing.

Wie sich herausgestellt hatte, war ein Cerva die magische Variante eines Hirschs. Das zumindest hatten meine Augen mir zu vermitteln versucht, denn diesem Tier, das nun seine Runden über dem Feuer drehte, hatten zusätzlich zum Geweih noch Stacheln vom Kopf bis zum Rumpf aus dem Rücken geragt. Außerdem hatte es drei lange Schwänze gehabt, die mich an Peitschen denken ließen. Doch die Farbe des Fells war wunderschön gewesen. Es hatte geschimmert wie das Innere einer Muschel.

So zumindest hatte es ausgesehen, bevor der Küchenchef sich darüber hergemacht hatte.

Nun ließ sich Amir ein Stück von dem Fleisch herausschneiden und reichen. Die Schlangen auf seinem Kopf wiegten sich dabei hin und her. Wunderschön. Doch so schön das Ganze auch gewesen war, so erschien mir dieser Kuss im Nachhinein doch viel zu kontrolliert. So wie Amir immer war.

Würde es eine Wiederholung geben, oder war das ein einmaliges Ereignis gewesen? Gegen eine Wiederholung hatte ich jedenfalls nichts einzuwenden.

Ein Finger schnipste vor meiner Nase und holte mich damit aus meinen Gedanken.

„Komplett weggetreten“, erklärte Kiran grinsend und ließ seinen Arm wieder sinken.

„Das sind die Hormone“, erklärte Gaio, griff nach seinem Teller und erhob sich damit.

„Hormone?“ Neugierig sah Kiran ihm nach, doch die erhoffte Antwort blieb aus.

Ich lächelte nur nichtssagend und beobachtete, wie Gaio zu Amir ging und ein paar Worte mit ihm wechselte.

„Manchmal ist er schon komisch“, sinnierte Kiran.

„Eigentlich nicht. Er plaudert einfach nur nicht aus dem Nähkästchen.“

Kirans stützte den Kopf auf die Hand und musterte mich mit einem merkwürdigen Blick.

„Was?“

„Manchmal sagst du echt seltsame Dinge.“

„Ähm …“ Was sollte ich dazu sagen? Außer dem inneren Kreis und Asha wusste ja niemand, woher ich in Wirklichkeit stammte, und das sollte auch so bleiben.

„Tiara.“

Als ich aufblickte, stand Amir neben mir. Ich lächelte ihn an, aber es war nicht plötzlich komisch oder etwas in der Art. Ich hatte auch nicht das Bedürfnis, nervös auf meinem Hintern rumzurutschen und mich mit Fragen zu quälen, die nur den Inhalt enthielten, wie es nun zwischen uns weitergehen würde. Das war immer noch Amir. „Hallo Geburtstagkind.“

Mit dem Teller in der Hand setzte er sich neben mich auf den Baumstamm und ignorierte Kirans Anwesenheit einfach. „Ich werde ab morgen für ein paar Tage weg sein“, kam er direkt zum Punkt.

„Nachschub in Sternheim holen, ich weiß schon.“ Zwar würde mir das Training mit ihm ein wenig fehlen, aber es war ja auch nicht das erste Mal, dass er die Jäger begleitete. Und nur, weil wir uns jetzt geküsst hatten, drehte die Welt sich nicht plötzlich in eine andere Richtung.

„Ich möchte, dass du uns begleitest.“

Okay, damit hatte ich nicht gerechnet.

„Jeder Jäger muss diese Aufgabe hin und wieder übernehmen“, erklärte er und neigte den Kopf leicht zur Seite. Eine seiner Schlangen streckte sich nach vorne und züngelte witternd in der Luft. „Außerdem möchte ich das Training nicht unterbrechen.“

„Okay, bin dabei. Wann geht’s los?“

„Noch vor dem Morgengrauen. Wir werden eineinhalb Tage brauchen. Nimm nur das Nötigste mit. In spätestens vier Tagen sind wir wieder zurück.“ Sein Blick glitt an mir vorbei zu einem Punkt im Schatten und als ich mich umsah, entdeckte auch ich Guardian, der sich ein wenig abseits der Feiernden hielt.

„Er lässt sich nicht abschütteln.“

„Sternheim ist kein Ort für ihn. Genau wie das Gebirge und der Wald dahinter.“

Der Wald mit den Wolfsbäumen. Hatte ich mich nicht erst vorhin gefragt, wie die wohl aussahen? Und jetzt würde ich es sehen. Aber Amir hatte Recht. „Ich weiß nicht, wie ich ihn zum Bleiben überreden kann.“

„Dann müssen wir ihn einsperren.“

„Einsperren?!“ Er wollte meinen kleinen Freund in einen Käfig sperren?

„Es ist nur zu seiner Sicherheit.“

Guardian hob den Kopf. Die Ohren neugierig aufgestellt, lauschte er meiner Stimme. Ich verstand Amir ja, aber der Gedanke, den Kleinen hinter Gitter zu stecken, wollte mir nicht gefallen.

„Wir werden einen Käfig mitnehmen, den wir nur benutzen werden, wenn er uns aus dem roten Hinterland hinaus folgt.“

Das machte es in meinen Ohren nicht unbedingt besser.

Als wieder lautes Gejohle aufkam, wandte ich ihm meine Aufmerksamkeit zu. Ryu war aus der Versenkung aufgetaucht und an seiner Seite stand Asha.

Glaubst du wirklich, meine Arbeit ist weniger wert als deine? Glaubst du, ich bin weniger wert als du, nur weil ich nicht über die gleiche Magie wie du verfüge?

„Würdet ihr mich einen Moment entschuldigen?“ Ich hatte noch etwas Dringendes zu erledigen und im Gegensatz zu Amirs Kuss verursachte mir diese Sache wirklich Herzklopfen.

Ich erhob mich und ging langsam um das Lagerfeuer auf die beiden zu, doch sie waren so in ihr Gespräch mit dem Koch vertieft, dass sie mich gar nicht bemerkten.

„Asha?“, fragte ich leise.

Sie drehte sich zu mir herum und das kleine Lächeln, das eben noch ihre Lippen geziert hatte, fiel in sich zusammen.

Ich biss mir nervös auf die Lippe. „Hast du einen Moment für mich Zeit? Bitte.“

Auch Ryu hatte mir seine Aufmerksamkeit zugewandt. Ich wusste nicht, ob Asha ihm erzählt hatte, was zwischen uns vorgefallen war, er wirkte jedenfalls nicht sauer. Oder verletzt, so wie seine Frau. „Geh nur.“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich muss eh noch mit Amir sprechen.“

„Der sitzt da drüben“, sagte ich unnötiger Weise und zeigte in die Richtung. Dabei fiel es mir nicht einfach, Ashas Blick standzuhalten.

„Sprich mit ihr“, sagte Ryu und verschwand von ihrer Seite.

„Also?“

Ich schaute zum Koch, der zwar so tat, als würde er uns nicht lauschen, dies aber nichts sehr überzeugend tat. Wie die anderen hatte wohl auch er dem Alkohol heute schon sehr zugesprochen.

Asha seufzte und wandte sich ab. „Komm mit.“

Mit ihr Schritt zu halten, war nicht ganz einfach. Sie schien so schnell verschwunden zu sein, dass ich ihr praktisch hinterherrennen musste. Dabei fiel ich auch noch fast über Guardian, der plötzlich um mich herum sprang, als glaubte er, ich wollte mit ihm spielen.

Zu Fuß war Asha echt schnell. Sie durchquerte das Lager wahrscheinlich in Rekordzeit und blieb erst stehen, als wir am anderen Ende angekommen waren, wo es vor uns nichts weiter als die endlose Wildnis des roten Hinterlandes bei Nacht gab. Dieser Anblick nahm mich jedes Mal aufs Neue gefangen.

Die Stimmen und das Gelächter rückten in den Hintergrund. Ich zögerte, an Ashas Seite zu treten. Wie sie dort mit verschränkten Armen stand, wirkte sie nicht im Mindesten zugänglich, so ganz anders als sonst. Mir wurde bewusst, dass ich mit meinen Worten wohl mehr angerichtet hatte, als mir bisher klar gewesen war.

„Wenn man meine Dummheit auf einer Skala von eins bis zehn beurteilen müsste, würde ich wohl locker eine elf bekommen, was?“ Die erhoffte Reaktion blieb aus.

Seufzend stellte ich mich neben sie und beobachtete einen dunklen Schatten, der sich vom Gipfel des Drachengebirges löste und seiner Runden über den sternklaren Himmel zog. Von dem Grün war nichts mehr übrig geblieben. Alles wirkte … normal, so als wäre nie etwas geschehen. „Es tut mir leid“, sagte ich leise. „Ich hätte das nicht sagen dürfen. Ich war nur … ich weiß nicht.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich liebe die Magie, aber das ist noch lange keine Entschuldigung für das, was ich gesagt habe.“

„Nein, ist es nicht“, stimmte sie mir zu.

Guardian schlich auf lautlosen Pfoten um mich herum und setzte sich in meinen Schatten.

„Das was du tust, wie du dich um die Jäger kümmerst … deine Arbeit ist wichtig.“ Ich schluckte, als ich mir den Anfang unserer Bekanntschaft in Erinnerung rief. „Wärst du nicht gewesen, wäre ich heute tot und …“ Verdammt, wie sollte ich das nur ausdrücken? „Ich war nur … ich weiß nicht. Ich wollte mir die Magie nicht verbieten lassen, weil ich weiß, dass du dich irrst.“ Die Magie konnte einfach nicht an den Schwindelanfällen schuld sein. Das war unlogisch.

Stille kehrte ein.

Der Drache zog noch immer seine Kreise, als genösse er die nächtliche Ruhe.

„Ich bin in diesem Lager aufgewachsen“, sagte sie leise. „Meine Schwester ist einem Zirkel beigetreten – einem der größten auf diesem Kontinent – und auch ich hätte dort Zutritt haben können, aber ich bin hier geblieben.“

„Wegen Ryu.“ Das hatte sie mir schon einmal erzählt.

„Aber auch, weil ich hier gebraucht werde.“ Sie seufzte und ließ den Kopf etwas hängen. „Im Zirkel wäre ich nur eine von vielen gewesen, doch hier bin ich etwas …“

„Besonderes.“

Ein kleines Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Das wollte ich zwar nicht sagen, aber danke.“ Auch sie richtete ihren Blick auf den Drachen in der Ferne. „Hier werde ich gebraucht und das ist mir wichtig. Meine Arbeit, das was ich tue, wird hier anerkannt.“

„Und dann komme ich daher und mache dich aus einer Laune heraus nieder.“

Asha schüttelte den Kopf. „Es war nicht aus einer Laune heraus. Ich habe nur versucht, dir zu erklären …“

„Stopp“, sagte ich. Das wollte ich kein weiteres Mal hören. „Was ich gesagt habe, tut mir wirklich leid, aber mit deiner Vermutung hast du Unrecht.“

Ihre Lippen drückten sich zu einem dünnen Strich zusammen.

„Ich weiß, du siehst das anders, aber es ist so. Bei unserem ersten Treffen hast du es doch selbst gesagt: Magie ist Leben. Also, wie sollte es möglich sein, dass die Magie mich plötzlich krank macht? Das ergibt keinen Sinn.“

Wieder kehrte Stille ein, in der nur das Wispern des Windes und das Gelächter der Feier zu hören waren.

„Ich hoffe, du hast Recht“, sagte sie leise. „Das hoffe ich wirklich.“

Ich musste nicht hoffen, denn ich wusste es. Sie irrte sich. „Heißt das, du verzeihst mir noch einmal meine Dummheit und nimmst meine Entschuldigung an?“

„Ich war noch nie dafür bekannt, besonders nachtragend zu sein“, lächelte sie, aber nur einen Moment später fiel es in sich zusammen. „Was zum …“

Der Drache!

Plötzlich waren seine Bewegungen nicht mehr gleichmäßig und elegant. Er geriet ins Trudeln und im nächsten Moment schien er in Flammen aufzugehen. Wie ein Meteorit schoss er über den Himmel, doch sein Flug war unkontrolliert. Es wirkte fast wie eine Sternschnuppe, aber das war es nicht. Er stürzte ab, wurde immer schneller und krachte mit einer Geschwindigkeit auf den Boden, dass die Staubwolke einen Moment das Feuer verdeckte.

Sprachlos starrte ich in die Ferne und versuchte herauszufinden, was da gerade passiert war. „Der Drache - er ist einfach abgestürzt.“

„Aber vorher ist er noch in Flammen aufgegangen.“

Oh nein. „Deinem Ton zu urteilen, ist das nicht normal.“

„Nein, ist es nicht. Und wenn ich an den grünen Himmel denke … warte hier, ich muss mit Ryu und Amir sprechen.“

Eine Lichtsäule, die aus dem Nichts zu kommen schien. Ein Himmel, der sich giftgrün verfärbte. Und ein Drache, der zu einem fallenden Geschoss wurde.

Diese Welt war für mich noch immer so fremd wie am ersten Tag. Es war egal, wie lange ich hier bereits lebte, ich wusste im Grunde gar nichts über diesen Ort und fast jeder Tag brachte neue Überraschungen mit sich. Doch selbst mir war bewusst, dass diese Ereignisse auch für die magische Welt nicht normal sein konnten. Ich kam nicht umhin, mir die Frage zu stellen, ob diese drei Dinge nicht vielleicht miteinander zusammenhingen.

„Was geht hier nur vor?“, flüsterte ich.

Guardian stellte die Ohren auf, aber selbst, wenn er hätte sprechen können, bezweifelte ich, dass er auf diese Frage eine Antwort gewusst hätte.

 

°°°°°

Tag Fünfundsechzig

 

Die Augen zusammengekniffen und mit der Hand gegen das Sonnenlicht abgeschirmt, versuchte ich die Entfernung einzuschätzen, die wir noch zurücklegen mussten, um das Drachengebirge zu erreichen. Das Lager der Jäger lag schon Stunden hinter uns.

Als wir aufgebrochen waren, hatte noch die Nacht über uns gehangen. Jetzt standen die Sonnen wieder drohend über uns und nichts außer der kargen, rissigen Wüstenlandschaft umgab unsere kleine Karawane.

„Hier“, Kiran hielt mir den Wasserschlauch hin. Unter seiner scharfgeschnittenen Nase lag ein schiefes Lächeln.

„Oh danke.“ Das konnte ich wirklich gebrauchen. Obwohl ich seit Stunden nichts anderes tat, als neben Kiran auf dem zweiten der beiden Planwagen zu sitzen, lief mir der Schweiß in Strömen über die Schläfen. Der Ghutra konnte daran auch nicht viel ändern.

„Die Hälfte der Strecke bis zum Drachengebirge haben wir hinter uns“, erklärte Amir mir. Er ritt auf seinem graumelierten Greif Ferox und schaute sich immer wieder nach Guardian um. Ja, mein kleiner Freund folgte uns, und egal, was ich getan hatte, er ließ sich einfach nicht davon abbringen.

Der Wagen fuhr über eine Bodenkuhle und der Käfig auf der Ladefläche schepperte unheilverkündend.

„Der schwierigste Teil wird wie immer der Pass über das Gebirge sein“, sagte Kiran. „Wenn wir den erst hinter uns gelassen haben, dann ist der Rest nur noch ein Spaziergang.“

Gaio warf dem Magier einen abschätzenden Blick zu. „Sag das mal den Lykanern.“ Von Amir abgesehen, war er der einzige, der auf seinem Greif ritt und es sich nicht bei uns auf dem Karren gemütlich gemacht hatte.

Der andere Planwagen wurde von zwei Jägern gefahren, mit denen ich im Allgemeinen nicht so viel zu tun hatte. Aber so, wie der eine von ihnen heute Morgen geguckt hatte, hatte er nach dem Saufgelage einen ordentlichen Kater.

„Was ist denn mit den Lykanern?“, wollte ich wissen und musste an all die Zeitungsberichte denken, die ich über Talita gelesen hatte. Sie war ein Freund der Lykaner und irgendwie juckte es mich in den Fingern, die Wolfsmenschen auch einmal kennenzulernen.

„Alle Wege nach Sternheim führen zwischen den Territorien der Lykaner hindurch.“ Amir lenkte Ferox ein wenig dichter an den Wagen heran. „Die Pfade sind gut gekennzeichnet, aber trotzdem kommt es immer wieder dazu, dass sich die Leute in die Territorien hinein wagen.“

„Und Lykaner mögen keinen Besuch“, fügte Gaio noch hinzu.

„Solange wir auf dem Pfad bleiben, kann uns nichts passieren.“

„Ich habe nicht vor, den Wölfen einen Beuch abzustatten“, beschied Kiran uns. „So lebensmüde bin ich noch nicht.“

„Und was suchst du dann bei uns?“, stichelte Gaio.

„Ha, ha, sehr witzig.“

Ich sah zwischen den drei Männern hin und her. Es schien, als wollten sie mir einerseits Angst machen und mich andererseits beruhigen. Aber Gaio hatte schon Recht - gefährlicher als die Dämonen konnten die Lykaner nicht sein. Immerhin waren sie Mortatia, auch wenn sie sich diese Bezeichnung schwer erkämpfen mussten.

Aber wo wir schon mal bei Dämonen waren. „Wer kümmert sich jetzt eigentlich um die Dämonen im Lager?“

„Ryu und Elias.“ Amir hielt den Blick geradeaus gerichtet. „Die beiden haben damit genug Erfahrung.“

„Aber ist Ryu nicht schon mit dem Drachen beschäftigt?“

Dass gestern Nacht ein Drache vom Himmel gefallen war, hatte in der allgemeinen Feierlaune noch für ziemliche Unruhe gesorgt – zumindest unter den Leuten, die es mitbekommen hatten. Es war weniger die Tatsache, dass er abgestürzt war, sondern wie es dazu gekommen war. Besonders nachdem der Himmel sich gestern so seltsam verhalten hatte.

„Ryu wird den Drachen untersuchen und mir bei meiner Rückkehr Bescheid geben“, erklärte Amir. „Das wird nicht lange dauern. Aber wenn du mich jetzt entschuldigst, ich werde mal vorfliegen und die Strecke überprüfen.“

„Wir wollen ja keine bösen Überraschungen“, witzelte Kiran.

Amir überging das einfach. „Gaio, begleite mich.“ Nach diesen Worten gab er Ferox die Sporen. Der Greif beschleunigte sein Tempo, nahm dabei Abstand zu den Wagen und breitete die Flügel aus, sobald er genug Platz hatte. Im nächsten Moment war er bereits in der Luft und gewann schnell an Höhe.

Ich konnte nur staunend hinterherschauen. Nicht nur, weil Amir es wagte, auf einem fliegenden Reittier durch die Lüfte zu segeln, obwohl er selbst keine Flügel besaß und ihn im Falle eines Sturzes nichts mehr retten konnte. Nein, es war dieser atemberaubende Anblick, den Ferox bot, als er in den Himmel aufstieg und sich auf die Sonne zubewegte.

Wie gerne würde ich das auch mal machen – trotz aller Gefahren.

„Wenn der Magier dich nervt“, sagte Gaio noch, „schubs ihn einfach vom Wagen. Los.“ Er legte seine Flügel ganz dich an den Körper, während er seinen Greif Aquila zur Eile antrieb, und schon im nächsten Moment tat er es Amir gleich und flog ihm durch die Luft hinterher.

Kiran lachte leise. „Er mag dich.“

Etwas überrascht wandte ich den Blick von den beiden Fliegern ab. „Wer?“ Hatte Amir irgendetwas getan, was mir entgangen war?

„Gaio.“

„Gaio?“ Ich zog eine Augenbraue nach oben und widmete mich nun endlich der Wasserflasche, die Kiran mir gegeben hatte. Das Wasser war durch die Temperaturen nicht mehr wirklich erfrischend, aber es war immerhin besser, als diese Wüste ohne zu durchwandern – ich wusste, wovon ich sprach.

„Natürlich Gaio, wer denn sonst?“ Er zügelte die beiden Glatisants, die den Wagen zogen, ein wenig und grinste mich an. „Wie er mit dir spricht … der hat was für dich übrig.“

Zum Glück hatte ich gerade den Wasserschlauch an den Lippen, so musste ich nichts darauf erwidern.

„Wenn du dich ranhältst, kann das vielleicht etwas werden.“

Okay, jetzt musste ich den Wasserschlauch doch absetzen. „Ich und Gaio?“ Ob er den Unglauben in meiner Stimme wohl hörte?

„Klar, warum nicht? Und vielleicht ist er ja nicht mehr so mürrisch, wenn du ihn mal ordentlich flachlegst.“

„Kiran!“

Ein behagliches Lachen stieg aus seiner Kehle.

„Ich glaube nicht, dass Gaios Gemütszustand sich ändert, nur weil ich ein wenig Sex mit ihm habe.“

„Aber schaden kann es auch nicht.“

Ich schraubte den Wasserschlauch wieder zu und schüttelte den Kopf. „Danke, aber nein danke.“ Gaios Probleme gingen fiel zu tief, als dass ein wenig Sport in der Horizontalen da weiterhelfen würde. Ich wusste nicht, was in seiner Vergangenheit geschehen war, aber es konnte nichts Gutes sein. Er jagte die Dämonen so verbissen, als wäre es der einzige Grund, warum er noch lebte.

„Ach, komm schon, so schlecht sieht er nun auch wieder nicht aus.“

„Bist du sein Heiratsvermittler?“, fragte ich spöttisch, weil er noch immer auf dem Thema herumritt.

„Nein, aber …“

„Lass gut sein. Ich habe kein Interesse an Gaio. Und er mit Sicherheit auch nicht an mir.“ Außerdem gab es da noch den Kerl mit den Schlangen auf dem Kopf.

Ob zwischen mir und Amir noch mehr als dieser eine Kuss passieren konnte, wusste ich nicht, aber ich hätte zumindest nichts dagegen.

Ich blickte nach oben in den Himmel, doch außer diesem endlosen Blau konnte ich nichts entdecken.

 

°°°

 

Als wir die ersten Ausläufer des Gebirges hinter uns gelassen hatten und den steinigen Pass betraten, der uns über dieses Gebirge führen sollte, warf ich noch einen letzten Blick über die Schulter auf das rote Hinterland. Dort, ganz unten, kaum zu erkennen, wenn man nicht wusste, wonach man Ausschau halten sollte, stand mein kleiner Freund und sah uns sehnsüchtig hinterher. Er hatte sich nicht einen Schritt aus seiner Heimat hinaus getraut. Vermutlich war es das Beste, aber trotzdem fühlte ich mich nicht wohl bei dem Gedanken, ihn zurücklassen zu müssen.

„Er hat die ersten Monate seines Lebens ohne dich überlebt.“ Kiran stieß mich kameradschaftlich mit der Schulter an. „Glaub mir, ein paar weitere Tage wird er auch noch schaffen.“

Natürlich würde er das, daran hegte ich gar keinen Zweifel, aber der Kleine war mir eben ans Herz gewachsen.

„Hör auf zu quatschen und pass lieber auf, wo du hinfährst“, machte Gaio den Magier an und warf ihm einen bösen Blick zu. Dann machte er Aquila Tempo und trieb ihn auf dem schmalen Pfad an dem vorderen Wagen vorbei.

In der Zwischenzeit war der Nachmittag angebrochen und die Sonnen standen bereits tief am Himmel. Gaio und Amir waren vor einer halben Stunde wieder zu uns gestoßen. Sie hatten am Fuß des Gebirges auf uns gewartet.

Ich ließ meinen Blick über die Steilhänge wandern, die uns zu beiden Seiten umschlossen. Es wirkte nicht natürlich. Ich hatte eher den Eindruck, als hätten da ein Magier oder eine Hexe bei der Entstehung ihre Finger im Spiel gehabt. Die Wände waren einfach zu glatt, um natürlich entstanden zu sein. Der Boden allerdings bescherte uns eine holprige Fahrt. Kleine Steinchen und Geröll ließen mich immer wieder auf meinem Platz auf und ab hüpfen und schon bald tat mir davon mein Hintern weh.

Und eines wurde mir auch deutlich bewusst: die Hitze der Sonnen schwand. Es war noch immer angenehm warm, aber nicht mehr so unerträglich heiß, und das hatte nichts mit der Tageszeit zu tun. Bald schon nahm ich meinen Ghutra ab und legte ihn neben mich auf den Sitz.

Aber das war nicht die einzige Veränderung, die mir deutlich vor Augen führte, dass wir das rote Hinterland für die nächsten Tage hinter uns gelassen hatten. Auch die Vegetation veränderte sich. Sie wurde üppiger, farbenfroher und saftiger. Das Wort hörte sich in diesem Zusammenhang vielleicht seltsam an, aber genau so war es. In der Wüste war alles trocken und kahl. Hier waren die Pflanzen … saftig.

Die Zeit schien sich endlos dahinzuziehen.

Aus dem rötlichen Stein wurde grauer Fels. Der Steilhang zu unserer Linken wurde immer kleiner, je höher wir kamen. Und ganz plötzlich spaltete er sich vom Weg ab, sodass eine tiefe Schlucht direkt am Pass entstand. Ein Blick hinunter ließ mich frösteln. Es war so tief, dass ich den Boden kaum erkennen konnte. Die anbrechende Dämmerung trug wohl auch ihren Teil dazu bei.

Nur wenig später passierten wir eine Gabelung, die in eine Höhle zu führen schien.

„Dort könnten wir auch langfahren“, erklärte Kiran mir, kaum dass wir sie hinter uns gelassen hatten. „Aber man weiß vorher leider nie, was sich darin verbirgt.“

„Dann ist das also ein Tunnel.“

Er nickte. „Aber der Weg ist etwas länger. Dazu kalt und düster und feucht.“ Er grinste mich an. „Und in den Schatten hausen Ungeheuer.“

Hm, ich wusste nicht, ob er mich auf den Arm nehmen wollte oder das ernst meinte. Meine Neugierde war jedenfalls geweckt.

Der Wagen holperte über ein Schlagloch und ließ mich auf meinem Sitz hüpfen. Warum gab er hier eigentlich keine Sicherheitsgurte? Das war ja lebensgefährlich.

Amir flog über der Schlucht an uns vorbei. Die Höhe schien ihn kein bisschen zu ängstigen. Plötzlich hatte ich das Bedürfnis, zu ihm auf Ferox zu klettern und auch einmal diese Freiheit zu genießen. So schwerelos dahinzugleiten musste der Wahnsinn sein. Allein der Gedanke daran faszinierte mich.

Je weiter wir fuhren, desto mehr verjüngte sich der Pass. Schon bald war er nur noch wenig breiter als der Wagen und ich kam nicht umhin, mir in Gedanken auszumalen, wie wir einfach abstürzten. Denn neben uns ging es seeehr tief bergab.

„Gibt es keinen sicheren Weg?“, wollte ich von Kiran wissen.

Er ließ den Pfad nicht aus den Augen. „Nur durch die Höhle, aber da wir dort schon böse Überraschungen erlebt haben, bevorzugen wir es, diesen Pfad zu nehmen.“

Also hatte er vorhin wirklich keinen Scherz gemacht. Jetzt wollte ich mir den Tunnel umso mehr ansehen. Nicht weil ich lebensmüde war, sondern weil es mich interessierte, was es noch für Wesen gab. Wenn ich allerdings an die Einhörner und Dämonen dachte, sollte ich es mir vielleicht noch einmal überlegen.

„Ist hier schon mal jemand abgestürzt?“

Kiran zuckte mit den Schultern. „Nicht seit ich bei den Jägern bin.“

„Das heißt ja?“

„Das heißt, ich weiß es nicht.“

Was nicht wirklich beruhigender war. Vielleicht sollte ich ja mal Amir fragen.

Ich beugte mich ein wenig über den Wagenrand, um an dem vorderen Wagen vorbeizusehen. In dem Moment rief Gaio: „Halt!“, und der Wagen machte einen solchen Ruck, dass ich mich festklammern musste. Mein Glück war wahrscheinlich nur, dass ich auf der rechten Seite saß und mir höchstens ein paar Kratzer zugezogen hätte, wenn ich hinausgefallen wäre. So wurde mein Puls nur ein wenig in die Höhe getrieben.

„Was ist los?“, rief Kiran und machte die Zügel am Wagen fest. Auch er versuchte an dem vorderen Gefährt vorbeizuschauen, aber das war kaum möglich.

Von vorne waren Stimmen zu hören. Amir, Gaio und die beiden anderen Jäger. Sie klangen aufgeregt und … verärgert.

Ich reckte den Hals, aber aus meiner Position konnte ich die Ursache für unseren abrupten Stopp einfach nicht ausmachen. „Ich geh mal gucken, was da los ist“, teilte ich Kiran mit und kletterte aus dem Wagen. Steinchen knirschten unter meinen Schuhen. Die Lücke zwischen den Gefährten und dem Steilhang war schmal, aber mit Baucheinziehen kam ich vorbei und was ich dann sah, ließ meinen Atem stocken.

Direkt vor uns auf dem Pfad lag ein Drache und versperrte uns mit seinem massigen Leib den Weg. Er war riesig, mindestens so groß wie ein Pottwal, wenn nicht sogar noch größer. Seine Farbe lag irgendwo zwischen Silber und Schwarz - und dann der Kopf. Stacheln und Hörner, vereint auf einer geschmeidigen Gestalt.

Er war so groß, dass eines seiner Hinterbeine in die Schlucht hinein hing. Der Rest seines Körpers wirkte leicht verkrampft.

Er schlief nicht, er war tot.

Vorsichtig trat ich an den Männern vorbei, näher an dieses wunderschöne Wesen heran.

Die Augen des Drachen waren geschlossen. Das linke Vorderbein war in einem seltsamen Winkel abgeknickt und um das andere waren tiefe Furchen in den Fels gerissen worden – wie Kratzspuren. Etwas Geröll lag um und auf ihm. Es war aus dem Steilhang herausgebrochen.

Aber das Schlimmste waren wohl die vielen Brandwunden, die sich durch die Schuppen gefressen hatten. Es schien fast, als wäre das Feuer in seinem Innersten ausgebrochen und hätte sich dann unter Gewalt einen Weg ins Freie gesucht.

Ich musste an den Drachen von gestern Abend denken. Er hatte sich in einen Feuerball verwandelt und war dann einfach zu Boden gestürzt. Es war nicht zu verkennen, dass hier das Gleiche geschehen sein musste. Nur war dieser Drache bei seinem Sturz in die Steilwand gekracht und dann auf den Pass gefallen, wo er sein Leben ausgehaucht hatte.

Wären die Brandwunden nicht, könnte man fast glauben, dass er nur eine kleine Siesta hielt. Aber dem war nicht so.

Eine tiefe Traurigkeit machte sich in mir breit. Es war kein Mitgefühl, sondern die Trauer um den Verlust eines so schönen Wesens. Das war nicht richtig.

Ich drehte mich zu den Männern um, die missmutig auf den gefallenen Riesen blickten. Auch Kiran hatte sich in der Zwischenzeit zu ihnen gesellt und musterte den Drachen wie ein interessantes Forschungsobjekt.

„Vielleicht ist es ja eine Krankheit“, überlegte Gaio. „Es könnte etwas mit dem grünen Himmel zu tun haben.“

„Egal was der Grund ist, wir müssen den Hohen Rat davon unterrichten“, sagte Kiran. „Zwei Drachen innerhalb von zwei Tagen, auf die gleiche Art. Das ist mehr als nur Zufall.“

Amir kniff die Augen leicht zusammen, während Gaio ihm einen seltsamen Blick zuwarf. „Müssen wir wohl.“ Aber das schien dem Serpens nicht zu gefallen, seine Worte waren widerwillig.

Gaio schnaubte. „Bevor wir irgendwem irgendwas sagen können, müssen wir erstmal dieses Problem in den Griff bekommen.“

Amir nickte. „Und das, bevor die Nacht über uns hineinbricht. Ich will in der Dunkelheit nicht mehr in den Bergen herumirren.“ Er schaute nach oben zum Himmel. „Warum haben sie ihn eigentlich noch nicht geholt? Er muss seit Stunden tot sein.“

„Wer?“, wollte ich wissen.

„Die anderen Drachen.“ Kiran wandte sich mir zu. „Sie bergen ihre Toten. Sie spüren es, wenn einer von ihnen stirbt, und holen ihn.“

Seltsamer Brauch.

„Die Verbindung zwischen den Drachen muss gestört sein“, überlegte Gaio.

Auch mein Blick glitt hinauf. Der Himmel hatte sich bereits in den Tönen des Abends verfärbt. Lange würde es nicht mehr dauern, bis die Dunkelheit über uns kam. „Wie weit ist das Zwischenlager denn noch entfernt?“, wollte ich wissen.

„Nicht mal mehr eine halbe Stunde.“ Kiran neigte den Kopf leicht zur Seite. „Aber bevor wir den Drachen nicht weggeschafft haben, hilft uns das nicht.“

Gaio schnaubte. „Wegschaffen ist gut. Das Vieh wiegt mindestens fünfzig Tonnen. Wie willst du den wegschaffen?“

Diese Frage schien Amir zu beschäftigen. Er sah vom Drachen zur Schlucht und mich beschlich eine Ahnung, die mir gar nicht gefallen wollte. „Wenn wir ihn in die Schlucht stoßen könnten, wäre der Weg wieder frei.“

„Und wie willst du das bitte anstellen?“, fragte Gaio herausfordernd und verschränkte die Arme vor der Brust. „Nicht nur, dass das Vieh sauschwer ist, wenn wir ihn runterstoßen, könnte ein Teil vom Pass mit abbrechen. Und wie kommen wir dann bitte weiter?“

„Können wir ihn nicht schweben lassen?“, fragte ich Kiran, weil mir der Gedanke, dieses arme Wesen noch weiter zu schänden, nicht gefiel. „Dann könnten die Wagen einfach unter ihm durchfahren.“

Schon bevor ich geendet hatte, schüttelte Kiran den Kopf. „Das Herz würde unsere Magie sofort absorbieren. Wir würden uns nur verausgaben.“

„Absorbieren?“

„Das Herz eines Drachen ist wie ein Schwamm“, erklärte Amir. „Ein Drache absorbiert sein ganzes Leben Magie und speichert sie darin. Selbst nach seinem Tod ist es noch aktiv. Es würde euch einfach aussaugen, ohne den kleinsten Effekt auszulösen.“

„Also können wir ihn nicht einfach … verschwinden lassen.“

Kiran schüttelte den Kopf. „Nicht so, wie du meinst.“

„Du bist echt zu nichts zu gebrauchen“, ließ Gaio verlauten und warf einen Blick in die Tiefe. „Wir könnten uns auf die Greife setzen und versuchen ihn runterzuziehen.“

War er es nicht gerade gewesen, der zu bedenken gegeben hatte, dass dabei ein Teil des Passes zu Schaden kommen könnte?

„Zwei Greife reichen niemals aus.“ Amir drückte die Lippen aufeinander. Die Schlangen zischten missmutig.

„Und wenn ich versuche, einen Pfad in den Steilhang zu schmelzen?“, überlegte Kiran.

Ich brauchte einen Moment, um seine Worte zu verstehen. „Du kannst Stein schmelzen?“

„Ein einfacher Feuerzauber.“ Er grinste etwas schief. „Leider ist der sehr kräftezehrend.“

„Und Tiara ist noch nicht so weit, um dir helfen zu können.“ Amir seufzte und schaute zu den anderen Jägern, doch die blickten nur ratlos zurück. „Aber davon abgesehen, könntest du damit die ganze Steilwand instabil machen.“

„Und dann bricht sie einfach über uns zusammen“, schlussfolgerte ich. Andererseits war das bisher die beste Idee, die wir hatten. So würde dem armen Drachen auch keine weitere Schändung zuteilwerden. Ansonsten würde es vermutlich darauf hinauslaufen, ihn zu zerlegen und in Einzelteilen in die Schlucht zu werfen, und das wäre nicht nur grausam - ich wollte das auch nicht sehen. Der arme Riese hatte schon genug durchmachen müssen.

Aber was blieb uns denn noch für eine Wahl? Der Pass war einfach zu schmal, um einfach an ihm vorbeizufahren. „Und wenn wir die Wagen über ihn rüber schweben lassen?“

„Ich wiederhole, das Drachenherz saugt Magie einfach auf. Es wäre also fraglich, ob uns das gelingt oder die Wagen auf halben Wege einfach abstürzen.“

„Die Magie würde den Drachen selbst doch gar nicht berühren.“

„Aber wir wären extrem nahe dran. Das will ich nicht riskieren.“

Das verstand ich. Wahrscheinlich war es dann auch fraglich, ob es funktionieren würde, sich einen Pfad durch den Fels zu schmelzen – nur wäre es nicht halb so gefährlich, denn …

Durch Fels schmelzen? Ich drehte mich zu Amir um, denn plötzlich hatte ich einen Geistesblitz. „Wir könnten ja … kennt ihr die Geschichte von Medusa?“

„Von wem?“

„Medusa. Sie war das Kind eines Gottes. Sie war unglaublich schön – so heißt es zumindest – aber dann wurde sie beim Liebesspiel mit Poseidon überrascht und ist darüber so wütend geworden, dass sie sich in ein Ungeheuer mit Schlangenhaaren, langen Eckzähnen und glühenden Augen verwandelt hat. Ihr Anblick war von da an so schrecklich, dass jeder, der ihr in die Augen sah, zu Stein erstarrte.“

Kiran zog die Augenbrauen nach oben. „Du findest, dass Leute mit Schlangenhaaren Ungeheuer sind?“

„Was? Nein“, ich schüttelte den Kopf. „Und darum geht es doch gar nicht. Es geht darum, das Gorgonen jedes Wesen mit einem Blick zu Stein erstarren lassen können.“

Gaio runzelte die Stirn. „Gorgonen?“

„Ja, Gorgonen, oder wie ihr sie nennt, Serpens.“ Ich schaute zu Amir. „Und ich mag Schlangenhaare.“

Diesen Kommentar überging er. „Also ist Medusa eigentlich eine Serpens und konnte andere Wesen mit einem Blick in Stein verwandeln.“

„Das sag ich doch.“

„Und jetzt glaubst du, ich kann das auch.“

Naja. „Das war zumindest die Idee dahinter.“

Das Zucken seines Mundwinkels war mir bereits Antwort genug. „Ich kann niemanden in Stein verwandeln. Weder mit einem Blick noch sonst wie.“

„Obwohl das manchmal sicherlich hilfreich wäre“, überlegte Kiran.

„Also kannst du den Drachen auch nicht in Stein verwandeln“, stellte ich fest. Den Kopf hätte er eigentlich gar nicht mehr schütteln brauchen. Dabei war die Idee so gut gewesen.

„Und da unser Medusa den Drachen nun nicht in Stein verwandeln kann“, sagte Kiran, „was tun wir jetzt?“

„Medusa war eine Frau“, korrigierte ich ihn.

Amir verlagerte sein Gewicht aufs andere Bein und schaute sich erneut den Drachen an. „Uns wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als ihn zu zerlegen und wegzuschaffen.“

„Und wie?“, fragte Gaio skeptisch. „Ist ja nun nicht so, als hätten wir eine Axt dabei. Außerdem ist das ein Drache. Weißt du eigentlich, wie lange wir damit beschäftig wären?“

„Und wir sind nur zu fünft“, gab Kiran zu bedenken. Er schaute in die Richtung, aus der wir gekommen waren. „Wenn wir vorsichtig sind, dann schaffen wir es vielleicht zurück zur Gabelung und …“

„Der Weg ist zu schmal“, unterbrach Amir ihn und runzelte die Stirn.

„Dann lasse ich die Wagen eben schweben.“

„Als ob du das schaffen würdest“, spottete Gaio.

Während die beiden anfingen, ihrer Lieblingsbeschäftigung nachzugehen, wandte ich mich wieder zu dem Drachen um. Es machte mich traurig, etwas so Schönes zerschlagen auf dem Boden sehen zu müssen. Und auch, was wir jetzt tun mussten. Denn egal, für was die Männer sich entschieden, der Drache konnte hier nicht liegen bleiben. Er musste verschwinden. Dabei sollte etwas so Wunderschönes für die Ewigkeit erhalten bleiben.

Ich trat an den Kopf heran und strich mit den Fingern über das schuppige Maul. Nach dem, was ihm bereits widerfahren war, sollten wir seinen toten Leib eigentlich die Ruhe gönnen, die er verdient hatte.

Der Wunsch, diesem Wesen den Frieden zu geben, nahm in meinem Kopf Form und Farbe an. Ich spürte, wie die Magie in meiner Brust damit begann, sich zu entfalten und die Flügel auszustrecken. Sie floss durch meinen Körper, kanalisierte sich in meinem Arm und strömte durch meine Hand hinaus ins Freie. Ich wusste, dass es eigentlich nichts brachte, aber ich musste es einfach versuchen. Wenn das Drachenherz meine Magie absorbierte, dann war es eben so. Doch ich konnte nicht tatenlos daneben stehen und nichts tun.

Die glänzenden Schuppen unter meinen Fingern begannen rau und stumpf zu werden. Das silbrige Schwarz veränderte sich, graute aus. Es war wie Wasser oder Farbe, die aus meiner Hand floss und sich über die Schuppen ergoss. Dabei kletterte sie in jede Ritze, strömte über Unebenheiten und erklomm Höhen, als hätten die Regeln der Schwerkraft ausgesetzt.

Immer mehr Magie floss aus mir heraus und tat das, was dieses Wesen verdient hatte. Gleichzeitig spürte ich auch noch etwas anderes. Da war etwas … Lebendiges und sog an meiner Magie, als wollte es sie sich zu Eigen machen. Das Herz. Es schien unabhängig vom Drachen einen eigenen Willen zu besitzen – genau wie die Magie selbst.

„Was machst du da?“, fragte Gaio ziemlich barsch.

„Ich spiele Medusa.“ Zwar konnte ich das nicht mit einem Blick, aber es war das, was uns am schnellsten den Weg freimachen würde. Und alle sagten doch immer, dass ich so große Macht besaß. Wenn ich nicht mal ein totes Wesen in Stein verwandeln konnte, wozu war sie dann gut?

Behutsam legte ich auch noch meine zweite Hand auf das Maul. Die Magie begann mich in größeren Mengen zu verlassen und dort, wo sie über den Drachen floss, verwandelte sie ihn in Stein. Erst nur das Maul, dann den ganzen Kopf und dann kletterte sie über den Hals. Der Sog des Herzens wurde stärker. Es war nicht bösartig, es tat einfach nur das, wozu es erschaffen worden war, aber ich gab nicht nach. Das hier musste einfach funktionieren.

Die Männer beobachteten mein Tun schweigend.

Meine Haut summte, die Magie floss schneller. Meine ganze Konzentration war auf das ausgerichtet, was ich hier tat. Über den Brustkorb zu den Vorderbeinen. Über den Rücken zu den Seiten. Über den Rumpf zu den Flanken.

Die Geräusche im Hintergrund wurden zu einem fernen Rauschen. Mein Herz schlug kräftig, aber viel zu laut. Ich war mir jedem meiner Atemzüge viel zu bewusst. Und doch war mein ganzes Sein in diesem Augenblick auf meine Aufgabe ausgerichtet.

Ich konnte nicht sagen, ob Minuten oder vielleicht sogar Stunden vergingen. Ich merkte nur, wie meine Magie mit der Zeit nachließ. Aus dem stetigen Strom wurde ein dünnes Rinnsal.

Meine Sicht verschwamm, mein Körper begann zu zittern. Vor meinen Augen wurde der Drache zu Stein. Doch diese Aufgabe erschöpfte mich so sehr, dass ich einfach in die Knie ging, als ich meine Hände vom Maul nahm.

„Tia!“ Kiran stürzte an meine Seite und nahm besorgt mein Gesicht zwischen die Hände.

„Alles gut.“ Ich schaffte es, ein wackliges Lächeln zustande zu bringen. „Wirklich“, versicherte ich ihm auf seinen zweifelnden Blick hin und war froh, damit die Wahrheit sagen zu können.

Meine Reserven waren erschöpft, meine Magie aufgebraucht und ich plötzlich so müde, als hätte ich seit Tagen nicht geschlafen. Aber es ging mir gut. „Jetzt kannst du einen Tunnel unter dem Drachen durchschmelzen.“ Denn das konnte ich nicht mehr. Ich konnte von Glück reden, dass ich nicht mitten im Satz einfach einschlief. Kiran jedoch müsste es jetzt schaffen. Das Drachenherz war in Stein eingeschlossen, seine Macht müsste nun also gedämpft sein.

Trotzdem war ich glücklich. Ich hatte den Drachen in Stein verwandelt, doch sein Herz konnte ich noch immer spüren. In diesem Gebilde lebte etwas weiter. Magie.

Kiran blickte zu dem versteinerten Drachen und dann wieder zu mir. „Du bist verrückt.“

„Ich bin müde“, flüsterte ich und musste gegen den plötzlichen Drang ankämpfen, einfach die Augen zu schließen.

„Ja, auch du hast nicht unendlich Energie“, erklärte er mir.

Ich schaffte es kaum noch, ein Lächeln zustande zu bringen.

„Gaio?“, rief Amir da. „Leg Tia auf den Wagen, damit sie schlafen kann. Bind Aquila hinten an den Wagen. Ich will, dass du bei ihr auf der Ladefläche mitfährst und aufpasst. Kiran, nimm endlich deine Pfoten von ihr und mach dich mal nützlich. Wir brauchen einen Weg, direkt durch den Drachen hindurch.“

Erst als Kiran seine Hände wegnahm, fiel mir auf, dass sie allein es waren, die mich noch aufrecht hielten. Ich hatte keine Kraft, mich gegen den plötzlichen Sog der Erdanziehung zu wehren, und kippte einfach zur Seite. Den Aufprall spürte ich kaum.

„Mist“, hörte ich Kiran fluchen.

Meine Augen schlossen sich flatternd.

„Du bist doch echt zu nichts zu gebrauchen!“, schimpfte Gaio. Dann spürte ich, wie er mich vorsichtig vom Boden aufhob und ein paar Bosheiten über hirnlose Magier murmelte, während er mich zum Planwagen trug.

Die nächsten Minuten waren für mich nur ein Nebel im Halbschlaf. Ich spürte, wie Gaio mich auf die Ladefläche bettete, hörte die Stimmen der Männer, ohne zu verstehen, was sie sagten. Nur einer Sache war ich mir überaus bewusst.

Ich hatte in den letzten Minuten wohl so viel Magie wie noch nie in meinem Leben eingesetzt, aber ich war davon nicht ohnmächtig geworden. Nur müde. Gleichzeitig war ich mir auch bewusst, dass die Temperaturen hier im Gebirge ganz anders als in der Wüste waren.

Siehst du?, wollte ich sagen. Asha hat Unrecht. Es ist nicht die Magie, es ist doch die Hitze. Aber mehr als ein leises Murmeln bekam ich nicht mehr hin. Dann trug der Schlaf mich auch schon davon.

 

°°°

 

Der sternenübersäte Himmel spiegelte sich auf der glatten Oberfläche des kleinen Bergsees mit einer Klarheit, dass ich fast das Gefühl bekam, zwischen den Sternen zu baden. Nur wenn ich mich bewegte und sich das Wasser um mich herum kräuselte, verblasste dieses Bild ein wenig. Deswegen verhielt ich mich ganz ruhig. Der Gedanke, inmitten in einem Sternmeer zu stehen, war einfach so bezaubernd.

Es war nicht mal eine halbe Stunde her, dass ich aus meinem komatösen Schlaf erwacht war. Gaio hatte mich sofort gezwungen, etwas zu essen, und mir dabei von dem kleinen See hier erzählt. Ich hatte nicht widerstehen können. Nicht nur, dass das Wasser meine verspannten Muskeln ein wenig lockern konnte, ich mochte es, unter freiem Himmel zu baden.

War das schon immer so gewesen?

„Baden im See“, flüsterte ich und löste damit zum ersten Mal seit Wochen willentlich eine Erinnerung aus.

Vorsichtig spähte ich um die Ecke ins Wohnzimmer, wo Tal weinend an Mamas Arm zerrte. Sie war so aufgelöst, dass niemand sie verstehen konnte. Nur Worte wie „Taylor“ und „See“ waren deutlich.

War etwas mit meinem großen Bruder?

Ohne dass Mama oder Talita mich bemerkten, schlüpfte ich am Wohnzimmer vorbei zur Haustür hinaus. Eigentlich sollte ich in meinem Zimmer bleiben, weil ich Stubenarrest hatte. Den Frosch, den ich morgens auf den Frühstückstisch gesetzt hatte, fanden Mama und Papa nicht so lustig wie ich. Aber er hatte doch auch Hunger gehabt.

Das Ferienhaus, das wir jeden Sommer besuchten, lag direkt an einem See. Der Himmel war so klar, dass die Sonne sich darin spiegelte. Das sah ich, aber Taylor sah ich nicht.

Was hatte Talita nur so erschreckt? Und wo war Taylor?

Ich strebte auf den Steg zu …

„Tiara?“

Amirs Stimme riss mich so ruckartig aus meiner Erinnerung, dass das Wasser durch mein Zucken um mich herum Wellen schlug.

Seine Silhouette ragte im Mondschein am Ufer auf. Sein Gesicht lag im Schatten.

„Hey du.“ Ob er erkennen konnte, dass ich nichts außer meiner Haut trug? Der Stapel Klamotten neben ihm musste ihm Aufschluss darüber geben, aber ich hatte nichts zu verbergen.

Andere würden es vielleicht als schamlos bezeichnen, als ich zum Ufer schwamm und aus dem Wasser schritt, ohne mich meiner Nacktheit zu schämen. Doch ich war zufrieden mit mir und Amirs Blick sagte mir, dass er sich auch nicht daran störte.

Außerdem stand da ja noch immer dieser Kuss zwischen uns und vielleicht würde ihm das den Anreiz dazu geben, eine weitere Runde einzuläuten.

Doch er schaute mich nur stumm an.

„Magst du mit mir schwimmen?“, fragte ich deswegen ganz direkt.

Sehr langsam streckte er eine Hand nach mir aus. Sein Finger legte sich auf meine Schulter und folgte einem Wassertropfen, der über meine Haut rann.

Es kribbelte. Eine Mischung seiner Magie und dem Gefühl, das er bei mir auslöste. Ja, ich konnte mittlerweile die Magie der Wesen um mich herum spüren – vorausgesetzt, sie berührten mich.

„Es ist kalt“, sagte er leise.

Ich lächelte. „Das war keine Antwort auf meine Frage.“

Die bekam ich auch nicht mehr. Stattdessen trat er an mich heran, beugte sich vor und hauchte mir einen federleichten Kuss auf die Lippen. „Zieh dich an“, raunte er. Eine seiner vorwitzigen Schlangen streckte sich mir entgegen und strich über meine Wange.

„Bist du dir sicher?“ Eigentlich war es nicht das gewesen, was ich hatte hören wollen.

„Ich mag keine Ablenkung.“ Er trat von mir zurück und nahm damit auch seine Wärme mit sich.

Ablenkung, soso. Also berührte mein Evakostüm ihn doch. „Was hast du denn vor?“ Als ich nach meinem Handtuch griff, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Amir tat vielleicht immer so unnahbar, aber er war eben doch nur ein Mann.

„Das wirst du gleich sehen. Zieh dich jetzt an und dann komm zu den Wagen.“ Er berührte mich nicht noch einmal, doch seine etwas steifen Schritte, als er ging, waren mir eine Genugtuung. Mein Auftritt hatte ihn wohl doch nicht so kalt gelassen, wie er es mir weiszumachen versuchte.

Das gab mir ein kleines Hochgefühl, in dem ich mich laben konnte, als ich grinsend meine Kleidung überstreifte.

Als ich zu dem kleinen Lager kam, dass sich am Rande des Passes befand, lehnte Amir an einem der Wagen und sprach leise mit Gaio. Jedoch verstummten die beiden, als ich näherkam. Ich konnte nur doch das Wort „Drache“ verstehen.

Wahrscheinlich hatten sie gerade über den Riesen auf dem Pass gesprochen.

Kiran hatte einen Tunnel halb durch den Drachen, halb durch den Weg darunter geschmolzen. Dann hatten wir das Hindernis problemlos passieren können.

Gaio nickte Amir zu und verschwand dann auf dem Planwagen. Unsere Schlaflager hatten wir auf den Ladeflächen aufgeschlagen.

„Komm“, sagte Amir und führte mich an den Wagen vorbei. Die Greife und Glatisants dösten ein Stück weiter, angebunden an einem alten Baum, der so knochig war, das er schon fast versteinert wirkte. Wir ließen sie hinter uns, als Amir mich noch ein Stück den Pass entlang führte und dann nach rechts auf ein kleines Plateau abbog, das von ein paar Bäumen eingerahmt war.

Ganz hinten in der Ecke war ein kleiner Schuppen, auf den Amir zuhielt. Er war ziemlich verwittert, doch nachdem Amir seine flache Hand auf die Tür gelegt hatte, ging sie fast geräuschlos auf.

„Was machen wir hier?“ Ich trat näher und schaute ihm über die Schulter. Der Schuppen war wirklich klein. Und voll.

„Trainieren.“ Amir beugte sich vor und kramte etwas herum.

„Hier?“, fragte ich, meinte aber: Um diese Zeit?

„Warum nicht? Du brauchst die Übung und ich möchte etwas ausprobieren.“ Er tauchte mit zwei langen Stäben aus dem Inneren auf. Einen davon reichte er mir.

Er war fast zwei Meter lang und aus dunklem Holz. Seine Oberfläche war so abgegriffen, dass sie schon ganz glatt war. „Was ist das hier?“

„Ein kleines Außenlager, das wir bei unseren Reisen nutzen. Komm.“ Er entfernte sich von dem Schuppen und trat in die Mitte des Plateaus. „Du hast eine Aversion gegen Waffen“, sagte er frei heraus und begann, den Stab in seiner Hand zu drehen, als wäre es ein Propeller.

Ich war beeindruckt.

„Du möchtest niemanden verletzen – nicht wirklich – aber es gibt Situationen, in denen du nicht umhin kommst, dich mit einer Waffe zu verteidigen.“ Er wechselte den Stab in die andere Hand, ohne die Rotation zu unterbrechen.

Okay, jetzt war ich wirklich beeindruckt.

„Der Stab ist eine der ungefährlichsten, aber doch effektivsten Waffen. Warum?“

„Weil er keine Schneide hat, um jemandem Wunden zuzufügen. Gleichzeitig kann man ihm jemandem über die Rübe ziehen und ihn damit bewusstlos schlagen.“ Was in meinen Augen nicht wirklich besser war.

„Richtig.“ Er drehte den Stab ein letztes Mal, wirbelte dabei um die eigene Achse und richtete das Ende genau auf mich. „Wenn ein Gegner nah genug an dich rankommt, dass du ihn einsetzen musst, kannst du ihn damit wieder auf Abstand bringen, ohne ihn ernstlich zu verletzen.“

Ich senkte den Blick leicht und fuhr mit den Fingern über die glatte Oberfläche. „Aber ist es nicht genau das, was du willst?“

„Nein.“ Er ließ seinen Stab sinken. „Ich möchte, dass du Dämonen fängst. Um den Rest können sich andere kümmern.“

Und das war jetzt so viel besser?

„Tiara, es führt kein Weg daran vorbei. Als Jäger gerätst du immer wieder in Situationen, aus denen du dich hinauskämpfen musst, um nicht nur dein eigenes Leben, sondern auch das deiner Gefährten zu schützen.“

Die anderen Jäger. Wenn ich mit ihnen unterwegs war, mussten sie sich auf mich verlassen können. Sie mussten wissen, dass ich ihnen zur Seite stehen und im Notfall eingreifen würde. Ich musste lernen, eine Waffe zu benutzen, um sie beschützen zu können. Oder ich musste hier und jetzt aussteigen und Amir erklären, dass ich das einfach nicht übers Herz brachte.

Ich hob den Blick, sah dieses inzwischen so vertraute Gesicht. Wenn ihm etwas geschah, weil ich zu feige war, über meinen eigenen Schatten zu springen, würde ich mir das nie verzeihen. Und nicht nur ihm. In der Zwischenzeit waren da noch so viele andere. Keinem von ihnen durfte etwas zustoßen, aber sie würden mit der Jagd nach Dämonen nicht aufhören. Also musste ich lernen, ihnen zu helfen, um sie schützen zu können. „Okay, was muss ich tun?“

Der Blick seiner Augen verriet mir, dass er nichts anderes von mir erwartet hatte, und ich wusste nicht, ob es mir gefiel, so berechenbar zu sein. Andererseits war das hier Amir. Er sah meistens mehr, als die anderen auch nur ahnten.

„Als erstes werden wir mit ein paar einfachen Übungen beginnen, damit du ein Gefühl für die Waffe bekommst.“ Er baute sich gut zwei Meter vor mir auf. „Ein Stab führt sich anders als ein Dolch oder ein Schwert. Er ist anders ausbalanciert und wird auch anders eingesetzt, obwohl ein Teil der Bewegungen deinen bisherigen Übungen mit anderen Waffen schon sehr ähnlich sind.“

O-kay. „Das heißt, ich soll jetzt was tun?“

„Folge einfach meinen Bewegungen und versuche sie nachzuahmen.“

Das sollte ich hinbekommen.

„Als erstes musst du ihn anders halten. Nicht in der Mitte. Hier, so.“ Er legte eine Hand zwischen das erste und zweite Drittel und die andere zwischen das zweite und dritte. „Wir beginnen mit einer einfachen Rotation, damit du eine räumliche Vorstellung von der Waffe bekommst. Pass auf.“ Er griff noch einmal nach, hielt den Stab dann senkrecht neben seiner rechten Seite, drehte ihn in einem Griff, den ich nicht ganz verstand, und dann war der Stab senkrecht auf seiner linken Seite. „Achte auf die Bewegungen meiner Hände. Du musst den Griff beherrschen, die Bewegung, dann geschieht der Rest von ganz alleine.“

Seine Bewegungen waren langsam, doch nur zu Anfang, dann wurden sie immer schneller, sodass ich die Rotation kaum noch verfolgen konnte – ich glaubte ja, dass er mit seinem Können ein wenig angeben wollte. Jeder Griff saß perfekt. Von links nach rechts nach links und wieder nach rechts. Dann hielt er ganz abrupt an. „So, und nun versuch du es.“

Das tat ich. Ich stellte den Stab senkrecht, doch schon bei meiner ersten Drehung rutschte meine Hand ab und er fiel nur nicht zu Boden, weil ich so schnell nachgriff. Doch die Drehung war in die Hose gegangen.

Und das war nur der Anfang. Amir korrigierte immer wieder meinen Griff und meine Haltung, zeigte mir bestimmt ein Dutzend Mal, wie es richtig ging, bevor meine erste und auch zweite Rotation richtig gelangen. Und dabei blieb er die ganze Zeit ruhig und geduldig.

Allein für diese Übung brauchten wir über eine halbe Stunde, bevor die Rotation halbwegs fließend funktionierte.

Einblicke in weitere Übungen folgten. Schlagen, stechen, drehen.

„Wenn du den Stabkampf beherrschst …“, erklärte er und zeigte mir eine komplizierte Übung, in der er den Stab rotieren ließ, sich dabei selbst drehte und aus der Drehung heraus zuschlug. „… ist es eine Möglichkeit, mit mehreren Gegnern gleichzeitig fertig zu werden.“ Das Ende richtete sich auf meine Brust.

Ich zog die Augenbrauen nach oben. „Du erwartest von mir doch nicht, dass ich das jetzt nachmache?“

Sein Mundwinkel zuckte. „Nein, das war nur zur Demonstration. Aber das wird es sein, was du am Ende können musst – das und noch mehr.“

Dagegen hatte ich nichts einzuwenden. Daher folgte ich anstandslos seiner Anweisung, mit dem Training fortzufahren und die Bewegungen, die er mir vorgab, einzustudieren. Dabei fiel mir nicht zum ersten Mal auf, wie nahezu perfekt er im Umgang mit Waffen war. „Wo hast du das alles eigentlich gelernt?“, wollte ich wissen und versuchte mich um die eigene Achse zu drehen, während ich den Stab rotieren ließ.

„Ich hatte in meiner Jugend einen guten Lehrer. Mein Papá hat darauf bestanden, dass ich im Kampf geschult werde, damit ich meine Zeit nicht sinnlos verplempere.“

Papa, wie er das aussprach. Pap-á. „Hat sich wohl als nützlich herausgestellt.“

„Für den alten Mann war es nie gut genug. Egal wie viel ich trainierte oder wie viele Preise ich auf Wettkämpfen gewann. Er wollte immer, dass ich mehr tat.“ Er vollführte eine komplizierte Schrittfolge, an deren Ende er auf einen imaginären Gegner einstach. „Früher war der Stab meine liebste Waffe – bis ich damit in einem Turnier in Sternheim versagte.“

„Mal zu verlieren ist doch nicht verwerflich.“ Ich drehte den Stab wieder von links nach rechts und dann zurück. Langsam hatte ich den Bogen raus. „Aus Niederlagen lernen wir.“

„Ich habe nicht verloren, ich habe sogar den ersten Platz belegt, doch nach dem Turnier bin ich damit auf einen anderen Teilnehmer losgegangen, weil … das ist egal.“ Er verstummte einen Moment, stellte seinen Tanz mit der Waffe aber nicht ein. „Daraufhin wurde mir der Sieg aberkannt. Das hat meinem alten Herrn nicht sonderlich gefallen.“

Das konnte ich mir vorstellen. Wenn dieser Mann so auf den Erfolg seines Sohnes fixiert war, musste ihm das beinahe das Herz gebrochen haben. Aber was hatte den beherrschten Amir nur dazu bringen können, so aus der Haut zu fahren, dass er auf einen anderen Teilnehmer losging?

Diese Frage laut zu stellen, hielt ich nicht für angebracht, deswegen versuchte ich, das Thema zu wechseln. „Sternheim ist doch die Stadt, zu der wir gerade reisen, oder?“

„Ja.“

„Und … wie ist es da so?“ Die einzige Zivilisation, die ich in der magischen Welt kannte, was das Lager der Jäger. In den vielen vergangenen Wochen hatte ich nie etwas anderes gesehen als die Jäger und die Wüste.

„Es ist voll und laut, wie jede andere Stadt auch.“

„Aber … sie liegt in einer magischen Welt, da muss sie doch etwas – ich weiß nicht – magisches haben.“

Amir ließ sich von meinen Fragen in seiner Konzentration nicht stören. Meine Bewegungen dagegen wurden langsamer.

„Etwas magisches“, sinnierte er und tat etwas, dass ich beim besten Willen nicht hätte nachmachen können. „Sternheim ist die Stadt, in der der Hohe Rat seinen Sitz hat. Es ist die größte und berühmteste Stadt dieses Kontinents. Und es ist eine Stadt, die nur aus Glas besteht.“

Das ließ mich innehalten. „Aus Glas?“

„Sternheim, die gläserne Stadt.“ Er wirbelte herum und im nächsten Moment spürte ich, wie er mir den Stab gegen das Schienbein schlug. Das ging so schnell, dass ich nicht mehr reagieren konnte. Naja, außer dass ich „Au!“ rief und zurück stolperte.

„Was sollte das denn?“ Das hatte wirklich wehgetan. Und es half auch nicht, dass ich mir über die schmerzende Stelle rieb.

„Du warst unkonzentriert“, teilte er mir mit und schlug ein weiteres Mal nach mir. Dieses Mal jedoch sah ich es kommen und sprang zurück. Er lächelte. „Schon besser.“

„Könntest du mich das nächste Mal einfach mit Worten darauf aufmerksam machen?“

„Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man so besser lernt.“

„Heißt das nein?“

Über meinen entsetzten Ton lächelte er nur. „Üb weiter, wir sind noch nicht fertig.“

Ob ich ihm erklären sollte, dass ich bereits außer Atem war und gerne eine Pause hätte? Ich glaubte nicht, dass ihn das interessieren würde. Das war wohl der einzige Nachteil, wenn man mit ihm trainierte.

Also fügte ich mich meinem Schicksal und begann wieder mit der Übung. Dieses Mal jedoch passte ich auf, dass Amir mir mit seinem Stab nicht zu nahe kam, weswegen ich auch bald einen Rüffel von ihm bekam. „Achte nicht auf das, was ich tu, konzentrier dich auf deine Aufgabe.“

„Sklaventreiber“, nuschelte ich und versuchte beides zu bewältigen. „Wann werden wir morgen in Sternheim ankommen?“

„Gegen Mittag. Wir brechen früh auf und das Gebirge haben wir in zwei Stunden hinter uns gelassen.“

„Und dann geht es durch den Wolfsbaumwald.“

„Rede nicht so viel, das stört deine Konzentration.“

„Hmpf“, machte ich nur und wirbelte herum. Dabei bemerkte ich meine Chance. Ich drehte mich ein weiteres Mal, näherte mich ihm damit und ließ den Stab gegen sein Schienbein sausen.

Holz knallte auf Holz.

Abgewehrt.

„Wie …“

Amir kniff die Augen leicht zusammen, dann holte er aus und versuchte mich mit dem Stab in die Seite zu treffen. Ich schaffte es gerade noch so, ihn abzuwehren. Er drückte nach und plötzlich stand er mir direkt gegenüber. Nur die gekreuzten Stäbe trennten uns voneinander.

„Du musst immer wachsam sein“, flüsterte er. „Gefahren können an jeder Ecke lauern.“

Immer wachsam. So konnte man Amir bezeichnen, das war seine Natur. „Gibst du jemals die Kontrolle ab?“, fragte ich leise. „Nur für einen kurzen Moment?“

Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Nur in seinen Augen lag eine Härte, die ihn das Leben gelehrt hatte. „Nein, niemals.“

Das war … traurig. „Dann weißt du gar nicht, wie befreiend es sein kann, sich einfach mal gehen zu lassen?“

„Wenn ich Freiheit will, dann steige ich auf Ferox‘ Rücken und fliege den Sonnen entgegen.“

„Wie Ikarus“, flüsterte ich.

„Ich kenne keinen Ikarus.“

Darauf ging ich nicht ein. Die Mythologien der Menschen waren hier sowieso nur vergebene Liebesmüh. Aber es brachte mich auf einen anderen Gedanken. „Nimmst du mich mal mit?“

Er kniff die Augen leicht zusammen und musterte mich, als suchte er nach etwas in meinem Gesicht. „Mal sehen“, antwortete er schlussendlich und stieß mich mit solcher Kraft von sich, dass ich ins Straucheln geriet. „Du bist noch nicht fertig. Üb weiter.“

Ich konnte nicht anders als zu lächeln. Ja, seine Methoden waren grob und sicher nichts für Sensibelchen und schwache Nerven. Aber es war mir lieber so, als wenn er mich mit Samthandschuhen anfassen würde und ich im Ernstfall unvorbereitet wäre. „Irgendwann bin ich gut genug, um dich zu schlagen.“

Sehr langsam breitete sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus. „Darauf freue ich mich jetzt schon.“

 

°°°°°

Tag Sechsundsechzig

 

Gähnend rieb ich mir über die Augen und verzog das Gesicht, als mein geschundener Körper auf dem Kutschbock durch eine Bodenwelle durchgeschüttelt wurde. Vielleicht war der Planwagen aber auch wieder über eine Wurzel gefahren – in diesem Wald schienen sie unendlich durch den Boden zu ziehen. Auch der Weg war von ihnen nicht verschont geblieben.

Vor gut zwei Stunden hatten wir den Wolfsbaumwald erreicht und ich hatte gleich festgestellt, dass ich keine Ahnung hatte, warum er diesen Namen trug, die Bäume sahen nämlich nicht aus wie Wölfe.

Aber sie waren groß – sehr groß. Das dichte Blätterdach ließ nur wenig Licht durch und verlieh dem Wald etwas Mystisches. Schatten tanzten im Zwielicht und Geräusche erfüllten die Luft. Nur eine Sache störte mich beim Anblick des Waldes. Das Grün der Pflanzen. Es wirkte irgendwie … verwaschen. Ihm fehlte die saftige Grüne, die ich im Gebirge gesehen hatte.

Wieder schlich ein Gähnen in meiner Kehle hinauf.

„Du hast es gestern Abend wohl ein wenig übertrieben.“

So könnte man es auch bezeichnen. Ich besaß zwar eine gute Kondition, aber das gestern Abend lag wirklich jenseits von Gut und Böse.

Das Training hatte bis in die frühen Morgenstunden angedauert und die restliche Nacht war viel zu kurz gewesen.

Ich warf einen neidischen Blick auf Amir, der ein Stück vor uns auf Ferox ritt. Warum wirkte er nicht so geschafft? Das war nicht fair. Wenigstens ein paar Ringe hätte er unter den Augen haben müssen, solange, wie er mich gestern gescheucht hatte.

Als sich ein weiteres Gähnen anbahnte, verkündete Gaio, dass wir eine Pause einlegen würden.

Kiran hielt den Wagen an und befestigte die Zügel der Tiere. „Wenn du wirklich so müde bist, dann leg dich doch noch ein bisschen hin. Bis Sternheim ist es noch ein Stück.“

Vielleicht sollte ich das wirklich machen – später. „Erstmal versuch ich es mit ein bisschen Bewegung.“

„Aber pass auf, dass du den Weg nicht verlässt. Dahinter beginnt gleich das Territorium der Lykaner und die mögen keinen Besuch.“

„Ich werde es mir merken“, sagte ich, während ich vom Kutschbock kletterte und meine Glieder streckte, bis die Knochen knackten. Ein kleiner Spaziergang war vielleicht wirklich das Richtige.

Ich konnte Amir ja fragen, ob er Lust hatte, mich zu begleiten, doch ein Blick zu ihm reichte, um mir zu verdeutlichen, dass er gerade mit Gaio beschäftigt war. Die beiden schienen die gleiche Idee wie ich gehabt zu haben, nur liefen sie in die andere Richtung.

Sollte ich mich ihnen anschließen? Ich wusste nicht, ob das den beiden so recht sein würde. Außerdem schienen sie ständig etwas zu besprechen zu haben – sie und auch Elias.

Während ich ihnen nachsah, schien sie plötzlich ein Geheimnis zu umgeben.

Bei dem seltsamen Gedanken musste ich den Kopf über mich selbst schütteln. Was sollten sie schon für ein Geheimnis haben? Sie waren einfach Freunde und Kollegen, die gerne miteinander sprachen. Mehr war da nicht.

Trotzdem hielt ich es für besser, die beiden nicht zu stören, und wandte mich in die andere Richtung, doch schon nach wenigen Schritten blieb ich stehen. Da war ein merkwürdiges Rascheln – irgendwie panisch. Dann hörte ich ein hohes Fiepen und noch bevor ich mich orientieren konnte, um den Ursprung der Geräusche auszumachen, fiel direkt von dem Baum vor mir etwas runter. Blätter stoben auf, als es auf dem Boden landete. Wieder ein Fiepen, ein Rascheln. Dann war alles still.

Sollte ich mir das näher ansehen, oder war es besser, es einfach zu ignorieren? Ich biss auf meine Unterlippe, sah zu den Wagen zurück und ließ meine Neugierde gewinnen. Sollte es wirklich gefährlich sein, waren die anderen ja in der Nähe.

Trotzdem war Vorsicht geboten.

Schritt für Schritt tastete ich mich heran und schob mit den Füßen die Blätter beiseite – für diese Jahreszeit waren das wirklich unglaublich viele Blätter – bis ich auf einen kleinen Körper stieß, der rücklings im lockeren Laub lag. Es sah aus wie eine langbeinige Eidechse. Zwischen dem Torso und den dünnen Vorderbeinchen war eine Lederhaut gespannt – wie bei einem Flughörnchen. Das Schuppenkleid schimmerte bläulich, aber das war nicht alles.

Ich nahm mir einen Stock und drehte das kleine Tier vorsichtig auf den Rücken und was da zum Vorschein kam, ließ mich angewidert die Nase rümpfen. Der ganze Rücken war übersät mit dicken schwarzen Pocken, von denen nicht wenige aufgeplatzt waren und ein eitriges Sekret abgaben. Selbst jetzt noch, nachdem es tot war, platzten die Beulen auf und spritzten ihr Sekret mehrere Zentimeter weit.

Das war wirklich … abstoßend.

Vorsichtshalber trat ich zurück. Dieses Tier war krank und ich wollte mich sicher nicht anstecken. Doch so abscheulich es auch war, ich schaffte es nicht, meinen Blick davon abzuwenden. Nicht weil ich es so faszinierend fand, sondern wegen dem, was um das kleine Wesen herum geschah.

Wo das Sekret die Blätter berührte, zerfielen sie vor meinen Augen zu Staub.

Ein Tropfen landete auf einer herausragenden Wurzel. Das Holz knackte und splitterte. Vor meinen Augen wurde es alt und morsch und als ich probehalber mit dem Stock dagegen drückte, fiel es einfach in sich zusammen, als würde sich der Zersetzungsprozess der Natur bereits seit Jahren an ihm zu schaffen machen.

Und nicht nur das, der Baum schien plötzlich zu altern. Er wuchs nicht, nein, er wurde einfach nur … alt. Selbst das grüne Moos darauf wurde braun.

Was war hier los? Das war doch sicher nicht normal.

Vielleicht war es dumm von mir, aber ich trat an den Baum heran und legte meine Hand auf die raue Rinde. Einmal noch atmete ich tief ein und aus, dann schloss ich die Augen und konzentrierte mich darauf, so wie Asha es mir beigebracht hatte.

Eigentlich war das eine Methode, um Krankheiten und innere Verletzungen bei Mortatian zu finden, aber wie wurde mir von meinem ersten Tag an erzählt? Magie war Leben, jeder von uns bestand aus ihr, also warum sollte es nicht auch bei einer Pflanze funktionieren können?

Ich setzte ein wenig meiner Magie frei, um ein besseres Gefühl für das, was ich tat, zu bekommen, und was ich wahrnahm, ließ mich schaudern.

Dieser Baum … ich konnte das Leben in ihm spüren, doch allein die kurze Berührung ließ mich fühlen, wie es langsam aus ihm wich. Die Magie, die in ihm wohnte, sie war irgendwie … falsch. Anders konnte ich es nicht ausdrücken. Die Magie im Baum fühlte sich nicht richtig an und das machte ihn krank.

Ich konnte geradezu fühlen, wie der Baum in seinem Schmerz schrie.

War ich die Einzige, die das bemerkte? Vielleicht sollte ich Kiran fragen, aber laut Asha waren nur Hexen in der Lage, Magie so zu empfinden.

Ich schlug die Augen wieder auf und trat einen Schritt zurück. Irgendetwas stimmte hier nicht und …

Als ich mit dem Rücken gegen eine Brust prallte, drehte ich mich überrascht um und riss dann vor Schreck die Augen auf.

Da stand ein junger Mann mit weichen Zügen. Sein schokobraunes Haar hatte er zu einem langen Zopf geflochten, der ihm über die Schulter fiel, und sein Gesicht wurde von einem verwirrten Runzeln geziert.

Aber das wohl auffälligste an ihm war etwas ganz anderes. Er war splitterfasernackt!

Okay, dieser Anblick kam überraschend und ich brauchte ungefähr eine halbe Minute, um mich daran zu gewöhnen. Nicht dass mir nicht gefiel, was ich sah – er war schon ganz nett – ich war es nur einfach nicht gewöhnt, plötzlich vor nackten Kerlen zu stehen, die überraschend aus dem Wald auftauchten. Wie reagierte man da?

Ich versuchte es mit einem schiefen Lächeln und wollte zum Gruß die Hand heben, doch in dem Moment kam er näher – zu nahe nach meinem Geschmack. Er drang praktisch in meinen persönlichen Bereich ein. Dann hob er auch noch den Arm und griff in mein offenes Haar, um eine Strähne zwischen den Fingern zu zwirbeln.

Nun schon seit Wochen flocht ich mein Haar jeden Tag zu einem Zopf oder steckte es mir an den Kopf - nur heute nicht. Und ausgerechnet dann tauchte so ein Kerl auf, der der Meinung war, damit rumspielen zu müssen.

Aber er wirkte dabei nicht aggressiv, eher … nachdenklich, verwirrt. Was wohl auch der einzige Grund war, warum ich ihn nicht direkt wegstieß. Er schien nichts Böses zu wollen.

Doch als er sich dann die Strähne an die Nase hielt und daran schnüffelte, überlegte ich, ob ich jetzt nicht vielleicht doch eine Grenze ziehen sollte. Nur eine Sache hinderte mich daran. Es waren die schwarzen Pocken auf seinem Oberarm. Sie waren viel kleiner als die von der geflügelten Eidechse, eher gräulich als schwarz, und sie waren auch noch nicht aufgeplatzt, doch es schien sich um dieselbe Krankheit zu handeln.

„Ähm …“

„Du bist nicht Talita“, sagte er leise und kniff die Augen leicht zusammen.

Sprach er von meiner Schwester? Ich kam nicht mehr dazu, ihm diese Frage zu stellen, weil er in dem Moment von einer unsichtbaren Kraft von mir weggeschleudert wurde und mit einem dumpfen Aufschlag im Laub landete – das musste wehgetan haben.

Ich wirbelte herum und entdeckte Kiran mit ausgestreckten Armen. In seinem Gesicht war ein Ausdruck, den ich dort noch nie gesehen hatte – Entschlossenheit.

In der nächsten Sekunde fiel Gaio aus dem Himmel und landete direkt vor mir. Die ausgebreiteten Schwingen ließen ihn noch größer und bedrohlicher wirken. „Verschwinde, Lykaner“, fauchte der den jungen Mann an, der sich gerade auf den Rücken drehte. Doch er wirkte nicht im Mindesten eingeschüchtert, eher … verärgert.

Er starrte Gaio an, als wollte er ihn fressen.

„Denk nicht mal dran“, sagte Amir leise und trat neben Kiran, der seine Hände noch immer angriffsbereit auf den Mann gerichtet hatte. „Wir haben eure Grenze nicht überschritten. Wenn du angreifst, hat das böse Folgen für dich.“ Wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, nahm er seine Peitsche von der Hüfte und schlug sie einmal im Kreis, dass sie knallte.

Ich drängte mich an Gaio vorbei und blieb nur stehen, weil er mich am Arm packte und zurückhielt. Aber ich konnte seine Worte nicht vergessen. „Was weißt du über Talita?“, fragte ich ihn.

So wie er mich musterte, hätte er mir auch genauso gut den Mittelfinger zeigen können. Doch nicht nur mich, sein Blick glitt über alle Jäger. Dann warf er den Kopf in den Nacken und stieß das Heulen eines Wolfes aus.

Allein von dem Geräusch stellten sich mir die Härchen auf den Armen auf. Dann erwiderte ein mehrstimmiger Chor aus allen Richtungen den Ruf.

Okay, jetzt bekam ich es doch ein wenig mit der Angst zu tun. Es waren … so viele. Aber es ließ sich niemand sehen.

„Geh“, forderte Amir ihn auf. Das Jaulen schien ihn nicht im Geringsten zu interessieren.

Der junge Mann zeigte ihm die Zähne. Es war kein Grinsen, eher ein Fletschen. Dann begann sein Körper sich plötzlich zu verformen. Aus dem jungen Mann wurde ein Wolf mit braunem Pelz, der mir noch einen letzten Blick zuwarf und dann einfach im Unterholz verschwand.

Für einen Moment war ich versucht, ihn zurückzurufen. Woher kannte er meine Schwester? Die Antwort war so offensichtlich, dass ich den Mund nicht öffnen brauchte. Ich hatte die Zeitungsartikel gelesen – mehrmals. Das war ein Werwolf gewesen und Talita hatte für ihn und auch für die anderen gekämpft. Sie gehörte zu ihm.

Nur … woher wusste er, dass ich nicht Talita war?

„Du riechst anders“, sagte Amir und wickelte seine Peitsche wieder auf.

Hatte ich die Frage laut gestellt?

„Lasst uns weiterfahren“, brummte Gaio und schob mich zu dem hinteren Planwagen. Kiran war bereits dabei, auf den Kutschbock zu klettern, während Amir nach den Zügeln von Ferox und Aquila griff, die ein Stück weiter nach Würmern gepickt hatten.

Ich zögerte, schaute wieder zum Waldrand. Wo war der junge Mann hingelaufen? Würden er und seine Freunde uns verfolgen, weil wir so grob zu ihm waren?

„Los, steig ein“, forderte Kiran mich auf und streckte mir sehr nachdrücklich die Hand entgegen.

Kaum dass ich neben ihm im Wagen saß, ging die Fahrt auch schon weiter, doch auch wenn wir den Ort des Geschehens verließen, so hing mir das gerade Erlebte noch nach. Besonders die schwarzen Pocken auf seinem Arm wollten mir nicht aus dem Kopf gehen. Genau wie die der kleinen Eidechse. Würde er genauso enden? Würde auch er diesen Schmerz fühlen, den ich bei der Berührung des Baums gespürt hatte?

Das war ein schreckliches Schicksal. Und es war falsch. Irgendwas stimmte hier nicht. „Er war krank“, hörte ich mich sagen.

Kiran warf mir nur einen kurzen Seitenblick zu.

Es war Amir, der neben der Kutsche ritt, der mir antwortete. „Er ist nicht der erste. Seit das Sterben des Waldes angefangen hat, sind immer mehr Wesen in diesen Wäldern davon betroffen. Auch die Lykaner.“

„Der Wald stirbt?“ Ich schaute zu den mächtigen Bäumen am Wegesrand, die schon mehrere Jahrzehnte alt sein mussten. Mir selbst war schon aufgefallen, dass sie ein wenig kränklich aussahen. Und dann der Baum, auf den das Sekret gespritzt worden war. Hatte es wirklich daran gelegen, oder hatte der Baum sich vorher schon in Schmerzen gewunden?

Vielleicht waren ja auch die Bäume die Ursache für die Krankheit. Aber seit wann waren Bäume denn ansteckend? „Wie lange geht das schon so?“

„Das erste Mal sind wir vor etwas mehr als vier Monaten darauf aufmerksam geworden.“

Also kurz bevor ich in der magischen Welt aufgetaucht war. „Und … ist das nur hier so?“

„Zumindest ist mir bisher nichts anderes zu Ohren gekommen.“ Er lenkte Ferox ein wenig näher an den Karren heran. „In diesem Teil des Waldes ist es noch nicht so schlimm. Die Strecke am Drachengebirge entlang hat es viel Schlimmer getroffen. Dort ist der Wald fast völlig vertrocknet. Die Bäume sind abgestorben und tragen nur noch braune, kränkliche Blätter. Ich konnte beobachten, wie einer innerhalb von Minuten so marode wurde, dass er bei einer Berührung einfach zu Staub zerfallen ist.“  

Oh Gott, das war ja … entsetzlich.

„Schau nicht so“, sagte Amir. „Alles hat einen Grund. Du wirst sehen, am Ende wird alles gut werden.“

„Wie kannst du dir da sicher sein?“ Er hatte die Schreie des Baumes nicht gehört, seinen Schmerz nicht gespürt. Selbst mir hatte es wehgetan.

„Weil ich Dinge verstehe, von denen andere keine Ahnung haben. Du wirst schon sehen, alles ist genauso, wie es sein soll.“ Mit diesen kryptischen Worten gab er Ferox ein Kommando und ritt an die Spitze unserer kleinen Karawane.

Doch dieses seltsame Lächeln auf seinen Lippen gefiel mir nicht. Es hatte etwas … Listiges an sich.

Plötzlich war ich zu müde, um über all das nachzudenken. Wieder schlich sich ein Gähnen auf meine Lippen und brach hervor, bevor ich es aufhalten konnte.

„Geh schlafen“, forderte Kiran mich auf. „Ich wecke dich, wenn wir da sind.“

Vielleicht war das wirklich das Beste.

 

°°°

 

Ein Knall wie ein Schuss ließ mich aus dem Schlaf schrecken, bis ich aufrecht saß. Ich brauchte eine Sekunde, um mir darüber klarzuwerden, dass ich mich auf der Ladefläche des Planwagens befand. Und eine weitere, um festzustellen, dass aus den ruhigen Geräuschen des Waldes der Lärm der Großstadt geworden war.

Hieß das, wir befanden uns bereits in Sternheim?

Ich schaute vorne raus, aber außer Kirans Rücken war nicht viel zu erkennen. Moment, hatte er mich nicht wecken wollen? Das hatte er ja dann wohl versäumt.

Als ich den Knall ein weiteres Mal hörte, krabbelte ich ans andere Ende des Karrens und schaute hinaus.

Wow.

Wir befanden uns auf einer Straße, die so voll war, dass wir uns nur im Schritttempo bewegen konnten. Doch was diese Straße alles verstopfte - ich bekam den Mund vor Staunen kaum noch zu. Da waren Unmengen an … hm … wahrscheinlich waren es Fahrzeuge, ähnlich wie Autos, nur unterschieden sie sich in der Form so stark, dass sie kaum noch Ähnlichkeiten zu den Fahrzeugen, die ich kannte, aufwiesen.

Sie erinnerten mich an Tropfen. Die obere Spitze war in diesem Fall jedoch die vordere Schnauze und der dicke Bauch lag seitlich. Unten war es abgeflacht, aber ich sah keine Räder. Diese Vehikel schwebten ein paar Zentimeter über dem Boden.

Dann waren da Kutschen. Ich hatte noch nie so viel Kutschen auf einem Haufen gesehen. Manche waren wie unsere, aber das waren die wenigsten. Sie hatten zum Teil sehr schräge und ausgefallene Farben. Die Formen gingen über rechteckige Klötze bis zu filigranen Kunstwerken. Holz und Metall. Eine schien sogar aus Kristall gefertigt worden zu sein. Sie wurde von zwei weißen Pferden mit Flügeln gezogen.

Ich entdeckte auch zwei … hm … ich würde sie mit Motorrädern vergleichen. Es war ein großes Rad, in dem man drinsaß. Der Sitz war so konstruiert, dass er sich nicht mitdrehte, und der mittlere Teil des Rades war durchsichtig.

Diese beiden Gefährte waren so schmal und wendig, dass sie keine Probleme hatten, sich zwischen den andern Verkehrsteilnehmern einfach hindurch zu schlängeln.

Und überall zwischen den Fahrzeugen waren Mounts mit den seltsamsten Reitern. Ich sah einen schwarzen Löwen, dessen Fell glitzerte, als wäre er mit Hunderten von Diamanten gespickt. Auf seinem Rücken thronte eine wunderschöne Elfe und hielt sich etwas ans Ohr, das mich an ein Handy denken ließ. Sie wirkte sehr geschäftig.

Und das da hinten - war das eine Hydra? Der Reiter schien Probleme damit zu haben, den einen Kopf davon zu überzeugen, nicht an dem Greif neben ihm zu knabbern.

Da waren Glatisants und riesige, geisterhafte Hunde. Über meinen Kopf flog ein Pegasus hinweg und ein leuchtender Hirsch warf unruhig seinen Kopf zurück. Dabei flogen Lichtfunken von seinem Geweih in alle Richtungen. Der Hirsch selbst schien aus reinem Licht zu bestehen.

War das da hinten ein Zentaur? Und dieses Mount da … ich konnte es nirgends einordnen. Aber mit seinem zottigen Fell und den langen Hauern sah es echt unheimlich aus.

Und erst die ganzen Mortatia. Harpyien, Engel und Serpens, diese erkannte ich auf Anhieb. Aber da waren auch andere, die ich noch nie gesehen hatte. Eine Frau, halb Mensch, halb Katze. Drei Männer im Anzug, die sich auf einem langen Schlangenschwanz fortbewegten. Sie hatten keine Haare, sondern ein Schild, so wie eine Kobra. Die Gesichtszüge waren jedoch menschlich.

Andere waren schwerer zu unterscheiden. Männer und Frauen in Lendenschürzen, ein Kind in einer langen Robe und fast durchscheinende Wesen in langen Kleidern und hauchdünnen Gewändern. Da waren Röcke und Hosen, Blusen, Pullis und knappe Oberteile. Alles war bunt und so … vielfältig, dass ich gar nicht wusste, wohin ich als erstes schauen sollte.

Doch egal, wohin ich sah oder wie sehr ich mir den Hals verrenkte, die Ursache für den Knall konnte ich nicht ausmachen. Vielleicht eine zuschlagende Wagentür oder ein kaputter Auspuff. Obwohl ich an diesen seltsamen Gefährten keinen Auspuff entdecken konnte.

Diese Stadt war wahnsinnig farbenfroh, vielseitig und laut, aber das wirklich Beeindruckendste waren nicht die Straßen und die Kreaturen, die sich darauf bewegten, sondern all das, was dahinter lag.

Eine ganze Stadt aus Glas. Ganze Häuserfronten, die aus einer Scheibe gefertigt waren, jedoch einen Schimmer auf sich hatten, der es einem unmöglich machte, ins Innere zu spähen. Ja, selbst die Straßen und Wege waren aus Glas gefertigt.

Vor Staunen bekam ich den Mund gar nicht mehr zu. Das war nicht nur faszinierend, das war der Wahnsinn. „Wie ist das möglich?“

Die Antwort lag klar auf der Hand. Magie. Die ganze Stadt war durch Magie geschaffen worden. Und das zeigte sie in jeder Facette ihres Aussehens.

Da wir uns nur langsam vorwärts bewegten, bekam ich genug Gelegenheit, mir alles sehr genau anzusehen. Doch schon bald reichte mir das nicht mehr. Ich wollte die Sachen nicht nur aus der Ferne betrachten, ich wollte sie hautnah erleben. „Ich bin gleich wieder da“, rief ich Kiran zu und kletterte aus dem Wagen. Er fuhr so langsam, dass das kein Problem war. Selbst wenn ich ein wenig bummeln gehen würde, hätte ich noch genug Zeit, den Wagen wieder einzuholen.

„Hey, wo willst du hin? Tiara!“

Ich ignorierte Kirans Ruf, schlängelte mich zwischen hupenden Autotropfen über die Straße, bis ich auf den Gehweg gelangte und fast von einem Minotaurus umgerannt wurde.

„Pass doch auf“, schnauzte er mich an und ging seines Weges.

Ich konnte ihm nur hinterherlächeln. Wie viele Leute konnten schließlich behaupten, schon einmal von einem Minotaurus in einem maßgeschneiderten Anzug angeschnauzt worden zu sein?

Doch mit seinem Verschwinden konzentrierte ich mich auf den Laden vor mir. Eine Konditorei. Im Schaufenster waren feinste Kuchen und Torten ausgestellt. Lebkuchenmännchen tanzten herum und verteilten Marzipanrosen und Zuckerherzen.

Ich überlegte, ob ich mir den Laden einmal von innen ansehen sollte, als zwischen dem Türstock und der Tür ein nebliger Dunst hervortrat, der sich auf dem Gehweg zu der Gestalt einer Frau formte. Sie schien kein Geist zu sein, sondern aus Wind zu bestehen, und als der Hauch ihre langen Haare meinen Arm streifte, spürte ich eine ähnliche Magie wie bei mir.

Sie war eine Hexe – irgendwie.

Sie schenkte mir ein Lächeln und trat dann über die Straße.

Ich schlenderte ein wenig die Allee hinunter, bis ein Laden mit dem Namen Quäntchen meine Aufmerksamkeit erregte. Im Schaufenster war ein Meer aus Kräutern ausgestellt, die aus einer immergrünen Wiese sprossen. Der angenehme Duft der Kräuter strömte bis auf die Straße.

Noch ehe ich mich versah, betrat ich den Laden.

Ein kleines Glöckchen kündigte meine Ankunft an und ließ eine Frau in einer langen Robe hinter dem Tresen aufblicken. „Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?“

„Ähm … nein. Darf ich mich ein wenig umsehen?“

„Aber natürlich. Wir führen alles, was das Herz einer Hexe begehrt. Wenn Sie Fragen haben, kommen Sie nur zu mir.“

Ah, dann war sie wohl auch eine Hexe und das hier musste so eine Art Zauberladen sein. „Danke, das mache ich.“ Ich entfernte mich vom Schaufenster und dem Tresen und wandte mich dem hinteren Teil zu, der voller deckenhoher Regale war.

Hier gab es Bücher – so viele Bücher. Das kleine Hexeneinmaleins und Kräutertinkturen. Verborgene Schätze, Heilzauber und Die besten Flüche.

Ich schmunzelte. Das waren dann wohl die Zauber für nervige Nachbarn.

Ich fand auch Biographien von scheinbar berühmten Hexen, Literatur über Zauberei im Alltag. Andere Regale waren mit kleinen Fläschchen und Phiolen gefüllt. Blubbernde Tränke, getrocknete Kräuter und Dolche mit gravierten Griffen und Edelsteinen.

In einer Vitrine gab es eine Auswahl an Schmuckstücken, die solch starke Magie abstrahlten, dass ich, ohne sie zu berühren, wusste, dass sie verzaubert waren.

Ich strich über die Stelle des Glases, unter dem ein Ring lag. Er war aus Silber und so schlicht, dass er unter dem anderen Schmuck fast unter ging, doch die Magie, die er abstrahlte, war einzigartig. So rein und unschuldig.

Auf dem kleinen Kärtchen davor stand Heilendes Herz.

„Haben Sie etwas gefunden, dass Sie interessiert?“, fragte die Verkäuferin. Sie war hinter dem Regal vorgetreten.

Ich lächelte sie an. „Sie haben einen wunderschönen Laden.“

Das ließ ihre Augen freudig aufleuchten. „Vielen Dank. Ich gebe mir Mühe.“

„Das ist Ihnen auf jeden Fall gelungen.“ Wieder strich ich mit meinem Finger über das Glas.

„Haben Sie etwas entdeckt, was Ihnen gefällt?“

Ich zögerte, schließlich hatte ich kein Geld, und trotzdem musste ich fragen. Diese Magie berührte mich einfach. „Dieser Ring, was bewirkt er?“

Die Verkäuferin beugte sich neben mir über die Vitrine. „Ah, das heilende Herz. Nur wenige Hexen würden ihn unter dem anderen Prunk entdecken.“

„Weil er so schlicht ist.“

Sie nickte. „Dieser Ring wurde von einer Hexe geschmiedet, die um das Leben ihres Mannes bangte. Er war sterbenskrank und ihr Wunsch, ihm noch ein langes Leben zu ermöglichen, verwob sich mit dem Zauber, den sie spinnte, und floss in das Silber hinein. Die Magie in ihm ist von einer solch unschuldigen Reinheit, dass sie ihrem Mann noch viele Jahre schenken konnte. Erst als er alt war und ein langes Leben geführt hat, nahm er ihn wieder ab.“

„Der Träger muss ihn also immer anbehalten?“

„Ja.“ Sie runzelte die Stirn. „Kennen Sie etwa jemanden, der krank ist?“

Ich musste an den Jungen im Wald denken, der den Namen meiner Schwester geflüstert hatte. „Ich weiß nicht. Vielleicht …“

Als die Türglocke klingelte, verstummte ich und sah auf.

Amir stand in der offenen Tür. Er musste gar nicht nach mir suchen, denn er fand mich auf Anhieb. „Was machst du hier, Tiara?“

„Shoppen?“ Mein schiefes Lächeln entlockte ihm keine Reaktion. Wäre ja auch zu einfach gewesen. „Ich wollte mich nur mal ein wenig umsehen.“

„Du solltest nicht allein herumlaufen, nicht … in deiner Situation.“

Viator. Alles fremd, alles neu, alles so … anders. Ich verstand schon. „Ich war nur neugierig.“

Er öffnete die Tür ein Stück weiter. Die Geste war deutlich.

„Okay.“ Seufzend drehte ich mich zu der Verkäuferin herum. „Danke für Ihre Mühe, aber die Pflicht ruft.“

Allein an der Kleidung musste der Verkäuferin aufgefallen sein, dass wir zusammen gehörten, doch Amirs Anwesenheit schien ihr zu missfallen. Das Lächeln in ihrem Gesicht war verschwunden. Sie wirkte nun professionell und geschäftig. „Sehr gerne.“ Kurz und bündig.

Nein, Amirs Auftauchen gefiel ihr wirklich nicht. Vielleicht weil er keine Hexe war?

Ich strich noch ein letztes Mal über das Glas und trat dann durch den Laden zu Amir. Er war schon aus der Tür verschwunden, als ich mich nochmal zu der Frau umdrehte. „Sie haben wirklich ein schönes Geschäft.“

Die Straße empfing mich mit dem Lärm der Stadt.

Amir band Ferox gerade von einem Anbindepfosten los. Sie waren am ganzen Straßenrand aufgestellt worden, immer da, wo eine Linie einen Parkplatz von dem nächsten trennte. Mit Ketten konnten die Mounts dazwischen angebunden werden.

Der Gedanke, die Tiere wie Autos – oder dem Äquivalent dieser Welt dazu – am Straßenrand zu parken, fand ich amüsant. Die Stadt unterschied sich halt in mehr als nur dem Aussehen von denen der Menschen. Ich meinte, dort gab es zwar Läden für Esoterik und Okkultismus, aber dort würde man niemals ein Geschäft für echte Hexen mir wahren magischen Gegenständen finden. Dort gab es keinen Ring, der todbringende Krankheiten heilen oder wenigstens aufhalten konnte.

Auch keine Parkplätze für Tiere.

Amir schwang sich auf Ferox‘ Rücken und streckte mir die Hand entgegen. Hieß das etwa das, was ich vermutete? Ein Grinsen schlich sich auf meine Lippen. Noch ehe ich mich versah, griff ich nach seiner Hand und ließ mich vor ihn in den Sattel ziehen.

Ferox tänzelte unter uns, doch Amir hatte ihn gut im Griff – so gut, dass er die Zügel nur mit einer Hand halten musste und die andere frei hatte, um sie mir um die Taille zu legen.

Ich lächelte ihm über die Schulter zu. „Und, fliegen wir jetzt?“

„Nein, wir reiten den anderen hinterher. Unser Zeitplan ist straff und durch deinen kleinen Ausflug hast du uns in Verzug gebracht.“

War er etwa sauer?

Ich presste die Lippen aufeinander und mied seinen Blick, als er sich zwischen den anderen Verkehrsteilnehmern auf der Straße einordnete. Nach wie vor ging es nur sehr langsam voran, weswegen ich mir eine bestimmte Frage nicht verkneifen konnte. „Wenn wir es so eilig haben, warum fliegen wir dann nicht einfach?“

„Weil du in Sternheim eine Lizenz brauchst, um durch die Straßen zu fliegen.“

Sowas wie ein Führerschein fürs Fliegen? „Warum?“

„Die Spannweite der Flügel beträgt selbst bei den kleinsten Mounts im Durchschnitt um die drei Meter. Was glaubst du, was passiert, wenn alle Anwohner von Sternheim sich plötzlich auf Flugmounts durch die Luft bewegen?“

„Ohne Straßenverkehrsordnung? Chaos.“

„Die enorme Spannweite der Flügel würde die Reiter gegenseitig behindern. Es würde immer wieder zu Zusammenstößen und Abstürzen kommen. Davon wären dann nicht nur die Mortatia in den Lüften, sondern auch die auf den Straßen betroffen.“

Ja, weil die Flugmounts in sie hineinstürzen würden. „Das heißt, in der Stadt herrscht Flugverbot?“ Aber Moment, ich hatte doch vorhin einen Pegasus vorbeifliegen sehen – und da hatte eindeutig jemand draufgesessen.

„Den Wächtern ist es erlaubt zu fliegen, genau wie Heilern und Sanitätern. Krankentransporte und Notfälle. Ansonsten nur hochrangige Staatsleute oder Mortatia mit Sondergenehmigung.“

Ganz schön bürokratisch. Wer hätte das gedacht? „Und du besitzt keine Sondergenehmigung.“

„Nein, dafür bin ich nicht wichtig genug.“

Bildete ich mir das ein, oder schwang da in seiner Stimme ein missbilligender Unterton mit? Ich hielt es für angebracht, diese Frage für mich zu behalten, und richtete meine Aufmerksamkeit stattdessen lieber wieder auf unsere Umgebung. Von diesen Häusern, so komplett aus Glas, konnte ich einfach nicht genug bekommen. Ich entdeckte sogar einen kleinen Park, in dem auch die Bäume und Blumen in den Beeten zwischen den angelegten Wegen in den Sonnen kristallen schimmerten – inklusive der Zäune. Dieser Park war ein Kunstwerk.

Nur zu gerne hätte ich ihn mir einmal näher angesehen, doch da würde Amir sicher nicht mitspielen.

„Hyalus“, sagte Amir, dem mein neugieriger Blick aufgefallen war. „So heißt diese Anlage.“

„Sie sieht wunderschön aus.“

„Es war das Projekt einer Schulklasse.“

„Das haben Kinder gemacht?“, fragte ich überrascht.

„Die Kleinsten von uns sind jene mit der größten Phantasie und dem Blick für die Unschuld. Wer sonst könnte etwas von solcher Makellosigkeit erschaffen?“

Wow, mehr gab es da nicht zu sagen. Zumindest bis zu dem Moment, als wir an einem großen Platz vorbeikamen, auf dem ein Monument in der Form eines riesigen alten Pergaments aufgestellt worden war. Es fiel mir sofort ins Auge, da es aus Stein bestand und nicht aus Glas. „Was ist das?“

„Der Platz der Stürme.“ Er schenkte diesem Ort nur einen kurzen Blick. „Die Tafel soll an die Gefallenen aus alter Zeit erinnern.“

Sprach er von Krieg? „Wenn du die Jagd einmal aufgibst, solltest du es als Stadtführer versuchen.“

„Danke, aber ich bleibe bei der Jagd. Was danach kommt …“ Er verstummte und auch, als ich ihn über die Schulter hinweg ansah, schien er nicht gewillt, diesen Satz zu beenden.

Vielleicht wollte er einfach nur nicht daran erinnert werden, dass auch er irgendwann einmal zu alt für die Jagd sein würde. Es gab ja bekanntlich Leute, die machte allein der Gedanke ans Altwerden panisch. Nur hätte ich nicht geglaubt, dass Amir dazugehörte.

Kurz bevor die Hauptstraße sich aufspaltete und in zwei verschiedene Richtungen verlief, entdeckte ich ein großes Gelände mit einem … war das etwa ein Schloss?

„Ein Hotel“, erklärte Amir. „Das Diamantschloss. Das exklusivste Hotel in der ganzen Stadt – vielleicht sogar im ganzen Land.“

Diamantschloss. Der Name gab bereits das preis, was es war - ein Schloss, das aus tausenden und abertausenden Diamanten zu bestehen schien. Die vielen Millionen Facetten erstrahlten im Sonnenlicht und malten die schimmernden Farben des Regenbogens auf die Oberfläche.

Es war wunderschön.

Amir lenkte Ferox nach links und reihte sich neben einer Kutsche ein. Hier lief der Verkehr ein wenig fließender, aber schon bald verließ er die Hauptstraße und wir bewegten uns über gewundene Nebenstraßen weiter, in denen sich hübsche Einfamilienhäuser und kleine Anwesen aneinander reihten. Und wieder alles aus Glas. Nicht nur die Häuser, auch die Wege und Zäune. Doch es gab einen Unterschied zu der vielgenutzten Hauptstraße.

War es da schon sauber und wirkte wie geleckt, so machte es hier den Anschein, als würde irgendjemand sofort mit einem Poliergerät angerannt kommen, sollte es auch nur der kleinste Fleck wagen, in dieser Straße aufzutauchen. Alles glänzte und funkelte.

Doch aus all den faszinierenden Gebäuden stach eines ganz besonders hervor. Nicht weil es so eindrucksvoll war wie das Diamantschloss oder der Hyalus. Auch nicht, weil es sich von den anderen Anwesen besonders unterschied – bis auf eine Sache: die Mauer, die das kleine Anwesen umgab. Sie war nicht aus Glas, sondern aus hellem Stein, der Ähnlichkeit mit Marmor aufwies.

„Das war die Residenz von unserem verstorbenen Wesensmeister.“

„Es sieht ein wenig verwildert aus.“

„Kein Wunder, es wohnt hier ja niemand mehr. Und soweit ich weiß, gibt es auch niemanden, der sich um das Anwesen kümmert.“

„Warum?“

Amir zügelte Ferox und schaute auf das verlassene Anwesen. „In diesem Haus wurden schlechte Zauber gewirkt, unreine Energien. So etwas hat Auswirkungen auf seine Umgebung. Auch die Häuser drum herum stehen leer. Niemand will hier mehr wohnen.“

„Du meinst, das Haus ist verflucht?“

„Sowas in der Art.“ Amir schüttelte betroffen den Kopf. „Dabei war es nicht einmal Anwar von Sternheim, der für die grauenhaften Zauber verantwortlich war, sondern sein Bibliothekar.“

Sein … Moment. „Meinst du den Anwar von Sternheim, der die Lykaner aus dem Codex verbannen wollte?“ Der Anwar, der in fast jedem Zug mit meiner Schwester in den Zeitungsartikeln genannt wurde?

„Ja genau, diesen Anwar meine ich.“

Plötzlich veränderte sich das Haus in meinen Augen. Talita hatte hier gelebt. Sie war dort gelaufen, wo ich nun ritt, hatte hinter diesen Mauern geschlafen und einen Teil ihres Lebens hier verbracht.

Die Artikel hatten über diese Zeit nicht viel preisgegeben, da es vor diesem ganzen Verfahren passiert war, doch hin und wieder war es erwähnt worden.

Aus meiner plötzlichen Faszination wurde ein argwöhnischer Gedanke. Gab es einen Grund, warum er mit mir ausgerechnet hier entlang geritten war? Ich meinte, wir waren extra von der Hauptstraße abgebogen, dabei wollten wir … ähm … „Wo wollen wir eigentlich hin?“

„Zum Ratsplatz. Die Anderen warten dort auf uns.“

Aha. „Ich dachte, wir wären zum Einkaufen in die Stadt gekommen.“

Amir trieb Ferox wieder zur Bewegung an und das Anwesen der verstorbenen Wesensmeister zog an uns vorbei, bis es hinter uns lag. „Das kommt danach. Zuerst habe ich noch einen Termin.“

„Einen Termin?“ Amir hatte auf mich noch nie wie jemand gewirkt, der sich aus solchen banalen Dingen wie einem Termin etwas machen würde.

„Ich muss einen monatlichen Bericht vorlegen.“

Und jetzt auch noch Bürokratie. Das waren ja ganz neue Seiten. „An wen?“

„Ich arbeite für den Hohen Rat.“

Was? Er hatte Vorgesetzte?

Ein spöttischer Ausdruck legte sich auf seinem Mund. „Was, hast du etwa geglaubt, wir arbeiten auf eigene Rechnung?“ Er schnaubte. „Da täuschst du dich aber. Es mag vielleicht nicht so wirken, aber unsere Tätigkeit ist hochoffiziell. Alles was wir tun, wird überwacht. Für die Waffen, die wir benutzen, haben wir Genehmigungen, genauso wie für die Tötungen, die wir vollziehen. Was glaubst du, warum Kiran bei uns ist?“

Der Magier hatte es mir gesagt, ich hatte nur nicht richtig zugehört, hatte es für einen Scherz gehalten. „Er überwacht die Jäger.“

Amir nickte. „Innerhalb des Lagers habe ich die Befehlsgewalt. Ich entscheide über Abläufe und Rekrutierungen. Doch alles, was darüber hinausgeht, muss vom Hohen Rat abgesegnet werden.“

Davon hatte ich ja keine Ahnung gehabt. Die Jäger und das Lager waren in meinen Augen immer etwas … Eigenständiges, unabhängig von der restlichen Welt. Aber in Wirklichkeit hatte es ganz andere Hintergründe. Es war praktisch ein Job in Staatsangelegenheiten – zumindest, wenn ich das nun richtig verstanden hatte – und damit wären die Dämonen … Staatsfeinde. Okay, das wurde jetzt doch ein wenig zu Mission-Impossible-mäßig.

Doch ich konnte nicht verleugnen, dass die ganze Angelegenheit gewichtiger zu sein schien, als ich bisher angenommen hatte. „Heißt das, dass ich jetzt auch für den Hohen Rat arbeite?“

„Genaugenommen bist du nur mir unterstellt und musst nichts tun, was der Hohe Rat von dir verlangt, da ich dich nur für diese Aufgabe angestellt habe.“

War das jetzt ein Ja oder ein Nein?

Diese Frage beschäftigte mich noch immer, als Amir mir auf unserem weiteren Weg noch andere Sehenswürdigkeiten zeigte – wie zum Beispiel die Ruhmessäule und das Tor der Gezeiten – genau wie die Frage, was das nun für mich bedeutete. Erst als wir zurück auf die Hauptstraße fanden, die uns auf einen riesigen Platz mit einem kirchenartigen Gebäude führte, vergaß ich meine Gedanken. Dieser Anblick nahm mich gefangen.

Eine Zitadelle mit einem Turm. Natürlich war auch sie aus Glas, doch das schien das einzige Bindeglied zu sein, das sie mit den restlichen Gebäuden in der Stadt gemeinsam hatte. Nicht nur, dass ihre Bauweise anders war – eher antik als modern – auch das Glas war anders. Es war gesplittert. Es war nicht kaputt, nein, es war das Muster.

Wie ein Spinnennetz zog es sich über jede Fläche. Nur die Türen und Fenster waren ausgespart. Allein dadurch ließen diese beiden Elemente sich überhaupt erkennen.

Ansonsten gab es nur drei weitere Stellen, an denen das Spinnennetz fehlte. Zum einen die beiden Säulen in der Form von Obelisken, die das Vordach zum Eingangstor hielten, und das große Zeichen darüber in der Fassade. Noch ein Obelisk. Im Hintergrund waren drei ineinander verschlungene Kreise.

Dieses Symbol schien etwas Mächtiges auszustrahlen und noch während ich es anstarrte und versuchte, mir über seine Bedeutung klarzuwerden, lenkte Amir Ferox zu dem Planwagen, der unrechtmäßig geparkt mitten auf dem Platz vor dem Gebäude stand – das zumindest schloss ich aus den Blicken der anderen Passanten.

Moment, ein Wagen? „Wo ist denn der andere Wagen?“

„Daan und Nelia machen schon ein paar Besorgungen. Wir werden sie heute Abend im Haus treffen.“

„Welches Haus?“

„Ah, unser verlorenes Schäfchen ist zurückgekehrt!“, rief Kiran von weitem und breitete freudig die Arme aus. Er saß auf dem Kutschbock und ließ die Beine seitlich herunterbaumeln. Gaio lehnte daneben am Wagen und hielt Aquila an den Zügeln fest.

„Halleluja“, murmelte ich schmunzelnd.

„Das Haus, das uns vom Hohen Rat zur Verfügung gestellt wird, wenn wir uns in der Stadt aufhalten“, antwortete er auf meine Frage. „So sparen sie Kosten für unsere Unterbringung.“

Kiran sprang vom Kutschbock, kaum dass Ferox neben ihm hielt, und klatsche in die Hände. „So, können wir dann? Du weißt, wie sehr mein Papá Verspätungen hasst.“

„Er wird es verkraften“, sagte Amir abschätzig und half mir von Ferox herunter. Erst dann schwang er sich selbst aus dem Sattel und reichte mir Ferox‘ Zügel. „Pass auf ihn auf.“

„Ich werde ihn hüten wie meinen Augapfel“, versprach ich ihm und versuchte damit, ein Lächeln aus ihm heraus zu kitzeln. Leider gelang mir das nicht. Wenn ich genauer darüber nachdachte, hatte er seit unserem Aufbruch eigentlich kaum noch gelächelt. Ich meinte, das war bei ihm sowieso eher etwas Seltenes, aber jetzt kam es praktisch gar nicht mehr vor.

Als er mit Kiran an der Seite auf das große Portal zuschritt, fragte ich mich, ob dieser Besuch ihn vielleicht nervös machte. Andererseits schien er vom Hohen Rat nicht viel zu halten. Das passte nicht. Aber warum war er dann plötzlich so distanziert und angespannt?

„Wenn du die Stirn noch tiefer in Runzeln ziehst“, erklärte Gaio, „dann bleiben die Falten vielleicht.“

Ich zog die Augenbrauen hoch, was mir leider immer eher einen überraschten statt einen spöttischen Ausdruck gab. „Hast du gerade einen Scherz gemacht?“

„Warum so erstaunt?“

Musste er das wirklich fragen? Ich kletterte auf den Kutschbock und ließ, wie Kiran vorher, die Beine baumeln – Ferox‘ Zügel fest im Griff. „Was machen wir hier?“

„Mit den Bossen reden.“

Ich verdrehte die Augen. „Das weiß ich. Ich wollte wissen, was genau das bedeutet.“

„Zum einen holt Amir unsere Gehaltschecks, zum anderen muss er einen monatlichen Bericht abgeben. Heute muss er außerdem noch einen neuen Jäger anmelden.“

„Ich bekomme ein Gehalt?“ Nun war ich wirklich überrascht.

Gaio verzog spöttisch den Mund. „Na, glaubst du, wir arbeiten alle aus reiner Herzensgüte, weil wir nichts Besseres zu tun haben? Irgendwie müssen wir unseren Lebensunterhalt ja auch bestreiten.“

Daran hatte ich gar nicht gedacht. Ich hatte überhaupt nicht daran gedacht, wie die Jäger das Lager und die Lebensmittel finanzierten. Auch nicht daran, wie sie sich ihre persönlichen Sachen leisten konnten. „Das heißt, wir bezahlen alles aus eigener Tasche?“

Er schnaubte. „Nein. Das Lager, die Unterkünfte und auch Lebensmittel werden alle vom Hohen Rat übernommen. Genau wie Waffen und was wir sonst noch so zur Jagd brauchen. Amir hat im Monat ein bestimmtes Budget, das er dazu nutzen kann. Alles was darüber hinausgeht, müssen wir selber zahlen.“

„Und wir bekommen trotzdem noch Lohn? Nein, Moment, streich das.“ Die Frage hatte sich sogar in meinen Ohren dumm angehört. Auch Menschen, die auf Montage fuhren, hatten freie Kost und Logis, bekamen aber trotzdem Geld für ihre Arbeit. Sonst würden die Firmen ja niemanden mehr finden, der solche Arbeiten übernahm.

Am Wagen liefen ein paar Kuttenträger in purpurnen Roben vorbei und redeten hektisch aufeinander ein. Zwei Männer in Uniformen waren ihnen direkt auf den Fersen.

„Das sind Wächter“, erklärte Gaio, als er meinen interessierten Blick sah.

„Sowas wie Leibwächter?“ Dann mussten das wichtige Leute sein.

„Ähm …“ Er runzelte die Stirn. „Sie sind Hüter unserer Gesetze.“

„Ach so, Polizei.“

Er bewegte ein paar Mal die Lippen, als probierte er den Klang auf der Zunge aus. „Seltsames Wort.“

„Nur in deinen Ohren.“ Ich nickte zu den Kuttenträgern. „Und das? Sind das wichtige Persönlichkeiten?“

Gaio schnaubte. „Sie halten sich auf jeden Fall gerne dafür. Das sind Parlamentäre, die Berater des Hohen Rats, und die in den gelben Roben repräsentieren den eigentlichen Hohen Rat.“ Er zeigte auf ein paar Gestalten, die gerade das Gebäude verließen und sich nach links wandten.

„Und das Zeichen da oben?“ Ich deutete auf den riesigen Obelisken, der von dem Spinnennetz ausgespart worden war.

„Das Zeichen des Hohen Rats. Die Kreise stehen für die Verbundenheit zwischen den Völkern und der Obelisk ist das Zeichen für die Magie.“

„Ein Obelisk?“ Er war schon beeindruckend, dagegen ließ sich nichts sagen, aber als bildliche Anschauung für Magie hätte ich persönlich eher Strahlen oder etwas in der Richtung gewählt, aber keinen Obelisken.

„Es ist ein sehr altes Zeichen, das schon in der Zeit vor dem großen Krieg von den Oberhäuptern der Welt genutzt wurde, um ihren Status zu symbolisieren. Woher er stammt, weiß keiner so genau, aber man sagt, der Obelisk sei die steingewordenen Strahlen der Magie, die gleichzeitig eine Verbindung zwischen der Magie selbst und den Lebewesen der Welt darstellen.“

„Wie im alten Ägypten“, überlegte ich.

„Darüber weiß ich nichts. Ich kann dir nur erklären, was es mit der Geschichte hinter diesem Zeichen auf sich hat.“

Ich neigte den Kopf leicht zur Seite. Wie er plötzlich sprach, war so völlig untypisch für ihn. Dieser mürrische Beiklang fehlte. „Woher weißt du das alles?“

Erst jetzt schien ihm aufzugehen, was er da gerade erzählt hatte, und dann überraschte er mich mit einem schiefen Lächeln. Ich hatte Gaio noch nie lächeln sehen. Das war so unglaublich, dass es mir für einen Moment die Sprache verschlug.

Er schlug die Augen nieder und senkte den Blick auf seine Fingernägel. „Bevor ich zu den Jägern kam, war ich Dozent für Geschichte. Ich hatte mich auf das Altertum spezialisiert.“

„Du warst Lehrer?“ Ja, ich war höchst erstaunt, und er durfte das gerne hören. Nie im Leben wäre mir in den Sinn gekommen, dass Gaio früher etwas anderes gemacht hatte.

„Viele von uns hatten ein anderes Leben, bevor sie zu den Jägern gekommen sind. Asha und Ryu sind eigentlich eher Ausnahmen.“

„Und was haben die anderen so gemacht?“

Gaio zuckte mit den Schultern. „Das ist ganz unterschiedlich. Elias zum Beispiel war Architekt.“ 

Wow. „Und Amir?“

„Keine Ahnung.“ Gaio schaute zum Portal. „Das hat er uns nie verraten. Wenn du das wissen willst, wirst du ihn das selber fragen müssen.“

Gelehrte und Künstler, wer hätte das gedacht. „Und was hat …“

„Talita?“

Bei dem Namen meiner Schwester wirbelte ich herum, als hätte jemand nach mir gerufen. Die zierliche Gestalt, die dann auf mich zukam, ließ mich einmal mehr nach meinem Wortschatz suchen. Nicht weil die blonde Frau so klein war, dass sie in ihrer gelben Robe fast versank. Auch nicht, weil diese Robe bedeutete, dass sie zum Hohen Rat gehörte. Es war die Tatsache, dass sie außer einem Lendenschurz nichts am Leib trug. Da ihre Robe beim Laufen weit aufklaffte, konnte nicht nur ich das deutlich erkennen.

Dann erst ihre Aura. Sie veranlasste mich dazu, den Kopf einziehen zu wollen. Auch das freundliche Lächeln half da nicht viel.

„Was tust du hier?“, verlangte sie zu wissen und das in einem Ton, der verdeutlichte, dass sie es gewohnt war, dass die Leute ihr antworteten. „Cui hat gesagt, du seist mit Veith …“ Ungefähr zwei Meter vor dem Planwagen stoppte sie abrupt und runzelte verwirrt die Stirn. Sie hob den Kopf. Es wirkte fast, als würde sie in der Luft wittern. Dann drehte sie sich einfach um und ging auf das Portal zu, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.

Ich sprang vom Wagen und wollte ihr hinterher, doch bevor ich auch nur einen Schritt hatte gehen können, hielt Gaio mich bereits fest. „Das solltest du nicht tun.“

„Aber sie kennt meine Schwester. Ich will mit ihr reden und …“

„Weißt du, wer das ist?“

„Ähm … jemand, der meine Schwester kennt?“

„Das ist Obsessantia von den Rajawölfen, die Vertreterin der Lykaner im Hohen Rat.“

„Und das ist … schlecht?“

„Lykaner sind anders als andere Mortatia. Sie sind wilder und mehr von Instinkten geleitet als der Rest der Bevölkerung. Obsessantia scheint eine Verbindung zu deiner Schwester zu haben und ihr vielleicht sogar freundlich zu begegnen, aber du bist nicht deine Schwester.“

„Was soll das heißen?“

„Dass sie nicht erfreut darüber sein wird, wenn du sie belästigst, und dass wir keine Zeit haben, dich aus der Haft zu holen, weil du ein Mittglied des Hohen Rats gereizt hast.“

Ich riss die Augen auf. „Sie würde mich inhaftieren lassen?!“

„Sie hat die Wächter schon wegen ganz anderen Sachen gerufen. Und das war meistens Glück für die Beteiligten, weil Lykaner manchmal höchst hitzig vorgehen.“

Mein Blick schweifte zum Portal, das sie gerade verschluckte. Wenn Gaio das so sagte, schien es wirklich eine törichte Idee zu sein, mit ihr sprechen zu wollen, auch wenn ich nicht ganz verstand, warum sie so reagieren sollte. Ich meinte, sie hatte doch mit mir reden wollen – zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als sie die Nase in die Luft gestreckt hatte. Da war dann aus freundlich misstrauisch geworden. Das war wie bei dem jungen Mann im Wald. Sobald er verstanden hatte, dass ich nicht Talita war, schien die Freundlichkeit aus ihm gewichen zu sein.

Aber wenn die Lykaner wirklich so drauf waren und eine Abneigung gegen alles hegten, was ihrer Meinung nach unwichtig war, wie hatte meine Schwester es dann geschafft, sich mit ihnen anzufreunden? Das musste ja ein richtiges Meisterstück gewesen sein.

Trotz meinem Widerwillen ließ ich mich von Gaios Worten überzeugen und wartete artig draußen bei ihm, bis Kiran und Amir wieder herauskamen. Doch damit gingen der Stress und die Hektik erst richtig los. Es begann ein wahrer Einkaufsmarathon. Die Liste an Dingen, die wir zu besorgen hatten, schien kein Ende nehmen zu wollen. Nicht nur Lebensmittel, Toilettenartikel und dringend benötigte Ausrüstungsgegenstände – wie neue Kleidung – standen drauf, nein, auch Dinge, die die anderen Jäger haben wollten, wie Bücher oder ein neues Kartenspiel. Für Elias mussten wir sogar in ein Bastelgeschäft gehen. Kiran erklärte mir, dass er in seiner Freizeit gerne kleine Modelle von Häusern baute.

Trotzdem machte es mir Spaß und dass ich wirklich einen Gehaltscheck in die Hand gedrückt bekam, machte es sogar noch viel besser. So bekam ich die Gelegenheit, mir eine Tasche, eine Kladde und Stifte zuzulegen, ohne dass ich jemanden nach Geld fragen musste, und als wir später wieder an dem Geschäft der Hexe vorbeikamen, konnte ich mich sogar einen Moment davonstehlen, um den Ring zu erwerben – der Gedanke an den jungen Mann ließ mir eben einfach keine Ruhe.

Er schien Talita zu kennen – vielleicht waren sie sogar miteinander befreundet – und wenn er krank war, dann musste ich wenigstens versuchen, ihm zu helfen. Wie ich den Mann in diesem riesigen Wald allerdings wiederfinden sollte, würde ich mir zu einem späteren Zeitpunkt überlegen müssen. Vielleicht trafen wie ihn auf unserem Rückweg ja zufällig.

Zu meinem Erstaunen war der Ring auch viel billiger, als ich geglaubt hatte – wahrscheinlich waren magische Gegenstände in einer magischen Welt einfach viel zu verbreitet, um hohe Summen zu rechtfertigen. Deswegen suchte ich mir auch gleich noch zwei Bücher aus. Das mit dem Titel Verzaubert beschäftigte sich mit dem Thema, Magie auf alle nur erdenklichen Arten auf Dauer mit Gegenständen zu verweben, und auch, welche Zauber man benutzen konnte und wofür sie gedacht waren. Das andere Buch war das veröffentlichte Grimoire einer berühmten Hexe. Darin beschrieb sie nicht nur Zauber, die sie selbst entwickelt hatte, sondern auch, wie sie das getan hatte. Es war wie ein Tagebuch ihrer Magie. Am liebsten hätte ich es sofort gelesen.

Kiran schmunzelte nur über meinen Erwerb, doch kaum, dass ich den Laden verlassen hatte, war ich mehr mit lesen als mit einkaufen beschäftigt – soweit es die Zeit zuließ.

 

°°°

 

„Hier.“ Kiran reichte mir eine Schüssel mit kleinen, roten Kugeln, die irgendwie glibberig aussahen.

Prüfend nahm ich eine zwischen die Finger. Unter der dünnen Haut schien sich eine Flüssigkeit zu befinden. „Was ist das?“

„Eine Frucht“, erklärte Amir. „Wir nennen sie Rothoden.“

„Rothoden“, wiederholte ich und grinste dann. „Ich verstehe.“ Das kleine, wabblige Etwas verschwand in meinem Mund und während ich die Frucht zwischen Zunge und Gaumen platzen ließ, lachte Kiran leise. Der Geschmack explodierte auf meiner Zunge. Er war süß und erinnerte mich entfernt an eine Wassermelone. „Wow“, staunte ich und steckte gleich die nächste hinterher.

Amir lehnte sich in seinem Sessel zurück und beobachtete mich unter halbgeschlossenen Augenlidern. Jetzt, wo der Abend anbrach, spürte auch er die mehr oder weniger schlaflose Nacht.

Der Einkauf hatte Stunden gedauert. Dafür waren die Planwagen jetzt aber bis unter die Decke gefüllt. Nun saßen wir in der Wohnstube eines wunderschönen Hauses, das eigentlich für hohen Besuch und einflussreiche Mortatia gedacht war, und streckten die Beine von uns. Normalerweise brachte der Hohe Rat hier seine Gäste unter, aber wenn die Jäger in der Stadt waren und das Haus gerade leer stand, durften sie es benutzen. In so einem magischen Haus zu sein, war wirklich … faszinierend. Zum Beispiel die Magieadern, die in immer gleichen Abständen senkrecht durch jede Wand führten. Bei Berührung leuchteten sie auf und erfüllen dem Raum mit Licht und Wärme – eine leuchtende Heizung sozusagen. Dafür gab es aber keine Lampen. Oder der Kühlschrank, in dem ein eisiger Nordwind herrschte, um die Lebensmittel kühl zu halten. Aber am faszinierendsten fand ich das Flimmerglas. Im Grunde war das nichts weiter als eine schwarze Scheibe. Doch wenn man die Fernbedienung – hierzulande Azalee genannt – benutzte, konnte man damit seine Gedanken und Erinnerungen auf das Glas projizieren.

Ich schnappte mir noch einen Rothoden und zog dann die Beine auf dem Sessel. Den Abend in diesem noblen Haus ausklingen zu lassen, war eine Wohltat. Fehlte eigentlich nur noch ein Feuer in dem gläsernen Kamin, doch dafür war es nicht kalt genug.

Gaio befand sich gerade in einer Partie Thron mit Daan, während Kiran sich leise mit der anderen Jägerin unterhielt. Amir dagegen sah aus, als würde er jeden Moment einfach einschlafen.

Es war ein schöner Abend, so ganz anders als die Treffen am Lagerfeuer. An die Ruhe könnte ich mich gewöhnen.

Während die anderen beschäftigt waren, zog ich meine Kladde heraus und nahm einen Stift zur Hand. Ich hatte mir etwas überlegt. Ob es funktionieren würde, wusste ich nicht, aber es war eine Chance.

 

An den nackten Mann aus dem Wald.

 

Hallo, mein Name ist Tiara und ich denke, du bist auf mich aufmerksam geworden, weil du mein Gesicht kennst – oder besser gesagt, das Gesicht meiner eineiigen Zwillingsschwester Talita. Genau wie sie bin ich durch den Spiegel gekommen. Ich weiß nicht, welche Verbindung du zu ihr hast, aber da du sie zu kennen scheinst, möchte ich dir helfen.

Mir ist nicht entgangen, dass du an etwas erkrankt bist, was kurz vorher vor meinen Augen ein Tier dahingerafft hat – diesen schrecklichen Anblick werde ich wohl nie vergessen.

Bei dir scheint die Krankheit noch nicht so weit fortgeschritten zu sein, doch wenn es stimmt, was ich gehört habe, wird das nicht so bleiben. Deswegen habe ich diesen Ring gekauft. Er kann Krankheiten nicht heilen, dafür aber stoppen. Bitte nimm ihn an und benutze ihn auch.

Solltest du ihn wieder ablegen, so wird die Krankheit voranschreiten. Vielleicht wird es irgendwann eine Arznei geben, aber bis es so weit ist, wird dieser Ring dir helfen.

 

Eine Bitte habe ich noch an dich. Solltest du Interesse daran haben, mit mir zu sprechen, findest du mich im roten Hinterland im Lager der Dämonenjäger. Bitte komm, es würde mir viel bedeuten.

 

Tiara

 

Ich las den Brief noch ein paar Mal durch und klappte die Kladde dann zufrieden zusammen. Solle ich dem jungen Mann auf dem Rückweg nicht mehr begegnen, würde ich den Brief samt Ring an der Stelle ablegen, an der ich ihn getroffen hatte. Dann konnte ich nur noch hoffen, dass er ihn fand. Es war zumindest einen Versuch wert.

Ich steckte Kladde und Stift zurück in meine Tasche – auch ein Erwerb von meiner heutigen Shoppingtour – und tauschte sie durch das Grimoire aus. Unterwegs war ich mit dem Lesen nicht weit gekommen – ich hatte gerade mal die Widmung und das Vorwort geschafft – doch jetzt hatte ich genug Zeit, mich meiner Lektüre zu widmen.

Schon am ersten Kapitel sah ich, dass es wie ein Tagebuch aufgebaut war. Aber was mich noch mehr erstaunte, war die Tatsache, dass alles handgeschrieben war. Es war natürlich eine Kopie vom Original, aber eben alles mit der Hand verfasst - und das bei so vielen Seiten.

Das meiste auf den ersten Seiten war leicht verständlich und durch Zeichnungen untermalt. Die Rezepte und Anweisungen der einzelnen Zauber waren sorgfältig aufgelistet worden. Trotzdem fand ich hin und wieder Worte, die ich nicht kannte.

Ich holte meine Kladde wieder heraus und notierte sie mir. Wenn ich zurück im Lager war, würde ich Asha nach ihnen fragen. Kiran hatte mir vorhin schon erklärt, dass er mir in Sachen Hexenmagie nicht viel helfen konnte, da sie sich von seiner Magie unterschied wie der Tag von der Nacht. Beides waren Tageszeiten, aber trotzdem völlig anders, und so verhielt es sich auch mit der Magie.

Ich notierte mir gerade das Wort Coven, direkt unter dem Wort Athamen, als ich eine leichte Vibration fühlte, die ich nicht zuordnen konnte. War das vielleicht ein Massagesessel? Aber warum sollte der plötzlich anspringen?

Es war nur ein kurzer Augenblick, dann hörte es wieder auf. Aber da die Gespräche um mich herum verstummt waren und auch die anderen sich verwundert umsahen, war ich wohl nicht die einzige, die es gespürt hatte.

Die Vibration setzte erneut ein und alle Blicke richteten sich auf das Spielbrett vor Gaio. Die kleinen Steinchen begannen zu hüpfen und gingen allein auf Wanderschaft.

Mein Puls beschleunigte sich bereits, bevor ich mir klar darüber war, was es bedeutete.

Amir erhob sich von seinem Platz und sah sich wachsam im Raum um. Die Steinchen waren nicht das einzige, was sich bewegte. Bücher und Nippes in dem Regal machten sich selbständig. Der Blumentopf fiel von der Kommode und zerschepperte auf dem Teppich.

Der Tisch begann zu wackeln. Das Sofa hüpfte, sodass Kiran und die Jägerin hastig aufsprangen.

„Erdbeben“, flüsterte ich und im nächsten Moment fiel das Regal krachend um.

Das Zittern wurde heftiger. Amir riss mich auf die Füße, doch ihm selbst fiel es schwer, sich auf den Beinen zu halten. Die Erschütterungen wurden immer schlimmer. Ich fühlte mich an den Tag zurückversetzt, als der Boden der Wüste unter uns erbebt war, doch das hier war schlimmer.

Über Wände und Decke zogen sich Risse durch das milchige Glas, während die Magieadern in der Wand immer wieder aufflackerten, bis sie plötzlich ganz erloschen. Ich hörte, wie Möbel im Haus umkippten, Glas splitterte. Draußen auf der Straße krachte es.

„Wir müssen raus!“, rief Amir und zerrte mich hinter sich her.

Ein grauenhaftes Reißen erfüllte die Luft und dann war plötzlich der Boden unter meinen Füßen verschwunden. Mein überraschter Schrei wurde von dem tosenden Lärm um uns herum verschluckt und nur ein Instinkt verleitete mich dazu, nach Amir zu greifen. Dadurch riss ich ihn auch noch fast mit.

„Verdammt!“, hörte ich ihn fluchen.

Gaio gab einen Schmerzenslaut von sich.

Ein Fenster zersplitterte klirrend. Draußen auf der Straße waren Rufe und Schreie zu hören, die nur einen Moment von einem ohrenbetäubenden Krachen unterbrochen wurden.

Irgendwoher kam auf einmal Licht, das Amirs angestrengtes Gesicht in Schatten legte.

Er hockte am Rand der gesplitterten Dielen und versuchte mich hinaufzuziehen, während ich nur hilflos mit den Beinen strampeln konnte und mein Herz mir aus der Kehle hüpfen wollte. Der Boden war aufgebrochen und ich auf halbem Wege in den Keller.

„Amir!“, rief Gaio.

„Verschwinde!“, rief dieser zurück. Im nächsten Moment waren da noch ein paar Hände und mit vereinten Kräften schafften die beiden Männer es, mich aus dem Loch zu ziehen.

Ich krachte halb auf Gaio rauf, schürfte mir die Knie auf und spürte, wie meine Wange zu brennen begann.

Leider war der Spuk damit noch nicht vorbei.

Irgendwo im Haus krachte es, als wäre ein Deckenbalken eingestürzt.

„Raus!“, rief Amir.

„Geht nicht, die Tür ist versperrt.“ Gaio riss die Hände über den Kopf, als plötzlich ein Scherbenregen auf uns niederprasselte.

Ich reagierte geistesgegenwärtig und riss die Hände nach oben. Die Magie strömte aus mir heraus, bildete ein schützendes Schild über uns und ließ alle Scherben abprallen.

Plötzlich gab es ein widerliches Knirschen und im nächsten Moment schien die Außenwand zu explodieren und schleuderte weitere Scherben in unsere Richtung.

Das Beben endete so abrupt, als hätte es nur auf dieses Zeichen gewartet, doch damit war es nicht ausgestanden, denn die Wand war nicht wegen des Bebens in sich zusammengefallen.

Während mein Gehirn noch versuchte, das zu erfassen, was meine Augen sahen, erwachten die Magieadern in den Wänden flackernd zum Leben und zeigten mir ein Bild der Zerstörung. Der ganze Raum war nur noch Schutt, begraben unter Glas.

Kiran und die anderen konnte ich nicht entdecken, die Tür zum Wohnraum war durch einen umgekippten Flurschrank versperrt. Die Polsterung der Möbel war durch die Scherben einfach aufgeschlitzt worden und im Boden klaffte ein langer Riss.

„Kiran?“, rief Amir.

„Draußen!“, rief der Magier zurück.

Doch all das schien zu dem, was dort draußen geschehen war, zu verblassen.

Meine Haut summte vor Magie, als ich mich erhob und ohne darauf zu achten, wohin ich trat, auf das gesplitterte Loch in der Wand zuhielt. Ich trug keine Schuhe, doch die Scherben verletzten mich nicht. Es kam mir vor als wären sie … stumpf.

Das bemerkte ich nur am Rande, denn meine Aufmerksamkeit galt dem aufgerissenen Straßenzug vor dem Haus.

„Pass auf, wohin du trittst“, warnte Kiran mich. Er stand zusammen mit den anderen Jägern vor dem Haus. Auch hier draußen war alles zerstört. Das Beben hatte ganze Arbeit geleistet. Ich hörte Schreie und Weinen. Irgendwo rief ein Kind nach seiner Mutter. Ein Zerberus bellte, während die Nachwehen des Erbebens noch immer Geräusche verursachten.

Ein Stück weiter war ein Feuer ausgebrochen und ließ die tausend Scherben in seinem Schein glitzern. Ein eingestürztes Haus. In der Luft lag ein Knistern, das mir einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte. Magie; die Luft war geradezu gesättigt von ihr.

Ich merkte kaum, wie Amir mir half, durch das Loch in der Wand zu klettern. Scherben knirschten unter meinen Füßen.

„Was ist das?“, fragte ich leise, denn auch, wenn ich all die anderen Dinge am Rande registrierte, wurde mein Blick nur von einer einzigen Sache angezogen. Aus dem aufgerissenen Straßenzug waren mehrere Lichttentakel hervorgebrochen, die wehrlos um sich schlugen und alles mit sich rissen, was ihnen in die Quere kam. So war auch das Loch in der Außenwand entstanden.

Sie sprossen alle aus derselben Stelle, verlängerten sich, schrumpften wieder zusammen.

„Freiliegende Magieadern, die mit wilder Magie um sich schießen.“ Kiran knirschte fast mit den Zähnen.

Darum spürte ich dieses Kribbeln.

„Wir müssen hier weg“, sagte Daan und sah nervös zu, wie einer der Tentakel in unsere Richtung zuckte, bevor er kurzerhand Halt machte und dann auf ein Fahrzeug am Rand niedersauste. Das Metall verzog sich unter einem bestialischen Kreischen, während auf der anderen Seite ein Tentakel frontal durch ein Fenster stieß. In dem Haus kreischte eine Frau.

„Wir sollen einfach verschwinden? Aber was ist mit den Leuten? Wir müssen ihnen helfen!“ Ich konnte doch nicht einfach weglaufen, während ich wusste, dass sie in akuter Gefahr schwebten.

„Das ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst“, sagte Kiran. „Das ist wilde Magie, die lässt sich nicht so leicht kontrollieren. Sie muss zurück in ihre Ader geführt werden, aber dazu ist ein mächtiger Zirkel nötig. Nicht mal du … pass auf!“ Kiran stieß Gaio zur Seite und warf sich dann auf den Bauch, gerade noch rechtzeitig, um dem Tentakel auszuweichen, der die beiden sonst einfach umgerissen hätte. Doch nun hielt er auf Amir zu.

Ich dachte nicht weiter darüber nach. Noch in der Sekunde, als Kiran zu Boden ging, streckte ich meine Hand von mir aus. Die Magie schoss aus mir heraus, sollte den Tentakel wegstoßen. Doch es geschah etwas ganz anderes.

Der Tentakel schien sich von meiner Magie angezogen zu fühlen. Er wechselte wieder so abrupt die Richtung, dass keiner von uns rechtzeitig reagieren konnte.

„Tiara!“, rief Gaio noch, da drang der Tentakel aus purem Licht auch schon in meinen Brustkorb ein. Er riss keine Wunden oder verletzte mich anderweitig, er drang einfach in mich ein, als wäre mein Körper nichts als eine Illusion. Doch der Schmerz, der von der wilden Magie ausgelöst wurde, war unglaublich. Ich stieß einen Schrei aus. Meine Hände griffen nach dem Licht und zu meiner Überraschung hatte es wirklich Substanz.

Leider machte es das nicht erträglicher.

Ich spürte, wie mein Herz ums Überleben schlug und mein Magen sich umdrehte, während die wilde Magie versuchte, in jede meiner Zellen einzudringen. Tränen brannten in meinen Augen und meine Muskeln zitterten unter dieser Anstrengung.

Gaio und Amir kamen angerannt.

„Bleibt … weg!“ Das Atmen fiel mir schwer, aber so sehr die Magie in meinem Inneren auch wütete, sie war nicht böse. Ich spürte es ganz genau. Es war, als besäße sie einen eigenen Herzschlag, eine Seele, und diese Seele schrie in ihrem Schmerz.

Falsch, sagte ich mir. Das ist falsch.

Ich versuchte mit meiner eigenen Magie gegen die Wilde zu kämpfen, doch es kostete mich nur Kraft. Meine Beine knickten ein, während mein Atem immer schwerer ging. Ich fiel auf die Knie, doch spürte ich den Boden nur wie ein entferntes Echo.

Die Jäger sprachen zu mir, doch kein Wort drang an mein Ohr.

Ein zweiter Tentakel schloss auf mich zu. Er verschmolz mit dem ersten und eine weitere Welle von wilder Magie drang in mich ein und setzte meinen Körper in Flammen. Das Kreischen der Seele wurde lauter. Ich hörte es in meinem Kopf, konnte mich dagegen nicht wehren.

Langsam kippte ich vornüber und musste mich mit den Armen abstützen, um nicht auf dem Gesicht zu laden. Mein Körper begann zu glühen, genau wie damals im Lager. Es war ein Leuchten, das von innen kam und mich erstrahlen ließ.

Meine Finger kratzten über den Boden. Lange hielt ich das nicht mehr aus. Ich musste etwas tun, aber was?

Das ist wilde Magie. Sie muss zurück in ihre Ader geführt werden.

Ihre Ader. Aber wie sollte ich die finden?

Ich kniff die Augen zusammen, während ich versuchte, ein Gefühl für meine Umgebung zu bekommen, vorbei an dem brennenden Schmerz und dem Druck, der meine Organe zusammenpresste.

Es war wie mit Ashas Heilzauber, genauso wie ich es mit dem Baum im Wald getan hatte. Ich musste die Verletzung finden, die Ursache.

Ich versuchte nicht länger, gegen die wilde Magie zu kämpfen, sondern überließ mich ihr einfach. Jede Barriere in meinem Inneren wurde einfach niedergerissen und plötzlich war ich … Magie. Die Erde unter mir begann zu zittern.

Ich riss die Augen auf und … alles sah anders aus. Die Welt bestand nur noch aus Licht und Schatten. Dort wo Leben war, leuchtete es besonders hell. Konturen und Farben waren nicht mehr zu unterscheiden. Alles war nur noch … Magie. Und da, nur ein Stück von mir entfernt, versenkt im Boden, war eine schimmernde Membran, die so stark leuchtete, dass ich den Blick abwenden wollte. Sie hatte einen Riss, das innere Strahlen strömte daraus hervor.

Ich fühlte, wie das Adrenalin durch meine Andern jagte und mein Körper zitterte, als ich meine Magie auf diese Membran richtete und sie zwingen wollte, sich zu schließen. Asha wäre für diese Arbeit wahrscheinlich viel qualifizierter. Sie war Heilerin und verstand etwas von ihrem Handwerk. Ich musste mich allein auf meinen Willen verlassen, denn der war im Augenblick alles, was ich hatte.

Schließ dich, flüsterte ich. Schieß dich. Immer wieder erfüllten diese beiden Worte meine Gedanken. Ich wusste nicht, ob ich sie laut aussprach oder sie nur in meinem Kopf existieren, doch sie waren da. Sehr langsam begann meine Magie, den Riss zu versiegeln. Anfang war es nur ein Schimmern ganz am Rand, doch er zog die aufklaffenden Seiten zusammen und hielt sie wie Kleber aneinander.

Wieder erzitterte die Welt. Es war, als würde die Magie ihren Schmerz mit uns teilen wollen.

Und dann traf mich ein weiterer Schlag eines Tentakels. Und noch einer. Ich zuckte unter der Masse der Magie zusammen. Mein Körper schien sich in ihr auflösen zu wollen.

Noch nicht! Erst musste ich das hier zu Ende bringen.

Immer weiter zwang ich den Riss zu. Mein Körper protestierte unter dieser Anstrengung, mein Magen rebellierte. Ich konnte den metallischen Geschmack von Blut auf meiner Zunge schmecken. Galle kroch mir die Kehle hinauf und meine Körpertemperatur schien ins Unermessliche zu steigen.

Dann drang die Magie durch meine Haut nach außen und versuchte, auf die Lebewesen um mich herum zuzugreifen.  

Nein. Das konnte ich nicht zulassen, das durfte nicht passieren! Mein Willen spaltete sich auf und ein Teil davon zwang die Magie, bei mir zu bleiben.

Ich spürte, wie sie mich umwirbelte. Wie ein Orkan zerrte sie an meinen Haaren und Kleidern und verschluckte mich, als würde ich ihr gehören. Und ich ließ sie gewähren.

Ich spürte, wie mir die Tränen über die Wangen liefen und wie keuchend mein Atem ging. Aber ich gab nicht nach, schloss den Riss, denn nur so konnte der Spuk beendet werden.

Die Zeit schien sich wie Gummi zu ziehen. Aus Sekunden wurden nicht Stunden, nein, es waren sogar Tage, in denen die Qual meinen Körper bewohnte.

Dann, ganz plötzlich, war der Riss geschlossen. Die Magie um mich herum zerfiel einfach, die Umgebung bekam wieder Farbe, doch die Formen blieben verschwommen.

„Sie hat es wirklich geschafft!“, rief Kiran. „Ich kann´s nicht glauben, sie hat es geschafft!“

„Tiara!“

„Nein, wartet, da stimmt was nicht.“

Die wilde Magie tobte nicht länger in der Straße, doch sie verweilte noch in meinem Leib. Ich spürte den Druck, der mich zu zerreißen drohte, spürte den Kampf in meinem Inneren.

„Du musst sie loswerden!“

Meine Gedärme schienen sich zu verflüssigen, während meine Zellen begannen, sich in der Magie aufzulösen.

„Tiara, spuck sie aus!“

Wenn ich nichts tat, würde ich mich in ihr einfach verlieren. Nein. Ich würde mich nicht unterkriegen lassen, ich würde mich nicht unterwerfen, dafür gab es einfach viel zu viel, für das es sich zu leben lohnte. Aber ich konnte die wilde Magie nicht einfach so entlassen, es war zu viel. Sie könnte die Naht wieder aufreißen oder jemanden verletzen. Ich musste ihr meinen Willen aufzwingen.

Mit letzter Kraft formte ich einen Gedanken. Regen. Regen war ungefährlich, Regen konnte niemandem etwas antun.

Dann gab ich die Magie frei.

Mein Rücken drückte sich durch, mein Kopf fiel in den Nacken und ein Strahl aus reiner Magie schoss aus meinen Leib, hinauf in den Himmel. Dicke, dunkle Wolken zogen auf, Donner grollte über unseren Köpfen.

Ich zwang jedes noch so kleine Quäntchen Magie aus mir heraus, spürte, wie meine Kraft mich immer mehr verließ. Meine Glieder zitterten unter der Anstrengung und mein Herz gab einen unregelmäßigen Takt vor. Und dann – genauso plötzlich, wie das alles begonnen hatte – hörte es einfach auf.

Der Magiestrahl löste sich auf, das Leuchten erlosch einfach und ich sackte nach vorne auf meine zitternden Arme. Ich konnte mich nur noch mit Mühe und Not abstützen.

„Tiara!“

Amir.

Der Himmel öffnete seine Schleusen. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, dann war ich bis auf die Knochen durchnässt.

Mein Blick verschwamm immer mehr, die Kraft wich aus meinen Muskeln und mein Körper verlor diesen Kampf. Die Welt begann zu kippen. Farben verblassten. Ich hörte jeden meiner Herzschläge überdeutlich, spürte den Atem in meinen Lungen. Den Schmerz, den Schwindel und die Übelkeit. Dann umschlag mich einfach der Sog der Dunkelheit und zerrte mich ins unendliche Nichts.

 

°°°

 

Nur langsam kam ich zu mir, spürte das Dröhnen in meinem Kopf und die Übelkeit, die meinen Magen verkrampfte. Dieser Schmerz, der durch meinen ganzen Körper seine Kreise zog, war wie ein übler Muskelkater. Ich kniff die Augen fester zusammen, versuchte gegen die aufsteigende Galle in meiner Kehle zu atmen.

„Wahrscheinlich hast du Recht.“ Ein Seufzen. Jemand strich mir übers Haar. „Aber wir können nicht untätig danebensitzen und nichts tun.“

War das Gaio? Ich wollte meine Augen öffnen, doch sie waren schwerer als Blei. Vielleicht hatte sie jemand zugeklebt. Aber warum?

„Wir können sie aber nicht transportieren. Das könnte ihren Zustand noch verschlechtern.“

Der Nebel in meinem Hirn begann sich leicht zu lichten und so erkannte ich Kirans Stimme. Nur der besorgte Unterton darin war mir fremd.

„Dann müssen wir eben jemanden herholen.“

„Und wen?!“ Es knallte, als hätte jemand gegen eine Wand geschlagen.

„Ich geh mal ein Stück.“

Amir.

Kiran schnaubte. „Das ist wieder so typisch. Wenn es …“

„Lass ihn“, fuhr der Gargoyle ihn an. „Er brauch das um nachzudenken.“

Ein weiteres Schnauben.

Die Stimmen um mich herum wurden leiser und dann wieder lauter, als würde jemand ständig den Lautstärkeregler hin und her drehen.

„… in der ganzen Stadt, da …“

„… für den Notfall!“

„Aber wir haben nicht den einzigen Notfall. Die Heiler haben alle …“

„… egal!“

Mein Magen begann unglücklich zu rumoren. Ich spürte, wie die Galle in meine Kehle stieg, und dieses Mal konnte ich sie nicht zurückhalten. Keuchend begann ich zu würgen.

„Scheiße!“

„Dreh sie … Seite!“

Hände packten mich. Der Boden unter mir schwankte. Meine Kehle zog sich zusammen, mein Magen krampfte, doch ich hörte eher als dass ich spürte, wie ich mich erbrach. Da war einfach so unglaublich viel Schmerz. Er überdeckte alles andere.

„Tiara?“ Eine Berührung an der Wange. „Tiara.“

„Wir müssen …“

Schritte knirschten über Scherben. „Wir sollen sie nicht bewegen.“

Amir.

„Was?“

„Ich habe gerade mit Saana telefoniert. Wir sollen sie nicht bewegen, das macht es für sie nur schlimmer.“

„Und was macht es besser?“

Saana. Warum kam mir der Name nur so bekannt vor?

„Die Zeit.“ Ein Seufzen. „Wir sollen sie ruhen lassen und zum Zirkel bringen, sobald sie auf eigenen Beinen stehen kann.“

„Das heißt, wir können nichts anderes tun als zu warten?“

Etwas klickte, wieder Schritte. „Bis morgen Mittag muss sie auf eigenen Beinen stehen.“

„Und wenn sie das nicht schafft? Ich meine, schau sie dir doch mal an!“

War das wirklich Gaio, der da so verzweifelt klang?

„Sie muss es einfach schaffen“, zischte Amir. „Und sie schafft es auch.“

Einen Moment herrschte Ruhe.

„Und wenn nicht?“, fragte Kiran leise.

„Dann soll ich mich noch einmal bei Saana melden.“

Saana. Saana. Saana.

„Was genau bedeutet das?“, wollte Gaio wissen. „Warum kommt sie nicht her und hilft?“

„Sie kann nichts für sie tun, das kann keiner. Tiara muss sich selbst retten, oder sie ist verloren.“ Knirschen, Schritte. Eine vertraute Berührung an meiner Wange. „Hörst du? Kämpfe und komm zu uns zurück.“

Ein Gedanke nahm in meinem Kopf Form an, doch bevor ich ihn greifen konnte, zerrann er mir zwischen den Fingern.

 

°°°°°

Tag Siebenundsechzig

 

Es war wie ein Gefühl von Wasser, das mich überlief, als ich die Grundstücksgrenze überschritt. Magie, wurde mir klar, und sie drang sofort zu mir durch, brachte mein Innerstes wieder in Aufruhr.

„Das sind nur die Schilde“, erklärte Kiran ruhig und tätschelte mir die Schulter.

Das machte es nicht wirklich besser. Gerade noch hatten die Qualen der Nacht ein wenig nachgelassen und nun hatte ich schon wieder das Bedürfnis, mich zu übergeben. „Vielleicht war es doch keine so gute Idee herzukommen“, murmelte ich und drückte meine Hand gegen den Magen.

„Ach was, du bist eine Hexe. Die werden dir hier helfen. Du wirst schon sehen, bald schon geht es dir wieder besser.“

Wie um seine Worte Lügen zu strafen, überrollte mich in dem Moment eine Welle der Übelkeit. Ich schaffte es gerade noch, mich zur Seite zu beugen, als ich auch schon von krampfhaftem Würgen gepackt wurde und mein kleines Frühstück direkt neben dem gepflegten Blumenbeet ausspie.

Hustend und würgend stützte ich mich auf den Knien ab, sog die Luft hastig durch die Nase ein und kniff die Augen zusammen, bis der heftige Schmerz ein wenig nachließ. „Tut mir leid“, murmelte ich. Ich wollte es mir nicht eingestehen, aber es wurde wieder schlimmer.

Wenigstens regnete es noch, so würde meine Verunreinigung rasch weggespült werden – hoffte ich.

Die Nacht war hart gewesen. Ständig war ich zwischen Wachen und Schlafen hin und her gependelt. Schmerzhafte Krampfanfälle, Übelkeit, Schwindel und dauerhafte Kopfschmerzen. Es schien, als hätte die wilde Magie irgendetwas in mir kaputt gemacht, was nur sehr langsam wieder heilen konnte. Trotzdem hatten die Jäger alles drangesetzt, mich auf die Beine zu bringen. Nun ja, zumindest mit Hilfe.

Der wirklich schwere Teil jedoch war der Weg hierher gewesen. Die halbe Stadt hatte von dem Erdbeben massive Schäden davongetragen und es war unmöglich gewesen, mit der Kutsche herzukommen. Eingestürzte Häuser, aufgerissene Straßen. Nicht nur bei uns vor dem Haus war die wilde Magie aus dem Boden gebrochen und noch immer waren Helfer damit beschäftigt, sie in ihre Membranen zurückzuführen – ich war dafür nicht mehr zu haben, mir ging es bereits dreckig genug.

Das Reiten auf einem Mount hatte mir solche Schmerzen bereitet, dass wir laufen mussten. Doch mit jedem Schritt war der Weg beschwerlicher geworden und Gaio und Kiran hatten mich halb tragen müssen. Aber jetzt waren wir am Ziel: der Sitz der Schwestern des schwarzen Mondes.

Ich fand den Namen unheimlich, doch Amir sagte, dass man mir hier helfen könnte.

„Na, komm schon.“ Gaio legte mir einen Arm um die Schulter und den anderen schob er mir unter die Beine. Im nächsten Moment hob er mich an, als wäre ich nichts weiter als eine Feder.

Ich war zu schwach, um zu protestieren. „Danke.“

Es schaukelte, als er mich zur Tür eines Hauses trug, das ohne Probleme als altes Herrenhaus in England durchgegangen wäre. Dark Manor. Mich schauderte es.

Amir stand bereits ungeduldig an der Tür und ließ die Glocke zum dritten Mal durchs Haus schrillen. Als er Anstalten machte, sie zum vierten Mal zu betätigen, wurde sie von innen energisch aufgezogen.

„Falls es Ihnen nicht entgangen sein sollte, die Stadt befindet sich in einem Ausnahmezustand. Wenn es also einen Moment länger dauert, bis jemand an die Tür kommen kann, sollten Sie doch wohl in der Lage sein, Geduld aufzubringen!“ Die schmale Frau rümpfte die grade Nase und funkelte Amir an. Strähnen ihrer braunen Lockenpracht fielen ihr ums Gesicht, als wäre sie sich in den letzten Stunden ständig durch die Haare gefahren. Die dunklen Ringe unter den Augen zollten von schlaflosen Stunden, genau wie ihre zerknitterte Kleidung unter der langen, schwarzen Robe.

„Wir haben hier einen Notfall und …“

„Einen Notfall, ja?“ Sie lachte höhnisch auf. „Wissen Sie, wie viele Notfälle wir zurzeit haben? Die Hälfte der Zirkelschwestern ist unterwegs, um die wilde Magie einzudämmen!“ Sie warf mir einen Blick zu und in dem Augenblick stockte sie einen Moment. Etwas wie Wiedererkennen lag in ihren Augen. Doch genauso schnell, wie dieser Moment gekommen war, fasste sie sich wieder und richtete ihre geballte Aufmerksamkeit auf Amir. „Wir haben ein halbes Dutzend verletzter Hexen hier und zwei unserer Zirkelschwestern sind nicht zu erreichen! Ihr kleiner Notfall wird da wohl einen Moment warten können!“

Das war der Moment, in dem mein Magen sich erneut bemerkbar machte. Nicht so schlimm wie vor fünf Minuten, doch ich spürte es deutlich rumoren und konnte ein gequältes Stöhnen nicht vermeiden.

„Saana hat uns herbestellt.“ Amirs Stimme klang mittlerweile wie das Zischen einer Schlage. Er mochte es nicht, wenn es jemand wagte, so mit ihm zu sprechen. „Würden Sie sie bitte holen, bevor ich auf die Idee komme, dem halben Dutzend verletzter Hexen noch eine weitere hinzuzufügen?“

Die Hexe in der Tür schnappte so erbost nach Luft, dass sie mich an einen Fisch erinnerte. Dadurch überhörte ich wohl auch die sich nähernden Schritte. Erst ein „Was ist denn hier los?“ in einer sehr weichen Stimme machte mich auf die zweite Frau aufmerksam, die zu der ersten trat.

„Ein Notfall“, sagte die erste Frau so spöttisch, dass ich mit dem Finger fast auf das ruinierte Blumenbeet gezeigt hätte.

Die zweite Hexe öffnete die Tür ein wenig weiter und die weichen Züge in ihrem Gesicht verhärteten sich leicht, als sie den Serpens erblickte. „Amir.“

„Saana.“

Saana, da war es wieder. Warum nur kam mir dieser Name so bekannt vor?

Sie war ein wenig pummelig an den Hüften. Der lange Wollrock und die dunkle Bluse wurden von der schwarzen Robe mit dem kleinen Zeichen darauf fast völlig verdeckt. Die schwarzen Haare waren kurz geschnitten und die Haut sehr blass. Doch diese lange Nase … ich kannte sie. „Sie sind die Schwester von Asha.“ Natürlich, Asha hatte mir doch von ihr erzählt. Das schien Jahre zurückzuliegen.

Saana lächelte, aber nur bis zu dem Augenblick, als sie meine Verfassung wahrnahm. Vielleicht lag es an der blassen Haut oder den tiefen Ringen unter meinen Augen. Vielleicht auch an der grünen Färbung um meine Nase. Auf jeden Fall wurde sie plötzlich sehr geschäftig.

Sie drängte sich an Amir und Kiran vorbei und nahm mich unter die Lupe. Dann fühlte sie nach meinem Puls und kontrollierte meine Augen. Dass wir dabei die ganze Zeit vollgeregnet wurden, schien sie nicht im Mindesten zu interessieren. „Du bist entweder sehr klug oder sehr dumm. Aber auf jeden Fall kannst du von Glück reden, dass du es überlebt hast.“

„Ich … musste es tun.“

„Also dumm“, kommentierte die zweite Frau.

Saana überging das einfach. „Chana, kannst du mir mal helfen? Wir müssen sie reinbringen.“

„Das mach ich“, sagte Gaio sofort.

Chana schnaubte. „Als wenn wir im Moment irgendjemanden außer einer Hexe in den Zirkel ließen.“

Gaios Griff wurde ein wenig fester. „Wir bleiben bei ihr, das steht außer …“

„Nein“, sagte Saana energisch. „Wir befinden uns in einem Ausnahmezustand. Ihr könnt nicht hinein. Wir werden ihr helfen, aber nur ihr. Also entweder übergebt ihr sie uns oder ich muss euch alle bitten zu gehen.“

Ich sollte da allein rein?

Amir funkelte die beiden Hexen an. „Was würde Asha dazu sagen?“

„Asha ist nicht hier und sie gehört auch nicht dem Zirkel an. Sie müsste sich genauso an die Regeln halten wie alle anderen auch.“

„Aber sie würdest du hineinlassen.“

„Sie ist ja auch eine Hexe.“ Saana drehte sich zu ihm um. „Wir können jetzt noch endlos weiterdiskutieren, aber dafür habe ich keine Zeit. Also entscheide dich. Sollen wir ihr helfen oder nicht?“

„Äh …“, machte Kiran da und meldete sich halb. „Vielleicht sollten wir Tiara entscheiden lassen, ob sie bleiben möchte oder nicht.“

„Sie bleibt“, entschied Amir, bevor ich überhaupt dazu kam, den Mund zu öffnen. „Ich gebe sie in deine Obhut, Saana. Pass gut auf sie auf.“

Saana kniff die Augen leicht zusammen. Die unterschwellige Drohung in seiner Stimme hatte selbst ich wahrnehmen können, doch ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Nur eines war offensichtlich: die beiden mochten sich nicht und Amir hatte sich nur meinetwegen dazu durchgerungen, sie um Hilfe zu bitten.

„Bei mir ist sie wohl sicherer aufgehoben als bei dir. Chana, kannst du mir helfen? Und du stell sie auf den Boden.“ Der letzte Teil ging an Gaio, dem es so gar nicht zu gefallen schien, mich auf eigenen Beinen stehen zu lassen und ich musste auch ehrlich zugeben, dass es eine ziemlich wacklige Angelegenheit war. Eigentlich stand ich nur, weil Saana und Chana mich stützten.

Das brachte Ashas große Schwester wohl auch dazu, die Stirn zu runzeln. „Hatte ich nicht gesagt, sie soll alleine stehen können?“

„Das konnte sie auch.“ Amir funkelte sie an. „Zumindest bevor sie durch die halbe Stadt gelaufen ist, um zu euch zu kommen.“

In der Senkrechten zu bleiben, tat meinem Magen ganz und gar nicht gut. Obwohl da gar nichts mehr drinnen sein dürfte, schwappe es darin, als ob ich einen Ozean verschluckt hätte. Oder kam das Gefühl aus meinem Kopf? Ich war mir nicht ganz sicher.

Amir kniff die Augen leicht zusammen. „Was verschweigst du mir, Saana?“

„Es gibt viele Dinge, die ich dir verschweige. Was wohl der Grund ist, warum ich auf deiner schwarzen Liste stehe. Und wenn du jetzt bitte beiseitetreten würdest.“

Die Schlangen auf Amirs Kopf richteten sich auf, als die beiden sich mit Blicken durchbohrten. Dann beugte er sich wortlos zu mir vor und gab mir einen Kuss auf die Wange, der wohl eher zu Anschauungszwecken als zu allem anderen gedacht war. „Saana sagt uns Bescheid, wenn es dir besser geht, dann holen wir dich ab.“

Mehr als ein raues „Okay“ bekam ich nicht zustande. Meine Kehle brannte wie Feuer. Wann nur hörte das endlich auf?

„Los, die Arbeit wartet.“ Damit meinte er wohl den Planwagen, der durch das Erdbeben beschädigt worden war.

Als Amir an den Hexen vorbeiging, strafte er sie mit Ignoranz. Kiran schenkte mir noch ein aufbauendes Lächeln, bevor er ihm folgte. Nur Gaio zögerte. Ihm schien es am allerwenigsten zu gefallen, mich hier zurückzulassen – nicht dass ich deswegen Freudensprünge machen würde. Ich musste all die vertrauten Gesichter gegen diese Fremden eintauschen und konnte nicht einmal etwas dagegen unternehmen. Ja, ich schaffte es ja kaum, die drei Stufen zum Eingang zu nehmen. Als Saana die Tür dann mit einem Fußtritt schloss, war Gaios Gesicht im Regen das Letzte, was ich von der Außenwelt sah.

„Du hast es gleich geschafft“, redete Saana mir mit einem freundlichen Lächeln gut zu. All die Feindseligkeit war draußen geblieben. „Am Ende des Flurs ist das Zimmer.“

Das Zimmer stellte sich als kleiner Raum mit nichts als einem Bett und einem Schrank heraus. Genau wie der Flur war es in dunklem Holz gehalten und genau wie im Flur fand ich auch hier das Zeichen wieder, das die beiden Hexen auf ihren Roben trugen. Ein Pentagramm in einem Kreis. Oder war es ein Mond?

Als die beiden Schwestern des schwarzen Mondes mir ins Bett halfen, hörte ich aus den anderen Räumen Stimmen. Über mir waren viele Schritte. Auch wenn ich weiter niemanden sah, in diesem Haus herrschte reges Treiben.

Ich bettete mein Kopf auf dem weichen Kissen. Leider nahm mein Magen mir das sehr übel, doch dieses Mal schaffte ich es, die Galle wieder hinunter zu zwingen.

„So“, sagte Saana und steckte die Decke um mich fest – eine Geste, die mich sehr an ihre Schwester erinnerte. „Chana wir jetzt eine erste Untersuchung an dir vornehmen und nachher …“

„Was hat Amir gegen dich?“

Diese Frage brachte sie für einen Moment aus dem Konzept. „Ich hüte meine Geheimnisse, genau wie er die seinen“, sagte sie dann.

„Du willst es mir nicht sagen.“ Ich lächelte schwach. War ja eigentlich klar gewesen, schließlich war ich eine Fremde für sie.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, du verstehst nicht. Ich hüte Geheimnisse, Geheimnisse der Hexen, die keinen Außenstehenden etwas angehen. Als ich in den Zirkel eingetreten bin, habe ich einen Eid abgelegt, an den ich gebunden bin, doch Amir sah in mir eine Verbindung zu Mysterien der Hexen. Ich gab ihm die geforderten Informationen nicht - nicht nur weil mein Eid es mir verbietet, sondern auch, weil ich es nicht wollte.“

„Ah, ich verstehe.“ Amir war jemand, der immer über alles Bescheid wissen wollte. Es musste ihn wurmen, dass es Dinge gab, die er nie erfahren würde, wenn er die Quelle doch direkt vor sich hatte.

„Nein, ich glaub nicht, dass du verstehst.“ Sie verstummte und musterte mich, doch dieses Mal hatte es nichts mit meinem auffällig schlechten Zustand zu tun. „Du magst ihn.“

„Amir hat mir geholfen.“ Er war ein toller Mann.

Doch Saana schüttelte den Kopf. „Du solltest Amir nicht vertrauen. Er ist nicht der, der er vorgibt zu sein.“

Nicht der, der er vorgibt zu sein? „Was meinst du damit?“

„Amir tut das, was in seinen Augen nötig ist.“

Das klang ja fast so, als wollte sie andeuten, dass er dazu über Leichen gehen würde. „Ich glaub nicht, dass du ihn gut kennst.“ Amir war manchmal undurchschaubar und blieb lieber für sich. Ja, er hatte seine Geheimnisse. Aber die Arbeit, die er tat, machte er, um etwas zum Besseren zu wenden. „Er ist … ein guter Mann.“

Plötzlich wurde ich sehr müde. Die Erschöpfung der letzten Stunden wurde immer deutlicher und langsam konnte ich mich nicht mehr gegen sie wehren.

„Schlaf jetzt, Chana wird sich um dich kümmern, bis Boudicca hier ist. Boudicca ist die erste Hexe unseres Zirkels. Wenn dir einer helfen kann, dann sie.“

Irgendwie wollte mir das Wenn in ihrem Satz nicht so ganz gefallen.

Sie richtete sich auf und sah zu der anderen Hexe hinüber, die still neben dem Bett stand. „Wenn du nachher ein bisschen Zeit hast, dann komm doch bitte zu mir ins Gelass. Ich habe da etwas entdeckt, was uns vielleicht weiterhelfen wird. Das war eigentlich der Grund, warum ich runtergekommen bin.“

Chana neigte den Kopf leicht zur Seite. „Wegen dem Beben?“

„Ich glaube ja.“ Sie tippte sich mit dem Finger ans Kinn. „Ich glaube, es liegt an den Stützpfeilern, aber …“

Das ließ Chana seufzen. „Nicht das schon wieder. Saana, deine Arbeit ist wirklich beeindruckend, im Moment jedoch nicht wirklich hilfreich.“

„Das wirst du nicht mehr sagen, wenn du gesehen hast, was ich entdeckt habe. Tu mir einfach den Gefallen, in Ordnung?“

„Wenn Boudicca mich nicht mehr braucht“, versprach sie geschlagen. „Aber bei der momentanen Lage kann das noch ein wenig dauern. Ich muss noch …“

„Ich weiß. Das Erdbeben und …“

Ihre weiteren Worte gingen im Nebel meines Kopfes einfach unter. Er wurde so dick und dicht, dass er sogar begann, den Schmerz zu verschlucken. Ich konnte nur eines tun - mich ihm ergeben und darauf hoffen, dass nach meinem Erwachen alles besser sein würde. Wer wusste das schon? Vielleicht stellte sich das Ganze ja dann nur als schrecklicher Traum heraus und in Wirklichkeit war ich noch im Lager der Jäger.

Ich dachte an Amir, als ich mich dem Schlaf ergab, doch das Gesicht in meinem Träumen gehörte einem ganz anderen Mann, einem mit roter Haut und einer langen Narbe an der Schläfe.

 

°°°

 

Das Öffnen der Tür weckte mich aus meinem leichten Schlaf. Ich blinzelte und bemerkte sofort wieder die lauernde Übelkeit. Aber mein Magen war leer, also hatte ich wohl nichts zu befürchten – hoffentlich sah mein Magen das genauso.

„Tiara?“

Nur langsam richtete ich meinen Blick auf die Person an der Tür. Das Zimmer war nur durch das Dämmerlicht des verregneten Tages erhellt und machte es mir schwer, etwas zu erkennen. Im ersten Moment erfasste ich eigentlich nur bunte Farben. Erst langsam nahm da eine Frau vor mir Gestalt an und ehrlich, ich glaubte nicht, dass ich in meinem Leben schon mal so etwas gesehen hatte.

Es war eine Flut aus bunten Tüchern, auffälligen Ketten und Armbändern in jeder nur möglichen Art. Die Frau war leicht gedrungen und rundlich. Das freundliche Gesicht war von vielen Falten durchzogen und von feuerrotem Haar eingerahmt, dass zum Teil unter ihrem gelben Turban hervorschaute. Um den blauen Wollrock waren mehrere Tücher gebunden, die an ihrer Hüfte lustig mit Münzen klimperten. Aber der wirkliche Hingucker war die gestreifte Korsage, die sie über eine karierte Bluse gezogen hatte.

„Ah, also bist du doch wach.“ Sie nickte zufrieden und schnipste mit den Fingern – sie waren voller Ringe. Im nächsten Moment tauchte ein Stuhl aus dem Nichts auf, den sie sich ans Bett zog. In der gleichen Sekunde rumste es im Nebenraum. Die bunte Frau verzog verlegen das Gesicht. „Entschuldigung Roza, ich hab mir mal deinen Stuhl geliehen.“

„Irgendwann wird sich wegen dir noch mal eine von uns den Hals brechen.“

Meine Augen wanderten zu der zweiten Stimme im Raum. Chana lehnte mit verschränkten Armen am Türstock und schüttelte den Kopf. Sie sah noch zerzauster aus und … einfach nur fertig.

Die bunte Frau winkte ab. „Ach, bisher gab es auch nur ein paar blaue Flecken.“ Sie setzte sich auf den Stuhl und rückte damit näher an mich heran. Dabei schien die komplette Kleidung der Frau zu klimpern. „So, nun zu dir. Ich bin Boudicca von Sternheim, die erste Hexe der Schwestern des schwarzen Mondes.“

Hieß das, dass sie den Zirkel gegründet hatte, oder einfach, dass sie sich bis an die Spitze hochgearbeitet hatte?

„Saana hat mir bereits berichtet, was passiert ist, und ich muss dir sagen, dass das sehr dumm war. Aber darum geht es ja gar nicht. Ähm … verrätst du mir deinen Namen?“

Meinen Namen? Sie hatte mich doch schon mit meinem Namen angesprochen. „Ti…“ Ich musste mich räuspern, so trocken war meine Kehle.

Boudicca schnippte mit den Fingern und ein Glas mit Wasser erschien in ihrer Hand. Als sie es in meine Richtung hielt, rechnete ich schon damit, dass wieder irgendwo etwas schepperte, aber alles blieb ruhig.

„Danke“, murmelte ich und versuchte mich aufrecht hinzusetzen. Es dauerte einen Moment, aber ich schaffte es, und das Wasser war wirklich eine Wohltat. „Danke“, wiederholte ich erneut und ließ die Hände mit dem Glas in meinen Schoß sinken. Als sie mich nur abwartend ansah, fiel mir wieder ein, was sie von mir gewollt hatte. „Tiara“, sagte ich.

Sie wartete noch immer, aber als da nichts mehr kam, lächelte sie so herzlich, dass ich sie als meine Oma adoptieren wollte. „Ich meinte eigentlich deinen ganzen Namen.“

„Tiara Kleiber.“ Das hatte in dem Brief gestanden – der Brief, der vom ständigen Anfassen schön völlig zerlesen war.

„Das habe ich befürchtet.“ Sie seufzte.

Nein, jetzt kam ich nicht mehr mit. „Ich verstehe nicht.“

„Du bist Tiara Kleiber aus München.“

Okay, jetzt wurde es unheimlich. „Woher wissen Sie, woher ich komme?“ Außer mir wussten das nur fünf andere Mortatia und sie stand nicht auf dieser Liste. Mit ihrer Antwort hätte ich jedoch niemals gerechnet.

„Weil ich deine Schwester kenne.“

Das machte mich wortwörtlich sprachlos.

„Und nicht nur das, ich war es auch, die sie zurück in die Welt jenseits des Spiegels geschickt hat.“

Sie war es … sie hat … sie … „Sie kennen meine Schwester?“

„Ich kenne Talita. Und nicht nur sie, ich kenne auch ihren Gefährten. Ich war dabei, als sie endlich zueinander gefunden haben.“ Sie zwinkerte mir zu, während Chana nur die Augen verdrehte.

„Ich werde mal sehen, ob ich noch irgendwo gebraucht werde.“ Damit verschwand sie aus dem Raum.

Ich bekam es kaum mit. „Das heißt, Sie wissen … Sie wissen, wer ich bin?“

„Du bist ein Viator, genau wie Talita und genau wie Veith.“

Veith, der Name aus dem Brief. Die plötzliche Aufregung verdrängte den Schmerz und die Übelkeit zu einem fernen Rauschen. „Sie kennen meine Schwester.“

„Ja, und genau das wirft so einige Fragen auf.“

Nein, ihre Gedankensprünge konnte ich nun wirklich nicht verfolgen. „Was meinen Sie damit?“

„Bevor ich darauf antworte, würde ich dich gerne einmal untersuchen. Wenn du es erlaubst.“ Als sie eine Augenbraue fragend hochzog, glätteten ihre Falten sich leicht. Wie alt sie wohl war?

„Ähm … ja, okay.“ Und damit begann ein magischer Hokuspokus, der so ganz anders war als der, den ich von Asha kannte. Ihre Finger skizzierten Zeichen in der Luft, die nach ihrer Fertigstellung aufglühten und auf mich zuflogen. Ihre Bewegungen gingen so schnell vonstatten, dass ich innerhalb kürzester Zeit von leuchtenden Runen nur so umgeben war. Manche streiften mich und verpufften, andere legten sich auf meine Haut, was der Übelkeit neuen Schwung gab. Wieder andere umkreisten mich einfach nur.

Boudicca hatte die Augen geschlossen, doch in dem Ausdruck in ihrem Gesicht lag nichts außer Konzentration.

„Was machen Sie da?“

„Ich überprüfe deine Natur und sehe nach, welche Schäden die wilde Magie angerichtet hat, um zu erfahren, wie wir dir am besten helfen können.“

Helfen klang gut. Aber auch, wenn ich mittlerweile so einiges gewohnt war, so war mir nicht ganz klar, wie leuchtende Zeichen meinen Körper untersuchen konnten.

Ich wollte sie gerade danach fragen, als sie seufzte und mit einem Klatschen den ganzen Zauber verschwinden ließ. Mein Magen dankte es mir, indem er die Übelkeit mit verschwinden ließ – zumindest einen großen Teil davon.

„Du bist unweigerlich eine Hexe.“ Sie nahm mich ins Visier wie einen Käfer unter dem Mikroskop. „Noch dazu eine mit einem magischen Potential, das ich noch nie gesehen habe.“

Ich runzelte die Stirn. „Ich weiß.“

„Nein, du verstehst nicht. Du bist eine Hexe. Deine Schwester aber ist keine.“

„Ich … verstehe nicht.“ Auch wenn mir diese Tatsache in der Zwischenzeit wohl bekannt war.

„Lass mich einen Moment nachdenken.“ Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und schien von einem Moment auf den anderen völlig in Gedanken versunken zu sein.

Irgendwie war das nicht die Art von Behandlung, die ich mir vorgestellt hatte. Von Asha kannte ich es ganz anders. Aber nun gut, sie hatte auch hauptsächlich mit körperlichen Verletzungen zu tun. Bei mir lag der Fall ja ganz anders.

„In Ordnung“, sagte sie schließlich. „Ich versuch, dir das mal zu erklären. Als du vor … wann bist du hier angekommen?“

„Vor ungefähr zwei Monaten.“

„Erst zwei Monate?“ Die Überraschung in ihrer Stimme wollte mir so gar nicht gefallen, genau wie die leichte Sorge in ihren Augen.

„Ist das wichtig?“

„Vielleicht.“ Sie lehnte sich wieder ein wenig vor. „In Ordnung, dann muss ich wohl ein wenig weiter ausholen. Was weißt du über die Fortpflanzung in dieser Welt?“

„Sie … macht Spaß?“ Ich ging einfach mal davon aus.

Das ließ Boudicca herzlichst auflachen. „Ja, das tut sie durchaus.“ Eine freche Lachträne schlich sich in ihren Augenwinkel. „Aber das habe ich eigentlich nicht gemeint.“ Immer noch kichernd, wischte sie sich über die Wange.

„Dann habe ich keine Ahnung.“

„Dann muss ich das jetzt ändern.“ Sie atmete noch einmal tief durch und wurde wieder ernst. „Jedes Wesen dieser Welt besteht aus Magie und jede Magie hat ihre eigene Farbe. Bei den Zentauren ist es ein durchdringendes Rot.“ Sie öffnete ihre linke Hand mit der Handfläche nach oben. Glitzernder roter Staub stieg von ihr auf, kräuselte sich in der Luft und verglühte dann einfach. „Bei den Elfen ist es ein helles Mintgrün.“ Dieses Mal öffnete sie die rechte Hand und wieder stieg Glitzerstaub auf, dieses Mal jedoch in einem sehr hellen Grün.

„Und Hexen?“, fragte ich.

„Ein dunkles Violett.“ Dieses Mal ließ sie kein Wölkchen aufsteigen, dafür erschien in der linken Hand wieder das rote Wölkchen. Dieses Mal jedoch formte sich daraus die Silhouette eines Zentauren – eines männliches Zentauren. Sein Gegenstück, die weibliche Version, stieg in Rot von ihrer rechten Hand auf. Dann rannten die Silhouetten zweier glitzernder Zentauren aufeinander zu. Als sie sich fanden, küssten sie sich und kleine Herzchen stiegen über ihren Köpfen auf.

„Wenn ein Zentaur ein Kind bekommt, dann wird es sein wie seine Eltern. Nicht nur äußerlich wird es ihnen ähnlich sein, sondern auch von seiner Magie her.“ Eines der Herzchen platzte auf und ein kleines Fohlen fiel heraus, direkt in die Arme seiner Eltern. Genau wie sie war es rot. „Genauso ist es auch mit anderen Mortatian. Zum Beispiel die Elfen.“ Sie machte mit der Hand eine Wischbewegung und die kleine Familie begann, um sie herum zu galoppieren. Dann stiegen aus ihren Händen neue Glitzerwölkchen auf. Dieses Mal waren sie mintgrün und hatten die Formen von Elfen. Auch sie bekamen kleine Herzen, aus denen ein Kind fiel, mit dem sie anschließend durch den Raum tanzten. „Oder den Harpyien.“ Dieses Mal waren es silberne Wölkchen, die sich zu den Silhouetten dieser Gattung formten und als kleine glückliche Familie durch den Raum flogen.

Es folgten noch Serpens und Engel, Orakel, Rakshasi und Naga. Bald war der Raum erfüllt von kleinen glitzernden Familien.

Fasziniert folgte ich ihren Bewegungen. Es sah wunderschön aus.

„Wir alle sind diesen Regeln unterworfen. Doch manchmal …“ – sie schnipste mit den Fingern und alle Figuren verschwanden - alle bis auf zwei. Eine glitzernde Elfe und ein leuchtender Engel – „… passiert es, dass die Liebe sich nicht an diese Regeln hält.“

Der Engel näherte sich vorsichtig der Elfe. Dann verbeugte er sich vor ihr und hielt ihr die Hand hin. Sie zögerte, schaute verstohlen in alle Richtungen, legte ihre Hand dann aber in seine und dann begannen die beiden zu tanzen und eine Spur aus Glitzerstaub hinter sich herzuziehen. Bald darauf erblühte ein erstes vorsichtiges Herz über ihnen, doch schon bald wurden es mehr. Doch diese Herzchen waren anderes. Die eine Hälfte war Mintgrün, die andere Silber.

„Die Gesellschaft heißt solche Verbindungen nicht unbedingt gut, aber sie werden akzeptiert. Doch natürlich tun auch diese Liebenden das, was alle Liebenden tun.“

Ab hier veränderte sich das Schauspiel. Aus den Herzchen wurde kein Baby geboren, dafür wurde der Bauch der tanzenden Elfe langsam dicker, bis sich eine Schwangerschaft deutlich abzeichnete.

Boudicca Blick wurde traurig. „Es gibt nur wenig solcher Paare, die dieses Stadium erreichen, und noch weniger, die ihre Kinder zur Welt bringen.“

Bitte? „Ich … was meinen Sie damit?“

Der Bauch der Elfe schrumpfte wieder zusammen und die Elfe fiel auf die Knie und begann zu weinen. Der Engel nahm sie in den Arm, aber auch ihn hatte die Trauer ergriffen.

„Es ist die Magie in ihnen. Sie ist sich … uneinig.“

Während das trauernde Pärchen sich noch in den Armen lag, ließ Boudicca ein neues Wölkchen in ihrer Hand entstehen. Es war zum Teil mintgrün und zum Teil silbern. Die Gestalt eines Kindes bildete sich daraus, doch es sah so anders aus als die anderen Kinder. Es trug zwei Farben in sich – genau in der Mitte geteilt. Dann begannen sie ineinander zu fließen, aber sie vermischten sich nicht. Es schien, als wollte die eine Farbe die andere verdrängen, um die Oberhand zu gewinnen und das Kind für sich zu beanspruchen.

Auf mich wirkte es … grausam.

„Jede von ihnen will das neue Wesen für sich. Sie bekämpfen sich und zerstören damit das neue Leben.“

„Oh … nein.“ Das war ja schrecklich.

„Solche Kinder schaffen es nur selten auf die Welt.“ Mit einer Bewegung ließ sie alle Glitzergestalten im Raum verschwinden. „Und keines von ihnen überlebt lange.“

Mein Gott, das war so … ich wusste gar nicht, was ich denken sollte. „Warum zeigen Sie mir das?“

„Weil ich glaube, dass es das ist, was mit dir und deiner Schwester passiert ist.“

Ich schaffte es gerade noch, mir ein „Hä?“ zu verkneifen, doch mein Gesicht sprach sicher Bände.

„Pass auf. Ich weiß es nicht mit Sicherheit, aber es wäre eine logische Erklärung. Ein Magier …“ – wieder ließ sie ein glitzerndes Wölkchen aufsteigen, das die Silhouette eines Mannes annahm; dieses Mal in einem hellen Violett – „… traf auf eine Therianerin.“ Aus ihrer linken Hand stieg hellblauer Glitzer auf und nahm die Form eines Leoparden an.

Die Leopardin schlich um den Magier herum und verwandelte sich dann in die Gestalt einer Frau. Sie reichten sich die Hände und gleich darauf stiegen Herzchen über ihren Köpfen auf.

„Sie verliebten sich und sie wurde bald darauf schwanger.“

Der Bauch der Frau begann sich zu einer deutlichen Kugel zu dehnen.

„Beide wussten natürlich um das Schicksal des Kindes und so entschieden sie sich, das Einzige zu tun, um ihr Baby zu retten.“

„Es kann gerettet werden?!“

Boudicca nickte und ließ in ihrer Hand einen Spiegel erscheinen. Er glitzerte nicht, es war ein einfacher weißer Spiegel. „Es ist die Magie, die verhindert, dass ihr Kind überleben kann. Also gingen sie durch den Spiegel in eine Welt ohne Magie.“

Die Frau ergriff die Hand des Mannes und zog ihn hinter sich durch den Spiegel. In dem Moment geschah es. Der Glitzer und die Farbe blieben auf der magischen Seite zurück und als sie auf der anderen Seite aus dem Spiegel traten, waren ihre Silhouetten einfach nur weiß, genau wie die Herzchen über ihrem Kopf.

Der Bauch der Frau verschwand und aus zwei der Herzchen fielen Babys – direkt in die Arme ihrer Eltern.

Dieses Mal verstand ich, was sie mir damit sagen wollte. „Mein Vater ist ein Magier und meine Mutter ein Therianer und sie sind in die Welt der Menschen gegangen, um mich und meine Schwester zu retten?“ 

„Ja, ich denke, so könnte es gewesen sein. Aber hier endet die Geschichte noch nicht. Die Babys wuchsen heran und eine von ihnen entschloss sich, durch den Spiegel zu gehen.“

Die Figuren der Eltern verblassten. Dafür wuchsen die beiden Babys zu zwei jungen Frauen heran, von denen eine durch den Spiegel trat. Doch auch auf dieser Seite blieb ihre Silhouette weiß.

„Sie hat keine Magie.“

„Nein, die wurde ihr genommen, bevor sie sich richtig entwickeln konnte. Doch Talita lernte einen Magier kennen, der dies erkannte und ihr mit der Hilfe der Caput Vena Magie gab.“ Die weiße Silhouette begann zu glitzern und die linke Hälfte ihres Körpers wurde blau – ein helles Blau. Die andere Hälfte blieb weiß.

„Talita hat immer gesagt, dass sie nur eine halbe Katze sei, da sie sich nie richtig verwandeln konnte. Ein Therianer nimmt bei der Verwandlung normalerweise die Gestalt einer Großkatze an. Sie jedoch wurde zu einem Wesen, das halb Frau und halb Katze war.“

Ja, ich hatte Fotos gesehen. „Aber warum?“

„Ich kann nur raten, aber ich denke, es lag daran, dass nur ein Teil ihrer Magie geweckt wurde. Der andere Teil, der eures Vaters, blieb verborgen.“

„Woher wissen Sie, dass mein Vater der Magier ist? Es kann doch auch sein, dass meine Mutter eine Hexe ist.“

Sie winkte ab, als wäre es völlig undenkbar, dass eine Hexe so etwas tun würde. „Es ist auch eigentlich egal. Was ich dir damit sagen wollte: als sie erwachsen war und hierherkam, konnte die Magie ihr nicht mehr so zusetzen, aber auch, wenn nur ein Teil in ihr geweckt wurde, hatte sie dennoch Probleme. Gefühle haben sie dazu gebracht, sich ständig hin und her zu verwandeln. Es hat Wochen gedauert, bis sie es in dem Griff bekommen hat.“

„Wie hat sie das geschafft?“

„Das habe ich nie herausbekommen. Aber das ist im Moment auch nicht wichtig.“ Sie ließ noch ein Wölkchen in ihrer Hand aufsteigen. Gelb. Es wurde zu einem Mann, der Talitas Hand nahm und mit ihr durch den Spiegel schritt. Beide ließen ihre Magie zurück, doch sie wirkten glücklich. Meine Silhouette dagegen stand ein wenig nutzlos herum und schaute sich in der Gegend um.

„Weißt du, warum ich dir das alles erzählt habe?“

„Weil Sie glauben, dass es mir wichtig ist.“

„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Weil es wichtig ist für das, was ich dir als nächstes erzähle.“ Für einen Moment zögerte sie, befeuchtete ihre Lippen und seufzte dann. „Eure Geschichte endete nicht an diesem Punkt, denn dann kamst auch du her. Doch auch, wenn ihr euch äußerlich gleichen mögt wie ein Ei dem anderen, so seid ihr im Inneren doch völlig verschieden.“

„Ich schlage nach meinem Vater.“ Zumindest, wenn ihre Theorie stimmte.

„Zum Teil. Auch du tratst durch den Spiegel und hast damit eine Magie geweckt.“

Meine Silhouette folgte ihren Worten und meine linke Seite färbte sich in ein dunkles Violett, das wie ein Sternenmeer funkelte. Aber … auch meine rechte Seite färbte sich, wurde zu einem hellen Blau. Die beiden Farben waren durch einen dünnen Strich in der Mitte voneinander getrennt.

„Ähm … soll das heißen, dass ich mich auch in ein Kätzchen verwandeln kann?“

„Das weiß ich nicht, aber es ist das, was ich bei meiner Untersuchung festgestellt habe. In dir leben beide Magien. Es ist unbestreitbar, dass deine Hexenseite die größere Kraft besitzt. So etwas habe ich noch nie gesehen. Macht in solchem Ausmaß ist schon etwas Besonderes, und das war wohl auch der einzige Grund, warum du dein kleines Abenteuer mit der wilden Magie überlebt hast.“

„Dann kann ich wohl nur von Glück reden.“ Mein schiefes Lächeln wurde nicht erwidert. Ganz im Gegenteil. Boudicca wirkte auf einmal sehr ernst.

„Deine Magie ist so groß, dass du damit das Unmögliche möglich machen kannst, wenn du es nur willst. Du hast die Macht, jeden Spiegel in ein Portal zu verwandeln, solange du nur den Willen dafür aufbringst. Du kannst Dingen neue Formen geben, ihre Substanz verändern und sie vielleicht sogar aus dem Nichts erschaffen. Solange du nur vor Augen hast, was du erreichen möchtest, und es dir fest genug vornimmst, wirst du es tun können. Wahrscheinlich brauchst du dazu nicht einmal das Mal der Hexen.“

„Das Mal der Hexen?“ Das hatte ich doch schon mal gehört.

„Ein fünfeckiger Stern, gezeichnet aus einer Linie mit einem Zinken nach oben.“

Das hörte sich an wie ein … „Pentagramm.“ Die Erinnerung mit Talita. Das Mal der Hexen.

„Ja, so hat deine Schwester es damals auch genannt.“ Wieder seufzte sie. „Aber damit wird das Problem nicht geringer.“

Problem? „Welches Problem?“

„Hast du es denn nicht verstanden?“ Mit einer Bewegung ließ sie alle Silhouetten bis auf meine verschwinden. „Warum sterben Babys im Mutterleib, wenn sie zwei verschiedenen Arten angehören?“

„Weil die Magie anfängt … sich zu bekämpfen.“ Meine Silhouette wuchs heran, bis sie fast so groß war wie ich und da erst bemerkte ich es. In der Zwischenwand war ein kleines Loch – war das schon die ganze Zeit da gewesen? – und drängte in die andere Seite hinein, verdrängte damit die andere Farbe, die versuchte, Platz für sich zu finden, und ein weiteres Loch in die Zwischenwand bohrte, um auf die andere Seite zu kommen.

„Jedes Mal, wenn du Magie wirkst, versucht deine Hexenseite sich weiter auszubreiten. Aber damit nimmt sie Platz weg, der gebraucht wird.“

Die Farben zerschnitten sich gegenseitig und bohrten immer mehr Löcher in die Mitte. An einer Stelle fehlte sogar schon ein ganzer Zentimeter.

„Jedes Mal, wenn ich Magie wirke?“

Boudicca nickte. „Wäre es nur dabei geblieben, hätte es vielleicht Jahre dauern können, bis wirklich massive Schäden auftreten. Aber da du so viel wilde Magie in dich aufgenommen hast und in ihr fast vergangen wärst, hast du die Trennlinie unwiderruflich zerstört.“ Sie schoss einen Blitz auf meine Silhouette ab und riss damit mehr als die Hälfte der Trennwand auseinander. Sofort begangen die Farben in einem wilden Kampf miteinander zu ringen. Dabei rissen sie immer mehr von der Mittellinie mit sich.

Es sah schrecklich aus.

Die folgende Frage traute ich mich kaum über die Lippen zu bringen. „Was wollen Sie mir damit sagen?“

Sie schüttelte den Kopf, aber damit konnte ich nicht viel anfangen.

„Was heißt das?“, forderte ich zu wissen. Meine Hände hatten zu zittern begonnen. Ich krallte sie ins Bettlacken, um es zu unterdrücken, doch mein Herzschlag ließ sich auf diese Art nicht verlangsamen.

„Es bedeutet …“ Sie zögerte einen Moment. „Es tut mir leid, dir das zu sagen, aber wir können dir nicht helfen. Das kann niemand.“

Das kann niemand. Das kann niemand. Das kann niemand. „Was?“ Nun zitterte auch meine Stimme.

„Es gibt keine Heilung. Es tut mir leid, dir das mitteilen zu müssen, aber du wirst sterben.“ Wie um ihre Worte zu untermauern, verblasste meine Silhouette einfach und nichts blieb zurück.

Ich versuchte in ihren Worten einen makabren Scherz zu finden. Vielleicht war heute ja so etwas wie der erste April, doch sie revidierte ihre Aussage nicht. Warum revidierte sie sie nicht? „Sie müssen sich irren.“ Bitte, bitte!

„Das ist sehr unwahrscheinlich. Alles spricht für meine Worte. Es tut mir leid, aber es ist so.“

Das konnte nicht sein. Die Magie sollte mich töten? Meine Hände krampften sich um das Laken, bis die Knöchel weiß hervorstachen. „Aber … Magie ist Leben“, flüsterte ich. Das war eines der ersten Sachen, die ich gelernt hatte.

„Nicht in diesem Fall.“

Ich würde sterben. Aus irgendeinem Grund waren in mir beide Magien erwacht und deswegen würde ich jetzt sterben. „Und … was soll ich jetzt tun?“

Sie seufzte und fuhr sich mit der Hand über ihren Mund. Selbst ihr ganzer Klimblim gab keinen Ton mehr von sich. „Wenn du ab sofort keine Magie mehr einsetzt, wird das den Prozess verlangsamen, aber er kann nicht mehr aufgehalten werden. Mit deinem Eintritt in diese Welt hast du gewissermaßen den Startknopf gedrückt und je mehr Magie du einsetzt, umso schneller wird der Verfall voranschreiten.“

Nein.

„Solltest du der Magie entsagen, wirst du vielleicht noch ein paar Monate leben können, aber diese Monate werden wahrscheinlich nicht angenehm sein. Doch schlimmer wird es sein, wenn du Magie einsetzt. Jedes Mal, wenn du mit ihr in Berührung kommst, wirst du das körperlich spüren – stärker als jede andere Hexe.“

Nein.

„Natürlich wird die Magie in dir sich wieder beruhigen. Vielleicht gibt es sogar Zeiten, in denen du dich völlig gesund fühlen wirst, doch der Verfall wird immer wieder spürbar zu dir zurückkehren.“

Nein.

„Solltest du deine Magie jedoch weiterhin einsetzen, wie du es bisher getan hast, wird es nur Wochen dauern bis …“ Sie ließ den Satz unbeendet.

Nein.

Sie seufzte. „Wenn du meinen Rat willst, dann kehre in die Welt ohne Magie zurück. Dort bist du außer Gefahr.“

Nein!

Das konnte nicht sein, dass durfte nicht das Ende sein. Das konnte sie mir nicht antun! „Aber … es muss … ich … gibt es denn keinen anderen Weg? Ich meine, es muss doch irgendeine Lösung geben, es …“ Da kam mir ein Gedanke. „Der Ring! Ich habe einen Ring, der Krankheiten aufhalten kann! Wenn ich ihn …“

„Ist er magisch?“

Diese einfache Frage ließ mich verstummen. Ja, er war magisch und alles Magische würde meinen Zustand nur noch schlimmer machen.

„Du kannst deinem Schicksal nicht entkommen. Es wird dich verfolgen und finden, bis du dich ihm stellst. Aber dann wird es vielleicht schon zu spät sein.“

Ich konnte nicht gehen. Ich liebte die Magie! Ich liebte diese Welt. Alles war so … wundervoll. Wie sollte ich das aufgeben?

„Geh nach Hause, Tiara, deine Zukunft liegt nicht in der magischen Welt.“

Das konnte sie nicht ernst meinen. Sie machte einen Witz, einen riesengroßen Witz auf meine Kosten. Aber Asha hatte bereits etwas Ähnliches angedeutet. Konnten beide Frauen sich täuschen? Oder war es vielleicht doch schlicht und ergreifend Neid, der sie zu solchen Aussagen verleitete? Magie war schließlich Leben. Alles in dieser Welt war von ihr durchdrungen. Ich hatte es gesehen. Als die wilde Magie in mich hineingefahren war, hatte ich sehen können, wie stark das Leben strahlte. Sie mussten sich irren.

„Wenn du es wünschst, können wir dich sofort zurückschicken. Wir haben hier im Zirkel ein Portal, dass du …“

„Nein.“

Sie unterbrach sich und runzelte die Stirn. „Nein?“

Sie irrten sich auf jeden Fall. Ich war schließlich kein Baby mehr, ich hatte in den letzten Wochen jeden Tag gelernt, die Magie zu kontrollieren. Ich liebte die Magie. Sie waren einfach nur neidisch auf meine Macht. Dieses missgünstige Gefühl trieb sie dazu, mich anzulügen. „Bitte rufen Sie Amir an, damit er mich abholen kommt.“

„Ich soll … bist du sicher?“

„Ich bin nicht krank“, sagte ich mit fester Stimme und durchbohrte sie mit meinem Blick.

Boudicca schwieg einen Moment, dann faltete sie die Hände in ihrem Schoß. „Ich kann mir vorstellen, was für ein Schock das für dich sein muss, aber sei dir versichert, ich …“

„Ich bin nicht krank“, wiederholte ich. Ich wusste es ganz genau. Magie war Leben und sie war einfach nur neidisch. Meine Zusammenbrüche in der Wüste hatten an der Hitze gelegen und der in der Stadt an der wilden Magie. Das beste Beispiel dafür war der Drache im Gebirge gewesen. Das Zaubern dort hatte mich erschöpft, aber das war auch alles gewesen.

„Tiara, du …“

„Nein.“ Ich unterstrich das Wort mit einer heftigen Handbewegung. „Mir geht es gut.“ Ober mir würde es wieder gutgehen, sobald ich die wilde Magie verdaut hatte. „Und ich würde nun gerne gehen – zurück zu den Jägern. Daher bitte ich Sie erneut, Amir zu benachrichtigen, ansonsten werde ich dieses Haus einfach so verlassen.“ Irgendwie würde ich schon zu den Jägern zurückfinden.

Boudiccas Augen sprachen von Mitgefühl. Ich wollte das nicht sehen und wandte den Blick ab. Ihr gespieltes Mitgefühl konnte sie behalten, denn ich wusste, dass es falsch war.

„Bevor ich diesen Amir rufen lasse, möchte ich dir noch eines sagen: Die Türen des Zirkels stehen immer für dich offen. Komm zu uns zurück, sobald du meinen Worten Glauben schenkst.“

„Das wird nicht passieren.“

Sie überging das einfach, als hätte ich nichts gesagt. „Das Portal bei uns steht zu deiner Abreise bereit, sobald du soweit bist, es zu nutzen.“

„Ich werde es nicht brauchen.“ Niemals.

Wieder ignorierte sie es. „Solltest du, aus welchem Grund auch immer, nicht rechtzeitig zu uns zurückkehren können, dann denke immer daran, dass du sehr mächtig bist. Ich bin mir sicher, dass du Portale erschaffen kannst. Dazu brauchst du nur einen Spiegel.“

Ich schnaubte. Sie tat ja wirklich alles, um mich aus dieser Welt zu verbannen. Glaubte sie, dass sie mir nur genug Angst machen müsste und ich dann verschwinden würde? Es gab sicher einen guten Grund, warum ich hergekommen war. Und selbst wenn nicht, würde ich nicht gehen. Ich glaubte nämlich keine Lügen!

„Amir“, sagte ich sehr nachdrücklich, ohne sie anzusehen.

„Nun gut.“ Sie erhob sich und verließ klimpernd das Zimmer. Ich wusste, dass mein wilder Herzschlag nichts mit irgendeiner absurden Angst zu tun hatte, sondern von meiner Wut stammte.

Ich erkannte eine Lüge, wenn ich sie vor mir sah.

 

°°°

 

Du wirst sterben.

Immer wieder schwebten diese drei Worte durch meinen Kopf.

Es gibt keine Heilung. Es tut mir leid, dir das mitteilen zu müssen, aber du wirst sterben.

Sterben. Sollte ich hierbeleiben, würde ich sterben.

Nein, nein, nein.

Ich kniff die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Boudicca log. Alles war nur halb so schlimm, wie sie es darstellte. Es war wahrscheinlich wie bei einem Magen-Darm-Virus. Extrem anstrengend und kräftezehrend, aber man wurde wieder gesund – man musste sich nur ein wenig Ruhe gönnen. Ja, wahrscheinlich hatte ich mir wirklich nur einen blöden Virus eingefangen. Die wilde Magie war ja auch anstrengend gewesen. Die Zeit heilte alle Wunden und auch hier würde es so sein.

Jedes Mal, wenn ich mir das erneut sagte, wurde ich sicherer. Das war alles nur eine große Lüge gewesen, hervorgerufen durch Neid. Anders konnte es gar nicht sein.

Mittlerweile ging es mir schon viel besser. Ich hatte sogar eine Kleinigkeit gegessen und sie bei mir behalten. Das zeigte doch deutlich, wie wenig Wahrheit in ihren Worten lag.

Der Planwagen ruckelte leicht, als wir einen Ast überfuhren. Der passende Baum dazu stand noch. Diese Feststellung kam nicht von ungefähr. In der letzten halben Stunde hatte ich viele entwurzelte Bäume in den Straßen gesehen, obwohl alle fleißig dabei halfen, die Schäden so schnell wie möglich zu beheben.

Wir fuhren nicht den Weg, den wir in die Stadt genommen hatten - der war nicht passierbar, was Amir reichlich verärgert hatte. Nicht nur das Beben und der kaputte Wagen hatten die Abreise verzögert, wir hatten auch noch fast einen Tag verloren, weil ich zu den Hexen gebracht werden musste. Und nun mussten wir auch noch einen Umweg nehmen.

Amir gab mir nicht direkt die Schuld, doch ihm war anzusehen, dass ihn diese ganzen Verzögerungen verärgerten.

„Erzählst du es mir?“, fragte Kiran und folgte dem vorderen Wagen in eine Seitenstraße.

Trotz der vollen Wagen waren wir ziemlich zügig unterwegs. Die Sonnen waren bereits vor Stunden am Horizont verschwunden, aber Amir wollte es heute zumindest noch zum Wolfsbaumwald schaffen, um wenigstens einen kleinen Teil der verlorenen Zeit wieder herauszuholen. Es würde eine kurze Nacht werden.

„Tiara?“

Ich schloss die Augen und versuchte Kirans Stimme auszublenden. Noch immer tat mir alles weh und die holprige Fahrt war nicht sehr hilfreich. Wenigstens hatten die Übelkeit und das Schwindelgefühl aufgehört, sobald ich etwas zu mir genommen hatte. Trotzdem war ich noch immer ziemlich erschöpft und wollte nichts lieber tun als zu schlafen.

„Komm schon, mir kannst du es doch sagen. Oder ist das wieder so ein Geheimnis der Hexen?“

So ging das schon die letzte halbe Stunde. Ich drückte meine Tasche fester an die Brust. Gaio hatte sie aus den Ruinen des Hauses geholt. Es war alles da. Meine beiden Bücher, meine Kladde und auch der Ring. Nur der Stift war in dem Beben verschollen gegangen – aber der war bei weitem nicht so wichtig.

„Du weißt, dass du es durch dein Schweigen nur schlimmer machst?“, bemerkte Kiran. „So müssen wir vom Schlimmsten ausgehen und wer weiß, wozu das bei Gaio noch führt. Nachher bindet er sich noch eine Schürze um und kocht dir eine Suppe. Und die musst du dann essen, egal wie schrecklich sie schmeckt, weil du sonst seine Gefühle verletzt.“

Der Gedanke an Gaio in einer geblümten Schürze ließ wohl zum ersten Mal an diesem Tag ein Lächeln auf meinen Lippen erahnen. „So schlimm ist es gar nicht“, sagte ich leise und beobachtete auf der anderen Straßenseite ein paar Minotauren, die versuchten, Schuttteile aus dem Weg zu räumen.

Ja, auch um diese Zeit waren die Helfer noch damit beschäftigt, etwas Ordnung in das Chaos zu bringen. Allerdings hatte es diesen Teil der Stadt nicht so schlimm getroffen, weswegen man sich wohl erst später wirklich um ihn bemühen würde.

Ganz anders war es in der Innenstadt, wo hauptsächlich Hexen und Magier versuchten, die beschädigten Gebäude mit Magie zu flicken. Auf unserem Weg hatte ich zwei Hexen beobachtet, die die zersplitterte Front eines Hauses mit Magie Stück für Stück wieder zusammengesetzt hatten, um das Ganze dann wieder ins Haus einzufügen. Es hatte ausgesehen wie neu, als wäre all das nie geschehen.

„Wie schlimm ist ‚nicht so schlimm‘?“, fragte Kiran, als ich beharrlich schwieg und meine Gedanken in eine andere Richtung fließen ließ. Eine zerstörte Stadt und deren Wiederaufbau waren schließlich immer noch besser als an die Worte von Boudicca von Sternheim denken zu müssen.

„Ach, komm schon.“ Kiran stieß mich freundschaftlich mit der Schulter an. „Mir kannst du es doch verraten. Oder muss ich nochmal mit Gaios Kochkünsten drohen?“

Oh je. „Ich muss mich nur ein wenig ausruhen.“

Um mir einen skeptischen Blick zuwerfen zu können, wandte er die Augen sogar einen Moment von der Straße ab. „Das ist alles?“

„Alles, was von Bedeutung ist.“

„Das hört sich …“ Er runzelte die Stirn. „…seltsam an.“

„Aber so ist es.“ Ich versuchte es mit einem Lächeln, um seine Zweifel zu zerstreuen. „Wirklich, es ist alles in Ordnung. Die wilde Magie hat mich nur erschöpft, das ist schon alles. Du musst dir also keinen Kopf machen.“

Verwirrt runzelte er die Stirn. „Ich soll mir keinen Kopf machen?“

„Das ist so eine Redewendung. Es bedeutet, dass alles in Ordnung ist und du dir keine Gedanken über Nichtigkeiten machen musst, die es gar nicht gibt.“

„Das waren jetzt aber ziemlich viele Verneinungen.“

Er glaubte mir nicht, ich sah es ihm an.

„Als wir dich abgeholt haben, schienen die Hexen nicht sehr zufrieden mit dir.“

„Nur weil ich auch eine Hexe bin, muss ich nicht ihre Ansichten teilen“, sagte ich ein wenig zu spitz.

Kiran warf mir einen vorsichtigen Seitenblick zu, behielt aber jeden weiteren Kommentar zu diesem Thema für sich.

Super, jetzt würde ich mich bei ihm auch noch entschuldigen müssen. Seufz.

„Mach da hinten mal ein bisschen Tempo!“, rief Gaio uns zu. „Wir wollen heute noch in die Federn.“

„Sklaventreiber“, murmelte Kiran, trieb die beiden Glatisants aber zu ein wenig mehr Eile an. „Und wenn nachher auf dem Wagen irgendwas kaputt ist, dann ist es meine Schuld.“

„Du kannst dich ja bei der Gewerkschaft beklagen.“

„Vielleicht mache ich das sogar.“

Überrascht setzte ich mich auf. „Du weißt, was eine Gewerkschaft ist?“

„Du nicht?“

Wer hätte das gedacht? Bürokratie setzte sich auch in der magischen Welt durch. Tja, ohne ging es scheinbar nirgendwo.

Der Gedanke ließ mich lächeln und gab mir einmal mehr die Sicherheit, die ich brauchte. Solange ich lächeln konnte, war Gevatter Tod sicher noch meilenweit entfernt.

Warum nur fühlte ich mich dann so hohl und leer?

 

°°°°°

Tag Achtundsechzig

 

„…Wanderer ohne Ziiiel. Laaass mich geeehn …“

„Tia“, mahnte Gaio genervt.

Ich ignorierte ihn und sang einfach weiter. „… laaass mich geeehn. Ich hab mich schon gewöhnt an dich, fühlte mich wie zu Haus, wollt bei dir sein ein Leben lang, doch wieder muss ich hinaus. Ich …“

„Tia!“

„Was?!“

„Dein Gesang tut sogar den Drachen in den Ohren weh, also lass es endlich!“

Ohhh, das hatte er jetzt nicht gesagt. Dieser … dieser Gargoyle! Okay, ich hatte vielleicht nicht unbedingt eine Singstimme, aber wir zogen bereits seit Stunden durch das Drachengebirge und mir war furchtbar langweilig. „Dann werden uns die Drachen wenigstens nicht zu nahe kommen“, gab ich schlagfertig zurück.

Kiran lachte leise, verwandelte es aber in ein Husten, als er sich Gaios Blick ausgesetzt sah, und tat so, als wäre er vollauf damit beschäftigt, den Wangen zu lenken.

„Dann unterhalte dich wenigstens mit mir“, verlangte ich. „Es ist nämlich langweilig, die ganze Zeit stumpfsinnig die Gegend anzustarren.“

Er seufzte nur schwer, erwiderte aber nichts.

Okay, wenn er es so wollte, dann würde ich eben weitersingen. Oder besser gleich noch mal von vorne anfangen. „So wie der Wind die Wolken treibt, treibt es mich durch die Welt, heut bin ich hier und morgen dort, und nichts …“

„TIA!“ Gaio fuhr auf seinem Greif zu mir herum und funkelte mich an.

Ich blickte völlig unschuldig zurück. „Was denn?“

„Hör endlich auf, dieses Lied zu singen!“

„In Ordnung.“ Zum Glück war das nicht das einzige Wanderlied, das ich kannte. „Das Wandern ist des Müllers Lust, das Wandern ist des Müllers Lust, das Wa-han-dern. Das muss ein …“

„Tiara!“

Ich verstummte und musterte ihn mit leicht geneigtem Kopf. „Du wirkst heute ziemlich gestresst.“

„Woran das wohl liegt“, spottete Kiran und grinste vor sich hin.

„Und du scheinst zu versuchen, uns mit deiner falschen Fröhlichkeit in den Wahnsinn zu treiben“, wetterte Gaio. „Das machst du schon den ganzen Tag! Was ist eigentlich los mit dir?“

Ich unternahm nicht mal den Versuch, den Mund zu öffnen, doch wenigstens ein schiefes Lächeln bekam ich hin. Mit mir war gar nichts los, alles war bestens. Für diese Frage gab es gar keinen Grund.

„Das ist deine Antwort?“ Gaio schnaubte und trabte auf Aquila am vorderen Wagen vorbei zu Amir.

„Du bist heute wirklich ziemlich überdreht“, bemerkte Kiran und warf mir einen vorsichtigen Seitenblick zu. „Das fällt schon auf.“

„Ich weiß nicht, was euch angeblich auffällt, aber mit mir ist alles in Ordnung. Vielleicht stimmt ja mit euch etwas nicht.“ Ja, selbst in meinen Ohren hatte das nach einem trotzigen Kind geklungen. Und dass ich dann auch noch die Arme vor der Brust verschränkte und stur nach vorne starrte, machte es auch nicht besser. Aber das war mir egal.

Kiran war von meinem Verhalten sichtlich überrascht, aber er schien es dabei belassen zu wollen – vorerst.

Innerlich seufzend, lehnte ich mich auf dem Kutschbock zurück. Die letzte Nacht war … zermürbend gewesen. Nicht so wie die davor. Es waren meine Träume gewesen, die meine bereits kurze Nacht noch kürzer gemacht hatten. Wie ein ewiges Echo waren Boudiccas Worte immer wieder durch sie hindurch gewandert, hatten sich mit ihnen verwoben und Bilder gezeichnet, die niemals der Realität entsprechen konnten, denn ich würde nicht sterben – jedenfalls nicht in absehbarer Zeit.

Diese ganzen Hirngespinste waren dem Geist eines Neiders entsprungen. Nur leider schienen sie mich irgendwo so tief beeindruckt zu haben, dass ich einfach nicht davon wegkam.

Ja, diese Fröhlichkeit war zum Teil nur gespielt, aber schließlich musste ich doch irgendetwas tun, um diesen ganzen Mist loszuwerden, und da war Ablenkung das beste Manöver. Außerdem sang ich gerne. Vielleicht hatte ich keine Erinnerung mehr, aber das hatte ich bereits festgestellt. Ein Liedchen schlich sich zu jeder nur bietenden Gelegenheit auf meine Lippen und ich war wirklich erstaunt, was ich teilweise für Songs kannte – das mussten Überbleibsel aus meiner Kindheit sein.

Wenigstens eine Sache war mir heute geglückt – naja, zumindest so zum Teil. Der nackte Mann aus dem Wald war uns natürlich kein zweites Mal über den Weg gelaufen. Daher hatte ich zu Plan B wechseln müssen und hatte die Seite aus meiner Kladde zusammen mit dem Ring an der Stelle ins Gebüsch gelegt, an der ich ihn hatte verschwinden sehen. Jetzt konnte ich nur noch hoffen, dass er ihn auch fand. Und auch, dass er sich bei mir melden würde.

Leider würde ich auf nichts davon Einfluss haben.

Es war Nachmittag. Den Wald hatten wir vor einer knappen Stunde hinter uns gelassen und den Pass ins Gebirge schon fast erreicht. Heute würden wir es auf jeden Fall noch bis zu dem Lagerplatz schaffen, wahrscheinlich sogar noch weiter. Morgen wären wir im Lager und dann konnte alles wieder seinen geregelten Alltag gehen. Vielleicht würde ich dann endlich von diesen sinnlosen Gedanken wegkommen.

Der Wagen ruckelte unter uns. Kleine Steinchen sprangen durch die Gegend und in weiter Ferne war ein Fauchen zu hören.

„Du weißt, dass wir dir zuhören, wenn dir irgendwas auf dem Herzen liegt, oder?“, fragte Kiran irgendwann. „Wir sind vielleicht nicht deine Familie, aber wir sind für dich da.“ Kiran ließ ein kleines Lächeln mit seinem angeschlagenen Zahn aufblitzen. „Du gehörst jetzt zu uns.“

Vielleicht sollten seine Worte vertrauenserweckend auf mich wirken und mich dazu bringen, mich zu öffnen, um den Schwachsinn weiterzugeben, den Boudicca mir aufgetischt hatte, doch er machte mich einfach nur sauer.

„Wie oft eigentlich noch? Mir geht es gut und ihr geht mir auf den Keks!“

Diese Worte stießen ihn nicht nur vor den Kopf, sie zeigten ihm auch eine Seite an mir, die nicht nur ihm, sondern auch mir selbst unbekannt war.

„Ach, vergiss es einfach“, murrte ich und begann von dem Wagen zu klettern. Wir fuhren nicht sehr schnell und so war es gar kein Problem einfach abzuspringen. Leider knickte ich mit dem Knöchel weg und schlug auf Knien und Händen auf. Ein Dorn grub sich in meinen Handballen und meine Hose riss am Knie auf.

„Was machst …“

„Lass mich in Ruhe!“, fauchte ich ihn an. Ich war nicht krank, mir ging es gut und ich wollte einfach nur, dass sie mit ihrer ständigen Fragerei aufhörten.

Kiran zügelte die Glatisants. Der Karren kam knarrend zum Stehen. „Kannst du mir vielleicht … hey, wo willst du hin?“

„Weg von dir!“ Während ich hinter dem zweiten Wagen her stapfte, schwang ich mir die Tasche so wuchtig über die Schulter, dass sie mir gegen den Rücken knallte. Ich merkte es nicht mal. Ich wollte es nicht merken. Ich wollte, dass mich einfach alle in Ruhe ließen und aufhörten, so einen Affenzirkus um mich zu veranstalten.

Hätten sie mich nicht einfach singen lassen können? Dann wäre alles in Ordnung, aber nun waren meine Gedanken schon wieder bei diesem unliebsamen Thema und es hörte einfach nicht auf.

Kiran setzte den Wagen wieder in Bewegung und rief mir zu, dass ich wieder aufsteigen sollte, doch ich ignorierte ihn. Selbst wenn ich hinter der Karawane zurückbleiben würde, weil ich zu Fuß einfach nicht mithalten konnte, würde ich nicht wieder zu ihm auf den Karren steigen. Auf dieses Gespräch und die ewige Fragerei hatte ich keine Lust mehr.

Mir ging es gut. Ich hatte nicht einmal mehr Kopfschmerzen. Alles war bestens und dieses Gespräch mit Boudicca war nichts als Zeitverschwendung gewesen.

„Tiara, komm schon, das ist doch albern.“ Das und noch anderes musste ich mir anhören. Kiran blieb mit dem Wagen einfach auf meiner Höhe und sprach immer weiter. Es dauerte nicht lange, da wuchs die Entfernung zum zweiten Karren und ich wünschte mir, dass er sich ihm einfach anschließen würde. Doch den Gefallen tat er mir nicht.

Selbst als ich ihn ignorierte und er verstummte, blieb er bei mir.

Aber wir blieben nicht lange alleine. Es war das Geräusch von Federn und Flügeln im Wind, das mich einen kurzen Moment aufsehen ließ. Durch das Gegenlicht konnte ich den Reiter nicht erkennen, doch der Mount war eindeutig Ferox.

Amir flog einen eleganten Bogen um uns und landete dann mitten auf den Weg, was mich nicht nur zum Stehen brachte, sondern Kiran auch ein weiteres Mal die Glatisants zügeln ließ.

Sehr langsam glitt Amirs Blick von mir zu Kiran und wieder zurück. Ferox tänzelte leicht unter ihm und raschelte ungeduldig mit den Flügeln, aber davon ließ der Serpens sich nicht hetzen. „Möchte mir einer von euch beiden vielleicht erklären, was ihr hier treibt?“ Sein Blick glitt zurück zu Kiran, doch der zuckte nur nichtssagend mit den Schultern.

„So ganz genau weiß ich das auch nicht.“ Kiran warf mir einen kurzen Blick zu. „Gaio hat sie angefahren, jetzt hat sie schlechte Laune.“ Er verstummte kurz. „Glaub ich.“

Amirs Gedanken blieben hinter seiner undurchdringlichen Maske verschlossen. „Kiran, schließ dich den anderen wieder an, wir kommen später nach.“ Er ließ Ferox zur Seite treten, damit der Karren bequem an uns vorbeifahren konnte.

Der Magier jedoch zögerte einen Moment. Meine störrische Miene und die Härte in Amirs Gesicht schienen ihn das Schlimmste befürchten zu lassen – was auch immer das sein mochte. „Ähm …“

„Geh, Kiran. Das ist ein Befehl.“

Diesen Befehl nahm er nicht weniger bockig auf, als ich es in diesem Fall getan hätte. Doch dann murmelte er unverständliche Dinge in seinen nicht vorhandenen Bart, ließ die Zügel knallen und setzte sich wieder in Bewegung. Die Räder knirschten über kleine Steinchen und vertrocknete Zweige und ließen einen kleinen Felsblock zur Seite hüpfen.

Während der Wangen an uns vorbeifuhr, ließ Amir mich keinen Moment aus den Augen. Ich hatte wieder einmal das Gefühl, als würde er versuchen, meine Schädeldecke zu knacken, um mir meine Geheimnisse aus dem Kopf zu ziehen.

Ich hielt seinem Blick stand. Aber auch als der Karren bereits mehrere Meter hinter ihm fuhr, blieb er noch stumm. Mich machte das nervös. Zwar zeigte ich das nicht, aber je länger er mich anstarrte, desto größer wurde mein Verlangen, ihn einfach stehen zu lassen und weiterhin in Gedanken Gott und die Welt zu verfluchen.

Aber diese Schwäche würde ich ihm nicht zeigen – niemals. „Und nun?“, fragte ich daher. Dabei war es mir egal, was er antwortete, Hauptsache, er würde aufhören, mich so zu durchleuchten.

„Flieg mit mir.“

„Was?“

Er reichte mir die Hand und wiederholte seine Worte: „Flieg mit mir, Tiara.“

Er wollte nicht wissen, was los war? Amir war doch nicht dumm, er wusste immer, wenn im Lager irgendwas nicht stimmte oder einem seiner Jäger etwas auf dem Herzen lag. Er musste auch wissen, dass mein Kopf voller Gedanken war, die mich unruhig werden ließen, aber … er versuchte mich nicht zu bedrängen – nicht so, wie er es mit den anderen tat. Stattdessen bot er mir die Freiheit des Himmels an.

Egal was Kiran gesagt hatte, nichts hatte meine Mauern einreißen können, doch diese wenigen Worte ließen mich wirklich auf ihn zutreten und seine Hand ergreifen.

Er zog mich auf Ferox, positionierte mich vor sich im Sattel und legte meine Hände um den Sattelknauf. Dann zog er mich, soweit meine Tasche das zuließ, an sich heran und legte einen Arm um meine Taille. „Halt dich gut fest“, flüsterte er. Sein warmer Atem streifte mein Ohr und die Berührungen im Nacken ließen mich spüren, dass seine Schlangen wieder auf Tuchfühlung gingen.

Dann hoben wir einfach ab. Es war nur ein Zucken in Amirs Handgelenk, dass Ferox dazu brachte, die Flügel zu ihrer ganzen Spannweite zu entfalten. Er stieg, gab einen tiefen Ton von sich und stieß sich dann einfach vom Boden ab.

Amir hielt sich nicht lange damit auf, mich sanft ans Fliegen heranzuführen. In einem steilen Winkel trieb er seinen Mount in die Höhe. Der Boden entfernte sich zusehends von uns. Ich wurde an Amir gepresst. Meine Hände umklammerten den Sattelknauf krampfhaft, mein Herz schlug mir bis zum Hals, doch in meiner Kehle stieg ein Lachen auf – völlig ungebunden und unbekümmert von der Welt. Das war Freiheit.

Ich spürte das Rauschen des Windes in meinen Ohren, sah, wie der Boden unter uns dahinglitt. Bäume, Felsen, Flüsse blieben hinter uns, während Wolken über unseren Köpfen dahin zogen.

Die Luft war kalt und zerrte an Kleidung und Haaren. Nur Amirs Körper spendete ein wenig Wärme. All die Gedanken, die seit gestern ununterbrochen in meinem Kopf kreisten, wurden einfach weggeblasen. Für diese Momente hier oben im Himmel existierte die Welt dort unten nicht. Alles schien so leicht, man musste einfach nur zugreifen.

„Pass auf“, flüsterte Amir mir ins Ohr. Gleich darauf kippte Ferox einfach zur Seite, klappte die Flügel zusammen und schoss in die Tiefe.

Ich kreischte auf. Der Flugwind ließ meine Augen tränen, aber ich wagte es nicht, sie zu schließen, als Ferox direkt in ein kleines Wäldchen hineinzustürzen drohte. Doch er streifte nicht einmal die Baumkuppeln. Plötzlich spannte er seine Flügel einfach wieder auf. Der Ruck ließ meinen Magen irgendwo zwischen meine Kniekehlen rutschen und dann stiegen wir wieder in die Höhe, nur um gleich darauf erneut zu fallen.

Mein Herz raste in wilder Lebensfreue und wollte sich auch dann nicht beruhigen, als Ferox einen weiten Bogen machte und in einen gleichmäßigen Gleitflug überging.

Vor mir breitete sich die Welt in ihrer ganzen Schönheit aus. Direkt neben uns ragte das Drachengebirge in die Höhe. In der Ferne konnte ich diese majestätischen Wesen über den Gipfeln der schmalen Bergkette kreisen sehen. Hier oben waren sie die Könige und jeder erkannte ihre Herrschaft an.

„Manchmal ist es einfacher, allem zu entfliehen, als sich den Dingen zu stellen, die einen beschäftigen“, flüsterte Amir. „Doch man kann nicht ewig davonlaufen. Jeder hat seine Bestimmung. Auch dein Schicksal ist in Stein gemeißelt und es gibt nur zwei Dinge, die du tun kannst: Erfülle es oder scheitere bei dem Versuch.“

So etwas in der Art hatte Boudicca gestern auch zu mir gesagt. „Ist das so was wie ein magisches Gesetz?“, fragte ich leicht verbittert. Die Euphorie schwand dahin. Nicht mal hier oben hörten meine Gedanken auf, mich zu verfolgen.

„Nein, es ist ein Sprichwort.“ Die Finger an meinem Bauch strichen über die Tunika. „Leider habe ich in meinem Leben schon viel zu oft den Wahrheitsgehalt dieser Worte erleben müssen. Nur kommt dabei nicht immer etwas Gutes heraus. Viel zu oft enden diese Schicksale in Trauer und Leid.“

Du wirst sterben.

Ich senkte den Blick auf Ferox‘ Nacken. Seine Federn tanzen im Wind. „Gibt es nichts, was man dagegen tun kann?“

„Doch.“

Doch?! Ich drehte mich so weiter herum, wie ich es wagte. „Was meinst du damit?“

„Ein Neuanfang. Wir brauchen eine zweite Chance.“

Eine zweite Chance, um seinem Schicksal zu entkommen. In meinen Ohren ergab das nicht viel Sinn. Bestand eine zweite Chance nicht normalerweise darin, sein Schicksal zu erfüllen? Und warum machte ich mir plötzlich Gedanken darüber? Ich kannte mein Schicksal schließlich nicht. Sicher war es mir nicht bestimmt, einfach zu sterben. Und trotzdem musste ich fragen. „Wie bekomme ich eine zweite Chance?“

„Indem du tust, was ich sage. Du …“ Auf einmal verstummte er und die Weichheit in seinem Gesicht wich einem verwirrten Stirnrunzeln. Seine Aufmerksamkeit hatte sich auf einen Punkt zu unserer Rechten konzentriert, doch ich brauchte einen Moment, um die Ursache zu entdecken.

Rauch.

Violetter Rauch.

„Was ist das?“

„Ich weiß nicht.“

Noch während Amir sprach, begann Ferox mit dem Sinkflug. Der Rauch stieg aus einer Spalte im Boden auf, die so breit war, dass darin ein kleines Wäldchen gewachsen war. Doch die Wipfel der Bäume verhinderten, dass wir etwas Genaueres erkennen konnten. Da war nur dieser Rauch, der zwischen den Blättern empor stieg.

„Wir werden uns das ansehen“, erklärte Amir mir nach dem dritten Rundflug. „Und egal was passiert, du tust genau das, was ich sage.“

Das hörte sich aber gar nicht gut an. „Ist es dann gefährlich?“

„Das werden wir gleich feststellen.“ Er flog einen weiteren Bogen, um an den Anfang der Spalte zu gelangen. Dort ließ er Ferox hineinfliegen, doch die Bäume standen so dicht, dass wir auf diese Art nur wenige Meter hineinkamen. Wir mussten landen und betraten damit eine ganz andere Welt.

Jedes Geräusch schien plötzlich gedämpft. Über dem Boden hing eine dicke Nebelschicht, die violett fluoreszierte. Wie die Umarmung einer liebenden Mutter wickelte sie sich um jeden Baum und wirbelte um Ferox‘ Beine.

Der Greif blieb völlig ruhig. Mein Herz hingegen hatte einen Takt zugelegt. Es war nicht nur diese Stille. Auch das Licht, das durch die Baumkronen zum größten Teil ausgesperrt wurde, hinterließ eine Atmosphäre, die mich zu einer Gänsehaut zwang.

Es war wie in einem schlechten Horrorstreifen. Fehlte eigentlich nur noch der Massenmörder, der mit einer Kettensäge hinter dem nächsten Baum hervorsprang.

Ja, es war albern, aber nach diesem Gedanken musste ich meinen Blick einfach vorsorglich über die Bäume um uns herum gleiten lassen. „Hier gefällt es mir nicht“, sagte ich ganz ehrlich.

Amir antwortete nicht. Er setzte Ferox nur in Bewegung und trieb ihn langsam durch diese unwirkliche Wirklichkeit.

Selbst die Geräusche, die wir machten, schienen unter einem Berg von Watte zu liegen und nicht darunter hervorkriechen zu wollen. Aber was mich am meisten verwirrte, war diese Geruchlosigkeit um uns herum. Weder die Erde noch die Bäume oder die anderen Pflanzen schienen auch nur irgendeine Art von Geruch abzugeben. Ich meinte, ich hatte zwar keine außergewöhnliche Nase, aber in jedem Wald roch es nach irgendetwas. Hier nicht. Dieser Ort schien ein Vakuum zu sein, das alles absorbierte, was ihm zu nahe kam.

Auch dieser Gedanke gefiel mir nicht besonders. Und die Stille machte das alles noch viel unerträglicher. „Hast du sowas schon einmal gesehen?“

„Nein.“ Wachsam schaute er zu allen Seiten, doch außer dem wallenden Nebel regte sich nichts. Trotz der Bäume strahlte dieser Ort eine Kälte aus, die mich an den Tod denken ließ. Doch mit den Metern, die wir zurücklegten, schien sich etwas zu ändern. Es war wie ein leises Summen in der Luft, das sich auf meine Haut legte und etwas in mir berührte.

Magie.

Die plötzlich aufsteigende Panik drängte ich sofort wieder zurück. Boudicca hat gelogen! Ich würde nicht sterben, nur weil ich mit Magie in Berührung kam, das war einfach lächerlich. Aber ich konnte nicht verleugnen, dass das Summen stärker wurde und etwas in mir anrührte.

Aber mir wurde nicht schlecht.

Ich bekam keine Kopfschmerzen.

Und auch ansonsten ging es mir weiterhin blendend. Ich spürte es einfach nur, wie jede Hexe Magie spüren konnte. Wieder ein Beweis für die Falschheit in Boudiccas Worten.

Um auch den letzten Rest meiner Zweifel loszuwerden, konzentrierte ich mich auf diese Magie, um ihren Ursprung herauszufinden. Doch es dauerte ein bisschen, bis ich eine Richtung ausmachen konnte. „Da“, sagte ich und deutete zwischen den Bäumen hindurch, wo der Nebel immer dichter zu werden schien.

Amir korrigierte unseren Kurs und hielt direkt darauf zu.

Die wallende Masse stieg an, kletterte an Ferox hinauf, über meine Beine bis zu meiner Hüfte. Und obwohl ich sah, wie sie mich berührte, konnte ich sie nicht spüren. Es war, als wäre sie gar nicht da. Das wurde ja immer unheimlicher. Als Amir Ferox dann auch noch anhalten ließ, machte mein Herz vor Schreck einen Hüpfer.

Ich schaute über die Schulter, sah den konzentrierten Ausdruck in seinem Gesicht.

„Was ist?“, flüsterte ich.

„Hörst du es denn nicht?“

Ich spitzte die Ohren und lauschte, aber außer meinem überlauten Herzschlag war da kein Geräusch. „Da ist nichts.“

Amir antwortete nicht, setzte Ferox aber wieder in Bewegung und wirbelte damit weiter den fluoreszierenden Nebel auf. Und dann hörte ich es auch, dieses Blubbern. Kochendes Wasser? Hier? Ich runzelte die Stirn. Das passte überhaupt nicht in diese mysteriöse Umgebung.

Das Geräusch wurde vom Nebel gedämpft, aber es wurde lauter. Mit jedem Schritt konnte ich es deutlicher hören. Und das war auch nicht das einzige, was sich änderte. Die Bäume um uns herum wurden ein wenig lichter, die Abstände zwischen ihnen größer. Und dann traten wir auf eine kleine Lichtung, die von den Kronen der hohen Bäume völlig verborgen wurde.

In der Mitte, unberührt vom Nebel, dümpelte ein kleiner Tümpel. Das Wasser darin war … violett, die Oberfläche unruhig. Es kochte, als hätte jemand ein riesiges Lagerfeuer darunter errichtet. Die Nebelschwaden krochen am Ufer aus dem Wasser und verteilten sich über das kleine Wäldchen. Es war ein surrealer Anblick, der nur noch von den schimmernden Seifenblasen getoppt wurde, die friedlich über dem Wasser hin und her schwebten.

„Ist das … normal?“

„Ist in deiner Welt violettes Wasser, das alleine kocht, normal?“, stellte Amir die Gegenfrage.

Ich schüttelte den Kopf. „Zwar gibt es in der Bibel eine Stelle, wo sich das Wasser blutrot färbt, aber von lila hab ich noch nie gehört.“

„Bibel?“

„Das Buch der Bücher.“

„Ein Grimoire.“

„Sowas in der Art.“ Nun gut, nicht wirklich, aber ich glaubte nicht, dass ich Amir jetzt auf die Schnelle die religiöse Entstehungsgeschichte der Erde so erklären könnte, dass er den Zusammenhang mit dem verfärbten Wasser verstehen würde. „Und was machen wir jetzt?“

Amir antwortete nicht. Er lenkte Ferox ein wenig näher an den nächsten Baum heran und brach dort einen Ast ab. Dann ließ er den Greif bis auf zwei Meter an den köchelnden Tümpel herantreten, holte aus und ließ das Stück Holz fliegen. Die Reaktion folgte, sobald der Ast das Wasser berührte.

Aus dem leichten Köcheln wurde ein ohrenbetäubendes Blubbern. Die Seifenblasen platzten. Der Nebel verfärbte sich, wurde erst zu einem dunklen Rot und dann zu einem hässlichen Braun, das wie die verwesten Innereien einer toten Katze roch. Nein, ich wusste nicht, wie ich zu diesem Vergleich gelangte, und wenn ich darüber nachdachte, dann wollte ich es auch gar nicht wissen.

Ferox begann unruhig unter uns zu tänzeln und im Boden zu scharren.

Um uns herum wurde plötzlich Knistern und Knacken laut. Holz begann zu splittern.

Mit wildschlagendem Herzen sah ich mich um und konnte kaum glauben, was meine Augen mir da zeigten. Die Bäume, sie vertrockneten. Dort wo der Nebel sie berührte, begann es. Das saftige Grün wurde zu dunklem Feuerholz. Es geschah in Zeitraffer und war … schrecklich. Dieses kleine Wäldchen, es starb, direkt vor meinen Augen.

Plötzlich ging ein Ruck durch Ferox. Amir umklammerte mich fester, als der Greif sich einfach vom Boden abstieß und mit einem lauten Kreischen in die Höhe schnellte. Ich riss die Arme über den Kopf, als wir in die trockenen Baumkronen krachten. Äste zerkratzten mir die Haut, Blätter raschelten und rieselten herunter.

Das Knacken wurde lauter. Etwas splitterte und ein Baum krachte einfach zur Seite. Ihm folgte ein zweiter.

Ferox ließ die letzten Äste unter sich, doch auch wenn wir diesem Irrsinn entkommen waren, so endete es damit nicht. Was da unter uns geschah, konnte ich kaum glauben. 

Rascheln, Knacken, Knistern, Zischen. Das Wasser zischte und begann in dunkeln Schwaden zu verdampfen.

Das Wäldchen zerfiel.

Vor unseren Augen wurde die kleine mystische Oase zu einem vertrockneten Stück Land mit einer ausgedörrten Mulde, die einmal der Mittelpunkt gewesen war. Die Schwaden darüber erhoben sich in den Himmel.

Amir gab Ferox einen scharfen Befehl. Der Greif startete ein so heftiges Manöver, dass mein Magen für einen Moment völlig verschwand und ich fast schmerzhaft in den Sattel gedrückt wurde, während die Flügel uns mit halsbrecherischer Geschwindigkeit wegbrachten, bis der braune Nebel uns nicht mehr berühren konnte. Doch es hörte nicht auf.

Der Dunst sammelte sich hoch über dem jetzt ausgetrockneten Tümpel, ballte sich zu einer dunkeln Wolke, die vor Donner grollte. In ihrem Inneren zuckten Blitze. Die Luft um sie herum schien vor Energie zu knistern.

Ein Windzug streifte mich. Die Härchen auf meinen Armen richteten sich wie kleine Soldaten auf.

Doch was ich dann sah, ließ meine Augen zu Tellern werden.

Zwischen den Blitzen bewegten sich die Schatten. Nein, es war nur ein Schatten, die Silhouette eines Mannes, der sich in Schmerzen wandte. Bei jedem neuen Blitz schien ein neuer Krampf die Gestalt zu quälen.

Die Schwaden wurden immer dichter und dunkler, das Grollen tiefer. Dann wurde die gesamte Energie mit einem Knall freigesetzt. Die Magie zerstob in alle Himmelsrichtungen.

Ferox blökte auf, als die veränderten Windströme ihn ins Trudeln brachten. Mein Magen machte einen ungelenken Hüpfer, während ich gegen den Sattelknauf gedrückt wurde. Die Flügel schlugen hektisch auf und ab, als Ferox versuchte, die Höhe zu halten. Amir umklammerte mich eisern, wollte Ferox wieder zur Ruhe bewegen, musste den Greif dann aber wenden lassen, weil die Ströme um uns herum sich einfach nicht beruhigen wollten.

Erst als wir höher gestiegen waren, konnte Ferox wieder das Gleichgewicht halten.

Der Nebel war völlig verschwunden, von der Schattengestalt nichts mehr übrig und das kleine Wäldchen in der Höhlung der Erdspalte nichts weiter als ein verdorrter Haufen Brennholz. Doch die Magie zuckte noch immer unruhig über diesem Ort hin und her und hinterließ eine angespannte Atmosphäre, die weiterhin auf meiner Haut kribbelte. Auch wenn mein Atem verhältnismäßig ruhig war, so wollte mein Herzschlag sich einfach nicht verlangsamen.

Ich starrte noch bestimmt zwei Minuten still auf diesen Ort, bevor es mir gelang, eine halbwegs vernünftige Frage zu formulieren. „Was war das?“ Na bitte, ging doch.

„Faule Magie.“ Amir ließ nicht erkennen, was in seinem Kopf vor sich ging, und meine Tasche verhinderte, dass ich seinen Herzschlag spüren konnte. Aber wenn ich von der Ruhe ausging, die er ausstrahlte, konnte ihn das Ganze nicht annähernd so beunruhigt haben wie mich. „Wir sollten zu den anderen zurückkehren.“

Was? Einfach wegfliegen? „Sollten wir nicht irgendwas unternehmen?“

„Was denn?“

Eine einfache Frage, nur zwei leise Worte, doch eine Antwort schien es nicht zu geben. Was tat man in einer solchen Situation? Die Magie spielte auf eine Art verrückt, die nicht mal die Mortatia verstanden, und das obwohl sie hier seit Jahrtausenden lebten. Woher sollte ich da wissen, was in einem solchen Moment zu tun war?

„Wir können nichts tun, Tiara.“

Nein, wahrscheinlich nicht. Trotzdem konnte ich den Blick nicht von dieser verdorrten Oase abwenden. Die Gestalt in der Wolke wollte mir einfach nicht aus dem Kopf gehen. War sie echt gewesen oder nur eine Fiktion? War sie gestorben? Und warum war sie mir so bekannt vorgekommen?

Das alles ergab doch keinen Sinn. Was war hier nur los?

 

°°°

 

Gedankenverloren schaute ich in die Reste des Lagerfeuers. Die anderen hatten sich bereits in ihre Schlafsäcke verzogen und schnarchten selig vor sich hin. Naja, alle bis auf Gaio. Und natürlich mich.

Wo der Gargoyle abgeblieben war, wusste ich nicht. Wahrscheinlich nur mal pinkeln. Doch ich wurde nicht von einem menschlichen Bedürfnis wachgehalten, sondern von meinen Gedanken. Nicht nur die faule Magie beschäftigte mich, es waren wieder Boudiccas Worte, die einfach nicht aus meinem Kopf verschwinden wollten. Das ärgerte mich nicht nur, es machte mich auch nervös.

Warum nur hatte ich zugelassen, dass man mich dort zurückließ? Ich hätte Amir widersprechen müssen. Hätte ich das alles doch nur niemals gehört, dann wäre das einzige, was mich jetzt wachhalten würde, wahrscheinlich das Schnarchen der anderen Jägerin.

Seufzend zog ich meinen Schlafsack fester um die Schultern. Im Gebirge wurde es nachts ganz schön kühl und ich hatte nicht mal Guardian bei mir, der mich wärmen konnte oder wenigstens auf andere Gedanken brachte.

Mein Blick glitt zu Amir. Ich war mir nicht sicher, ob er schon schlief, doch zumindest die Schlangen auf seinem Kopf ruhten mit geschlossenen Augen.

Im Gegensatz zu den anderen hatte er mich nicht einmal bedrängt. Keine Frage nach den Hexen, nicht einmal eine harmlose Andeutung. War es ihm einfach egal oder wartete er darauf, dass ich zu ihm kam?

Ich schnaubte. Da würde er aber lange warten können, denn es gab nichts zu erzählen. Das alles war nur Humbug … verdammt, jetzt waren meine Gedanken wieder dort angelangt.

Ich musste mich ablenken, bevor ich noch verrückt werden konnte, und tat deswegen etwas, das ich schon eine ganze Weile nicht mehr getan hatte. „Talita“, flüsterte ich.

Ich riss die Haustür auf. Wenn dieser Brief heute nicht im Briefkasten war, dann würde ich die Post verklagen, schließlich konnte es doch nicht so schwer sein, einen Brief innerhalb einer Stadt in weniger als fünf Tagen zuzustellen und … jeglicher Gedanke verschwand aus meinem Kopf, als ich die beiden Gestalten an unserem Gartenzaun erblickte.

Das war doch nicht möglich, dass …

„… ist das möglich?“

Die Frage der jungen Frau wurde zu mir herübergeweht.

„Das wüsste ich …“ Der Mann entdeckte mich. Seine Augen wurden riesig, während er zwischen mir und meiner verschollenen Schwester hin und her schaute. „Was …“

Auch Talita drehte nun den Kopf und sah mich genauso erschrocken an wie der Mann bei ihr. „Es gibt nicht nur eine Kopie vom Haus, sondern auch von mir?“ Ihre Stimme war so quietschig, als hätte sie eine Maus verschluckt.

Sie war es, sie war es wirklich. Ich schlug die Hände vor den Mund und konnte nicht verhindern, dass mir Tränen in den Augen brannten. „Tal?“

Sie starrte mich an, als würde sie versuchen, mein Gesicht einzuordnen. „Tia.“ Das geflüsterte Wort kam kaum bei mir an. Der Schrei, den sie im Anschluss daran ausstieß, hingegen schon.

Mich hielt nichts mehr an der Haustür, ich rannte einfach los.

Eine Kopie? Ich blinzelte und schnaubte dann. Wie kam Talita nur auf den Gedanken, dass ich eine Kopie von ihr wäre? „Talita“, flüsterte ich erneut.

Nervös wanderte ich auf und ab. Der Linoleumboden quietschte unter meinen Sneakers. Warum konnte mir niemand in diesem verdammten Kasten Auskunft geben?! 

„Tia.“ Veiths Augen folgten meiner Wanderung. Seinen Arm hatte er um die schniefende Talita gelegt. „Bitte setz dich.“

„Ich kann jetzt nicht sitzen!“, gab ich schärfer zurück, als ich eigentlich vorgehabt hatte, doch allein bei dem Gedanken daran, was gerade geschah, zog sich meine Brust zusammen und ich bekam immer schwerer Luft.

„Tia, bitte“, schniefte Talita. Ihr Taschentuch war schon völlig durchweicht.

Ich konnte nicht. Ich konnte mich einfach nicht hinsetzen, nicht bevor irgendjemand in diesem Krankenhaus mir gesagt hatte, wie es ihr ging.

Ich runzelte die Stirn. „Krankenhaus.“

Weinend saß Talita auf der Liege des Arztes, Taylor stand neben ihr und versuchte sie zu beruhigen, doch sie konnte nicht. Ihr Finger tat so weh.

Wir hatten doch nur gespielt. Ja, Mama hatte mir immer verboten, die Türen zuzuknallen, aber ich hatte doch nicht gewusst, dass Talitas Hand dazwischen war. Aber wie es geknackt hatte, das war mir nicht entgangen. Es tat mir so leid.

Talita konnte einfach nicht aufhören zu weinen. Es war so schlimm, dass auch mir die Tränen kamen, und plötzlich weinte auch ich.

Taylor drehte sich überrascht zu mir um und machte ein leidiges Gesicht. „Na super.“

Ich wusste nicht warum, aber diese Erinnerung ließ mich schmunzeln. Bei unserer Verfolgungsjagd durch das Haus hatte ich versucht, Talita abzuhängen, indem ich ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte. Das Ergebnis war ein gebrochener Finger gewesen.

Aber eigentlich war das nicht die Erinnerung, auf die ich es abgesehen hatte. Wenn ich das doch nur ein wenig kontrollieren könnte, dann …

„Du bist ja immer noch wach.“

Überrascht schaute ich zu Gaio auf. „Du doch auch.“

Er musterte mich kritisch, schüttelte dann den Kopf und hielt auf sein Schlaflager zu. „Leg dich hin, morgen geht es früh raus.“

Ja, und das hatte seinen Grund. Aber Gaio hatte Recht. Ich musste schlafen – wenigstens ein bisschen. Doch dieses Mal klammerte ich mich an die kurzen Erinnerungen, dessen Bilder noch immer lebendig in meinem Kopf herum spukten. Auch wenn Talita dort weinte, es war immer noch besser als diese Lügen von Boudicca, die meine Gedanken verseuchten.

 

°°°°°

Tag Neunundsechzig

 

Der pfeifende Wind blies mir scharf ins Gesicht. Ich musste die Lider dagegen zukneifen. Tränen brannten in meinen Augen, konnten das begeisterte Lachen in meiner Kehle aber nicht aufhalten. Ich breitete die Arme aus. Es war ein Gefühl, als würde ich alleine durch die Lüfte fliegen. Unbändig, frei, allein in diesen endlosen Weiten. „Schneller!“, schrie ich. „Schneller!“

Ich hörte Amir an meinem Ohr lachen. Sein Griff um meinen Bauch wurde fester und dann trieb er Ferox richtig an.

Die Flügel schlugen härter. Über diese enorme Spannweite konnte ich immer noch nur staunen.

Wir schossen durch die Luft, nichts konnte uns aufhalten und für einen Moment schien alles möglich zu sein.

„Und jetzt pass auf.“ Amir gab Ferox ein scharfes Kommando, zog an den Zügeln und dann befanden wir uns plötzlich im Sturzflug. Für einen kurzen Moment flutschte mein Magen irgendwo auf die Höhe meiner Kehle. Ich schrie vor Begeisterung und beugte mich tief nach vorne, um den Luftwiderstand so gering wie möglich zu halten. Amir tat es mir gleich, drückte sich an mich. Ich konnte seine Wärme in meinem Rücken spüren, das stetige Schlagen seines Herzens. Doch es war der Flug, der mich so begeisterte und vergessen ließ, was hinter mir lag. Wenigstens für die Zeit hier oben – oder im Moment senkrecht nach unten.  

Der Flugwind zerrte an meinen Kleidern und Haaren und verdrängte selbst die Hitze der Wüste. Wir waren zurück, das Lager nur noch einen Steinwurf entfernt. Doch das einzige, was ich im Moment sah, war Boden, der näher und näher kam und drohte, unseren Sturzflug auf sehr unangenehme Weise zu beenden.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals und mein Atem ging immer schneller. Ich konnte bereits einzelne Steine auf dem Boden erkennen. Und es ging noch tiefer.

„Amir?“ Leichte Panik schwang in meiner Stimme mit. Das konnte nicht gut gehen, das … „Ahhh!“

Im letzten Moment riss Amir die Zügel herum und Ferox änderte den Kurs. Er wirbelte eine Staubwolke auf, die uns ein Stück durch die Luft begleitete. Es war, als würden wir aus einem Krater voller Rauch aufsteigen.

Hatte mein Herz vorher schon schnell geschlagen, so war es nun dabei, mir aus der Brust zu springen und mir auf Nimmerwiedersehen zuzuwinken. Meine Augen waren weit aufgerissen. Meine Hände waren in den Sattelkauf verkrallt. Trotzdem brach sich plötzlich ein Lachen bahn. Ich lebte noch und es war ein fantastisches Gefühl!

„Oh Gott!“, schrie ich, als wir wieder an Höhe gewannen. „Das ist der Wahnsinn!“

„Es ist berauschend“, raunte er mir ins Ohr.

Ja, berauschend. Ich musste aufpassen, dass ich davon nicht süchtig wurde, denn Potential hatte es dazu. Ich könnte ewig hier oben bleiben und auf die Welt dort unten hinabsehen. Leider gab es dabei nur ein kleines Problem: so ein Greif besaß keine Toilette. Und auch keinen Kühlschrank. Okay, früher oder später würde ich runter müssen, aber noch nicht jetzt, ich wollte so lange wie möglich hier oben bleiben und mir den Wind um die Nase wehen lassen.

Als Ferox in einen leichten Gleitflug überging, beruhigte sich mein Puls etwas, doch das Lachen lag weiter auf meinen Lippen.

Von hier oben konnte man unglaublich weit sehen. Die Wüste wirkte wie ein endloses Meer aus rotem Sand, in dem nur hin und wieder Steine und Pflanzen wie kleine, unbedeutende Fische auftauchten. Ich konnte sogar schon das Lager erkennen und die kleinen Punkte, die sich zwischen den Zelten bewegten. Das mussten die Jäger sein. Ich bemerkte auch die kleinen Pünktchen, die sich über die roten Dünen auf das Lager zubewegten. Aber das waren nicht Gaio und der Rest unserer kleinen Karawane, die befanden sich noch ein Stück hinter uns.

„Wer ist das?“ Ich nickte nach vorne. Die Hände nahm ich nicht vom Sattel, ich war ja nicht lebensmüde. Sicherheitsgurte gab es hier nicht und Flügel waren mir leider auch noch keine gewachsen.

Amir kniff die Augen ein wenig zusammen und schnalzte dann. Ferox sank nach unten. Nicht so rabiat wie eben, es war ein langsames, kontrolliertes Sinken.

Schon nach wenigen Momenten konnte ich die Pünktchen besser erkennen. Das war ein Trupp Jäger. Vier Leute. Den Mounts der beiden vorderen war ein Seil umgespannt. An ihm führten sie einen Dämon. Rote Hautfarbe. Ein Rubin.

Meine Euphorie verlor an Kraft, die Realität hatte mich wieder in ihre Klauen bekommen. Natürlich, es war nichts Neues für mich. Die Jäger gingen nun einmal ihrer Arbeit nach und die bestand darin, Dämonen zu jagen und zu fangen. Aber jedes Mal wenn sie wieder mit einem Zirkon oder einem Smaragd ins Lager zurückkehrten, keimten meine Zweifel erneut auf. Ich konnte mich einfach nicht dagegen wehren. Daher wünschte ich, dass Amir die Zügel einfach wieder nach oben riss und ich das Leben hier unten für ein paar weitere Minuten aufschieben konnte, doch Ferox setzte bereits zum Landeanflug an.  

Die Jäger hatten uns bemerkt und waren stehen geblieben. Nun erkannte ich auch Ryu und Elias, die den Dämon führten. Elias winkte uns entgegen, als wir in einer kleinen Wolke aus Staub neben ihnen landeten.

Ferox flatterte noch ein wenig mit den Flügeln, bevor er sie an seinen Seiten zusammenfaltete und den Kopf nach dem Greif von Elias ausstreckte, als wollte er ihn begrüßen – die beiden hatten sich schließlich fast eine Woche nicht mehr gesehen.

„Ah, lasst ihr euch auch mal wieder blicken?“ Ryu reichte Amir die Hand, als der Serpens an seine Seite ritt, und schlug ein. „Wir haben schon überlegt, ob wir euch einen Suchtrupp hinterherschicken sollen.“

„Es gab ein paar unvorhergesehene Komplikationen.“ Amir schüttelte den Kopf, als Ryu den Mund öffnen wollte. „Nicht jetzt, später.“

Unvorhergesehene Komplikationen. So konnte man es auch formulieren. Wer hätte schließlich schon vorhersagen können, dass es ein Erdbeben mit dem wohl größten Magieausstoß seit hunderten von Jahren geben würde? Amir war der Meinung, dass das auch der Grund für die verdorbene Magie war, der wir gestern zufällig begegnet waren. Aber leider erklärte das weder den grünen Himmel letzte Woche noch die beiden Drachen, die einfach vom Himmel gefallen waren.

Irgendetwas lag im Argen. Ich konnte es spüren, aber nicht mit dem Finger drauf zeigen. Vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein. Schließlich war es auch möglich, dass sowas hin und wieder einfach geschah.

Möglich war alles.

„Wie ich sehe, wart ihr erfolgreich.“ Amir nickte Richtung Dämon.

„Der erste seit deiner Abreise. Sie sind ziemlich rar geworden.“

Ich wusste, dass ich es nicht tun sollte, weil mir dann nur wieder das Herz bluten würde, aber ich spürte seinen Blick. Es war, als würde er sich in meine Haut brennen. Vielleicht, wenn ich böse zurück schaute, würde er es lassen, doch als ich den Kopf drehte, stockte mir einen Moment der Atem.

Das war der rote Mann!

Meine Hände schlossen sich ein wenig fester um den Sattelknauf. Er war es, ohne Zweifel. Dieser Dämon war der, der mich vor dem Feuer der Einhörner gerettet hatte. Und das erkannte ich nicht an der langen Narbe an seiner Schläfe oder an der Kleidung. Nicht an der Statur oder anderen Merkmalen seines Aussehens. Es waren seine Augen, dieser Blick. Es war der gleiche, mit dem er mich bedacht hatte, bevor er einfach auf Nimmerwiedersehen verschwunden war. Es war wieder dieser Hauch von Angst, der fast von der brennenden Wut und dem Hass verschluckt wurde.

Ich hatte es mir damals also nicht eingebildet.

Doch bei meinem Anblick wurde diese Furcht von seiner Verbitterung und Feindseligkeit überschattet. Auch er hatte mich erkannt. Trotzdem stand er einfach still da und wartete geduldig darauf, dass die Jäger ihn in sein Schicksal zwingen würden.

Seine Hände waren vor der Brust gefesselt. Links und rechts führten mit Magie gewobene Seile zu den Sätteln von Ryu und Elias, die sich noch immer mit Amir unterhielten. Wenn ich mir seine Handgelenke genauer ansah, musste ich feststellen, dass er sich nicht gewehrt hatte. Die anderen Dämonen tobten immer, sie schrien Zeter und Mordio und wehrten sich mit allem, was sie hatten. Er hingegen blieb völlig ruhig und das fand ich viel beunruhigender.

Solange sie toben, wissen wir, womit wir es zu tun haben. Gefährlich sind nur die, die ruhig bleiben. Bei ihnen darf unsere Achtsamkeit nicht einen Moment nachlassen. Das war eine von Amirs Lektionen beim Training gewesen. Jetzt verstand ich auch, was er damit hatte sagen wollen. Wie dieser Rubin sich verhielt … es war einfach beklemmend.

Als ich es nicht schaffte, den Blick abzuwenden, kniff der Rubin die Augen leicht zusammen. Er hatte mich erkannt. Auch wenn er schwieg, seine Augen verrieten ihn. Doch es lag auch eine Drohung in diesem Blick, die ich nicht verstand. Sie war irgendwie anders als jene, die von den anderen Dämonen gekommen waren. Bereute er es vielleicht, dass er mich damals gerettet hatte? Ganz sicher tat er das, aber da musste noch etwas anderes sein. Schließlich war es dazu nur gekommen, weil ich ihn und seinen Sohn …

Meine Finger verkrampften sich.

Oh Gott, nein, sein Sohn.

Unauffällig schaute ich zu den anderen Jägern. Da war kein weiterer Dämon, keine weiteren Seile, die als Führungsleine dienten, und auch kein verschnürtes Packet, das sich einer der Jäger über den Sattel geworfen hatte. Der Junge war nicht bei ihnen. War er schon tot? Hatten die Jäger ihn getötet? Bei diesem Gedanken spannten meine Muskeln sich wie Drahtseile und ich spürte, wie mein Herzschlag sich beschleunigte. Aber sie würden einem Kind doch nichts antun, oder? Auch nicht, wenn es ein Kind der Dämonen war.

„Tia?“ Bei der Berührung an meiner Schulter drehte ich den Kopf so schnell herum, dass ich wohl von Ferox gefallen wäre, wenn Amir mich nicht festgehalten hätte. Er verengte die Augen leicht. „Alles in Ordnung mit dir?“

„Ja! Ja natürlich, was sollte nicht in Ordnung sein?“

Nun wurde ich auch von den anderen Männern mit seltsamen Blicken bedacht.

„Du wirkst beunruhigt“, sagte Amir ganz direkt.

Ich biss mir auf die Unterlippe und wich den Blicken aus – auch dem des Dämons. „Das kommt von der Reise. Da gab es halt ein paar Sachen, die mich beunruhigt haben.“ Ich versuchte es mit einem schiefen Lächeln. „Wie sollte es auch nicht so sein?“

Ich wusste nicht, ob er oder die anderen mir glaubten, aber sie beließen es dabei.

„Die Reise war ja auch anstrengend, besonders für dich.“

NEIN! Ich verbot mir mit aller Kraft, an die letzten Tage zu denken. Was ich dort gesehen hatte, was ich dort erfahren hatte, das alles war nicht wahr. Sie irrten sich. Alle irrten sich. Punkt.

„Lasst uns zum Lager zurückkehren“, ordnete Amir an und blieb an Ryus Seite, als sich alle in Bewegung setzten. Auch der Rubin. Aufrecht lief er zwischen den Greifen seinem Schicksal entgegen.

„Ich habe mir übrigens den Drachen angesehen“, erzählte Ryu. „Der, der abgestürzt ist.“

„Er war unversehrt.“ Amir lenkte Ferox ein wenig dichter heran. „Zumindest bis auf ein paar Brandverletzungen und Knochenbrüche, die durch den Sturz entstanden sind.“

Ryu zog die Stirn leicht kraus. „Hast du ihn dir auch angesehen?“

„Nein, aber wir haben einen zweiten Drachen gefunden. Im Drachengebirge.“

„Du meinst dann wohl den dritten.“

„Dritten?“

Ryu nickte. „Vor zwei Tagen haben wir in der Wüste einen weiteren Drachen entdeckt. Auch er muss in den letzten Tagen abgestürzt sein. Die Ursache ist unbekannt.“

Ich konnte nicht vermeiden, dass ich den Rubin weiterhin aus dem Augenwinkel beobachtete. Ihn hier zu sehen war … surreal.

„Vielleicht eine Krankheit“, überlegte Elias, wirkte aber nicht überzeugt.

Amir wiegte zweifelnd den Kopf. „Der, den wir begegnet sind, sah nicht krank aus, sondern …“

„Gebrochen.“

Amir nickte.

„Wo habt ihr ihn gefunden?“, wollte Ryu wissen.

„Auf dem Pass. Er hat uns den Weg an einer sehr ungünstigen Stelle versperrt.“

Elias verzog den Mund. „Pech muss man haben.“

„Tiara hat ihn in Stein verwandelt, damit wir uns einen Tunnel hindurchschmelzen können.“

Der Vampir riss ungläubig die Augen auf. „Sie hat … was?!“

„Einen Drachen in Stein verwandelt.“

Ich glaubte, einen Unterton von Stolz in seiner Stimme wahrnehmen zu können, doch im Augenblick war ich viel zu abgelenkt, um mich darum zu kümmern. Würde der Rubin so ruhig sein, wenn die Jäger seinen Sohn getötet hätten? Wussten sie überhaupt von dem Kind? Ich traute mich nicht zu fragen, denn ich wollte sie nicht unnötig auf die Tatsache aufmerksam machen, dass da noch ein Dämon sein könnte.

„Wir konnten ihn nicht bewegen“, erklärte Amir. „Und ich bin nicht dieser Medusa.“

„Medusa war eine Frau“, erklärte ich geistesabwesend, ohne daran zu denken, dass ich das bereits vor Tagen getan hatte. „Sag mal, Ryu, war der Rubin allein, als ihr ihn gefunden habt?“ Ich musste es einfach wissen, sonst würde mir das keine Ruhe mehr lassen.

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich die Schultern des Dämons anspannten und er mit sich kämpfen musste, um ruhig zu bleiben.

„Dämonen sind Einzelgänger“, erklärte der Engel, doch leider war das keine eindeutige Antwort.

„Das heißt, er war alleine?“

Ryu nickte, runzelte aber wieder leicht die Stirn. „Warum fragst du?“

Die Ruhe des Rubins bröckelte leicht. Ich spürte, wie er mich mit seinem Blick fixierte, als wollte er mir eine tödliche Botschaft übermitteln.

„Er wirkt so ruhig“, antwortete ich ausweichend.

„Glaub mir, als wir ihn eingefangen haben, war er das nicht. Unser Glück war nur, dass es in der Umgebung nichts Brennbares gegeben hat.“

„Von ihm selbst einmal abgesehen“, fügte Elias noch hinzu und erinnerte mich damit an den anderen Rubin, der wie eine Fackel in Flammen aufgegangen war.

„Zum Glück ist Kiran wieder da“, sagte Ryu. „Ich will nie wieder einem Rubin gegenübertreten, ohne Wasser in der Nähe zu haben. Besonders nicht diesem hier.“ Denn auch wenn Kiran kein Wasser herbeizaubern konnte, so konnte er es doch aus dem Boden aufsteigen lassen und den Rubin damit in Schach halten. Etwas, das ich bei meinem Training mit Amir gelernt hatte.

Kenne die Schwachstellen und nutze sie aus.

Ich konnte mich nicht daran hindern, den Kopf zu drehen und dem Rubin einen weiteren Blick zuzuwerfen. Hoffentlich verstand er, dass ich sein Kind nicht verraten würde. Ihm konnte ich nicht mehr helfen, doch wenn die Jäger mit ihm fertig waren, würde wenigstens noch etwas von ihm in dieser Welt zu finden sein.

„Als hätte das Erwähnen seines Namens unseren Magier herbeigezaubert“, grinste Elias und hob die Hand. Die Karawane näherte sich von der Seite. Wir hatten das Lager beinahe erreicht, doch diese kleine Überraschung mit dem Dämon hatte meiner Freude über die Rückkehr einen kräftigen Dämpfer versetzt. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, schließlich hatte er mir einmal das Leben gerettet, doch genauso ärgerte ich mich über mich selbst, dass ich mir überhaupt Gedanken darüber machte. Das ließ meine Laune um weitere Punkte auf der Skala fallen.

Doch als eine kleine Gestalt zwischen den Zelten hervorschoss und zirpend auf uns zu gerannt kam, breitete sich ein großes Lächeln auf meinen Lippen aus, das echter nicht hätte sein können. „Guardian! Halt an!“ Noch bevor Ferox richtig stand, hatte ich mich schon halb aus dem Sattel geschält und sprang vom Mount in den weichen Sand. Ich ließ mich direkt auf die Knie fallen und fing meinen kleinen Freund auf, als er mir in die Arme sprang und begeistert übers Gesicht leckte. „Hey, Kleiner, na, hast du mich vermisst? Ja, ist ja gut, du hast mir auch gefehlt.“ Ich drückte meine Nase in das weiche Fell und schloss die Augen. Wie sehr der Kleine mir gefehlt hatte, merkte ich erst jetzt. Es war nur ein paar Tage her, dass ich ihn in der Wüste zurückgelassen hatte, doch es fühlte sich an wie eine Ewigkeit.

Elias grinste. „Das ist ja mal wieder typisch Frau. Da kommt etwas Kleines, Flauschiges angerannt und schon sind wir abgeschrieben.“

„Hey, er widerspricht wenigstens nie und hat auch noch nie versucht, mich mit einem Dolch zu pieken.“

Der Vampir verzog das Gesicht. „Nein, aber er hat mich gebissen, als ich es versucht habe.“

„He, ihr Nesthocker!“, rief Kiran von seinem Planwagen und winkte uns zu. „Beeilt euch mal ein wenig, ich habe nicht vor, alles alleine auszuladen.“

„Du hast doch noch nicht mal angehalten“, schimpfte Gaio von der Seite.

„Aber das werde ich jeden Moment tun.“

Und wieder begannen die beiden zu streiten, während sie die breite Gasse zwischen den Zelten anvisierten und im nächsten Moment im Lager verschwanden. Der zweite Planwagen folgte ihnen rumpelnd.

Schmunzelnd beobachtete ich das Wortgefecht und stand mit Guardian in meinen Armen auf. Er kuschelte sich so fest an meine Brust, als wollte er in mich hinein kriechen. „Liebe muss echt schön sein.“

„Liebe?“ Auch Ryu schaute den beiden hinterher.

„Ich denke nicht, dass die beiden sich lieben“, überlegte Elias.

„Natürlich tun sie das“, widersprach ich. „Nur eben auf ihre ganz eigene Art.“

Ryu schüttelte ungläubig den Kopf. „Diese Art ist aber sehr eigen.“

„Schluss jetzt mit dem Geplänkel, dafür habt ihr später noch Zeit.“ Auch Amir schwang sich nun von Ferox‘ Rücken. „Bring den Rubin jetzt an den Pfahl und dann ladet die Wagen ab. Ryu, wenn du fertig bist, komm zu mir, ich muss mit dir sprechen.“

Ryu nickte, sprang von Okano herunter und band das Seil vom Sattelknauf los. Auf der anderen Seite tat Elias es ihm gleich. „Komm“, forderte er den Dämon auf und ruckte am Seil, was jedoch völlig unnötig war, denn der Rubin setzte sich von ganz alleine in Bewegung. Dabei blickte er so intensiv in meine Richtung, dass ich unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. Ja, ich gab es zu, Dämonen machten mir Angst. Als er dann auch noch seine Oberlippe leicht hochzog und mir leise knurrend die Fänge zeigte, schlug mein Herz nicht mehr im normalen Rhythmus.

„Lass sie“, schimpfte Elias und scheuerte ihm eine, dass sein Kopf nach vorne flog.

Der Rubin drehte sich blitzschnell herum und schnappte nach seiner Hand. Hätte Ryu ihn in dem Moment nicht in die andere Richtung gerissen, hätte der Vampir jetzt wohl ein paar hübsche Löscher in den Fingern.

Elias kniff die Augen zusammen. Dann bewegte er sich plötzlich so schnell, dass ich nicht genau sah, was passierte. Ich hörte nur ein Klatschen, dann das Geräusch, das der Dämon machte, und sah anschließend das Blut auf seiner Lippe. „Leg dich nicht mit uns an.“

„Warum nicht? Ich weiß, was mich erwartet, was könntet ihr mir noch Schlimmeres antun?“

„Glaub mir, wenn ich dir sage, dass du das nicht erfahren willst. Und jetzt komm.“ Wieder zog Elias an dem Seil und zerrte den Rubin hinter sich her zu den Pfählen. Trotz dem, was gerade geschehen war, schaute er wieder in meine Richtung. Aber er sah nicht mich an, sondern Guardian, der ihm mit Blicken folgte.

Ich drückte den Kleinen fester an meine Brust, was mir nur ein Schnauben es Dämons einbrachte.

„Er ist gefährlich“, sagte Amir leise.

„Er hat sich mit seinem Schicksal abgefunden.“

„Keiner von ihnen findet sich mit seinem Schicksal ab, nicht, bis es zu spät ist.“

Ja, denn Hoffnung starb bekanntlich zuletzt.  

„Komm, lass uns helfen die Wangen abzuladen.“ Amir legte mir die Hand auf den Arm, riss sie aber sofort wieder zurück, weil Guardian versuchte, nach ihm zu schnappen.

„Hey!“, schimpfte ich und bemühte mich, den zappelnden Fennlix festzuhalten. Er zirpte aufgeregt und fauchte Amir an. Es half alles nichts. Ich musste ihn absetzen und hoffen, dass er nicht noch einmal versuchen würde, nach dem Serpens zu schnappen.

In dem Moment hörte ich ein unterdrücktes „Uff“, gefolgt von einem „Pass auf!“.

Ich wirbelte herum und sah gerade noch, wie der Dämon Elias einen heftigen Schwinger in die Magengrube versetzte und den Vampir damit in die Knie zwang. Seine Hände waren noch gefesselt, doch er hatte es irgendwie geschafft, den beiden Jägern die Führungsleinen zu entreißen.

Dann ging alles ganz schnell. Ich hörte neben mir einen Knall und wusste, dass Amir seine Peitsche ausgerollt hatte.

Der Dämon wirbelte herum, wollte fliehen, doch in dem Moment schwang unser Anführer seine Waffe. Das dünne Ende der Peitsche wickelte sich um den Hals des Rubins, riss ihn von den Beinen und drohte ihn zu strangulieren. Er griff nach oben, versuchte das dünne Lederband zu lockern, doch Amir hielt es so straff gespannt, dass es ihm nicht gelang.

Dann waren Ryu und zwei andere Jäger auch schon zur Stelle und zerrten ihn zurück auf die Beine. Er wehrte sich, als sie ihn durch den Schild zu dem Pfahl schleppten, knurrte und biss um sich.

Ich stürzte zu Elias, der noch immer auf dem Boden kniete und Luft in seine Lungen zwängte.

„Alles gut“, sagte er erstickt. „Ich muss nur kurz … zu Atem kommen.“

Gut sah in meinen Augen anders aus. Ich schaute über ihn hinüber zu den Pfählen, wo dem Dämon gerade die Arme grob über den Kopf gezerrt wurden, um sie festzubinden. Amir übte mit seiner Peitsche noch immer Druck aus.

„Was ist passiert?“

„Er weiß wohl, was der Schild bewirkt.“ Elias verzog das Gesicht. Der Dämon musste gut gezielt haben. „Er hat sich losgerissen, bevor wie ihn reinziehen konnten.“

Der Schild bedeutete das Ende. Dort würde er niemals alleine rauskommen.

Solange sie toben, wissen wir, womit wir es zu tun haben. Gefährlich sind nur die, die ruhig bleiben. Bei ihnen darf unsere Achtsamkeit nicht einen Moment nachlassen.

Der Rubin brüllte seine Wut heraus und der Hass ging in Wellen von ihm aus. In diesem Moment schien er nichts mehr mit dem Mann zu tun zu haben, der mich am ersten Tag in dieser Wüste vor den Flammen gerettet hatte. Die Verzweiflung hatte ihn gepackt, von der ruhigen Fassade war nichts mehr übrig und nur die Fesseln hinderten ihn daran, sich in ein Inferno zu verwandeln.

Dann begegnete ich seinem Blick. Da war sie wieder, diese Ahnung seiner Angst.

 

°°°

 

Ein Glatisant blökte protestierend und scharte unruhig mit dem Huf im roten Erdreich. Guardian schlich um seine Beine herum und das kam dem Mount wohl reichlich suspekt vor.

„Pass auf, dass du nicht von den Hufen getroffen wirst.“

Mein kleiner Wächter schaute nur zu mir hoch und zirpte leise, während ich die Arme nach der nächsten Kiste von Kiran ausstreckte.

„Vorsicht, schwer“, verriet er mir noch, dann landete sie auch schon in meinen Armen und ließ mich leicht in die Knie gehen. Wie viele kamen da eigentlich noch? Ich konnte mich gar nicht daran erinnern, dass wir so viel auf die Wagen geladen hatten. Dieser Strom musste doch bald mal ein Ende haben. Jedenfalls fühlten meine Arme sich bereits an, als bestünden sie nur noch aus Pudding. Trotzdem hielt ich mich tapfer. „Hab sie“, teilte ich mit und trug sie Richtung Lager – ein großes Zelt unweit von der Feldküche.

Dabei streiften meine Augen Amir, der etwas abseits stand und sich mit Ryu unterhielt.

Ein Stück weiter tauchte Asha zwischen den Zelten auf. Ich winkte ihr mit der Kiste im Arm zu, so gut es eben ging, und schlängelte mich dann durchs Lager.

Das einzig Gute an dieser Plackerei war, dass die anderen Jäger mir praktisch aus dem Weg sprangen, wenn sie mich mit der Kiste kommen sahen. So musste ich sie wenigstens nicht länger als nötig rumschleppen. Und dann gab es da natürlich auch noch den ein oder anderen Gentleman, der mir die Kiste am Zelt abnahm, um sie im Inneren zu verstauen.

„Warum lässt du die Dinger nichts schweben?“, fragte Elias, als ich ihm meine Fracht übergab.

Es tut mir leid, dir das mitteilen zu müssen, aber du wirst sterben.

Nein!

„So trainiere ich meine Muskeln.“

Elias schnaubte belustig und verschwand dann im Zelt.

Ich wartete nicht auf ihn, sondern machte mich gleich wieder zum Karren auf. Dabei verfluchte ich mich innerlich dafür, dass ich mich von Boudiccas Worten hatte so beeindrucken lassen, dass ich es wirklich vermied, Magie einzusetzen. Es war albern, denn alles war eine Lüge gewesen. Und trotzdem ruhte meine Magie seit dem Gespräch mit ihr in meinem Inneren. Nicht ein einziges Mal hatte ich gezaubert.

Aber das würde ich wieder. Ich würde nachher zaubern und dieser alten Hexe damit ein zweites Mal beweisen, dass sie Unrecht hatte. Das war ein Versprechen an mich selbst.

Ich hatte den Karren fast erreicht, als Asha mich rief. Als ich mich zu ihr umdrehte, gab sie Ryu gerade einen Kuss auf die Wange und eilte dann zu mir.

„Du hast wilde Magie in dich aufgenommen.“

Das half nicht gerade dabei, meine gute Laune aufrecht zu erhalten. Ich sah zu Amir und Ryu hinüber, bevor ich mich wieder zum Wagen bewegte. „Die schnelle Verbreitung von Klatsch fand ich in diesem Lager schon vom ersten Tag an faszinierend.“ 

Darauf ließ Asha sich nicht ein. „Was haben die Hexen im Zirkel gesagt?“

„Das meine Macht über alles Bekannte hinausgeht.“ Ich gab Kiran ein Zeichen, damit er mir eine weitere Kiste reichte, und schaute zu Guardian, der noch immer um den Glatisant herumtänzelte. Der jedoch hatte sich in der Zwischenzeit dazu entschlossen, den kleinen Fennlix einfach zu ignorieren.

„Eigentlich wollte ich wissen, was sie über deinen Gesundheitszustand gesagt haben.“

„Was sollen sie schon gesagt haben? Die wilde Magie baut sich wieder ab. Ich brauchte nur ein wenig Ruhe und … hey.“ Gerade als Kiran mir die Kiste nach unten geben wollte, packte Asha mich am Arm und drehte mich zu sich herum.

Der Magier reagierte blitzschnell und packte erneut zu, bevor seine Fracht auf den Boden klatschte. „Verdammt, was soll das?“

„Gibt die Kiste jemand anderem“, wies Asha ihn an und zog mich ein Stück zur Seite. „Und du sprich endlich mit mir. Das kann nicht alles gewesen sein, was sie dir gesagt haben!“

Es tut mir leid, dir das mitteilen zu müssen, aber du wirst sterben.

„Ach nein? Was sollen sie denn bitte sonst noch gesagt haben?“

Asha kniff die Augen leicht zusammen und musterte mich. Doch bevor sie auf meine Frage antworten konnte und dieses Gespräch noch unangenehmer wurde, wandte ich mich einfach von ihr ab. „Weißt du was? Ist auch egal. Wir sehen uns bestimmt später.“

„Tiara.“

Der Name war ein einziges Seufzen, doch ich beachtete es nicht, pfiff nur nach Guardian, der sofort angerannt kam, und verschwand dann schnellstens zwischen den Zelten. Mir war klar, worauf Asha hinaus wollte, aber ich wollte nicht länger damit belästigt werden. Das verdarb mir einfach nur den Tag.

Ich war nämlich nicht krank!

 

 

°°°

 

Tief einatmen, ausatmen, den Geist klären.

Ich riss die Augen auf, wirbelte mit einem Schrei herum und trat nach einem imaginären Gegner. Noch in der gleichen Sekunde setzte ich mit einem Schlag nach. Und noch einem. Schlag, Schlag, Schlag, Tritt, Schlag.

Die Sonnen brannten heiß vom Himmel und trieben mir den Schweiß über die Schläfen. Mein Atem ging schwer und doch ließ ich nicht nach. Immer und immer wieder holte ich aus und wirbelte über den Übungsplatz, um meine nicht vorhandenen Feinde zu besiegen. Ich brauchte etwas, um mich abzulenken, um meine Gedanken von unliebsamen Dingen zu befreien, und da bot sich ein kleines Kampftraining geradezu an.

Die körperliche Ertüchtigung tat gut, klärte meinen Verstand. Hier auf dem Übungsfeld musste ich an nichts anderes als an den nächsten Schlag, den nächsten Schritt oder den nächsten Sprung denken. Es war befreiend, sich einmal von all dem loszueisen.

Ich wirbelte herum, schwang den Übungsstab, den ich mir aus dem Waffenschuppen geholt hatte, und richtete ihn mit der Spitze auf das Felsmassiv. Hätte ein Gegner vor mir gestanden, wäre er jetzt mit beträchtlichen Kopfschmerzen gesegnet.

Seufzend ließ ich den Stab sinken und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Das Training hier strengte mich viel mehr an als das in den Bergen. Die Hitze machte mir zu schaffen. Trotzdem genoss ich es, zurück zu sein. Hier herrschte weder Chaos noch Verfall. Und hier gab es auch keine Hexe, die mir erklären wollte, dass ich sterben würde, wenn ich die Magie nicht aufgab – Asha einmal ausgenommen, aber die hatte es nicht so formuliert.

Nein, nein, nein. Ich würde nicht sterben. Sie irrten sich!

Entschlossen, diesen Gedanken ein für alle Mal zu verdrängen, brachte ich mich wieder in Position und begann die Übungen von vorne. Ich würde so lange trainieren, bis ich gar nicht mehr dazu fähig war, einen klaren Gedanken zu fassen. Alles was in den letzten Tagen passiert war … ich wollte nur vergessen.

War das der Grund, warum ich in die magische Welt gekommen war? Gab es da etwas, das ich einfach nur vergessen wollte? War ich vor der Realität geflohen?

Ich wirbelte herum, holte mit dem Bein aus und in diesem Moment geschah es. Der Sand unter meinen Füßen rutschte weg und ich landete so heftig auf meinem Hintern, dass meine Zähne aufeinanderschlugen. „Verdammt noch mal!“ Ich schlug mit den Fäusten auf den Boden, wütend über meine eigene Inkompetenz, und wollte schimpfen und fluchen. Was Boudicca gesagt hatte, konnte nicht stimmen. Das war nicht fair. Das war einfach nicht … fair. Ich konnte diese Welt nicht verlassen, denn dann wäre all das hier völlig nutzlos.

Meine Hand klammerte sich um den Stab. Was tat ich hier überhaupt? Das war nicht meine Welt.

Ich zog die Beine an die Brust, ließ den Stab los und schlang die Arme um die Knie.

Warum konnte ich das, was Boudicca gesagt hatte, nicht einfach vergessen?

Es gibt keine Heilung. Es tut mir leid, dir das mitteilen zu müssen, aber du wirst sterben.

„Nein“, flüsterte ich. Sie täuschten sich, sie alle, und ich würde es ihnen beweisen.

Im Schatten des Felsens erhob sich Guardian und trottete an meine Seite. Mit großen Augen schaute er mich an, stupste dann gegen meinen Arm und zirpte.

„Mir kann gar nichts passieren“, murmelte ich und begann ihn am Köpfchen zu kraulen. „Solange du bei mir bist, ist die Welt in Ordnung.“

Er spitzte die Ohren, drehte dann den Kopf und reckte sogar den Hals. Wieder zirpte er.

„Was ist denn?“ Ich folgte seiner Blickrichtung, sah aber nichts als die Ecke des Felsmassivs, hinter dem es zur Lagune ging. „Was hast du gesehen?“

Seine Schwänze ragten steil in die Höhe, als er einen neugierigen Schritt nach vorne machte und wieder zirpte.

Ich runzelte die Stirn. Außer dem vertrauten Bild und dem Flimmern der Luft war dort nichts, doch irgendwas musste seine Aufmerksamkeit erregt haben. „Wollen wir mal nachschauen gehen?“ Alles war besser, als sich mit der momentanen Situation herumschlagen zu müssen.

Er machte noch einen Schritt, schaute kurz zu mir auf und sauste dann los. Im nächsten Moment war er um die Ecke verschwunden.

Das nahm ich dann mal als Ja.

Schwermütig erhob ich mich aus dem Sand, kam aber nicht mehr dazu, meinem kleinen Freund hinterherzulaufen, denn Amir trat zwischen den Zelten hervor. Ich sah ihm an, dass er zu mir wollte, und war einen kurzen Moment versucht, mich aus dem Staub zu machen. Nicht weil ich wusste, was auf mich zukam, sondern wegen dem Ausdruck in seinem Gesicht. Egal was er von mir wollte, es würde mir mit Sicherheit nicht gefallen.

So wollte ich ihn nicht bei mir haben, aber das konnte ich ihm natürlich nicht sagen, deswegen wartete ich einfach, bis er vor mir stand. Dass er dann jedoch seine Hand auf meine Wange legte und sich vorbeugte, um mir einen sanften Kuss zu schenken, überraschte mich ein wenig. Nicht dass ich es nicht guthieß, er hatte das nur noch nie gemacht.

Seine Stirn lehnte gegen meine, als er den Kuss löste, und die Schlangen liebkosten mein Haar und mein Gesicht. Es kitzelte.

„Rede mit mir“, flüsterte er.

Mein Mundwinkel verzog sich zu einem kleinen Lächeln. „Ich rede doch mit dir.“

„Das meine ich nicht und das weißt du ganz genau.“ Einen kurzen Moment verschloss er den Mund. Dann: „Was ist im Zirkel vorgefallen?“

Und da verdorrte der aufkeimende Samen meiner guten Laune auch schon wieder. Wie sehr ich es manchmal doch hasste, wenn ich Recht behielt. „Wie kommst du darauf, dass etwas vorgefallen ist?“

Für einen kurzen Moment schloss Amir die Augen und atmete tief durch. „Von den Gründen, die dich dort hingebracht haben, abgesehen? Du benimmst dich seltsam.“

„Ich benehme mich ganz normal.“ Um ihm nicht ansehen zu müssen, schlug ich die Augen nieder.

„Bisher habe ich dich nicht bedrängt. Ich dachte, du würdest von dir aus zu mir kommen, aber das ist nun schon zwei Tag her. Seit du zurück bist, verhältst du dich komisch, und ich will den Grund wissen.“

Es tut mir leid, dir das mitteilen zu müssen, aber du wirst sterben.

„Was haben die Hexen gesagt?“

„Das ist nicht wichtig.“ Denn sie hatten Unrecht. Ich machte mich von ihm los und trat einen Schritt zurück.

In Amirs Augen glomm ein Funken Ungeduld auf. „Ich finde es schon wichtig. Warum bist du ohnmächtig geworden? – Mal wieder, wenn ich das hinzufügen darf?“

„Ich hab mich einfach überanstrengt.“ Ich bückte mich nach meinem Stab und drehte ihn ein paar Mal in der Hand, wie Amir es mir gezeigt hatte, um überhaupt etwas zu tun zu haben. Das war auf jeden Fall leichter als ihn anzusehen.

„Als du den Drachen in Stein verwandelt hast, da hast du dich überanstrengt. Aber das in Sternheim ... Für einen kurzen Moment warst du in der Magie völlig untergegangen. Du warst reine Magie und …“

„Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, dass ich mich von dem Zauber mit dem Drachen zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz wieder erholt hatte?“

„Es lag ein ganzer Tag dazwischen.“

Ich wechselte den Stab in die andere Hand, drehte ihn dabei im Kreis und folgte der Bewegung mit den Schritten. „Hör auf, dir über etwas Sorgen zu machen, das gar nicht existent ist. Mir geht es gut, alles ist in Ordnung und du gehst mir mit deiner Fragerei gerade ganz schon auf den Keks.“ Ja genau, so war es richtig. Wenn ich feindselig wurde, würde er meinen Worten vermutlich mehr Glauben schenken.

„Und du willst mir sagen, dass du dich nicht seltsam verhältst?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und blickte mir herausfordernd entgegen.

Ich ließ den Stab sinken und meinen Kopf gleich mit. „Es tut mir leid, das habe ich nicht so gemeint.“

Amir kniff die Augen leicht zusammen. „Ich mag es nicht, im Dunkeln gelassen zu werden. Und erzähl mir nicht, dass du das nicht tust. Ich weiß genau, dass du mir etwas verheimlichst. Hat Asha vielleicht Recht?“

„Asha?“

„Sie war bei mir und hat mir erzählt, dass sie vermutet, die Magie würde dich krankmachen – und zwar schon vor unserer Abreise.“ Er starrte mich an, als wollte er mich durch Blicke zwingen, die Wahrheit zu sagen. „Hat sie Recht?

Ich drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Das musste nach unserem Streit gewesen sein. Aber sie hatte nicht Recht, sie alle täuschten sich. „Magie ist Leben“, sagte ich nur. Damit hatte ich ihm vielleicht nicht direkt geantwortet, aber es war meine Überzeugung.  

Amir musterte mich auf eine sehr seltsame Art. „Du trägst sehr viel Magie in dir und jetzt gerade, der Umschwung und …“ Er schüttelte den Kopf. „Nun gut, du bist eben eine Hexe und die geben ihre Geheimnisse nun mal nicht preis.“

Das klang nicht gerade nach einem Kompliment.

„Du wirst mich morgen zu deiner ersten Jagd begleiten.“

Der plötzliche Themenwechsel riss mich so aus der Bahn, dass ich einen Moment brauchte, um seinen Worten einen Sinn zu geben. Aber auch dann konnte ich es nicht ganz begreifen. „Was?“

„Du bist so weit. Deine magischen Fähigkeiten sind nahezu perfekt. Weder Asha noch Kiran können dir noch etwas beibringen, was du auf der Jagd brauchst. Und den Kampf lernt man am besten, wenn man ihm begegnet. Es gibt nichts mehr, was ich dir hier noch zeigen kann.“

Aber … nein! Das ging viel zu schnell. Wir trainierten doch erst seit ein paar Wochen. Ich war noch nicht bereit, einem Dämon gegenüberzutreten. Ich konnte nicht …

„Du wirkst nicht gerade erfreut.“

„Ich …“ Ich biss mir auf die Unterlippe.

„Gibt es da vielleicht etwas, das du mir sagen möchtest? Hast du gelogen, was den Besuch beim Zirkel angeht?“

Nicht direkt, aber als ich jetzt den Kopf schüttelte, fühlte es sich wie die größte Lüge an, die ich jemals von mir gegeben hatte – nicht dass ich mich an viele Lügen erinnern konnte. „Nein. Wenn du meinst, ich bin so weit, dann … dann ist es wohl Zeit für meine erste Jagd.“ Diese Worte musste ich fast hervorwürgen. Ich sollte einen Dämon jagen, gleich morgen. Ich sollte ihn fangen, damit sie mit ihm das machen konnten, was sie auch mit den anderen taten. Ich würde ihnen helfen.

„Ja, das ist es.“ Er trat an mich heran und dann spürte ich wieder diese vertraute Berührung seiner Hand an meiner Wange. „Du wirst mir helfen, die Welt zu verändern. Durch dich werden wir alles zum Besseren wenden.“

Mein Lächeln fiel etwas wacklig aus, aber ich konnte mich einfach nicht mit dem Gedanken arrangieren, dass ich ab sofort eine Mitverantwortung für die Taten der Jäger tragen würde.

Amir beugte sich mir wieder entgegen und erstaunte mich damit zum zweiten Mal, doch zu dem Kuss kam es nicht, denn von der Seite schoss Guardian laut fauchend heran und stürzte sich in die kleine Lücke zwischen uns. Amir sprang zurück und ich schaffte es gerade noch, den Kleinen zu packen und hochzureißen, bevor er den Serpens zwicken konnte.

Doch die Tatsache, dass er nun in meinen Armen lag, hinderte ihn nicht daran, Amir leise aus der Kehle anzugrollen.

„Ich denke, er ist eifersüchtig“, sagte ich entschuldigend. Oder der Kleine hielt Amir aufgrund unseres Kampftrainings für eine Gefahr für mich.

„Wahrscheinlich“, sagte Amir nur und kniff die Augen leicht zusammen. „Ryu hat mir von einem Saphir erzählt, der ihm vor zwei Tagen durch die Lappen gegangen ist.“

Und schon wieder so ein abrupter Themenwechsel. Langsam bekam ich ein Schleudertrauma.

„Die Jäger haben ihn im Tal des Lichtes entdeckt, aber die Gegend ist … verworren. Ein Labyrinth ist übersichtlicher. Trotzdem werden wir morgen versuchen, ihn zu finden.“

„Ähm … Tal des Lichtes?“

„Eine Schucht mit Tausenden von Höhlen. Der perfekte Ort, um sich zu verbergen.“

Höhlen? Müsste es dann nicht eher Tal der Schatten heißen? Schließlich waren Höhlen dunkle Orte. Aber vielleicht hatte sich der Namensgeber auch einfach nur einen Scherz erlauben wollen.

„Wir werden noch vor dem Morgengrauen aufbrechen. Du solltest dann schon gegessen haben. Steh also nicht zu spät auf.“

Plötzlich wirkte Amir so distanziert und geschäftig. Das mochte ich nicht.

„Hast du das verstanden?“

„Ähm … ja.“

„Gut, dann sehen wir uns morgen.“ Er drehte sich um, ohne noch einmal zu mir zu kommen oder ein freundliches Wort an mich zu richten. Einfach so verschwand er zwischen den Zelten und ließ mich stehen, als wäre ich seiner Aufmerksamkeit nicht wert. Er ist nur gekränkt, sagte ich mir. Schließlich hatte Guardian ihn fast gebissen. Morgen ist wieder alles okay, du wirst schon sehen.

Das blieb wirklich zu hoffen.

Seufzend setzte ich meinen kleinen Freund zurück auf den Boden und griff wieder nach dem Stab. Dann überlegte ich es mir aber anders und ließ ihn liegen. Amir hatte mir immer erklärt, dass meine Stärke im Kampf aus der Ferne lag, und wenn ich morgen wirklich gegen einen Dämon bestehen wollte, sollte ich das besser üben.

Je mehr Magie du einsetzt, umso schneller wird der Verfall voranschreiten. Es tut mir leid, dir das mitteilen zu müssen, aber du wirst sterben.

„Nein!“, rief ich laut und ballte die Hände an den Seiten zu Fäusten. „Das werde ich nicht!“

Guardian zirpte leise, kam aber nicht näher, als wüsste er nicht genau, was meine laute Stimmte zu bedeuten hatte.

Ich seufzte. „Tut mir leid, kommt nicht wieder vor.“

Er legte sich an Ort und Stelle in den Sand, behielt mich aber weiter wachsam im Auge.

Er war wirklich mein kleiner Beschützer. Nur würde ich ihm wohl noch erklären müssen, vor wem oder was er mich beschützen sollte. Amir stand sicher nicht auf dieser Liste. Als er plötzlich angerannt kam … Moment, wo war er eigentlich vorher gewesen? Er hatte sich vorhin doch so komisch benommen.

Ich schaute zur Ecke des Felsmassivs, aber alles war ruhig und Guardian schien im Moment auch nicht das Bedürfnis zu haben, erneut unbekannten Zielen entgegenzustreben. Im Grunde schien er sich nicht mal einen Mikrometer von meiner Seite entfernen zu wollen.

Ich schüttelte den Kopf, um diese Gedanken loszuwerden. Wahrscheinlich hatte er einfach nur eine Eidechse entdeckt, die daraufhin das Pech hatte, auf seiner Speisekarte zu landen.

Aber jetzt ging es darum, sich auf andere Dinge zu konzentrieren. Morgen würde meine erste Jagd bevorstehen und darauf sollte ich vorbereitet sein. Ich würde nur eine Sache üben müssen, etwas, das nicht viel Magie kostete: zielen. Dazu sammelte ich ein paar Steine am Rand zusammen und legte sie in der Sandkuhle in Reih und Glied nebeneinander.

Guardian beobachtete mich bei meinem seltsamen Verhalten mit geneigtem Kopf. Einem Tier mussten die Handlungen eines Zweibeiners manchmal wirklich bizarr vorkommen.

Ich bezog in vier Metern Entfernung Position und entließ meine Magie, bis ich sie in jeder Zelle meines Körpers fühlen konnte. Das Gefühl war berauschend, davon würde ich niemals genug haben. Wieder faszinierte es mich, dass der kleine Blitz, den ich in der Hand beschwor, keinen Schmerz verursachte. Er knisterte und hüpfte von einem Finger zum anderen.

Dann richtete ich die Hand entschlossen nach vorne und ließ ihn los. Er zischte durch die Luft und traf einen Stein genau in die Mitte. Das Problem dabei war nur, dass ich auf den Stein daneben gezielt hatte. Aber davon ließ ich mich nicht entmutigen. Ich schoss den nächsten Blitz ab und dann noch einen und noch einen. Immer wieder. Ich wechselte die Hände, sprang immer mal wieder hin und her, als befände ich mich wirklich in einem Kampf und müsste mich bewegen.

Steine flogen umher, Sand spritzte in die Luft. Die Magie knisterte um mich herum.

Immer schneller schoss ich die Blitze ab, zwang mich zur Konzentration und ignorierte die leichte Übelkeit, die nach einer Weile in mir aufstieg. Das bildete ich mir nur ein, weil die anderen mich mit ihrem Gerede langsam verrückt gemacht hatten. Doch je mehr Magie ich einsetzte, je mehr ich mich verausgabte, desto deutlicher wurde die Übelkeit und schon bald ließ sie sich nicht mehr verleugnen.

Alles Einbildung, sagte ich mir und versuchte das aufkommende Schwindelgefühl abzuwerfen. Das war nichts weiter als die Macht der Suggestion.

Ich biss die Zähne zusammen, schoss den nächsten Blitz ab. Und noch einen.

Der Schmerz kam so plötzlich und so heftig, dass ich einfach in die Knie ging. Ich würgte, spürte, wie meine Muskeln zitterten, und das, obwohl ich nicht mal einen Teil der Magie gewirkt hatte, die ich bei dem Drachen gebraucht hatte.

Die Schwärze wollte Besitz von mir zu ergreifen. Meine Augen begannen zu brennen, während mein Magen dabei war, sich von innen nach außen zu kehren.

Du wirst sterben.

Nein, bitte nicht.  

 

°°°°°

Tag Siebzig

 

„Also, meine erste Jagd werde ich wohl niemals vergessen“, teilte Kiran uns mit und schaufelte sich sein Frühstück in den Mund.

„Ja, weil du fast draufgegangen wärst.“ Elias grinste breit. „Aber nicht wegen einem Dämon, sondern weil du der festen Überzeugung warst, fliegen zu können.“

Alle begannen zu lachen, nur ich kam mir ein wenig ratlos vor.

„Reich mir mal den Korb.“ Ryu zeigte an mir vorbei zu dem blauen Brot.

Kiran schluckte seinen Bissen herunter. „Ich bin nicht geflogen, ich bin gefallen und hätte mir dabei fast das Genick gebrochen.“

„Aber es war deine eigene Schuld.“

„Nicht ich war schuld, sondern dieser bockige Greif“, widersprach er sofort mit einer Vehemenz, dass es weitere Lacher nach sich zog.

Selbst Amirs Mundwinkel zuckten. „Wir hatten dich vorher gewarnt. Nicht jeder Greif ist für die Jagd geeignet.“

„Was Amir damit meint“, sagte Gaio zu mir und griff nach der Saftflasche auf dem Tisch. „Kiran ist hier damals mit so einem preisgekrönten Mount aufgetaucht und stolzierte damit durch die Gegend, als sei er der Herrscher der Welt.“

„Ich bin nicht stolziert.“

Gaio ignorierte ihn. „Leider war das Vieh nicht trainiert und hat sich vor allem erschreckt, was auch nur in seine Richtung geflüstert hat.“

„Ich hatte mir das alles eben etwas anders vorgestellt“, gab er zu und wischte sich die Hände an seinem Taschentuch ab. „Schließlich bin ich hergekommen, um euch auf die Finger zu schauen, und nicht, um mir die Hände dreckig zu machen.“

Elias schwang sein Messer in Kirans Richtung. „An harter, ehrlicher Arbeit ist nichts Dreckiges.“

„Damals hätte ich behauptet, dass du das nur sagst, weil du es nicht besser weißt.“ Er grinste in die Runde. „Heute weiß ich es besser.“

Asha neigte den Kopf zur Seite. „Das heißt, heute bist du unserer Ansicht? Oder weißt du einfach, wann es besser ist, seine Meinung für sich zu behalten?“

„Im Moment? Da halte ich es für besser, einfach mal still zu sein.“

Dem darauffolgenden Lachen konnte ich mich nicht anschließen. Nicht weil es nicht lustig gewesen wäre, sondern weil die Nervosität mich langsam aber sicher auffraß. In der Nacht hatte ich kaum ein Auge zugemacht und wenn doch, dann waren meine Träume verworren und undurchdringbar gewesen. Meine Haare hatten beim Aufstehen einem Vogelnest geglichen, so oft hatte ich mich von einer Seite auf die andere und dann wieder zurück gedreht. Selbst Guardian war es zu viel geworden, sodass er sich mitten in der Nacht aus dem Zelt gestohlen hatte.

Aber es war nicht nur die bevorstehende Jagd gewesen, die mir die wenigen Stunden an Schlaf geraubt hatte. Es war etwas anderes, dem ich mich langsam zu stellen wagte, eine Frage, die ich am liebsten verdrängt hätte, doch sie tauchte immer wieder auf. Würde ich wirklich sterben?

So langsam konnte ich nicht mehr glauben, dass diese fürchterlichen Worte dem Neid entsprungen waren. Nicht nur wegen meiner - zum Glück unentdeckten - Auszeit auf dem Übungsplatz. Auch im Zelt hatte ich noch einen Versuch gewagt und meine Bücher durch die Gegend fliegen lassen. Zumindest bis ich plötzlich einen spitzen Schmerz in meinem Unterleib gefühlt hatte.

Es war die Angst vor der Wahrheit gewesen, die mich zum Aufhören bewegt hatte. Auch jetzt war es die Angst, die meine Zunge lähmte und das Essen wie Pappe schmecken ließ.

„He, Träumerin.“ Kiran wedelte mit der Hand vor meiner Nase herum. „Bist du wach?“

„Frag in einer Stunde noch mal nach.“ Ich schaffte es, meine Stimmung hinter einem nervösen Lächeln zu verbergen, das die anderen wahrscheinlich für Nervosität hielten.

Außerdem war meine Antwort gar nicht so abwegig, schließlich war es noch immer Nacht. Die Sonnen würden sicher noch ein, zwei Stunden im Verborgenen bleiben, bevor sie den Tag wieder mit ihrer Hitze malträtierten.

Amir klopfte auf den Tisch. „Schluss jetzt mit dem Geplänkel, es wird Zeit. Lasst uns aufbrechen und die Mounts holen.“

„Da gibt es schließlich noch einen Saphir, der sehnsüchtig auf uns wartet.“

Kirans Kommentar wurde von mir genauso ignoriert wie Gaios Lachen. Amirs Worte bewegten mich nämlich zu einer anderen Frage. „Mit wem reite ich mit?“ Da jeder Versuch, mich länger auf einem Mount zu halten, irgendwann ziemlich lächerlich gewirkt hatte, hielt ich diese Frage für durchaus berechtigt.

„Mit niemandem, du reitest allein.“

Ich war gerade dabei, meine Beine über die Bank zu schwenken, um aufzustehen, doch diese Worte ließen mich mitten in der Bewegung innehalten. „Allein?“ Nicht dass ich nicht reiten konnte, aber … naja, ich hatte es eben bereits angedeutet.

„Du musst es lernen, aber das wirst du nicht, wenn wir dich immer mitnehmen“, erklärte Amir und reichte mir die Hand. Eine klare Anweisung, endlich meinen Hintern zu bewegen.

Ich legte meine Hand in seine und ließ mir aufhelfen. Die anderen waren schon ein paar Schritte vor uns. „Und auf wem soll ich reiten?“ Ich würde auf keinen Greif steigen. Nachher flog der mit mir einfach davon. Mit Amir zusammen war das in Ordnung, aber alleine würden mich da keine zehn Pferde raufbekommen.

„Du nimmst Primo.“

Primo. Ich musste einen Moment in meiner Erinnerung kramen, um mich an den sanften Riesen zu erinnern, der immer leicht geistesabwesend und desorientiert wirkte. Dieser Glatisant war … kurios, um es mal vorsichtig auszudrücken. „Ähm … hältst du das für eine gute Idee?“

„In deinem Fall ja.“

Was sollte das denn heißen? Ich war wirklich kurz am überlegen, ob ich beleidigt sein sollte.

„Nein, nicht da lang“, sagte Amir, als ich den anderen zum Stall folgen wollte.

Auf meinen fragenden Blick zog er mich nach links zu den Wohnzelten und noch bevor wir es erreicht hatten, wusste ich, dass wir sein Zelt ansteuerten.

„Warte hier“, wies er mich an und schlug sie Plane zu seinem kleinen Reich auf.

Ich war noch nie drin gewesen und es juckte mich in den Fingern, ihm einfach zu folgen, als er hinein schlüpfte. Aber wenn er mich da drin haben wollen würde, würde er mir das doch sicher sagen, oder?

Mit dieser Frage war ich noch beschäftigt, als er schon wieder auftauchte. In der Hand hielt er einen Stab aus dunklem Holz, dessen mittleres Drittel mit einem Lederband umwickelt war.

„Ich möchte dir den geben“, sagte er und reichte den Stab an mich weiter.

Das Holz war glatt und abgegriffen. Spuren vom langjährigen Gebrauch machten ihn zu einem Unikat und die beiden Enden waren mit einem markanten Muster versehen, das in das Holz eingearbeitet war. „Er ist hübsch.“

„Das ist der Stab, mit dem ich meinen ersten Wettkampf gewonnen habe.“ Er streckte die Hand aus und ließ seine Finger über das abgegriffene Holz wandern, bis er meine berührte. „Er hat mir immer Glück gebracht.“

Das bedeutete, er war wertvoll. Nicht im geldlichen Sinne. „Und dann willst du ihn mir geben?“

„Ich möchte, dass er von nun an dir Glück bringt, damit du auch von jeder Hatz heil heimkehren kannst.“

Heimkehren. Dieses eine Wort sagte so viel und er hatte Recht. Das Lager war nun mein Zuhause, die Jäger meine Familie. Und Amir … nun, ich wusste noch immer nicht recht, was genau er eigentlich für mich war, aber ich wollte ihn in meinem Leben nicht mehr missen.

„Danke“, sagte ich lächelnd, beugte mich über den Stab zu ihm rüber und streifte mit meinen Lippen über seine. „Ich werde gut auf diesen Stab aufpassen.“

„Ich hoffe, dass er auf dich aufpassen wird.“ Er nahm seine Hand vom Stab und hielt mich dann am Kinn fest. Ich konnte seinem Kuss nicht entkommen, nicht mal, wenn ich gewollt hätte.

Angenehme Wärme durchfloss mich, während ich die Weichheit seiner Lippen spürte. Blieb nur noch zu hoffen, dass dieser kleine, freche Fennlix jetzt nicht auftauchte, denn dieses Mal würde ich ihm eine Unterbrechung übelnehmen. Und ich nahm es auch Amir übel, als er den Kuss beendete – wenigstens ein kleines bisschen.

„Die anderen warten sicher schon“, erklärte er plötzlich sehr geschäftig.

Wegen mir hätten sie ruhig noch ein wenig länger warten können.

„Hey, mach nicht so ein Gesicht. Du wirst schon sehen, deine Unsicherheit ist völlig unnötig.“

Hm, eigentlich war ich bisher überhaupt nicht unsicher gewesen, aber gut, dass er mich darauf aufmerksam gemacht hatte, denn so konnte meine Nervosität wieder zurückkehren. „Na dann, lass uns mal loslegen.“

 

°°°

 

Es war schon fast unwirklich, wie plötzlich das Tal des Lichtes mit seinen ganzen Höhlen scheinbar aus dem Nichts vor uns auftauchte. Noch vor hundert Metern war es nicht einmal zu erahnen gewesen. Da war nur die unendliche, trockene Weite des roten Hinterlands mit den beiden grausamen Sonnen. Doch nun lag direkt zu unseren Füßen eine Schlucht mit den Ausmaßen des Grand Canyons – obwohl, vielleicht war sie sogar noch ein wenig größer. Es war wie ein tiefes Tal oder der Krater eines Meteoriten.

Die Zügel von meinem Glatisant fest in der Hand, stand ich direkt am Rand und schaute in die Tiefe. Die Hänge nach unten waren steil und nur an wenigen Stellen passierbar. Die Schlucht war nicht leer. Große und kleine Felsen und Klippen durchzogen jeden Meter. Da waren Eingänge zu Höhlen, die nur etwas von den spärlichen Gewächsen verdeckt wurden. Manche dieser Felsen wurden nicht mal dem Begriff Hügel gerecht, andere wiederum gingen fast als ganzer Berg durch. Ein tiefer Abgrund mit einem Inneren, das so undurchsichtig war, dass ich nicht einmal von hier oben klare Wege zwischen den ganzen Schluchten und verwinkelten Spalten erkennen konnte.

Auch dieser Ort war eine Wüste, doch ganz anders als das rote Hinterland. Es war eine Wüste aus Stein und Fels, gezeichnet von den Farben der Natur.

„Faszinierend, oder?“ Ryu ritt auf Okano neben mich.

„Es ist wunderschön.“ So schön, dass ich mich von dem Anblick kaum losreißen konnte. Vielleicht war es aber auch die Nervosität. Dies war der Ort, an dem wir den Dämon jagen würden, aber es war so groß. Woher sollten wir wissen, wo wir suchen mussten? Und würde ich es wirklich fertigbringen?

„Na komm.“ Ryu nickte mir zu. „Steig wieder auf, damit wir weiter können.“

Ich brauchte noch einen Moment, um der Aufforderung zu folgen. Vielleicht wollte ich damit einfach nur ein wenig Zeit schinden, aber die Blicke der anderen Jäger sprachen Bände. Sie wollten endlich loslegen und mein Zögern war hinderlich.

„Dann lasst uns mal gehen“, sagte ich leise zu Guardian, doch er reagierte nicht mit seinem üblichen Zirpen. Seit wir an den Rand der Schlucht getreten waren, war er sowieso ungewöhnlich ruhig. Der Wind zerrte an seinem Fell. Die Ohren erhoben, den Blick in die Tiefe gerichtet. Er wirkte so … gefasst, als versuchte er, meine Nervosität mit einer Aura der Ruhe zu beschwichtigen.

Es half nicht. Ich musste nur daran denken, dass ich gleich einem Dämon gegenüberstehen konnte. Und dann müsste ich vielleicht meine Magie einsetzen …

Ich durfte mir nicht zu viele Gedanken machen – nicht in diese Richtung. Das war im Moment nur hinderlich. Daher versuchte ich den Kopf auszuschalten, als ich mich auf Primos Rücken schwang. Außerdem hatte ich ja noch den Stab von Amir, der in einer Halterung auf meinem Rücken steckte. Zwar fehlte mir noch die Übung damit, aber die anderen Jäger waren ja auch noch da.

Ja, sagte ich mir, als ich Primo zur Bewegung anspornte. Ich würde mich zurückhalten und die anderen die Arbeit erledigen lassen. Zumindest was den magischen Teil betraf.

Langsam ging es an der zerklüfteten Kante vorwärts und Primo schritt artig den anderen Reitern hinterher – ganz von alleine. Amir hatte Recht behalten. Diesen Glatisant zu reiten, war überhaupt kein Problem. Im Grunde musste ich einfach nur auf seinem Rücken sitzen, da er sowieso tat, was er wollte, und stur den anderen Mounts hinterher trappte.

Ich hatte versucht ihn zu lenken. Seiner Meinung nach war es nicht richtig gewesen und daher hatte er es einfach ignoriert. Das hatte sowohl seine Vor- als auch Nachteile. Im Moment war das sture Hinter-Den-Anderen-Her-Trotten ein klarer Vorteil für mich. Ich konnte mich völlig auf meine Umgebung konzentrieren und meine Unsicherheit dadurch ein wenig von mir wegschieben.

Amir führte unseren kleinen Trupp zu einem schmalen Pfad, der sich an den Außenwänden nach unten schlängelte.

Kleine Steinchen und zähes Gewächs kreuzten unseren Weg. Hin und wieder entdeckte ich Überhänge oder kleine Höhlungen in dem rauen Hang. Hoch oben flog ein Phönix seine Kreise und ließ sich vom pfeifenden Wind der Schlucht davon tragen.

Es war eine seltsame Stimmung, in der ich mich mit jedem weiteren Schritt kleiner fühlte. Die Wände aus rotbraunem Sandstein wuchsen heran. Je tiefer wir kamen, desto höher waren sie. Verworrene Muster zeichneten die verschiedenen Schichten des Gesteins, doch nirgends gab es harte Ecken oder Ränder. Alles schien irgendwie … rund, als hätte der seltene Regen die scharfen Kanten einfach fortgespült und damit etwas geschaffen, wozu nicht einmal Magie fähig war.

Die Natur in ihrer ganzen Pracht.

Der Wind heulte wie ein Wolf durch die Spalten und Schächte. Die ganze Schlucht war davon erfüllt und überdeckte damit die leisen Geräusche, die unsere Mounts machten.

Die Jäger verhielten sich relativ ruhig. Manchmal ein Rascheln ihrer Federn oder ein Blöken von Primo. Selbst Guardian gab keinen Ton von sich. Es war so still, dass mir mit der Zeit klar wurde, dass wir uns bereits auf der Hatz befanden. Die Jäger hatten die Ohren gespitzt, bereit, sich dem zu stellen, was sich ihnen in den Weg zu stellen wagte.

Doch da kam nichts.  

Eine halbe Stunde dauerte es, bis wir unten angekommen waren, und von hier wirkte die ganze Umgebung noch viel eindrucksvoller. Alles war größer und völlig unüberschaubar. Allein von meinem Standpunkt aus konnte ich gleich sieben Höhleneingänge ausmachen. Was sich in den Winkeln außerhalb meines Sichtfelds befand, war nicht zu erkennen. Ich kam mir plötzlich unheimlich klein vor.

Amir ließ seinen Blick wachsam über unsere unmittelbare Umgebung wandern. Er versuchte sich nicht nur zu orientieren, sondern sich auch alles einzuprägen. Wer hier nicht wusste, woher er kam, konnte sich ganz schnell verlaufen.

An den Höhlen blieb er besonders lange hängen, so als wollte er herausfinden, ob sich darin etwas verbarg, das größer als eine Eidechse oder ein Käfer war. Schließlich wandte er sich Ryu zu. „Wo habt ihr den Saphir verloren?“

Der Engel gab ein stilles Zeichen, dass die anderen ihm folgen sollten, und wandte sich dann einem schmalen Durchgang zu, der aussah, als wäre das Gestein dort mit einer scharfen Axt gespalten worden – einer sehr großen, sehr scharfen Axt. 

Kaum dass ich dort eingetaucht war, wurde das Sonnenlicht bis auf einen spärlichen Rest ausgesperrt. Die Wände waren so glatt, als wäre jemand mit einer Poliermaschine drübergefahren. Nur weiter oben befand sich ein Loch, das wohl der Eingang zu einer Höhle war. Mein Blick verharrte dort einen Moment. Um da ranzukommen, hätten wir eine sehr lange Leiter gebraucht.

Ryu führte uns wieder aus der Spalte hinaus, dann nach links in eine etwas breitere Schlucht. Weiter ging es in einer Kurve. Rechts, links, links, rechts. Schon bald war ich ziemlich orientierungslos, doch Ryu schien ganz genau zu wissen, wohin er musste.

Das Bild, das uns umgab, änderte sich immer nur in Kleinigkeiten. Hier und dort mal ein vertrockneter Strauch oder spärliches Gestrüpp. Ein Felsen, der aus dem Gestein herausgebrochen war und mit einer Schuttlawine nun den Weg versperrte. Fußspuren von Tieren, das ausgeblichene Skelett eines Einhorns. Wir scheuchten auch ein paar Eutherias auf. Das waren kleine weiße Kletterbären, die für mich eine Mischung aus Flughörnchen, Ameisenbär und Waschbär waren. Vom Kopf über den Rücken bis zur Spitze des langen Schwanzes hatten sie einen schwarzen Streifen, der sich wie ein Kamm aufrichtete, als wir um die Ecke ritten und sie an den Steilhängen entdeckten.

Wahrscheinich sollte das Aufstellen des Kamms sie größer und bedrohlicher wirken lassen, doch ich fand sie einfach nur drollig. Lange blieben sie uns jedoch nicht erhalten. Einer von ihnen fauchte in unsere Richtung, woraufhin sie alle die Beine in die Hand nahmen und mit beachtlichem Geschick über die Hänge kletterten, bis sie ein Loch oder eine Spalte fanden, in der sie verschwinden konnten.

Das Letzte, was ich von ihnen sah, war eine kleine schwarze Schwanzspitze, die gleich darauf zwischen zwei Felsen verschwand.

Unser kleiner Trupp ließ sich von dieser Begegnung nicht aufhalten. Wir ritten weiter und zwar solange, dass ich mich irgendwann zu fragen begann, ob Ryu wirklich wusste, wohin wir mussten. Doch dann blieb er vor dem Eingang zu einer großen Höhle stehen.

„Hier ist er hinein“, sagte er zu unserem Anführer, als dieser neben ihm hielt.

Amir ließ seinen Blick durch den Höhleneingang im glatten Fels gleiten, doch viel gab es nicht zu sehen. Es war ein dunkles Loch und mir graute davor, hineinzugehen. Mein letztes Erlebnis mit einer Höhle hatte auch nicht unbedingt gut geendet.

Das Bild des roten Mannes blitzte vor meinem inneren Auge auf. Wie er mich aus dem Loch gezogen hatte, wie er mit seinem Sohn davon geeilt war. Und wie er nun im Lager am Pfahl festsaß und darauf wartete, dass die Jäger ihn wegbringen würden.

Noch heute Morgen hatte ich ihn gesehen. Auf dem Weg zum Frühstück war Guardian abgehauen, direkt dorthin. Zirpend hatte er am magischen Schild gestanden, als wollte er den Dämon wie einen alten Freund begrüßen. Ich hatte meinen kleinen Wächter so schnell es ging geschnappt und war mit ihm in die andere Richtung gelaufen. Doch den Blick des Rubins konnte ich sogar noch durch die Zelte in meinem Rücken spüren.

„Das wird nicht einfach werden.“

Amirs Worte rissen mich aus meinen Gedanken in das Hier und Jetzt.

„Ich möchte, dass ihr eure Augen und Ohren offen haltet. Tiara, du bleibst immer in unserer Nähe, keine Alleingänge.“

Nicht dass ich das vorgehabt hätte.

„Am besten bleibst du an Ryus Seite. Er kennt sich hier aus.“

„In Ordnung.“

„Kiran und Elias bilden die zweite Mannschaft. Gaio, du bleibst bei mir. Sollten wir uns aus den Augen verlieren, treffen wir uns bei Sonnenuntergang oben am Pfad. Haben das alle verstanden?“

Einheitliches Nicken.

„Dann lasst uns gehen.“ Amir tauchte in die Dunkelheit der Höhle ab und die anderen folgten ihm, ohne auch nur einen kurzen Moment zu zögern.

Ich dagegen hätte gerne noch ein klein wenig länger im Hellen gestanden, doch Primo folgte den anderen, ohne auf mich zu achten.

Und da schwand es hin, mein Sonnenlicht.

Augenblicklich wurde es nicht nur dunkler, sondern auch kühler. Die sengende Hitze dort draußen hatte hier drinnen keine Chance. Die feuchten Wände schienen sie auszusperren und sogar das Licht aufzusaugen. Es war fast unheimlich und je weiter wir gingen, desto dunkler wurde es. Einmal mehr fragte ich mich, warum man diese Kraterlandschaft Tal des Lichtes nannte. Das passte so gar nicht.

Die Schritte der Mounts wurden von den Wänden verschluckt. Alles klang irgendwie gedämpft. Es war, als wären wir mit dem Betreten der Höhle in einer anderen Welt gelandet.

Und es gab noch etwas, das sich veränderte. Mit jedem Schritt, den wir tiefer in diesen Tunnel vordrangen, wurde ich mir der Veränderung in der Luft deutlicher bewusst. Magie. Reine, unverfälschte Magie. Sie strich über meine Haut und streichelte meine Sinne. Nicht so wie in der Stadt. Hier war es … anders, sanfter. Wie die Umarmung einer liebenden Mutter.

Als wir auch das letzte bisschen Licht hinter und gelassen hatten und ich nicht einmal mehr die Hand vor Augen erkennen konnte, wartete ich darauf, dass einer der anderen Jäger Licht machen würde. Aber das geschah nicht. Ich zögerte noch einen kurzen Moment, hob dann aber die Hand, um selbst eine schwebende Lichtkugel zu erschaffen. In dem Moment leuchtete vor uns etwas auf. Nur kurz. Und nicht nur an einer Stelle. Es war auf dem Boden. Und … ich runzelte die Stirn. Es waren unsere Schritte, die aufleuchteten.

Jedes Mal, wenn ein Mount eine Pfote oder einen Huf auf den Boden setzte, leuchtete es an dieser Stelle gedämmt auf und erlosch erst wieder, wenn es sein Bein fortnahm.

„Was ist das?“

„Moos.“ Ryus Flügel raschelten, als er sie enger an den Körper zog.

„Leuchtendes Moos?“

„Es reagiert auf Berührung.“

Fluoreszierendes Moos, das bei Berührung grün aufleuchtete. Jetzt hatte ich wirklich alles gesehen. Aber … müsste es dann hier nicht irgendwo eine Lichtquelle geben? Nur … Moment, jetzt verstand ich. „Heißt dieser Ort deswegen Tal des Lichtes?“

Ryu nickte. In dem wenigen Licht war zwar nicht viel zu sehen, aber die Bewegung erkannte ich. „Die Magie liegt hier sehr nahe unter der Oberfläche. Es ist ihre Strahlung, die dafür verantwortlich ist.“

Das würde erklären, warum ich hier die Magie so stark spürte.

Solltest du der Magie entsagen, wirst du vielleicht noch ein paar Monate leben können, aber diese Monate werden wahrscheinlich nicht angenehm sein. Doch schlimmer wird es sein, wenn du Magie einsetzt. Jedes Mal, wenn du mit ihr in Berührung kommst, wirst du das körperlich spüren – stärker als jede andere Hexe.

Ich musste den plötzlichen Impuls, die Höhle fluchtartig zu verlassen, unterdrücken. Ich wollte die Wahrheit in diesen Worten nicht sehen, versuchte weiterhin, mir zu sagen, dass es nur eine Lüge sein konnte, doch ich hatte es gespürt. Ich wollte es nicht wahrhaben, aber die Zeichen sprachen dafür. Und auch, wenn die Magie mir im Moment nicht zusetzte, so konnte ich nichts gegen die Erinnerung tun. Meine Silhouette, die beiden Magien darin, die sich bekämpften. Und am Ende löste sich alles einfach in Luft auf.

Meine Hände umklammerten den Sattelknauf so sehr, dass das Leder unter meinem Griff knarzte. Nein. Nicht hier, nicht jetzt. Das war weder der geeignete Ort noch der geeignet Moment, um sich damit zu beschäftigen, aber plötzlich konnte ich es nicht mehr aufhalten. Wenn die alte Hexe nun doch die Wahrheit gesagt hatte, was machte ich dann noch hier? Und warum hatte es ausgerechnet mich getroffen und nicht Kiran oder Asha? Die beiden übten doch auch Magie aus. Das war …

Ein Rauschen holte mich aus meinem Gedanken. Es war das Geräusch von fließendem Wasser.

Als ich den Blick wieder nach vorne richtete, bemerkte ich, dass wir das Ende des Tunnels erreicht hatten. Und was uns dahinter begrüßte, war vor allem eines: Licht.

Meine Augen wurden vor Staunen riesig und mir fiel wortwörtlich die Kinnlade herunter.

Hinter dem Tunnel lag eine Höhle. Nein, das war nicht nur eine Höhle, das war ein riesiges Gewölbe mitten im Berg. Hier drinnen hätten ein Dutzend ausgewachsener Drachen locker Platz gehabt – mindestens.

Die raue Felswand war mit kleinen Höhlungen, Eingängen zu weiteren Tunneln und Vorsprüngen übersät. Nicht nur unten am Boden, nein, das zog sich bis weit nach oben. Der Boden war mit diesem Moos bedeckt. Und Tausend verschiedener Pflanzen. Riesige Blüten, die mich an Orchideen und Lilien erinnerten. Blütenkelche, Flamingoblüten, Mimosen und die blaue Jungfer. Farbenfrohe Reben wickelten sich um Bäume und Sträucher. Da waren Exoten wie die Paradiesvogelblume, Tropica und die Heliconien. Doch am meisten beeindruckte mich ein Büschel Passionsblüten.

Und sie alle, jede einzelne von ihnen, leuchteten in fluoreszierendem Licht. Bei manchen waren es nur die Ränder, bei anderen das exotische Innenleben oder Streifen auf den Blütenblättern. Und das in so vielen Farben. Gelb, rot, blau. Abstufungen, Mischungen. Es war alles dabei.

Diese Farbenpracht. Ich konnte mich nicht sattsehen.

Aber das Beeindruckteste war wohl der Wasserfall. Er brach einfach aus der linken Wand hervor, ergoss sich in eine Schneise im Boden und floss quer durch die Höhle zur anderen Seite und dort wieder hinaus. Er war von einem solch kristallklaren Blau, dass ich bis auf den Grund sehen konnte. Auch dort drinnen wuchsen Blumen. Teufelsblüten, schwarze Teufelsblüten, deren Fühler und Gräser sanft in der Strömung schwammen, ohne jemals von der Stelle zu kommen.

Und das Wasser selbst strahlte auch ein blaues fluoreszierendes Licht ab, das die Höhle und die Kletterpflanzen an den Wänden erhellte.

Dieser Ort, es war nicht nur eine Oase, nein, es war das Paradies. So wunderschön. „Wow“, flüsterte ich. Mein Blick glitt durch die ganze Höhle, um auch jede noch so kleine Kleinigkeit in mich aufzunehmen.

Kiran warf mir einen amüsierten Blick zu, während unser kleiner Konvoi sich durch die Höhle bewegte und mit jedem Schritt das Moos ausleuchten ließ. „Sowas hast du wohl noch nie gesehen, was?“

„Höchstens im Fernseher.“

Gaio runzelte die Stirn. „Was ist ein Fernseher?“

„Ein Gerät, mit dem man Filme abspielen kann.“

„Filme?“

Ein kleiner Frosch sprang ins Wasser, als wir an ihm vorbeiritten. Er hatte Streifen auf dem Rücken, die auch leuchteten. Und dort hinten flogen Insekten von Blüte zu Blüte. Auf einem der Vorsprünge entdeckte ich wieder diese kleinen Eutherias, die uns misstrauisch beobachteten. Dieser Ort lebte und atmete.

„Tiara? Was sind Filme?“

Ich schaute zu Gaio und zog den Bruchteil einer Sekunde in Betracht, ihm auf diese Frage zu antworten, aber mir lag selber eine Frage auf der Zunge, die ich für viel interessanter hielt. „Warum leben die Jäger nicht hier? Ich meine, hier ist es nicht so heiß und es gibt ausreichend Wasser und ist auch viel geschützter.“ Außerdem war es viel schöner.

Gaio schnaubte.

Das verstand ich nicht.

„Was unser Sonnenschein damit sagen will, ist, dass es hier viel gefährlicher ist“, erklärte Kiran.

Das verstand ich auch nicht. „Gefährlicher?“

Ryu wandte sich mir zu. „Dieser Ort mag auf dem ersten Blick besser geeignet scheinen, aber aufgrund seiner Vielfalt, des Wassers und auch der Nahrung, die du hier in jeder Höhle finden kannst, werden auch andere Wesen angezogen.“

„Dämonen?“

Ryu wiegte den Kopf. „Auch, aber eher selten. Oftmals ziehen Einhörner durch diese Höhlen, genau wie Felidaes.“

„Felidaes?“

„Große schwarze Raubkatzen mit weißen Streifen und kleinen Pinseln am Ohr. Die männlichen Tiere tragen eine Mähne.“

Das hörte sich für mich wie eine Mischung aus schwarzem Panther und Tiger, mit einer Prise Löwe und einem Quäntchen Luchs an.

„Ich habe auch schon einen Phönix hier drinnen nisten sehen“, warf Kiran noch ein. „Und glaub mir, wenn ich dir sage, dass man sie besser nicht belästigt, wenn sie gerade brüten.“

„Es gibt eine Vielzahl von Wesen, die sich hierher begeben, weil das Angebot an diesem Ort so reichhaltig ist“, erklärte Ryu weiter. „Und nur wer dumm ist, verweilt länger als nötig.“

Das leuchtete ein – irgendwie.

Eine Bewegung im Augenwinkel ließ mich den Kopf drehen, aber es war nur einer der Eutherias, der eilig in einem Loch im Gestein verschwand. Doch plötzlich schien sich in jedem Schatten etwas zu bewegen. Ob es nun ein Insekt war, ein Frosch oder eine unförmige Beutelratte. Guardian schaffte es sogar, wieder eine Eidechse aufzustöbern, hinter der er her wetzte, nur leider war das kleine Vieh schneller als er und verkroch sich in einer Felsspalte, in die Guardian beim besten Willen nicht hinein kam.

Armer, kleiner Wächter.

„Lass dich nicht ablenken“, befahl Amir plötzlich. Er war am Ausgang der Höhle stehen geblieben und wartete auf uns. „Es ist wichtig, dass du wachsam bleibst.“

Damit uns der Dämon, den wir suchten, nicht durch die Lappen gehen konnte. Für einen Augenblick hatte ich doch wirklich den Grund unseres Aufenthalts vergessen. Aber nun schienen sich meine Sinne zu schärfen. Hier lebten nicht nur Tiere, die uns gefährlich werden konnten, laut Ryu und Elias trieb sich hier auch ein Saphir herum. Und auch, wenn ich deswegen ein schlechtes Gewissen bekam, so hoffte ich, dass wir ihn nicht fanden. Trotzdem war ich nun aufmerksamer.

Von dieser Höhle ging es weiter in den nächsten Tunnel. Die Pflanzenwelt nahm ein wenig ab, doch sie ließ sich nicht vertreiben. Und es kamen immer neue Blumen dazu. Kelche, Glocken. Eine sah aus wie ein Strudel.

Dieser Tunnel war länger, aber auch er endete in einer Höhle. Sie war kleiner als die erste, doch auch hier hatte die üppige Natur nicht haltgemacht. Und wieder schien in jedem Schatten etwas zu lauern. Ich wusste nicht warum, aber plötzlich kam ich mir beobachtet vor. Ich konnte nur hoffen, dass es nichts mit langen Zähnen und großem Appetit war.

Am anderen Ende der Höhle sah ich Sonnenlicht und als wir darauf zuritten, kamen wir auf eine kleine, trostlose Lichtung, die uns zur nächsten Höhle führte. Sie war sogar noch größer als die erste, doch allein die Hälfte von ihr bestand aus einem riesigen, fluoreszierenden See, auf dessen Oberfläche seerosenähnliche Blumen schwammen. Und wieder fühlte ich mich beobachtet.

Ich sah mich um, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Litt ich jetzt etwa schon unter Verfolgungswahn? Langsam kamen mir diese Höhlen nicht mehr so paradiesisch vor.

„Was hast du?“, fragte Ryu, dem wohl aufgefallen war, wie nervös ich mich umsah.

„Was?“ Hastig setzte ich ein Lächeln auf. „Ach nichts.“

„Sicher?“

„Ja. Ich dachte nur …“ Ich winkte ab. „Vergiss es. Wahrscheinlich macht diese Atmosphäre mich einfach nur ein wenig nervös.“

„Angst zu verspüren ist keine Schande“, erklärte er, als wäre es eine Glückskeksweisheit. „Was glaubst du, wie wir uns alle bei unserer ersten Jagd gefühlt haben? Kiran hat dir ja schon ein wenig von seiner erzählt. Und egal, was er gesagt hat, nicht sein Mount ist schuld gewesen. Das Tier hat einfach nur seine Nervosität gespürt.“

„Na, zum Glück sitze ich auf Primo.“ Den brachte so schnell nichts aus der Ruhe.

Ryu lächelte leicht. „Bleib einfach nur dicht bei uns, dann kann dir nichts passieren.“

Nichts anderes hatte ich vor.

Immer weiter zogen wir durch das Tal des Lichtes. Paradiesische Höhlen wurden von kargen Lichtungen abgelöst. Die Zeit schlich dahin. Sekunden, Minuten, Stunden. Gegen Mittag machten wir eine kleine Pause, um uns zu stärken, aber auch als wir ritten, fanden wir nicht, wonach wir suchten. Ich behielt es für mich, aber insgeheim erfreute mich diese Tatsache. Ich wollte einfach nicht daran schuld sein, dass ein Dämon an einem dieser Pfähle landete – auch nicht, wenn es für die Allgemeinheit besser war.

Nach langem Suchen landeten wir in einer weiteren Höhle. An der rechten Wand zog sich ein Bach entlang, der leise dahin plätscherte.

Guardian schnüffelte an einem blauen Riesenpilz mit Fransen am Schirm. Als der Kleine die Fransen streifte, fluoreszierten sie auf und warfen einen glitzernden Staub ab, der ihn zum Niesen brachte. Das hinderte ihn aber nicht daran, die Nase gleich noch einmal reinzustecken.

„Guardian“, mahnte ich.

Er warf mir nur einen kurzen Blick zu und lief dann zum nächsten Pilz. Wahrscheinlich langweilte ihn diese Jagd einfach. Aber leider hatten wir das Ende der Höhle fast erreicht. Amir war sogar schon in die nächste geritten – die anderen dicht hinter ihm. Wenn der Kleine sich nicht ranhielt, würde er zurückbleiben.

„Guardian“, rief ich erneut, aber ich bekam genauso wenig Aufmerksamkeit wie vorher. Primo reagierte auch nicht darauf, dass ich ihn zügeln wollte. Störrisch lief er hinter den anderen hinterher. Und dann lief mein kleiner Wächter auch noch in die andere Richtung. Super.

„Schluss jetzt“, schimpfte ich, zog kräftig an den Zügeln und versuchte diesem eigensinnigen Glatisant klarzumachen, dass es mein Ernst war. Trotzdem war ich überrascht, als er wirklich stehen blieb.

Ryu bemerkte es sofort und zügelte Okano. „Was ist los?“

„Guardian verselbstständigt sich gerade.“ Ich schwang mich von Primos Rücken, weil das einfach schneller ging, als ihn davon zu überzeugen, dass ich nun die Richtung vorgab. „Bin gleich zurück.“

„Moment.“ Ryu rief den anderen zu, dass wir gleich wieder da wären, und ritt dann mit Okano an meine Seite.

Primo dagegen folgte trotzig den anderen. Es schien ihn nicht zu stören, dass ich nicht mehr auf seinem Rücken saß. „Sturer Esel“, murmelte ich und sah zu Ryu auf. „Du musst mich nicht begleiten. Ich …“

„Amirs Anweisungen waren deutlich. Keine Alleingänge.“

Da ich nur ans andere Ende der Höhle wollte, um meinen kleinen Ausreißer einzufangen, fand ich das ein wenig übertrieben. Aber ich behielt meine Meinung für mich und wandte mich stattdessen meinem Ziel zu. Auch unter meinen Schritten leuchtete das Gras auf. Als ich beim Laufen eine große, fächerförmige Blüte streifte, klappte sie sich blitzschnell zusammen. Als ich das sah, konnte ich einfach nicht widerstehen und musste noch eine weitere berühren. Und noch eine. Ich kicherte. „Jeden Tag wird ein neuer Blumenstrauß auf dich warten. Rote Rosen und Ringelblumen, Lobelien und blutrote Dahlien, dazu ein Liebeslied. Und dann wirst du für immer mein sein.“ Ich lächelte Ryu an.

„Mir scheint, du hast für jede Gelegenheit ein Lied parat.“

Wenn ich so darüber nachdachte, dann musste ich ihm zustimmen. „Scheint so.“

Als Guardian laut zirpte, besann ich mich darauf, was ich hier eigentlich tat. Ich drehte mich um, sah gerade noch, wie er die Ohren aufrichtete und dann mit einem Affenzahn davonschoss.

„Guardian!“ Verdammt. Pilze und Blumen waren vergessen. Ohne darüber nachzudenken, rannte ich meinem kleinen Freund hinterher.

„Tiara, warte!“

„Gleich.“ Erst musste ich diesen kleinen Ausreißer einfangen. Er war hinter einen Busch mit leuchtenden Karamellblüten gelaufen.

Wäre Ryu der Typ dafür, hätte er jetzt wohl einen Fluch ausgestoßen. Doch so ritt er einfach nur stumm hinter mir her, als ich das Gebüsch umrundete. Doch zu meiner Überraschung fand ich Guardian dort nicht. Dafür aber einen Tunneleingang, der in den Boden hineinführte.

Ich schaute nach links und rechts, in der Hoffnung, dass Guardian nicht dort hineingelaufen war, doch dann hörte ich ihn zirpen. Das Geräusch kam aus dem Tunnel. „War ja klar“, grummelte ich.

„Tiara!“ Ryu kam um den Busch und konnte dabei zusehen, wie ich gerade in den Tunnel verschwand.

Sofort wurde es um mich herum dunkler. Nur das Moos unter meinen Füßen gab ein wenig Licht ab. Und der Tunnel war auch nicht sehr groß. Ich musste halb geduckt laufen, um mir nicht den Kopf zu stoßen. Warum nur musste Guardian seinen eigenen Willen haben?

Als Ryu hinter mir zischte, wusste ich, dass er den Kopf nicht tief genug gehalten hatte.

Ich warf nur einen kurzen Blick über die Schulter, blieb aber nicht stehen.

Der Tunnel beschrieb einen Bogen und dann ging es nach oben. Schon von weitem konnte ich das Ende erkennen. Es wurde wieder heller. Und dann war da ein Geräusch, das ich heute schon ein paar Mal vernommen hatte. Das Geräusch von fallendem Wasser.

Nur noch ein paar Schritte, dann fand ich mich in einer weiteren Höhle wieder. Wie auch die anderen, war sie eine Oase der Exoten. Im hinteren Teil befand sich ein großer See, der von einer Wand aus leuchtendem Wasser befüllt wurde. Wow. Das war kein Wasserfall, das war eine Wasserwand, auf der hunderte von kleinen grünen Blumen wuchsen, die wie Kristall glitzerten. Und da war auch Guardian.

Er trippelte am Ufer auf und ab, zirpte aufgeregt und stellte die Ohren auf. Sein Blick war auf die Wasseroberfläche gerichtet.

Ein Stein fiel mir vom Herzen. „Da bist du ja, du kleiner Ausreißer.“

Bei meiner Stimme schaute er kurz zu mir rüber und begann dann mit einer Pfote am Ufer zu scharren, nur um gleich darauf wieder aufgeregt hin und her zu trippeln.

„Hast du was gefunden?“ Meine Beine trugen mich durch die Höhle an seine Seite und erst, als ich mich neben ihn hockte und ihm eine Hand auf den Rücken legte, beruhigte er sich. Aber seinen Blick nahm er dennoch nicht vom Wasser.

Neugierig, was meinen kleinen Freund so reizte, ließ ich meinen Blick übers Wasser gleiten, aber bis auf ein paar Blumen, die friedlich auf der Oberfläche dümpelten, und den ein oder anderen Frosch, konnte ich nichts entdecken. „Was hast du denn?“

Wenn er hätte sprechen können, so hätte er es wohl getan. Doch so, wie die Dinge nun mal lagen, konnte er nur zirpen und mit der Pfote ins Wasser platschen.

Stirnrunzelnd sah ich wieder auf das kristallklare Blau. Als ein pupillenloses Paar blauer Augen zurückstarrte, erschrak ich halb zu Tode. Hinter mir hörte ich noch Ryu nach mir rufen. In dem Moment schoss ein blauer Arm aus dem Wasser. Es ging so schnell, dass ich nicht mehr ausweichen konnte.

Guardian machte einen überraschten Satz nach hinten.

Mein Schrei blieb mir in der Kehle stecken, als ein eisenharter Griff mich in die Fluten zerrte. Ich klatschte auf die Oberfläche. Im nächsten Moment war da nur noch Wasser.

Ich schlug panisch mit meinem Arm um mich, strampelte mit den Beinen. Um mich herum stiegen Luftblasen nach oben, während der Atem in meinen Lungen schwand. Und dann sah ich, was mich da gepackt hatte. Ein Saphir.

Durch seine blaue Haut war er in dem fluoreszierenden Wasser fast unsichtbar. Und er war viel stärker, als er es an Land gewesen wäre. Doch was ich deutlich erkennen konnte, war der kalte Blick in seinen Augen.

In dem Moment wurde mir klar, dass er versuchte, mich zu ertränken.

Das Herz in meiner Brust begann ums Überleben zu schlagen, während ich versuchte, mich mit Händen und Füßen gegen ihn zu wehren, und meine Lunge begann, nach Sauerstoff zu schreien.

Als er mir einen Schlag gegen die Brust versetzte, schnappte ich reflexartig nach Luft, doch was kam, war ein Schwall Wasser, unter dem meine Lungenflügel sich schmerzhaft zusammenzogen.

Plötzlich ließ der Dämon mich los. Sofort paddelte ich nach oben und durchbrach hustend und prustend die Wasseroberfläche.

Mein Blick war verschwommen, doch Guardians Gezirpe wies mir die Richtung zum Ufer.

Ich wusste nicht, wie ich es schaffte, aber auf einmal spürte ich das Moos am Ufer unter meinen Händen und zog mich schwer atmend hinauf. Meine Brust schmerzte, meine Lunge brannte und mein Herz klopfte wie Buschtrommeln. Guardian wollte sich einfach nicht beruhigen. Gehetzt lief er am Wasser auf und ab und zirpte wie verrückt.

Erst als ich einen Blick über die Schulter warf, wurde mir der Grund dafür klar. Und auch, warum der Dämon mich auf einmal losgelassen hatte.

Ryu.

Er musste mir hinterhergesprungen sein. Das Wasser war so klar, dass ich genau sehen konnte, wie er versuchte, den Dämon zu überwältigen. Doch der befand sich in seinem Element. Dort unten war er stärker. Nicht nur, dass das Wasser ihm Kraft verlieh, er konnte unter der Oberfläche auch atmen – Ryu nicht.

Mit einem Schlag wurde mir klar, was das bedeutete. Wenn ich nichts unternahm, würde der Engel ertrinken, und das wäre meine Schuld. Aber was sollte ich tun? Auch mir fehlten die Kiemen.

Schwachstelle!

Jeder Dämon hat eine Schwachstelle, du musst sie nur kennen.

Und ich kannte sie. Die Schwachstelle eines Saphirs war Strom. Aber wenn ich das Wasser unter Strom setzte, würde nicht nur der Dämon das spüren. Es könnte Ryu töten.

Denk, denk, denk!

Ich könnte das Wasser zum Kochen bringen, aber auch das würde Ryu schaden. Genau wie wenn ich es zu Eis erstarren ließe.

Als das Wasser sich plötzlich in Bewegung setzte, schrak ich zurück. Unter der Oberfläche bildete sich ein Strudel und er war dabei, Ryu in sich aufzusaugen.

„Nein!“ Ich musste etwas tun, sofort! Aber egal, was mir in den Sinn kam, solange das Wasser da war, würde ich damit auch Ryu gefährden. Das Wasser musste … weg.

Ein irrwitziger Gedanke nahm in meinem Kopf Gestalt an. Aber es war die einzige Chance, die ich sah.

Ich krabbelte wieder ans Ufer, bis das Wasser an meiner Hose leckte. Doch dann zögerte ich. Ich würde meine Magie brauchen, ohne ging es nicht.

Solltest du der Magie entsagen, wirst du vielleicht noch ein paar Monate leben können, aber diese Monate werden wahrscheinlich nicht angenehm sein. Doch schlimmer wird es sein, wenn du Magie einsetzt. Jedes Mal, wenn du mit ihr in Berührung kommst, wirst du das körperlich spüren – stärker als jede andere Hexe.

Direkt vor meinen Augen wurde Ryu vom Strudel verschlungen.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich meine Magie erwachen ließ, bis ich sie in jeder Zelle spüren konnte. Mein Kopf war nur von einem Gedanken erfüllt. Teile dich. Und das Wasser tat, was ich von ihm verlangte.

Wie von zwei Glasscheiben gehalten, spaltete das Wasser sich in der Mitte – genau im Strudel – und schob sich nach links und rechts. Wellen schwappten übers Ufer und überschwemmten die ganze Höhle.

Der Dämon brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, was hier gerade geschah. Der Strudel zerstob, Ryu landete hustend auf den trockenen Grund des Sees, während der Saphir zurück ins Wasser springen wollte. Genau in dem Moment ließ ich es zu Eis werden.

Innerhalb eines Wimpernschlags erstarrte das Wasser einfach. Der Dämon brüllte auf. Er hatte bereits einen Arm darin gehabt und war nun festgefroren. Wie ein Verrückter zog und zerrte er, um freizukommen, doch der Eisblock hielt ihn gefangen.

Seine Augen waren in Panik aufgerissen, als Ryu begann, sich zu bewegen. Doch seine Bewegungen waren schwerfällig und ungelenk, seine Flügel und Kleider mit Wasser vollgesogen und sein Atem nur ein rasselndes Geräusch. 

Der Dämon zerrte heftiger. Das Eis um seinen Arm begann zu bröckeln. Lange würde es ihn nicht mehr halten können.

Wie in Trance erhob ich mich und nahm meinen Stab vom Rücken. Ich wusste, was ich zu tun hatte, und auch wenn es mir nicht gefiel, so konnte ich nicht zulassen, dass der Dämon entkam und sich auf Ryu stürzte.

Meine Beine trugen mich fast gegen meinen Willen auf den Grund des Sees.

Der Saphir wirbelte zu mir herum. In seinen Augen stand die Angst.

Als ich vor ihm zum Stehen kam, hob ich den Stab und versuchte die Panik in seinen Augen auszublenden. „Es tut mir leid“, flüsterte ich und ließ den Stab auf seinen Kopf sausen.

Er brach einfach zusammen und mit ihm verließen mich auch meine Kräfte. Meine Beine gaben nach, der Stab rutschte mir aus der Hand und während Ryu noch hustend darum kämpfte, sich wenigstens aufzusetzen, sackte ich einfach in mich zusammen.

Nicht mal die aufkeimende Übelkeit oder der leichte Schwindel beunruhigten mich so sehr wie der Anblick, der sich mir bot. Der Dämon, halb im Eisblock eingefroren, bewusstlos in sich zusammengebrochen, mit einer großen Platzwunde an der Schläfe.

Das war ich! Oh Gott. Ich war dafür verantwortlich. Wegen mir würden die Jäger das Gleiche mit ihm machen, was sie auch mit den anderen taten. Nur weil ich ihn entdeckte hatte, würde er sterben. „Es tut mir leid“, flüsterte ich erneut.

So fanden die anderen Jäger uns nach einiger Zeit. Ich würde wohl niemals vergessen, was Amir tat, als er zu uns auf den Boden des Sees sprang, wie er den Arm um meine Schultern legte und sagte: „Das hast du gut gemacht, jetzt bist du eine richtige Jägerin, jetzt bist du eine von uns.“

In seiner Stimme schwang der Stolz mit, der mir fehlte. Ja, jetzt war ich eine von ihnen, aber zu welchem Preis?

 

°°°

 

Gedankenverloren starrte ich auf die spiegelglatte Wasseroberfläche in der Lagune. Ich hatte zugesehen, wie sie den Saphir an den Pfahl gebunden hatten, gleich neben den Rubin. Wegen mir hing er nun dort. Durch meine Hand hatten die Jäger ihn gefangen nehmen können.

Ich blickte auf meine Finger. Sie sahen aus wie immer und trotzdem hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, als würde Schmutz daran haften. Aber es war nicht die Art von Schmutz, die man mit Händewaschen in den Abfluss spülte. Das, was ich getan hatte, würde mich mein ganzes Leben lang begleiten. Nicht mal der Fakt, dass ich Ryu mit meiner Tat das Leben gerettet hatte, konnte meine gedämpfte Stimmung heben.

Der Dämon befand sich nun in den Händen der Jäger und es war meine Schuld.

Seufzend schlang ich die Arme um meine Beine und schaute den Sonnen dabei zu, wie sie am Horizont langsam der Nacht entgegenstrebten. Ihr rötliches Licht spiegelte sich in der Wasseroberfläche, die sich durch eine kleine Brise leicht kräuselte.

Ich war so in meinen Gedanken versunken, dass ich Guardian erst bemerkte, als er mich mit der Nase anstupste.

„Habe ich das Richtige gemacht?“, fragte ich ihn leise.

Er spitzte die Ohren und zirpte, doch auch in seinen Augen konnte ich die Antwort auf diese Frage nicht finden.

Ich streckte die Hand aus und kraulte ihn hinter dem Ohr, bis er genüsslich die Augenlider sinken ließ. Wenn er gekonnt hätte, hätte er vermutlich geschnurrt. Deswegen war ich auch ein wenig erstaunt, als er plötzlich den Kopf wegdrehte und die Ohren spitzte. Er schaute in die Höhlung neben der Lagune und zirpte. Dann lief er ein paar Schritte darauf zu, drehte mir den Kopf zu und zirpte wieder.

„Was ist los?“

Noch ein Zirpen.

„Hast du eine Eidechse gesehen?“

Da er zu mir zurückkam, vorsichtig in mein Hosenbein biss und daran zerrte, war dem wohl nicht so.

„Was ist denn? Hey … okay, okay, ich hab verstanden.“

Erst als ich mich bewegte und auf die Beine kam, ließ er von mir ab und lief wieder in Richtung Höhlung. Es war nicht direkt eine Höhle, eigentlich nur ein Vorsprung, der halb über das Wasser ragte. Mit der Zeit hatten sich an den Seiten Gesteinsbrocken gelöst und bildeten nun eine zusätzliche Wand. Vielleicht war das ja beim Erdbeben damals passiert. Ich konnte mich nicht daran erinnern.

Guardian wartete, bis ich auf seiner Höhe war, dann schoss er los und im nächsten Moment war er im Geröllhaufen verschwunden.

Ich runzelte die Stirn und erinnerte mich daran, dass er auch gestern so schnell abgezischt war – kurz bevor Amir in der Sandgrube aufgetaucht war. Auch heute im Tal des Lichtes. Ein ungutes Gefühl beschlich mich. „Guardian?“

Aus dem Geröllhaufen war ein seltsamer Laut zu hören, den ich nicht zuordnen konnte, dann ein Zischen, gefolgt von Guardians aufgeregtem Zirpen. Er kam herausgerannt, als wollte er sichergehen, dass ich auch wirklich kam, zirpte mich an und verschwand wieder.

Was auch immer sich in diesem Haufen befand, es gefiel meinem kleinen Freund. Ich hatte ihn noch nie so aufgeregt gesehen. Aber das hieß noch lange nicht, dass es ungefährlich war, oder? Ich ging lieber auf Nummer sicher und näherte mich der Höhlung mit äußerster Vorsicht. Kurz bevor ich in die Schatten eintauchte, rief ich sogar meine Magie herbei und ließ einen knisternden Blitz über meine Finger springen. Über die Konsequenzen dachte ich im Moment nicht nach. Es war besser, einmal den Kopf auszuschalten.

Guardians Zirpen war verstummt, aber nun war ich so nahe dran, dass ich die Spitzen seiner Schwänze hinter einem Felsen hervorschauen sah.

Das Dämmerlicht machte es schwer, etwas zu erkennen. Ich musste die Augen ein wenig zusammenkneifen, aber dann entdeckte ich den Spalt zwischen dem Geröll und der Wand des Felsmassivs. Die Steinbrocken waren so gefallen, dass sie eine kleine Höhle bildeten. Sie war so klein, dass ich dort nur mit Mühe und Not hineingepasst hätte, Guardian dagegen hüpfte darin auf und ab, als hätte er einen Flummi verschluckt.

Ich bückte mich ein wenig, kniff die Augen bis auf einen Schlitz zusammen, aber erst, als ich die Hand hob und das schwache Licht des Blitzes in den Spalt schien, erkannte ich, was Guardian gefunden hatte.

Oh. Mein. Gott.

Nein, oh nein, das durfte nicht wahr sein. Meine Augen mussten mir einen Streich spielen, aber auch, als ich sie für einen Moment zusammenkniff und wieder öffnete, änderte sich das Bild nicht.

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch das, was ich da sah, hatte mir glatt die Sprache verschlagen. Es war … schrecklich.

In diesem Loch, die Augen weit aufgerissen, saß ein kleiner, schmächtiger Junge, der sich mit dem Rücken furchtsam gegen den Fels drückte. Er war so verängstigt, dass er am ganzen Körper zitterte. Er musste um die zehn Jahre alt sein. Doch das größte Problem war, dass mir dieser Junge nicht unbekannt war. Es war der kleine Rubin, den ich an meinem ersten Tag vor den Einhörnern gerettet hatte.

In der Höhle saß ein Dämon, besser gesagt, ein Dämonenkind. Ein … ein Kind der Dämonen. Und seine Nachbarn waren Jäger der Dämonen. Ein Kind. Oh Gott, es war ein Kind!

Die Magie in meiner Hand erstarb so schnell, als wäre sie einfach verpufft. Nur einen Moment starrte ich in die Schwärze, dann fuhr ich auf und machte ein paar hastige Schritte aus der Höhlung hinaus. Ich lief ein paar Meter, schaute dann wieder zurück und konnte einfach nicht fassen, was hier gerade passierte. Guardian hatte schon wieder einen Dämon gefunden. Was sollte ich denn jetzt tun?

Ich konnte den Jungen doch nicht darin sitzen lassen oder gar so tun, als wüsste ich nichts von seiner Anwesenheit, aber den Jägern konnte ich auch nicht Bescheid sagen. Der Junge war ein Rubin und ich glaubte nicht, dass sie vor ihm Halt machen würden, nur weil er ein Kind war.

„Scheiße!“, fluchte ich, denn das fasste diese Situation sehr gut zusammen. Mein Blick war auf die Höhlung gerichtet. Guardian schaute etwas verwundert hinaus und zirpte. Er verstand meine Reaktion nicht. Wie denn auch, er war nur ein Tier.

„Scheiße, Scheiße, und nochmal Scheiße!“ Normalerweise fluchte ich ja nicht, aber in diesem Moment war es einfach angebracht, denn noch klarer als die Tatsache, dass die Jäger nichts von ihm erfahren durften, war die Tatsache, dass ich ihn hier wegschaffen musste, bevor die Jäger ihn entdeckten. Etwas anderes würde ich mit meinem Gewissen absolut nicht vereinbaren können.

Aber wo sollte ich ihn hinbringen? Dämonen waren in der ganzen magischen Gesellschaft in Verruf. Außerdem würde es auffallen, wenn ich einfach verschwand.

Am liebsten hätte ich noch mal geflucht, aber das würde mich nicht weiterbringen, der Kleine würde sich nämlich nicht einfach in Luft auslösen. Ich musste mit ihm reden.

Verstohlen blickte ich mich nach allen Seiten um, um sicherzugehen, dass ich auch wirklich allein war. Für seine Entdeckung verantwortlich zu sein, war das Letzte, was ich wollte. Zur Sicherheit spann ich sogar noch einen kleinen Zauber, den ich an der Ecke des Felsmassivs ablegte. Sollte sich ihm jemand näheren, würde er mich sofort warnen.

Dann sah ich mich noch ein zweites Mal um, bevor ich wieder in die Höhlung schlüpfte und eine kleine Lichtkugel beschwor, die über meinem Kopf schwebte.

Der Junge hatte sich keinen Millimeter bewegt, doch seine Angst ging in Wellen von ihm aus. Guardian dagegen hatte sich endlich beruhigt und lag nun in dem Spalt, als würde er auf etwas warten.

Ich sah den Jungen an. Er hatte Angst vor mir. Vermutlich wusste er, wer ich war – ich war der Feind. Ich musste ihn beruhigen, aber wie sollte ich das machen?

„Hey … ähm … kennst du mich noch?“ Ich erwartete nicht wirklich eine Antwort, trotzdem gab ich ihm einen Moment, um auf die Frage zu reagieren. Doch die einzige Reaktion, die ich bekam, war sein verkrampftes Schlucken. „Du und dein Vater habt mir mal das Leben gerettet, weiß du noch? Mit den Einhörnern.“

Guardian hob den Kopf und schaute mich an, als wollte er mich fragen: „Was soll der Blödsinn?“

Ich ignorierte ihn. „Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, mich dafür bei dir zu bedanken, also … danke.“ Ich versuchte es mit einem freundlichen Lächeln, doch der Junge schien vor Angst regelrecht erstarrt zu sein. „Hm, vielleicht sollte ich mich erstmal vorstellen. Also ich bin Tiara, aber du kannst mich auch Tia nennen.“ Ich streckte ihm die Hand entgegen und bekam dafür die erste Reaktion, die er seit seiner Entdeckung von sich gab. Er zuckte davor zurück. Natürlich tat er das. Ich war so dumm. Er hatte Angst vor mir und damit, dass ich ihm so auf die Pelle rückte, machte ich es wahrscheinlich nicht besser.

Nachdenklich rieb ich mir über die Stirn. „Hör zu. Ich weiß, du wirst mir das vermutlich nicht glauben, aber ich bin nicht hier, um dir etwas zu tun, du brauchst also keine Angst haben.“

Seine Augen ließen mich keinen Moment los.

„Okay, dann versuchen wir es anders. Weißt du, wo du hier bist?“ Vielleicht reagierte er ja endlich, wenn ich ihm verständlich machen konnte, in wie großer Gefahr er schwebte. „Du bist im Lager der Dämonenjäger. Weißt du, was Dämonenjäger tun?“

In seinen Augen glomm etwas auf, das ich einem Kind niemals zugetraut hätte. Hass. „Ihr habt meinen Papá“, sagte er so leise, dass ich es fast nicht verstanden hätte, und diese wenigen Worte aus dem Mund eines Kindes reichten aus, damit mein Gewissen aufbrüllte.

Das hier ist nicht richtig!

„Ja“, sagte ich schwach. „Dein Vater ist … hier.“

„Ich will zu meinem Papá.“

Oh Gott. Den Kleinen hier zu sehen, diese Verzweiflung in seiner Stimme zu hören … es brach mir fast das Herz. „Das geht nicht“, sagte ich leise. „Du kannst nicht zu deinem Vater, aber du musst hier verschwinden, bevor die anderen Jäger dich finden.“

Er drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und wandte den Blick ab. Das hektische Heben und Senken seiner Brust war das einzige Zeichen dafür, dass er nicht so ruhig war, wie er sich gab.

„Wenn die anderen Jäger dich finden, dann werden sie dir wehtun, verstehst du? Du musst hier verschwinden. Ich helfe dir, ich will nicht, dass sie dir etwas tun.“

Er schaute mich nicht wieder an.

Nervös leckte ich mir über die Lippen und warf einen Blick zur Lagune. Sie war völlig ruhig, keiner war hier. Auch mein Zauber blieb still. Trotzdem wusste ich, dass mir die Zeit zwischen den Fingern zerrann. Wir würden nicht ewig allein bleiben. Vielleicht funktionierte es, wenn ich es auf eine andere Art versuchte. „Wie bist du eigentlich hierhergekommen?“ Sich mitten in das Lager der Jäger zu schleichen, konnte nicht einfach gewesen sein.

„Mein Papá hat mir gezeigt, wie man sich leise bewegt.“

In einer Welt, wo sie die Gejagten waren, musste er das wahrscheinlich können. „Glaubst du, dass du auf die gleiche Art wieder hinausschleichen kannst?“

Er kniff die Augen leicht zusammen, als hätte er meinen Plan durchschaut. „Ich gehe nicht ohne meinen Papá.“

„Aber ich kann deinen Papá nicht befreien!“ Ich warf die Hände über den Kopf, die Lichtkugel hüpfte und der kleine Rubin erschrak vor dieser Bewegung so sehr, dass er heftig zusammenzuckte. Aber darauf konnte ich gerade keine Rücksicht nehmen. „Verstehst du nicht? Du bist hier in Gefahr! Du kannst dich nicht ewig in dieser Höhle verstecken, früher oder später werden sie dich entdecken.“

Seine nächsten Worte erschraken mich so sehr, dass ich einfach nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte.

„Dann bin ich wenigstens bei Papá.“

Oh Gott, nein. Nein, so durfte das nicht enden. Ich musste etwas anderes versuchen. Es gab sicherlich etwas, dass ihn dazu bewegte zu verschwinden. Nur was?

Ich biss mir auf die Unterlippe. „Was ist mit deiner Mutter?“, fragte ich. „Wird sie nicht traurig, wenn du nicht zurückkommst?“

„Ich habe keine Mamá, ich habe nur Papá.“

Das wurde ja immer schlimmer. Was sollte ich nur tun? „Du kannst nicht hier bleiben“, sagte ich schließlich. „Das geht nicht. Bitte, du musst gehen, solange du noch kannst.“

Ein kleines Runzeln legte sich auf seine Stirn. Er verstand nicht, was hier vor sich ging, schließlich war ich eine von den Bösen.

Ich rutschte ein wenig näher und beachtete nicht, wie er sich fester gegen die Wand drückte. „Ist dir dein Leben gar nichts wert?“, fragte ich ihn eindringlich. „Gibt es für dich nichts, was sich zum Überleben lohnt? Denn wenn du hier bleibst, wirst du nichts erreichen. Die Jäger werden auf dich keine Rücksicht nehmen, nur weil du ein Kind bist. Das ist ihnen völlig egal. Verstehst du das? Verstehst du, dass du sterben wirst, wenn du hier bleibst? Glaubst du, dass dein Papá das will?“ Ich beugte mich ein wenig vor. „Ich habe gesehen, wie er dich mit seinem Leben beschützt hat. Und du hast mir gesagt, dass er dir Dinge beigebracht hat, damit du überleben kannst. Glaubst du, er wäre glücklich, wenn er wüsste, dass du hier bist und dein Leben riskierst, obwohl es für deinen Vater keiner Rettung mehr gibt? Glaubst du …“

Eine dicke Träne auf seiner Wange ließ mich verstummen. Oh nein, das hatte ich doch gar nicht erreichen wollen. Aber was hatte ich denn gedacht, was passieren würde, wenn ich ihn so unter Druck setzte? Er war doch nur ein kleines Kind. Ein Dämon, aber nichtsdestoweniger ein Kind. Und dass ich so auf ihn eingewirkt hatte … was war nur in mich gefahren?

Ganz klar, ich hatte Angst. Nicht um mich. Mir würde nichts geschehen, aber ich hatte gesehen, wozu die Jäger fähig waren. Ich wusste, wozu sie mich heute gebracht hatten, auch wenn sie daran keine Schuld trugen. Für den Saphir konnte ich nichts mehr tun, aber dieses Kind … ich konnte nicht riskieren, dass auch er an einem Pfahl endete. „Es tut mir leid“, sagte ich leise und musste dem Bedürfnis widerstehen, die Hand nach ihm auszustrecken. Für eine solche Geste wäre er sicher nicht dankbar. „Ich wollte dir keine Angst machen.“

Er reagierte nicht. Da war nur eine weitere Träne, die in seinen Wimpern hing, bis sie zu schwer wurde und ihm über die Wange rollte.

Verdammt, was sollte ich nur tun? Er musste doch den Ernst seiner Lage verstehen, aber mit meinen Worten hatte ich scheinbar gar nichts erreicht – außer dass ich ihn zum Weinen gebracht hatte. Er wollte die Höhle immer noch nicht verlassen und ich wusste immer noch nicht, was ich tun sollte oder wie ich ihn zum Gehen bewegen konnte. Ich wusste nur eines mit hundertprozentiger Sicherheit: hier konnte er nicht bleiben.

Aber ihn einfach wegzujagen oder aus der Höhle zu ziehen, um ihn dann seinem Schicksal zu überlassen, kam für mich gar nicht infrage. Das brachte ich einfach nicht übers Herz.

Wie oft ich dieses Problem in Gedanken auch hin und her wälzte, es schien einfach keine Lösung zu geben – nicht, solange der Rubin an den Pfahl gebunden war. Aber ihn freizulassen, war einfach keine Option. Nicht nur, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich ihn aus dem Schild bekommen sollte - er war gefährlich. Alle Dämonen waren gefährlich.

Aber dieses Kind …

Erst das vernehmliche Knurren eines Magens riss mich aus meinen Gedanken. Ich war es nicht und Guardian hatte vorhin erst mit viel Tamtam eine dicke Eidechse vor meinen Augen verschlungen. Und so, wie der Kleine die Lider senkte, konnte es nur von einem kommen.

Ich musterte den schmächtigen Körper. Er sah nicht unterernährt aus, obwohl ihm zwei, drei Kilo mehr auf den Hüften gutgetan hätten. Aber die Ringe unter seinen Augen waren deutlich und die Angst schien sich in jede Furche dieses noch so jungen Gesichts gegraben zu haben. „Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?“, frage ich ganz direkt.

Verschämt senkte der den Kopf und schlang die Arme um den Bauch, als könnte er das nächste Knurren seines Magens so vor mir verbergen – es funktionierte nicht.

Ich überlegte. Wir waren gestern Mittag ins Lager zurückgekehrt und da war Ryu mit seiner Gruppe bereits auf dem Rückweg gewesen. Das hieß, dass sie ihn spätestens am Vormittag eingefangen hatten. Bedeutete es, dass der Junge seit gestern Vormittag nichts mehr gegessen hatte? Das waren fast zwei Tage.

„Okay“, sagte ich. Vielleicht konnte ich das aktuelle Problem nicht lösen – noch nicht– aber bei diesem hier konnte ich sofort Abhilfe schaffen. „Pass auf. Ich werde dir jetzt was zu essen besorgen und dann reden wir weiter. Solange ich weg bin, darfst du die Höhle nicht verlassen, hast du verstanden? Unter keinen Umständen.“ Ich versuchte ihm die Dringlichkeit meiner Worte zu übermitteln und konnte nur hoffen, dass es funktionierte. „Bleib in dieser Höhle.“

Er sagte nichts, nickte nicht oder tat sonst irgendwas, das mir die Sicherheit geben würde, dass er blieb, wo er war. Ich konnte nur darauf hoffen, dass er zu viel Angst hatte, um sich auch nur einen Zentimeter von seinem Platz zu bewegen.

„Bleib, wo du bist, ich bin gleich wieder da.“ Als ich aufstand, sprang auch Guardian auf die Beine und sauste mir voraus. Die Kugel über meinem Kopf erlosch.

Mich von der Höhle zu entfernen, fiel mir schwerer, als ich geglaubt hatte. Ständig sah ich über meine Schulter zurück, um sicher zu gehen, dass der Junge auch wirklich blieb, wo er war, doch als ich am Felsmassiv vorbei zwischen die Zelte trat, musste ich mich zwingen, den Blick nach vorne zu richten. Wenn ich mich zu nervös benahm oder ein anderes auffälliges Verhalten an den Tag legte, würden sie sicher fragen, was los war.

Aber nichts geschah.

Die meisten waren mit ihren eigenen Sachen beschäftigt oder befanden sich bereits auf dem Weg zum Abendessen. Ein Glück für mich. Wenn ich jetzt etwas für den Jungen besorgte, würde das sicher nicht auffallen. Nur leider hatte ich nicht bedacht, dass die anderen mich auffordern würden, mit ihnen zu essen. Und dann bestanden sie auch noch darauf, dass ich die spektakuläre Geschichte meiner ersten Jagd zum Besten gab.

Kiran gab sein Bestes, um mich zu unterstützen. Die anderen vier saßen nicht mal mit am Tisch. Das war eine Erleichterung, denn so bemerkte niemand meine wachsende Nervosität. Amir war meist viel zu aufmerksam, ihm wäre das sicher nicht entgangen.

Was die anderen allerdings bemerkten, war das kleine Carepaket, das ich für den Jungen zusammenstellte. Ihre Fragen danach beantwortete ich mit einem Schulterzucken, während ich ihren Blicken auswich. „In den letzten Tagen hatte ich nachts immer Hungerattacken. Ich will nur vorbereitet sein.“

Ashas Blick ignorierte ich. Vermutlich glaubte sie nur wieder, dass das was mit meiner Magie zu tun hatte.

Denk jetzt nicht dran.

Ich ließ gerade ein kleines Stück Fleisch für Guardian unter den Tisch wandern und überlegte, ob ich für den Jungen noch etwas einpacken sollte – vielleicht Wasser – als in meinem Kopf plötzlich ein Alarm losschrillte. Es war, als würden alle Synapsen in meinem Hirn „Gefahr!“ schreien und mir war auch sofort klar, was das zu bedeuten hatte. Mein Zauber. Jemand war gerade zur Lagune gegangen.

Mitten in einer Erzählung von Kiran entschuldigte ich mich und versuchte so gesittet wie möglich aufzustehen. Ich musste mich zwingen, Ruhe zu bewahren und nicht sofort zur Lagune zu rennen, um nach dem Rechten zu sehen. Das wäre viel zu auffällig.

Guardian hatte dieses Problem nicht. Er schien zu wissen, wohin es ging, denn er zirpte nur einmal und dann war er auch schon zwischen den Wohnzelten verschwunden.

Ich dagegen nötigte mich noch dazu, mich von allen bis nachher zu verabschieden, nahm mein Carepaket und tat dann so, als würde ich zu meinem Zelt gehen. Erst als ich außer Sichtweite war und mir sicher sein konnte, dass mich niemand mehr beobachtete, änderte ich mein Ziel und rannte so schnell meine Beine mich tragen konnten. Die ganze Zeit malte ich mir die schrecklichsten Bilder aus. Davon, wie sie den Kleinen fanden und gefangen nahmen - oder sogar gleich getötet hatten. Doch auf das, was mich erwartete, war ich nicht vorbereitet gewesen.

Als ich um die Ecke rannte, wäre ich fast über Guardian gefallen, der direkt dahinter auf mich gewartet hatte. Vier Paar Augen richteten sich auf mich. „Ähm …“, machte ich, nicht sehr gescheit, und war mir nicht ganz sicher, wohin ich schauen sollte.

Im Wasser lagen vier nackte Männer, um sich vom Tag zu entspannen. Keinen von ihnen schien es zu stören, dass ich sie im Adamskostüm sah – obwohl Adam ja eigentlich noch ein Blatt vor seinem besten Stück kleben hatte. Mit dem einen von ihnen hatte ich zwar schon ein wenig Speichel getauscht, aber die anderen drei …

„Ich sagte doch, dass sie hier gleich auftauchen würde“, erklärte Elias. „Der kleine Fennlix ist doch immer in ihrer Nähe.“

Amirs Blick ging von meinem kleinen Freund zu mir. „Ist was passiert?“

„Passiert?“, fragte ich etwas zu schrill und spürte, wie mein Herz mir in den Hals sprang. Ich musste mich zwingen, nicht zur Höhle zu schauen.

Auf Amirs Gesicht lag wieder diese undurchdringliche Maske. „Du bist hier angerannt gekommen, als sei ein Ungeheuer hinter dir her.“

Oh Mist. Mist, Mist, Mist! Heute fluchte ich echt viel. „Ähm … das war nur, weil …“ Ausrede, schnell! „Guardian.“ Ich sprach den Geistesblitz aus, bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte. Es war das einzig Logische, was mir auf die Schnelle einfiel. „Er ist einfach losgestürmt und da bin ich hinterher.“

Nun richteten sich vier Blicke auf meinen kleinen Beschützer.

„Ich weiß nicht, was mit ihm los war“, fügte ich noch schulterzuckend hinzu.

Gaio brummte nur etwas über blöde Viecher, während Ryu den Kopf nachdenklich zur Seite legte.

„Er ist schon etwas Besonderes“, murmelte Amir und senkte seine Augenlider leicht.

„Ja, das ist er, und … äh … wie lange habt ihr noch vor zu baden?“ Das Carepaket brannte mir ein Loch in die Hand, aber ich schaffte es, den Überhang und sein verborgenes Geheimnis zu ignorieren. „Ich wollte auch noch rein.“

„Tu dir keinen Zwang an“, murmelte Gaio und machte es sich so bequem, als hätte er nicht vor, die nächste Zeit herauszukommen.

Ein „Träum weiter“ konnte ich mir nicht verkneifen.

„Wir müssen noch ein paar Sachen besprechen“, sagte Amir. „Danach kannst du baden gehen.“

Das hörte sich ja fast so an, als wollte er mich wegschicken. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als seiner Aufforderung zu folgen. Vor ihren Augen konnte ich schließlich nicht in den Geröllhaufen schlüpfen.

Das Wasser plätscherte leise, als Amir sich drehte. „Komm her“, forderte er mich auf und nur der sanfte Ton in seiner Stimmer verhinderte, dass aus meinem Zögern ein Nein wurde. Sobald ich in Reichweite war, zog er mich nach unten und küsste mich. Es war sanft, vorsichtig, als wollte er mich nicht überfordern. Dass die anderen uns dabei sehen konnten, interessierte ihn nicht, genauso wenig wie Gaios abwartendes Geräusch.

„Du hast heute wirklich gute Arbeit geleistet“, flüsterte er an meinen Lippen. „Ich bin froh, dass ich dich gefunden habe.“

Diese Worte erwärmten mein Herz und ließen dieses Kribbeln aus der Versenkung aufsteigen. Aber ich war mir nicht ganz sicher, ob er mich als Person meinte, weil ich ihm etwas bedeutete, oder ob er damit nur meine Kräfte meinte. Trotzdem sagte ich: „Ich auch.“

Er hauchte mir noch einen letzten Kuss auf den Mund und ließ sich dann zurück ins Wasser gleiten. „Wir sehen uns nachher am Lagerfeuer.“

Damit hatte er mich entlassen und mir blieb gar nichts anderes übrig, als den Rückzug anzutreten.

Bitte mach, dass dem Jungen nichts passiert, egal wer, ihm darf nichts passieren.

Ich kehrte den vier Männern den Rücken zu und ging.

 

°°°

 

Wachsam steckte ich meinen Kopf um die Ecke und sprang vor Schreck fast einen halben Meter hoch, als mein kleiner Wächter leise aus den Schatten zirpte.

„Gott, Guardian, kannst du das mal bitte lassen?!“

Während mein Herz noch irgendwo im Hals steckte, blinzelte mein ständiger Schatten mir nur unschuldig entgegen.

Ich hätte niemals gedacht, dass es so nervenaufreibend sein würde, sich nachts aus dem Zelt zu schleichen. Vermutlich war es auch nicht das Schleichen an sich, sondern mein Ziel, das hinter der nächsten Ecke hoffentlich auf mich wartete.

Die Nacht war schon vor Stunden über der Wüste aufgezogen, aber ich hatte mich nicht vorher aus meinem Zelt getraut. Manche der Jäger blieben immer sehr lange wach und die Angst, erwischt zu werden, war zu stark gewesen.

Und auch jetzt, während ich die letzten Zelte des Lagers hinter mir ließ und an der Sandkuhle vorbei zur Lagune schlich, raste mein Puls, als wollte er einen Marathon gewinnen. Dabei klammerte ich mich an das Carepaket, als hinge mein Leben davon ab. Sogar eine Decke hatte ich bei mir, damit der Kleine es etwas bequemer haben konnte. Doch bei meinem letzten Besuch hier hatte ich etwas gelernt, deswegen spähte ich dieses Mal erst um die Ecke und prüfte, ob die Luft rein war, bevor ich am Wasser vorbei unter den Überhang schlich.

Guardian dagegen trappte neben mir her, als wäre das nichts weiter als ein Mondscheinspaziergang.

„Kleiner?“ Ich beschwor eine Lichtkugel über meinem Kopf und entdeckte den Jungen genau da, wo ich ihn zurückgelassen hatte.

Müde Augen blickten mir entgegen, doch sein Geist schien wach zu sein. „Du hast mich nicht verraten.“

„Bitte?“ Seltsame Begrüßung.

„Als die anderen Jäger hier waren. Du hast ihnen nichts von mir gesagt.“ Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite. „Ich konnte euch hören.“

„Natürlich habe ich nichts gesagt.“ Ich kniete mich in den kleinen Spalt, musste dann aber ein wenig zur Seite rücken, weil Guardian der Meinung war, sich an mir vorbei quetschen zu müssen. „Drängler“, teilte ich ihm mit, legte die Decke neben mich auf den Boden und hielt dem Jungen dann das Carepaket entgegen. „Hier, Essen. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.“

Er schnappte sich das Päckchen so schnell, dass er mich fast mit nach vorne zog. Dann riss er die Serviette hastig weg und begann, sich das Essen gierig in den Mund zu stopfen.

„Langsam“, sagte ich und ließ mich auf den Hintern sinken. „Dir isst keiner was weg, das ist alles deins.“

Er schaute mich nur an, konnte aber nicht sprechen, weil sein Mund zu voll war. Irgendwie war das schon niedlich. Zumindest, wenn man nicht daran dachte, warum er das Essen so in sich hineinstopfte.

Damit waren wir auch schon wieder beim eigentlichen Thema angekommen. Was sollte ich nur mit ihm machen? Um diese Frage drehten sich meine Gedanken seit Stunden. Ich hatte kein Auge zugetan, das konnte ich nicht. Erst musste ich das hier klären. Es musste schließlich einen Weg geben, ihn hier wegzuschaffen und sicher unterzubringen.

Vielleicht sollte ich erstmal eine Vertrauensbasis schaffen oder wenigstens dafür sorgen, dass ihm bei meinem Anblick nicht der kalte Angstschweiß ausbrach. Er musste mir ja nicht vertrauen, er musste mir nur zuhören und meinen Worten glauben. Und dann konnten wir vielleicht eine Lösung finden.

„Wie heißt du eigentlich?“

Als er kauend mit großen Augen zu mir aufsah, musste ich lächeln.

„Meinen Namen hab ich dir ja schon verraten, aber wie deiner lautet, weiß ich noch nicht, dabei wüsste ich sehr gerne, wie ich dich ansprechen soll.“

Das Stück Braten in seiner Hand sank ein wenig herab, während er seinen Bissen runterschluckte und mich musterte, als würde er versuchen mich einzuschätzen. Auch wenn ich ihm Essen gebracht hatte, ich war immer noch der Feind. „Fax“, sagte er dann leise. „Mein Name ist Fax.“

„Fax also.“ Ich streckte ihm die Hand entgegen. „Freut mich, dich kennenzulernen, Fax.“

Der Kleine bekam riesige Augen, so als könnte er nicht fassen, dass jemand wie ich nett zu ihm war, und dann überraschte er mich, als er seine Hand an seiner Hose abwischte und wirklich zögerlich nach meiner Hand griff. Aber er schüttelte sie nicht. Er hielt sie nur einen kurzen Moment, ließ sie dann ganz schnell wieder los, als hätte er sich verbrannt, und widmete sich wieder seinem Essen. Jetzt jedoch schlang er nicht mehr so.

Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Felswand. „Und wie alt bist du?“

„Neun“, antwortete er, ohne zu zögern, und verputzte das restliche Stück, nur um gleich nach dem nächsten zu greifen.

Das zu sehen, tat mir in der Seele weh, doch ich ließ es mir nicht anmerken. „Erst neun? Wow, und trotzdem hast du es geschafft, ins Lager zu schleichen. Du musst echt gut sein. Respekt. Ich glaube, ich hätte das nicht geschafft.“

„Ja, weil du dich zu laut bewegst.“

„Weil ich …“ Okay, diese Ansage verdutzte mich dann doch. „Wie kommst du darauf?“

„Ich habe gesehen, wie du gekämpft hast. Auf der anderen Seite.“ Er deutete auf die Felswand und mir fiel wieder ein, wie Guardian gestern plötzlich losgerannt war. Hatte er mich wirklich beobachtet? Und ich hatte es nicht mal bemerkt.

Jetzt sollte ich mir wirklich ein paar Gedanken machen.

„Du bewegst dich so …“ Er wedelte mit der Hand, als suchte er das richtige Wort. „Schwer.“

„Schwer.“ Okay, dass hatte mir noch keiner vorgeworfen.

„Ich kann es nicht erklären. Papá kann es, aber … ich nicht.“

Die kurze, lockere Stimmung verflog so schnell, wie sie gekommen war.

„Hast du denn wirklich niemanden außer deinem Papá?“

Er brauchte den Kopf nicht zu schütteln, ich kannte die Antwort auch so. Dämonen waren Einzelgänger und kümmerten sich um nichts anderes als um sich selbst.

Ich rieb mir über die Schläfe, so kam ich nicht weiter. Vielleicht sollte ich ihn ein wenig zu seinen Lebensumständen ausfragen, das würde eventuell die Lösung bringen, die ich brauchte.

Als Guardian auf meinen Schoß kletterte, begann ich schon ganz automatisch, ihn hinter den Ohren zu kraulen. „Magst du mir erzählen, wo du wohnst?“

Er stockte mitten in der Kaubewegung und schaute mich an, als würde ich eine Waffe im Rücken verstecken. „Warum willst du das wissen?“

Oh je, mit dieser Frage hatte ich wohl ein paar Alarmsirenen in seinem Kopf gezündet. „Einfach nur so.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich möchte dich etwas besser kennenlernen.“

„Warum?“

Eigentlich sollte mich das Misstrauen in seiner Stimme nicht überraschen. Was hatte er in seinem Leben schon erlebt, dass er so reagierte? Ich wollte es mir gar nicht vorstellen. Er war doch noch ein Kind.

Als ich nicht sofort antwortete, ließ Fax sein Essen sinken und rückte wieder etwas von mir ab.

Seufzend atmete ich aus. „Bitte hab keine Angst, ich will dir nichts tun. Ich will nur …“ Wenn ich ihm jetzt eine Lüge auftischte, dann hätte ich wohl vollends alles ruiniert. Und was dann passieren konnte, wollte ich mir gar nicht ausmalen. Da blieb dann nur noch die Wahrheit. „In Ordnung“, gab ich mich geschlagen. „Ich stelle dir diese Fragen, weil ich hoffe, so eine Lösung zu finden. Du kannst nicht hierbleiben, verstehst du? Und ich hoffe …“

„Ich gehe nicht ohne meinen Papá.“ Diese Worte schleuderte er mir so fest entgegen, dass ich keinen Moment an ihrem Wahrheitsgehalt zweifelte. Er würde bleiben, auch wenn er dafür mit seinem Leben bezahlen würde.

Das konnte ich nicht zulassen. Das würde ich nicht zulassen. Es musste einfach …

In dem Moment kam mir eine ganz verrückte Idee, die meinen Herzschlag mal wieder zu einem erhöhten Tempo antrieb. Nach allem, was ich bisher gehört hatte, gab es eigentlich nur eine Sache, die ich tun konnte. Ich musste mit seinem Vater sprechen, vielleicht hatte er eine Idee, wohin ich den Jungen bringen konnte. Nur brach mir allein bei dem Gedanken daran schon der kalte Angstschweiß aus. Mein letzter Versuch, mit einem Dämon zu sprechen, war ziemlich nach hinten losgegangen und ich konnte mir nicht sicher sein, dass es dieses Mal nicht auch so endete.

Aber da es um sein Kind ging, würde er doch sicher mit mir reden und versuchen, mir zu helfen, oder?

Ich schaute zu Fax. Was wenn der Rubin mir nicht glaubte, dass der Kleine hier war? Ich brauchte einen Beweis, aber den Jungen direkt mitzunehmen, war zu gefährlich. Wenn man mich bei dem Dämon am Pfahl erwischte, konnte ich mich sicher rausreden, aber wenn der Junge bei mir war, würde ich ihn praktisch ausliefern.

Nein, das konnte ich nicht machen, aber vielleicht würde etwas anderes schon ausreichen.

Ich neigte den Kopf zur Seite. „Sag mal, würdest du mir den Namen deines Vaters verraten?“

Er kniff die Augen leicht zusammen. „Warum?“

„Weil ich mit ihm sprechen möchte und da ist es immer gut, den Namen seines Gegenübers zu kennen.“ Und dann hätte ich auch einen Beweis, dass ich mit Fax gesprochen hatte. Woher sollte ich schließlich sonst seinen Namen wissen?

„Du willst mit Papá sprechen?“ Diese einfache Frage zeigte mir, wie jung Fax eigentlich noch war. In diesen wenigen Worten schwang die Sehnsucht eines Kindes mit, das nichts anderes wollte, als bei seiner Familie zu sein.

Diese Frage löste auch in mir etwas aus. Es war wohl das erste Mal seit Wochen, dass ich an die dachte, die ich in der anderen Welt zurückgelassen hatte. Hatte ich noch Eltern? Selbst wenn es so war, ich konnte mich nicht an sie erinnern, und das war es wohl, was meine Sehnsucht nach ihnen verhinderte.

Ich verdrängte diese Gedanken ganz schnell. Im Augenblick musste ich mich um etwas anderes kümmern. „Ja, ich möchte mit ihm sprechen. Vielleicht weiß er, wie ich dir helfen kann.“

Fax zog seine Stirn auf eine Art in Falten, die ihn richtig niedlich aussehen ließ. Dann nickte er, als hätte er eine schwere Entscheidung getroffen. „Askea“, sagte er. „Mein Papá heißt Askea.“

 

°°°

 

Die Arme über den Kopf gestreckt, lehnte der Rubin an dem Pfahl. Er schien zu dösen, doch das konnte in dieser Zwangsposition nicht sehr angenehm sein.

Einmal mehr beschlichen mich meine Zweifel. Das hier konnte einfach nicht richtig sein.

Ich trat etwas näher, zögerte am Schild, zwang mich aber hindurch, denn ich musste mit ihm von Angesicht zu Angesicht sprechen. Auch Guardians Anwesenheit schien mir dieses Mal nicht zu helfen. Aber ich musste den Rubin dazu bringen, mir zu glauben. Leider konnte ich dabei nicht verhindern, dass mein Blick zu dem Saphir schweifte, der nur meinetwegen ein Stück weiter an einen anderen Pfahl gebunden war.

Nein, nicht jetzt.

Ich musste mich beeilen, bevor die ersten Frühaufsteher aus ihren Zelten kamen. Okay, das sollte eigentlich noch ein Weilchen dauern, da es noch nicht mal Mitternacht war, aber ich war so nervös, dass ich für Logik im Moment nicht ganz zu haben war.

Zögernd trat ich vor ihn, biss mir auf die Lippe und wusste nicht recht, wie ich beginnen sollte. Wie führte man so ein Gespräch? Besonders, wenn der andere zu schlafen schien. „Ähm … hallo?“ Das war doch schon mal ein guter Start.

Er schlug seine Augen so schnell auf, dass ich mich zwingen musste, an Ort und Stelle stehen zu bleiben. Wie er mich ansah … ich musste schlucken.

„Verschwinde, Hexe.“ In seinen Worten lag keine Kraft. Er schien aufgegeben zu haben und das war wohl das Schlimmste an dieser Situation.

„Nein, ich muss mit dir reden.“ Denn nicht weit von hier entfernt schlief sein Sohn, eingekuschelt in einer Decke, und befand sich in Lebensgefahr. Es war schwer gewesen, Fax dazu zu bringen, zu bleiben, wo er war, nachdem er wusste, wohin ich gehen würde. Aber die Erschöpfung hatte ihren Tribut gefordert. Fast sofort nach dem Hinlegen war er einfach eingeschlafen.

Der Rubin schnaubte. „Ihr könnt mich hier so lange angebunden lassen, wie ihr wollt. Von mir erfahrt ihr nichts. Eher sterbe ich.“

„Ich bin nicht hier, um Informationen von dir zu bekommen, ich brauch deine Hilfe.“

„Nichts kann mich dazu bringen, solchem Abschaum zu helfen.“

Abschaum.

Das Wort traf mich mitten in die Brust.

Abschaum.

Niedere, grausame Kreaturen, die nichts wert waren. Der hinterletzte Dreck. „Ich bin kein Abschaum“, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Dieses Wort hatte mich wirklich getroffen und ich musste mich stark zusammenreißen, um ihm keine gepfefferte Antwort entgegen zu klatschen.

„Oh nein, stimmt. Du gehörst ja zu den Weltrettern, die alles und jeden von dem Bösen befreien wollen.“ Seine Stimmte triefte nur so vor Hohn.

Das stimmte so zwar nicht, aber ich widersprach nicht. Hätte ja sowieso nichts gebracht. Er war wütend, weil wie ihn gefangen hatten, weil er hier angebunden war und weil er nichts dagegen unternehmen konnte. Er war verzweifelt, denn er wusste, dass er sterben würde.

„Hätte ich gewusst, wer du bist, hätte ich dich in den Flammen sterben lassen und jeden einzelnen deiner Schreie genossen“, spie er mir entgegen.

„Damals gehörte ich noch nicht zu den Jägern.“

Er schnaubte nur.

„Du kannst es glauben oder nicht, aber es ist so. Du hast mich in der Wüste zurückgelassen. Zwei Tage bin ich ziellos herumgeirrt und dabei fast gestorben. Ein Jäger hat mich gefunden und hierher gebracht. Ohne ihn würde ich heute wahrscheinlich nicht hier stehen.“

„Es war nicht meine Aufgabe, mich um dich zu kümmern!“

„Das habe ich nicht behauptet.“ Ich strich mir über die Augen. Ein paar Strähnen hatten sich aus meinem Zopf gelöst und klebten mir unangenehm im Nacken. „So kommen wir nicht weiter.“

„Verschwinde einfach und lass mich in Ruhe sterben.“ Erschöpft lehnte er seinen Kopf gegen den Pfahl. Erst jetzt ging mir auf, wie schwer er atmete. Er roch auch nicht mehr besonders angenehm. Natürlich, er war hier seit gestern Mittag angebunden und diese Zeit forderte von ihm langsam aber sicher ihren Zoll.

„Ich kann nicht gehen, ich brauche …“

„Verschwinde!“ Allein dieser Ruf kostete ihn so viel Kraft, dass sich ein erschöpftes Husten bahnbrach.

Ich sah ihn an dem Pfahl, sah seine Erschöpfung und wusste, es würde für ihn keine Rettung geben, nicht so wie für mich. Er war ein Dämon, er hatte es nicht besser verdient, das war mir bewusst und trotzdem konnte ich mich dem Mitgefühl nicht verwehren. Ich wusste, wie es war, ohne Wasser und Nahrung tagelang den Sonnen ausgesetzt zu sein, ich kannte das Gefühl, kurz vor dem Ende zu stehen und nicht mehr weiterzuwissen. Vielleicht war das auch der Grund, warum mir diese Methode der Jäger so missfiel. Es war einfach nur grausam.

Aber darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen, ich brauchte ihn, um seinen Sohn zu retten. Natürlich, der Kleine war auch ein Dämon, aber in erster Linie war er ein Kind, das meine Hilfe benötigte. „Du musst mir helfen. Dein Sohn ist hier und er will nicht verschwinden. Bisher haben die anderen Jäger ihn noch nicht entdeckt, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Hilf mir, ihn hier wegzuschaffen, bevor er dein Schicksal teilen muss.“

Diese Worte schienen mir endlich die erhoffte Aufmerksamkeit zu bringen. Zum ersten Mal schaute er mich wirklich an. Für einen kurzen Moment schweifte sein Blick zu Guardian, der sich an mein Bein lehnte. Doch dann schnaubte er nur wieder. „Du bist wirklich überzeugend. Fast hätte ich dir geglaubt. Aber du weißt, dass ich ein Kind habe, du hast ihn gesehen, also ist es klar, dass du versuchst, das auszunutzen.“

Er glaubte, dass das nur ein Trick war. Ich konnte es ihm nicht verübeln. „Nein, ich sage die Wahrheit. Dein Sohn …“

„Lass meinen Sohn da raus!“, fauchte er mich an und versuchte auf mich loszugehen, doch die Fesseln hinderten ihn.

Guardian zuckte zusammen und sah dann verwirrt zwischen uns hin und her.

Trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass ich vor ihm zurückwich. Aber ich durfte jetzt nicht nachlassen. „Ich habe den Jägern nicht gesagt, dass du ein Kind hast. Warum wohl?“

„Woher soll ich das wissen? Ihr Weltverbesserer seid doch für eure Psychospielchen bekannt.“

Ich drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Wenn ich ihn nicht dazu bekam, mir zu glauben, wüsste ich nicht mehr, was ich noch tun konnte. „Askea“, sagte ich und bekam damit nicht nur seine Aufmerksamkeit, sondern auch einen überraschten Blick. Ich kratzte all meinen Mut zusammen – was im Moment wirklich nicht viel war – und hockte mich vor ihn. Vielleicht sprach es sich auf gleicher Augenhöhe besser. „Vor nicht mal einer halben Stunde hat Fax mir deinen Namen verraten. Ich lüge nicht. Ich habe deinen Sohn heute entdeckt. Er versteckt sich in einer kleinen Höhle neben dem Lager und ich bekomme ihn einfach nicht dazu, zu verschwinden. Ich habe Angst, dass die Jäger ihm etwas antun, wenn sie ihn entdecken. Du musst mir helfen. Sag mir, was ich tun kann, damit er geht, bevor die anderen ihn in die Finger bekommen.“ Er musste das Flehen in meiner Stimme einfach hören. „Bitte, hilf ihm, indem du mir hilfst.“

Seine Augen waren unergründlich. Ich konnte in ihnen nicht lesen, denn er hatte eine Mauer um sich errichtet. Ich konnte nicht mal mehr die kleine Furcht darin wahrnehmen. Es war, als würde er keine Gefühle empfinden, und das war wirklich unheimlich.

Doch er wich meinem Blick nicht aus, musterte mich nur stumm, als versuchte er, hinter die Wahrheit in meinen Worten zu kommen. „Du lügst“, flüsterte er und schlug die Lider nieder. „Ich weiß nicht, woher du unsere Namen kennst, aber du lügst.“

„Nein. Nein, das tu ich nicht.“ Meine Hand zuckte, ich wollte ihn schütteln, bis er mir endlich glaubte, doch im letzten Moment besann ich mich darauf, was ich hier vor mir hatte. Er war ein Dämon. Zwar war er festgebunden, aber das hieß nicht, dass er deswegen plötzlich handzahm geworden war. Es bedeutete nur, dass die Gefahr, die von ihm ausging, eingedämmt war. Aber ich musste ihn dazu bringen, mir zu glauben, denn nur dann würde er mir helfen – hoffte ich. Doch wie? „Was muss ich tun?“, fragte ich daher. Mir waren die Ideen ausgegangen. „Wie beweise ich dir, dass ich die Wahrheit sage? Sag es mir.“  

Sehr langsam hob er den Kopf. Seine Gedanken waren verborgen, doch der Blick so intensiv, dass er ein ganz seltsames Gefühl in mir auslöste. „Hilf uns“, flüsterte er.

Ich runzelte die Stirn. „Das versuche ich doch, aber dazu musst du mir …“ Ich unterbrach mich, als sein Blick von mir zu dem Saphir schweifte. Er atmete schwer und schien ohnmächtig zu sein. Seine Haut … oh Gott. Die wenigen Stunden in der prallen Sonne hatten ihn völlig austrocknen lassen. Seine Haut war rissig und an manchen Stellen aufgeplatzt. Sein Element war das Wasser. In der Sonne vertrocknete er einfach.

Und erst, nachdem ich den Saphir gesehen hatte und dann zurück zu Askea schaute, verstand ich seine Worte. Er sprach nicht von sich und Fax, sondern von dem Saphir und sich. Und er meinte damit auch nicht, dass ich sein Kind in Sicherheit bringen sollte, sondern dass ich ihnen helfen sollte. Ich sollte ihnen … helfen. „Das kann ich nicht.“

„Natürlich nicht.“ Ein bitteres Lächeln legte sich auf seine Lippen.

„Nein, du verstehst nicht. Selbst wenn ich euch beide losbinden würde, ich habe nicht die Möglichkeit, euch durch das Schild zu bringen. Ich weiß nicht, wie es funktioniert.“

Darauf erwiderte er nichts mehr. Er schloss einfach die Augen und ließ den Kopf sinken, bis er wieder so aussah, als würde er dösen.

Verdammt!

Verdammt, verdammt, verdammt! Er würde mir nicht helfen, denn er glaubte, dass ich versuchte, ihn hinters Licht zu führen. Aber warum nur? Was dachte er, wollte ich damit erreichen? Vielleicht glaubte er ja, dass ich herauszufinden wollte, wo sein Sohn sich aufhielt, indem ich ihn bat, mir einen sicheren Unterschlupf zu nennen, in dem er sich im Augenblick eigentlich aufhalten sollte.

Wie paradox war das denn bitte?

„Askea, bitte“, versuchte ich es noch einmal, aber er reagierte nicht. Er würde mir nicht helfen, nicht solange ich nicht etwas für ihn tat. Er brauchte einen Grund, mir glauben zu können. Aber ich konnte ihn nicht freilassen. Ich konnte es einfach nicht. Es war nicht nur meine Angst, die mich daran hinderte.

„Du bist echt stur und rücksichtslos. Und drakonisch!“, warf ich ihm vor.

Natürlich bekam ich keine Reaktion, nur weil ich ihn beschimpfte. „Verdammt!“ Missmutig erhob ich mich und marschierte aus dem Schild hinaus. Eigentlich gab es nur eine Sache, die ich in dieser Situation tun konnte. Es war nur etwas Kleines und es würde das Leid von ihm und dem Saphir nicht wirklich lindern, aber ich musste etwas tun, und das war das einzige, was mir einfiel.

Fünf Minuten später fand ich mich in der Feldküche wieder. Hier war ich noch nie gewesen, aber ich fand mich ziemlich schnell zurecht. Ich nahm zwei Wasserschläuche an mich und eine große Dose, in der die Reste des Abendessens aufbewahrt wurden, und machte mich damit auf dem Weg zurück zum Pfahlplatz.  

Dabei betete ich die ganze Zeit, dass mich niemand entdeckte, konnte aber trotzdem nicht aufatmen, als ich unentdeckt an meinem Ziel ankam. Ich hielt mich schon viel zu lange bei den Dämonen auf und je länger ich blieb, desto wahrscheinlicher war es, dass ich doch noch erwischt wurde. Deswegen zögerte ich dieses Mal nicht, mich vor Askea zu setzen, und kam direkt zur Sache. „Hier.“ Ich schraubte einen der Wasserschläuche auf und hielt ihn ihm vor die Nase. „Das ist alles, was ich tun kann.“

Seine Augen hatten sich in dem Moment geöffnet, als ich mich vor ihn gehockt hatte, und nun starrte er den Wasserschlauch an, als könnte es sich dabei nur um eine Fata Morgana handeln. Ich sah, wie sein Adamsapfel hüpfte, als er mit trockener Kehle schluckte, und diese einfache Bewegung hatte etwas unglaublich … Anziehendes.

Oh mein Gott, was denke ich denn da?

„Gib mir das Wasser“, befahl er mir mit rauer Stimme. Seine Augen klebten dabei förmlich auf dem Schlauch.

Oh nein, daran hatte ich gar nicht gedacht. Er war gefesselt, was bedeutete, dass ich ihn würde füttern müssen.

„Gib es mir“, forderte er noch nachdrücklicher und obwohl ich eigentlich nicht in seine Reichweite gelangen wollte, rückte ich ein wenig näher und hielt ihm den Schlauch an die Lippen. Ich brauchte ihn nur noch ein wenig anzukippen, dann trank er das Wasser so gierig, dass der Schlauch innerhalb kürzester Zeit leer sein würde.

Wieder wurde mein Blick wie magisch von der Schluckbewegung angezogen. Mir entging auch nicht das Rinnsal, das ihm aus dem Mundwinkel lief und auf seine breite Brust tropfte.

Er holte nicht einmal Luft und hörte auch erst auf zu trinken, als er dem Schlauch auch den letzten Tropfen entlockt hatte.

Ich bekam kein Dankeschön – damit hatte ich auch nicht wirklich gerechnet – und sein Blick glitt auch nicht zu mir, als er hastig die Luft einsog. Er schaute zu dem Saphir und sagte mir damit wortlos, was er vor mir wollte.

Warum eigentlich? Warum wollte er, dass ich einem anderen Dämon half? Das passte doch gar nicht. Ich fragte ihn nicht, sondern stand mit dem zweiten Schlauch stumm auf und trat zu dem Saphir. Von Nahem sah er noch viel schlimmer aus. Sein Atem ging so stockend, dass ich Angst bekam, er würde jeden Moment einfach sterben.

Aber es waren doch bisher nur ein paar Stunden gewesen!

Das schlechte Gewissen meldete sich mit einer Wucht zurück, dass ich fast ins Straucheln geriet. Ich war dafür verantwortlich, ich hatte ihn in diese Lage gebracht. Aber nun war es zu spät und ich konnte nichts mehr für ihn tun. Fast nichts.

Zögernd hockte ich mich neben ihn und berührte ihn vorsichtig an der Schulter, doch er wachte nicht auf.

„Kipp es über ihn“, wies Askea mich an.

Ich schaute über die Schulter und bemerkte, wie er mich beobachtete. „Ich soll es über ihn kippen?“

Er schaute mich einen kurzen Moment an und schnaubte dann. „Du weißt echt nichts über Dämonen, oder?“

Darauf erwiderte ich nichts.

„Saphire nehmen Wasser über ihre Haut auf.“

Das war irgendwie … komisch. Zwar nachvollziehbar, aber komisch. Und auch, wenn es mir seltsam vorkam, so öffnete ich den Schlauch und kippte ihm das Wasser vorsichtig über den Kopf.

Nichts davon kleckerte auf den Boden. Der Körper schien die Flüssigkeit sofort zu absorbieren, ganz egal, wo sie ihn traf. Vor meinen Augen begann sich die geschundene Haut zu regenerieren. Nicht genug, um ihn wieder vollkommen genesen zu lassen, aber doch so viel, dass er nicht mehr solche Schmerzen litt. Aufwachen tat er aber nicht.

Als auch der letzte Tropfen auf ihn gefallen war, verschloss ich den Schlauch wieder und erhob mich. Es war eine Erleichterung, mich von dem Saphir entfernen zu können. Nicht weil ich glaubte, dass er mir im Moment gefährlich werden könnte, sondern einfach, weil er mir vor Augen führte, was ich getan hatte.

„Reue“, sagte Askea leise, als ich mich wieder zu ihm umdrehte. „Ich sehe es in deinen Augen.“

War es wirklich so offensichtlich?

„Du bist nicht wie die anderen Jäger.“

Versuchte er gerade, mich zu analysieren? Ich bemühte mich, eine unbeteiligte Maske aufzusetzen, als ich mich wieder zu ihm hockte und nach der Dose griff. „Tu nicht so, als wüsstest du irgendetwas über mich.“

Er ging nicht darauf ein. „Was ist dein Geheimnis, Hexe?“

Meine Schultern spannten sich leicht an, auch wenn ich es mir nicht anmerken lassen wollte. „Was ist deines, Dämon?“ Ich nahm ein Stück von dem Fleisch aus der Schale und hielt es ihm vor den Mund.

Er musterte mich nur einen Moment, dann beugte er sich ein Stück vor und biss ab.

Um nicht wieder auf seinen Kehlkopf zu stieren, zwang ich mich dazu, an ihm vorbei zu einem der Zelte zu schauen, und zuckte vor Schreck zurück, als seine Lippen plötzlich meine Finger streiften. Das Fleisch fiel in den Sand, meine Hand drückte ich an meine Brust und starrte ihn dann einfach nur an.

Was bitte war das gewesen? Es hatte sich angefühlt, als wäre ein Blitz in mich hineingefahren. Nicht schmerzhaft … eher so … ich wusste nicht, wie ich das beschreiben sollte. Das einzige, was ich wusste, war, dass es nicht unangenehm gewesen war. Und das gefiel mir gar nicht. Genau wie das Lächeln, das sich auf seinen Lippen ausbreitete.

Guardian kam angeflitzt, schnappte sich das heruntergefallene Stück und verschlang es in einem Happen.

„Angst?“

Teufel noch mal, ja! „Wie kommst du darauf?“

Das Lächeln wurde zu einem boshaften Grinsen, bei dem ich einen deutlichen Blick auf seine Fänge bekam.

Ich zwang mich, davor nicht zurückzuschrecken, nahm nur das nächste Stück aus der Dose und hielt es ihm wieder vor den Mund. Dieses Mal jedoch ließ ich ihn nicht aus den Augen, als er Stück für Stück abbiss und meinen Fingern damit immer näherkam.

Auch er hatte seinen Blick mit einer Intensität auf mich gerichtet, dass ich mich ganz weit weg wünschte. Und obwohl ich eisern aufpasste, schaffte er es wieder, meine Finger mit dem Mund zu streicheln. Dieses Mal kam das Gefühl nicht so überraschend, aber deswegen war es noch lange nicht angenehmer. „Hör auf damit“, verlangte ich.

„Wenn du mich losmachst, kann ich alleine essen.“

Aber sicher doch. „Ich habe dir geholfen“, wechselte ich einfach das Thema und besann mich damit auf meine eigentliche Aufgabe. „Jetzt hilf mir.“

Er neigte den Kopf leicht zur Seite. Der Ausdruck in seinem Gesicht war wieder völlig neutral. Nichts erinnerte mehr an die Bosheit, die ich noch vor wenigen Minuten darin gesehen hatte. „Ich kann dir nicht helfen.“

Drei. So viele Sekunden brauchte ich, um seinen Worten einen Sinn zu geben. „Wie bitte?“

„Ich kann dir nicht helfen“, wiederholte er. „Egal was ich dir sage, Fax wird nicht auf dich hören.“

„Aber was … warum hast du …“ Als mir die ganze Bedeutung seiner Worte aufging, schien mich meine Kraft einfach zu verlassen. Die Anspannung der letzten Stunde sog jedes noch so kleine Quäntchen aus mir heraus. Wenn er mir nicht helfen konnte, wer konnte es dann? Ich konnte den Jungen doch nicht einfach in der Höhle lassen. Was sollte ich denn jetzt machen?

„Bring ihn zu mir.“

Überrascht sah ich ihn an. Hatte ich die Frage etwa laut ausgesprochen?

„Er wird nicht auf dich hören, aber auf mich.“

„Ich müsste ihn durchs halbe Lager schleppen und … er würde dich so sehen.“ Angebunden, verloren, zum Sterben verurteilt. Der Junge liebte seinen Vater. Ich wollte ihm das nicht antun.

Askea schaute mich nur stumm an, während ich ihn mit den Augen anflehte, mir eine andere Möglichkeit zu nennen, aber wie es schien, gab es keine.

„Verdammt“, fluchte ich und sammelte meine Mitbringsel ein. Das würde kein gutes Ende nehmen.

 

°°°°°

Tag Einundsiebzig

 

„Dein Papá will mit dir sprechen.“ Das waren die Worte, mit denen ich den Kleinen geweckt hatte. Er war, wie von der Tarantel gestochen, aufgesprungen und fast noch über Guardian gefallen, so eilig hatte er es gehabt, aus der Höhle zu kommen. Und jetzt stand ich mit ihm vor dem Schild und hielt seine Hand fest, um zu verhindern, dass er durch das Schild rannte.

Fax hatte noch kein Wort gesagt. Er stand einfach da und starrte seinen Vater an. Doch ich konnte sein Zittern spüren. Er wollte nichts lieber, als zu ihm, doch Askeas Blick schien ihn davon abzuhalten.

In seinen Augen lag eine Härte, die kein Kind sehen sollte, und das erste Wort an seinen Sohn ließ diesen praktisch erstarren. „Geh“, befahl er ihm. „Verschwinde vom Lager. Sofort!“

Als Fax schluckte, hüpfte sein ganzer Kehlkopf. Er drückte meine Hand fester. Er schien Angst zu haben. Nicht vor seinem Vater, sondern vor dem, was dieser von ihm verlangte.

„Aber …“, wollte ich Einspruch erheben, doch da riss der Junge sich auch schon von mir los, wirbelte herum und rannte, als wäre der Teufel hinter seiner Seele her.

Instinktiv wollte ich hinterher, streckte sogar die Hand nach ihm aus, als könnte ich ihn so schneller erreichen, doch schon nach wenigen Schritten blieb ich wieder stehen. Ich konnte nichts anderes tun als zuzusehen, wie die Dunkelheit der Nacht ihn langsam verschluckte, bis nichts weiter als eine leere Wüste vor mir lag.

Er war weg. Genauso plötzlich, wie er aufgetaucht war, war er nun wieder verschwunden. Aber ich fühlte mich nicht gut dabei. „Wo geht er hin?“, hörte ich mich leise fragen.

„Was interessiert dich das?“ Askea hatte die Augen wieder geschlossen. Trotz des kleinen Energieschubs durch das Wasser und das Essen war er noch immer erschöpft. „Er ist doch nur ein Dämon.“

„Er ist vor allen Dingen ein Kind!“, fuhr ich ihn an und versuchte, den Jungen mit den Augen aufzuspüren. Vielleicht war er ja noch in der Nähe.

„Du wolltest, dass er geht“, sagte Askea leise.

Ja, aber doch nicht so. Ich hatte gehofft, dass … ich wusste nicht genau, was ich gehofft hatte, aber so sollte es nicht sein. Nein, so konnte ich ihn nicht verschwinden lassen. Ich musste wissen, dass es ihm gutging, doch als ich einen Schritt nach vorne machte, ließ Askeas Stimme mich sofort wieder verharren.

„Nanu, es macht ja fast den Eindruck, als würdest du dich um einen Dämon sorgen.“

„Er ist nur ein Kind“, wiederholte ich leise und ballte die Hände zu Fäusten.

„Du wirst ihn nicht finden“, erwiderte er genauso leise. „Die Wüste ist sein Zuhause, er weiß, was er tun muss.“

Ganz im Gegensatz zu mir, denn ich fühlte mich in diesem Moment verlorener denn je.

 

°°°

 

Mit erhobener Hand stand ich vor dem Zelt, wagte es aber nicht zu klopfen. Ich wusste, dass Amir drin war. Nicht nur, weil ich ihn durch die dicke Plane hören konnte, Ryu hatte mir auch gesagt, dass er dort war. Amir hatte mich zu sich bestellt.

Den ganzen Tag war ich den Jägern so gut es ging aus dem Weg gegangen. Nach dem, was in der Nacht geschehen war, konnte ich ihnen einfach nicht in die Augen sehen. Nicht weil ich mich für das schämte, was ich getan hatte. Ich fürchtete mich davor, dass sie die Wahrheit erkennen konnten. Damit dass ich Fax zur Flucht verholfen hatte, hatte ich sie betrogen.

Dass er nur ein unschuldiges Kind war, würden die Jäger sicher nicht als Entschuldigung durchgehen lassen.

Aber in einem so kleinen Lager war es nicht einfach, den anderen auszuweichen. Ich war nur froh gewesen, dass Amir mit Ryu und Elias den ganzen Tag auf Hatz gewesen war. Doch nun waren sie zurück – sogar mit Beute.

Eine Dämonin. Die erste, die mir in meinem Leben begegnet war. Und sie war auf eine Art unheimlich, die ich sogar noch in der der Ferne hatte spüren können.

Nun war ich hier, vor Amirs Zelt, und zögerte, ihn auf mich aufmerksam zu machen. Er hatte mich noch nie hierher bestellt und dass er mich sobald nach seiner Ankunft zu sich rufen ließ, verunsicherte mich in mehr als einer Hinsicht.

Fürchtete ich mich? Ja. Vielleicht hatte mich ja gestern jemand gesehen und deswegen ließ Amir mich nun zu sich kommen. Aber was sollte schon geschehen? Er würde mich ja sicher nicht neben die Dämonen an den Pfahl binden. Trotzdem zögerte ich noch, bevor meine Knöchel endlich gegen die dicke Plane schlugen.

„Ja?“

„Ich bin´s, Tiara.“

„Komm rein.“

Zumindest hörte er sich nicht sauer an. Das war doch schon mal gut, oder? Ich schüttelte den Kopf, um diese unnützen Fragen loszuwerden, und schob die Plane vor dem Zelteingang zur Seite.

Das Amirs Zelt das Größte von allen Wohnzelten war, wusste ich schon lange, doch mit dem, was mich darin erwartete, hatte ich nicht gerechnet. Wo ich gerade mal eine Pritsche zum Schlafen und eine Truhe zum Aufbewahren meiner Sachen hatte, war Amirs Einrichtung richtiger Luxus. Er hatte ein Bett – ein richtiges Bett – mit einem kleinen Beistelltisch, zwei Regale, eine große Truhe und einen Schreibtisch, der mit Papieren und Waffen völlig überladen war.

Und nicht nur dort entdeckte ich Waffen. Hinter seinem Bett lagen verschiedene Stäbe, am Regal lehnten zwei Schwerter. Ein Bogen, samt Pfeilen im Köcher, hing an einem Haken am Regal. Und auf seinem Bett lag zusammengerollt seine Peitsche.

Fast zögernd trat ich in das Zelt und ließ die Plane hinter mir wieder zufallen.

Amir stand mit dem Rücken zu mir über eine Waschschüssel gebeugt, die auf seiner Truhe stand. Seine Tunika hatte er abgelegt, genau wie seine Schuhe. Im Grunde trug er nur noch seine Hose. Mein Blick jedoch lag auf der riesigen Narbe an seiner Schulter. Es sah aus, als hätte dort jemand versucht, ihm den Arm abzuschneiden.

Amir beobachtete still, wie ich näherkam, während er sich mit einem Lappen die Hände abwischte. Er unternahm auch nichts dagegen, dass ich hinter ihn trat und wie aus einem inneren Zwang mit den Fingern die lange Narbe nachfuhr.

„Wie ist das passiert?“

„Ich habe versucht, jemanden zu beschützen.“ Er warf den Lappen auf den Rand der Schüssel. „Hat leider nicht geklappt.“

„Oh.“ Ich ließ meine Hand sinken. „Das tut mir leid.“

„So ist das Leben nun mal. Es lässt sich nicht ändern. Wir müssen einfach weitermachen.“ Seine Hand schloss sich zu einer Faust und seine Gedanken schienen an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit zu reisen. „Immer weiter.“

Für einen kurzen Moment stand in seinen Augen Verlust. Ich kam nicht umhin, mich zu fragen, was das zu bedeuten hatte, doch die Worte auf meiner Zunge blieben unausgesprochen.

Nach einem tiefen Atemzug öffnete er seine Faust und wandte sich zu mir um. „Sag mal, Tiara, gibt es etwas, das dich bedrückt?“

„Bedrückt?“ Wie kam er denn jetzt darauf?

„Gaio ist eben zu mir gekommen. Er sagt, du benimmst dich heute ziemlich sonderbar. Nicht nur ihm ist das aufgefallen, auch ein paar anderen.“

Oh nein. Ich konnte nichts dagegen tun, dass mein Herzschlag sich plötzlich beschleunigte. Ich war den anderen heute extra aus dem Weg gegangen, damit genau das nicht passierte. Verdammt!

„Hat es etwas mit den Hexen zu tun? Du hast mir immer noch nicht gesagt, was im Zirkel vorgefallen ist.“

Fast hätte ich gelacht. Nicht dass das, was Boudicca mir gesagt hatte, in irgendeiner Hinsicht witzig gewesen wäre.

„Du weißt, dass du mit mir über alles sprechen kannst, oder?“

Ich schüttelte den Kopf und lächelte leicht, viel zu erleichtert, dass er auf der völlig falschen Fährte war. „Nein. Es hat nichts mit den Hexen zu tun. Mit mir ist alles in Ordnung.“

„Und wie kommt es dann, dass du dich heute praktisch den ganzen Tag versteckt hast?“

Hatte Gaio das gesagt? Manchmal waren die Leute in diesem Lager einfach viel zu aufmerksam. „Ich habe mich nicht versteckt. Es war nur … ich brauchte halt mal ein wenig Zeit für mich, das ist alles.“ Das war wohl die schlechteste Ausrede, die ich jemals ausgesprochen hatte. Aber solange sie ihren Zweck erfüllte, war das egal.

Amir kniff die Augen leicht zusammen und ein einige der Schlagen auf seinem Kopf zischten echauffiert. „Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich es nicht mag, belogen zu werden.“

Mist. „Wie kommst du darauf, dass ich dich belüge?“

„Und ich werde auch nicht gerne für dumm verkauft.“

Und noch einmal: Mist. Verzagt biss ich mir auf die Unterlippe und wich seinem Blick aus. Das mit Fax konnte ich ihm auf keinen Fall sagen, doch aus irgendeinem Grund merkte er es immer, wenn ich ihn anlog. Das war nicht gut.

„Tiara.“ Er legte mir seine Hand an die Wange und hob mein Gesicht an. „Ich möchte dir doch nur helfen. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, dann muss ich das wissen.“

Ich musste ihn ablenken – schnell – denn Ausreden halfen hier nicht weiter.

Das Erste, was mir in den Sinn kam, war genial und völlig töricht zugleich. Trotzdem beugte ich mich vor und küsste ihn auf den Mund. Langsam, zärtlich, so wie wir es schon einmal getan hatten. Aber er reagierte nicht darauf. Er schien zu wissen, dass ich nur versuchte, ihn vom eigentlichen Thema abzubringen.

Na gut, das waren noch nicht alle Waffen einer Frau, dann musste ich wohl schwerere Geschütze auffahren. Ich legte eine Hand an seine Taille und begann, seiner Kinnlinie mit dem Lippen zu folgen. Seine Bartstoppeln kitzelten an meiner Haut. Auch wenn er versuchte, unbeteiligt zu bleiben, so wurde sein Atem ein wenig schneller.

Meine Lippen küssten seine Schulter, sein Schlüsselbein. Meine Finger strichen über die Haut an seiner Seite, bis er eine Gänsehaut bekam, die mich lächeln ließ.

„Was machst du da, Tiara?“

„Kannst du dir das nicht denken?“ Ich lächelte ihn an. „Wenn nicht, dann muss ich dir wohl etwas auf die Sprünge helfen.“ Ohne ihn aus den Augen zu lassen, glitten meine Finger an seinem Körper hinab, doch in dem Moment, als ich seinen Hosenbund berührte, schnellte seine Hand hervor und hielt mit in einem eisernen Griff fest.

„Nein.“

Mein Lächeln fiel in sich zusammen. „Aber ich dachte …“

„Dass ich dich liebe?“

Das wären nicht meine Worte gewesen, aber ja, in die Richtung gingen meine Gedanken. Schließlich war er mir nahe gewesen – mehr als einmal. Wenn er mich berührt hatte … es hatte mir gefallen. Und dann die vorsichtigen Küsse. Erst gestern war es von ihm ausgegangen. Wie konnte er das tun, wenn er mich nicht mal mochte? Ich meinte, ich war zwar gerade etwas forsch gewesen, aber das hätte ich doch nicht getan, wenn ich das gewusst hätte.

„Wie kann ich dich lieben?“, fragte er leise.

Das war wie ein Schlag ins Gesicht. Ich riss mich von ihm los, taumelte von ihm weg und konnte nicht aufhören ihn anzustarren.

„Nun schau mich nicht so an. Tiara, ich hab dich gern, aber ich kenne dich nicht einmal.“

„Du kennst mich nicht?“, fragte ich spitz und lachte höhnisch auf. „Ich habe so viel Zeit mit dir verbracht. Wir haben Wochen und Monate zusammen trainiert! Mein Gott, du müsstest mich in- und auswendig kennen! Wie kannst du also sagen, dass es nicht so ist?!“ Wie konnte er mich einfach von sich stoßen?

Amir drückte einen Moment die Lippen aufeinander und seufzte dann. „Wie kann ich dich kennen?“, fragte er leise. „Du kennst dich ja nicht einmal selbst.“

„Was?!“

„Tiara, alles was dich ausmacht hast du vergessen, und du weigerst dich strickt, etwas dagegen zu unternehmen. Du fliehst geradezu vor deiner Vergangenheit, vielleicht hast du sogar Angst davor. Ich urteile nicht darüber, aber das ist das, was einen ausmacht. Das Leben formt uns und macht uns zu denen, die wir sind. Alles was wir erleben und tun trägt dazu bei, aber du … du versperrst dich vor der Person, die du einmal warst. Im Moment bist du nichts weiter als ein Kind im Körper einer Frau. Dein Leben besteht nur aus wenigen Wochen und die reichen nicht, um mir zu zeigen, wer du wirklich bist.“

„Wer ich wirklich bin?“ Ich gab ein verbittertes Lachen von mir. „Bisher hat dich das auch nicht gestört. Ganz im Gegenteil, du hast mir immer wieder gesagt, wie froh du darüber bist, mich gefunden zu haben.“ Er hatte doch gewollt, dass ich bei ihm blieb. Er hatte so oft auf mich eingeredet. Wie konnte er also jetzt so etwas sagen?

„Wegen deiner Magie“, sagte er leise. „Du bist so mächtig … wir brauchen dich.“

Nein, das hatte er nicht gesagt. Ich musste mich einfach verhört haben. Er konnte das nicht gesagt haben.

„Versteh mich nicht falsch, Tiara. Ich habe dich sehr gern. Du bist die einzige Frau, von der ich das sagen kann, aber …“

„Sei still!“ Ich konnte es nicht glauben. Diese Situation … es war irreal. Wie war das nur passiert? Wie konnte er nur sowas sagen? Ich und ein Kind? Ich hatte meine Vergangenheit verloren, aber doch nicht mich! Ich war ich – immer! „Was war das alles?“, fragte ich leise. „Warum hast du mich geküsst, wenn es dir nichts bedeutet hat?“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Aber du hast es auch nicht bestritten.“

Er öffnete die Hände, als wollte er mich fragen, was ich von ihm hören wollte. „Ich habe getan, was nötig war, damit du dich uns anschließt. Und da du dies scheinbar wolltest, habe ich mitgespielt.“

Mitgespielt. Dieses Wort war wie ein Rasiermesser in meinem Herzen. Meine Hände schlossen sich zu Fäusten, als die Wut in mir aufstieg. Er hatte mich benutzt, ganz eindeutig. Er hatte getan, was nötig war, um mich zum Bleiben zu bewegen. Und das so vor den Latz geknallt zu bekommen, tat weh. Es schmerzte so sehr, dass ich ihn schlagen wollte. Ich wollte, dass er das gleiche fühlte wie ich. Aber Amir stand einfach nur da und wartete. Unnahbar, ausdruckslos.

Ich starrte ihn an und hatte den Eindruck, ihn das erste Mal wirklich zu sehen. „Und dir ist nie in den Sinn gekommen, dass mich das verletzen könnte?“ War er wirklich so ein eiskaltes Arschloch?

Es dauerte lange, bis er reagierte, doch was er dann sagte, ließ nicht nur die Wut verrauchen. „Liebst du mich denn?“

Mein Mund klappte auf, aber die Worte blieben mir im Halse stecken. Ja, ich mochte Amir, ich hatte ihn sogar sehr gerne, aber war das schon Liebe? Ich mochte es, von ihm berührt zu werden, ich mochte seine kontrollierte Art – kurz, ich mochte ihn. Aber mein Herz blieb in einem normalen Takt, wenn er mir nahe war. Mein Puls beschleunigte sich nicht und auch mein Atem blieb gleichmäßig. Ihn bei mir zu haben war … angenehm. Das war aber auch schon alles.

„Deinem Schweigen entnehme ich, dass es nicht so ist.“

„Was weißt du schon!“, fauchte ich ihn an. Dass er mich so hinters Licht geführt hatte … das würde ich ihm nicht verzeihen.

„Ich weiß, dass du dich erst selbst finden musst, bevor aus Mögen mehr werden kann.“

Ich wollte das nicht mehr hören, ich wollte ihn nicht mehr sehen. Ich musste hier raus. Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um …

Er packte mich am Arm, was mich sofort stocksteif werden ließ. „Tu jetzt nichts Unüberlegtes, Tiara. Auch wenn du es vielleicht nicht glaubst, wir brauchen dich hier immer noch. Und da gibt es auch noch andere Jäger, die dich gern haben. Asha würde es mir sicher nicht verzeihen, wenn du uns verlässt. Und Gaio auch nicht.“

Gaio. Wegen diesem Gargoyle war ich doch überhaupt erst in dieses Zelt beordert worden. Nur wegen ihm steckte ich nun in dieser vertrackten Situation.

„Und auch die Dämonen sind weiterhin eine Gefahr. Das solltest du nicht vergessen.“

Die Dämonen. Nur wegen ihnen hatte er mich überhaupt hier haben wollen. Nur wegen ihnen und meiner mächtigen Magie. Im Moment hasste ich sie einfach nur. Sie war schuld daran, dass ich sterben würde. Sie war schuld daran, dass ich geblieben war. Ich kniff die Augen zusammen. „Lass mich los.“

Und er tat es. Ohne zu zögern und ohne weitere Reden zu halten.

Ich war so schnell aus dem Zelt raus, dass ich es selbst kaum mitbekam.

Im Moment bist du nichts weiter als ein Kind im Körper einer Frau.

Und ich hatte mir Vorwürfe gemacht, dass ich Fax geholfen hatte. Ich hatte ein schlechtes Gewissen gehabt, weil ich Askea gefüttert hatte. Aber jetzt … sollte dieser Mistkerl doch zur Hölle fahren! Was wusste er schon. Er hatte keine Ahnung, wie es war, in einer fremden Welt zu landen und sich mit dem abzufinden, was einem gegeben war. Er kannte auch nicht dieses Gefühl, dass ich immer zu verdrängen versuchte. Diese Furcht vor dem, was gewesen sein könnte.

Es gab sicher einen Grund für meine Angst, für dieses tiefsitzende Gefühl, der mich daran hinderte, an der Oberfläche zu kratzen, um mein tieferes Ich zu erreichen. Das konnte ich nicht ignorieren. Es hatte einen Grund, warum ich hergekommen war, etwas musste geschehen sein, etwas, das ich nur noch vergessen wollte, und darum durfte ich meine Erinnerungen nicht anfassen. Es war besser, sie unter Verschluss zu halten. Da war ich mir sicher.

 

°°°°°

Tag Zweiundsiebzig

 

Das Bein weit von mir gestreckt, wirbelte ich herum und traf Elias damit direkt gegen die Hüfte. Damit hatte er nicht gerechnet. Er gab einen unterdrückten Laut von sich, bevor er mit einem ordentlichen Rums im Sand landete, während Kiran mir von der Seite zujubelte.

Ich konnte es mir nicht verkneifen, in dem Moment die Melodie von We are the Champions zu summen und mir das schweißfeuchte Haar aus dem Nacken zu wischen. Obwohl meine musikalische Beilage sowieso verschwendet war, da keiner der Anwesenden etwas damit anfangen konnte.

Elias gab einen Fluch von sich und betastete vorsichtig seine Seite.

„Das hat gesessen“, kommentierte Kiran und sprang auf die Beine. „So, jetzt bin ich dran. Und du wirst sehen, ich lass mich von einer Frau nicht so einfach fertigmachen.“

Ich schnaubte. Das Problem der Jungs war einfach, dass ich Karate beherrschte und sie diese Kampfsportart weder kannten noch wussten, wie sie sie kontern sollten.

„Viel Glück“, wünschte Elias ihm und rappelte sich auf die Beine, um dann die Kuhle zu verlassen. Dabei bewegte er sich sehr vorsichtig. Ich musste ihn wirklich gut getroffen haben.

Es war später Vormittag und die Hitze des Tages würde bald ihren Höhepunkt erreichen. Schon jetzt befanden sich die Temperaturen im schweißtreibenden Bereich. Und trotzdem hatten wir drei uns entschlossen, ein wenig zu trainieren. Nicht nur, weil es wichtig war und wir nichts Besseres zu tun hatten. Es lenkte mich auch von meinen Gedanken ab, unter denen ich langsam verrückt zu werden drohte.

Auch jetzt, als Kiran unter Guardians wachsamen Blick vor mich in den Sand trat und dabei übertrieben Magie von seinen Fingerspitzen sprühen ließ, spürte ich sie wieder aufsteigen.

Seit zwei Tagen hatte ich es nicht mehr gewagt, meine Magie anzurühren. Es war die Angst, die mich daran hinderte. Und doch konnte ich sie die ganze Zeit in mir spüren, diese Verlockung, die mich dazu bringen wollte, sie zu benutzen. Wenn ich dann sah, wie Kiran oder Asha ihre Magie ohne nachzudenken anwendeten, spürte ich den Neid. Warum konnten sie es tun, während es mir verwehrt blieb? Das war nicht fair. Ich war auch ein magisches Wesen. Wenn ich auch in einer anderen Welt geboren und aufgewachsen war, so lagen meine Wurzeln hier.

So sehr ich mir auch wünschte, dass es anders wäre, es ließ sich nicht mehr leugnen - die Magie machte mich krank. Und das machte mich wütend.

Als ich nun sah, wie Kiran völlig selbstverständlich seine Magie zur Schau stellte, konnte ich mich dem Funken des Zorns nicht erwehren. Es war wie schwelende Glut, die sich immer weiter entfachte. Deswegen packte ich wohl meinen Stab fester und griff an, bevor Elias das Startzeichen gegeben hatte.

„Woah!“ Kiran wich zur Seite, ließ dabei den Sand aufspritzen und schaute mich entgeistert an. „Was war das denn bitte?“  

„Was glaubst du, was das war?“ Ich wirbelte herum und schlug erneut nach ihm. Dabei nahm ich mich nicht zurück, was er auch merkte, als der Stab seinen Arm streifte.

„Hey!“, protestierte er.

„Dann gib halt nicht so an.“ Wieder schwang ich meinen Stab. Es war nicht nur die Magie, die mich wütend machte. Das, was Amir gestern zu mir gesagt hatte, ließ mich einfach nicht in Ruhe. Nicht nur, dass er mich und meine Gutgläubigkeit praktisch ausgenutzt hatte, auch seine Worte. Was ging es ihn an, wenn ich mich nicht erinnern wollte? Wie konnte er es wagen, mich deswegen zu einem Baby zu erklären, das keine Ahnung vom Leben hatte? Wie konnte er es wagen, über mich zu urteilen?!

Die Wut ballte sich zusammen. Ich spürte, wie sie mir den Hals zuschnürte, und ich konnte einfach nicht anders, als mit meinem Stab mit voller Wucht nach Kiran zu schlagen. Die Magie umgab ihn wie eine zweite Haut. Ich konnte sie spüren, fühlte die Vibration in der Luft und wusste ganz genau, wann er sie zum Angriff nutzen wollte.

Mit einer Drehung brachte ich mich in Sicherheit, schwang meinen Stab herum und riss ihm damit die Beine unter dem Körper weg.

„Ahhhr!“ Kiran landete rücklings im Sand. Seine Magie verpuffte einfach, während er vor Schmerz das Gesicht verzog.

„Magie ist nicht alles!“, fuhr ich ihn an. Eigentlich wusste ich, dass meine Wut den Falschen traf. Er konnte nichts dafür, wer er war, und es war auch nicht seine Schuld, dass Amir meine Schwächen ausgenutzt hatte. Aber er war gerade da und … ja, ich brauchte ein Ventil, bevor ich noch platzte.

„Scheiße“, fluchte Kiran. „Was soll das?! Das ist nur eine Übung!“

„Ja, die uns auf den Ernstfall vorbereiten soll! Die Zeit für Samthandschuhe ist vorbei!“ Ich warf meinen Stab in den Sand und brachte mich in Angriffsposition. „Du hast zwei Sekunden, um auf die Beine zu kommen, dann greife ich an. Eins, zw…“

Ein Stoß in den Rücken ließ mich zu Boden gehen und ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass das Kiran gewesen war. Er hatte irgendwas Magisches gemacht. Das machte mich noch wütender. Ich dachte gar nicht nach, als ich mich auf ihn stürzte.

„Verdammt, was …“

Mehr konnte er nicht sagen, da traf meine Faust auch schon sein Kinn. Er gab einen Laut des Schmerzes von sich.

„Uhhh“, machte Elias und selbst Guardian zirpte mitfühlend.

Doch das hielt mich nicht auf. Ich war so wütend auf ihn, wütend auf Amir, wütend auf die ganze Welt. Das war alles so ungerecht. Ich wollte nicht sterben. Ich wollte leben und ich wollte meine Magie benutzen können. Ich wollte, dass Amir seine Worte zurücknahm, weil es so wehgetan hatte, das zu hören. Ich wollte, dass dieser dumpfe Schmerz verschwand, der seit gestern in meinem Herzen tobte. Ich wollte …

Ein Schlag in die Seite warf mich in den Sand. Kiran hatte nicht richtig zugeschlagen, aber es hatte ausgereicht, damit ich es spürte. Die Wut kochte in mir hoch. Noch bevor er ein Wort sagen konnte, warf ich mich mit einem Schrei wieder auf ihn.

Ich prallte gegen ihn, doch als ich versuchte, nach ihm zu schlagen, fing er meine Faust ab und wollte mir den Arm verdrehen. Weil er aber unter mir lag, wollte ihm das nicht recht gelingen. Aber dafür schaffte er es, mich mit einem Bein von sich zu stoßen und mich erneut in den Sand zu schleudern.

Sobald er frei war, sprang er auf die Beine und entfernte sich einige Schritte von mir. „Verdammt, was ist mit dir los?!“

Ich stemmte mich auf die Arme und spuckte Sand aus, aber eine Antwort blieb ich ihm schuldig. Er würde es sowieso nicht verstehen. Wie sollte er auch? Ich verstand es ja selbst nicht. „Warst du es nicht, der eben gesagt hat, er lässt sich nicht von einer Frau fertig machen?“, höhnte ich.

„Du weißt genau, dass das so nicht gemeint war!“

Ich biss die Zähne aufeinander und funkelte ihn an. „Das ist mir gerade ziemlich egal.“ In einer geschmeidigen Bewegung kam ich wieder auf die Beine. „Und entweder du beginnst, dich richtig zu wehren, oder es wird schmerzhaft für dich.“ Das letzte Wort war mir noch nicht mal richtig über die Lippen gekommen, da ging ich bereits wieder zum Angriff über.

Der Sand spritzte unter meinen Füßen auf. Meine Faust war geballt und flog auf sein Gesicht zu und … in diesem Moment entdeckte ich ihn.

Fax.

Ich war so überrascht, sein Gesicht um die Felsecke spähen zu sehen, dass ich nicht mehr auf Kiran achtete. Doch der Schmerz in meinem Kopf verriet mir, dass er meine Worte ernstgenommen hatte. Ich sah Sterne und für einen Moment wurde mir schwarz vor Augen.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Boden. Kiran hockte neben mir und tätschelte mir vorsichtig das Gesicht, was mich zischen ließ – das tat weh. Ich konnte nur für ein paar Sekunden weg gewesen sein.

Mein Blick glitt sofort zur der Ecke, die die Sicht auf die Lagune versperrte. Kein Fax zu sehen. Aber das hatte ich mir doch nicht eingebildet.

„Vielleicht sollten wir sie zu Asha bringen“, überlegte Elias.

Erst jetzt bemerkte ich, dass er an meinem Kopf stand und ein wütendes Fellknäuel in den Händen hielt, das unentwegt versuchte, ihn zu beißen. Guardian war von der Behandlung, die er ihm zukommen ließ, wenig begeistert.

„Ich geh nicht zu Asha.“ Mit schmerzendem Kopf setzte ich mich auf und schob Kiran zur Seite, als er mir helfen wollte.

„Aber du hast einen ganz schönen Schlag gegen den Kopf bekommen“, widersprach der Magier. „Es wäre sicher besser, wenn du …“

„Ich gehe nicht!“, fauchte ich ihn an. „Mit mir ist alles in Ordnung!“

Die beiden Männer warfen sich einen stummen Blick zu. Solange, bis Guardian Elias‘ Finger erwischte und dieser ihn fluchend fallen ließ. Sofort flitzte mein kleiner Wächter an meine Seite und fauchte Kiran an.

„Mir geht es gut.“ Dass es nicht stimmte, brauchten die beiden nicht zu wissen.

Ich griff mir Guardian, bevor noch einer von Kirans Fingern dran glauben musste, und stand vorsichtig auf. Mein Kopf tat fürchterlich weh. Aber wenigstens lenkte mich das ein wenig von meinen Gedanken ab. Bis auf einen.

Fax.

Ich war mir sicher, dass ich ihn gesehen hatte. Das war keine Einbildung gewesen. Ich musste dringend nachschauen, ob ich Recht hatte. Und dann würde ich … keine Ahnung was, aber irgendwas musste ich tun.

„Auch wenn es dir gut geht, solltest du vielleicht …“

„Nein!“, unterbrach ich Elias rüde und funkelte ihn an. „Lasst mich einfach in Ruhe!“ Ich drängte mich an den beiden vorbei. „Und wagt es nicht, mir zu folgen!“

„Tiara, was hast du nur? Du …“

„Wenn euch was nicht passt, dann könnt ihr mich ja bei Amir verpetzen, genauso wie Gaio es getan hat!“ Ich funkelte die beiden an und stampfe dann um die Ecke. Sollten sie doch machen, was sie wollten.

Ich setzte mich halb in den Schatten an die Lagune und wartete, was passieren würde. Ich konnte mir nicht sicher sein, dass sie wegblieben, aber …

Als Guardian neben mir leise zirpte, schien die Wut einfach aus meinem Körper zu entweichen. Ich schloss die Augen, legte meinen Kopf auf meine angezogenen Knie und bereute es sogleich. Nicht nur, dass mein Schädel pochte, als würde er von jemandem mit einem Vorschlaghammer bearbeitet werden, ich würde auch ein dickes Hörnchen an der Stirn bekommen. Kirans Faust hatte wirklich gut getroffen.

Verdammt. Was war da eigentlich in mich gefahren? Diese ganze Wut, diese … ich wusste nicht einmal, wie ich es nennen sollte. Ich wusste nur, dass ich völlig ausgetickt war, und es dafür nicht mal einen guten Grund gab.

Natürlich, er konnte seine Magie gefahrenlos einsetzen, aber das war doch nicht seine Schuld. Und was Amir anging … es sollte mir nicht so viel ausmachen, was er gesagt hatte, denn er hatte Recht, ich liebte ihn nicht. Ich mochte ihn – sehr sogar – aber eben nicht auf diese Weise. Und was die Hexen anging … es war immer noch nicht bewiesen, dass Boudicca die Wahrheit gesagt hatte, auch wenn ich langsam geneigt war, ihren Worten zu glauben.

Es sprach so viel dafür – zu viel.

Seufzend ließ ich meinen Blick über die rötliche Wasseroberfläche gleiten. Ein sanfter Windzug brachte sie dazu, sich zu kräuseln, bis das Wasser sanft am Ufer leckte.

Was war heute nur mit mir los? Ich verstand mich selbst nicht und nun musste ich auch noch befürchten, dass Fax wieder hier war. Aber warum? Sein Vater hatte ihn doch fortgeschickt.

Das würde ich ihn selbst fragen müssen, aber noch riskierte ich es nicht, aufzustehen und in der kleinen Höhle im Geröllhaufen nachzusehen. Es war zu gefährlich. Doch wenn ich zu lange wartete, wäre es sicher auch nicht gut. Dieser Platz würde nicht ewig leer bleiben.

Vielleicht sollte ich einfach warten, bis es dunkel war. Nur würden meine Gedanken mich dann den ganzen Tag belasten und das konnte ich im Moment nicht auch noch gebrauchen. Nein, ich musste mir jetzt Gewissheit verschaffen. Vielleicht hatte ich mich ja auch geirrt und das war nur eine … eine Fata Morgana gewesen. Egal, wie es war, ich würde es nun herausfinden.

Mit einem wachsamen Rundumblick versicherte ich mich, dass ich auch wirklich allein war. Dann lauschte ich noch angestrengt auf die Geräusche um mich herum. Da waren die Stimmen von den Jägern und die Alltagsgeräusche an diesem Ort, doch sie kamen alle aus dem Lager. Ich war allein. Naja, bis auf Guardian. „Du passt schön auf und warnst mich, falls wir Besuch bekommen. In Ordnung?“

Ob sein Zirpen nun eine Zustimmung war oder nicht, ich erhob mich von meinem Platz, sondierte dann noch einmal wachsam die Umgebung und huschte unter den Vorsprung zum Geröllhaufen. Ich musste nicht mal in die Höhle reinkriechen, da sah ich ihn schon. Er spähte aus dem Eingang, als würde er auf mich warten. Verdammt!

„Tiara!“

„Pssst!“, machte ich und drückte mir dabei den Zeigefinger gegen die Lippen. „Was machst du hier?“

„Papá ist hier.“

Oh nein, nicht schon wieder. „Er hat doch gesagt, dass du gehen sollst.“

„Ich bin ja gegangen. Aber er hat nicht gesagt, dass ich wegbleiben muss.“

Mein Mund ging auf, aber ich konnte nicht widersprechen, denn er hatte Recht.

„Ich brauch doch meinen Papá.“

Diese wenigen Worte zerrissen mir fast das Herz. Sein folgendes Magenknurren machte es auch nicht besser.

„Ich habe Hunger.“

Erst nach diesen Worten sah ich ihn mir etwas genauer an. Unter seinen Augen lagen tiefe Ringe und seine Wangen waren leicht eingefallen. Er wirkte insgesamt schmächtiger und ungepflegter als vor zwei Tagen. War das wirklich erst zwei Tage her? Nein, nicht ganz, aber trotzdem schien er Probleme zu haben, auf sich allein aufzupassen.

Wenigstens hatte er allein überlebt, etwas, wozu ich nicht fähig gewesen war. Und trotzdem, mit dem Dreckfleck auf der Wange und den Kratzern an seinen Händen … er wirkte verloren, alleingelassen, verängstigt. Wie er da so in dem Eingang kniete … es tat fast körperlich weh, ein Kind so zu sehen.

Er war doch noch so klein. Aber … „Hier kannst du nicht bleiben.“

„Mein Papá ist hier.“

„Ja, das weiß ich. Das haben wir schon durchgekaut, aber …“

„Ich brauche meinen Papá“, sagte er leise. Seine Traurigkeit war fast mit Händen zu greifen. Als dann sein Magen erneut knurrte, brach ich ein. So konnte ich ihn nicht wegschicken.

„Pass auf. Ich hole dir jetzt etwas zu essen und wenn du es gegessen hast, dann gehst du.“

Seine kleinen Hände ballten sich in seinem Schoß zu Fäusten. Sein Mund blieb geschlossen. Das war ein klares Nein.

„Bitte, Fax.“ Ich griff nach seiner Hand und drückte sie leicht. Dass er vor der Berührung nicht zurückzuckte, bemerkte ich nur am Rande. „Ich will nicht, dass die Jäger dich bekommen. Aber wenn du hier bleibst, dann wird das früher oder später passieren.“

Fast zögernd drehte er seine Hand in meiner und drückte sie. Nur ganz leicht, doch ich spürte es. „Ich kann mich doch in der Höhle verstecken.“

„Nein, Fax, du verstehst nicht. Wenn …“

„Darf ich bei dir bleiben, Tiara?“ Er hob den Blick und sah mich so flehentlich an, dass ich absolut keine Ahnung hatte, was ich sagen sollte.

Er wollte bei mir bleiben? Wie stellte er sich das vor? Sollte ich ihn mit ins Lager nehmen? Oder sogar mit ihm von hier verschwinden? Das war absurd, wo sollte ich schließlich mit ihm hin? Dann war da noch die Prophezeiung von Boudicca.

Doch so flehend, wie Fax mich ansah, wagte ich es nicht, diese Worte laut auszusprechen. Stattdessen erhob ich mich von meinem Platz. „Bleib hier, ich hole dir etwas zu essen. Guardian, du bleibst auch hier und passt auf ihn auf.“

Mein kleiner Freund zirpte und legte sich auf den Boden. Und auch, als ich mich ein paar Schritte entfernte, blieb er, wo er war. Manchmal konnte ich wirklich glauben, dass er verstand, was ich sagte. Wenigstens einer, der auf mich hörte.  

Ich kehrte ihm bereits den Rücken zu, da hörte ich noch ein leises „Danke“ von ihm.

Oh Gott, was sollte ich nur machen? Jetzt stand ich wieder vor dem gleichen Problem wie vor zwei Tagen. Ich konnte ihn doch nicht dauerhaft in der Höhle verstecken. Auch wenn ich irgendwie froh war, dass es ihm gutging, konnte er nicht hierbleiben. Verdammt, es musste doch irgendjemanden geben, der sich um ihn kümmern konnte. Und wenn ich ihn persönlich bei diesem Jemand abliefern musste. Ich würde es tun, nur um sicherzugehen, dass er gut untergebracht war.

Für die Jäger würde mir sicher eine Ausrede einfallen. Ich konnte Amir vorschieben, sagen, dass ich ein paar Tage für mich brauchte. Das würde mir sicher niemand übelnehmen – nicht nach dem, was Amir getan hatte. Aber eigentlich war das Ganze nur wegen meiner eigenen Dummheit passiert. Asha hatte mich vor ihm gewarnt – so mehr oder weniger. Sie hatte mir deutlich gesagt, dass ich auch mit ihr im Lazarett hätte arbeiten können.

Doch nach dem, was mit Ryu passiert war … ich konnte nicht tatenlos dabei zusehen, wie jemandem ein Unrecht geschah. Das war wohl auch der Grund, warum ich Fax vor den anderen verbarg. Aber wie lange würde mir das noch gelingen? Irgendwann …

Der frontale Zusammenstoß mit einem männlichen Körper riss mich aus meinen Gedanken. Hände griffen nach meinen Armen, damit ich nicht umkippte, doch diese Hände waren so vertraut, dass ich sie sofort abwehrte. Ich war in Amir reingelaufen.

„Tiara …“

Ich hob die Hände, um ihn zum Verstummen zu bringen. Bei all den vielen Leuten, die in diesem Lager lebten, musste ich ausgerechnet auf ihn treffen. Das war doch wirklich der Witz des Tages.

Dann sagte er doch tatsächlich: „Du hast keinen Grund, wütend auf mich zu sein, ich habe dir nie etwas versprochen.“

„Nein, aber du hast mich getäuscht, damit ich dir vertraue, und das ist viel schlimmer.“

„In deinen Augen mag es vielleicht so wirken.“ Er richtete den Blick auf die kleine Koppel. Ich war die ganze Zeit so in Gedanken gewesen, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie weit ich bereits ins Lager hineingelaufen war. Dort vorne konnte ich sogar schon die Feldküche sehen. „Aber du musst verstehen“, fuhr er fort, „wir müssen einander vertrauen, da wir das Einzige sind, was wir auf der Jagd haben. Wir müssen uns auf den anderen verlassen können.“

„Das hättest du auch anders machen können!“ Nicht auf diese Art. Nicht so, dass es wehtat.

„Vielleicht“, räumte er ein und schaute mich wieder an, doch er wirkte wieder so unnahbar. Langsam begann ich, das zu hassen. „Aber du darfst nicht vergessen, du hast diesen Weg gewählt, ich habe nur …“

„Mitgespielt, ich weiß.“ Glaubte er, seine Worte würden irgendetwas besser machen? Da konnte ich nur schnauben. Er konnte sagen, was er wollte, es blieb dabei, Amir hatte mich verraten. Und ich hatte absolut keine Lust mehr, mich mit ihm zu unterhalten. Das machte es nur noch schlimmer. „War das dann alles?“

Einen langen Moment sah er mich einfach nur an und ich weigerte mich, seinem Blick auszuweichen. Er sollte die Wut in meinen Augen ruhig sehen, vielleicht verstand er dann, was er getan hatte. „Bleibst du bei uns?“, fragte er mich dann.

Ob ich bliebe? War eigentlich klar, dass das sein einziges Anliegen war. Am liebsten hätte ich ihm ein „Nein“ vor den Latz geknallt. Doch so, wie die Dinge lagen, ging es nicht.

Für einen kurzen Moment hatte ich gestern meine Sachen packen wollen. Auch heute Morgen hatte ich noch darüber nachgedacht. Doch jetzt war Fax hier. Ich konnte ihn nicht im Stich lassen.

Darf ich bei dir bleiben, Tiara?

„Vorerst“, war daher meine Antwort. Aus meiner Stimme konnte er deutlich heraushören, dass es nicht meine endgültige Entscheidung war, aber die konnte er auch nicht von mir verlangen. Im Moment war einfach alles so verworren, dass ich selbst nicht genau wusste, was ich tun sollte - und auch tun würde. „Vorerst werde ich bleiben.“

„Das freut mich zu hören.“

So sah er aber nicht aus. Er wirkte eher nachdenklich, so als würde er in meinem Gesicht etwas suchen, vielleicht etwas, das ihm verriet, wie er sich nun verhalten sollte. Doch dann hob er plötzlich die Hand und wollte sie mir an die Wange legen.

Ich wich so schnell vor ihm zurück, dass ich beinahe über meine eigenen Beine stolperte. „Untersteh dich!“, fauchte ich ihn an. Nach dem, was er gestern getan hatte, sollte er es gar nicht wagen, mir noch einmal auf diese Art nahezukommen.

Sehr langsam ließ er seine Hand zurück an seine Seite sinken und ballte sie zu einer Faust. „Tiara, das, was ich gestern zu dir gesagt habe, war nicht nur so dahergeredet. Ich mag dich.“

„Und deswegen glaubst du, dass wir jetzt einfach da weitermachen können, wo wir aufgehört haben?“ Langsam begann ich zu glauben, dass bei ihm im Oberstübchen etwas nicht ganz richtig lief. „Wenn ich dich daran erinnern darf, du warst es, der mich abgewiesen hat!“

„Weil es zu früh gewesen wäre.“

Darauf wusste ich nichts zu erwidern. Was sollte das nun wieder bedeuten? Er konnte mich doch nicht erst so hintergehen und mir dann sowas sagen. Glaubte er wirklich, dass ich ihm seine Worte noch abnahm? Das war mehr als nur lachhaft. „Sind wir dann fertig?“ Ich wollte hier endlich weg.

Für einen Moment drückte er die Lippen aufeinander. „Wir brechen morgen früh zur Hatz auf und du wirst mitkommen.“

Wie gerne ich nein gesagt hätte, einfach nur um ihm Widerworte geben zu können. Aber so, wie die Dinge lagen, war er nun mal mein Boss. Ich arbeitete für ihn und wenn ich zum Appell gerufen wurde, hatte ich zu folgen – vorerst. „Ich werde da sein. Aber wenn du mich nun entschuldigst, ich habe noch etwas zu tun.“ Ich gab ihm gar nicht die Gelegenheit, mich ein weiteres Mal aufzuhalten, so schnell war ich aus seiner Reichweite verschwunden. Doch das, was er mir gesagt hatte, kreiste auf dem Weg in die Feldküche weiter in meinem Kopf herum.

 

°°°

 

Vorsichtig spähte ich auf den Pfahlplatz und versicherte mich mit einem Blick über die Schulter, dass außer mir niemand mehr auf den Beinen war. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was passieren würde, wenn die Jäger spitz bekamen, dass ich auf dem Weg war, die Dämonen zu füttern – mal wieder.

Alles schien zu schlafen, doch als es neben mir leise zirpte, hätte ich vor Schreck beinahe einen Herzstillstand erlitten – mein Gott, das wurde langsam aber sicher zu einem Running Gag. „Pssst“, machte ich in Guardians Richtung und versuchte mich so zu verhalten, als wäre ich nicht gerade auf dem Weg, etwas Verbotenes zu tun – nur für den Fall, dass mich jemand beobachtete.

Aus meinem letzten Besuch bei den Dämonen hatte ich gelernt. Ich würde nur bekommen, was ich wollte, wenn ich ihnen auch etwas gab. Deswegen hatte ich einen Teil meines Abendessens in meine Tasche wandern lassen und eben noch drei Schläuche mit Wasser besorgt. Zwar war ich eigentlich hier, um Askeas Kind aus der Gefahrenzone zu bringen, da der Kleine sich nach wie vor weigerte, die Lagune zu verlassen – aber Dämonen waren eben Dämonen. Und je schneller ich das hier über die Bühne brachte, umso schneller würde ich zu meinem Tagesrhythmus zurückkehren können. Deswegen fackelte ich auch nicht mehr lange, sondern eilte auf Zehnspitzen auf die Dämonen zu.

Kaum hatte ich meine Deckung verlassen, richtete Askeas Blick sich auf mich. Da der Mond heute Nacht sein Licht ungezügelt zur Erde schickte, konnte ich ihn leider viel zu deutlich erkennen. Vor zwei Nächten war ich das letzte Mal hier gewesen, und war Askea da schon sehr ausgemergelt gewesen, so war er nun nur noch ein Schatten seiner selbst.

Die Ringe unter seinen Augen hatten sich so tief in sein Gesicht gegraben, als wollten sie bis auf den Knochen vordringen. Seine Lippen waren aufgesprungen und seine Haut von einem Sonnenbrand verätzt, der bei jeder Bewegung höllisch schmerzen musste. Seine Haut begann sich sogar schon zu pellen. Allein die Tatsache, dass er in der Wüste lebte und an dieses Wetter gewöhnt war, half ihm wohl dabei, noch nicht wie ein Brathähnchen auszusehen.

Und doch konnte ich den Schmerz in seinen Augen entdecken – egal, wie gut er versuchte, ihn zu verstecken.

Je näher ich ihm kam, desto schlimmer sah er aus. An seiner Schulter konnte ich erkennen, dass die Sonne ihm die Haut bis aufs Fleisch versengt hatte. Es sah fürchterlich aus.

Ich wollte ihn nicht zu genau beobachten, als ich durch das Schild trat und … ein plötzlicher Schwindelanfall riss mich fast von den Beinen. Ich schaffte es gerade noch so, meine Tasche festzuhalten und nicht auf Guardian fallen zu lassen, als die Magie des Schildes meine Haut streifte und mich damit fast in die Knie zwang.

Das kam so unerwartet, dass ich einen Moment einfach stehen blieb und nicht nur mein Herz, sondern auch meinen Atem wieder beruhigen musste. Was war das gewesen?

Nein. Nein! Ich würde jetzt nicht näher über diese Frage nachdenken. Zum einen hatte ich dafür keine Zeit und zum anderen wusste ich es schon.

Das Schild bestand aus starker Magie und was das bedeutete, hatte Boudicca mir mehr als deutlich gemacht.

Ich verdrängte diesen Gedanken, wie ich es schon die ganze Zeit tat, und konzentrierte mich stattdessen auf Askea. Sein Körper war von der Sonne mehr als nur geschunden worden. Ich traute mich gar nicht, zu genau zu dem Saphir zu schauen, doch dem Blick der Dämonin konnte ich nicht ausweichen. In ihren Augen stand solche Wut und so ein abgrundtiefer Hass, dass ich mich sofort von ihr abwandte, als ich mich vor Askea hockte und meine Tasche von der Schulter gleiten ließ – und dabei auch noch fast Guardian traf. Der zirpte leicht erbost und schlich ein paar Schritte zur Seite.

Askea dagegen beobachte mich einfach nur still, als ich einen der Wasserschläuche aus meiner Tasche zog und den Deckel abschraubte.

„Verschwinde, du Jägermiststück!“, zischte die Dämonin zu mir herüber.

Reflexartig warf ich ihr einen Blick über die Schulter zu und wusste sofort, dass sie mir den Kopf abreißen würde, wenn sie nur die Gelegenheit dazu bekommen würde.

Ein kalter Schauer rann mir über den Rücken. Darum wandte ich mich so schnell wie möglich wieder von ihr ab und hob den Wasserschlauch an Askeas Lippen. Doch er versuchte nicht mal zu trinken.

„Willst du mich nun vergiften?“ Seine Stimme war unendlich leise und durch den rauen Ton darin kaum zu verstehen. Es tat weh, ein anderes Wesen unter solchen Qualen sehen zu müssen – besonders, da ich sie bereits selbst durchgemacht hatte und wusste, was das für ein Gefühl war.

„Nein“, sagte ich leise und schüttelte dabei auch noch den Kopf. „Fax ist wieder da und ich brauche deine Hilfe.“

Ein fast unmerkliches Lächeln erschien auf Askeas aufgesprungenen Lippen. „Ich hätte es wissen müssen.“

„Er hat gesagt, er ist wiedergekommen, weil du ihm nicht ausdrücklich befohlen hast, wegzubleiben.“

Darauf erwiderte er nichts. Vielleicht hatte er ja sogar gehofft, dass sein Sohn wiederkam und mich damit zwang, ihn erneut aufzusuchen. Aber selbst, wenn es so war, konnte ich nichts daran ändern. Deswegen hob ich den Wasserschlauch erneut an seinen Mund und dieses Mal öffnete Askea die Lippen.

Ich ließ nicht zu, dass er das Wasser gierig hinunterstürzen konnte. Er hatte seit zwei Tagen nichts zu sich genommen, zu viel auf einmal würde ihn nur dazu bringen, alles wieder hoch zu würgen, und das war ja nun nicht Sinn der Sache. Deshalb dauerte es auch ein Weilchen, bis der Schlauch sich auch nur ein wenig leeren konnte.

Ich nutzte die Zeit, um ihn darüber zu informieren, dass Fax wieder hier aufgetaucht war, weil er Hunger hatte und nicht wusste, wohin er gehen sollte. „Er hat mich sogar gefragt, ob er bei mir bleiben darf.“ Ich seufzte. „Aber das geht nicht. Ich gehöre zu den Jägern und er ist … ist …“ Ein Kind. Das war der vorherrschende Gedanke in meinem Kopf. Die Tatsache, dass er auch ein Dämon war, rückte dabei in den Hintergrund.

Askea drehte das Gesicht leicht weg und ich nahm die Flasche runter. Er hatte sie fast vollständig geleert. Das heftige Heben und Senken seiner Brust zeigte mir deutlich, dass diese Aufgabe mit einiger Kraft verbunden gewesen war. „Was hast du erwartet?“, fragte er sehr leise. Der raue Ton in seiner trockenen Kehle war durch das Wasser etwas abgemildert worden, doch seine Schwäche schwang noch immer darin mit.

„Sag mir, was ich tun soll“, verlangte ich. Ich flehte ihn praktisch an. „Du musst doch eine Idee haben.“

Er senkte nur den Blick.

„Willst du, dass er neben dir am Pfahl landet?“

Stumm schloss er die Augen. „Geh zu Davesh.“

Bei diesen drei Worten erblühte ein kleiner Hoffnungsschimmer in mir. Ein Name. Würde er mir helfen können, Fax sicher unterzubringen? „Wo finge ich ihn?“ Ich beuge mich zu ihm vor, um auch keines seiner Worte zu verpassen. Deswegen war ich ihm auch viel zu nahe, als er die Augen wieder aufschlug und sein Gesicht hob.

Einen kurzen Moment konnte ich seinen warmen Atem auf meiner Haut spüren, was mein Herz dazu brachte, sich auf eine seltsame Art zusammenzuziehen. Doch dann drehte er den Kopf und sah zum Saphir hinüber. „Davesh.“

Ich folgte seinem Bick mit den Augen und hätte vor Enttäuschung fast laut aufgestöhnt. Davesh war niemand, der die einzige Rettung in dieser vertrackten Situation war, sondern der Saphir, der durch meine Schuld am Pfahl saß. Er bot mir keine Hilfe, er wollte, dass ich Hilfe leistete.

Fast schon frustriert zog ich den zweiten Wasserschlauch aus meiner Tasche und stiefelte zu dem Saphir hinüber.

Heute war er wach und sah noch schlimmer aus als Askea. Sein Atem ging so schwer, dass ich fast schon damit rechnete, er würde jeden Moment einfach damit aufhören. In seinen Augen lag ein solcher Schmerz, dass selbst ich ihn spüren konnte.

Es tut mir leid!, wollte ich sagen. Das habe ich nicht gewollt, das musst du mir glauben. Stattdessen öffnete ich einfach den Schlauch und goss das Wasser vorsichtig über seinen Kopf und die Schultern.

Bei der ersten Berührung zischte er vor Schmerz, doch dann konnte ich nicht nur ihn, sondern seinen ganzen Körper aufatmen hören. Seine Haut begann sich direkt vor meinen Augen zu regenerieren und vor Erleichterung schloss er sogar die Augen.

„Ich hoffe, das hilft ein bisschen“, sagte ich leise und quetschte auch den allerletzten Tropfen aus dem Schlauch. „Mehr kann ich leider nicht tun.“

„Warum tust du es überhaupt?“ Seine Stimme war so brüchig, dass ich an altes Pergament denken musste. „Warum hilfst du uns?“

Weil da ein kleiner Junge war, dem nicht das gleiche Schicksal blühen sollte. Das sagte ich ihm nicht, weil ich nicht wusste, ob es Askea recht war, wenn die anderen von seinem Sohn erfuhren. „Willst du auch was essen?“, fragte ich stattdessen.

Ein leichtes Kopfschütteln war alles, was er noch schaffte.

„Überleg es dir, ich bin ja noch ein wenig hier.“ Denn da war noch ein dritter Dämon, doch schon als ich mich zu ihr umdrehte, fürchtete ich mich, auch nur einen weiteren Schritt in ihre Richtung zu gehen. Sie war einfach unheimlich, aber ich konnte sie auch nicht einfach verdursten lassen.

Einen kurzen Moment kaute ich auf meiner Unterlippe herum, um dann doch zu meiner Tasche zu gehen und den letzten Schlauch herauszuholen. Doch schon als ich mich zu ihr herumdrehte, flogen mir ihre gezischten Worte entgegen.

„Wage es nicht, damit auch nur in meine Nähe zu kommen!“ Die gelben Augen der Zirkonin schienen bei diesen Worten praktisch aufzuleuchten.

Etwas ratlos sah ich erst sie und dann den Schlauch in meiner Hand an. „Aber du brauchst das Wasser.“

„Von einem Monster wie dir brauche ich gar nichts!“, keifte sie. „Lieber verrecke ich!“

Ich verkniff es mir, ihr zu sagen, dass genau das passieren würde, wenn sie ihre Haltung nicht änderte, und schaute lieber zu Askea. Meine wortlose Frage war deutlich. Was sollte ich nun tun?

„Wenn sie nicht möchte, gib ihr nichts.“

Das fand ich grausam. Trotzdem kniete ich mich nach einem letzten Blick auf sie wieder vor Askea und tauschte den Schlauch in meiner Hand gegen das eingepackte Essen in meiner Tasche aus.

„Wie könnt ihr euch von so einer nur helfen lassen?!“, schrie die Dämonin in dem Moment. „Sie macht das sicherlich nicht aus reiner Herzensgüte!“

„Nein, sie hat ihre Gründe“, erwiderte Askea leise.

„Gründe, Gründe!“, lachte sie höhnisch auf und warf den beiden Männern abwechselnd abschätzende Blicke zu. „Seid ihr zwei von allen guten Geistern …“

„Wirst du jetzt wohl still sein!“, fuhr ich sie an und sah mich vorsichtig nach allen Seiten um. Wenn sie nicht aufhörte rumzuschreien, würde sie noch die anderen Jäger anlocken, und das konnte ich nicht zulassen.

„Warum sollte ich?! Solchem …“

„Ich hex dir gleich den Mund zu!“

Das ließ sie in hysterisches Gackern ausbrechen.

Natürlich, es war nur eine leere Drohung. Davon abgesehen, dass ich gar nicht wusste, wie man so etwas bewerkstelligte, glaubte ich auch nicht, dass ich es über mich bringen könnte. Aber verdammt, wenn sie nicht aufhörte …

„Sei still“, knurrte Askea und ließ die Frau damit wirklich verstummen.

Oh, ihre Wut behielt sie bei, genau wie ihr Misstrauen und ihren Hass, der ihr praktisch aus jeder Pore ihres Körpers tropfte, doch sie drückte die Lippen aufeinander und wagte es nicht, noch einen Ton von sich zu geben.

Das fand ich nicht nur seltsam, das war … unheimlich. Lag es daran, dass Askea ein Mann war? Gehorchte sie ihm deswegen? Aber Amir hatte mir doch erklärt, dass die Männer die Frauen nur über das Brennen kontrollieren konnten.

Amir …

Im Moment bist du nichts weiter als ein Kind im Körper einer Frau.

Verdammt, warum musste ich jetzt wieder daran denken? Wenn er doch nur …

„Gib mir das Essen“, forderte mich Askea in dem Moment auf und riss mich damit aus meinen Gedanken.

Ich kniff die Augen zusammen und musterte ihn abschätzend. „Weißt du, manchmal kann ein Bitte Wunder bewirken.“

Er schaute nur auf das Essen in meiner Hand.

Herrisch, autoritär, drakonisch! Wie schaffte er es nur, in seiner Lage noch ein solches Selbstbewusstsein auszustrahlen? Und wie bitte kam es, dass ich wirklich das kleine Päckchen öffnete, ein Stück Obst herausnahm und es ihm vor den Mund hielt? Mir war doch wirklich nicht zu helfen.

Und dann – als er schluckte – wurde mein Blick auch wieder magisch von seinem Adamsapfel angezogen. Nein, mir war wirklich nicht zu helfen.

Schnell, bevor er etwas davon mitbekam, wandte ich den Blick ab und nahm ein weiteres Stück Obst aus der Schale. Dieses Mal zwang ich mich, auf meine eigenen Finger zu schauen, als ich es ihm in den Mund schob. Das war nicht wirklich besser. Ich musste mich irgendwie ablenken.

„Sag mir, was ich tun soll“, verlangte ich und suchte bereits das nächste Stückchen aus.

Askea kaute ruhig. Das Schlucken schien ihm nicht ganz leichtzufallen. Allein das Zusehen schmerzte mich bereits.

„Lass mich frei“, sagte er dann kaum hörbar.

Mein Blick schoss zu seinen Augen. Entschlossenheit, Stärke, aber auch Furcht vor dem, was auf ihm zukam, konnte ich darin lesen.

Seine Augen waren so anderes als die von Amir. Nicht nur, dass Askea nichts mit einer Schlange zu tun hatte und diese pupillenlosen Augen genauso rot wie der Rest seines Körpers waren, er wirkte auch nicht so unnahbar und kontrolliert. Er war vielleicht kein offenes Buch, aber er schien auch nicht so … gefühllos.

Wo kamen nur diese seltsamen Gedanken her?

Ich schüttelte den Kopf, um sie loszuwerden, und besann mich wieder aufs eigentliche Thema. „Das geht nicht, das weißt du.“

Vorsichtig lehnte Askea seinen Kopf nach hinten, bis er das glatte Holz des Pfahls berührte. „Fax ist ein Kind, er hat niemanden außer mir. Ich kann ihn wegschicken, aber er wird wieder zurückkommen, denn es gibt einfach keinen Ort, an den er gehen kann.“

Einen Moment kaute ich auf meiner Lippe herum und starrte in die Obstschale. „Aber da muss es doch jemanden geben. Einen Onkel oder eine Tante. Einen guten Freund. Irgendwen.“

„Niemanden.“

„Das kann nicht sein“, flüsterte ich. Jeder hatte irgendwen. Niemand war allein auf der Welt, das konnte ich mir einfach nicht vorstellen.

„So ist es aber. Lass mich frei, dann werden wir verschwinden.“ Seine Augen schienen mich gefangen nehmen zu wollen. „Lass mich frei und Fax wird in Sicherheit sein.“

„Ich kann dich aber nicht freilassen“, sagte ich frustriert. „Davon abgesehen, dass ich keine Ahnung habe, wie ich dich durch das Schild bringen soll - du bist ein Dämon. Du bist gefährlich.“

Askea schnaubte.

„Willst du das etwa bestreiten?“

Er neigte den Kopf leicht zur Seite und musterte mich. „Und du bist nicht gefährlich?“, fragte er dann leise.

Mein Mund ging auf, aber ich brauchte einen Moment, um auf diese Frage zu reagieren. „Ich bin eine Hexe.“

„Eines der mächtigsten Wesen dieser Welt“, erwiderte er nur.

„Aber ich bin nicht böse.“ Das war der Unterschied zwischen uns.

„Aber ich bin es“, sagte er dann leise und senkte die Augen leicht. „Das ist es, was sie dir erzählen. Ich bin abgrundtief böse.“

„Du bist ein Dämon.“ Der Inbegriff für das Leid und die Qualen der Hölle. Zumindest, wenn man vom biblischen Standpunkt aus sprach. In dieser Welt standen sie auch für Unheil und Grausamkeit, aber das aus ganz anderen Gründen.

Askea versuchte sich ein wenig aufrechter hinzusetzen und verzog dabei das Gesicht vor Schmerz. Diese Haltung musste in der Zwischenzeit wirklich weit mehr als nur unangenehm sein. Seit drei Tagen waren seine Arme über dem Kopf festgebunden. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was das für seinen Körper bedeutete. „Ich weiß nicht, warum die Jäger uns jagen, aber alles, was sie erzählen, sind Lügen.“

„Dann seid ihr also nicht grausam und unheilbringend?“ Ich konnte nichts dafür, dass in meiner Stimme Sarkasmus mitschwang. Aber was er da sagte … das war einfach absurd.

Askea jedoch ließ sich davon nicht provozieren. „In meinen Augen scheinst du recht intelligent zu sein, darum verstehe ich nicht, wie du diesen ganzen Unsinn glauben kannst.“

Ich drückte die Lippen aufeinander, um ihn nicht anzuschreien. Keine Ahnung, warum seine Worte mich so wütend machten, aber so war es. Außerdem war er es gewesen, der mich zum Sterben in der Wüste zurückgelassen hatte. Die Jäger dagegen hatten mich nicht nur gerettet, sondern mich auch bei sich aufgenommen. Und das, obwohl ich eine völlig Fremde für sie war.

Aber das war sowieso egal, denn da gab es immer noch etwas zu klären. „Das heißt, du hilfst mir nicht?“

„Ich kann dir nicht helfen.“ Seine Augenlider schlossen sich leicht, als er den Blick senkte. „Ich kann mein Kind nicht beschützen.“

Oh Gott, warum musste er es nur so verzweifelt klingen lassen? Ich schleppte doch bereits genug Schuldgefühle und Gedanken mit mir herum. Es war nicht meine Schuld, dass er an diesem Pfahl saß. Ich konnte ihm nicht helfen. Ganz im Gegenteil, eigentlich brauchte ich seine Hilfe. Und wenn ich die nicht bekam, dann gab es eigentlich nur eine Sache, die ich tun konnte: ich musste Fax wie einen räudigen Hund davonjagen. Das war die einzige Möglichkeit, um seine Sicherheit zu gewährleisten. Aber ich zweifelte daran, dass ich dazu in der Lage war.

Damit stand ich wieder vor dem gleichen Problem. Was in Gottes Namen sollte ich nur tun?

Gedankenverloren griff ich wieder in die Schüssel und hob ein weiteres Stück Obst an Askeas Lippen. Erst als er leicht die Stirn runzelte, ging mir auf, was ich da eigentlich tat. Er hatte mir gerade eröffnet, dass er nichts für mich oder seinen Sohn tun konnte, und trotzdem gab ich ihm noch etwas zu essen.

Vielleicht war das einfach nur ein Reflex gewesen. Oder mein Unterbewusstsein versuchte damit mein Gewissen ein wenig zu erleichtern. Aber deswegen zog ich mich nicht zurück, sondern wartete nur geduldig, bis Askea wieder die Lippen teilte und ein weiteres Stück aß.

Ich verfütterte fast die gesamte Schale an ihn und ließ ihn dann auch noch den Rest aus seinem Schlauch trinken. Dann startete ich einen weiteren Versuch, auch der Dämonin etwas anzubieten, doch allein ihr Blick reichte aus, um mich daran zu hindern.

Wie Askea schon gesagt hatte: wenn sie nicht wollte, selbst schuld. Aber ich verschwand trotzdem nicht sofort. Ich ging wieder zurück zu Davesh und bot ihm ein weiteres Mal etwas von dem Obst an. Zwei Stücke schluckte er, das war alles. Doch als ich den zweiten Schlauch öffnete und auch ihn über ihm leerte, schien er mir wenigstens ein klein wenig dankbar.

Die Dämonin beobachtete sehr genau, wie ich den dritten Schlauch über dem Saphir auskippte. Ihre Kehle hüpfte. Sie hatte Durst, ich konnte es ihr ansehen, aber ihr Hass verhinderte, dass sie meine Hilfe annahm. Ich konnte es ihr nicht verübeln. 

Als ich dann meine Sachen zusammenpackte und Guardian dabei dreimal wegschieben musste, weil er versuchte, in meinen Beutel zu klettern, kam ich nicht umhin, Askea ein weiteres Mal flehend anzusehen. „Es muss doch einen Weg geben.“

Er sah mich nur einen Moment schweigend an. Dann schloss er einfach die Augen, als wäre es zu anstrengend, noch ein weiteres Wort an mich zu richten, wenn es doch nur diese eine Möglichkeit gab, die ich einfach nicht nutzen konnte. Es tat mir ja Leid – irgendwie – aber er war nun mal ein Dämon und all das, was ich mit diesem Wort verband. Genau wie die beiden anderen. Leider beschwichtigten diese Worte mein Gewissen nicht im Mindesten.

Mir blieb gar nichts anderes übrig, als aufzustehen und mir meine Tasche über den Rücken zu hängen. Einen Augenblick schaute ich den Rubin noch an, dann wandte ich mich dem Schild zu. „Komm Guardian, Zeit zu gehen.“ Und weiter zu grübeln.

Der weiche Sand unter meinen Füßen sank leicht ein. Ich achtete kaum darauf, als ich durch das Schild trat …

Plötzlich schien die starke Magie des Schildes von allen Seiten auf mich einzudrängen. Es überlief mich wie eiskaltes Wasser. Von einem Moment auf den anderen wurde mir so schwindlig, dass meine Beine einfach nachgaben und ich in den Sand stürzte.

Meine Tasche fiel mir aus der Hand, Guardian sprang schnell zur Seite und spritzte damit eine Sandfontäne in die Luft. In meinem Kopf herrschte nur noch Leere. Alles drehte sich und über mir schwebten leuchtende Pünktchen. Nein, das waren keine Pünktchen, das waren die Sterne. Ich war halb auf der Seite gelandet und versuchte den Schwindel abzuschütteln, doch dadurch begann sich nun auch noch mein Magen einzumischen.

Es war nicht das erste Mal, dass mir von Magie schlecht wurde, und bei weitem auch nicht das schlimmste Mal. Dennoch drehte sich mein Magen so oft um sich selbst, dass ich glaubte, mich gleich übergeben zu müssen.

Ich konnte nur daliegen und versuchen, gleichmäßig zu atmen. Doch mein Herz raste trotzdem unentwegt weiter. Es schien auf der Flucht vor sich selbst zu sein, vor den Gedanken, die in meinem Kopf Gestalt annahmen.

Das war das erste Mal, dass ich zusammengebrochen war, ohne selbst Magie anzuwenden.

Es gibt keine Heilung. Es tut mir leid, aber du wirst sterben.

Ich konnte es nicht länger leugnen oder mir einreden, dass es schon nicht so schlimm werden würde. Ich war nur durch ein Schild gegangen und hatte nun Angst, mich zu bewegen. Die Magie schadete mir. Und nicht nur das, es wurde schlimmer.

Du wirst sterben.

 

°°°°°

Tag Siebenundsiebzig

„Sollen sie sich doch verstecken. Bei nächsten Mal bekommen wir sie trotzdem.“

Mein Glatisant Primo schnaubte und scharrte im Erdreich, als ich mich aus dem Sattel schwang. Ich wusste nicht, ob Kirans Worte mir gefallen sollten, oder ich einfach nur erleichtert sein sollte, dass die Hatz auf Dämonen heute erfolglos gewesen war. Mit dem Gendanken, jemand anderes zu töten, weil er eine Gefahr darstellte, konnte ich mich einfach nicht anfreunden. Ich meinte, ich verstand die Notwendigkeit, aber … ja, dieses Aber.

Das Lächeln des kleinen Fax kam mir in den Sinn. Wie konnte ein so unschuldiges Kind nur zum Monster werden?

„In letzter Zeit sind die Dämonen sowieso ziemlich rar geworden“, sagte Amir und versuchte, Ferox‘ Tänzeln zu unterbinden. „Endlich zahlen sich die Früchte unserer Arbeit aus.“

„Es wird nicht mehr lange dauern“, stimmte Ryu ihm hinzu.

Ich blendete die Gespräche der Männer aus und führte meinen Primo an den Zügeln in den Stall. Schon den ganzen Tag war ich sehr unkonzentriert und in meine eigenen Gedanken versunken. In der Nacht hatte ich noch lange im Sand gelegen, bevor ich es gewagt hatte, aufzustehen und in mein Zelt zu gehen. Die Magie hatte mich wortwörtlich einfach umgehauen.

Ich wusste nicht, ob die Dämonen das verstanden hatten, aber ihr Blicke hatte ich spüren können – besonders den von Askea. Keiner von ihnen hatte ein Wort zu mir gesagt, keiner hatte wissen wollen, was mit mir los war, doch es war, als könnten sie meine Schwäche riechen und überlegten sich bereits, wie sie sie zu ihren Gunsten ausnutzen konnten.

Die drei waren die einzigen, die von meinem plötzlichen Zusammenbruch wussten. Ich war nicht zu Asha gegangen, um es ihr zu sagen, und mit Amir hatte ich heute nur gesprochen, wenn mir keine andere Wahl blieb.

Es tat immer noch weh, so hinters Licht geführt worden zu sein, und ich verstand nicht, wie er so tun konnte, als wäre alles wie immer. Er beachtete mich nicht mehr als sonst oder versuchte mit mir zu reden, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Warum sollte er auch? Schließlich war ich einfach nur eine weitere Jägerin, eine Angestellte, die sich ihm unterordnen musste.

Schnaubend band ich Primo an einem Ring in der Holzwand fest und sattelte ihn ab.

Der Stall roch sehr intensiv nach Nutzvieh. Zwar wurden die Mounts gut gepflegt und die Stallungen regelmäßig gereinigt, aber gegen die Hitze würde selbst Meister Proper nicht ankommen. Trotzdem war es nicht unangenehm.

Ich löste die Schnalle und zog den Sattel von Primos Rücken. Zwei Handgriffe später lag er in der Ecke und wurde interessiert von Guardian beschnüffelt, während ich einen Eimer in der großen Tränke mit Wasser füllte und ihn zu Primo brachte. Gerade strich ich dem Glatisant über den dünnen Hals und schaute dabei zu, wie er gierig seinen Magen füllte, als die Stimmen der Männer mich aufblicken ließen.

„… nicht mehr viele dort draußen sein“, sagte Ryu gerade und führte Okano an den Platz neben Primo. „Wir werden uns etwas überlegen müssen, wie wir die restlichen Dämonen herauslocken können, sonst könnte es noch Jahre dauern, bis wir auch den letzten aufgespürt haben.“

Amir nickte. Auch er hielt die Zügel seines Greifs, machte aber keine Anstalten, ihn zu versorgen. Mit gerunzelter Stirn blieb er neben Ryu stehen. „Du hast Recht. Ich werde darüber nachdenken. Die Reinigung schreitet so gut voran, dass wir jetzt nicht nachlassen dürfen. Schon in wenigen Monaten könnte es geschafft sein.“

„Die Anzeichen sind jedenfalls allgegenwärtig.“ 

„Anzeichen?“, fragte Kiran da und trat in den Stall. „Wovon redet ihr?“

„Davon, dass die Zahl der Dämonen stetig abnimmt.“ Auch Ryu entfernte den Sattel von seinem Mount und trug ihn in den hinteren Teil des Gebäudes.

„So wie wir hinter ihnen her sind, ist das ja auch kein Wunder.“ Kiran führte seinen Greif an uns vorbei, direkt in eine der Boxen. „Obwohl es da etwas gibt, was ich etwas seltsam finde.“

Ryu kam wieder nach vorne, in seiner Hand hielt er einen Wassereimer, doch auf Höhe von Kirans Box blieb er einen Moment stehen. „Was findest du seltsam?“

„Die Dämonen an den Pfählen.“

Meine Hand erstarrte mitten in der Bewegung. Primo ließ sich davon aber nicht stören. Dafür kam Guardian angeschossen und stellte sich wachsam neben mich. Es war, als würde er meine plötzliche Gemütsveränderung spüren und aufpassen, dass auch ja alle lieb und nett zu mir waren.

„Was ist mit den Dämonen?“, wollte Ryu wissen.

„Sie halten zu lange durch.“ Das kam von Amir. Er wandte sich von uns ab und brachte Ferox in die Box neben Kiran. „Der Saphir ist nun seit drei Tagen hier.“

Kiran nickte. „Ja. Ohne Wasser hätte er eigentlich schon gestern nicht mehr in der Lage sein dürfen, überhaupt noch den Kopf zu heben, aber als ich heute Morgen nach ihnen gesehen habe, schien es, als sei er erst seit ein paar Stunden an den Pfahl gebunden. Und der Rubin erst. Klar, die Feuerkerlchen halten schon ein bisschen mehr aus, aber fünf Tage?“ Kiran schüttelte den Kopf. Der Unglaube stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Sowas hab ich noch nie erlebt und ich bin nun schon ein Weilchen dabei.“

Ich zwang mich, auf das Gesagte nicht zu reagieren oder sonst irgendein Anzeichen von mir zu geben, das zeigen könnte, dass ich genau wusste, warum das alles so war. Stattdessen bückte ich mich nach dem Eimer und brachte ihn wieder nach hinten, auch wenn Primo der Meinung war, dass er sich wieder magisch auffüllen würde, wenn ich ihn nur lange genug stehenlassen würde.

Guardian wich mir dabei keinen Schritt von der Seite.

„Und es ist ja auch nicht so, als würden sie nur so tun, als ob mit ihnen alles in Ordnung wäre“, fügte Kiran noch hinzu. „Denen geht es wirklich bestens. Der Rubin hat mich heute Morgen sogar angeknurrt.“

Verdammt, ich hatte gewusst, dass es irgendwann auffallen würde, aber was hätte ich denn anderes tun sollen? Oder anders gefragt, was sollte ich jetzt tun?

Ryu ließ sich nicht anmerken, was er dachte, als er schließlich zu Okano zurückkehrte. „Wir können sie jedenfalls nicht von den Pfählen holen, solange es ihnen noch so gut geht. Das ist viel zu gefährlich.“

„Aber wir können sie auch nicht Ewigkeiten da sitzen lassen.“

„Ich werde mich darum kümmern“, sagte Amir. Seine Stimme klang aus der Box ein wenig gedämpft.

Was sollte das heißen?

Als ich den Henkel des Eimers losließ, bemerkte ich, wie sehr meine Hände zu schwitzen begonnen hatten. Wenn Amir nun herausbekam, dass ich es gewesen war, die die Dämonen am Leben erhielt, wäre er sicher nicht sehr glücklich darüber. Aber solange Fax sich noch im – oder besser gesagt, am – Lager befand, konnte ich Askea auch nicht einfach sterben lassen. Das war noch ein Grund, warum ich den Jungen so schnell wie möglich von hier fortschaffen musste.

Aber wohin?

Darf ich bei dir bleiben, Tiara?

Nein, das ging nicht. Ich musste einen Weg finden ihn wegzubringen, an einen Ort, wo er in Sicherheit war. Vielleicht konnte ich ihn mir ja schnappen und mit ihm in die Wüste reiten. Irgendwie würde ich schon einen Dämon auftreiben können. Aber was dann? Laut Askea würde ein anderer Dämon seinen Sohn sofort töten - und mich wahrscheinlich noch als Sahnehäubchen dazu nehmen. Nein, das war sicher eine ganz schlechte Idee.

Aber wenn ich …

„Tiara?“

Bei Amirs Stimme erstarrte ich förmlich. Mein Herz begann ein Wettrennen mit meinem Puls und mein Mund wurde plötzlich ganz trocken. Trotzdem zwang ich mich zu antworten. „Ja?“ Dabei drehte ich mich nicht um. Ich tat lieber so, als würde ich hier hinten noch etwas ganz wichtiges suchen, und kramte daher ein wenig in den Regalen herum.

„Würdest du bitte Laskas Stalldienst übernehmen? Sein Bein macht ihm heute wieder zu schaffen.“

Stalldienst. Oh Gott! Als er mich angesprochen hatte, war mir der Magen vor Schreck irgendwo in die Kniekehlen gerutscht. Dabei wollte er nur, dass ich den Stalldienst übernahm. „Klar, kein Problem. Aber vorher würde ich gerne noch etwas essen.“ Nicht weil ich plötzlich so einen großen Hunger hatte. Ganz im Gegenteil, mein Magen spielte im Moment so verrückt, dass ich nicht glaubte, jemals wieder etwas zwischen die Zähne nehmen zu können. Aber Fax hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen und ich war die Einzige, die ihm etwas bringen konnte.

Was stimmte nur nicht mit mir? Eben noch brach ich beinahe in Panik aus, weil ich befürchtete, dass Amir herausfand, dass ich die Dämonen fütterte, und nun überlegte ich, wie ich unauffällig ein paar Lebensmittel und vielleicht noch eine Decke zu Fax schmuggeln konnte, bevor ich den Stall ausmisten musste.

„Dann tu das. Ryu und Gaio werden dir nach dem Essen helfen.“

Zum Glück hatte er nicht gesagt, dass er mir helfen würde. Das hätte sicher kein gutes Ende genommen.

 

°°°

 

Ächzend hob ich den schweren Eimer mit dem Korn an und kippte ihn in den Futtertrog. „Irgendwie wird das mit jedem Gang schwerer.“

„Nein, wird es nicht. Deine Kondition ist nur einfach miserabel.“ Lächelnd blicke Ryu mich über den Rücken des Glatisants an, während er mit dem Striegel gleichmäßig über das Fell strich.

Ich ignorierte ihn einfach und ließ ein paar von den Haferflocken für Guardian auf den Boden fallen.

Mein kleiner Wächter ließ sich zwar dazu herab, daran zu schnüffeln, schaute mich dann aber an, als wollte er sagen: „Das ist doch nicht dein Ernst, oder?“

„Eidechsen sind aus“, erklärte ich ihm und nahm den Eimer wieder zur Hand. „Wenn du welche möchtest, musst du jagen gehen.“

„Sieht nicht so aus, als ob er dir von der Seite weichen wollte.“ Gaio lehnte sich an das Tor der Stallbox und musterte Fennlix zu meiner Rechten. „Er klebt schon die ganze Zeit wie eine Klette an dir.“

Was wohl daran lag, dass das Gerede über den Zustand der Dämonen mich ziemlich nervös gemacht hatte. Genau wie der Besuch bei Fax und der seltsame Blick, den Ryu mir bei meiner Rückkehr zugeworfen hatte. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete, oder ob es überhaupt etwas bedeutete. Vielleicht wurde ich auch einfach nur paranoid und sah schon Dinge, die gar nicht da waren.

Egal wie es war, im Moment blieb mir nichts anderes übrig, als nichtssagend mit den Schultern zu zucken. „Er ist eben gerne bei mir.“

Gaios nachdenklicher Blick glitt von meinem kleinen Wächter zu mir. Doch als er mich nur stumm ansah, zog ich eine Augenbraue nach oben. Dieser Blick gefiel mir absolut nicht. Er wirkte zu wissend, das machte mich nervös.

„Was?“

„Was ist das zwischen dir und Amir?“

Mit vielem hatte ich gerechnet – sogar damit, dass er den ausgestreckten Finger anklagend auf mich richtete und verkündete, dass ich es war, die die Dämonen am Leben erhielt – aber nicht damit. „Ich weiß nicht, was du meinst.“ Ich drehte ihm den Rücken zu und verteilte das Korn ein wenig in dem Futtertrog, auch wenn das überhaupt nicht nötig war und der Glatisant sich dadurch nur gestört fühlte. Es war allemal besser, als Gaio anzusehen.

„Ihr beide verhaltet euch seit ein paar Tagen seltsam. Du noch mehr als er.“

Amir verhielt sich nicht seltsam, er war genau wie immer: unnahbar und kontrollsüchtig. Und was mich anging: „So was kann passieren, wenn einem gesagt wird, dass man nur ein kleines Kind ist, dessen Naivität man dazu ausnutzt, um seinen Willen zu bekommen.“

Ein kalter Luftzug drang durch das offene Stalltor und ließ mich frösteln. Es war bereits eine ganze Weile ungewöhnlich windig.

Gaio ließ sich nicht anmerken, was er von meinen Worten hielt. „Was erwartest du, wenn du Geheimnisse vor ihm hast?“

Bei diesen Worten kniff ich die Augen zusammen. Er konnte es nicht sehen, weil ich ihm noch immer den Rücken zuwandte. „Als wenn er mir alles erzählen würde.“

„Du gibst es also zu?“, fragte Gaio. „Du verheimlichst ihm etwas?“

Etwas? Ich verheimlichte ihm nicht nur, was bei den Hexen passiert war, sondern auch, dass es da einen kleinen Jungen gab, auf den ich aufpasste, und dass ich es war, die für das Wohlergehen der Dämonen sorgte. Doch nichts davon würde ich einem von ihnen sagen. Das konnte ich einfach nicht. „Ob ich Geheimnisse vor ihm hab oder nicht, das rechtfertigt nicht, was er getan hat.“ Ich schnappte mir den Eimer und drehte mich zu ihm um. „Oder findest du es in Ordnung, dass er mir etwas vorspielt, damit er meine Magie nach seinem Willen nutzen kann?“

Er öffnete den Mund, schloss ihn aber sofort wieder. Einen kurzen Moment sah er mich noch an, dann seufzte er geschlagen. „Nein. Was er getan hat, war nicht richtig, und das habe ich ihm auch schon ein paar Mal gesagt, aber für ihn lautet nun mal die Devise: der Zweck heiligt die Mittel. Er meint es nicht böse, ganz im Gegenteil, er mag dich wirklich, nur …“

„Moment“, unterbrach ich ihn, weil mir plötzlich etwas klar wurde. „Soll das heißen, dass du die ganze Zeit wusstest, was er gemacht hat?“

Als er meinem Blick auswich, konnte ich es nicht glauben! Dieser …

„Nicht die ganze Zeit“, sagte er geschlagen. „Erst seit ein paar Tagen.“

Das machte es nicht wirklich besser und genau das wollte ich ihm auch sagen, doch plötzlich erklang draußen ein Krachen, das den ganzen Stall erzittern ließ. Gaio und ich waren nicht die einzigen, die den Blick nach oben richteten. Auch Ryu unterbrach seine Arbeit und Guardian drückte sich fester gegen mein Bein.

Der Glatisant neben mir trat unruhig von einem Bein auf das andere und auch die anderen Mounts begannen nervös auf dem Boden zu scharren und zu blöken.

Als es erneut krachte, fragte keiner von uns dreien erst groß nach.

Ryu war bereits draußen und Gaio direkt hinter ihm, als ich noch das Tor der Box öffnete und den beiden hinterherhastete. Schon während ich mich bewegte, spürte ich die plötzliche Veränderung in der Luft. Sie war mir schon die ganze Zeit vergleichsweise kalt vorgekommen, doch nun nahm ich auch noch den Geruch von Ozon wahr.

Ich musste mich zwischen Ryu und Gaio nach draußen drängen, weil die beiden direkt vor dem Eingang stehengeblieben waren.

Als das dritte und bisher lauteste Krachen über uns ertönte, hatte ich es geschafft. Mir stockte der Atem.

Hoch am strahlendblauen Himmel türmte sich eine Wolkendecke auf, so schwarz wie das Gefieder eines Raben bei Nacht.

Als ich nach draußen trat, war die Hälfte des klaren Firmaments bereits bedeckt und die Wolkenmasse kam schnell näher. Wie eine riesige Welle kroch sie über den Himmel und verhüllte das Licht der Sonnen so schnell, dass es innerhalb von Sekunden dunkel wie die Nacht wurde.

Und wieder krachte es.

Donner.

„Was ist das?“, fragte ich. Für ein Gewitter kam es einfach zu plötzlich.

„Egal was es ist“, sagte Gaio, „es gefällt mir nicht.“

„Ich sage Amir Bescheid.“ Ryu machte gerade auf dem Absatz kehrt, als ein unheimliches Grollen durch die Wolken zog. Es war so laut, dass ich mir die Hände auf die Ohren schlug. Guardian jaulte auf.

Im nächsten Moment fuhr ein greller Blitz aus dem Himmel und schlug nicht weit vom Lager entfernt in den Boden ein.

Hatte ich den Donner schon als laut empfunden, so war das gar nichts im Vergleich zu dem Blitz, dessen Licht drohte, mir die Netzhaut zu versengen.

Hinter mir hörte ich einen Glatisant nervös blöken, während einer der Greife einen spitzen Schrei in die Welt schickte.

Als die hellen Flecken von meiner Netzhaut verschwunden waren, befand sich die dichte Wolkendecke über uns. Für einen Moment war alles still. Und dann, von jetzt auf gleich, öffnete der Himmel seine Schleusen. Innerhalb von Sekunden brachen ganze Sturmfluten los.

Es dauerte nicht mal einen Wimpernschlag, da war ich bereits bis auf die Knochen durchnässt.

Was als nächstes geschah, verstand ich nicht ganz. Ich sah nur noch das Licht, spürte eine Hand, die mich packte, und dann schien der Boden unter meinen Füßen zu explodieren.

Ich schrie, als ich durch die Luft geschleudert wurde. Eine Sandfontäne und kleine Erdstückchen flogen mir hinterher und krachten mit mir zusammen in den Zaun der Koppel.

Das Holz splitterte, Schmerz explodierte in meiner Schulter und tobte durch meinen ganzen Körper.

Der Aufprall hatte mir die Luft aus den Lungen getrieben und noch während ich sie zurück in meinen Körper zwang, versuchte ich, die plötzliche Benommenheit in meinem Kopf abzuschütteln.

Irgendwo hörte ich jemanden nach mir rufen.

Ein neues Donnergrollen, ein weiterer Blitz mitten im Lager. Rufe, Schreie. Ich blinzelte. Ein Zelt brannte und nicht mal der sintflutartige Regen schaffte es, die Flammen zu löschen.

Unter Schmerzen drehte ich mich stöhnend auf die Seite und bemühte mich, dem ganzen einen Sinn zu geben. Ein Blitz war eingeschlagen, direkt neben mir. Ich blinzelte und versuchte durch die Regenschlieren etwas zu erkennen.

Da war ein kleiner Krater, direkt vor dem Stall. Im dem Krater leuchtete etwas - ein riesiger Kristall. Er sah aus wie das Ei eines Dinosauriers, doch er schimmerte in allen Facetten des Regenbogens.

Ich blinzelte erneut, doch der Anblick blieb.

Wieder rief jemand nach mir, doch ich schaffte es einfach nicht, meinen Blick anzuwenden. Dieser Kristall … er war wunderschön. Mit jeder verstreichenden Sekunde schien er heller zu leuchten, so als wollte er die Dunkelheit vertreiben.

Doch er war nicht der einzige. Ich entdeckte einen zweiten Kristall. Sie tauchten dort auf, wo die Blitze eingeschlagen hatten.

„Tia!“ Jemand packte mich am Arm und zerrte mich auf die Beine. Gaio. Er sah genauso ramponiert aus, wie ich mich fühlte. Über dem Auge hatte er eine Platzwunde und auch sein Arm blutete. Dreck und Kruste klebten den zerrissenen Stoff seiner Tunika daran fest.

Als hinter mir eines der Mounts panisch aufschrie, fuhr ich mit dem Kopf herum.

Der Kristall hatte Risse bekommen und aus ihnen wuchsen tentakelartige Pflanzen, die nach allem schnappten, was ihnen zu nahe kam.

Und da stand Guardian.

Er kauerte mit dem Rücken zum Stall und fauchte die Pflanze an.

Ich dachte gar nicht lange nach, riss mich einfach von Gaio los und beschwor meine Magie, als einer dieser Tentakel auf Guardian zuraste.

In meinen Händen wuchs ein Feuerball, der bereits in der nächsten Sekunde durch die Luft flog und in den Kristall krachte.

Die Pflanze schrie auf. Es war ein so hoher Ton, dass meine Ohren davon schmerzten. Ich sah nichts mehr, fühlte nichts mehr. Da war nur noch dieser Schrei. Dann, ganz plötzlich, war da gar nichts mehr, nur noch Schwärze, die mich mit sich in die Tiefe riss und das Chaos um mich herum aussperrte.

 

°°°°°

 

Tag Achtundsiebzig

 

Sich aus der Schwärze der Bewusstlosigkeit zu reißen, fiel mir mit jedem neuen Anfall schwerer. Mein Geist kämpfte sich nach oben, stieg aus der Tiefe empor, um nach dem Licht zu greifen. So jedenfalls kam es mir vor, als ich langsam aus der Finsternis in das Hier und Jetzt driftete.

Das erste, was ich wirklich wahrnahm, war der weiche Untergrund. Ein Bett. Jemand hatte mich in ein Bett gelegt. Das zweite, was mir auffiel – und der Grund für mein Erwachen – waren die beiden wütenden Stimmen.

Ich versuchte meine Augen zu öffnen, doch meine Lider waren so schwer. Sie schienen fest verschlossen und nicht gewillt, sich jemals wieder zu öffnen.

„… siehst doch, wo das hinführt!“

„Halt dich da raus.“

„Das werde ich nicht!“ Etwas knallte, als wäre es zu fest auf einen Tisch gestellt worden. „Er hat keine Geheimnisse vor mir, ich weiß genau, was du tust und was du dir davon erhoffst, aber das ist Wahnsinn! Schau dich doch nur mal um! Das ist deine schuld! Und das war nur der Anfang. Wenn du nicht aufhörst, dann wird es noch viel schlimmer werden!“

War das Asha? Ich zwang mich erneut, die Augen zu öffnen, und dieses Mal gelang es mir unter großer Anstrengung.

Das vertraute Weiß des Lazaretts erschien in meinem Blickfeld. Ich lag auf einem Bett in einem der Séparées, doch Asha konnte ich nicht sehen. Ich konnte niemanden sehen außer Guardian, der in meinen Armen im Bett lag.

Es geht ihm gut, oh Gott sei Dank, es geht ihm gut.

Ich zog ihn näher an mich und dabei entdeckte ich die Flecken auf meinem Arm. Sie waren nur ein dunkler Schatten, der bereits verblasste, doch sie waren da. Wie ein Muster führten sie meinen Arm hinauf.

„Ich muss es tun“, erwiderte die andere Stimme nur.

Mein Herz schlug ein klein wenig schneller. Das war Amir.

„Aber doch nicht so! Das ist der falsche Weg, so … ahhh, lass mich los.“

„Jetzt hör mir ganz genau zu, Asha. Du hast keine Ahnung, um was es hier wirklich geht, und ich stehe viel zu kurz vor dem Ziel, um es mir von dir kaputtmachen zu lassen, also wag es nicht, mir in die Quere zu kommen, sonst passiert was.“

Einen Moment herrschte Ruhe. Ich sah geradezu vor mir, wie die beiden sich feindselig anstarrten und den anderen mit ihren wütenden Blicken praktisch erdolchten.

„Du vergisst etwas, Amir. Ich bin eine Hexe und als solche lasse ich mir von niemandem drohen, auch nicht von dir.“

Im nächsten Augenblick gab Amir einen derben Fluch von sich und stolperte ein paar Schritte von Asha zurück. Dadurch geriet er in mein Blickfeld.

Ich sah, wie er sich die Hand hielt, während die Schlagen auf seinem Kopf wütend zischten.

„Lass dir das eine Lehre sein“, sagte Asha viel zu ruhig. „Und vergiss meine Worte nicht. Mach Schluss mit diesem Wahnsinn, oder ich werde ihm Einhalt gebieten. So oder so, was du vorhast, muss ein Ende haben, ich kann das nicht zulassen.“

Amir kniff die Augen zusammen. Doch von einem Moment auf den anderen versteckte er seine Wut hinter der kühlen Maske, die er immer zur Schau trug. „Das werden wir noch sehen“, erwiderte er leise. Dann setzte er sich wieder in Bewegung und verschwand aus meinem Blickfeld. Das Geräusch seiner Schritte entfernte sich, bis es verklang.

In der folgenden Stille hörte ich nur Ashas Seufzen, gefolgt von ihrem leisen Murmeln.

Einen Moment überlegte ich, mich einfach still zu verhalten und so zu tun, als würde ich noch immer schlafen, doch das, was ich gehört hatte, wollte mir einfach nicht aus dem Kopf gehen. Womit sollte Amir aufhören?

Ich hatte die Hexe noch nie so wütend erlebt – nicht ernsthaft jedenfalls. Aber das hier … das war eine ganz andere Ebene gewesen. Und auch Amir, er hatte so anders, so … kalt gewirkt.

„Asha?“, rief ich leise.

Es dauerte einen Augenblick, bis sie reagierte. Mehrere Sekunden schien sie einfach nur still dazustehen, bevor sie sich in Bewegung setzte und mit einem besorgten Ausdruck im Gesicht am Séparée erschien. „Du bist wach.“

Mit zwei Schritten war sie neben mir, fühlte nach meiner Stirn und meinem Puls, nur um dann meine Decke zurecht zu zupfen. „Wie fühlst du dich?“

Wie fühlte ich mich? „Meine Schulter tut weh und ich hab Durst, aber ansonsten ist …“ Ich unterbrach mich, als ich bemerkte, dass Asha mir gar nicht zuhörte – nicht wirklich. „… der Weihnachtsbaum ist blau, denn die kleinen grünen Männchen haben seine Farbe geklaut, um die Schubkarre im Schrank zu verstecken.“

„Das ist …“ Sie runzelte die Stirn. „Was für ein Schrank?“

Nein, sie hörte mir wirklich nicht zu.

Vorsichtig wollte ich mich aufzusetzen und verzog dabei das Gesicht. Was immer mit meiner Schulter los war, es tat ziemlich weh. Dabei geriet mein Blick auf die Flecken und … sie waren weg. Hatte ich mir das nur eingebildet?

Asha half mir, als ihr klar wurde, was ich vorhatte, und ließ sich auch nicht von Guardian irritieren, der lautstark protestierte, als sie ihn einfach zur Seite schob.

„Um was ging es da?“, fragte ich ganz direkt. Es gab da zwar eine Frage, die ich genauso dringend beantwortet haben wollte, doch diese hier war erstmal naheliegender. „Zwischen dir und Amir“, fügte ich hinzu.

Ihr Blick fixierte mich. Einen Moment schien es, als wollte sie mir etwas Wichtiges mitteilen, doch dann setzte sie einfach nur ein Lächeln auf, das wohl beruhigend wirken sollte. In meinen Augen wirkte es einfach nur gequält. „Mach dir keine Sorgen. Amir hat sich da nur in etwas verrannt und brauch etwas Zeit, um wieder zur Vernunft zu kommen.“

Wenn sie glaubte, dass ich mich so schnell abspeisen ließ, kannte sich mich aber schlecht. „In was hat er sich verrannt?“

„Das ist nicht wichtig.“ Sie strich eine Falte aus der Decke und setzte sich dann auf die Kante meines Bettes. Der strenge Blick, den ich dann zu spüren bekam, sagte mir nicht nur, dass dieses Thema jetzt beendet war, sondern auch noch, dass mir das, was jetzt kommen würde, wahrscheinlich nicht gefiel. „Was haben die Hexen im Zirkel zu dir gesagt?“

Nein, diesen plötzlichen Themenwechsel verstand ich auch nicht. „Äh … was?“

„Verkauf mich nicht für dumm, Tiara. Nach dem, was gestern passiert ist, hab ich wirklich keine Nerven dafür, mir deine Ausflüchte und Halbwahrheiten anzuhören. Entweder du sagst mir endlich, was passiert ist, oder ich werde bei meiner Schwester nachfragen.“

Saana, natürlich. Ich fragte mich nur, warum sie das nicht schon längst getan hatte. „Ich mag es nicht, in die Ecke gedrängt zu werden.“

„Und ich mag es nicht, zusehen zu müssen, wie es dir mit jedem Tag schlechter geht. Vielleicht ist es dir nicht aufgefallen, aber ich sehe es sehr deutlich. Du hast abgenommen, was bei deiner Figur nicht gesund ist. Deine Haut ist blasser als noch vor drei Wochen und jeden Tag scheinen die Ringe unter deinen Augen dunkler zu werden.“ Sie griff nach meiner Hand und drückte sie leicht. „Ich mache mir Sorgen um dich. Es ist nicht normal, dass du eine Feuerkugel abschießt und dann einfach zusammenklappst.“

„Das Gewitter“, sagte ich leise, als mir endlich klar wurde, warum ich eigentlich in diesem Bett lag. Jetzt musste ich zumindest nicht mehr nachfragen, was passiert war – oder zumindest nicht, wie ich im Lazarett gelandet war. „Der Sturm … was ist geschehen?“

„Lenk nicht vom Thema ab. Was haben die Hexen gesagt?“

Ich öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. Wenn ich ihr jetzt sagte, was Boudicca erzählt hatte, würde ich wohl nicht so schnell erfahren, was passiert war. Andererseits schien es, dass ich nicht länger drum herum kam, endlich alles preiszugeben. Dann konnte ich es wenigstens zu meinen Bedingungen machen. „In Ordnung“, sagte ich daher. „Erst beantwortest du mir meine Frage, dann ich deine. Deal?“

Asha musterte mich einen Augenblick, dann schnaubte sie einfach nur. Aber das kleine Lächeln auf ihren Lippen verriet mir, dass ich sie nicht wirklich verärgert hatte. „In Ordnung. Was willst du wissen?“

„Der Sturm.“

Sie seufzte, als hätte sie genau damit gerechnet. „Wilde Magie. Der Sturm bestand aus wilder Magie.“

„Und die Kristalle?“

„Ich weiß nicht genau, was es war. Dort wo die Blitze eingeschlagen sind, haben sie diese Kristalle hinterlassen. Sie sind aufgebrochen und haben diese Pflanzen … Dinger – was auch immer – ausgespuckt, die alles angegriffen haben, was sich bewegte. Wir hatten ganz schön damit zu tun, sie zu zerstören. Aber nur die im und um das Lager. Draußen in der Wüste sind bestimmt noch mehr, aber wir haben erstmal genug damit zu tun, das Lager wieder aufzubauen.“

Ihre letzten Worte legten eine kalte Hand um mein Herz. „Was … was ist mit dem Lager?“

„Es wurde im Sturm beschädigt.“ Sie zuckte die Schultern, als wäre es nichts Besonderes. „Das kann bei einem Sturm schon mal vorkommen. Der Regen hat ein paar Zelte plattgedrückt und ein Feuer hat hinten um sich gegriffen, bevor wir es löschen konnten. Es ist nichts wirklich Schlimmes, aber wir werden ein wenig Zeit brauchen, um alles wieder aufzubauen.“ 

„Und …“ Ich traute mich kaum, die Frage laut auszusprechen. „Ist … jemand verletzt worden?“

„Ja, du.“ Diesem intensiven Blick standzuhalten, war nicht einfach. „Und damit kommen wir wieder zu meiner Frage, denn es war nicht der magische Sturm, der dich zu meinem Gast gemacht hat. Was haben die Hexen gesagt?“

Verdammt, nun würde ich wohl nicht länger drum rum kommen. Geschlagen seufzte ich und wich nun doch ihrem Blick aus. Wo sollte ich nur anfangen? Und was würde es eigentlich bringen, ihr die ganze Wahrheit zu sagen? „Du wirst Saana wirklich anrufen, oder?“

„Ich werde mich auf jeden Fall nicht länger in Geduld üben und darauf warten, dass du zu mir kommen wirst.“ Sie drückte meine Hand ein wenig fester. „Bitte, Tia, sag es mir, ich mache mir Sorgen um dich.“

Das wollte ich nicht. Ich rechnete es ihr hoch an, dass sie nicht bereits zu ihrer Schwester gegangen war, um hinter meinem Rücken Informationen zu bekommen. Asha war wirklich ein guter Mensch. Oder besser gesagt, eine gute Hexe. Asha war eine Freundin. „Eines der ersten Dinge, die du mir nach meiner Ankunft hier beigebracht hast, ist etwas, dass für jeden in dieser Welt gilt. Nur nicht für mich.“

„Und das wäre?“

„Magie ist Leben.“ Ich sah auf und erzählte ihr nach und nach, was im Zirkel des schwarzen Mondes geschehen war. Ich erklärte, wie Boudicca mir gesagt hatte, dass meine letzten Minuten bereits gezählt waren und ich nichts anderes tun konnte, als auf den Tod zu warten.

Ashas Augen wurden mit jedem Wort größer und ungläubiger. Mehr als einmal öffnete sich ihr Mund, als wollte sie etwas fragen, schloss sich dann aber genauso schnell wieder, um mich in meiner Erzählung nicht zu unterbrechen.

„Ich wollte es nicht glauben“, sagte ich zum Schluss, schüttelte dann aber den Kopf. „Nein, das ist falsch. Ich konnte es nicht glauben. Diese Welt, die Magie und die ganzen Wesen hier … ich liebe das alles. Aber es wird mich umbringen. Außer …“ Ich schloss den Mund und presste die Lippen fest aufeinander.

Asha drückte wieder meine Hand, eine klare Aufforderung, dass ich weitersprechen sollte. Aber das tat ich nicht. „Außer?“, drängte sie weiter.

Außer ich gehe zurück in die Welt der Menschen. Nein, nein, nein. „Magie macht mich krank“, sagte ich leise. „Wenn ich keine Magie mehr benutze, kann ich es hinauszögern. Aber jedes Mal, wenn ich auf meine Kraft zurückgreife oder anderweitig mit Magie in Berührung komme, dann … dann …“ Ein Kloß in meiner Kehle hinderte mich daran, auch nur ein weiteres Wort aus meinem Mund zu bekommen. Doch mehr musste ich gar nicht sagen. Asha hatte mich auch so verstanden.

„In Ordnung“, sagte sie sanft. „Danke, dass du es mir gesagt hast. Ruh dich jetzt aus. Ich werde mit Ryu sprechen, damit er einen Transport nach Sternheim für dich organisiert.“

Ich brauchte einen Moment, verstand ihre Worte aber trotzdem nicht – oder vielleicht wollte ich sie auch einfach nicht verstehen. „Was meinst du?“

„Der Zirkel der Hexen des schwarzen Mondes hat das einzige Portal, das ich kenne. Du musst zurück in deine Welt, sonst …“

„Nein!“ Allein der Gedanke daran, zurück zu müssen, löste eine Panik in mir aus, die ich nicht verstand. Es war nur ein Gefühl, Angst, die mir fast die Kehle zuschnürte. „Ich gehe nicht zurück. Ich brauche nur noch etwas Zeit, dann finde ich einen Weg, um das aufzuhalten. Magie ist schließlich Leben, also muss es doch ein Heilmittel geben.“

„Tiara …“

„Magie ist Leben“, beharrte ich. „Ich weiß es einfach. Es gibt einen Weg und ich werde nicht zurückgehen. Das kannst du von mir nicht verlangen.“

„Aber wenn du hier bleibst, wirst du sterben“, hielt sie dagegen. „Ich weiß, wie viel dir das alles hier bedeutet, aber genauso weiß ich auch, wie sehr du die Hatz nach den Dämonen verabscheust. Und wenn es um deine Gesundheit geht, dann …“

„Ich gehe nicht zurück“, unterbrach ich sie mit fester Stimme. Es war mehr als nur der Wunsch, hier zu bleiben, weil ich das alles so sehr liebte. Bei dem Gedanken, zurück zu den Menschen gehen zu müssen, schloss sich die kalte Hand um mein Herz ein wenig fester.

Nein, ich wollte nicht wissen, warum das so war. Ich wusste nur, dass ich nicht zurückgehen konnte.

„Und wenn es keine Heilung gibt?“, fragte Asha. „Ich meine, ich verstehe ja, dass du bleiben möchtest, aber was, wenn …“

„Boudicca hat gesagt, ich sei so mächtig, dass ich jederzeit ein Portal erschaffen könnte, das mich nach Hause bringt. Dafür brauche ich nur einen großen Spiegel.“ Nicht dass ich ihn nutzen würde, aber ich hoffte, dass Asha das zumindest beruhigen würde.

„Wirst du es denn auch tun? Wirst du gehen, wenn du musst?“

Scheinbar wusste sie um meine Gedanken. „Ich brauche nur einen Spiegel“, sagte ich daher erneut, denn meine Antwort war klar. Ich würde nicht gehen – unter keinen Umständen. Ich brauchte nur noch mehr Zeit, um etwas zu finden, dass den Prozess des Verfalls aufheben konnte.

„Und was ist, wenn du irgendwann einen Anfall hast und nicht mehr aufwachst?“, fragte sie weiter. „Was wenn die Magie dich tötet, bevor du in deine Welt zurückkehren kannst?“

Diese Möglichkeiten wollte ich nicht einmal in Betracht ziehen. „Das hier ist meine Welt.“ Ich entzog ihr meine Hand und blickte ihr fest in die Augen. „Vielleicht bin ich hier nicht geboren, aber hier liegt mein Ursprung, also ist das hier auch meine Welt.“

Asha gab ein frustriertes Geräusch von sich. „Du weißt genau, was ich meine.“

Ich schwieg.

„Dann versprich mir wenigstens, dass du gehst, wenn es schlimmer wird. Versprich mir, dass du gehst, bevor du es nicht mehr kannst.“

Das konnte ich nicht, denn es wäre eine Lüge gewesen. „Es gibt eine Heilung“, sagte ich mit fester Stimme. „Ich muss sie einfach nur finden.“

 

°°°

 

Es war bereits später Nachmittag, als ich über mir eine Kugel aus Licht erscheinen ließ und den Kopf zu Fax in die Höhle steckte, nur um erschrocken die Augen aufzureißen, denn der Kleine war nicht da. Und nicht nur das, auch die Decken waren verschwunden.

Nein, nein, nein!

Panisch sah ich mich nach allen Seiten um, kroch tiefer in die Höhle, aber sie war wirklich leer. Nichts deutete darauf hin, dass hier seit einer Woche ein kleiner Junge hauste. Aber … das konnte doch nicht sein. Noch gestern hatte ich ihm etwas zu essen gebracht und mit ihm darüber diskutiert, ob Käfer faszinierend oder einfach nur eklig waren.

War er jetzt doch endlich gegangen, wie ich es die ganze Zeit gewollt hatte, oder … oh Gott, was wenn die Jäger ihn erwischt hatten, während ich bewusstlos im Lazarett gelegen hatte? Meine Hände klammerten sich an den Henkel meiner Umhängetasche. Das durfte nicht sein. Bitte nicht.

„Fax“, sagte ich zu Guardian, der geduldig neben mir wartete. „Geh, such Fax, finde ihn. Fax, such Fax.“

Der kleine Fennlix stellte neugierig die Ohren auf.

„Fax!“, wiederholte ich eindringlicher.

Guardian zirpte, dann wirbelte er herum und rannte aus der Höhle. Ich fackelte nicht lange, sondern lief ihm direkt hinterher.

Nachdem ich mich unter Ashas Protesten und besorgten Blicken praktisch selbst aus dem Lazarett entlassen hatte, war ich direkt in die Feldküche gegangen, um für den Kleinen etwas zu Essen zu besorgen. Denn als ich da in diesem Bett gelegen und darüber gegrübelt hatte, wie es jetzt weitergehen sollte, hatte ich begonnen, mir um den Kleinen Sorgen zu machen. Das hatte damit angefangen, dass Asha mir gesagt hatte, das auch auf dem Pfahlplatz ein Blitz eingeschlagen hatte – direkt neben der Dämonin. Ryu, Gaio und Elias waren gerade unterwegs, um sie wegzubringen, denn ihr hätte niemand mehr helfen können.

Askea und Davesh dagegen schien es so weit ganz gut zu gehen. Ich hatte im Vorbeigehen einen Blick auf sie erhaschen können. Sie saßen noch immer an die Pfähle gefesselt da – direkt neben einem kleinen Krater, aus dem noch die vertrockneten Reste der wuchernden Tentakel heraushingen. Einer der Pfähle war vollkommen verkohlt, zwei andere halb umgeknickt.

Genauso sah es auch im Rest des Lagers aus, wo die Jäger gerade damit beschäftig waren, alles wieder in Ordnung zu bringen.

Eigentlich hätte ich ihnen zur Hand gehen müssen, doch der Gedanke daran, dass Fax die ganze Zeit hier allein gewesen war – während des Sturms und ohne etwas zu Essen – ließ mir einfach keine Ruhe. Ich konnte nicht anders als mich der Gefahr auszusetzen und ihn bei helllichtem Tag aufzusuchen. Ich musste mich versichern, dass mit ihm alles in Ordnung war. Und jetzt war er verschwunden.

Kalte Angst packte mich, als ich hinter Guardian an der Lagune vorbeirannte, und ich schwor mir, sollten die Jäger ihm etwas getan haben, dann würde ich unsere Freundschaft vergessen. Niemand durfte einem Kind ein Leid zufügen – auch nicht, wenn es zu den Dämonen gehörte. Wenn ich mich gegen die Jäger stellen musste, um den Kleinen zu beschützen, dann wäre es so.

Doch es kam alles ganz anders, als ich befürchtet hatte. Guardian führte mich nicht zu den Pfählen oder einem anderen Jäger, der gerade ein schreiendes Kind hinter sich herzog, sondern in die Grube - oder besser gesagt zu dem Felsmassiv, das sie zur Hälfte umschloss.

Mein kleiner Wächter hielt direkt auf den kleinen Spalt im Stein zu, in dem er sich so oft verkroch, und verschwand darin. Zuerst glaubte ich, dass er mich falsch verstanden hatte, doch dann begann er ganz aufgeregt zu zirpen.

Ich warf schnell einen Blick über die Schulter, um sicher zu gehen, dass man mich nicht beobachtete, und hockte mich dann vor den Spalt. Er war zwar gut einen halben Meter hoch, aber sehr schmal. Ich würde es nicht schaffen, mich dort hinein zu quetschen, aber Fax war viel kleiner. Vielleicht war er ja wirklich … „Fax?“, flüsterte ich leise und beugte mich vor. „Bist du da drin?“

Es dauerte ein bisschen. Dann antwortete eine dünne Stimme: „Tiara?“

Ein ganzer Berg voller Steinbrocken fiel mir vom Herzen. Die Erleichterung, die ich in diesem Moment verspürte, ließ sich einfach nicht beschreiben. Meine Phantasie hatte sich bereits die schlimmsten nur möglichen Szenarien ausgedacht, doch er war hier. Es ging ihm gut. Oder? „Fax?“ Ich rutschte näher an den Spalt heran, bis ich einen Blick hineinwerfen konnte. „Alles in Ordnung bei dir?“

Er antwortete nicht. Dafür konnte ich dabei zusehen, wie ein roter Arm aus dem Spalt auftauchte. Sein Kopf folgte.

„Was machst du?“ Alarmiert schaute ich mich um. „Wenn dich jemand sieht! Bleib da drin!“

Er verharrte einen Moment, zwängte sich dann aber weiter durch den Spalt nach draußen. Es kostete ihn einige Anstrengungen, aber er schaffte es. Ein paar Schrammen blieben dabei nicht aus. Der Spalt war wirklich schmal.

Bevor ich ihn noch ein weiteres Mal ermahnen konnte, warf er sich um meinen Hals und klammerte sich an mich.

Im ersten Moment war ich so überrascht, dass ich nicht wusste, was ich tun sollte. Dann spürte ich das Beben in dem kleinen Körper. Auch wenn er versuchte, leise zu sein, das Schniefen konnte ich einfach nicht überhören. Er weinte.

„Hey, nicht weinen.“ Ich zögerte, legte dann aber auch meine Arme um ihn und drückte ihn an mich. „Alles wird wieder gut. Dir passiert nichts, ich bin ja da.“

„Versprichst du es?“, fragte er sehr leise.

Ich wollte sofort mit „Ja“ antworten, brachte das Wort aber nicht über die Lippen, denn ich wusste nicht, wie ich ein solches Versprechen halten sollte. Aber der Kleine brauchte die Sicherheit. Im Moment war ich die einzige für ihn erreichbare Person. Sein Vater konnte ihm nicht helfen und jemand anderes gab es nicht.

„Tiara?“

„Ja“, flüsterte ich und hoffte, dass ich es auch halten konnte. „Ja, ich verspreche es dir. Ich passe auf dich auf.“

Die dünnen Ärmchen schlossen sich ein wenig fester um mich.

Es war ein seltsames Gefühl, Fax in den Armen zu halten, und doch irgendwie ganz natürlich. Er war ein Kind, er brauchte Schutz und er glaubte, dass er diesen bei mir finden konnte.

Ich konnte nur hoffen, dass ich dem auch gerecht werden konnte. Ich wollte ihn nicht im Stich lassen, auf keinen Fall, aber die Situation war … problematisch. Wie ich das bewerkstelligen sollte, wusste ich noch nicht, und es würde mir sicher noch einiges an Kopfzerbrechen bereiten. Aber dafür konnte ich etwas anderes tun. „Komm“, sagte ich und lockerte meinen Griff um ihn. „Bringen wir dich zurück in deine Höhle. Hier kannst du nicht bleiben, das ist zu gefährlich.“

„Aber die Höhle hat gewackelt.“

„Gewackelt?“

„Im Sturm. Sie hat gewackelt, als würde sie jeden Moment einbrechen.“

Darum hatte er sich wohl hier versteckt.

Wieder musste ich mir vor Augen führen, dass er – egal, wie selbständig er bereits war – nur ein kleines Kind war. Der Sturm war heftig gewesen und musste ihn mehr als nur ein wenig geängstigt haben. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, welche Frucht er hatte durchstehen müssen.

„Die Höhle ist noch in Ordnung, ich war gerade drin. Alles okay.“

„Okay? Was heißt das?“ Er löste sich ein wenig von mir und wischte unauffällig die Tränen von seinen Wangen.

Ich tat so, als würde ich es nicht sehen. „Das bedeutet, dass die Höhle in einwandfreiem Zustand ist und du dort sicher bist. Also los, lass uns deine Decken schnappen und dich hinbringen.“

Fax nickte, löste sich von mir und angelte mit dem Arm im Spalt nach den Decken. Guardian gab ihm dabei Hilfestellung, indem er an den Decken zerrte und sie beutelte, solange, bis wir beide draußen hatten. Dann schnappte ich mir die beiden und brachte sie wieder in die kleine Höhle an der Lagune.

Fax versuchte es zu verbergen, aber ich sah die ganze Zeit, wie sehr er zitterte. Er hatte wirklich Angst gehabt. Nicht nur vor dem Sturm, sondern auch vor einer möglichen Entdeckung, denn der Spalt lag nicht nur näher am Lager, er war auch direkt darauf gerichtet. Daher blieb ich auch länger bei dem Kleinen, als ich vorgehabt hatte.

Erst beobachtete ich ihn nur still beim Essen. Doch irgendwann kroch er wieder auf meinen Schoß und dann saßen wir einfach nur in der Höhle.

Leise summte ich vor mich hin und überlegte, wie ich das alles in Ordnung bringen sollte. Dabei wiegte ich mich, ohne dass ich es eigentlich merkte, hin und her. Erst als Fax‘ Atem ruhiger wurde und der kleine Körper schwerer, wurde mir klar, dass er eingeschlafen war.

Für einen Moment war ich versucht, ihn auf seine Decken zu legen und zu gehen, aber dann merkte ich, dass ich das gar nicht wollte. Nicht nur, dass ich selbst müde war und die Ruhe mir gut tat, ich wollte ihn weiter im Arm halten. Eine so ehrliche Zuneigung wie die dieses Kindes, war mir in dieser Welt noch nie widerfahren. Darum schloss ich meine Arme einfach fester um ihn, lehnte mich zurück und fragte mich einmal mehr, wie so etwas unschuldiges so böse werden konnte, dass nur der Tod es aufhalten konnte.

 

°°°

 

Das plötzliche helle Licht ließ mich mitten in der Bewegung erstarren. Meine Hände krallten sich in meinen Beutel, während mein Herz mir bis zum Hals schlug. Nur ein Wort ging mir durch den Kopf. Erwischt. Jetzt würde ich erfahren, was es bedeutete, gegen die Jäger zu arbeiten.

Ich schloss die Augen und wartete, zählte leise die Sekunden. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Doch es geschah nichts. Niemand sprach mich an, kein Geräusch unterbrach die nächtliche Ruhe. Trotzdem zögerte ich, bevor ich mich umdrehte, doch statt eines Jägers mit einer Laterne erblickte ich in der Ferne eine Lichtsäule, die langsam verlosch. Sie schien größer und mächtiger zu sein als die anderen, die ich bisher gesehen hatte. Ihr Licht war so intensiv, dass ich die Augen dagegen zukneifen musste.

Doch auch sie erlosch, bis nichts anderes als ihr Nachhall auf meiner Netzhaut zurückblieb.

Das plötzliche Erscheinen dieser Lichtsäule machte mich nervöser als all die anderen vor ihr. Denn eines war sicher: sie bestand aus Magie. Und wozu Magie im Moment fähig war, wurde mir in den letzten Tagen mehr als nur einmal vor Augen geführt.

Vielleicht machte sie mich aber auch einfach nur nervös, weil ich mal wieder auf dem Weg zu den Dämonen war. Meine vollgepackte Tasche brannte mir praktisch ein Loch in den Rücken. Aber ich konnte nicht wegbleiben, nicht heute Nacht, nicht mit den Gedanken, die mich nicht schlafen lassen wollten.

Ich hatte Fax etwas versprochen und mir war klar geworden, dass ich es nur auf eine Art würde halten können. Deswegen musste ich noch einmal mit Askea sprechen. Denn diesen Weg wollte ich nicht einschlagen, nicht wenn ich an die lachenden und neckenden Gesichter beim Abendessen dachte.

Ich musste es einfach noch einmal versuchen. „Komm“, sagte ich zu Guardian und schlich weiter durch das Lager.

Die Schatten waren in dieser Nacht meine Freunde. Ich hielt mich, soweit es ging, hinter den Zelten und musste mir eingestehen, dass dieses Durch-die-Gegend-Schleichen langsam aber sicher zu einer nächtlichen Routine für mich wurde. Genau wieder Anblick des Pfahlplatzes bei Nacht.

Als ich das Schild erreichte, zögerte ich einen Moment. Nicht nur, weil mein Blick zu dem kleinen Krater neben dem Pfahl glitt, an dem noch gestern die Dämonin gesessen hatte. Nein, es war die Angst vor dem Schild selbst.

Das letzte Mal, als ich es durchschritten hatte, war mir nicht gut bekommen und ich fürchtete, dass es dieses Mal genauso enden könnte. Deswegen streckte ich zur Probe erstmal eine Hand hindurch.

Ich spürte es, aber es war bei weitem nicht so schlimm wie noch vor zwei Nächten.

„Hast du Angst?“

Ich richtete meinen Blick auf Askea. Natürlich war mir schon die ganze Zeit bewusst, dass er mich beobachtete, seit ich hinter dem Zelt hervorgetreten war. Ich war mir nur nicht sicher, wie ich darauf reagieren sollte. Schwäche zu zeigen, war sicher eine ganz schlechte Idee. Deswegen kratzte ich meinen ganzen Mut zusammen und trat durch das Schild.

Wie immer hatte ich das Gefühl, in eine riesige Seifenblase einzutauchen. Auch die Magie konnte ich sehr deutlich spüren, aber entgegen meiner Befürchtungen wurde mir weder schwindlig noch schlecht. Es war einfach nur ein Streicheln meiner Haut, das nachließ, sobald ich mich im Inneren der Blase befand.

Guardian hingegen spazierte einfach hindurch und zirpte mich an, als wollte er fragen, warum ich so lange brauchte. Gott, jetzt bildete ich mir schon ein, dass Tiere mit mir sprachen. Ich brauchte ganz dringend weniger Stress.

Für einen kurzen Moment glitt mein Blick zu dem leeren Pfahl. Doch dann schüttelte ich den Gedanken an die Dämonin einfach ab und trat an Askea vorbei zu Davesh, der mehr tot als lebendig an seinem Pfahl hing.

Dieser Anblick hätte mich erschrecken müssen, doch er machte mich einfach nur traurig und schürte die Schuldgefühle in meiner Brust. Ich war dafür verantwortlich und wusste nicht, was ich dagegen unternehmen sollte.

Genaugenommen konnte ich gar nichts dagegen tun. Ich konnte nur versuchen, ihm sein Schicksal ein wenig angenehmer zu machen.

Ich streifte meine Tasche ab und zog einen der mitgebrachten Wasserschläuche heraus. „Gleich geht’s dir ein wenig besser“, sagte ich leise und schraubte den Verschluss ab.

Davesh gab ein sehr unglückliches Lachen von sich. „Ist das nicht eine Ironie? Erst bringst du mich an diesen Pfahl und nun sorgst du dafür, dass ich nicht verrecke.“

Seine Stimme war so kratzig, dass ich den Schmerz beinahe selbst fühlen konnte. „Sei ruhig, das Sprechen strengt dich nur an.“ Vorsichtig kippte ich den Schlauch.

Sein ganzer Körper schien aufzuatmen, als das Wasser auf seine Haut traf. „Vielleicht versucht du aber auch einfach, mein Leiden zu verlängern.“

„Du sollst ruhig sein.“ Ich wollte nicht unnötig daran erinnert werden, was ich getan hatte. Das war mir auch so bereits viel zu bewusst.

Vor meinen Augen begann die zerstörte Haut, sich zu regenerieren. Aber ich wusste, dass das nur ein Tropfen auf dem heißen Stein war, denn er hatte Recht. Im Prinzip verlängerte ich sein Leid nur. Eigentlich gab es nur zwei Möglichkeiten, damit es beendet wurde. Die eine wäre, einfach nicht mehr herzukommen. Dann würde es nur noch wenige Tage dauern und er wäre von seinem Leid erlöst. Aber das brachte ich einfach nicht übers Herz.

Ich wusste nicht, woran es lag. Vielleicht weil es meine Schuld war, dass er hier festsaß, aber ich konnte einfach nicht wegbleiben.

Die andere Möglichkeit … die konnte ich nicht einmal in Betracht ziehen, denn egal, wie harmlos die Dämonen wirkten, wenn sie hier gefesselt auf ihr Schicksal warteten, ich hatte die Kraft gesehen, die unter ihrer Haut lauerte. Ich hatte gesehen, wie sie versucht hatten, die Jäger zu töten.

Natürlich könnte man jetzt dagegenhalten und sagen, dass sie sich in diesen Fällen nur selbst hatten retten wollen. Aber andererseits hätte es auch gereicht, die Jäger einfach handlungsunfähig zu machen und dann wegzulaufen.

In keinem der Fälle, die ich beobachtet hatte, hatten die Dämonen auch nur versucht, ihr Problem auf diese Art zu lösen, und das war auch der Grund, warum ich nicht mal darüber nachdachte, sie zu befreien.

Als der erste Wasserschlauch leer war, tauschte ich ihn gegen einen zweiten aus, doch das Essen, das ich Davesh anschließend anbot, lehnte er wieder ab. Ich konnte ihn verstehen. Wahrscheinlich wurde ihm von dem Anblick des Essens einfach nur schlecht.

Aber dafür konnte ich etwas anderes tun. Ich machte das Seil, das ihn am Pfahl hielt, etwas lockerer, sodass er die Arme ein wenig weiter nach unten nehmen konnte.

Er verzog das Gesicht, als die verspannten Muskeln sich lockerten und die Gelenke bei dieser Bewegung knackten. Doch vielleicht würde es ihm ein wenig Erleichterung verschaffen.

Da ich nichts weiter für ihn tun konnte, räumte ich meine Tasche zusammen und stiefelte nach einem letzten Blick auf ihn zu Askea, der mich bereits mit ruhigem Blick erwartete.

Guardian hüpfte dabei neben mir auf und ab, als wäre das alles nichts weiter als ein großes Spiel für ihn. Er rannte vor und stellte sich mit den Vorderpfoten auf Askeas Bein. Die Ohren aufgerichtet, schnüffelte er an dem Dämon und wedelte dann mit seinen zwei Schwänzen. Das brachte ihm leider keine Aufmerksamkeit ein. Selbst als er auffordernd zirpte, schaute Askea mir dabei zu, wie ich an den Pfahl trat und auch seine Fesseln ein wenig lockerer machte.

„Das hätte ich schon früher machen sollen“, sagte ich leise und hörte auch seine Knochen knacken, als er die Arme etwas sinken ließ.

„Ich denke, ich kann es dir verzeihen.“

Ich hielt inne und schaute ihn etwas verwirrt an. Hatte er gerade einen Scherz gemacht? Das war … seltsam und ich brauchte einen Moment, um mich von dieser Überraschung zu erholen. Nur leider fiel mir dabei auf, wie schlimm seine Haut in der Zwischenzeit aussah. Sie war einfach nur … verbrannt. Die Wüstensonnen hatten ihrem Namen alle Ehre gemacht.

Aber das Schlimmste war wohl der Schmerz, den er deswegen ertragen musste. Es reichte nicht mehr, ihm nur Wasser und Essen zu bringen. Wenn es so weiter ging, würde es nicht mehr lange dauern, bis die Jäger ihn trotzdem wegbrachten.

Ich biss mir auf die Lippe, als ein Gedanke in meinem Kopf Form annahm. Wenn ich das tat, würde ich mich nicht nur selbst gefährden, sondern auch eine Grenze überschreiten. Aber er war Fax‘ Vater. Ich konnte doch nicht dabei zusehen, wie er einfach starb. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie ich zu dem Jungen ging, um ihm zu sagen, dass er nun ganz alleine auf der Welt war.

„Warum schaust du mich so an? Gib mir lieber das Wasser, ich habe Durst.“

Oh Mann. Er hing hier am Pfahl, war ein Gefangener der Jäger und gab mir dennoch Befehle? Er hatte wirklich eine drakonische Ader. Ein drakonischer Dämon. Wie passend.

Aber mein eigentliches Problem war damit nicht gelöst. „Ich würde gerne etwas probieren“, sagte ich leise und kniete mich neben ihn – viel zu nahe. Mit den gelockerten Fesseln wäre es ihm ein leichtes, nach mir zu greifen.

Askea versuchte es nicht einmal. Er musterte mich nur nachdenklich. „Bittest du mich um Erlaubnis?“

„Ich müsste dich dazu anfassen.“

Nun zog er eine Augenbraue nach oben. Wie sich die rissige Haut seiner Stirn dabei runzelte und spannte, sah sehr schmerzhaft aus. „Ich bin dein Gefangener“, erklärte er mir mit kratziger Stimme. „Im Augenblick kannst du mit mir machen, was du willst.“

„Ich will dir helfen.“

Fast hätte er gelacht, aber es wäre kein fröhliches Lachen geworden. „Nein, du willst mir nicht helfen, du willst nur dein Gewissen beruhigen.“

Das zu hören, tat weh. Nicht nur, weil es zum Teil der Wahrheit entsprach. Es tat einfach weh, weil ich kein schlechter Mensch sein wollte. Ich wollte alles richtig machen, aber … ich wusste einfach nicht mehr, was richtig war. „Erlaubst du es mir? Darf ich dich berühren?“

„Könnte ich dich daran hindern?“

War das eine Zustimmung oder wollte er mir einfach erneut vor Augen führen, wie aussichtslos seine Lage war? Ich zögerte, wartete darauf, dass er mich abwies, als ich langsam die Hände hob. Doch als er mich nur ruhig beobachtete, beugte ich mich ein wenig vor und legte meine Hände an seine Brust.

Als er vor Schmerz zischte, zuckte auch ich zusammen.

„Tut mir leid, aber anders kann ich das nicht.“

Er sagte nichts, aber an dem verkniffenen Zug um seinen Mund sah ich, dass ihm das gar nicht gefiel.

„Gleich wird es dir besser gehen.“ Ich griff nach meiner Magie, öffnete mich ihr und hieß das Gefühl ihrer Macht willkommen. Dabei achtete ich genau darauf, wie mein Körper auf sie reagierte, doch seltsamerweise nahm ich hauptsächlich das gleichmäßige Schlagen von Askeas Herz unter meiner Hand wahr. Seine warme Haut und dann dieser Geruch. Er roch wie … Anis.

Ich drängte diesen Gedanken ganz nach hinten in meinen Kopf und konzentrierte mich auf meine eigentliche Aufgabe. Ein Gedanke konnte die mächtigste Waffe einer Hexe sein, dass hatte Asha mir schon ganz am Anfang beigebracht. Deswegen hatte ich in diesem Moment nur einen einzigen Gedanken. Heile.

Meine Hände begannen in einem sanften Licht zu glühen, das schon bald auf meine Arme übergriff. Ich spürte die Wärme meiner Magie, spürte ihre Kraft, und langsam, sehr langsam, drängte ich sie zu Askea.

Zuerst geschah gar nichts. Dann, sehr langsam, griff das Leuchten auf Askeas Haut über. Anfangs war es nur ein schillernder Kreis, der rund um meine Hände glühte. Doch dann breitete er sich aus. Über die Brust, den Bauch, die Schultern. Das Licht drang in jede Falte und jede Kerbe seiner geschundenen Haut ein, verteilte sich über Arme, Beine und den Kopf. Dann waren wir beide in ein weiches Licht getaucht.

Heile.

Askea schloss die Augen. Nicht nur sein Körper schien aufzuatmen, als die Wunden sich vor meinen Augen schlossen. Sein ganzes Sein gab ein erleichtertes Seufzen von sich, als die Schmerzen langsam nachließen.

Die Rötungen verschwanden, die verbrannte Haut erneuerte sich und die Risse seiner Lippe heilten einfach, bis nichts als glatte Haut zurückblieb.

Mein Blick blieb an ihnen haften, sah, wie sie sich unter seiner Atmung leicht öffneten. Diese Lippen, die etwas dunkler waren als der Rest seines Körpers.

Ich war so darauf konzentriert, dass ich gar nicht bemerkte, dass er die Augen wieder geöffnet hatte und mich beobachtete. Auch das leichte Puckern in meinem Kopf bemerkte ich nicht sofort. Erst als mein Magen sich verkrampfte und mir bewusst wurde, dass das nichts damit zu tun hatte, dass ich Askea berührte, wurde mir klar, was hier passierte.

Ich riss meine Hände zurück und versiegelte meine Magie innerhalb eines Wimpernschlags. Das Leuchten um uns herum verblasste einfach wie das Licht eines sterbenden Glühwürmchens. „Tut mir leid“, flüsterte ich und griff hastig nach meiner Tasche, um das Zittern meiner Hände zu verstecken. „Mehr kann ich nicht für dich tun.“

Verdammt, das war zu viel gewesen. Ich spürte den leichten Schwindel. Ich hätte das nicht tun dürfen. Nicht nur, weil …

„Tiara, deine Nase blutet.“

Erschrocken riss ich meine Hand aus der Tasche und ließ den Wasserschlauch dabei fallen. Sehr vorsichtig tastete ich nach meiner Nase und als ich die Hand wieder wegzog, haftete daran ein wenig Blut.

Oh Gott, nein.

Panisch zog ich mir den Ärmel über die Hand und wischte das Blut aus meinem Gesicht. Es war nicht viel, doch seine Bedeutung war mir so bewusst wie dieser Moment, in dem ich hier im Sand hockte.

Es wurde schlimmer.

„Tiara.“

„Schon gut, das ist nicht schlimm.“ Nur keine Schwäche zeigen. Ich setzte eine neutrale Miene auf und griff mir erneut den Wasserschlauch. Leider zitterten meine Hände ein wenig, als ich den Verschluss abschraubte. Mir entging auch nicht, dass Askea es bemerkte. „Ich muss mit dir über Fax sprechen.“

Das war der Grund, warum ich hier war, und es war das Beste, das Thema direkt darauf zu lenken, bevor er mich noch fragen konnte, was mit mir los war. Andererseits interessierte es ihn wahrscheinlich gar nicht.

Ich hob den Wasserschlauch an Askeas Mund und wartete, bis er die Hälfte davon geleert hatte, bevor ich weitersprach. Die Panik wegen des Nasenblutens war wohl das einzige, das mir an dieser Stelle half, ihn dabei nicht wieder anzustarren.

„Fax ist … er kann hier nicht länger bleiben, es ist einfach zu gefährlich.“ Als er bei dem Sturm aus seiner Höhle gekommen war, hätten die Jäger ihn entdecken können. Erst später ist mir die Gefahr bewusst geworden, in die der Kleine sich gebracht hatte. „Er muss hier weg, am besten sofort.“

„Und was erwartest du? Soll ich ihn wieder wegschicken?“

„Nein.“ Ich schraubte den Schlauch zu und holte zwei eingepackte Brote aus meiner Tasche. Das Papier knisterte, als ich es auswickelte. „Er kommt nur wieder zurück. Es muss einen anderen Weg geben, eine endgültige Lösung. Gibt es da wirklich niemanden, zu dem ich ihn bringen kann?“

Er zögerte einen Moment, schüttelte dann aber den Kopf. „Nein, nicht mehr.“

„Nicht mehr?“

„Früher hätte es da jemanden gegeben, aber in der Zwischenzeit sind sie tot. Getötet von Dämonen.“ Wie bitter er diese Worte hervorstieß. Als würde er sie dafür hassen.

Ich war mir sehr wohl der Ironie seiner Worte bewusst, als ich ihn von dem Brot abbeißen ließ. Dabei kam ich nicht umhin, festzustellen, dass er wieder viel … gesünder aussah. Wenigstens hatte meine Heilung ihm dahingehend ein wenig helfen können. Er sah wieder fast so aus wie an dem Tag, als wir uns zum ersten Mal begegnet waren.

„Und sonst ist da wirklich niemand?“, fragte ich weiter. „Denk genau nach.“

Doch das tat er nicht. Kauend schüttelte er den Kopf. Wahrscheinlich hatte er in den letzten Tagen genug Zeit gehabt, gründlich darüber nachzudenken. „Kein anderer Dämon würde sich um ihn kümmern, weil er nicht von seinem Blut wäre. Würdest du ihn trotzdem dorthin bringen, wäre es nicht nur sein Todesurteil, sondern wahrscheinlich auch deines. Aber das habe ich dir ja bereits gesagt.“

Ja, viel zu oft. „Aber …“

„Es gibt nur einen endgültigen Weg, Fax von hier wegzubringen.“ Er schaute mir fest in die Augen. „Lass mich frei und wir verschwinden noch heute Nacht.“

Oh nein. „Das kann ich nicht.“

„Lass mich frei, das ist die einzige Möglichkeit. Du willst ihn doch retten, oder? Dann binde mich los. Eine andere Wahl hast du nicht.“

Doch, die hatte ich. Genaugenommen gab es noch eine weitere Möglichkeit, einen allerletzten Ausweg. „Ich kann dich nicht gehen lassen, Askea, du bist viel zu gefährlich.“ Aber ich konnte etwas anderes tun.

Askea knurrte frustriert und ließ seinen Kopf gegen den Pfahl fallen, während meine Gedanken nur so rasten. In Ordnung. Es half alles nichts. Fax musste von hier fort und ich würde bei ihm bleiben. Ich hatte ihm versprochen, dass alles wieder gut werden würde und ich auf ihn aufpasste. Ich würde die Jäger im Stich lassen, musste alles aufgeben, was ich mir hier erschaffen hatte. Ich würde meine Freunde hintergehen und dürfte niemals zurückkommen, aber was sollte ich sonst tun?

Ich würde Fax nehmen und mit ihm von hier verschwinden. Dann …

Plötzlich fuhr Guardian herum und fauchte. Auch Askea und ich rissen den Kopf herum. Genau in dem Moment, als eine Laterne angezündet würde und eine große Gestalt hinter dem Zelt hervortrat.

„Wusste ich doch, dass hier etwas faul ist.“  

 

°°°°°

Tag Neunundsiebzig

 

Ich erstarrte. Direkt vor mir trat Amir aus dem Schatten eines Zeltes. Er sah nicht wütend aus und das war wahrscheinlich das grusligste an diesem Moment.

„Hast du wirklich geglaubt, wir würden es nicht bemerken?“

Ich presste die Lippen fest aufeinander. Was hätte ich auch sagen sollen? Natürlich hatte ich gewusst, dass dieser Moment kommen würde, doch gleichzeitig hatte ich mich auch davor gefürchtet.

„Hast du wirklich geglaubt, du könntest ewig damit weitermachen, ohne dass ich herausfinde, wer dafür verantwortlich ist?“ Er trat durch das Schild und blieb zwei Meter von mir entfernt stehen. Askea beachtete er gar nicht, genauso wenig wie Guardian. Sein Blick galt allein mir.

Und ich? Ich konnte nichts anderes tun, als mit dem abgebissenen Brot in der Hand zu ihm aufzusehen. Es war offensichtlich, was hier passiert war. Egal was ich sagte oder tat, hier würde ich mich nicht rausreden können. Ich hatte die Dämonen versorgt und nun war ich auf frischer Tat dabei ertappt worden.

Doch damit nicht genug. Im nächsten Moment musste ich feststellen, dass Amir nicht allein gekommen war. Weitere Gestalten traten hinter dem Zelt hervor. Ryu und Elias. Doch am meisten schmerzte es mich, Gaio in die Augen sehen zu müssen, denn in ihnen stand pure Enttäuschung. Zumindest in dem kurzen Moment, bevor er wie die anderen sein Gesicht völlig ausdruckslos werden ließ.

In einer Reihe bauten sie sich nebeneinander auf. Ihre anklagenden Blicke galten allein mir.

„Hast du gar nichts dazu zu sagen?“, fragte Amir mit trügerisch sanfter Stimme.

Ich wusste, dass er sauer auf mich war. Es war das einzige Gefühl, dass er nicht hinter seiner Maske der Gelassenheit verbergen konnte.

„Tiara?“

„Was willst du von mir hören?“ Auch wenn meine Stimme ziemlich gleichgültig klang, so schlug mir das Herz bis zur Kehle. Was konnten sie im schlimmsten Fall mit mir machen? Mich rausschmeißen.

„Du bestreitest es also nicht?“

„Ihr habt mich auf frischer Tat ertappt, was würde es jetzt noch nutzen, dumme Ausflüchte zu erfinden?“

Zum ersten Mal ließ Amir seinen Blick über die Dämonen gleiten, über meinen Beutel und die halb ausgepackten Sachen daneben. „Du hast ihn geheilt.“

Da es keine Frage war, hielt ich es für besser, einfach zu schweigen.

„Er wollte, dass du ihn freilässt.“ Sein Blick richtete sich wieder auf mich. „Bestreite es nicht, ich habe es gehört.“

Oh nein, er hatte mich belauscht. Meine Finger gruben sich leicht in das Brot. Wusste er jetzt etwa von Fax? Bitte nicht.

„Aber du hast ihn nicht gehen lassen.“ Sein Kopf neigte sich nachdenklich zur Seite. „Warum? Warum fütterst du diese Monster, verweigerst ihnen aber gleichzeitig die Freiheit? Glaubst du, es sind Haustiere?“

„Was? Nein! Aber …“ Ich biss mir wieder auf die Lippe.

„Aber was, Tiara?“ Sein Blick wurde hart. „Erkläre dich. Warum schleichst du nachts hierher und verlängerst ihr bemitleidenswertes Leben? Habe ich dir nicht deutlich genug erklärt, warum wir das hier tun müssen?“

Er hatte mir so einiges erklärt. Und anderes hatte er mir vorgespielt. Wenn das eine nur eine Lüge gewesen war, wie konnte ich dann darauf vertrauen, dass es das andere nicht war?

„Tiara, erkläre das hier!“, forderte er sehr nachdrücklich.

Ich biss mir auf die Unterlippe. Was sollte ich nur sagen? „Ich … das …“ Mist, ich konnte ihnen doch nicht von Fax erzählen. „Es ist meine Schuld“, sagte ich daher leise. Etwas Besseres fiel mir auf die Schnelle nicht ein und es stimmte ja auch. „Ich habe ihn an den Pfahl gebracht, nur wegen mir …“

„Wird er sterben?“ Amir zog eine Augenbraue nach oben. „Das muss so sein, das ist richtig, hast du das denn nicht verstanden? Einen Dämon zu fangen ist eine Leistung, über die du dich freuen solltest. Schuldgefühle sind hier fehl am Platz, denn du hast nichts Falsches gemacht. Zumindest nicht, bis du hierher kamst, um das Unvermeidliche hinauszuzögern.“

„Aber … ich weiß, wie es ist, ohne Wasser in der Wüste zu sein, ich …“

„Steh auf.“

Ich stockte und sah zu ihm auf.

„Steh auf, Tiara.“

Als ich seiner Aufforderung nicht sofort nachkam, trat Gaio nach vorne und packte mich am Arm. Sein Griff war nicht fest, aber mit einer Strenge behaftet, die mich zum Aufstehen zwang. Das Brot glitt mir dabei aus der Hand und landete vergessen im Sand.

Gaio zog mich zu Amir und stellte mich direkt vor ihn. Bevor er mich losließ, drückte er mir den Arm. Ich wusste nicht, ob diese Geste tröstlich sein sollte, doch so, Auge in Auge dem Anführer der Jäger gegenüberstehend, wirkte sie nicht im Mindesten beruhigend auf meine Nerven.

Als Amir dann auch noch nach der Peitsche an seiner Hüfte griff und das Ende des Riemens durch seine Hand gleiten ließ – immer und immer wieder – trat ich unwillkürlich einen Schritt vor ihm zurück. Ich glaubte nicht, dass er mir damit etwas tun würde, aber im Moment war der Serpens einfach nur beängstigend.

„Deine Schwäche ist dein weiches Herz, Tiara“, sagte er leise und senkte den Blick auf seine Waffe. „Du versuchst, in diesen Monstern etwas Gutes zu sehen und dementsprechend zu handeln. Und natürlich zeigen sie dir genau, was du sehen willst, einfach damit du ihnen hilfst, aber das ist falsch. Tiara, was du machst ist falsch. Verstehst du das?“

Ich konnte mich nicht daran hindern, an Fax zu denken. Oder an den Augenblick, als Askea mich aus der brennenden Höhle gezogen hatte. Keiner von beiden hatte beängstigend oder gar bösartig gewirkt. Nicht einmal, seit ich sie kannte. Aber andere Dämonen waren da ganz anders gewesen.

Als ich nichts sagte, griff Amir nach meinem Arm und packte so fest zu, dass es schmerzte.

„Lass mich …“

„Hast du vergessen, was sie fast mit Ryu gemacht haben? Hast du die Kraft gesehen, die ein Dämon in sich birgt?“

Nein, natürlich hatte ich es nicht vergessen. Weder seinen Schrei noch die Schmerzen, die er danach durchlitten hatte.

„Erinnerst du dich daran?“

„Natürlich, aber …“

„Er hätte uns alle getötet, wenn du ihn nicht aufgehalten hättest. Glaubst du, einer von diesen beiden würde anders handeln, wenn man ihnen die Möglichkeit gebe? Glaubst du, sie würden friedlich abziehen und nie wieder etwas Schreckliches tun, wenn wir sie jetzt einfach laufen lassen?“ Sein Blick war so eindringlich, dass ich mich darunter ganz klein fühlte. „Wenn du das wirklich glaubst, dann geh hin und binde sie los.“

Als er mich plötzlich freigab, stolperte ich ein paar Schritte vor ihm zurück. War das sein Ernst?

„Mach schon, binde sie los. Ich werde dich nicht daran hindern. Keiner von uns wird dich daran hindern. Aber du solltest dabei nicht vergessen, wenn sie losziehen, um Familien zu zerstören und Leben auszulöschen, dann ist das deine Schuld.“

Ich konnte nicht glauben, was er da sagte. Das konnte er nicht machen. Diese Verantwortung wollte ich nicht. Ich wollte nicht darüber entscheiden dürfen, ob diese beiden Dämonen leben konnten oder sterben mussten.

„Warum zögerst du?“, fragte Amir. „Los, geh, befrei deine kleinen Lieblinge.“ Er gab mir sogar noch einen Stoß, der mich direkt vor Askea beförderte, um seine Worte zu unterstreichen. „Ich gebe dir mein Wort darauf, dass keiner von uns dich daran hindern wird.“

Zögernd glitt mein Blick von ihm zu dem Rubin zu meinen Füßen. Askeas Blick war so ruhig wie immer. Ich konnte nicht erkennen, was er dachte und welche Hoffnung in seinem Herzen wohnte, doch ich konnte es mir sehr gut vorstellen.

Er hatte es mir gesagt. Ich sollte ihn freilassen. Damit wäre nicht nur ihm, sondern auch Fax geholfen. Die beiden konnten gehen, wohin sie wollten.

Aber dann war da noch Davesh. Auch er beobachtete mich. Vor meinem inneren Auge sah ich, wie er sich in den letzten Tagen gequält hatte. Ich sah die Verletzungen, den Schmerz. Aber ich sah auch, wie er versucht hatte, Ryu zu ertränken.

Mein Geist beschwor das Bild der Dämonin herauf. Und auch des Rubins, des ersten Dämons, den ich hier im Lager gesehen hatte. Ich sah ihre Wut und ihren Hass und auch die Drohungen, die Gefahr, die sie aus jeder ihrer Poren auszudünsten schienen.

Ihre grausamen Worte waren noch immer in meinem Kopf.

„Du kannst es nicht“, sagte Amir leise. „Denn du weißt, wie gefährlich es ist und dass es nur einen Weg gibt, diese Gefahr ein für alle Mal von dieser Welt zu tilgen.“

Mein Herz krampfte sich zusammen. Ich schaffte es nicht länger, Askeas Blick zu begegnen. „Es tut mir leid“, flüsterte ich und wusste nicht, wen genau ich damit eigentlich meinte. „Es tut mir leid.“ Ich konnte ihn nicht gehen lassen, ich konnte diese Gefahr einfach nicht auf die Welt loslassen. Aber genauso wenig war es mir möglich, diesen Dämonen beim Sterben zuzusehen.

Als Amir die Hand nach mir ausstreckte, drehte ich mich von ihm weg und schlang die Arme um mich selbst. Das hier, dieser ganze Moment, er war einfach nur unheimlich grausam.

„Du hast dich richtig entschieden“, sagte er leise. „Aber du musst es auch wirklich verstehen. Dämonen sind ein Gräuel der Natur. Sie sind bösartig und grausam und wir sind die einzigen, die sie aufhalten können.“

Ich schüttelte den Kopf, nicht sicher, wie ich reagieren sollte.

„Verstehst du das, Tiara?“

Nein, ich verstand es nicht. Ich konnte und wollte es nicht verstehen. Ich konnte einfach nicht glauben, dass aus einem Kind wie Fax einmal ein Monster werden würde. Das konnte einfach nicht sein.

„Hier.“ Amir hielt mir seine Peitsche mit dem Griff voran entgegen.

Ich schaute sie einen Moment an und hob den Blick dann zu seinem Gesicht. „Was soll ich damit?“

„Lernen.“ Er hielt sie mir nachdrücklicher entgegen. „Nimm sie. Los.“

Nur sehr zögernd löste ich meine Arme und schloss meine Hand um den abgenutzten Griff. Das Leder fühlte sich weich und warm an. Die vielen Jahre der Benutzung hatten es geschmeidig werden lassen.

„Und nun schlag zu.“

Wieder blickte ich von der Peitsche in meiner Hand zu Amir. Auch wenn mein Herz plötzlich schneller schlug, konnte ich nur verwirrt die Stirn runzeln. „Schlagen?“

Amir griff nach meiner Schulter und drehte mich herum, bis ich von Angesicht zu Angesicht vor Askea stand. „Du hast ihn in diesen Zustand gebracht. Nun bring ihn wieder in den Zustand, in dem er eigentlich sein sollte.“

„Was? Nein!“ Als mir klar wurde, was er von mir verlangte, ließ ich die Peitsche so schnell fallen, als wäre sie aus purem Feuer. „Das … das kann ich nicht.“ Das konnte er nicht von mir verlangen. Jemanden, der wehrlos war, zu schlagen … nein, das ging auf gar keinen Fall.

„Also hast du es nicht verstanden.“ Die Worte kamen fast traurig über seine Lippen. Er schaute gedankenverloren auf seine Peitsche, dann seufzte er und klaubte sie vom Boden auf. Ich konnte gar nicht so schnell gucken, wie er damit ausholte.

Der Lederriemen zischte durch die Luft und klatschte auf blanke Haut. Askea schrie auf und knurrte den Serpens mit gebleckten Fängen an. Über Brust und Arm zog sich ein deutlicher Striemen. Dass die Haut von dem Schlag nicht aufgeplatzt war, grenzte an ein Wunder.

Doch dann holte Amir ein weiteres Mal aus.

„Nein!“ Bevor ich überhaupt wusste, was ich da tat, hatte ich ihm bereits die Peitsche aus der Hand geschlagen. Der Lederriemen sause unkontrolliert durch die Luft und schlug sinnlos über Askeas Kopf gegen den Pfahl.

Das war der Moment, in dem ich in Amirs Augen das erste Mal wirklich Wut lodern sah. Es war nur ein kurzer Augenblick, bevor er sie wieder hinter seiner Maske versteckte, aber sie war da gewesen.

Doch entgegen dem, was ich glaubte gesehen zu haben, blieb Amir völlig ruhig. „Ich denke, es ist an der Zeit, dir die wahre Natur der Dämonen zu zeigen.“

Warum nur raste mein Herz plötzlich so? Ich ballte meine Hände zu Fäusten, um sie am Zittern zu hindern.

„Ich will dich nicht verlieren, Tiara“, sagte er mit weicher Stimme. „Aber du musst verstehen. Du gehörst zu uns und das werde ich dir beweisen.“ Er drückte kurz die Lippen aufeinander. „Wir werden einen Ausflug machen. Ich werde dir …“

„Das geht heute nicht“, warf Ryu von der Seite ein. „Der Vertreter des Hohen Rats kommt, erinnerst du dich?“

Amir drückte die Lippen aufeinander. Das schien ihm gar nicht zu passen. „Nun gut, dann werden wir morgen in aller Frühe aufbrechen. Gaio, ich möchte, dass du solange auf Tiara aufpasst. Außer zu den Mahlzeiten darf sie ihr Zelt nicht verlassen.“

„Du … du stellst mich unter Arrest?“

„Die einzige andere Möglichkeit wäre, dich zu entlassen und fortzuschicken, aber das möchte ich nicht. Doch wenn du bei uns bleibst, dann muss ich sichergehen, dass du nicht mehr unüberlegt handeln kannst. Nicht bevor du gesehen hast, was ich dir zeigen möchte.“

Eine kalte Hand schloss sich um mein Herz und drückte sehr langsam zu. Ich wollte nicht wissen, was er mir zu zeigen hatte. Ich wollte die Zeit zurückdrehen, um rechtzeitig verschwinden zu können, bevor er hier auftauchte. Aber das ging nicht mehr.

„Es ist deine Entscheidung, Tiara. Möchtest du bleiben und lernen, oder möchtest du gehen?“

Eine ähnliche Frage hatte er mir schon einmal gestellt. Und auch, wenn ich vorhin noch davon überzeugt gewesen war, mit Fax einfach von hier verschwinden zu können, so war ich mir nun gar nicht mehr so sicher, ob das eine wirklich gute Idee war. Außerdem, wie sollte ich den Kleinen von hier fortschaffen? Die Jäger würden mich in der nächsten Zeit bestimmt keinen Moment mehr aus den Augen lassen. Besonders nicht, wenn ich mich von ihnen abwandte. Und genau das wollte ich nicht. Ich wollte sie nicht verlassen – nicht auf diese Art.

„Tiara?“

Ich warf einen Blick zu Davesh. Und dann zu Askea. Meine Augen flehten darum, dass er verstand, und baten gleichzeitig um Entschuldigung, als ich leise „Ich bleibe“ sagte. „Ich möchte nicht gehen.“

„Dann sehen wir uns morgen früh. Bis dahin wirst du tun, was Gaio dir sagt.“

Ich nickte einfach nur und fügte mich meinem Schicksal.

 

°°°

 

Gedankenverloren blätterte ich eine Seite in dem Grimoire um, das ich mir vor ein paar Wochen in Sternheim gekauft hatte, ohne wirklich zu verstehen, was ich da eigentlich las. Genaugenommen schaute ich mir eigentlich nur die Zeichnungen und Bilder an, die neben den Zaubern und deren Ausführungen abgebildet waren. Um mich zu konzentrieren, ging mir einfach zu viel im Kopf herum.

Schon seit Stunden war ich in meinem kleinen Zelt eingesperrt. Es war fast Nachmittag und auch wenn ich zu den Mahlzeiten hinaus gekonnt hätte, so wagte ich es nicht, den anderen Jägern unter die Augen zu treten. Gaio hatte mir zwar versichert, dass sie keine Ahnung hatten, was ich getan hatte, aber das machte es nicht besser, denn ich wusste genau, was vorgefallen war. Und ich war mir immer noch nicht sicher, ob ich mich richtig entschieden hatte oder nicht.

Im Moment war einfach alles so verwirrend. Ich hatte absolut keine Ahnung mehr, was eigentlich richtig und was falsch war. Das war es, was mir wirklich zu schaffen machte.

Hinter mir, zusammengerollt an meinen Kniekehlen, lag Guardian. Er hatte es sich dort gemütlich gemacht, kaum dass ich mich auf der Pritsche ausgestreckt hatte. Das war Stunden her und langsam begannen meine Muskeln von dem langen Liegen zu schmerzen.

„Gleich schlafe ich vor Langeweile ein“, erklärte Gaio mir. Er lag mit hinter dem Kopf verschränkten Armen neben der Pritsche auf dem Boden und starrte die Zeltdecke an. Seine Flügel waren, soweit das kleine Zelt es erlaubte, aufgeklappt. Wahrscheinlich eine Sicherheitsmaßnahme, falls er wirklich einschlief. Egal wo ich hintrat, ich würde ihn erwischen und dann wäre er sofort wieder wach.

Als er dann auch noch gähnte, ließ ich das Buch sinken und blickte zu ihm nach unten. Genau wie ich, war er nun schon seit Stunden in diesem Zelt. „Vielleicht kann dich ja jemand ablösen. Dann kannst du schlafen.“

„Warum? Willst du mich loswerden?“

Nein, eigentlich wollte ich das nicht. Gaio war der einzige vom inneren Kreis gewesen, der mich nicht angesehen hatte, als wäre ich eine Verräterin. „Solange ich deiner Gesellschaft würdig bin, möchte ich sie behalten.“ Ich klappte das Buch zu und ließ es neben dem Bett auf den Boden gleiten.

Guardian zirpte protestierend, als ich mich dabei bewegte, drehte sich dann aber einfach um und schlief weiter. Er war wohl der einzige, den es nicht störte, hier drinnen mehr oder weniger gefangen zu sein.

„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen“, sagte Gaio plötzlich. „Amir ist zwar sauer, aber er wird sich wieder beruhigen.“

„Und wenn nicht?“

„Er hat dich viel zu gerne, um ein Und-Wenn-Nicht überhaupt in Erwägung zu ziehen.“

Ich wäre da gerne auch so sicher wie er. Seufzend ließ ich meinen Arm aus dem Bett hängen und strich damit über die dünne Membran seines Flügels. „Darf ich dich mal etwas fragen?“

„Hat das etwas damit zu tun, dass du mich antatschst?“ Er kniff die Augen leicht zusammen. „Mal wieder?“

Das zauberte mir trotz allem ein kleines Lächeln auf die Lippen. Er hatte Recht, das hatte ich schon einmal getan, an meinem ersten Tag im Lager, als ich ihn im Lazarett vorgefunden hatte. Aber da er nicht sagte, dass ich damit aufhören sollte, tat ich es auch nicht.

„Weißt du, was Amir mit mir vorhat? Also morgen?“

„Nein.“ Er richtete seinen Blick wieder an die Zeltdecke. „Jedenfalls nicht genau.“

„Was heißt das?“

„Dass er es mir nie erzählt hat. Aber …“ Er seufzte. „Weißt du, du bist nicht die erste im Lager, die in jedem etwas Gutes sehen möchte. Als Elias hier vor vier Jahren ankam, hatten wir mit ihm genau die gleichen Probleme. Genaugenommen war es sogar schlimmer, er hat mehr als einmal versucht, die Dämonen zu befreien.“ Diese Erinnerung ließ ihn lächeln.

Meine Finger stoppten in der Bewegung. „Ist das dein Ernst?“

Er nickte. „Es ist ihm zwar nie gelungen, sie durch das Schild zu bringen, aber hätten wir ihn einfach weitermachen lassen, wäre ihm das früher oder später sicher geglückt.“

Elias war wie ich gewesen? „Was ist passiert?“

„Amir hat mit ihm einen Ausflug gemacht, genau wie er es mit dir geplant hat. Und nein, ich weiß nicht, was er ihm gezeigt hat, doch egal, was es war, es hat Elias die Augen geöffnet. Danach hat er verbissener als alle anderen gegen die Dämonen gekämpft. Und das hat sich bis heute nicht geändert.“

Irgendwie trug das nicht zu meiner Beruhigung bei. Was konnte Amir ihm nur gezeigt haben, dass sich Elias‘ Einstellung von Grund auf geändert hatte? Ich wollte es mir nicht vorstellen, aber so wie es aussah, würde ich es morgen sowieso erfahren. „Und du? Wie bist du zu den Jägern gekommen?“

Jegliches Anzeichen von Humor verschwand aus seinem Gesicht. „Ich habe dabei zusehen müssen, wie zwei Smaragde meine ganze Klasse auf einem Ausflug getötet haben, genau wie … sie.“ Er verstummte.

Oh Gott. Er hatte mir ja erzählt, dass er früher Lehrer gewesen war, aber dass es auf diese Art geendet hatte …

„Damals habe ich mir geschworen, dass ich nicht zulassen würde, dass so etwas noch einmal passiert, und an diesen Schwur habe ich mich bis heute gehalten.“

Das verstand ich. Damit wollte er etwas Gerechtigkeit in diese Welt zu bringen. Aber … „Und wenn wir uns irren?“, fragte ich leise und sprach meinen Zweifel damit zum ersten Mal laut aus. „Was, wenn wir alle falsch liegen und die Dämonen gar nicht so böse sind, wie wir glauben. Vielleicht versuchen sie ja nur auf ihre Art zu überleben.“

„Du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe.“

Nein, das hatte ich nicht. Und ich konnte auch nicht bestreiten, dass es unter den Dämonen einige Exemplare gab, die sehr gefährlich waren. Aber galt das nicht auch für andere magische Wesen? Wenn ich mich richtig erinnerte, dann waren es Magier, die Talita bekämpft hatte, um den Lykanern zu helfen. Deswegen waren doch aber nicht alle Magier böse, oder?

Warum nur konnten mich diese nagenden Zweifel nicht endlich in Frieden lassen? Alles wäre so viel einfacher, wenn ich - wie die anderen Jäger - die Welt in schwarz und weiß sehen könnte. Doch leider hatte ich Fax kennengelernt. Durch ihn waren die Zweifel, die mich schon vom ersten Tag an heimgesucht hatten, nur noch stärker geworden. Der kleine Junge passte einfach in kein Bild, in dem man versuchte, jedes Wesen nach seinen eigenen Vorstellungen in Gut und Böse zu unterteilen. Zumindest nicht nach den Vorstellungen der Jäger.

„Warte einfach ab, was der morgige Tag bringt“, sagte Gaio leise. „Dann wirst auch du verstehen. Da bin ich mir sicher.“

Aber ich war mir nicht sicher, ob ich verstehen wollte. Nicht wenn ich das Bild eines kleinen Jungen im Kopf hatte, der sich zitternd an mich klammerte und versuchte, seine Angst vor mir zu verbergen.

 

°°°°°

Tag Achtzig

 

Langsam läutete die erste Sonne den Morgen ein. Hoch über dem Drachengebirge vertrieb sie die Nacht im grauen Zwielicht und bereitete sich darauf vor, den Tag mit ihren Strahlen zu erwärmen.

Ich zog an Primos Zügeln, um dem Schauspiel einen Moment zuzuschauen. Die Morgendämmerung war wunderschön und konnte mich einen Moment von dem ablenken, was mir bevorstand – obwohl ich ja gar nicht so genau wusste, was das war. Niemand hatte es mir sagen wollen und irgendwann hatte ich einfach aufgehört nachzufragen.

Allein bei dem Gedanken daran schlug mein Herz bereits viel zu schnell. Ich wollte mich nicht noch nervöser machen, als ich sowieso schon war.

„Tiara“, mahnte Amir. Er war ein paar Meter weiter stehen geblieben. Den ganzen Morgen hatte er nur das Nötigste mit mir gesprochen und mich ansonsten mit Schweigen gestraft. Selbst Kiran, der neben ihm auf seinem Greif thronte, blieb sehr wortkarg. Aber ich hatte die Blicke gesehen. Amir hatte ihm gesagt, was ich getan hatte, und er missbilligte es.

Dass Kiran uns an diesem Morgen begleitete, war für mich wohl die größte Überraschung gewesen. Ich hatte mit Ryu, Elias oder Gaio gerechnet, aber nicht mit dem Magier.

Selbst Guardian war heute außergewöhnlich still, aber das lag wohl an meiner wachsenden Anspannung, die sich mit jedem Meter, den wir hinter uns ließen, steigerte.

„Komm, kleiner Mann“, sagte ich zu ihm und setzte Primo mit leichtem Druck in die Flanken wieder in Bewegung.

Das einzige, was uns nun auf unserem Weg begleitete, war die Stille und meine zunehmende Übelkeit, die dieses Mal nicht von der Magie herrührte. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was er vorhatte, und das machte mich nervös. Für einen kurzen Moment der Panik überlegte ich sogar, ob er mit mir das tun würde, was er mit den Dämonen tat. Schließlich wurden die auch immer in den frühen Morgenstunden weggebracht. Aber das war übertrieben, oder? Er würde mich doch eher rausschmeißen.

Da keiner der beiden Männer mit mir sprach, waren meine Gedanken alles, was ich hatte. Je weiter wir ritten, desto schlimmer wurden sie. Erst als beide Sonnen bereits hoch am Himmel standen und am Horizont die Umrisse eines kleinen Dorfes auftauchten, bekam ich die Gelegenheit, mich von meinen Gedanken loszureißen und auf etwas anderes zu konzentrieren.

Wie es schien, würde das unser Ziel sein. Zumindest hielten die beiden Männer direkt darauf zu.

„Was ist das für ein Ort?“

Amir machte sich nicht mal die Mühe, den Kopf zu drehen, als er mir antwortete. „Früher wurde dieser Ort Sandbrach genannt. Heute ist er nur noch unter dem Namen Oase des Todes bekannt.“

Ich schluckte. Das war … unheimlich und förderte nicht gerade mein Wohlbefinden. „Warum wird er so genannt?“

„Das wirst du gleich selber sehen.“ Damit war das Gespräch wieder beendet.  

Oase des Todes. Dieser Ausflug gefiel mir immer weniger und es wurde auch nicht besser, als wir diesem Dorf mitten in der Wüste näherkamen.

Was ich von weitem nicht sofort hatte erkennen können, zeichnete sich immer deutlicher ab, je näher wir heranritten. Eine Mauer aus ausgeblichenem Sandstein schloss diesen Ort ein – oder zumindest war das in der Vergangenheit einmal der Fall gewesen. Noch heute erkannte man, wo die Mauer einst langgeführt hatte, doch der Zahn der Zeit hatte heftig an ihr genagt. Große Teile waren herausgebrochen. Risse und Kerben waren über das ganze Mauerwerk verteilt und selbst die Teile, die noch standen, sahen nicht so aus, als würden sie noch den nächsten Morgen erleben. Die Mauer war eine einzige Ruine und die Gebäude, die ich erkennen konnte, sahen nicht viel besser aus.

Das Tor, das in diese Anlage führte, war schmiedeeisern mit spitzen Schnörkeln, als hätte man dafür sorgen wollen, dass etwas draußen blieb. Früher war es sicher mal ein Schmuckstück gewesen, doch nun war der Bogen, der es einmal in den Angeln gehalten hatte, in sich zusammengebrochen. Nur eine der beiden Säulen stand noch, die andere war nur noch ein Trümmerhaufen und das Tor lag verbogen daneben. Alles war von verwehtem Sand überschüttet.

Eine gespenstische Stille begleitete uns, als wir diesen Ort betraten. Nur das Heulen des Windes, der zwischen den Gebäuden umherschlich, war zu hören. Der Sand hier war so hoch, dass nicht einmal die Schritte unserer Mounts ein Geräusch machten.

Amir schien sehr genau zu wissen, wohin er wollte. Unbeirrt ritt er in das Dort hinein, vorbei an Häusern aus verblichenem Sandstein, bröckelnden Fassaden und eingestürzten Dächern.

Meine Augen tasteten alles ab, was sie erreichen konnten. Auf den ersten Blick schien dieser Ort nicht ganz so heruntergekommen zu sein wie das Dorf, in dem ich vor Monaten gestrandet war, aber hier war alles unter einem Meer aus Sand verschüttet und die Teile, die noch offen den Sonnen ausgesetzt waren, würden der Welt nicht mehr lange erhalten bleiben.

Noch etwas fiel mir auf. „Das ist kein normales Dorf.“

„Es ist gar kein Dorf.“ Amir umrundete eine Sanddüne und wartete, bis Kiran und ich es auch getan hatten. „Früher war das ein Tempel der Rakshasi und Rakshasa. Ein Ort, in dem es nur ein Gebot gab: Frieden und Harmonie. Hier gab es keine Krieger, nur Gelehrte und Künstler, die nichts anderes taten, als Dinge zu erschaffen, die etwas Schönheit in diese Welt bringen sollten.“

Ein Tempel für Künstler. „So wie es hier aussieht, muss das aber schon sehr lange zurückliegen.“

„Diesen Sommer werden es elf Jahre sein.“

Bitte? Ich runzelte die Stirn. Dieser Ort sollte erst so kurze Zeit verlassen sein? So wie es hier aussah, konnte ich mir das gar nicht vorstellen. Die Gebäude waren, genau wie die Mauer, heruntergekommen und zerstört. Alles was ich hier zu sehen bekam, wirkte alt und verlassen, so alt wie die Pyramiden im alten Ägypten.

Amir führte Kiran und mich tiefer in die Anlage hinein, bis wir einen kreisrunden Platz erreichten, der von halbeingestürzten Gebäuden umringt war. In der Mitte befand sich das Mosaik einer exotischen Blume aus bunten Scherben, das sich bis an den Rand der Häuser erstreckte. Nur wenig Sand hatte sich auf diesen Flecken verirrt.

Ferox gab einen unwilligen Laut von sich, als Amir sich aus seinem Sattel schwang und ihn an den Rand des Mosaiks führte. Auch Kiran stieg von seinem Greif herunter, gab Amir die Zügel und ging dann in die Mitte des Platzes.

„Was denkst du über diesen Ort?“, wollte Amir von mir wissen. „Warum glaubst du, wurde er verlassen?“

„Ähm … keine Ahnung, dafür kann es viele Gründe geben.“

„Nenn sie mir.“

Ich verstand zwar nicht, worauf das hinauslaufen sollte, aber im Moment hielt ich es für besser, seiner Bitte nachzukommen. „Naja, vielleicht ist der Brunnen ausgetrocknet – ohne Wasser in der Wüste lebt es sich nicht gut.“ Ich wartete, aber als er nur still dabei zusah, wie Kiran die Mitte des Mosaiks von Sand befreite, fuhr ich fort: „Vielleicht ist hier aber auch eine Krankheit ausgebrochen oder sie sind weggegangen, weil sie etwas Besseres gefunden haben.“

„Glaubst du das wirklich?“

Eigentlich nicht, aber was sollte es denn sonst sein? „Der Grund könnte auch ein Sandsturm gewesen sein.“ Ein wirklich riesiger Sandsturm.

„Das ist der Ort, an den wir die Dämonen bringen, wenn es für sie Zeit ist zu sterben.“

„Was?!“ Hier brachten sie die Dämonen hin, um sie zu töten? Dann war das ja ein … ein Friedhof! Oh Gott, er wollte doch nicht wirklich …

„Es ist das, was sie verdient haben“, sagte Amir mit fester Stimmte und wandte mir zum ersten Mal an diesem Tag das Gesicht zu. Seine Augen waren so kalt und emotionslos, dass es mich bis ins Mark fröstelte. „Steig ab, Tiara.“

„Was?!“ Das konnte er doch nicht machen!

„Ich möchte, dass du jetzt ganz genau aufpasst. Sieh die Schatten der Vergangenheit.“

„Ich soll … bitte was?“ Nun verstand ich gar nichts mehr.

„Zusehen. Und nun steig ab. Ich möchte nicht, dass du von Primo fällst.“

Ich warf einen ängstlichen Blick zu Guardian, doch der hatte sich in den Schatten gelegt und beobachtete, wie Kiran sich nun in die Mitte des Mosaiks kniete. Dabei wirkte er auf eine Art konzentriert, wie ich sie bei ihm noch nie gesehen hatte. Als er die Augen schloss, schwebte nicht mehr nur die Hitze des Tages im Wind mit. Magie strömte auf den Platz. Sie strich über meine Haut und kitzelte mein Haar.

Ich wusste nicht, was hier geschah, und das ließ mich zögern, aber Amir gab nicht nach. Sein Blick sagte deutlich, was er von mir erwartete: Gehorsam. Und das mehr als je zuvor.

Ein mulmiges Gefühl beschlich mich, als ich aus dem Sattel stieg und in den lockeren Sand sprang. Und das hatte nichts mit dem leichten Unwohlsein durch die Magie zu tun.

Als plötzlich das Lachen eines Kindes durch die Luft schwebte, wirbelte ich herum, aber ich konnte nichts und niemanden sehen. Hatte ich mir das gerade eingebildet? Nein, da war es wieder. Es war wie ein Echo, das vom Wind durch diesen Ort getragen wurde. Es war nicht das einzige. Nach und nach setzten auch noch andere Stimmen ein. Eine Frau, die ein Lied sang, Musik, das Gespräch zweier Männer.

Die Magie um mich herum wurde stärker. Sie ging in Wellen von Kiran aus, bewegte den Sand, wie es sonst nur der Wind konnte. Sie verdichtete sich, bis sie wie ein undurchdringlicher Schleier über allem hing. Dann tauchten plötzlich die Geister auf.

Nein, das waren keine Geister, oder? Durchscheinende Gestalten, die aus dem Nichts kamen. Ein paar liefen über den Platz, durch Kiran hindurch, aber sie bemerkten ihn nicht.

Dort hinten auf der Bank saß eine Frau, die ihrer Tochter dabei zusah, wie sie mit einem Zerberuswelpen über den Platz tollte. „Was ist das?“ Auf diese Gestalten konnte ich mir keinen Reim machen. Sie waren anders als die Silhouetten, die Boudicca erschaffen hatte. Diese Nebelgestalten wirkten lebendig und dann wieder nicht. Waren es vielleicht doch Geister?

„Das sind die Schatten der Vergangenheit“, erklärte Amir und sah zu dem kleinen Mädchen, das sich freudig in die Arme ihrer Mutter warf, während der Welpe sie verspielt anbellte. Ihr Lachen hallte über den ganzen Platz. „Es ist die Erinnerung an das, was hier vor elf Jahren geschehen ist, etwas, das fest mit diesem Ort verbunden ist und uns eine Lehre für die Zukunft sein muss.“

Also war das hier eine magische Illusion, nichts als ein Trugbild. Dann auch wieder nicht, weil es einmal passiert war. Konnte das stimmen?

Ich schaute zu einem jungen Pärchen, das händchenhaltend auf den Platz schlenderte.

Die Konturen der Wesen verfeinerten sich, wurden deutlicher. Das waren keine Menschen, das waren … ich würde sie als Menschenkatzen oder Katzenmenschen bezeichnen. Eine Mischung aus Mensch und Wildkatze. Die Mutter und das Mädchen waren Panther. Dort hinten standen drei Männer - zwei Tiger und ein Leopard. Das Pärchen bestand aus zwei Schneeleoparden und dort hinten eilte ein alter Mann hastig über das Mosaik – ein Luchs. Die Frau, die etwas weiter aus dem Fenster schaute und den Jungen auf der Straße ermahnte, rechtzeitig zum Abendessen zurück zu sein, war ein Puma.

Ein Windstoß fegte über diesen Platz und brachte die Vergangenheit mit einer Schärfe in die Gegenwart, dass mir der Atem stockte. Es war, als würde des Sand, der die Häuser bedeckte, sich einfach in Luft auflösen und die Gebäude reparieren, bis sie wieder im alten Glanz erstrahlten.

Alles war noch wie vorher, doch die Illusion, die sich darüber legte, ließ die Realität verblassen.

Aus einem der Häuser kam Musik. Mehrere Frauenstimmen sangen im Kanon dazu. Es war eine wunderschöne Melodie.

Ich ließ meinen Blick schweifen, sah zu, wie der alte Mann in einem der Häuser verschwand und der Junge schnell über den Platz rannte, bevor seine Mutter ihn noch einmal ans Fenster rufen konnte.

Alles wirkte so friedlich und idyllisch.

Reine Harmonie.

Dann ertönte ein Schrei. Schrill, panisch schallte er über den Platz. Ich wirbelte herum, doch bevor ich herausbekommen konnte, woher er stammte, brach er einfach ab. Abrupt und endgültig. Trotz der heißen Wüstensonnen bekam ich eine Gänsehaut. Was folgte, war eine unheimliche Stille, in der nur das Heulen des Windes zu vernehmen war.

Alle auf diesem Platz hatten sich in die Richtung gewandt, aus der der Schrei gekommen war. Keine Gespräche mehr, kein Gesang, kein Lachen. Selbst der Welpe war verstummt.

Dann, sehr leise, wurde die Ruhe von einem seltsamen Geräusch gestört. Es war ein Schaben oder Schleifen. Und es wurde langsam lauter. Schritt für Schritt. Egal was es war, es bewegte sich auf den Mosaikplatz zu. Unaufhaltsam.

Ich trat ein Stück zur Seite, um einen besseren Blick auf den Weg zwischen den beiden Häusern zu erhaschen, und wünschte mir sofort, ich hätte es nicht getan. Mir stockte der Atem.

Nein. Oh Gott, nein.

Gemächlich, als wäre es nichts weiter als ein Spaziergang, schritt ein Dämon auf den Platz der Blüte zu. Seine Haut war grün, genau wie seine Augen. Spitze Ohren, kein Haar auf dem Kopf. Das Gesicht war kantig, der Körper muskulös. In seinem Blick wohnte der Hass.

Ein Smaragd.

Doch nicht er selbst war es, der mich dazu brachte, die Hand vor den Mund zu schlagen, sondern das, was er hinter sich herzerrte, als wöge es nicht mehr als eine Feder. Um seine Hand waren die langen Haare einer Frau gewickelt. Ihre Augen starrten blicklos in den Himmel. Der Kopf war auf eine seltsame Weise verdreht, während ihr Leib über den Boden schleifte und dabei eine blutrote Spur auf vergangenen Pfaden zurückließ.

Alle starrten ihn entsetzt an.

Der Smaragd zog die tote Frau an ihren Haaren bis an den Rand des Mosaiks, dann ließ er sie einfach fallen, als wäre sie nichts weiter als ein Stück Dreck, das es nicht wert war, sich weiter darum zu kümmern.

Irgendwer gab ein Wimmern von sich. Eine Tür knallte, als wollte sich jemand verstecken. Der Welpe verzog sich winselnd unter die Bank. Selbst er spürte die plötzliche Anspannung, die in der Luft lag.

Während der Dämon den Blick stumm über die Leute gleiten ließ, wichen diese vor ihm zurück.

Die junge Schneeleopardin begann wie wild den Kopf zu schütteln, während die Mutter auf der Bank ihre Tochter an sich riss und aufsprang. Sie wollte sie wegbringen, die Sicherheit aufsuchen, um ihr Kind zu schützen, doch nach nur wenigen Schritten blieb sie plötzlich luftschnappend stehen. Es war kein entsetztes Nach-Luft-Schnappen, weil sie etwas Schreckliches gesehen hatte. Nein, sie konnte nicht mehr atmen.

Im gleichen Moment gab einer der Tigermänner ein überraschtes Keuchen von sich. Auf dem Dach vor ihm stand ein weiterer Dämon. Gelbe Haut, gelbe Augen. Ein Zirkon. Auch in seinem Blick wohnte der Hass.

Er war auch nicht der einzige. Zwei weitere Zirkone tauchten neben ihm auf – darunter eine Frau, die ihren Blick gleichgültig über die Leute unter ihr gleiten ließ.

„Eure Mauern können euer Geheimnis nicht verbergen“, sagte der Smaragd leise und sah dabei zu, wie der Mutter langsam die Luft ausging. Ihre Tochter rutschte ihr aus den Armen, während sie sich an die Kehle griff und nach Atem rang. Doch es kam nichts. Sie erstickte.

„Wir werden ihn finden, aber ihr werdet es nicht mehr erleben.“

Panische Blicke wurden gewechselt.

Plötzlich begann das kleine Mädchen, nach ihrer Mutter zu schreien. Sie war zusammengesackt und lag nun leblos auf dem Boden. Die Tränen ihrer Tochter tropften ihr ins Gesicht.

Es war ein finsteres Omen, das den Start für ein grausames Massaker vorgab.

Der Smaragd stampfte mit dem Bein auf und ließ die Erde beben. Damit brach das Chaos aus.

Die Tempelbewohner schrien und liefen wild durcheinander. Einige versuchten sich in die Häuser zu retten, andere nahmen einfach panisch Reißaus. Doch sie kamen nicht weit, denn nun mischten sich auch die Zirkone ein.

Viele der Bewohner sanken einfach luftschnappend in sich zusammen. Die Dämonin sprang vom Dach. Es wirkte seltsam, so als würde der Wind sie tragen, damit ihr die Höhe nichts anhaben konnte. Die Leute, die ihr dabei im Weg standen, wischte sie mit einer einfachen Handbewegung von sich und schleuderte sie zu Boden.  

Wind blies durch Straßen und Gassen.

Ich sah die andere Mutter auf die Straße rennen und nach ihrem Sohn rufen. Das junge Pärchen versuchte davonzulaufen, aber die Dämonin erzeugte mit einer kleinen Bewegung der Hand solchen Wind, dass sie einfach gegen die nächste Wand geschleudert wurden, wo der Mann bewusstlos zusammenbrach und sich auch nicht mehr regte, als die Frau ihn wild schüttelte.

Die beiden Zirkone auf den Dächern beschworen orkanartige Windböen herauf, die den Sand der Wüste herantrugen und drohten, den Tempel zu begraben. Die Sicht wurde schlechter. Der Welpe wurde einfach weggeweht.

Doch der Grausamste von allen war wohl der Smaragd. Wen er in die Finger bekam, dem brach er einfach das Genick.

Ich hörte es knacken, sah die leblosen Körper in sich zusammensacken, wo sie mit der Endgültigkeit der Ewigkeit aufschlugen. Dann näherte sich der Smaragd dem kleinen Mädchen, das weinend über dem toten Körper seiner Mutter kauerte.

Das hielt ich nicht länger aus. Dieses erbarmungslose Grauen - ich wollte es nicht mehr sehen, ich konnte es nicht mehr sehen. „Aufhören“, flüsterte ich und wandte den Blick ab. Aber in der anderen Richtung schaute es nicht viel besser aus.

Die Dämonen waren in die Häuser eingedrungen. Schreie und Schmerzenslaute drangen auf die Straßen und wurden von dem starken Wind einfach davongetragen. Ein paar Tempelbewohner rannten ins Freie. Zwei Frauen, eine davon trug ein Baby im Arm. Ein alter Mann mit einem Jungen und einem Mädchen an der Hand. Ein junger Mann zog einen Jugendlichen hinter sich aus einem Haus. Aber … ich blinzelte. Der Jugendliche hatte rote Haut – wie ein Rubin. Das … war ein Rubin. Oder?

Die beiden waren nur einen kurzen Moment in meinem Sichtfeld, dann verschwanden sie in eine Seitenstraße, weg vom Geschehen, weg von der Grausamkeit dieses Ortes.

„Gebt ihn uns!“, verlangte die Dämonin und warf den Leichnam eines Mannes von sich. „Wo habt ihr ihn versteckt?!“

Oh Gott, nein. Tränen rannen mir über die Wangen, als ich zusehen musste, wie sich die Dämonin einer verängstigten Frau näherte, die ein kleines Kind schützend an sich drückte.

Ich wollte sie aufhalten, wollte das Unvermeidliche verhindern, aber weder meine Waffen noch meine Magie konnten hier etwas ausrichten, denn alles, was ich hier sah, war schon vor langer Zeit geschehen. Schatten der Vergangenheit, die so grausam waren, dass sie auf ewig an diesen Ort gebunden waren. Damals war ich nicht hier gewesen, deswegen konnte ich nichts anderes tun als zuzusehen, wie die Dämonen das Blut der Tempelbewohner vergossen und diesen Ort nach und nach unter Bergen von Sand begruben. Sie metzelten die Leute einfach nieder und zerstörten diesen kleinen, idyllischen Ort. Ich sah Kinder und Babys sterben, sah, wie Frauen und Männer einfach abgeschlachtet wurden.

Ich sah das leibhaftige Grauen und war völlig machtlos.

„Dies war der letzte Tag des Tempels Sandbrach“, sagte Amir irgendwann leise. Sein Blick war auf die Dämonin gerichtet, die ein Baby wegwarf, als wäre es nichts weiter als eine gliederlose Puppe.

Ich kniff die Augen zusammen, denn ich wollte nicht mehr sehen, was hier noch geschah.

„Es gab so gut wie keine Überlebenden.“

Ich schlang meine Arme um mich und versuchte meinen Tränen Einhalt zu gebieten. Es half nicht, dass ich die Augen zukniff, denn die Geräusche drangen immer noch an meine Ohren.

„Fast zweihundert Seelen lebten an diesem Ort und vier Dämonen haben ausgereicht, um ihn innerhalb kürzester Zeit in eine Oase des Todes zu verwandeln.“

Das Weinen eines Babys drang an meine Ohren - und auch das plötzliche Knacken, mit dem das Weinen endete. „Aufhören“, flüsterte ich. „Bitte.“

„Das ist der Grund, warum ich dich hergebracht habe“, sagte Amir, ohne auf mein Flehen einzugehen.

„Bitte“, beschwor ich ihn erneut. Diese Laute und Schreie, ich ertrug sie nicht mehr.

„Weißt du, warum ich dir das zeige?“, fragte er. „Verstehst du es?“

Ich wollte es nicht verstehen. Ich wollte es nicht sehen. Das einzige, was ich wollte, war, dass es endlich endete. Und dieser Wunsch nahm in meinem Inneren solche Form an, dass meine Magie sich selbständig machte und einfach aus mir herausbrach.

Ich schrie auf, als der Schmerz mich packte und ich einfach in die Knie ging. Die Welle der Magie überflutete diesen Ort mit einer Kraft, die selbst den Wind verstummen ließ.

Kiran fluchte laut, die Geräusche um mich verstummten, die Magie verflog und das einzige, was zurückblieb, waren Stille und die heißen Tränen auf meinen Wangen. Trotzdem konnte ich die Schreie noch immer hören. Sie waren in meinem Kopf, erfüllten meine Gedanken und ließen sich nicht vertreiben. Sie hatten ihre Klauen in mich geschlagen und zerrten an meiner Seele.

Als Amir sich neben mich hockte und mir eine Hand auf die Schulter legte, schlang ich meine Arme noch fester um mich.

„Egal, wie nett dir die Gesichter erscheinen mögen oder wie wunderschön ihre Worte sind, so darfst du niemals vergessen, dass du die Verdorbenheit in ihrem Inneren nicht immer auf den ersten Blick erkennen kannst.“

Ich schüttelte den Kopf, wollte das nicht hören, aber heute war Amir erbarmungslos.

„Damit, dass du sie gefüttert hast, hast du dem Bösen dieser Welt nicht nur geholfen, du hast sie auch in ihren Gräueltaten unterstützt. Du hast dabei geholfen, so etwas anzurichten.“

Nein, bitte, nein.

„Was du gerade gesehen hast, ist nicht das erste oder einzige Mal in der Geschichte der Mortatia geschehen. Und es wird auch nicht das letzte Mal gewesen sein, denn sie sind Dämonen und werden immer weitermachen. Deswegen müssen wir sie aufhalten, deswegen tun wir das, was wir tun. Verstehst du das?“

Die Dämonen hatten diesen Ort vernichtet. Nicht mal vor Babys hatten sie Halt gemacht. Dämonen wie Askea. Oh Gott, ich war so dumm gewesen. Aus Mitleid war ich nett zu Monstern gewesen. Wären sie nicht an diese Pfähle gebunden, wäre es mir wahrscheinlich genauso ergangen wie den Tempelbewohnern.

Ich war so oft bei ihnen gewesen. Ich hatte sie … gemocht.

„Der einzige Weg, dafür zu sorgen, dass so etwas nicht mehr geschieht, ist, sie alle zu vernichten und die Welt von ihnen zu reinigen.“

Als mir das ganze Ausmaß meiner Tat klar wurde, schlug ich die Hände vor den Mund und weinte bittere Tränen. Mein Schluchzen drang über den Platz des Grauens, doch es war niemand da, der mir Worte des Trosts gab. Ich war mir nicht einmal sicher, ob es für diese Situation überhaupt Worte gab, die den Schmerz des Vergangenen lindern konnten.

Oder wenigstens den in meinem Herzen.

„Jedem von uns unterläuft mal ein Fehler“, sagte Amir leise und drückte meine Schulter. „Jetzt weißt du, was deiner war. Jetzt verstehst du, was wir tun und warum wir es tun. Darum gibt es jetzt nur noch eines zu sagen: tu es nie wieder.“

Nein, nie wieder. Ich würde keinem Monster mehr die Hand reichen. Mein Mitgefühl durfte nur noch an die gehen, die es auch verdient hatten. Die Dämonen gehörten nicht dazu. Nicht mal ihre Kinder, denn auch aus ihnen würden irgendwann Monster werden. Sogar aus Fax.

Oder?

 

°°°

 

Wie betäubt saß ich auf Primos Rücken und starrte mit leerem Blick vor mich hin.

Guardian trappte zu meiner Linken durch den Sand und zirpte mich immer wieder an. Ich war nicht fähig zu reagieren. Ich konnte überhaupt nichts anderes tun, als mich von dem Mount zurück ins Lager tragen zu lassen.

Die Bilder der Vergangenheit hatten sich auf meine Netzhaut gebrannt. Egal wie oft ich blinzelte, ich entkam ihnen einfach nicht.

Egal wie nett dir die Gesichter erscheinen mögen oder wie wunderschön ihre Worte sind, so darfst du niemals vergessen, dass du die Verdorbenheit in ihrem Inneren nicht immer auf den ersten Blick erkennen kannst.

Askea hatte kein nettes Gesicht. Askeas Worte waren nie wunderschön gewesen. Und doch war ich fast jeden Abend zu ihm gegangen, denn da war immer noch ein kleiner Junge, der diesen Mann liebte.

Das hatte er ausgenutzt. Askea hatte mich ausgenutzt.

Es gibt nur einen endgültigen Weg, Fax von hier wegzubringen. Lass mich frei und wir verschwinden noch heute Nacht.

War ich wirklich so dumm und naiv? War das wirklich alles nur Falschheit? Lüge und Wahrheit. Reinheit und Grausamkeit. Ich konnte nicht mehr klar sehen.

Es war nicht zu leugnen. Der Tempel existierte nicht mehr und schuld daran waren die Dämonen. Doch woher wusste Amir davon? Dieser Vorfall lag elf Jahre zurück. Und warum hatte er mir diese Lehre auf solch abscheuliche Weise beibringen müssen? Das war nicht weniger grausam gewesen als das, was die Dämonen getan hatten. Er benutzte ihre Taten für seine Zwecke.

Ich sollte bei ihm bleiben.

Ich sollte ihm helfen.

Ich sollte Fax verraten.

Meine Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Was war Wahrheit und was Lüge? Erlag ich der Falschheit? Glaubte ich die Unwahrheit? Wo endete die Realität und begann die Fiktion? Und warum blieben meine Zweifel, nachdem ich das gesehen hatte?

Ich verstand es nicht. Ich verstand mich selbst nicht mehr. Die Welt war nicht schwarz und weiß. Das konnte sie nicht sein, denn ich hatte Fax kennengelernt.

Ohne ihn könnte ich mich darauf einlassen. Ohne ihn wäre es so einfach. Ohne ihn könnte ich glauben, dass auch die Kinder der Dämonen Monster waren.

Darf ich bei dir bleiben, Tiara?

„Es tut mir leid, dass ich dir das antun musste.“ Amir zügelte Ferox leicht, bis er auf meiner Höhe ritt. „Aber es wurde Zeit, dass du es verstehst.“

Ich sollte es verstehen? Ich verstand gar nichts mehr. Vor allen Dingen verstand ich meine Zweifel nicht. Nach dem, was ich gesehen hatte, müsste mein Weg doch nun klar vor mir liegen. Doch der schien plötzlich von Nebel verhüllt. Ich fühlte mich, als würde ich ziellos umherirren, ohne jemals mein Ziel zu erreichen oder wenigstens den richtigen Weg einzuschlagen.

„Tiara.“ Er schaute mich an, wartete darauf, dass ich ihn ansah, doch ich konnte nicht. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. Nicht nach dem, was ich gerade erleben musste. 

Damit, dass du sie gefüttert hast, hast du dem Bösen dieser Welt nicht nur geholfen, du hast sie auch in ihren Gräueltaten unterstützt.

„Tia.“

Als ich auch dieses Mal nicht reagierte, griff Amir nach Primos Zügel und zwang den Glatisant, stehenzubleiben. Doch auch das brachte mich nicht dazu, ihm das Gesicht zuzuwenden. Ich konnte es einfach nicht. Ich konnte ihn nicht ansehen.

„Ich habe dir das nicht gezeigt, um dich zu verletzen. Du musstest nur endlich …“

„Verstehen“, flüsterte ich. Er wollte, dass ich seine Wahrheit verstand, aber war das auch die Richtige? Entsprach sein Glaube, seine Realität, dem wahren Weg? Waren die Dämonen Lügner?

Amir hat mit ihm einen Ausflug gemacht, genau wie er es mit dir geplant hat. Und nein, ich weiß nicht, was er ihm gezeigt hat, doch egal, was es war, es hat Elias die Augen geöffnet.

Waren meine Augen geöffnet oder wagte ich es einfach nicht, einen Blick auf die Wirklichkeit zu werfen?

„Ganz genau“, sagte Amir, ohne etwas von meinen Gedanken zu ahnen. „Du bist eine Jägerin, eine von uns und wir brauchen dich. Jetzt mehr als jemals zuvor.“

„Warum?“, fragte ich leise. Vorher war es doch auch ohne mich gegangen.

„Es gibt nicht mehr viele Dämonen.“

Das verstand ich nicht. Glaubte er etwa, ich wäre in der Lage, die Verbliebenen aufzuspüren? Wie sollte ich das machen? Ich war nicht wie er. Nicht mal jetzt, nachdem ich das gesehen hatte, konnte ich so erbarmungslos handeln.

Doch die Bilder in meinem Kopf quälten mich, verlangten, dass ich seinen Worten folgte und den Zwiespalt ein für alle Mal hinter mir ließ. Die Dämonen waren Monster. Ich hatte gesehen, wozu sie fähig waren, ich hatte es am eigenen Leib gespürt, als Davesh mich in die Tiefe gezerrt hatte. Wäre Ryu nicht gewesen, hätte er mich getötet. Ohne den Engel säße ich nun nicht mehr hier.

Trotzdem hatte ich ihn an den Pfahl gebunden.

Nein, es war nicht nur Fax gewesen, der mich immer wieder zu ihm getrieben hatte, es war mein Gewissen. Ich hatte Monster gefüttert und dabei die Wahrheit aus den Augen verloren.

Dämonen waren böse.

„Tiara …“

Ich schüttelte den Kopf, wollte nicht mehr hören, was er noch zu sagen hatte. Ich konnte ihm nicht mehr glauben, nicht nachdem er mich erst vor ein paar Tagen so vor den Kopf gestoßen hatte. Es war eine Lüge gewesen. Alles war eine riesige Lüge, die die Wahrheit verdrehte, bis ich nicht mehr klar denken konnte.

Oder war es die Wahrheit, die die Lüge verschluckte und das Bild gleichzeitig so unscharf werden ließ? 

Darf ich bei dir bleiben, Tiara?

Ein Kind, ein schutzloses Kind.

Ich wusste, was meine Aufgabe war, doch ich konnte den kleinen Jungen nicht verraten. Aber er war ein Dämon, auch er würde einmal die Kraft besitzen, einen Ort der Harmonie in eine Oase des Todes zu verwandeln.

„Bleib bei uns, Tiara, hilf uns“, sagte Amir leise. „Bleib bei mir.“

Meine Finger krampften sich um die Zügel. Das hatte er jetzt nicht gesagt. Er konnte doch nicht wirklich versuchen, mich ein weiteres Mal auf die Art um den Finger zu wickeln, und auch noch glauben, dass ich ihm dann folgen würde.

Langsam hob ich den Kopf, schaute ihm in die Augen, schaute in dieses so vertraute Gesicht und fühlte … gar nichts. Ich war einfach nur taub.

Natürlich versuchte er es wieder. Er wollte etwas, das nur ich alleine besaß, er wollte meine Macht, um seine Ziele zu erreichen. Aber ich wusste nicht, ob ich gewillt war, sie ihm zu geben – nicht noch einmal.

Alles war so wirr.

Die Sonnen brannten heiß auf uns nieder, während wir uns einfach nur anschauten. Sogar durch den Ghutra konnte ich sie spüren.

Wenn ich Amir nicht vertrauen konnte, wem denn dann? Er hatte mich aufgenommen, sich um mich gekümmert und mich ausgebildet. Er hatte mir ein Zuhause gegeben, Freunde, ein Leben. Alles, was ich besaß, hatte ich ihm zu verdanken.

Und er hatte gelogen, um seine Ziele zu erreichen.

Trotzdem sehnte ich mich danach, einfach in die Arme genommen zu werden und das Ganze zu vergessen. Ich wollte noch einmal von vorne anfangen, wollte alles richtig machen und der Versuchung durch die Monster widerstehen.

Ich wollte nie wieder dem Grauen begegnen, das ich gerade hinter mir gelassen hatte. Diese Bilder, die sich in meine Seele genistet hatten und mein Herz in den Mantel einer eiskalten Umklammerung hüllten, sollten einfach nur verschwinden. Genau wie der Nebel, der mir die Sicht auf die Wahrheit nahm.

Dämonen waren Monster.

Jäger waren Monster.

Ich war ein Monster.

Ich hatte tatenlos danebengestanden und zugesehen, die ganze Zeit. Ich hatte etwas unternommen, um das Leid zu lindern. Ich hatte alles falsch gemacht.

Was war Wahrheit und was Lüge?

„Lass uns nach Hause reiten“, sagte ich leise. Dorthin, wohin mein Herz mich führte.

Darf ich bei dir bleiben, Tiara?

 

°°°

 

Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, sah ich sie wieder, die Grausamkeiten der Dämonen. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich in den Rachen eines Monsters geraten und würde nicht mehr herauskommen. Die Bilder quälten mich, zerrten an meinem Gewissen. Ich hatte diese Monster gefüttert, ich hatte versucht sie zu schützen, weil ich einfach nicht wahrhaben konnte, dass es Wesen gab, in denen das Böse wohnte. Ich hatte in diese Augen geblickt und ihnen vertraut.

Askea war ein Monster.

Unruhig drehte ich mich auf meiner Pritsche von einer Seite auf die andere, doch der Schlaf wollte einfach nicht kommen. Meine Gedanken drehten sich wie ein Karussell. Schneller und schneller. Ich kam einfach nicht zur Ruhe. Ihre Schreie und Rufe hallten in meinen Ohren nach. Und diese Bilder. Selbst wenn ich mit offenen Augen dalag, konnte ich sie nicht verdrängen. Aber das Schlimmste war das Antlitz eines bestimmten Rubins, das immer wieder in meinen Gedanken auftauchte.

Warum nur schmerzte es so? Es war mir immer und immer wieder gesagt worden, was er war. Seit nun fast drei Monaten lebte ich bei den Jägern und sie hatten niemals ein Geheimnis daraus gemacht. Nicht über das, was sie taten, und auch nicht über das, warum sie es taten.

Dämonen waren böse.

Seufzend warf ich meine Decke von mir und schwang die Beine aus dem Bett. Doch ich blieb auf der Kante sitzen, nicht wissend, was ich eigentlich tun wollte.

Alles wäre so viel einfacher, wenn Askea mir damals nicht das Leben gerettet hätte. Oder wenn Fax kein Kind wäre. Ich konnte meine Sympathie für sie einfach nicht leugnen. Doch wenn ich weitermachen wollte, musste ich sie loswerden. Ich musste sehen, was sie waren. Vielleicht war das die Lösung. Vielleicht würden die Gefühle dann aufhören, verrückt zu spielen.

Oh Gott, das war Wahnsinn! Trotzdem erhob ich mich von meiner Pritschte und schlüpfte aus dem Zelt. Ich war so auf mein Ziel fixiert, dass ich nicht einmal auf Guardian wartete, der empört zirpte, als die Plane vor seiner Nase zurückschwang.

Im Lager war es still. Der Himmel war bewölkt. Selbst der Mond schaffte es nicht, diese sternenlose Nacht zu erhellen.

Als ich mir zwischen den Zelten meinen Weg bahnte, war ich weder leise noch vorsichtig. Vielleicht wollte ich, dass mich jemand aufhielt. Vielleicht wollte ich, dass sie mich erwischten und mir sagten, wie dumm mein Vorhaben war. Aber es kam niemand. Völlig unbehelligt schaffte ich es zum Pfahlplatz. Der einzige Schatten, der mir folgte, war Guardian.

Dann stand ich da und wusste nicht so recht, was ich tun sollte.

Die hysterische Dämonin war nicht da. Natürlich nicht. Die Jäger hatten sie nach dem Sturm weggebracht. Nur ein schiefer Pfahl zollte von dem Platz, an dem sie gesessen hatte. Aber diese Wut und der Hass, der ihr aus jeder Pore getrieft war, schienen diesem Ort noch immer anzuhaften. Genau wie von hundert anderen vor ihr, die hier gesessen hatten, um auf das Unvermeidliche zu warten.

Wieder stiegen die Bilder aus Sandbruch in mir auf. Die tote Frau, die an ihren Haaren herumgezerrt wurde. Die Mutter, der die Luft ausgegangen war. Der Mann, der gegen die Hauswand geschleudert wurde und nicht mehr aufstand. Das Baby, das einfach wie eine bedeutungslose Puppe weggeworfen wurde. Diese Dämonin, sie wäre sicher auch dazu in der Lage gewesen, solch schreckliche Dinge zu tun. Aber was war mit den Männern?

Davesh hatte mich bereits entdeckt und blickte mir still entgegen. Seine Verfassung verschlechterte sich immer weiter. Auch Askeas Augen waren auf mich gerichtet. Intensiv musterten sie mich und blieben schließlich an meinen Händen hängen.

„Kein Essen“, sagte er leise und neigte den Kopf zur Seite. „Warum?“

Warum? Warum?! „Ich füttere keine Monster!“

Der Saphir schloss resigniert die Augen. „Kein Wasser“, flüsterte er. Die Schwäche in seiner Stimme versetzte mir einen Stich.

Nein! Das ist nicht richtig, ich darf kein Mitgefühl mit ihnen haben, das haben sie nicht verdient!

„Monster.“ Askea schnaubte und ließ den Hinterkopf gegen den Pfahl sinken. „Sie haben dir also eine Gehirnwäsche verpasst.“

„Sie haben mir die Wahrheit gezeigt!“, fauchte ich ihn an.

„Die Wahrheit also. Und? Was willst du jetzt tun? Warum bist du gekommen, wo wir doch nur Monster sind? Willst du dich an unserem Leid laben?“

„Ich bin nicht wie ihr!“ Niemals würde ich mich an dem Leid anderer weiden.

„Also bist du hergekommen, um uns zu sagen, dass du kein Dämon bist. Da kann man wohl nur gratulieren.“

„Verspotte mich nicht!“

„Das brauche ich gar nicht, denn das tust du schon ganz alleine“, warf er mir an den Kopf. „Du lässt dir Dinge einreden, glaubst verdrehte Wahrheiten und schenkst dein Vertrauen selbst Unwürdigen. Darum bist du doch hier, oder? Du willst sehen, dass wir Monster sind. Du musst dich davon überzeugen, weil du genau weißt, dass das nicht stimmt. Du …“

„Halt den Mund!“

„Sonst was?“

Ich zögerte einen Moment. Wenn ich das jetzt tat, würde es kein Zurück mehr geben. Aber genau das war es doch, was ich wollte. Askea hatte Recht, ich musste mich davon überzeugen, sonst würde ich wohl keinen Frieden mehr finden.

Wie ich es in der letzten Zeit so oft getan hatte, trat ich durch den Schild, direkt vor Askea. Ich konnte sehen, wie er sich anspannte und mich keinen Moment aus den Augen ließ. Und er war nicht der einzige, der mich so genau beobachtete. Auch Daveshs Blick richtete sich auf mich. Argwohn und Vorsicht lagen darin. Ja, sollte er nur wachsam bleiben, denn ich war nicht mehr das nette Mädchen – nicht nach dem, was ich gesehen hatte.

„Du willst wissen, was ich tun werde?“, fragte ich so leise, dass nur er es verstehen konnte. Dabei beugte ich mich zu ihm vor, bis unsere Nasenspitzen nur noch einen Hauch voneinander entfernt waren. Ich wusste, es war gefährlich, aber er musste sehen, dass ich es ernst meinte, damit ich endlich die Wahrheit in ihm sehen konnte. „Ich werde zu Amir gegen. Es wird ihn sicher interessieren, dass da ein kleiner Dämon neben dem Lager wohnt.“

Darf ich bei dir bleiben, Tiara?

Askea kniff die Augen leicht zusammen. „Du lügst.“

„Glaubst du? Dann sei aber nicht überrascht, wenn dein Sohn morgen neben dir am Pfahl hängt.“ Ich hockte mich vor ihn und versuchte zu ignorieren, wie mein Herz sich bei meinen Worten schmerzlich zusammenzog. Ja, Fax war nur ein Kind, aber er war auch ein Dämon. Trotzdem würde ich ihn Amir nicht ausliefern. Das konnte ich einfach nicht. Aber das musste Askea ja nicht wissen. Keiner durfte wissen, was ich vorhatte, denn mir war klargeworden, dass es eigentlich nur einen Weg gab, dass alles für mich zu beenden.

Ich würde gehen. Ich würde Fax nehmen und mit ihm verschwinden. Dann konnte ich all das hinter mir lassen. Die Dämonen, die Jäger, die Zweifel. Ich würde noch einmal von vorne anfangen und einem Kind damit das Leben retten.

Doch vorher musste ich es mit eigenen Augen sehen, musste das Monster hinter dieser Fassade erblicken. „Kapier es, Askea, ich werde mich nicht länger um ihn kümmern. Ich werde ihn nicht mehr beschützen oder ihm Essen bringen. Wenn die Jäger ihn haben, werde ich mich einfach umdrehen und gehen. Weder du noch Fax werden jemals wieder etwas von mir zu erwarten haben.“

Askeas Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Langsam schien er die Lüge zu glauben. Doch dann hob sein Mundwinkel sich plötzlich zu einem überheblichen Lächeln. „Tu, was du für richtig hältst, aber denk an meine Worte. Am Ende wirst du es sein, die leidet. Selbst wenn Fax und ich durch die Hand anderer Jäger sterben, wirst du mit dem Gedanken leben müssen, einen unschuldigen Jungen verraten zu haben, nur weil du dir deiner Selbst so unsicher bist.“

Diese Worte trafen mich mitten ins Herz und ich schaffte es kaum, meine Fassung zu behalten. „Ich bin nicht unsicher“, presste ich zwischen zusammengedrückten Lippen heraus.

„Du bist so unsicher und naiv, dass du dir von jedem etwas einreden lässt. Du glaubst jede Lüge und verleugnest die Wahrheit. Du redest dir selbst etwas ein, nur weil dein Leben dann ein wenig bequemer ist. Mach nur weiter so, lass andere für dich denken, folge den Ansichten eines Verrückten. Es ist immer einfach, der Falschheit anderer zu trauen, weil sie meist so viel angenehmer ist. Nur wer mutig ist, stellt sich der Wahrheit.“ Er schnaubte und schüttelte verächtlich den Kopf. „Aber du bist nicht mutig. Du bist wie alle anderen hier. Vielleicht bist du ja doch eine von ihnen.“

Warum nur schmerzten seine Worte mich so? Warum wollte ich ihn schlagen, nur damit er endlich den Mund hielt? Warum nur schaffte ich es nicht, mich zu verteidigen? „Und du bist mutig?“

„Ich bin jedenfalls ich, und sehe der Wahrheit auch in die Augen, wenn sie unangenehm ist.“

Die Wahrheit.

Damit, dass du sie gefüttert hast, hast du dem Bösen dieser Welt nicht nur geholfen, du hast sie auch in ihren Gräueltaten unterstützt. Du hast dabei geholfen, so etwas anzurichten.

Dämonen waren Monster. Askea war ein Monster. Und Fax würde einmal eines werden, wenn ich es nicht verhindern konnte. „Du willst also die Wahrheit?“ Ich beugte mich ein wenig weiter vor, bis meine Lippen beinahe sein Ohr berührten. „Die Wahrheit ist, du wirst sterben und dann bin ich endlich von dir erlöst.“

„Aber nicht heute.“ Er bewegte sich so schnell, dass ich erst realisierte, was er tat, als es zu spät war. Er warf seinen Kopf nach vorne und biss mir in die Schulter. Seine Zähne drangen durch den Stoff meiner Tunika in mein Fleisch. Blut drang warm und flüssig aus der Wunde.

Ich schrie auf, hob die Arme, um mich von ihm wegzustoßen, doch in dem Moment verließ mich meine Kraft und ich sackte haltlos gegen ihn.

Er biss etwas fester zu, als wollte er verhindern, dass ich wegrutschen konnte.

Dann kam der Schmerz.

Irgendwo hörte ich Guardian aufgeregt zirpen. Doch es war kaum mehr als ein entferntes Rauschen an meinen Ohren, das vom Rasen meines Pulses einfach übertönt wurde.

Hitze drang aus Askeas Mund und schien meine Haut zu verbrennen. Flüssige Lava floss in meinen Körper, breitete sich in jeder Zelle aus, durchdrang meine Organe und brachte meine Nervenenden vor Schmerz zum Schreien. Innerhalb von Sekunden schien mein Körper in Flammen aufzugehen. Ich hatte das Gefühl, lichterloh zu brennen, doch ich konnte nicht schreien, denn meine Stimmenbänder waren wie gelähmt. Mein ganzer Körper war gelähmt. Ich schaffte es nicht mal, den Finger zu bewegen oder mit der Wimper zu zucken. Nicht mal Tränen waren mir vergönnt, um meinem Schmerz Ausdruck zu verleihen.

Doch in meinem Kopf schrie ich. Ich schrie so laut, dass es alles andere übertönte. Ich spürte meinen rasenden Herzschlag nicht, hörte meinen wilden Atem nicht und auch mein Körper schien sich in dieser Hitze einfach aufzulösen.

Nur irgendwo weit im Hintergrund des Schmerzes fragte ich mich, wie es möglich war, dass er sein Feuer einsetzen konnte - schließlich war er doch gefesselt. Doch auch dieser Gedanke verschwand schnell im Nebel der Verzweiflung.

Die Hitze pulsierte wie ein eigenständiges Wesen durch meinen Leib und schien nicht nur meinen Körper, sondern auch meine Seele anzugreifen.

Doch da gab es einen kleinen Teil in mir, der sich tapfer wehrte, auch wenn meine Glieder den Kampf aufgegeben hatten, bevor er hatte beginnen können. Meine Magie. Die Hitze des Feuers kam nicht zu meiner Magie durch. Auch wenn sie nur ein entferntes Echo in diesem Schmerz war, so konnte ich sie fühlen.

Sie war da und sie war bereit, mir zu helfen. Ich musste es nur wollen und sie würde meinem Willen folgen. Das zumindest hoffte ich.

Plötzlich tauchten vor meinem Auge schwarze Punkte auf. Ich spürte, wie sich die kläglichen Reste meiner Gedanken langsam auflösten.

Nein!, schrie ich. Nein! Hör auf, sofort!

Die Magie brach mit seiner solchen Macht aus mir heraus, dass sie Askeas Kopf nicht nur gegen den Pfahl schlug, sondern mich zwei Meter von ihm weg schleuderte. Ich hörte Guardians erschrockenen Aufschrei und das überraschte Keuchen von Davesh. Die Luft roch plötzlich nach Ozon, knisterte um mich herum und zischte.

„Was passiert hier?“, hörte ich den Saphir fragen. In seiner Stimme schwang Panik mit.

Ich versuchte mich herumzurollen, um mich wenigstens aufzusetzen. Mein Kopf war so schwer und an den Rändern meiner Gedanken griff die Dunkelheit nach mir.

Ich spürte die Übelkeit, spürte den dumpfen Schmerz in meiner Schulter und das klebrige Blut, das den Stoff meiner Tunika an meine Haut klebte.

Der Schwindel kam und ich wusste, wenn ich nicht aufstand und ging, würde ich vor den Augen der Dämonen zusammenbrechen. Ich würde ihnen meine Schwäche zeigen.

„Das Schild“, flüsterte Davesh.

Meine Sicht verschwamm, als ich mich auf meine zitternden Beine arbeitete und langsam, Schritt für Schritt, vom Pfahlplatz torkelte. Meine Hände tasteten sich durch die aufkommende Dunkelheit meines Geistes. Flecken? Auf meiner Haut? Hatte ich das nicht schon einmal gesehen?

Neben mir zirpte Guardian, doch wie alles andere, konnte ich ihn im Moment nicht richtig wahrnehmen.

Ich wusste nicht, wie weit ich kam. Ich wusste nicht, wohin ich lief. Ich spürte nur den pochenden Schmerz in meiner Schulter und die Dunkelheit, die immer näher rückte.

Meine Bewegungen wurden unbeholfener. Ich begann zu straucheln. Der Boden unter mir schien zu verschwinden. Und dann fiel ich.

 

°°°°°

Tag Einundachtzig

 

Das erste, was ich spürte, als sich der Nebel des Schlafs am Morgen verzog, war der puckernde Schmerz in meiner Schulter. Es war nicht wirklich unangenehm, nur ein Hinweis auf das, was geschehen war.

Ich blinzelte. Was genau war da eigentlich geschehen und … warum lag ich hinter dem Lazarett im Sand?

Kopfreibend setzte ich mich auf und bemerkte noch rechtzeitig, dass Guardian neben mir lag, bevor ich mich auf ihm abstützte. Oh Gott, was war nur passiert? Trotz einer Nacht voller Schlaf fühlte ich mich erschlagen, so als hätte ich mich und meine Magie völlig verausgabt.

Das zweite, was ich an diesem Morgen wahrnahm, waren die beunruhigten Stimmen ganz in meiner Nähe. Ich konnte keine klaren Worte verstehen, doch die Tonlagen waren anders als sonst. Ernst, angespannt, besorgt.

War etwas passiert?

Als ich den Kopf drehte, fuhr ein unangenehmer Schmerz durch meine Schulter. Ich wollte danach greifen, hielt aber inne, als ich den roten Fleck an meiner Tunika entdeckte. War das Blut? Ich runzelte die Stirn. Es sah jedenfalls so aus, nur … wo sollte das herkommen?

Sehr vorsichtig schob ich den Stoff von meiner Schulter. Ein kreisrunder Abdruck hatte sich in meine Haut gegraben. Da war keine Wunde oder sonst etwas, was das Blut rechtfertigen würde. Einfach nur ein rötlicher Fleck, der dunkler war als der Rest der Haut. Aber wo kam dann das Blut her? Und was war das überhaupt für ein Fleck?

Als ich ihn mit dem Finger berührte, fuhr ein schmerzhafter Stich durch meine Schulter und plötzlich war alles wieder da. Askea, der Biss, das Feuer in meinem Inneren. Was hatte er mit mir gemacht? Und wie hatte er das überhaupt tun können? Da war Magie im Spiel gewesen, ich hatte es genau gespürt. Aber die Seile sollten doch verhindern, dass die Dämonen Zugriff auf ihre Magie bekamen. Wie hatte er also tun können, was auch immer er da getan hatte?

Ich zog den Stoff meiner Tunika über die Wunde und schüttelte über meine eigenen Gedanken den Kopf. Es war völlig egal, was er getan hatte, denn nun hatte ich endlich den Beweis, dass Amir und die anderen Jäger die ganze Zeit Recht gehabt hatten. Solche Schmerzen … nur ein Dämon war in der Lage, jemanden auf so eine grausame Art zu foltern. Gefangen im eigenen Körper, ohne etwas gegen den Schmerz tun zu können, der einem die Seele zerriss.

Für die dumme Träne, die mir in diesem Moment ins Auge stieg, hätte ich mir am liebsten selbst eine Ohrfeige verpasst. Genau das war es doch gewesen, was ich wollte. Ich hatte ihn so lange reizen wollen, bis er mir seine wahre Natur offenbarte – und genau das hatte er auch getan.

Askea war durch und durch ein Dämon und ich war zu blind gewesen, das zu erkennen.

Wütend auf mich selbst wischte ich mir die Tränen von der Wange und …

„Neiiin!“

Bei dem herzzerreißenden Schrei, der plötzlich durchs Lager hallte, wirbelte ich herum.

Guardian sprang auf die Beine und legte die Ohren an. Seine Lefzen hoben sich leicht, doch er blieb still.

Dann kam ein weiterer Schrei, ein Wehklagen, das in Trauer und Verzweiflung geboren war. 

Das war doch Ryu. Oder? Ein ungutes Gefühl packte mich, als ich mich hastig auf die Beine rappelte und eilig um das Lazarett herum marschierte – immer den Geräuschen der lauter werdenden Stimmen nach. Getuschel, Wispern, Worte des Zorns. Ich musste nur um die Ecke schauen, um zu erfahren, woher das alles kam.

Vor dem Eingang des Zeltes hatte sich so gut wie das ganze Lager versammelt. Ein paar wirkten verstört, andere beunruhigt, aber hauptsächlich waren sie alle sehr wütend.

Dann waren da noch die Wehklagen von Ryu. Ich versuchte, meine aufsteigende Unruhe in die hintersten Winkel zu verdrängen, als ich mit Guardian an meiner Seite auf die anderen zuging.

Einer der Jäger bemerkte mich und zeigte tuschelnd mit dem Finger in meine Richtung. Ein paar Blicke folgten ihm, bis praktisch jeder der Jäger mich ansah.

Das ungute Gefühl wurde zu Beklemmung und mein Schritt verlangsamte sich unwillkürlich. Warum schauten mich alle so an? Das gefiel mir nicht, ganz und gar nicht. Aber ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen, als ich zu den anderen trat. „Was ist passiert?“

Die Elfe, die ich angesprochen hatte, bedachte mich nur mit einem seltsamen Blick, bevor sie einen Schritt zur Seite trat und die Aussicht auf etwas freigab, dass mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Ryu kniete auf dem Boden des Lazaretts. Seine Flügel hingen kraftlos an ihm herunter, während ihm Tränen übers Gesicht strömten. In seinen Armen hielt er die blutverschmierte Asha, deren leerer Blick zur Decke hinaufging.

Ihr Mund war leicht geöffnet, doch selbst, wenn ihre Augen geschlossen gewesen wären, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass sie einfach nur schlief. Da war zu viel Blut. Ihre ganze Kleidung war damit vollgesogen und auf dem Boden befand sich eine riesige Lache. Die Tunika hing zerfetzt an ihr herunter und gab so die vielen Wunden preis, die sich tief in ihren Rücken gegraben hatten. Sie sah aus, als hätte sich ein tollwütiges Tier über sie hergemacht, bis auch der letzte Lebensfunke aus ihrem Körper verschwunden war.

Meine Beine wollten nachgeben. Ich musste mich am Zelt festhalten, um nicht zu Boden zu gehen. Das konnte nicht sein. Das durfte einfach nicht wahr sein. „Nein“, flüsterte ich. „Asha.“

Dieses eine Wort reichte, damit meine Stimme brach. Asha, sie war … tot. Diese Erkenntnis schnürte mir die Kehle zu. Meine Augen brannten, während sich tief in mir eine zerreißende Verzweiflung breitmachte. Asha war meine Freundin. Sie war … oh Gott, sie war tot.

Ich schlug meine Hand vor den Mund, doch das konnte das Schluchzen nicht aufhalten.

Plötzlich wirbelte Ryus Kopf zu mir herum. Der Blick, mit dem er mich ansah … der pure Hass wohnte darin. „Das ist deine schuld!“, schrie er mir entgegen. „Du hast Asha auf dem Gewissen!“

Wenn es außer Ashas Tod noch etwas gab, das mir den Boden unter den Füßen so wegreißen konnte, dann waren es genau diese Worte.

Mein Kopf ruckte von einer Seite zur anderen, Tränen rannen mir aus den Augen und liefen über meine Wangen, doch ich verstand nicht, was Ryu mir damit sagen wollte. „Was?“ Wie konnte das meine Schuld sein? Wie konnte er überhaupt glauben, dass ich irgendwas damit zu tun hatte?

„Die Dämonen, du hast sie versorgt! Nur deswegen hatten sie die Kraft, das hier zu tun!“ Seine Stimme überschlug sich beinahe.

Aber ich verstand es immer noch nicht. „Die Dämonen?“

„Sie haben sich befreit! Sie haben Asha getötet und das ist deine schuld!“

Diese Worte schleuderte er mir mit der Wucht eines Vorschlaghammers entgegen und genauso hart trafen sie mich auch.

Die Dämonen hatten sich befreit. Die Dämonen hatten Asha getötet. Die Dämonen, die ich am Leben gehalten hatte.

Mein Kopf ging von einer Seite zur anderen, während ich vor ihm zurückwich. Ich hörte das leise Flüstern um mich herum kaum, nahm die Blicke der anderen Jäger nicht wahr. Ich konnte nur Asha anstarren. Mein Herz zog sich vor Schmerz zusammen. Tränen rannen mir ohne Unterlass über die Wangen.

„Du hast Asha getötet!“, brüllte Ryu mir entgegen und spannte seine Flügel zu ihrer ganzen bedrohlichen Spannweite auf.

Das war der Moment, in dem ich herumwirbelte und unter den feindlichen Blicken der Jäger davonrannte.

Asha war tot. Die liebe, fürsorgliche Asha. Meine Freundin. Dieser Gedanke schmerzte so sehr, dass mir beinahe die Luft wegblieb.

Noch gestern hatte sie mit uns allem am Lagerfeuer gesessen und gelacht. Sie hatte mich nach meinem Ausflug mit Amir und Kiran in den Arm genommen und gesagt, dass jeder Fehler machte. Sie wusste, was ich getan hatte, und war trotzdem zu mir gekommen. Und nun war sie tot, getötet von den Dämonen.

Nur wie war es ihnen gelungen, sich zu befreien? Wie hatten sie die Fesseln gelöst und das Schild überwunden? Das war einfach nicht möglich!

Meine Beine trugen mich unaufhörlich durch das Lager, während die Tränen mir die Sicht erschwerten. Was Ryu da behauptete - ich musste mich selber davon überzeugen, denn ich verstand einfach nicht, wie die Dämonen so plötzlich freigekommen waren.

Niemand begegnete mir auf meinem Weg. Alle waren bei Ryu und Asha, alle bis auf Guardian, der still hinter mir her rannte. Das zumindest glaubte ich, bis der Platz der Pfähle in Sicht kam. Dort stand Amir. Und er war nicht allein. Gaio und Kiran waren an seiner Seite.

Unwillkürlich hielt ich an und ging hinter dem nächsten Zelt in Deckung. Ich wusste nicht, warum ich das tat – vielleicht würde ich einfach keine weiteren Vorwürfe ertragen – doch in diesem Moment schien es mir das Vernünftigste zu sein.

Schniefend wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht, doch als ich sah, wie verwaist die Pfähle waren, kamen neue. Ryu hatte Recht, Davesh und Askea waren weg. Um den Platz herum zog sich eine kreisrunde Linie aus schwarzem Sand. Kiran hockte gerade neben ihr und ließ sich die kleinen Körner durch die Hand rieseln.

Gaio und Amir standen neben ihm und warteten.

Der Gargoyle hatte die Arme stumm vor der Brust verschränkt und ließ nicht erkennen, was er dachte. Amir dagegen spielte unruhig mit dem Griff seiner Peitsche. In seinen Augen lag eine Kälte, die mich frösteln ließ.

„Kein Zweifel“, sagte Kiran dann. Er erhob sich und wischte sich seine sandigen Hände an der Hose ab. „Das Schild wurde praktisch weggesprengt. Aber um das zu schaffen, braucht man wirklich Unmengen an Magie. Ich könnte das nicht bewerkstelligen.“

„Tiara.“ Amir kniff die Augen leicht zusammen.

Kiran nickte. „Ich denke auch, dass sie es war. Kein anderer im Lager wäre dazu fähig.“

Was?! Sie glaubten, ich hätte die Dämonen freigelassen?! Aber das war nicht wahr! Das hätte ich niemals getan!

„Und dass sie die Dämonen eher als Haustiere statt als Gefahr ansieht, hat sie bereits mehr als deutlich gemacht“, fügte Kiran noch hinzu.

Gaio drückte die Lippen aufeinander. „Sie ist noch jung“, sagte er so leise, dass ich ihn kaum verstand. „Ihr könnt sie nicht dafür verurteilen, dass sie Mitgefühl zeigt.“

„Sie hatte bereits eine zweite Chance“, entgegnete Kiran. „Und jetzt ist Asha tot.“

Dagegen konnte der Gargoyle nichts mehr sagen.

Als unweit von mir Schritte zu hören waren, duckte ich mich tiefer hinter das Zelt. Es war Elias, der zügig zu den anderen trat. „Ich konnte keine Spuren finden, die darauf hindeuten, wohin die Dämonen verschwunden sind.“

„Aber weit können sie noch nicht sein.“ Amir schloss die Hand fester um den Griff der Peitsche. „Stell eine Gruppe zusammen und macht euch auf die Suche nach ihnen. Ich will sie heute Abend wieder an den Pfählen sehen.“

Elias nickte.

„Und holt endlich Tiara.“

„Sie war nicht in ihrem Zelt.“ Elias verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere. „Sie war eben wohl kurz beim Lazarett, aber als sie gesehen hat, was passiert ist, ist sie weggerannt.“

„Dann sucht sie!“ Amir fuhr zu dem Vampir herum. „Bringt sie mir, sowas kann ich nicht durchgehen lassen.“

Sehr langsam ließ Gaio seine Arme sinken. „Was hast du vor?“

„Das einzig Richtige.“ Die Schlangen auf seinem Kopf zischten unheilbringend. „Ich werde sie den Wächtern in Sternheim übergeben. Sie werden sie wahrscheinlich wegen Mordes vor Gericht bringen.“

Jeder Gedanke in meinem Kopf verflüchtigte sich, als das kalte Grauen mich packte. Er wollte … er … das konnte er nicht ernst meinen, das würde er nicht tun. Nein, nein, nein.

Gaios Flügel fächerten sich leicht. „Das kannst du nicht machen. Du weißt, dass Tiara sowas niemals mit Absicht getan hätte.“

„Das wird ein Richter entscheiden müssen. Bei uns kann sie jedenfalls nicht länger bleiben. Ihr Mitgefühl für diese Monster hat lange genug gedauert. Ich habe getan, was ich konnte, aber sie versteht es einfach nicht. Und jetzt ist das passiert, wovor ich sie gewarnt habe. Die Dämonen sind weg. Es ist an der Zeit, dass Tiara sich den Konsequenzen ihrer Tat stellt. Also geht sie suchen und fangt die verdammten Dämonen wieder ein!“

Keiner gab ihm Widerworte, doch ich konnte sehen, wie Gaios Kiefer mahlte. Er schien der einzige zu sein, der auf meiner Seite stand, und das nach allem, was ich getan hatte.

Wie konnten sie nur glauben, dass ich es gewesen war, die das Schild deaktiviert hatte? Wie konnten sie das auch nur eine Millisekunde in Erwägung ziehen?

Am liebsten wäre ich auf sie zugegangen, um ihnen genau diese Frage zu stellen, aber alle Indizien sprachen gegen mich. Natürlich musste es in ihren Augen so aussehen, als hätte ich die Dämonen befreit. Genau wie die Tatsache, dass ich für Ashas Tod verantwortlich war.

Trauer und Wut packten mich. Enttäuschung brannte durch meinen ganzen Körper, während ich versuchte, die Tränen zum Versiegen zu bringen. Und doch, irgendwo ganz tief in mir, sagte mir ein kleines Stimmchen, dass sie Recht hatten. Die Dämonen wären schon lange tot gewesen, wenn ich sie nicht verpflegt hätte. Dann hätten sie Asha niemals auch nur ein Haar krümmen können.

Am besten wäre es wahrscheinlich wirklich, sich ihnen einfach zu stellen, doch wem würde das helfen? Niemandem. Niemandem würde das helfen. Es würde Asha nicht zurückbringen und auch nicht das Vertrauen, das die Jäger noch bis gestern in mich hatten.

In diesem Moment wurde mir klar, dass ich alles verloren hatte, was mir in dieser Welt etwas bedeutete. Meine Arbeit, meine Freunde, meine Familie, mein Zuhause. Alles war mit einem Schlag weg. Das alles nur wegen dieser Dämonen. Dabei war es egal, dass ich sowieso vorgehabt hatte, sie zu verlassen.

Plötzlicher Hass auf diese Wesen kochte in mir auf und verschlang jedes andere Gefühl. Vor meinem inneren Auge tauchte Askea auf, sein ruhiger Blick und seine drakonische Haltung. Wenn einer der Dämonen Asha getötet hatte, dann konnte nur er es gewesen sein. Davesh war trotz des Wassers, das ich ihm immer gebracht hatte, viel zu schwach gewesen, aber Askea hatte ich mit Magie geheilt.

Askea.

Nein, ich würde mich nicht stellen. Ich würde das tun, was Amir immer von mir gewollt hatte: ich würde meinen ersten Dämon töten. Und ich würde es nicht bereuen.

Meine Hände zitterten, als ich mir die Tränen von den Wangen wischte, doch mein Entschluss stand fest. Ich würde auf die Hatz gehen.

Darauf bedacht, dass die Männer mich nicht bemerkten, entfernte ich mich vom Pfahlplatz. Im Schatten der Zelte bewegte ich mich durch das Lager. Die meisten Jäger befanden sich noch beim Lazarett, aber das würde nicht mehr lange so bleiben. Ich musste mich beeilen, bevor die Jäger sich in großer Zahl auf der Suche nach mir machten.

Aber Hals über Kopf in die Wüste zu rennen, kam nicht in Frage. Das hatte ich schon beim ersten Mal nur knapp überlebt. Ich musste mich vorbereiten und zwar so schnell wie möglich.

Als erstes schlich ich unbemerkt zur Feldküche und schnappte mir drei der Wasserschläuche und etwas vom gestrigen Abendessen. Mein nächster Weg führte mich in mein eigenes Zelt.

Ich war sehr bedacht darauf, dass niemand dort nach mir suchte, bevor ich mich hineinschlich. In Windeseile schnappte ich mir meine Sachen. Meine Kladde und die beiden Bücher. Den Brief, das Taschenmesser und auch mein Handy. Ich wusste nicht, ob es überhaupt noch funktionierte, aber ich wollte es nicht zurücklassen. Ich stopfte alles in meine Tasche und schwang sie mir samt Wasserflaschen auf den Rücken. Nur das Taschenmesser landete in meiner Hosentasche. Ich wollte es für den Notfall griffbereit haben.

Gerade als ich das Zelt verlassen wollte, fiel mein Blick auf den Stab, den Amir mir geschenkt hatte. Ich zögerte. Wenn ich Askea begegnete, würde ich eine Waffe brauchen, aber im Moment fühlte ich mich von Amir so verraten, dass ich es nicht über mich brachte, nach ihm zu greifen.

Nein, ich würde ihn nicht mitnehmen. Ich hatte immer noch meine Magie und die würde ich einsetzen – kostete es, was es wollte.

Ich wandte mich von der Waffe ab und spähte durch den Eingang nach draußen. Niemand war zu sehen. Ich blieb auch alleine, als ich hastig hinausschlüpfte und mich Richtung Stall durch das Lager bewegte.

Jetzt war es schwieriger, ungesehen hindurch zu gelangen. Sie hatten sich auf die Suche nach mir begeben, doch irgendein Gott war mir hold, denn keiner von ihnen entdeckte mich. Der einzige, der wusste, was ich hier tat, war Guardian, der mir die ganze Zeit keinen Schritt von der Seite wich. Die einzige Familie, die mir noch geblieben war.

Je weiter ich durchs Lager schlich, desto einfacher wurde es. Hier am Rand schienen die Jäger nicht nach mir zu suchen – noch nicht. Ein weiterer Glücksfall. Trotzdem schaute ich mich wachsam nach allen Seiten um, bevor ich die Deckung der Zelte verließ und das freie Stück in den Stall hinein rannte.

Mir war klar, dass Askea einen Vorsprung hatte. Ich wusste nicht, wie lange er schon fort war, aber wenn ich ihn noch einholen wollte, dann musste ich schneller sein.

Darum rannte ich hastig in den hinteren Teil des Stalles und schnappte mir Sattel und Zaumzeug, um es zu Primo zu schleppen. Der Glatisant blieb völlig entspannt, als ich ihn aufzäumte und meine Sachen am Sattel befestigte.

„Wir machen jetzt einen kleinen Ausflug“, erklärte ich ihm und öffnete das Boxentor. Ich schnappte mir seine Zügel und führte ihn in den Gang. Im nächsten Moment erstarrte ich einfach.

Im Stalltor stand Gaio. Sein Blick glitt von meinem Gepäck zu den Zügeln in meiner Hand. „Wie es aussieht, planst du einen längeren Ausflug.“

Nein! So kurz vor dem Ziel, das durfte nicht wahr sein. Ich packte Primos Zügel fester, bereit, mir den Weg notfalls mit Magie freizumachen. „Geh zur Seite.“

Das tat er nicht. „Glaubst du, weglaufen ist der richtige Weg?“

„Ich habe gehört, was Amir gesagt hat!“, schleuderte ich ihm entgegen. „Was bleibt mir denn sonst für eine Wahl?! Dass Asha tot ist … das …“ Ich schlug die Hand vor den Mund, aber das Schluchzen konnte ich nicht aufhalten.

„Ich weiß“, sagte er leise. „Du hast hinter dem Zelt gehockt. Ich habe dich gesehen.“

„Ich werde mich nicht stellen. Ich werde jetzt gehen und das tun, was ich schon die ganze Zeit hätte tun sollen.“

„Und das wäre?“

„Ich werde einen Dämon töten.“ Asha würde dadurch nicht zurückkommen, aber so konnte ich verhindern, dass Askea noch andere unschuldige Leben nahm. „Wenn ich weggesperrt bin, kann ich nichts tun, und deswegen muss ich jetzt gehen.“

Stumm schaute Gaio mich an. Es war nicht zu erkennen, was er dachte, und ich machte mich darauf gefasst, jeden Moment meine Magie rufen zu müssen. Doch dann trat er völlig unvermittelt zur Seite. „Pass auf dich auf.“

„Du … du lässt mich gehen?“

„Verschwinde, bevor ich wieder zur Besinnung komme.“

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich packte Primos Zügel fester und zog ihn aus dem Stall. Gaio behielt ich dabei im Auge, denn ich verstand nicht, warum er mich gehen ließ. Doch im Moment war das völlig egal. Es zählte nur eines: dass ich hier so schnell wie möglich weg kam.

Darum schwang ich mich auf Primos Rücken, kaum dass ich unter den Sonnen stand, und zog die Zügel an. Doch bevor ich los ritt, drehte ich mich noch einmal zu dem Gargoyle um. „Es tut mir leid. Das mit Asha, das … es tut mir leid.“

Er sagte nichts und das war auch nicht nötig. Jedes weitere Wort würde mich nur aufhalten. Aber eine Sache musste ich noch tun, bevor ich verschwand.

Ich beugte mich zur Seite und schaute zu Guardian herunter. „Finde Askea“, forderte ich ihn auf.

Mein kleiner Wächter stellte die Ohren auf.

„Askea“, wiederholte ich. „Such ihn, los, finde Askea!“

Guardian zirpe, hüpfte dabei auf der Stelle und rannte dann los.

Mich hielt nichts mehr. Ich gab Primo die sprichwörtlichen Sporen und wetzte ihm hinterher. Nur ein Gedanke brannte wie ein rotglühendes Feuer in mir: für das, was dieser Rubin getan hatte, würde er bezahlen. Ich würde Ashas Tod rächen.

 

°°°

 

Die Sonnen glühten heiß vom Himmel, doch der Hass brannte so stark in mir, dass ich es kaum bemerkte. Ich trieb Primo so hart an, dass er unmutig blökte, doch darauf konnte ich einfach keine Rücksicht nehmen. Guardian war schnell und ich musste an ihm dran bleiben.

Hinter uns folgte eine Staubwolke, die jeden unserer Schritte verdeckte, sobald sie sich wieder gelegt hatte. Das war praktisch, so würden die Jäger mir auf diese Art nicht folgen können. Andererseits bewegten wir uns bereits seit Stunden über offenes Land und mit dieser Staubwolke konnte man uns schon aus einer Meile Entfernung erblicken.

Die Zeit floss zäh dahin. Ich machte Pausen, um etwas zu trinken und zu essen, gönnte den Tieren zwischendurch Ruhe, aber nie lange. Ich musste weiter, musste Askea finden. Und Fax.

Der Gedanke war mir erst viel später gekommen. Askea war weg, also hatte er seinen Sohn sicher mitgenommen. Hatte der Junge vielleicht etwas damit zu tun, dass die Dämonen freigekommen waren? Denkbar wäre es, denn seine Magie war durch die Seile nicht blockiert gewesen. Aber wie hatte er das nur gemacht? Und warum?

Nein, diesen Gedanken verbot ich mir. Egal was er war, er war ein Kind. Die Antwort auf das Warum zu finden, war nicht weiter schwer. Trotz allem schaffte ich es nicht, wirkliche Wut auf den Kleinen zu empfinden.

Das schürte meinen Hass auf Askea nur umso mehr.

Stunden flossen dahin. Die Sonnen sanken herab, der Tag kühlte ab und noch immer hatte ich keine Spur von dem Rubin. Doch weit konnte ich nicht mehr hinter ihnen sein. Soweit ich gesehen hatte, fehlten im Stall keine Mounts, was hieß, dass sie zu Fuß unterwegs waren. Ich musste mich nur gedulden, früher oder später würde ich sie finden. Vorausgesetzt, ich bewegte mich nicht in die falsche Richtung. Aber Guardian rannte so zielstrebig über das trockene Land, dass ich keinen Zweifel an ihm hegte. Er würde mich ans Ziel bringen. Und bis es soweit war, konnte ich ihm nur folgen und den Hass in meinem Herzen schüren.

 

°°°°°

Tag Zweiundachtzig

 

Vor mir fiel dieses endlose Land zu einer kleinen Senke ab. An den Rändern hatten sich überall große Gesteinsbrocken gelöst und waren hineingerutscht. Der Sand hatte sie mit den Jahren rund und glatt geschliffen – nirgends waren scharfe Kanten zu finden.

Zwischen den großen Felsen glitzerte das klare Wasser des flachen Teichs wie die reine Versuchung. Es war nicht tief. Soweit ich sehen konnte, würde die tiefste Stelle mir gerademal bis zum Knie reichen. Es war die erste Wasserquelle, die ich seit meinem Aufbruch gefunden hatte. Oder besser gesagt, Guardian hatte sie gefunden.

Primo scharte im lockeren Sand, als ich mich aus dem Sattel schwang. Er schnaubte und stupste mir mit der Nase gegen die Wange, während mein Blick über diese unendlichen Weiten glitt. War ich noch auf dem richtigen Weg, oder hatte Guardian mich in die Irre geführt? Nein. Sowas durfte ich gar nicht erst denken.

„Komm.“ An den Zügeln führte ich mein Mount den flachen Abhang hinunter. Jeder Schritt wirbelte Staub und Sand auf und färbte meine Kleidung ein klein wenig rötlicher. Nicht mehr lange und ich würde perfekt in diese Umgebung passen. Wie ein Chamäleon. Ich schüttelte den Kopf bei diesem unnützen Gedanken. Ich wollte an gar nichts denken, nur an diese eine Sache. Doch bis es so weit war, brauchten ich und die Tiere Wasser.

Durstig hockte ich mich an den Rand des kleinen Sees und tauchte meine Hände in das klare Nass. Ich war schon seit Stunden unterwegs und obwohl Guardian mich an der Senke hatte vorbeiführen wollen, musste ich hier halten, um meine Vorräte aufzufüllen. Es würde mir nicht helfen, wenn ich auf meiner Suche verdursten würde. Außerdem brauchten die Tiere eine Pause.

Ich führte die gefüllten Hände an meinen Mund. Zwar war das Wasser warm und deswegen alles andere als erfrischend, aber es war besser als gar nichts. Und dass ich meine Kleidung dabei bespritzte, störte mich gar nicht. Ich hob sogar meinen Ghutra im Nacken an, um mich auch dort mit Wasser zu beträufeln. Dann hockte ich mich auf die Fersen und tastete meine Umgebung mit den Augen ab.

Diese Wasserstelle schien ziemlich unbelebt zu sein. Keine Pflanzen, nicht mal Spuren von Tieren. Der Wind musste sie immer gleich verwehen.

Ich stemmte mich auf die Beine, band die leeren Wasserschläuche vom Sattel und hockte mich wieder hin.

Wie weit würde ich noch reiten müssen? Askea und Fax waren zu Fuß unterwegs – da war ich mir sicher – ich müsste sie eigentlich schon längst eingeholt haben. Waren sie vielleicht doch in eine andere Richtung gegangen? Das konnte nicht sein. Guardian war so zielstrebig gewesen, dass wir ihnen einfach auf der Fährte sein mussten.

Ich hob meinen Blick zu dem kleinen Fennlix, der interessiert an einer Stelle am Wasser schnüffelte. Erst nach links, dann nach rechts, und dann blieb er direkt an der Wasserkante stehen. Er hob den Kopf und zirpte mir mit einem auffordernden Blick entgegen.

„Was ist los?“

Er zirpte ein zweites Mal und scharte leicht im feuchten Sand. Dabei machte er mit dem Kopf mehrmals eine Bewegung, die aussah, als wollte er mich auffordern, zu ihm zu kommen.

Ich runzelte die Stirn.

Wieder ein Zirpen und wieder diese Kopfbewegung.

Vorsorglich schloss ich den Wasserschlauch und legte ihn am Ufer in den Sand. Dann näherte ich mich meinem kleinen Wächter, um herauszufinden, was ihn so nervös machte. „Was hast du da gefunden?“, fragte ich, als ich mich neben ihn hockte. Meine Hand fand sein Fell, während meine Augen das Ufer untersuchten.

Spuren.

Da waren Abdrücke von Füßen. Die eines Erwachsenen und die eines Kindes. Sie führten direkt in den flachen See hinein.

Und sie waren frisch.

Alarmiert richtete ich mich auf und ließ meinen Blick erneut über die Felsen gleiten. Sie waren groß genug, um sich dahinter verbergen zu können – zumindest einige von ihnen. Plötzlich hatte ich das Gefühl, nicht länger allein zu sein. Und auch, dass ich am Ziel angelangt war. „Askea!“, rief ich laut und achtete auf die Beschaffenheit der Wasseroberfläche, doch die war völlig ruhig. Keinerlei Bewegung. Nicht mal der Wind brachte sie zum Kräuseln.

Ich watete einen Schritt in das Wasser hinein. Das meine Schuhe und meine Hose dabei nass wurden, war mir egal. „Ich weiß, dass du hier bist!“ Warum sonst sollte ich plötzlich dieses Gefühl haben? Es war so, wie Asha es mir immer beschrieben hatte. Ich fühlte, dass da ein anderes Wesen war, spürte seine Magie. Intuitiv.

Asha.

Alle Gefühle, die ich so gut verdrängt hatte, wallten wieder in mir auf. Trauer, Verzweiflung, Verrat. Wut. Ich versuchte sie an dem Kloß in meinem Hals vorbei zu schlucken, spürte aber trotzdem das trockene Brennen in meinen Augen.

„Komm raus!“, forderte ich ihn auf und marschierte entschlossen weiter ins Wasser hinein. Tropfen spritzten zu allen Seiten. Meine Hose sog sich voll, doch wie ich vorher bereits festgestellt hatte, ging das Wasser mir nur bis zu den Knien. „Hast du etwa Angst? Ich bin allein, also zeig dich!“ Ich schaute hinter einen der Felsen, als ich im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.

Hastig wirbelte ich herum und da stand er. Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte er an einem Felsen und fixierte mich mit diesen unergründlichen Augen.

Das Herz wurde mir schwer. Ich hatte mich für sein Kind eingesetzt. Auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte, ich hatte ihn gemocht. Nein, schlimmer noch, ich hatte ihm vertraut – genau wie ich Amir vertraut hatte. Selbst noch ganz am Ende hatte es einen kleinen Teil gegeben, der einfach nicht glauben konnte, dass er zu so schrecklichen Taten fähig sein konnte, wie ich sie im alten Tempel gesehen hatte.

Ich hatte mich getäuscht und deswegen war Asha nun tot.

„Und nun? Was willst du tun?“, fragte er leise. „Willst du mich zurück zu den Jägern bringen?“

Es tat so weh, ihn zu sehen. Es tat weh zu wissen, was er getan hatte und auch, was ich nun tun musste. Aber am meisten schmerzte es zu wissen, dass ich an all dem Schuld war. Nur weil ich ihn geheilt hatte, war es ihm überhaupt möglich gewesen, ins Lazarett zu schleichen. Nur deswegen konnte er jetzt vor mir stehen, als hätte es die Zeit im Lager für ihn niemals gegeben.

„Ich gehe nicht zurück.“

Diese Selbstsicherheit in seiner Stimme … Wut wallte in mir auf und noch bevor ich überhaupt wusste, was ich da tat, hatte ich meine Hände auf ihn gerichtet und schleuderte ihm verzweifelt meine Magie mit einem Schrei entgegen.

Doch Askea musste darauf gelauert haben. Er wirbelte einfach zur Seite. Wasser spritzte. Die Magie schlug nutzlos in den Stein ein und sprengte eine Ecke davon ab.

„Warum hast du sie getötet?!“, schrie ich ihn an und schleuderte ihm eine weitere Ladung entgegen, die ihn haarscharf verfehlte. „Sie hat dir nichts getan!“

Askea ging halb hinter dem Felsen in Deckung, ließ mich aber nicht aus den Augen. „Wer hat mir nichts getan?“

„Tu nicht so!“ Ich riss das Taschenmesser aus meiner Hose und ließ die Schneide aufschnappen. Die blanke Klinge glänzte im Sonnenlicht. „Du bist genau wie alle anderen und deswegen werde ich jetzt das tun, was ich gleich hätte tun müssen!“

Bevor er etwas erwidern konnte, stürzte ich mich auf ihn. Meine Wut und mein Schmerz trieben mich dazu. Er hatte Asha getötet und ich … ich war daran schuld. Nur wegen mir hatte er so lange überlebt. Nur wegen mir war er bei Kräften geblieben. Nur wegen mir war er freigekommen.

Ich schrie meinen Schmerz hinaus. Askea wirbelte zur Seite, aber damit hatte ich gerechnet. Mein rechter Arm beschrieb einen Boden. Dann spürte ich, wie die Klinge über Haut schnitt.

„Ahhh!“

Ich hatte ihn am Arm erwischt.

„Jetzt reicht es aber!“

Hunderte Wassertropfen spritzten auf, als er sich herumdrehte und nach meinem Arm griff. Ich war davon so überrascht, dass ich zu spät reagierte. Seine Hand umfing mein Handgelenk mit festem Griff. Er schleuderte mich herum, bis ich mit dem Rücken gegen den Felsen krachte.

Das tat weh. Der Schmerz lenkte mich für einen Moment so sehr ab, dass ich zu spät realisierte, wie er nach meiner Dolchhand griff und sie mehrere Male gegen den Felsen schlug – solange, bis ich das Messer vor Schmerz nicht mehr festhalten konnte. Platschend fiel es ins Wasser.

„Lass mich los!“, schrie ich ihn an und versuchte nach ihm zu treten.

Er fluchte, drückte meine Hände neben meinem Kopf gegen den Felsen und presste sich mit seinem Körper an mich, sodass ich mich nicht mehr wehren konnte. Trotzdem strengte ich meine Muskeln an, um ihn von mir zu stoßen.

Mein Atem ging schnell und mein Herz pumpte das Adrenalin nur so durch meine Adern, doch der Kraft eines Dämons hatte ich nichts entgegenzusetzen.

„Hör auf!“, knurrte er und drückte mich noch fester gegen den Felsen.

In dem Moment tat ich das einzige, was mir noch übrig blieb. Ich schlug meinen Kopf nach vorne und haute ihn Askea so fest gegens Kinn, dass er zurückruckte.

„Ahhh, verdammt!“ Ärger flammte in seinen Augen auf. Er veränderte seinen Griff so, dass er mir einen Unterarm direkt über die Kehle legen konnte.

Gefangen.

„Du hast gerade wirklich versucht, mich zu töten.“ Wütend funkelte er mich an.

Aus der Schnittwunde an seinem Arm tropfte Blut. Es war rot. Wieso war das Blut eines Monsters rot? Es sollte grün sein, schleimig, zähflüssig. Aber nicht rot, nicht so wie mein Blut. Oder das von Asha.

„Kannst du mir mal sagen, was dieser ganze Unsinn soll?!“,

„Du hast sie getötet und dafür wirst du jetzt sterben!“, fauchte ich ihn an. Ich versuchte mein Bein freizubekommen, doch er hatte es eingeklemmt. Ich kam nicht los.

„Was?“ Einen Moment wirkte er ehrlich verwirrt. „Wen soll ich getötet haben?“

„Das weißt du genau, also tu nicht so!“, spie ich ihm entgegen. Wie konnte er jetzt noch glauben, dass ich auf seine Tricks hereinfiel? Nachdem er mir solche Schmerzen zugefügt hatte. Nachdem er mir meine Freundin genommen hatte.

„Ich habe keine Ahnung, wovon du redest“, sagte er mit fester Stimme und fixierte mich dabei auf die Art, wie nur er es konnte. In seinen Augen lag keine Täuschung, nur Wut und Verwirrtheit. Für einen sehr kurzen Moment fragte ich mich, ob ich mich nicht vielleicht doch geirrt hatte.

Genau das will er! Er will, dass du zweifelst, er ist ein Dämon! „Hör auf zu lügen!“, schrie ich ihm ins Gesicht und wollte ihn abzuschütteln, aber er war einfach zu stark.

 „Ich lüge nicht!“

„Natürlich tust du das! Nur du kannst es gewesen sein!“ Nur ein Dämon war zu einer solchen Grausamkeit fähig.

„Ich habe nichts getan!“

„Du hast Asha getötet!“ Tränen sammelten sich in meinen Augen. Wieder sah ich das viele Blut, sah den leeren Blick und Ryus grenzenlose Verzweiflung, als er sie in seinen Armen gewiegt hatte. Das hatte niemand verdient, aber ganz besonders nicht sie.

„Die Hexe?“ Nun wirkte er völlig erstaunt.

Das machte mich wütend. „Hör auf, mir etwas vorzuspielen!“

„Ich spiele dir nichts vor!“, knurrte er mit um Ruhe bemühter Stimme. „Ich weiß wirklich nicht, wovon du redest. Ich habe niemanden getötet!“

„Ich habe ihre Leiche gesehen!“ Und diesen Anblick würde ich nie wieder vergessen können.

„Denk doch mal nach!“, fuhr er mich an. „Warum sollte ich meine kostbare Zeit damit verschwenden, eine unbedeutende Hexe zu töten, und damit riskieren, wieder gefangen genommen zu werden?!“

„Asha ist nicht unbedeutend!“

„Das ist völlig egal! Es hätte keinen Sinn gemacht! Der einzige, den es zu töten lohnt, ist euer Anführer, denn er ist es, der euch gegen uns aufhetzt!“

„Zu Recht!“

„Fängst du jetzt auch an, wie sie zu denken?! Kannst du nicht mehr für dich alleine sprechen?!“

„Ich spreche für mich alleine! Niemand weiß, dass ich hier bin! Ich musste verschwinden, denn alle glauben, dass ich dir geholfen habe!“ Amir glaubte das. Ich musste die aufsteigenden Tränen runterschlucken. „Und das ist alles deine Schuld.“

Tief durchatmend schloss Askea für einen Moment die Augen und bewegte die Lippen, als wollte er sich selber beruhigen. „Niemand weiß, dass du hier bist?“, fragte er dann leise.

„Das macht keinen Unterschied. Für das, was du getan hast, wirst du büßen. Ich werde dich dafür büßen lassen!“

„Ich habe nichts getan.“

„Hör. Auf. Zu. Lügen!“ Ich machte meinen Rücken krumm und versuchte mich vom Felsen abzudrücken, doch Askea war wie eine Wand, die sich einfach nicht bewegen ließ.

„Lass das!“

„Nein! Ich werde dich töten! Ich werde dafür sorgen … ahhh!“ Die plötzliche Hitze an meinen Handgelenken ließ mich meine Augen weit aufreißen. Er hatte sein Feuer gerufen. Nur einen kurzen Moment, so kurz, dass es kaum wehgetan hatte, so als wollte er mich nur erschrecken und nicht wirklich verletzen.

„Du hörst mir jetzt mal genau zu“, forderte er mich mit einem harten Blick auf. Er wollte mir Angst machen. Aber da war keine Angst, nur diese unbändige Wut. „Du hast das Schild kaputtgemacht. Als du deine Magie ausgestoßen hast, hast du es kurzgeschlossen, und als du weg warst, ist Fax gekommen. Er hat meine Fesseln gelöst und dann sind wir abgehauen. Ich habe die Hexe nicht getötet, ich wollte einfach nur schnell weg.“

„Ich habe das Schild kaputtgemacht?“

„Ja, als du deine Magie freigesetzt hast.“

Konnte das sein? Konnten die Jäger mit ihrer Vermutung richtig liegen? Warum ließ er es wie die Wahrheit klingen? Warum nur wollte ich ihm glauben? Warum gab er es nicht einfach zu? „Du lügst.“

„Nein, tue ich nicht. Selbst wenn es nicht so wäre, ist dein kleiner Rachefeldzug sowieso völlig unnütz.“

Unnütz?! Mit einem Schlag wurde ich ganz ruhig. „Glaubst du wirklich, dass ich dich nicht töten werde?“

„Wenn du es könntest, würdest du es sicher tun, aber dazu bist du gar nicht fähig.“

Er kannte mich nicht. Er glaubte, ich wäre nicht dazu in der Lage. Aber da täuschte er sich. „Lass mich los, dann wirst du sehen, wozu ich in der Lage bin.“

„Wie du meinst.“

Zu meiner Überraschung ließ er wirklich von mir ab und trat einen Schritt zurück. Das Wasser plätscherte und ich konnte einen Moment nichts anderes tun, als ihn anstarren.

„Na los“, forderte er mich auf. „Nimm dein seltsames Messer und versuch dein Glück.“ Er breitete die Arme aus, als wollte er mich einladen, seinem Leben ein Ende zu setzen. „Komm schon, töte mich.“

Sein Verhalten irritierte mich so sehr, dass ich mich nicht traute, auch nur einen Muskel zu bewegen. Was bezweckte er damit? War es wirklich nur der Zweifel an meiner Fähigkeit?

„Komm schon, Tiara, worauf wartest du? Ich werde mich nicht wehren. Versprochen.“

Er verspottete mich, wurde mir klar. Er machte sich über mich lustig. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, bückte ich mich nach dem Taschenmesser im Wasser. Ich musste ein wenig umhertasten, doch dann fühlte ich den Griff und schloss meine Finger um ihn. Sehr langsam richtete ich mich wieder auf und in dem Moment bemerkte ich im Augenwinkel die Bewegung.

Eine Falle.

Ich wirbelte herum, das Messer hoch erhoben und bereit, es zu werfen, und erschrak einen Moment später über meine eigene Reaktion. Das war keine Falle, das war Fax, der hinter einem der Felsen hervorgetreten war. Die Hände an der Seite, flehte sein Blick darum, dass ich es nicht tat.

Ich drückte die Lippen zu einem festen Strich zusammen. Fax war nur ein Kind, ihm würde ich nichts tun, aber bei Askea sah die Sache anders aus. Askea war ein Mörder.

Ich wandte meinen Blick von ihm ab. Sein Vater hatte mittlerweile die Arme sinken lassen und schaute mich herausfordernd an.

„Du kannst es nicht tun“, sagte er leise.

Ich griff das Messer fester. Auch wenn ich es vor Fax Augen tun musste, Askea würde nicht davonkommen. „Du hast keine Ahnung, wozu ich in der Lage bin.“

„Nein, du verstehst nicht. Du kannst es nicht tun.“

Was? Lass dich nicht ablenken, er versucht nur, dich zu verwirren und Zeit zu schinden. „Ich kann und ich werde.“

„Nein, kannst du nicht, denn ich habe dich gebrannt.“

Es dauerte volle vier Sekunden, bis diese Worte wirklich zu mir durchdrangen. Er hatte mich gebrannt. Er hatte …

Männliche Dämonen können weibliche brennen. Sie drücken ihnen ihre Magie auf und können damit ihren Willen beherrschen.

Nein. Nein, das konnte nicht sein.

Ich riss die Tunika von meiner Schulter. Das Brandzeichen leuchtete wie ein rotes Mahnmal. Ich spürte es kribbeln, als wäre es ein eigenständiges Lebewesen. „Was hast du mit mir gemacht?“

„Ich habe das getan, was nötig war.“

Ich riss mein Messer hoch, ließ meine Magie hineinfließen und stürzte mich mit einem Schrei auf ihn. Ich war kein Dämon, er konnte mich nicht brennen. Seine Magie hatte keinen Einfluss auf mich. Sie durfte keinen Einfluss auch mich haben.

Der Abstand zwischen uns schrumpfte. Das Wasser spritzte zu allen Seiten. Ich musste meinen Arm nur noch nach vorne bewegen und ihm meine Waffe in die Brust bohren, doch plötzlich versteiften meine Muskeln sich und wollten meinem Willen nicht mehr gehorchen.

 Er kann sie zwingen, zu tun, was er möchte?

Nein. Er kann sie zu nichts zwingen, er kann nur verhindern, dass sie etwas tut, das sie seiner Meinung nach nicht tun sollte. Will sie ihn töten, kann er das verhindern – allein durch einen Gedanken. Will sie sich von ihm entfernen, kann er sie durch seinen Willen daran hindern.

Das Mal auf meiner Schulter pulsierte. Es war, als würde es einen Zwang auf mich legen, der mich zur Untätigkeit verdammte. Ich konnte es nicht tun, ich konnte Askea nicht töten.

„Was hast du getan?“ Meine Stimme war nur ein leiser Hauch, aus dem mein ganzer Unglaube sprach.

„Du gehörst nun mir“, war seine schlichte Antwort.

Mit einem Schlag wurde mir das ganze Ausmaß seiner Worte bewusst. Das Messer glitt mir aus der Hand und fiel ein weiteres Mal mit einem Platschen ins Wasser. Ich schüttelte den Kopf, konnte und wollte einfach nicht glauben, was er da sagte, doch sein ruhiger und sicherer Blick verriet mir alles, was ich wissen musste. Er hatte mich gebrannt, er hatte mich zu der seinen gemacht und konnte mich nun nach Belieben seinem Willen unterwerfen.

Wie in Trance wich ich einen Schritt vor ihm zurück. Und noch einen. Mein Fuß blieb an einem Stein hängen und noch bevor ich reagieren konnte, landete ich im Wasser. Doch ich konnte meinen Blick nicht abwenden.  

Du gehörst nun mir.

Nein.

Rückwärts robbte ich von ihm weg, wirbelte den Sand im Wasser auf, das unter meiner Bewegung plätscherte.

Du gehörst mir.

Das konnte er nicht tun!

Ich wirbelte herum, schaffte es irgendwie auf die Beine und rannte. Ich rannte so schnell, wie ich noch nie in meinem Leben gelaufen war, doch ich kam nur wenige Meter weit.

Das Wasser spritzte zu allen Seiten. Raus aus dem See. Zwei Schritte, drei. Das Mal auf meiner Schulter begann zu pochen. Auf einmal schien die Kraft aus meinen Beinen zu weichen. Sie war so plötzlich weg, dass ich in den Sand stürzte und mich mit den Armen abfangen musste.

Ich versuchte wieder aufzustehen, sank aber wieder in mich zusammen. Meine Beine gehorchten mir nicht mehr.

Als ich das Plätschern hinter mir hörte, warf ich einen panischen Blick über die Schulter. Askea schritt durchs Wasser, direkt auf mich zu.

„Du kannst nicht weglaufen“, sagte er leise. „Das lasse ich nicht zu.“

Will sie sich von ihm entfernen, kann er sie durch seinen Willen daran hindern.

Er machte das, er kontrolliere mich. Amir hatte es mir doch erklärt. Dämonen konnten ihre gebrannten Partner kontrollieren. Sie konnten sie nicht zwingen, etwas zu tun, das sie nicht wollten, aber sie konnten sie daran hindern, etwas Gewolltes in die Tat umzusetzen. „Warum?“, fragte ich leise und spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. „Warum tust du das? Warum ich?“

„Weil ich dich brauche.“ Als er hinter mir zum Stehen kam, durchbohrte mich sein undurchdringlicher Blick beinahe, und mir wurde klar, dass ich verloren war. „Weil Fax dich braucht.“

„Das kannst du nicht machen, ich bin kein Dämon.“

„Ich kann keine Dämonin brennen. Sie würde Fax töten. Keine Dämonin würde ihn als ihr Kind akzeptieren.“ Er hockte sich hinter mich und strich mit dem Finger über meine linke Halsbeuge; direkt oberhalb des Mals. Bei der Berührung zuckte ich zusammen, aber ich konnte nicht weg, er ließ es nicht zu. „Ich kann auch keine andere Frau nehmen, keine andere Hexe, keine Elfe oder Rakshasi. Auch sie würden ihn töten wollen, allein aus dem Grund, weil er ein Dämon ist.“

Ich zitterte unter seinem Finger. „Hör auf, bitte.“

„Jede Frau trachtet ihm nach seinem Leben, nur du nicht. Du hast ihn beschützt.“

Meine Augen schlossen sich. Das war der Grund? Weil ich in einem Kind kein Monster sehen konnte, wollte er mich nun versklaven? Denn nichts anderes war es, was er hier tat. Er hielt mich gegen meinen Willen fest – durch magische Fesseln, denen ich nicht entkommen konnte.

„Du warst für ihn da und hast ihn beschützt. Und ab jetzt werde ich euch beschützen.“ Sein Finger streifte mir die Tunika von der Schulter, bis das Mal offen vor ihm lag. Dann spürte ich nur noch, wie er blitzschnell einen Arm um meinen Oberkörper schlang und mich an sich riss.

Ich keuchte erschrocken auf und dann spürte ich wieder seinen Mund auf meiner Halsbeuge. „Nein!“

Sein heißer Atem blies auf meine Haut. Wieder hatte ich das Gefühl, als würden Hitze und Feuer in mich eindringen. Doch dieses Mal schmerzte es nicht so sehr. Er schien ruhiger, konzentrierter und nicht so hektisch.

Mein Atem dagegen wurde immer schneller. Ich wollte, dass er aufhörte, wollte mich in seinem Griff winden und ihm wehtun. Warum tat er das? Er hatte mich doch bereits gebrannt. Ich konnte mich ihm nicht widersetzen. „Hör auf“, flehte ich, doch das tat er nicht. Nicht bis zu dem Moment, als er glaubte, er wäre fertig.

Ich machte mich auf den Schmerz gefasst, den ich beim letzten Mal gespürt hatte, doch es blieb nur ein warmer Hauch übrig, der mit dem Wind davongetragen wurde. Auch die Hitze in meinem Körper klang langsam ab. Was übrig blieb, waren die Sonnen am Himmel, die erbarmungslos auf uns niederstrahlten.

Als er sich von mir löste, fiel ich nach vorne. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte mir einzureden, dass das nicht real war. Er konnte mich nicht gebrannt haben, nicht schon wieder. Feuer war sein Element, aber mich würde es zerstören. Ich war gar nicht imstande, diese Energie zu verkraften.

„Steh auf, Tiara.“

„Geh weg.“

„Das werde ich. Zusammen mit dir.“

„Ich gehe nicht mit dir.“ Er konnte mich nicht zwingen. Ich hatte immer noch meinen eigenen Willen und den konnte er mir nicht nehmen.

„Du machst es dir nur unnötig schwer. Und mir auch.“

„Das ist mir …“

„Papá!“

Fax‘ Schrei ließ mich herumwirbeln.

Der Glatisant am Ufer stieg, blöke und rannte dann vom Wasserloch weg, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Von ihm blieb nichts als eine Staubwolke übrig.

Guardian zirpte aufgeregt und fauchte das Wasser an.

Im ersten Moment traute ich meinen Augen nicht. Die Mitte des Sees warf riesige Blasen, so als würde das Wasser dort kochen. Dort wo sie platzten, färbte das Wasser sich blutrot. Erst noch unbemerkt, doch dann immer deutlicher. Wo sie die Felsen berührten, färbten auch diese sich ein. Die Farbe kroch über sie hinweg, als wäre sie ein eigenständiges Lebewesen.

Die rote Flüssigkeit verbreitete sich von der Mitte aus. Es wurden immer mehr Blasen. Fax stand mit weit aufgerissenen Augen am anderen Ende des Sees. Das unbegreifliche Phänomen trennte ihn von uns.

Askea brauchte eine Sekunde, um zu reagieren. Ohne nachzudenken preschte er ins Wasser hinein und rannte mit weit ausholenden Schritten am Rand entlang.

Immer mehr Blasen stiegen auf. Sie breiteten sich weiter aus und das Rot wurde immer dunkler.

Ich sah, wie Askea hinter einem der Felsen verschwand. Im nächsten Moment schon griff die rote Farbe auf ihn über. Zwei Sekunden lang bangte ich darum, was passieren würde, dann tauchte er auf der anderen Seite wieder auf. Er packte Fax am Arm, warf ihn sich praktisch auf den Rücken, wo der Kleine sich sofort festklammerte, und rannte am Rand der Senke entlang, denn zurück konnte er nicht mehr. Das seltsame Phänomen hatte bereits die Seiten erreicht und kroch nun an den Rändern hinauf. Askea blieb nur noch wenig unberührtes Wasser.

Ich sah, wie er einen Stein im Abhang packte, um sich dort hinauf zu ziehen, doch der Sand war so lose, dass er einfach herausbrach. Er sprang, um die obere Kante zu erreichen. Der Sand löste sich und rieselte auf ihn herunter. Hektisch drehte er sich um die eigene Achse, um einen Fluchtweg zu finden, doch das rote Wasser trieb immer weiter auf ihn zu. Er wusste nicht, was bei einer Berührung damit geschehen würde, und er wollte es auch gar nicht wissen. Der einzige Ausweg, der ihm blieb, war der steile Abhang. Aber den würde er niemals erklimmen können – nicht mit dem zusätzlichen Gewicht von Fax auf dem Rücken.

Ich erhob mich auf die Beine. So also würde der Dämon für den Mord an meiner Freundin bezahlen. Und auch Fax. Ein unschuldiges Kind.

„Verdammt.“ Manchmal war ein Gewissen wirklich das Letzte. Wütend auf mich und diese Situation, rannte ich los. Immer oben am Abhang entlang. Guardian schoss aus seinem Versteck hervor und wetzte mir zirpend hinterher.

Ich ließ Askea keinen Moment aus den Augen. Die Blasen und die rote Färbung hatten sich ihm bis auf wenige Meter genährt. Noch konnte ich es schaffen.

Mein Herz trommelte wie wild in meiner Brust. Nur noch ein kurzes Stück, dann warf ich mich aus dem Lauf in den Sand, sodass ich halb mit dem Kopf in die Tiefe blicken konnte.

Guardian zirpte aufgeregt neben mir.

„Gib ihn mir!“, forderte ich Askea auf und streckte ihm die Arme entgegen.

Der Dämon zögerte keinen Moment, riss den Kleinen von seinem Rücken und hielt ihn mir entgegen.

Ich griff nach Fax‘ dünnen Ärmchen. „Halt dich fest!“, forderte ich ihn auf und zog ihn nach oben. Zum Glück war er so ein schmächtiges Kerlchen. Der Rand vor mir bröckelte zwar ein wenig in die Tiefe, doch es machte mir keine Probleme, ihn über die Kante zu ziehen.

Ich rutschte weg vom Rand, zog ihn mit mir und schob ihn hinter mich. Die Blasen in der Mitte wurden immer größer. Die ganze Senke war blutrot. Selbst der Sand drum herum begann sich einzufärben.

Fax klammerte sich an mein Bein, während wir auf die Stelle starrten, an der ich ihn hinaufgezogen hatte. Askea war noch dort unten, doch ich trat kein zweites Mal an den Rand.

In mir tobte ein Krieg der Gefühle. Zwiespalt, Gewissen, Rache, Angst.

Doch dann tauchte eine rote Hand am Rand auf. Ihr folgte Askeas Kopf.

In der Mitte der Senke blähte sich eine riesige Blase auf. Sie wuchs und wuchs, bis sie größer als die Felsen war.

Vorsorglich wichen wir ein paar Schritte zurück, doch mit dem, was dann geschah, hätte ich niemals gerechnet.

Die Blase platzte auf und erzeugte dabei eine solche Druckwelle, dass Fax und ich nach hinten geschleudert wurden.

Askea jedoch verlieh das den Schub, den er brauchte, um aus der Gefahrenzone zu kommen. Er wurde einfach nach vorne katapultiert und landete in einer Sandfontäne neben uns.

Das rote Wasser spritzte wie ein Geysir in die Höhe. Tausende Wassertropfen lösten sich von ihm und spritzten meterweit über den Rand – direkt auf uns zu.

Ich riss Fax schützend in meine Arme und machte mich auf das gefasst, was dort kam.

Mein Herz sprang mir fast aus der Brust, meine Augen waren zusammengekniffen, aber es geschah nichts. Mein Atem ging hektisch. Ich wartete und wartete, aber da war nichts.

Sehr vorsichtig öffnete ich die Augen und hob den Kopf.

Askea hatte sich umgedreht und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den roten Geysir, der wie Eis erstarrt war. Blutrote Tropfen hingen einfach in der Luft. Es war, als hätte die Zeit die Vorkommnisse eingefroren, damit wir sie aus jedem Winkel betrachten konnten.

Sehr langsam lockerte ich meinen schützenden Griff um Fax. Dann saßen wir drei einfach nur da und starrten dieses Phänomen an. Das Wasser war zu Eis geworden, mitten in der Wüste.

„Ist es tot?“, fragte der Kleine.

In dem Moment gab der Geysir ein Zischen von sich, das uns alle zusammenzucken ließ. Plötzlich stieg eine dünne Rauchsäule aus der Mitte auf und zog in beständigen Schwaden gen Himmel. Blutroter Nebel. Unaufhaltsam stieg er höher und bildete eine unheilverkündende Wolke, die einen düsteren Schatten über uns warf.

„Es ist Zeit, dass wir gehen“, sagte Askea bestimmt und erhob sich vom Boden. Die Wolke ließ er keinen Moment aus den Augen.

Ich löste meine Arme von Fax und flehte darum, dass meine Beine mir gehorchten. Als Fax in Gefahr war, war Askea abgelenkt gewesen, doch jetzt war diese Situation vorbei. Warum nur war ich ihnen zur Hilfe geeilt, anstatt mich aus dem Staub zu machen? Ich hätte zu den Jägern zurückgehen können, um ihnen zu zeigen, wo Askea sich befand. Aber dieser Gedanke war mir gar nicht gekommen.

So leise es mir möglich war, erhob ich mich. Solange er die Wolke anstarrte, hatte ich vielleicht noch eine Chance. Doch kaum war ich einen Schritt vor ihm zurückgewichen, drehte er sich zu mir um und bedachte mich mit einem eindringlichen Blick. Konnte er etwa spüren, was ich tat?

„Das wir schließt dich mit ein.“

„Ich werde nicht mit dir mitgehen. Du kannst mich nicht zwingen.“ Wenigstens diese Gewissheit hatte ich.

Askea kniff die Augen leicht zusammen. „Glaubst du das wirklich?“

Was meinte er damit? Hatte Amir gelogen? Ich wich noch einen Schritt vor ihm zurück.

Sofort kam Askea auf mich zu. Ich versuchte noch, ihm auszuweichen, als er nach mir griff, doch er bewegte sich zu schnell. Mit einem Ruck riss er mich an sich heran und packte mich auch noch am anderen Arm.

Ich wollte mich wehren, wollte nach ihm treten, doch es war genau wie der Moment, als ich vor ihm geflohen war. Das Mal auf meiner Schulter pulsierte leicht und hinderte mich an meinen Taten. Es war, als wäre ich eine Gefangene in meinem eigenen Körper.

„Einmal habe ich zugelassen, dass du mich angreifst. Es war das einzige Mal.“

„Du kannst mir deinen Willen nicht aufzwingen.“ Das durfte einfach nicht sein.

„Nein, das kann ich nicht, aber ich bin dir körperlich immer noch überlegen.“

Oh Gott, nein. Nein, nein, nein.

„Du kannst es dir aussuchen. Entweder du kommst freiwillig mit oder ich zerre dich hinter mir her. So oder so, du bleibst bei mir und Fax.“

Mein Atem wurde hektischer. Das konnte er doch nicht machen! Erneut versuchte ich mich zu wehren, aber Arme und Beine wollten mir einfach nicht gehorchen.

„Wie du willst.“ Für einen kurzen Moment ließ er mich los. Dann packte er mich am Handgelenk und begann mich hinter sich her zu ziehen.

Er wollte mich mitnehmen, der Dämon, der meine Freundin getötet hatte, versuchte nun, mich zu versklaven, denn nichts anderes war es, was er hier tat. Meine Panik brach sich bahn. Was würde er mit mir tun? Ich begann zu zittern, spürte wie meine Magie aufstieg und noch bevor ich es verhindern konnte, brach sie in seiner solch kraftvollen Woge aus mir hervor, dass ich glaubte, sie würde mich zerreißen.

Ich spürte den Schmerz, hörte noch Askeas überraschten Ausruf. Dann wurde alles schwarz.

 

°°°

 

Mein Kopf fühlte sich schwer wie Blei an und meine Augen waren wie zugeklebt. Mein Hirn schien nur noch aus Watte zu bestehen und trotzdem war da dieses Drängen, das mich zwang zu erwachen. Ich wollte nicht, aber ich musste, auch wenn ich nicht wusste, warum das so war.

Trotzdem dauerte es seine Zeit, bis ich es schaffte, müde in das diffuse Licht zu blinzeln. Ein Gefühl von Déjà-vu überkam mich. Direkt vor mir war eine unregelmäßige Wand aus dunklem Stein, die mit Partikeln von Katzengold gespickt war.

Dieser Anblick erinnerte mich so sehr an meinen ersten Tag in der magischen Welt, dass ich die Augen wieder schloss. Ich musste träumen. Ich konnte nicht wieder in dieser Höhle sein. Davon abgesehen, dass die Einhörner sie praktisch ausgebrannt hatten, wie sollte ich dort hingekommen sein?

Doch als ich die Augen zum zweiten Mal öffnete, hatte das Bild sich nicht geändert. Die raue Wand war noch immer da.

Verwundert richtete ich mich ein wenig auf und stellte fest, dass ich auf einem Lager aus gestapelten Tierfellen lag. Sie rochen ein wenig muffig, aber sie waren warm und weich. Leider half mir das nicht bei einer Erkenntnis, wie ich hierhergekommen war. Und auch noch, wo hier überhaupt war.

Da sich der Nebel in meinem Kopf noch immer nicht richtig lichten wollte, drehte ich mich herum und betrachtete auf die Arme gestützt meine Umgebung. Ich befand mich in einer Höhle – eindeutig. Doch es war nicht die Höhle, in der ich an meinem ersten Tag erwacht war.

Diese hier war viel kleiner und viel … voller.

Oben in der Decke war ein kleiner Rauchabzug – direkt über einer ausgebrannten Feuerstelle. Das Felllager befand sich etwa zwei Meter links davon. Hinten gab es eine kleine Nische, in der ich weitere Felle entdeckte, doch durch die aufragenden Stalagmiten war sie kaum zu erkennen. Genau wie das schiefe Regal mit den Töpfen und braunen Stoffen darin. Nein, das waren keine Stoffe, das war Kleidung – Kleidung wie Askea und Fax sie trugen.

Der Gedanke an die beiden brachte die ganze verdrängte Erinnerung mit einem Schlag wieder zurück.

Du gehörst nun mir.

Mit einem Ruck saß ich aufrecht. Panik wallte in mir auf. Askea … er hatte mich gebrannt und dann gegen meinen Willen mitgenommen. Er hatte mich entführt. Hastig sprang ich auf die Beine und ließ meinen Blick auf der Suche nach dem Ausgang hin und her sausen. Aber ich sah ihn nicht. Da war nur Gerümpel, ein wackliger Stuhl und … Waffen.

Als ich ihrer ansichtig wurde, stürzte ich darauf zu, doch sofort sah ich, dass es sich dabei um kaputte Dolche aus alten Knochen und abgebrochenen Steinspitzen handelte. Da war nichts Brauchbares dabei. Und mein Messer … ich hatte es in den See fallen lassen. Verdammt!

Noch immer sah ich nichts außer Stalaktiten und Stalagmiten. Sie machten aus dieser kleinen Höhle fast einen Irrgarten.

„Geht es dir gut?“

Die leise Stimme ließ mich herumwirbeln.

Hinter einem der Stalagmiten spähte Fax hervor. Er saß in der hinteren Nische und spielte mit irgendwas in seinen Händen herum. Wie hatte ich ihn übersehen können?

„Tia?“

Ich schüttelte den Kopf und wich zurück. Doch schon allzu bald spürte ich die Wand in meinem Rücken. Eingesperrt, gefangen. Ich kam hier nicht weg.

Fax legte sein Spielzeug hin und stand auf. In seinem Gesicht hatten sich kleine Sorgenfalten gebildet. „Soll ich Papá holen?“

Askea. Er war nicht hier. Ich war mit Fax alleine. „Wo ist er, wo ist dein Papá?“

Die kleinen Falten in seinem Gesicht vertieften sich. Er musste die Panik in meiner Stimme gehört haben. „Er ist draußen und bereitet das Essen vor. Soll ich ihn holen?“

„Nein!“ Verdammt, das war zu schnell gekommen. Beruhig dich. Los, krieg dich ein! Ich atmete tief durch, zwang mich, meine Panik zu verstecken, und setzte ein zittriges Lächeln auf. „Ich meine, nein, wir sollten ihn nicht stören.“ Solange Askea draußen war, hatte ich vielleicht eine Chance zu entkommen. Eine sehr geringe, aber sie war vorhanden.

Fax kam aus seiner Nische heraus und schaute mit großen Augen zu mir auf. „Ist mit dir alles in Ordnung? Wir haben Wasser, willst du etwas?“ Er machte bereits einen Schritt von mir weg, als ich ihn am Arm packte.

„Nein, ich brauche kein Wasser, aber ich würde gerne etwas frische Luft schnappen. Kannst du mir zeigen, wo der Ausgang ist?“

„Ja.“ Er drehte sich um und zeigte auf einen Fleck neben dem Regal. „Da geht es raus.“

Ich runzelte die Stirn, denn das Gestein dort sah genauso aus wie der Rest der Höhle. Rau und robust. „Der Ausgang ist in der Wand?“

Das ließ den Jungen grinsen. „Nein, du Dummchen. Die Wand verdeckt ihn. Komm, ich zeig es dir.“ Er nahm meine Hand und zog mich um den Stalagmiten herum. Es waren nur ein paar Meter und als wir uns dann neben dem Regal befanden, verstand ich auch, warum ich den Ausgang nicht sofort gesehen hatte. Es war eine Sache der Perspektive. Von dort hinten sah es so aus, als wäre es eine Wand, doch das war es gar nicht. Es waren zwei Wände, die sich überlappten. Zwischen ihnen war ein schmaler Gang, gerade breit genug, um einen Erwachsenen bequem durchzulassen. Am anderen Ende konnte ich das Licht der Wüstensonnen sehen.

Freiheit.

Ich machte einen Schritt darauf zu, blieb im nächsten Moment jedoch wie angewurzelt stehen, den Askea wählte diesen Moment, um die Höhle zu betreten.

Er bemerkte mich, hielt einen kurzen Augenblick inne und kam dann mit gleichgültiger Miene auf mich zu. „Du bist wach.“

Ich wich vor ihm zurück. Zwei Schritte, drei. Mein Blick war auf den formlosen Klumpen in seiner Hand gerichtet. Und auf das Blut, das dort an seiner Haut klebte.

Hinter ihm hüpfte Guardian durch den Gang und versuchte immer wieder, nach dem formlosen Klumpen zu schnappen, doch Askea hielt ihn zu hoch. Mit seinen kurzen Beinchen kam er einfach nicht ran.

„Fax, hol einen Topf“, befahl Askea und blieb dann genau vor mir stehen.

Ich schluckte. Das, was er da in der Hand hielt … es war ein gehäutetes Tier.

Er ist draußen und bereitet das Essen vor.

Dann war das wohl das Abendessen.

„Du stehst mir im Weg.“

Hastig wich ich einige Schritte vor ihm zurück. Mein Herz schlug wie verrückt, als er mich wortlos passierte und das gehäutete Tier neben die Feuerstelle legte.

Guardian setzte sich direkt daneben und leckte sich die Lefzen, wagte es aber nicht, auch nur einen Bissen zu nehmen. Stattdessen begnügte er sich damit, Askea anzuzirpen und geduldig darauf zu warten, etwas abzubekommen.

Ich starrte meinen kleinen Wächter an und ließ den Blick dann zum Ausgang wandern. Niemand stand mir im Weg. Ich musste nur …

„Du kannst dich frei bewegen“, sagte Askea und hockte sich vor die Feuerstelle. „Wenn du möchtest, kannst du auch rausgehen, denn du bist meine Gefährtin und keine Gefangene. Aber solltest du versuchen wegzulaufen, dann werde ich dich zurückholen, denn du gehörst mir.“ Völlig ruhig kamen diese Worte über seine Lippen, während er damit beschäftig war, in der kleinen Kuhle ein Feuer zu entfachen – als Rubin fiel ihm das nicht besonders schwer.

Ich machte einen Schritt auf den Ausgang zu. Mein einziger Gedanke war, hier so schnell wie möglich zu verschwinden, doch schon beim nächsten Schritt begann die Markierung auf meiner Schulter zu pulsieren und meine Glieder versteiften sich.

Ich biss die Zähne zusammen und versuchte dagegen anzukämpfen. Schweiß brach mir aus, meine ganze Muskulatur verkrampfte sich und auch, wenn es nicht wehtat, schrie ich innerlich. Ich konnte nicht gehen, er ließ mich nicht.

Meine Augen brannten.

„Ich kann deine Gedanken spüren, Tia“, sagte Askea leise. Sein ruhiger Blick war auf mich gerichtet. „Dabei ist es egal, ob du bei mir in der Höhle bist oder hundert Kilometer weit weg. Ich spüre dich, denn ich bin nun ein Teil von dir.“

Ich kniff meine Augen zusammen und hoffte, dass das alles nur ein riesengroßer Alptraum war, aus dem ich jeden Moment erwachte. Doch ich blieb in dieser Höhle und ich spürte auch weiterhin seinen durchdringend ruhigen Blick auf mir.

„Wie?“, fragte ich leise. „Wie ist das möglich?“ Wie konnte Magie so etwas ausrichten?

Askea wandte sich von mir ab und griff nach dem Topf, den Fax ihm reichte. Er stand auf und befüllte ihn mit Wasser aus einem Fass in der Ecke. Dann platzierte er ihn über dem Feuer und ließ das kleine, gehäutete Tier hineinfallen.

Guardian sah schmachtend dabei zu, wie sein Leckerli schwimmen lernte.

„Antworte mir!“, forderte ich Askea auf und wirbelte zu ihm herum. „Sag mir, wie das möglich ist!“

Von meinem Ausbruch völlig unbeeindruckt, ließ er sich in den Schneidersitz fallen und schaute zu mir rüber. „Meine Magie macht es möglich. Ich habe einen Teil meiner Essenz in dich geleitet und nun beginnt sie sich mit deiner zu vereinigen.“

„Beginnt?“ Hieß das, der Vorgang war noch nicht abgeschlossen? Konnte ich seinen Klauen doch noch entkommen?

Er schnaubte, als wüsste er nur zu genau, was ich dachte. „Mach dir keine falschen Hoffnungen. Es ist wahr, dieser Prozess dauert ein paar Tage, in denen ich dich immer wieder brennen muss – besonders, weil du keine Dämonin bist. Aber es wird nicht mehr viel ändern. Es dient nur dazu, die Verbindung zu festigen.“ Sein Blick traf meinen. „Du bleibst bei mir.“

Diese Worte, sie schienen so endgültig zu sein. Eine Träne rollte mir über die Wange. „Aber das ist nicht möglich“, sagte ich leise. „Ich bin keine Dämonin und … und die Fesseln! Sie hätten dich daran hindern müssen, Magie auszuüben. Warum haben sie dich nicht daran gehindert?“ Warum hatten sie zugelassen, dass er mich an sich band?

„Die Fesseln der Jäger.“ Er starrte auf seine Handgelenke. Sie waren wund und aufgeschürft. Sie mussten höllisch wehtun. „Die Fesseln sind auf die Elementarmagie der Dämonen ausgerichtet. Aber das Brennen ist etwas ganz anderes, etwas, das die Jäger niemals verstehen werden. Es geht viel tiefer als oberflächliche Magie.“

„Etwas anderes?“

„Es ist die Essenz des Seins. Das Brennen sind wir selbst.“

Das klang ja fast, als hätte er ein Stück seiner Seele in mich hineingestopft, um mich kontrollieren zu können. Nun würde sein Seelenstück damit beginnen, in jede meiner Zellen einzudringen, um mich für immer zu seinem Eigentum zu machen.

Eine weitere Träne löste sich. „Das kannst du nicht machen.“

„Ich habe es bereits gemacht, also finde dich damit ab. Du bleibst bei mir und Fax.“

Ich schaute zu dem kleinen Jungen, der auf der anderen Seite des Lagerfeuers saß und ins Wasser starrte, als würde er darauf warten, dass es zu kochen begann. Aber seine Ohren waren gespitzt und sein Blick huschte immer mal wieder zu mir oder seinem Vater.

„Ich bin nicht seine Mutter.“

„Aber du hast dich um ihn gekümmert. Du hast es ihm versprochen. Du hast ihm versprochen, auf ihn aufzupassen. Er hat es mir gesagt. Willst du das bestreiten?“

Nun war auch Fax‘ Blick auf mich gerichtet, diese traurigen Augen, die sich verzweifelt an etwas klammerten, das ihm gesagt wurde.

„Aber … so habe ich das nicht gemeint!“ Ich hob die Hände und fuhr mir damit durch die Haare. Wären sie nicht festgewachsen, hätte ich sie mir in dem Moment vermutlich ausgerissen. „Ich kann nicht bei dir bleiben, ich kann nicht deine Gefährtin werden, du bist ein Monster! Du hast meine Freundin getötet!“

Dieser Vorwurf ließ ihn völlig kalt. „Ich habe es dir schon einmal gesagt und ich sage es dir gerne noch einmal. Ich habe die Hexe nicht angerührt. Ich weiß nicht, was passiert ist, ich weiß nur, dass ich nichts damit zu tun hatte.“

„Natürlich warst du es, wer soll es denn sonst gewesen sein?!“

Ruckartig fuhr Askea auf und stand so plötzlich vor mir, dass ich zurückwich. Doch seine schiere Präsenz reichte aus, um mir das Gefühl zu geben, dass er mir immer noch viel zu nahe war. „Ich weiß nicht, wer sie getötet hat, aber ich war es nicht. Nachdem Fax die Fesseln gelöst hat, bin ich mit ihm so schnell wie möglich weggerannt, denn auch, wenn du es vielleicht nicht glaubst, ich hänge an meinem Leben und wollte die Gastfreundschaft der Jäger kein zweites Mal in Anspruch nehmen.“ Er trat einen Schritt näher und drang damit in meinen persönlichen Bereich ein. „Außerdem hätte mich diese Hexe garantiert nicht so nahe an sich rangelassen, dass ich sie hätte töten können.“

„Mit deinem Feuer hättest du sie auch aus der Entfernung töten können!“

„Um durch ihre Schreie das ganze Lager zu wecken?!“

Mein Mund klappte zu. Er hatte Recht. Außerdem hatte ich an Ashas Körper keine Brandwunden gesehen. Es hatte eher nach Stichwunden ausgesehen. Aber … „Wenn du es nicht warst, wer war es dann?!“

„Woher soll ich das wissen? Vielleicht hat Davesh sich ja einen Spaß daraus gemacht, sich an den Jägern zu rächen, aber ich war es nicht.“

Davesh. Verdammt, den Saphir hatte ich ja völlig vergessen. Aber er war so schwach gewesen, er hätte es niemals geschafft, Asha zu überwältigen. Oder? Nein. Ich konnte nicht glauben, dass Davesh das war. Im Grunde konnte ich von dem, was Askea gesagt hatte, überhaupt nichts glauben. Er war ein Dämon und er log. Jedes Wort, das seinen Mund verließ, war eine Lüge.

Bis auf das Brennen.

Ich drückte die Lippen zu einem festen Strich zusammen.

„Ich weiß, dass es für dich nicht ganz leicht zu verstehen ist, aber ich bin nicht so geduldig wie andere Männer. Denn auch, wenn ich nicht das Monster bin, als das die Jäger mich hingestellt haben, so bin ich immer noch ein Dämon. Deswegen sage ich es dir jetzt ein letztes Mal: ich habe die Hexe nicht getötet. Ich weiß nicht, was passiert ist, und um ehrlich zu sein, interessiert es mich auch nicht besonders, aber …“

„Sie war meine Freundin, du Scheusal!“ Ich versuchte die Träne auf meiner Wange gar nicht erst zu verstecken, als der Schmerz über Ashas Tod wieder in mir aufwallte. „Sie hat mir etwas bedeutet und nun ist sie tot, getötet von einem Ungeheuer!“

Askea kniff die Augen leicht zusammen. „Das mag sein, aber dieses Ungeheuer bin nicht ich.“

„Du lügst!“

Mit einem Knurren wandte Askea sich von mir ab und stiefelte zum Regal. „Ich weiß nicht, warum die Jäger versuchen, die Dämonen auszulöschen, und jedem weismachen, dass wir das wandelnde Böse sind, aber keiner von uns ist ein Ungeheuer. Nicht ich, nicht Davesh und auch nicht Fax.“ Er zog eine Schüssel samt Mörser aus dem Regal und auch eine weiße Umhängetasche – meine Umhängetasche. „Vor Jahren haben sie grundlos begonnen, Jagd auf uns zu machen, und Leute um sich geschart, um auch den letzten von uns zu erwischen.“ Er drehte sich zu mir herum und warf mir meine Tasche zu. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als sie aufzufangen, bevor sie mich im Gesicht traf. „Die habe ich gefunden. Dein Glatisant muss sie verloren haben.“

Damit ließ er mich stehen und setzte sich wieder auf seinen Platz am Lagerfeuer.

„Die Dämonen haben Mortatia getötet.“ Ich klammerte mich an meine Tasche. „Das ist der Grund, warum sie euch jagen. Weil ihr Monster seid.“

„Es gibt auch Hexen, die andere Mortatia getötet haben. Und Elfen, Serpens, Magier, Lykaner. Die Liste ist endlos. Wenn es danach ginge, müsste jedes Wesen dieser Welt ausgelöscht werden, denn in jedem von uns lauert etwas Dunkles.“

Jedes Wort blieb mir im Halse stecken. War das nicht genau das, was ich vor ein paar Tagen selbst noch gedacht hatte? Aber … das konnte einfach nicht sein. Warum nur beharrte Askea so darauf, dass er nichts mit dem Mord an Asha zu tun hatte? Was versprach er sich davon? Glaubte er wirklich, dass ich ihm dann irgendwann vertrauen würde? Dass ich seine Lügen nicht durchschaute?

Selbst jetzt, in diesem Moment, als er einen Beutel von seinem Gürtel band und frische Kräuter daraus hervorzog, um sie in der Schüssel mit dem Mörser zu zerkleinern, konnte ich die Gefahr spüren, die von ihm ausging. Es war wie eine ständige Aura, die ihn umgab, etwas Ursprüngliches, das tief in ihm verankert war. Trotzdem gab es da einen ganz kleinen Teil von mir, der sich wünschte, ihm glauben zu können.

Warum? Was stimmte denn nicht mit mir?

„Du brauchst nicht weinen“, sagte Fax auf einmal. „Papá sagt immer, weinen ist nur was für Babys, und du bist kein Baby.“

Ich schaute ihn an, schaffte es aber nicht zu lächeln, denn mir stand nur zu klar vor Augen, dass ich an diesen Dämon gekettet war. Ich saß hier mit dem Mörder meiner Freundin fest und konnte nichts dagegen tun.

Langsam gaben meine Beine unter mir nach. Ich rutschte an der Wand hinunter und drückte meine Tasche fest an meine Brust.

Weinen war etwas für Babys. Aber laut Amir war ich doch genau das – nichts weiter als ein Baby. Ich zog meine Beine fest an meinen Körper und versteckte meinen Kopf in meinen Armen. Gestern hatte ich geglaubt, ich hätte alles verloren, doch erst jetzt, als mir auch noch meine Freiheit genommen wurde, verstand ich erst, was diese Worte bedeuteten.

Der Schmerz, mein Versagen, Ashas Tod, alles wallte in mir auf und nicht einmal meine Tränen konnten dem Ausdruck verleihen, was ich im Moment empfand. Ich fühlte mich einfach nur … verloren. Alles war weg, nichts war mehr richtig. Jeder Satz, jedes Wort war zu viel und die Stille einfach unerträglich.

Dieser Schmerz, es tat so weh. Ich hatte keine Wunde, doch der Kummer riss mich einfach in ein bodenloses Loch, aus dem ich kein Entkommen sah.

Ich weinte. Ich weinte bittere Tränen. Um alles und jeden, den ich verloren hatte.

Mein Schluchzen war das einzige Geräusch, das die Höhle erfüllte, und doch konnte dieser Klang mein Leid nicht mal im Ansatz erfassen. Alles war so schrecklich schiefgegangen. Nichts fühlte sich mehr richtig an. Jeder schien mich nur zu belügen und langsam aber sicher spürte ich, wie meine Herz daran zerbrach.

Doch dann war da plötzlich eine kleine Hand. Ich fühlte die Berührung an meinem Arm und als ich den Kopf hob, konnte ich Fax‘ Gesicht durch den Tränenschleier erkennen.

Auch in seinen Augen wohnte der Kummer. Kummer, den kein Kind in seinem Alter haben sollte. Trotzdem war er hier und reichte mir seine Hand.

Ich wusste nicht, wie ich die Kraft dazu aufbrachte, meine Arme von meinen Beinen zu lösen. Aber ich schaffte es, legte meine Tasche zur Seite und zog den kleinen Jungen auf meinen Schoß.

Noch vor ein paar Tagen war ich es gewesen, die ihn getröstet hatte, und nun schien allein seine Gegenwart mir Kraft zu geben.

Ich schlang meine Arme um ihn und zog ihn ganz dicht an mich heran. Er legte einfach nur seinen Kopf an meine Schulter und hob eine Hand, um mir die Tränen vom Gesicht zu wischen.

Fax war nur ein Kind, doch in diesem Moment schien er der einzige zu sein, der meinen Kummer ein wenig lindern konnte. Trotzdem dauerte es noch ein Weilchen, bevor auch die letzte Träne aus meinem Gesicht verschwand.

Ich blieb einfach sitzen und klammerte mich an diesen kleinen Jungen. Meine Augen fühlten sich geschwollen an und der Knoten aus Schmerz in meiner Brust wollte sich einfach nicht lösen, doch meine Tränen waren versiegt und mein Schluchzen verstummt.

Nun waren die einzigen Geräusche in der Höhle das Blubbern des Wassers und das Knirschen des Mörsers.

Stumm schaute ich dabei zu, wie Askea auch noch die restlichen Kräuter zu einer Paste zerrieb, doch im Gegensatz zu meiner ersten Annahme waren die Kräuter nicht für das Essen gedacht. Als die Paste fertig war, schmierte er sich damit vorsichtig die Handgelenke ein. Und nicht nur die. Auch seine Schultern behandelte er behutsam. Dabei verzog er das Gesicht, als würde es ihn schmerzen.

Natürlich. Auch wenn er durch meine Heilung äußerlich wieder intakt war, so hatte die Zeit bei den Jägern doch ihre Spuren an ihm hinterlassen. Fast zwei Wochen waren ihm die Arme über den Kopf geschnürt gewesen. Auch die dauernde Sitzhaltung konnte nicht angenehm gewesen sein.

Trotzdem zeigte er keine Schwäche. Am Teich hatte er gehandelt ohne nachzudenken. Und auch am Pfahlplatz, als er mich gebrannt hatte.

Falls Askea mitbekam, dass ich ihn beobachtete, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er zog sich die fransige Lederweste aus und rieb alle erreichbaren Stellen mit der Paste ein. Es dauerte nicht lange, da war die rote Haut mit einem grünlichen Film bedeckt.

Wäre diese Situation nicht zum Verzweifeln, dann hätte ich vielleicht sogar gelacht – aber nur vielleicht. Aber so, wie die Dinge nun einmal standen, schaute ich einfach still dabei zu, wie er seine Behandlung beendete und die Schale mit der Salbe im Regel gegen einen kleinen Tiegel und drei runde, flache Bretter austauschte.

Mit diesen Sachen setzte er sich wieder an die Kochstelle und angelte das Essen doch wirklich mit bloßer Hand aus dem kochenden Wasser. Das waren dann wohl die Vorteile, wenn man ein Rubin war. Hitze schien ihn nicht zu stören – jedenfalls nicht für einen so kurzen Moment.

Er zerteilte das Essen in drei Teile und legte sie auf die runden Holzscheiben. Während er damit begann, den Tiegel zu öffnen und etwas von dem Pulver darin über das Essen zu streuen, erhob sich Guardian von seinem Wachposten und schlich aufgeregt um Askea herum. Doch der beachtete ihn immer noch nicht. Auch Guardians Zirpen schien ihn nicht weiter zu stören. Oder als er sogar mit der Pfote neben ihm scharrte.

„Kommt her und esst“, befahl Askea und verschraubte den Tiegel wieder.

Fax erhob sich sofort von meinem Schoß, schnappte sich seinen Teller und begann Fleischstückchen abzureißen und sich in den Mund zu stopfen, als hätte er den ganzen Tag noch nichts gegessen. Wahrscheinlich entsprach das sogar den Tatsachen.

Als er bemerkte, dass ich ihn beobachtete, grinste er mich auf eine so entzückende Weise an, dass meine Mundwinkel sich von ganz alleine hoben. „Komm her, das ist lecker.“

Ich schüttelte den Kopf. Selbst wenn ich Hunger gehabt hätte, bezweifelte ich, dass ich etwas hätte essen können.

„Möchtest du denn nichts?“

„Nein. Iss du ruhig.“

Sein Blick huschte zu meinem Teller und dann zu seinem Vater. Aber der konzentrierte sich allein auf die Aufgabe, das Fleisch von seinem Knochen zu nagen.

Ich sah den Kleinen zögern und dann noch mal einen Blick zwischen mir und seinem Vater wechseln, bevor er nach dem zweiten Teller griff und ihn zu sich heranzog.

Von da an waren nur noch die Kaugeräusche der beiden zu hören. Askea war natürlich vor ihm fertig und schob seinen Teller mit den abgenagten Knochen Guardian hin. Der ließ sich nicht zweimal bitten, schnappte sich gleich den größten Knochen und rannte damit in die hinterste Ecke. Dort ließ er sich nieder und nagte knurrend an dem Knochen herum.

„Bring die Reste raus und vergrab sie, wenn du fertig bist“, wies Askea seinen Sohn an und erhob sich.

Fiel es dem Mann wirklich so schwer, bitte zu sagen?

Fax konnte nur nicken, denn er war mit seinem Essen viel zu beschäftigt, um etwas anderes zu tun.

„Und dann gehst du schlafen. Wir haben morgen einen langen Weg vor uns“, fügte er noch hinzu.

Moment, was meinte er mit langen Weg? Misstrauisch beobachtete ich, wie er erneut zum Regal ging und dort einige der Kleidungsstücke herausnahm. Als er sich damit zu mir umdrehte und direkt auf mich zukam, spannte ich meinen ganzen Körper an. Sollte er mir zu nahe kommen, dann würde er etwas erleben. Ich würde es kein weiteres Mal zulassen, dass er mich brannte.

Doch als ich nach meiner Magie greifen wollte, musste ich feststellen, dass sie nicht erwachte. Erschrocken sah ich zu ihm auf. Das Mal auf meiner Schulter pulsierte. Er blockierte meine Magie.

„Die Verbindung wird stärker“, sagte er leise und hockte sich vor mich. „Hier“, er hielt mir die Kleidungsstücke entgegen. „Zieh die an.“

Er wollte, dass ich mich umzog? Hier? Jetzt? Vor ihm?! „Danke, aber ich glaube, ich behalt meine Sachen.“

„Nein, das wirst du nicht. Ich will dich nicht länger in der Kleidung der Jäger sehen.“

„Ach so. Und nur deswegen soll ich jetzt strippen, oder was?“

Er runzelte leicht die Stirn. „Die Kleidung ist weiß. In der Wüste ist sie viel zu auffällig. Außerdem kannst du sie dort, wo wir morgen hingehen, nicht tragen. Es wird so schon schwierig genug.“

„Wo wir morgen hingehen?“ Jetzt war es an mir, die Stirn in Falten zu legen. Wie er das sagte - das gefiel mir gar nicht. „Wo gehen wir denn hin?“

„Das wirst du dann sehen, aber hier können wir nicht bleiben. Die Jäger suchen nach mir und wahrscheinlich auch nach dir. Hier sind wie ein zu leichtes Ziel. Es wird nicht lange dauern, bis sie uns finden. Hier.“ Er hielt mir die Kleidung nachdrücklicher hin, doch ich weigerte mich noch immer sie anzunehmen. Davon abgesehen, dass er mir nichts zu sagen hatte, schien die Kleidung der Jäger für mich plötzlich zu einem Symbol zu werden. Sie machte den Unterschied zwischen uns beiden nur noch deutlicher. Auch wenn es nur eine kleine Rebellion war, die im Grunde nichts bedeutete, so wollte ich mich an sie klammern. Ich würde die Sachen nicht ausziehen.

Askea und ich starrten uns immer noch an, als Fax sein Mahl beendete und mit den Resten an uns vorbei aus der Höhle marschierte. Guardian sprang sofort auf und rannte ihm hinterher. Dabei himmelte er den Jungen auf eine Art an, die jeden verstehen ließ, dass er es nur auf einen weiteren Knochen abgesehen hatte.

„Nun gut“, sagte Askea, als Guardians Zirpen in der Höhle verhallte, und legte die Kleidung neben mich auf den Boden. Doch dann wollte er nach meiner Schulter greifen.

Reflexartig hob ich meine Hand, um seine wegzuschlagen, doch auf halbem Weg stoppte sie einfach und ich konnte sie nicht mehr bewegen. Nein!

„Es wird nicht wehtun“, sagte Askea leise und packte meinen Halsausschnitt mit beiden Händen. Dann gab es ein Ritsch und meine Schulter lag bis zu meinem Ellenbogen frei.

Erschrocken riss ich die Hände vor die Brust. Er hatte meine Tunika zerrissen und nun lag die Markierung frei.

„Es wird nicht wehtun“, wiederholte er und beugte sich vor.

„Es tut immer weh!“, schrie ich ihn an und zuckte zusammen, als sein warmer Atem meine Haut streifte.

„Das ist nur die ersten Male so. Ich verspreche dir, dass es nicht wehtun wird. Mit der Zeit wirst du es sogar als angenehm empfinden und Gefallen daran haben.“

Das bezweifelte ich doch sehr stark. „Bitte, tu es nicht. Bitte.“

Mein Flehen schien ihn nicht zu berühren, denn schon im nächsten Moment spürte ich seinen Mund auf meinem Mal und wieder flutete die Hitze in mich hinein.

Alle meine Muskeln spannten sich an und nicht nur mein Atem beschleunigte sich, doch der Schmerz … er blieb aus. Es war, als würde warme Luft in meinen Körper fließen, mein Innerstes umwehen und jede Zelle mit ihrer Hitze wärmen. Es war ein seltsames Gefühl. Nicht angenehm, aber leider auch nicht unangenehm.

Ich kniff die Augen zusammen und hoffte, dass es einfach nur schnell vorbei war, doch dieses Mal ließ Askea sich Zeit. Dabei war er mir viel zu nahe.

Ich bekam kaum mit, wie Fax zurückkam und sich nach einem kurzen Blick auf uns nach hinten in die kleine Nische verzog. Es schien Stunden zu dauern, bis Askea der Meinung war, dass es genügte, und sich von mir löste.

„Geh schlafen“, forderte er mich auf und erhob sich. „Falls du etwas willst, ich bin draußen.“ Und damit verließ er die Höhle einfach.

Ich konnte ihm nur hinterherstarren und mich fragen: Warum? Warum tat er mir das an? Warum musste es mich treffen? Nicht dass ich das einer anderen Frau wünschte, aber warum nur musste mir das passieren?

Ich wartete darauf, dass die Tränen wieder kamen, doch meine Augen blieben trocken.

 

°°°°°

Tag Dreiundachtzig

Wohltuend. Warm. Ein leichtes, angenehmes Ziehen in meinem Unterleib. Etwas strich über meinen Bauch.

Ich seufzte wohlig und sonnte mich in dieser Wärme, die mich an diesem frühen Morgen umgab.

Die Decke raschelte, als sie langsam bis auf meine Hüfte hinabgezogen wurde. Schlief ich noch, oder war ich bereits wach? Es war egal, denn im Moment fühlte ich mich einfach wohl. Da war diese Berührung. Sie strich über meine Haut, über den Arm, hinauf zu meiner nackten Schulter. Ein warmer Hauch streifte sanft wie eine Feder darüber.

Eine raue Hand, meine Haut begann unter ihr zu summen, während das liebliche Ziehen stärker wurde. Ich spürte, wie sie der Linie meines Arms folgte, über meine Armbeuge strich, sodass ich eine angenehme Gänsehaut davon bekam. Sie wanderte. Über meine Taille. Sie wanderte zu meiner Hüfte, zum Bund meiner Hose.

Ich seufzte.

Der Klang wurde von den Wänden der Höhle zu mir zurückgetragen und das war der Moment, in dem ich die Augen aufriss. Askea lag hinter mir, seine Hand war an meiner Hose und seine Lippen schwebten über dem Dämonenmal.

Mit einem Schrei rollte ich von ihm weg, setzte mich auf und wich solange vor ihm zurück, bis ich die Wand der Höhle in meinem Rücken spürte. „Was zum Teufel soll das werden?!“

Er besaß doch tatsächlich die Frechheit, eine Augenbraue nach oben zu ziehen! „Muss ich dir das wirklich erklären?“

Das konnte nicht … er wollte doch nicht wirklich … oh mein Gott, er hatte versucht, mit mir zu schlafen! Und ich … ich hatte es für einen kurzem Moment wirklich genossen. Noch immer konnte ich den Nachhall seiner Berührungen spüren und das Sehnen meines Körpers nach mehr.

Und er? Er lag seitlich auf seinem Lager und schaute mich nur abwartend an. Keine Spur von Reue.

Wie war ich überhaupt auf das Fellbett gekommen? Ich hatte doch hinten an der Wand gesessen. Verdammt, ich musste eingeschlafen sein und dann … oh mein Gott! Er hatte mich auf die Felle gelegt. Nicht nur das, er hatte sich dazugelegt und wollte … ich konnte diesen Gedanken nicht mal zu Ende denken. „Versuch das nie wieder!“, fauchte ich ihn an und bemühte mich, meine Tunika hochzuziehen, doch der Ärmel war immer noch zerrissen. Sie rutschte bei jeder Bewegung runter. Verdammt sollte dieser drakonische Dämon sein! „Rühr mich nie wieder an, verstanden?!“

„Du bist meine Gefährtin.“ Sein Blick versuchte mich zu durchbohren. „Mit allem, was dazu gehört.“

„Tickst du noch ganz richtig?!“ Ich war so schnell auf den Beinen, dass ich beinahe vornüber fiel. „Du entführst mich, zwingst mich dazu, bei dir zu bleiben, und jetzt versuchst du mir auch noch an die Wäsche zu gehen?! Dass nennt man versuchte Vergewaltigung, du Schwein!“

Er verzog das Gesicht und schnaubte, als wäre ich nichts weiter als ein kleines Kind, das überreagierte. „Als ob es dir nicht gefallen hätte.“

Jedes Wort blieb mir in der Kehle stecken. Ich wollte es leugnen, wollte etwas Schweres packen und es ihm über den Kopf ziehen, aber ich konnte nicht, denn er hatte Recht. Für den kurzen Moment, bevor ich verstanden hatte, was hier geschah – und vor allen Dingen mit wem – hatte es mir gefallen. Ich hatte es … genossen.

Warum? Wie war das möglich? Ja, ich gab es ja zu, er hatte von Anfang an etwas an sich gehabt, das mich immer wieder den Blick auf ihn richten ließ. Immer wieder waren mir Kleinigkeiten ins Auge gefallen und hatten mich abgelenkt.

Aber das war gewesen, bevor er mich gebrannt hatte, bevor er Asha das Leben genommen hatte. „Wenn du mich nochmal anfasst, dann werde ich dir fürchterlich wehtun!“

„Warum? Weil du nicht akzeptieren kannst, dass du dich von einem Monster anfassen lassen willst? Weil du dich davor fürchtest, dass es dir gefallen könnte?“

„Es hat mir nicht gefallen!“

„Doch, das hat es. Ich habe dafür gesorgt, dass es dir gefällt.“

Da Weibchen sehr launisch und unberechenbar sind, belegt der männliche Dämon das Weibchen mit einer Markierung, in die er seine Magie einwebt. Dadurch kann er das Weibchen teilweise kontrollieren und lässt sich gleichzeitig sehr attraktiv auf sie wirken. Sie kann ihm nun nicht mehr widerstehen.

Amirs Worte. Er hatte es mir gesagt, gleich bei unserer ersten Trainingsstunde.

Sie kann ihm nun nicht mehr widerstehen.

Oh. Mein. Gott. Das durfte doch alles gar nicht wahr sein! Hierbei konnte es sich nur um einen schlechten Scherz handeln. Er war daran schuld, dass ich mich bei seinen Berührungen so wohlgefühlt hatte. Nicht weil ich ihn mochte, sondern weil er es so wollte.

Meine Hand glitt zur Markierung und bedeckte sie. „Komm mir nie wieder zu nahe.“

„Und ob ich das werde. Und zwar nicht nur, weil ich es will, sondern auch, weil du es willst.“

„Ich will das nicht!“, schrie ich ihn an.

Askea bedachte mich nur kurz mit einem abschätzenden Blick. Dann erhob er sich und trat vor mich. Er schien nicht wütend, doch seine Kraft umgab ihn wie ein unsichtbares Flimmern.

Trotzdem zwang ich mich, an Ort und Stelle zu verharren. Ich würde nicht mehr vor ihm zurückweichen. Ich würde ihm nicht länger zeigen, welche Angst er in mir wachrief, nicht nach dem, was er gerade getan hatte.

Selbst als er in meinen persönlichen Bereich eindrang, blieb ich, wo ich war.

„Ob du es nun zugeben willst oder nicht - es hat dir gefallen. Das weißt du, denn dich selbst kannst du nicht belügen. Aber trotz allem sollte ich dir wohl mal eine Kleinigkeit erklären. Ich kann dich zu nichts zwingen, was du nicht willst, und ich kann auch nichts erschaffen, was nicht schon vorher da war. Das einzige, was diese Markierung mir gewährt, ist, dich an deinen Vorhaben zu hindern oder dich darin zu unterstützen.“ Sein Blick richtete sich auf meine Schulter. „Lauert in dir auch nur ein Funke Begehren für mich, so kann ich ihn in ein Inferno verwandeln, aber ich kann ihn nicht erschaffen.“

Nein. Oh bitte, nein, das durfte nicht wahr sein. Das … das konnte einfach nicht sein. „Du lügst!“

„Rede dir das nur ein, wenn es dir dann besser geht, aber das ändert nichts an der Wahrheit. Auch du wirst das irgendwann erkennen.“ Askea wandte mir den Rücken zu und marschierte zu der Ecke neben dem schiefen Regal. „Ich werde ein paar Stunden weg sein. Du passt solange auf Fax auf.“

Da! Er tat es schon wieder! Er gab mir einen Befehl und nahm es für selbstverständlich, dass ich ihn befolgte! „Was glaubst du, wer du bist? Erst machst du … sowas und dann verschwindest du einfach!“

Den Blick, den er mir daraufhin zuwarf, würde ich wohl niemals vergessen. In seinen Augen standen Flammen. Nicht im übertragenden Sinne, nein, in ihnen schien wirklich ein Feuer zu schwelen und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass die Temperatur in der Höhle sich leicht aufheizte. „Du möchtest, dass ich bleibe?“

Die wenigen Worte reichten, dass ich nun doch einen Schritt vor ihm zurückwich. Nicht wegen der Aussage, sondern wegen der enthaltenen Bedeutung. Würde er bleiben, würde er weitermachen, wo er aufgehört hatte.

„Das habe ich mir gedacht.“ Er nahm einen Speer aus der Ecke. Es war nicht der gleiche, den ich bei unserer ersten Begegnung gesehen hatte. Dieser hier war viel älter. Der andere Speer war ihm wahrscheinlich von den Jägern abgenommen worden. „Ich werde nicht lange weg sein. Bleibt in der Höhle, hier ist es sicher.“

Ich verkniff es mir, noch etwas dazu zu sagen. Hauptsächlich weil ich Angst davor hatte, dass er mich erneut mit diesem Blick ansehen würde. Vielleicht aber auch, weil ich mir in diesem Moment selbst nicht über den Weg traute. Und vielleicht auch, weil seine Abwesenheit mir eine Möglichkeit zur Flucht bieten konnte.

Er hatte es selbst gesagt, noch war die Verbindung zwischen uns nicht hundertprozentig fest. Es konnte meine letzte Gelegenheit sein, ihm zu entkommen.

Daher schaute ich ihm nur stumm dabei zu, wie er in dem überlappten Eingang verschwand. Aber ich war nicht dumm genug, sofort loszustürzen. Ich blieb, wo ich war, und wartete. Ich wartete sehr lange. In Ordnung, wahrscheinlich waren es nur ein paar Minuten, aber für mich fühlte es sich wie eine sehr lange Zeitspanne an. Selbst dann bewegte ich mich sehr vorsichtig durch die Höhle, aus Angst, dass Askea jeden Moment wieder hier erscheinen würde.

Doch er blieb weg.

Das war die Gelegenheit für mich, meine Tasche zu schnappen. Dabei konnte ich einen Fluch kaum unterdrücken, als die Tunika wieder runterrutschte und fast meine Brust entblößte. Nicht dass ich ein Problem damit hatte, ohne Unterwäsche durch die Gegend zu laufen, aber in bestimmten Situationen war es einfach erforderlich, Kleidung am Leib zu haben – zum Beispiel, wenn man vorhatte, in die Wüste hinauszulaufen.

Mein Blick fiel auf den Kleiderstapel, den Askea mir gestern geben wollte. Ich wollte nicht. Alles in mir sträubte sich dagegen, denn es war das, was Askea wollte. Aber so konnte ich nicht rumlaufen. Was wenn ich schnell wegrennen müsste? Es wäre sicher nicht sehr vorteilhaft, wenn mir dabei die Kleidung vom Körper rutschte.

Leise fluchend ließ ich meine Tasche wieder auf den Boden fallen und zog die zerrissene Tunika aus. Das Oberteil stellte sich als eine Art indianische Jacke heraus. Der untere Saum war, genau wie die langen Ärmel, mit langen Fransen behangen. Doch der Halsausschnitt war so weit, dass die Schultern freilagen. Natürlich war sie schulterfrei, dachte ich verächtlich. Sonst würde die Markierung ja versteckt sein. Aber wenigstens war sie nicht zerrrissen und so zog ich sie trotz aller Widersprüche über.

Sie passte wie angegossen, was ich schon seltsam fand. Diese Jacke war eindeutig für eine Frau gemacht worden.

Mit der Hose verhielt es sich ähnlich. Ich zögerte einen Moment, bevor ich nach ihr griff, tat es dann aber doch. Meine Hose trug ich bereits seit mehreren Tagen und dementsprechend sah sie auch aus. Es war eine Wohltat, die Sachen auszutauschen.

Auch die Hose erinnerte mich sehr stark an das, was Indianer einmal getragen haben mussten. Nicht nur ihre lederne Beschaffenheit und die Nähte aus Tiersehnen, auch die Fransen fand ich dort erneut. Wozu waren die eigentlich gut? Ich würde sicher nicht bleiben, um zu fragen.

Entschlossen griff ich ein weiteres Mal nach meiner Tasche, drehte mich zum Ausgang und erstarrte. Nicht weil ich etwas sah, das mich aufhalten wollte, nein, meine Muskulatur erstarrte einfach. Ich konnte mich nicht mehr bewegen.

Ich kann deine Gedanken spüren, Tia. Dabei ist es egal, ob du bei mir in der Höhle bist oder hundert Kilometer weit weg. Ich spüre dich, denn ich bin nun ein Teil von dir.

Vor Wut biss ich die Zähne so fest zusammen, dass es schmerzte. Natürlich konnte er mich auch jetzt noch daran hindern, das Weite zu suchen. Warum sonst hätte er mich so unbesorgt alleine gelassen. „Scheiße!“ Wütend auf diesen Mistkerl und meine ganze vertrackte Situation, schmiss ich meine Tasche auf das Lager und mich gleich daneben. Das war nicht richtig. Ich sollte nicht hierbleiben müssen, so war das nicht geplant. Askea hätte durch meine Hand sterben müssen. Doch ich konnte nichts tun. Auch wenn ich keine Fesseln trug, war ich eine Gefangene; die Gefangene von Ashas Mörder.

Das leise Zirpen von Guardian zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Er lag bei Fax in der Nische und schaute mich aus großen Augen an.

Fax. Er war hier in der Höhle. Askeas Sohn war hier und trotzdem hatte dieser drakonische Dämon versucht, mir an die Wäsche zu gehen? Der Gedanke war mir bisher noch gar nicht gekommen, doch jetzt … ich musste hier weg, und zwar ganz dringend. Doch im Moment bestand dazu nicht die geringste Chance, nicht mit dieser Markierung.

Gedankenverloren starrte ich vor mich hin. Dabei fiel mein Blick auf meine Tasche. Die Kladde war halb aus ihr herausgerutscht, die Kladde, die ich in Sternheim gekauft hatte. Noch immer fehlte darin eine Seite. Ich hatte sie herausgerissen und zusammen mit dem Brief in den Wald gelegt.

Du bist nicht Talita.

Ob der junge Mann beides gefunden hatte? Ob er noch lebte? Ich würde es wohl nie erfahren, denn selbst, wenn er meiner Bitte noch nachkommen würde, befand ich mich nicht mehr im Lager der Jäger und glaubte auch nicht, dass ich dorthin zurückkehren konnte. Amir wollte mich vor Gericht stellen und Ryu … Ryu hasste mich. Ich konnte es ihm nicht verdenken.

Doch dann war da noch Gaio. Ob er mir vielleicht aus dieser Klemme helfen konnte? Gab es etwas, dass die Verbindung zwischen mir und Askea brechen konnte? Ich bezweifelte es.

Ob meine Schwester damals auch solche Probleme gehabt hatte? Nein. Es war nicht viel, an das ich mich erinnerte, aber die Verbindung zwischen ihr und Veith hatte nie erzwungen gewirkt. Er hatte sie sicher nicht mit einer Markierung an sich gebunden. Und selbst wenn, eine magische Verbindung hätte auf der anderen Seite des Spiegels keine … Wirkung.

Ein unangenehmer Gedanke reifte in meinem Kopf heran. Vielleicht war es ja doch langsam an der Zeit, zurück in die Welt der Menschen zu gehen. So könnte ich Askeas Zauber entkommen, aber … hier gab es keine Spiegel. Ich könnte ihn um einen bitten. Er war kein Magier, also konnte er auch nicht wissen, was ich damit vorhatte. So würde ich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ich würde meinem Schicksal durch Amir entgehen, ich würde Askea entkommen und die Magie könnte nicht länger an meinem Körper zerren.

Doch auch hier gab es ein Problem. Nein, sogar zwei. Zum einen wollte ich nicht wirklich in die andere Welt zurück und zum anderen war da noch immer diese Angst. Etwas tiefverwurzeltes, das mich zwang hierzubleiben, wo die Erinnerungen mich nicht einholen konnten.

Aber vielleicht sollte ich mich ihr endlich stellen. Diese Angst lähmte mich, machte mich handlungsunfähig. Wenn ich nur wüsste, wovor ich solche Angst hatte, dann könnte ich sie vielleicht bekämpfen. Vielleicht war ja alles halb so schlimm.

Ich atmete tief durch, versuchte mein wildschlagendes Herz zu beruhigen und sprang dann einfach ins kalte Wasser. „Warum bin ich hergekommen?“

Leer.

Ich starrte auf diesen Sessel und konnte nichts anderes denken, als dass er von nun an immer leer sein würde.

„Tiara?“

Warum nur? Ich verstand es nicht.

„Tiara.“ Eine ältere Frau in einem schwarzen Kleid schob sich in mein Blickfeld. Frau Blanken, unsere Nachbarin. „Es tut mir so Leid für dich.“

Ich wandte den Blick ab. Von diesem unnützen Gerede hatte ich langsam genug. Es half nicht. Dieser Sessel würde trotzdem weiterhin leer bleiben.

„Wenn ich etwas für dich tun kann, dann sprich mit mir. Ich helfe gerne.“

Fast hätte ich geschnaubt, aber dann entdeckte ich Veith in seinem schwarzen Anzug. Er stand in der Ecke, halb verborgen von den anderen Gästen. Sein von Trauer umhüllter Blick war aus dem Fenster gerichtet.

Ich verstand, warum er sich versteckte. Auch ich wollte mich verstecken. Ich wollte die Augen schließen, um all das ungeschehen zu machen. Doch so funktionierte das Leben leider nicht. Oder das, was davon übrig blieb, wenn es in tausend Scherben zersprang.

„Ach Kind.“ Das Polster neben mir senkte sich, als Frau Blanken auf der Couch platznahm. „Ich weiß, wie weh es tut. Und auch, wenn du es jetzt noch nicht glauben kannst, mit der Zeit wird es besser werden. Du …“

„Was wissen Sie schon!“, fauchte ich die Frau an. „Sie ist tot! Tot, verstehen Sie?! Sie wird nicht zurückkommen, denn das tun Tote nicht! Sie sind einfach nur tot!“ Ohne auf die empörten Blicke und das betroffene Murmeln der anderen Gäste zu achten, sprang ich auf die Beine und rannte nach oben in mein Zimmer. Die Tür schlug hinter mir so laut zu, dass es sicher noch an der nächsten Straßenecke zu hören war. Aber das war mir egal. Mir war alles egal. Ich wollte nur, dass sie aufhörten zu reden. Ich wollte davon nichts mehr hören, denn es half nichts. Nichts half gegen diesen Schmerz.

Er zerrte an mir, als wollte er meine Seele in Stücke reißen.

Ich wollte, dass es aufhörte, ich wollte diesen Schmerz nicht länger spüren, ich wollte das alles einfach nur vergessen.

Wütend auf die Welt, wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht. Dabei fiel mein Blick auf den großen Spiegel an meinem Schrank und ein wahnwitziger Gedanke nahm in meinem Kopf Gestalt an. Ja, ich wollte wirklich nur noch eines: vergessen.

Mit einem Blinzeln erwachte ich aus der Erinnerung und spürte einen erwartenden Schmerz in der Brust. Das war … jemand war gestorben, jemand, der mir sehr nahe gestanden hatte. Und ich war hierhergekommen, um es zu vergessen.

Aber wer … nein! Ich verbot mir, diesen Gedanken weiterzuführen. Ich wollte es nicht wissen. Nicht noch mehr Schmerz, das ertrug ich einfach nicht mehr. Ich war hierhergekommen, um das zu vergessen, und ich würde jetzt nicht versuchen, mich doch wieder daran zu erinnern. Nein.

Ich durfte mich nicht erinnern und deswegen durfte ich auch nicht zurückkehren. Es musste einen anderen Weg geben, um mich von meinen Problemen zu lösen. Es gab ihn sicher, ich musste ihn nur finden. Doch auf keinen Fall durfte ich mir Vergangenes ins Gedächtnis rufen. Selbst diese kleine Erinnerung verschloss ich im hintersten Winkel meines Kopfes.

Vielleicht war das feige, aber allein der Schmerz, der mir noch immer die Brust zuschnürte, reichte aus, um mich in meiner Entscheidung zu stärken.

 

°°°

 

„Fax, hol die Taschen, Tiara, such Proviant zusammen.“

Ich warf Askea einen wütenden Blick zu. Nicht nur, dass er den halben Tag verschwunden gewesen war, nachdem er mir befohlen hatte, Fax zu hüten. Kaum war er zurück, führte er sich gleich wieder wie ein Pascha auf. Er sagte nicht mal „Hallo“ oder fragte mich nach meinem Tag, eingesperrt in dieser Höhle, gefangen mit meinen Gedanken und dazu verdammt, diese blöden Wände anzustarren.

Ja, ich hatte schlechte Laune – zumindest seit Askea die Höhle vor zwei Minuten betreten hatte. Aber das war immer noch besser, als sich wieder mit diesen verwirrenden Gedanken herumplagen zu müssen, die mich immer nur weiter in einen Strudel aus Kummer zogen. Es war viel einfacher, meine aufgestauten Gefühle in Wut zu verwandeln und diese Wut dann auf diesen drakonischen Dämon zu richten, der den bösen Blick, den ich ihm zuwarf, nicht mal würdigte. Genaugenommen schien er ihn nicht mal zu bemerken.

Fax war bereits beim ersten Wort aufgesprungen und zog hinter dem Wasserfass zwei Taschen hervor, die mich an alte Seesäcke erinnerten. Sie waren aus Leder und besaßen je zwei Schulterriemen, die mit bunten Bemalungen verziert waren.  

Der Junge brachte sie seinem Vater zum Regal und verschwand dann nach hinten in seine Nische, wo er die ganze Zeit mit kleinen Holzfiguren gespielt hatte. In den Stunden, in denen wir allein gewesen waren, war er nicht einmal zu mir hinaus gekommen. Und ich hatte ihn nicht zu mir gerufen.

„Tiara, damit hatte ich jetzt gemeint und nicht erst in drei Tagen.“

Ich kniff die Augen leicht zusammen. Davon abgesehen, dass ich keine Ahnung hatte, wo genau Askea den Proviant in der Höhle gelagert hatte und was genau ich alles einpacken sollte, sah ich überhaupt nicht ein, auch nur einen Finger für ihn krummzumachen. Er wollte weg? Bitte, sollte er doch gehen. Ich würde ihn nicht aufhalten und ich würde ihm auch nicht folgen.

Als er bemerkte, dass ich mich immer noch nicht regte, sah er mich das erste Mal seit dem Betreten der Höhle an. Dass ich nun andere Kleidung trug, schien er sofort zu registrieren, beachtete es aber nicht weiter. „Willst du dich nun verweigern? Was glaubst du, was du mit diesem kindischen Verhalten erreichst?“

Bei dem Wort „kindisch“ biss ich die Zähne fest zusammen. Meine Verweigerung war nicht kindisch.

„Wie du meinst. Aber glaub ja nicht, dass ich dich hier lasse. Wenn es sein muss, werde ich dich genau wie das letzte Mal tragen.“

„Das kannst du nicht machen!“ Verdammt!

„Ich kann es nicht nur, ich werde es auch tun. Du gehörst nun zu uns, dein Platz ist bei mir und bis du das verstehst, werde ich dich notfalls auch mit Gewalt hinter mir herzerren. Und jetzt beeil dich, ich will noch vor Dunkelheit im Klüngel sein.“

In was?

„Papá!“ Fax kam angelaufen und reichte ihm ein Bündel Felle. Dabei musste er darauf achten, wohin er trat, weil Guardian um seine Beine streifte. An seinem Gürtel hing ein kleiner Stoffbeutel, der hin und her schaukelte.

Askea steckte die Felle in einen der Seesäcke und griff dann ins Regal.

Ich wollte nicht sehen, was er sonst noch einpackte. Ich wollte mit all dem überhaupt nichts zu tun haben. Aber im Moment kam ich einfach nicht von ihm weg. Doch deswegen musste ich noch lange nicht hier sitzen und ihm zuschauen.

Ich rappelte mich auf die Beine, schnappte mir meine Tasche und stürmte an Askea vorbei zum Ausgang. Diesmal hielt er mich nicht auf. Ich konnte die Überlappung ohne Probleme durchqueren und dann nach draußen ins Freie treten. Natürlich, dachte ich bitter. Im Moment versuchte ich ja auch nicht zu verschwinden. Ich wollte nur raus da.

In Ordnung, irgendwo hatte ich doch den Hintergedanken, nach einem Fluchtweg Ausschau zu halten, doch dieser verschwand, sobald ich im Freien stand. Ich befand mich mitten in der Wüste.

Nicht dass diese Tatsache etwas Neues war, doch dieses Mal war es anders. Egal in welche Richtung ich mich wandte, da war nichts anderes als der heiße Sand unter den rücksichtslosen Sonnen. Ich konnte nicht einmal das Drachengebirge entdecken.

Hastig drehte ich mich im Kreis, umrundete sogar den kleinen Hügel, der Askeas Höhle in sich barg, doch egal, in welche Richtung ich mich auch wandte, da war nichts anderes als diese sandigen Weiten.

Ich spürte, wie ein dicker Kloß in meinem Hals heranwuchs. Selbst wenn ich es irgendwie schaffen sollte, Askea zu entkommen, so wusste ich nicht mal, in welche Richtung ich mich wenden sollte. Da war absolut gar nichts, das es mir verraten würde. Nur ein paar verstreute Akazien und weitere kugelförmige Hügel. Ansonsten nur der endlos weite Himmel.

Fast verzweifelt drückte ich die Lippen aufeinander. Wo hatte Askea mich nur hingebracht? Egal wo ich mich in den letzten Monaten aufgehalten hatte, das Drachengebirge hatte immer wie ein Schatten im Hintergrund gelauert.

Was sollte ich denn jetzt tun?

Ein Geräusch hinter mir veranlasste mich dazu, den Kopf zu drehen, doch es war nur Fax, der mit Guardian auf den Fersen einen der Seesäcke nach draußen schleifte. Das Ding war so voll, dass es den Jungen fast überragte. Und so, wie er es hinter sich her zog, konnte es auch nicht besonders leicht sein. „Glaubst du nicht, der ist ein wenig schwer für dich?“

Er hielt inne und schaute mich mit großen Augen an. „Papá hat gesagt, du sollst ihn tragen.“

Bitte?! Das würde ihm so passen. Als ob ich irgendwas für den Kerl tun würde. Abschätzend schnaubend, verschränkte ich die Arme vor der Brust. Das könnte ihm so passen.

Fax neigte den Kopf leicht zur Seite. „Du magst Papá nicht.“

Keine Frage, eine klare Feststellung, der ich nichts hinzuzufügen hatte.

Der Junge schaute auf den Sack und ließ die Henkel los. „Magst du mich auch nicht?“

„Was?“ Ich ließ die Hände sinken. „Nein, wie kommst du darauf?“

„Ich bin doch wie Papá.“

Ein Mistkerl, der andere versklavte? Da konnte ich mich nur noch kopfschüttelnd vor ihn hocken. „Nein, du bist nicht wie er, du bist du.“ Ich versuchte es mit einem Lächeln, doch ich war mir nicht sicher, ob es mir gelang. „Ich hab dich lieb, hörst du? Daran darfst du niemals zweifeln.“

„Hast du Papá auch irgendwann lieb?“

„Ich weiß nicht. Dein Papá … es ist einfach schwierig.“ Das war noch harmlos ausgedrückt. Für das, was er mit Asha getan hatte, sollte er vor Gericht gestellt werden. Aber stattdessen wollte Amir mich an den Pranger bringen. Und das nur, weil ich Mitgefühl hatte. Mitgefühl mit einem Monster.

Ich habe niemanden getötet!

Wie schaffte er es nur, das so glaubhaft rüberzubringen? Es musste Askea gewesen sein, sonst kam einfach niemand in Frage.

Denk doch mal nach! Warum sollte ich meine kostbare Zeit damit verschwenden, eine unbedeutende Hexe zu töten, und damit riskieren, wieder gefangen genommen zu werden?!

Ich drückte die Lippen aufeinander und erhob mich wieder. Es machte Sinn, aber das durfte es nicht.

Dann kam mir plötzlich ein völlig irrationaler Gedanke. Was, wenn Askea die Wahrheit sagte? Als ich ihm das mit Asha gesagt hatte, schien er wirklich überrascht zu sein. Andererseits konnte das auch gespielt gewesen sein. Sowas würde ein Dämon tun, um seine eigene Haut zu retten. Doch wovor? Mich hatte er in der Hand, ich konnte ihm nichts tun, also warum spielte er mir noch weiter etwas vor?

„Bist du sauer?“

Ich schaute zu dem kleinen Jungen runter. „Wie kommst du darauf?“

„Weil du so böse guckst.“

Ich guckte böse? „Das nennt man nachdenklich. Ich schaue nachdenklich.“

Du hast das Schild kaputtgemacht und als du weg warst, ist Fax gekommen. Er hat meine Fesseln gelöst.

Fax war in dieser Nacht auch da gewesen. „Kannst du mir eine Frage beantworten?“

„Was denn?“

Mein Blick huschte zum Höhleneingang. So eilig, wie Askea es gehabt hatte, würde es wohl nicht lange dauern, bis er rauskam. „Lass uns da drüben in den Schatten gehen.“ Ich nahm seine Hand und zog ihn zu den Akazien. „Die Sonnen sind mir zu heiß.“ Und es würde verhindern, dass Askea uns belauschen oder überraschen konnte.

Es war kaum zu glauben, welch ein Temperaturunterschied es war, sobald man die Grenze zum Schatten überschritt. Trotzdem vermied ich es, mich in den Sand zu setzen, denn der war um diese Uhrzeit auch im Schatten nicht besonders kühl. Stattdessen stupste ich mit dem Fuß gegen einen ausgeblichenen Ast, der halb vergraben aus dem Boden hervorschaute.

Dann überlegte ich, wie ich diese Frage am besten formulierte. Lange um den heißen Brei herumreden, würde wahrscheinlich nicht viel bringen. „Was ist in der Nacht, als ihr aus dem Lager der Jäger verschwunden seid, passiert?“

Er blinzelte einmal. „Naja, ich bin zum Schild gegangen, so wie jede Nacht …“

Wie jede Nacht? Ich konnte nichts dagegen tun, dass meine Augenbraue etwas nach oben wanderte. Aber eigentlich hätte mir das auch klar sein müssen. Askea war schließlich sein Vater. Was hatte ich denn anderes erwartet?

„… aber dieses Mal war das Schild weg. Als ich kam, zerrten Papá und auch der Saphir wie wild an ihren Fesseln. Dann hat Papá mich gesehen und mir gesagt, dass ich ihn losbinden soll. Das hab ich gemacht.“

Ich wartete, doch da kam nicht mehr. „Und dann?“

Er zuckte mit den Schultern. „Wir sind weggelaufen, in die Wüste. Die ganze Nacht sind wir gelaufen, sogar noch, als es hell wurde. Ich hab gesehen, dass es ihm nicht gut ging, aber er wollte immer weiterlaufen. Dann haben wir uns hinter einem Felsen versteckt. Papá konnte nicht mehr. Ich hab auf ihn aufgepasst, während er geschlafen hat. Und als er aufgewacht ist, sind wir wieder losgelaufen.“

Ich habe die Hexe nicht getötet, ich wollte einfach nur schnell weg.

Unruhig tippte ich mit dem Fuß auf den Boden. Das konnte einfach nicht sein. „Askea ist nicht ins Lager gegangen?“

„Zu den Jägern?!“ Der Junge schaute mich an, als wäre ich nicht mehr ganz dicht – und vielleicht hatte er ja auch Recht – aber ich konnte es einfach nicht glauben. „Wir sind gleich weggerannt.“

Eine Bewegung aus dem Augenwinkel weckte meine Aufmerksamkeit, doch es war nur Guardian, der angriffsbereit im Sand kauerte, den Blick auf etwas hinter der Akazie gerichtet. Wahrscheinlich sein Mittagessen.

„Kann es nicht sein, dass du gar nicht mitbekommen hast, wie er ins Lager gegangen ist?“

Vehement schüttelte der Kleine seinen Kopf. „Nein. Aber ich weiß, warum du das fragst.“

Ich biss mir auf die Lippe.

„Papá hat deine Freundin nicht getötet. Papá tötet nur Tiere zum Essen.“

Ein Schnauben konnte ich mir gerade noch so verkneifen. Aber ich würde ihm das Bild von seinem Vater nicht kaputtmachen. Er war schließlich alles, was der Junge hatte.

„Wirklich“, fügte er noch hinzu. Er merkte, dass ich anderer Meinung war. Aber was sollte ich machen? Was sollte ich denn denken? Askea musste es einfach gewesen sein, alles andere würde keinen Sinn ergeben.

Der Schrei eines Vogels über mir ließ mich den Kopf heben. Eine riesige Silhouette zeichnete sich gegen das Sonnenlicht ab. Die Spannweite der Flügel war wirklich enorm … zu groß für einen Vogel.

Fax trat einen Schritt näher und zupfte an meiner Jacke. „Tiara …“

Ich runzelte die Stirn. Nein, das war kein Vogel, das war … konnte das wirklich ein Greif sein? Mitten in der Wüste?

Als Guardian fauchend aufsprang, wirbelte ich vor Schreck um meine eigene Achse. Dort am Himmel waren noch zwei Greife. Und sie kamen mit beachtlichem Tempo direkt auf uns zu.

Das konnte doch nicht sein. Meine Augen wurden kreisrund. Das war … „Amir.“ Amir war hier und das daneben war Elias.

„Tiara, wir müssen hier weg.“

Sie hatten mich gefunden.

Plötzlich schlug mein Herz viel schneller. Ich ignorierte Fax‘ Worte, rannte aus dem Schatten hinaus, damit sie mich auf keinen Fall übersehen konnten. Die Jäger waren hier. Vor Staunen und Unglauben hüpfte mein Herz fröhlich in der Brust.

In dem Moment, in dem ich sie erblickte, vergaß ich den letzten Tag im Lager einfach. Sie waren hier und sie würden mich retten! Ich konnte es kaum fassen!

Fünf Greife flogen am Himmel und ich konnte genau den Moment bestimmen, in dem sie mich entdeckten. Einer der Greife ging in einen halsbrecherischen Sturzflug über, bei dem mir doch ein wenig mulmig zumute wurde.

Ich rannte noch ein paar Schritte vor, wedelte wie wild mit den Armen. Vor Freude fing ich fast an zu heulen. „Hier!“, rief ich. „Ich bin hier!“ Doch mit dem, was dann geschah, hätte ich in meinem ganzen Leben nicht gerechnet.

Aus dem Sturzflug heraus löste sich Ryu von seinem Mount und im nächsten Moment stürzte er direkt auf mich zu.

Im ersten Augenblick verstand ich nicht ganz, was das bedeutete. Ich verstand nicht, warum er sein Schwert noch im Flug aus der Scheide an seiner Hüfte riss. Und ich verstand nicht, warum er mit dieser Wut in den Augen direkt auf mich zuhielt. Und als ich es verstand, war es schon fast zu spät.

Das ist deine schuld! Du hast Asha auf dem Gewissen!

Mit einem Hechtsprung warf ich mich zur Seite. Etwas sirrte an meinem Ohr vorbei. Ich spürte den Wind, hörte das Rascheln von Ryus Federn, dann landete ich auch schon im Sand.

Etwas stach mir in die Hand, die Haut an meinem Arm schürfte auf, Guardian fauchte.

Hastig drehte ich mich herum und entdeckte Ryu, der direkt über mir aufragte. Das Schwert hatte er halb erhoben, seine Flügel fast zur Gänze geöffnet und in seinem Gesicht lagen eine Trauer und Verzweiflung, die mir schier den Atem raubte. Aber das war nichts im Gegensatz zu dem Hass, der dort flackerte.

Einige dumpfe Aufschläge verrieten mir, dass auch die anderen gelandet waren. Amir, Elias, Kiran. Und sie alle bedachten mich mit dem gleichen Blick. Nur Gaio nicht. Er schien seine Gefühle in diesem Moment völlig verbannt zu haben.

Sie hatten uns umzingelt.

„Tiara!“

Ich war nicht die einzige, die zu Fax schaute. Er hatte sich mit dem Rücken gegen den Baum gedrückt. Die blanke Angst stand in seinen Augen.

„Was haben wir denn hier?“ Mit einer Geschmeidigkeit, die allein ihm zu Eigen war, schwang Amir sich von Ferox‘ Rücken. Seine Hand glitt dabei zu seiner Hüfte und schon im nächsten Moment hielt er seine Peitsche in der Hand. Dabei ließ er den Blick von dem Jungen zu mir auf dem Boden gleiten. Er musterte meine Kleidung und blieb dann an meiner Schulter hängen. Die Markierung. „Verstehe.“

Was verstand er?

Mir blieb nicht mehr die Zeit, es laut auszusprechen. Plötzlich knallte Amirs Peitsche und dann schrie Fax.

„Nein!“ Ich sprang auf und rannte zu dem Jungen, doch da wurde ich an den Haaren gepackt und zurückgerissen. „Ahhh!“ Ich fasste nach meinem Kopf, tastete nach Ryus Hand, doch sein Griff wurde nur noch gröber.

„Das kannst du vergessen.“

„Ryu, nein. Amir!“

Die Peitsche hatte sich um Fax Arm gewickelt. Ich sah die Wunde und auch das Blut, das daraus hervorsickerte.

„Nein, lasst ihn, tut ihm nichts!“

Guardian fauchte, baute sich mit angelegten Ohren und gefletschten Zähnen vor Fax auf.

„Er ist ein Dämon, Tiara“, erklärte Amir, als hätte er es mit einer Dreijährigen zu tun. Dabei gab es in seinem Gesicht keine Gefühlsregung. Kein Erbarmen, kein Verstehen und auch kein Mitgefühl.

„Er ist ein Kind!“ Ich versuchte meine Haare festzuhalten, damit Ryu nicht so daran zerren konnte. Doch der Schmerz verschwand dadurch leider nicht.

„Er ist ein …“ Als der Riemen seiner Peitsche plötzlich nachgab, wirbelte er herum.

Fax hatte einen Dolch gezogen und den Riemen durchgeschnitten. Er wirbelte herum, wollte zur Höhle laufen, doch da war Elias schon da und versperrte ihm den Weg.

„Papá!“

Amir schaute von seiner Peitsche zu dem Jungen und dann zu mir. „Ich glaube, langsam verstehe ich wirklich.“

„Bitte“, flehte ich, ohne auf seine Worte einzugehen. „Ihr müsst mir helfen.“

„Sowas wie dir helfen wir nicht!“, spie Ryu mir entgegen und schleuderte mich zurück auf den Boden.

Ich krachte auf die Knie, doch der Schmerz war nichts zu dem, was sich gerade in meiner Brust abspielte. Dieser Verrat.

„Du hast dich mit diesen Ungeheuern verbündet. Wegen dir ist Asha tot!“

„Und dann hast du dich auch noch feige aus dem Staub gemacht“, fügte Kiran hinzu.

Wie hatte das nur passieren können? Vor ein paar Tagen waren wir noch Freunde gewesen. Ich hatte mit ihnen zusammengesessen und gelacht. Doch nun schauten sie mich an, als wäre ich eine Fremde. Nein, sie sahen mich an, als wäre ich der Feind. „Das ist nicht wahr“, flüsterte ich. Meine Hand schloss sich um den ausgetrockneten Ast, der halb aus dem Sand ragte. „Ich bin losgezogen, um Askea zu töten.“

„Askea?“ Amir schaute auf meine Markierung. „Und? Ist es dir gelungen?“

Ich drückte die Lippen zusammen.

„Sie ist seine Hure!“, fauchte Ryu. „Schau sie dir doch nur an! Und sowas hab ich gerettet!“

„Ryu“, mahnte Gaio. „Hör sie doch wenigstens an. Sie …“

„Einen Scheiß werde ich. Für das, was sie getan hat, wird sie sterben. Hier und jetzt!“ Er hatte die Worte noch nicht einmal richtig ausgesprochen, da schwang er auch schon das Schwert.

Ich reagierte einfach nur, wirbelte mit dem Ast herum und riss den Arm hoch. Das Schwert krachte in das Holz und schlug es in zwei Teile. Doch es hatte dem Angriff wenigstens genug Schwung genommen, damit ich Zeit hatte, auszuweichen.

Er hatte mich angegriffen. Er hatte mich wirklich angegriffen. Ich konnte es nicht glauben. Ryu war ein Freund und trotzdem hatte er gerade mit dem Schwert nach mir geschlagen. „Ryu.“ Das Entsetzen schwang in meiner Stimme mit, doch er schien es nicht zu hören. Sein Gesicht war vor Wut verzerrt, als er das Schwert erneut in meine Richtung schwang. Da half es auch nicht, dass Gaio im zuschrie, er sollte das lassen.

Dann stand der Baum hinter mir plötzlich lichterloh in Flammen.

Ich wirbelte herum, während Kiran einen derben Fluch ausspie. Fax hatte den Baum entzündet, zusammen mit sich selbst. Nein, Fax brannte, aber nicht er war es gewesen, der den Baum in Brand gesteckt hatte. Das wurde mir in dem Moment bewusst, als eine Stichflamme haarscharf an mir vorbeizischte und Ryu damit zwang, einen Schritt zurück zu springen.

Askea.

Er kam aus der Höhle gestürmt. Das Feuer fraß sich über seinen ganzen Körper. Er wurde selbst zum Feuer und hielt unaufhaltsam auf uns zu.

„Kiran!“, brüllte Amir. „Wasser!“

Ich sprang auf die Beine, immer noch mit dem durchgeschlagenen Ast in der Hand. Das kürzere Ende ließ ich einfach fallen, damit konnte ich nichts anfangen.

„Fax!“, rief Askea.

Ich schaute zu Kiran, der sofort die Hände erhoben hatte, um Amirs Befehl nachzukommen. Das konnte ich nicht zulassen. Sie würden Fax verletzen. Noch ehe ich wusste, was ich da tat, stürmte ich auf ihn zu und schlug ihm die Beine mit dem Ast einfach weg. Dabei drehte ich mich herum, um dem Angriff von Ryu zu entkommen. „Hör auf!“, schrie ich ihn an, doch in seiner blinden Verzweiflung schien er mich gar nicht zu hören.

„Tia, duck dich!“

Ich hatte kaum genug Zeit, Askeas Befehl nachzukommen, da sauste auch schon eine weitere Stichflamme über mich hinweg. Hastig wirbelte ich herum. Askea stand in einem Meer aus Flammen. Die Luft um ihn herum schien zu brennen, als er entschlossen die Hände nach vorne richtete, um Amir von Fax wegzutreiben.

„Gaio!“, brüllte Amir.

Der Gargoyle warf mir einen kurzen Blick zu und dann stürmte er auf Askea zu. Er wickelte die Flügel um sich und rannte direkt in die Flammen hinein.

„Nein!“

Ein plötzlicher Tritt in die Seite schleudere mich zu Boden. Ich schaffte es gerade noch, den Kopf rumzureißen, um zu sehen, dass es Kiran war.

In diesem Moment schien sich alles zu verlangsamen. Ich sah den Magier, sah, wie seine Hände sich erhoben und auf mich richteten. Sie begangen zu glühen. Ich wusste nicht, was er dort tat, doch es würde nicht angenehm werden. Nicht so, wie er mich ansah.

Währenddessen sprang Ryu wieder auf seine Beine und wirbelte zu mir herum. Das Gesicht war vor Hass verzerrt, als er sein Schwert hob.

Amir brüllte etwas, Elias rannte auf ihn zu, während Gaio im Flammenmeer verschwand.

Sie wollen mich töten.

Etwas in mir zerriss. Ich spürte es ganz genau. Solchen Schmerz hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gespürt. Das Echo meines Schreis hallte bis tief in meine Seele wider, als die Welt vor meinen Augen verschwamm und die Magie in mir einfach explodierte.

Ich sah nur noch gleißendes Licht. Die Geräusche wurden zu einem fernen Rauschen, das einfach keinen Sinn ergeben wollte. Ich spürte die Macht, wie sie mich umschlang, bemüht, jede Faser meines Seins zu berühren und zu erfassen.

Meine Haut juckte, mein Herz raste und auch wenn meine Augen weit aufgerissen waren, konnte ich nichts sehen. Nichts außer diesem gleißenden Licht.

Ein Pochen auf meiner Schulter durchdrang diesen Nebel aus Licht, der mich zu verschlingen drohte. Stark und drängend versuchte es, mir etwas zu sagen, zwang mich dazu, meine Magie unter Kontrolle zu bringen.

Ich wusste nicht, was genau geschah, doch mit einem Schlag war alles vorbei.

Schwer atmend lag ich im Sand und versuchte meinen Blick zu fokussieren, doch alles schien irgendwie falsch.

Kein Geräusch drang an meine Ohren. Aber ich sah Schatten. Ich blinzelte und blinzelte noch einmal. Und trotzdem schien es eine Ewigkeit zu dauern, bis mein Blick sich ein wenig klärte.

Amir lag bewusstlos auf dem Boden. Alle Jäger lagen bewusstlos auf dem Boden. Nur Askea nicht. Doch er schien sehr wachsam, als ich mich langsam aufsetzte und … oh mein Gott!

Ich starrte auf meine Hände, die gar keine Hände waren, und konnte nicht glauben, was ich da sah. Pfoten. Das waren weiße Pfoten. Aber nicht irgendwelche. Das waren riesige Pranken. Und sie hatten Flecken. Ungläubig glitten meine Augen über meine Arme. Nein, jetzt waren es keine Arme mehr, es waren Beine und … und … auch sie hatten Flecken.

Mein Kopf schnellte hoch und schaute Askea an. „Was bin ich?“

Seine Flammen waren erloschen, seine Kleidung seltsamerweise jedoch nicht verbrannt. Er hockte neben Fax und wandte den Blick nicht einen Moment von mir ab.

„Was bin ich?“, fragte ich erneut, als er nicht reagierte.

Seine Augen verengten sich ein klein wenig. „Ein Leopard.“

Leopard. Ein weißer Leopard. Ein Schneeleopard. Wie Talita.

Du bist eine Hexe, deine Schwester ist keine.

Zwei Magien.

Ein ewiger Kampf.

Keiner kann gewinnen.

So plötzlich, wie diese Gedanken kamen, so plötzlich kam auch der Schmerz. Ich spürte, wie jeder Muskel in meinem Körper sich zusammenkrampfte. Etwas wie Säure schien meine Haut zu überziehen. Ich stürzte zurück in den Sand. Meine Augen füllten sich mit Tränen, während meine zusammengebissenen Zähne meinen Schrei verhinderten.

Ich hatte das Gefühl, meine Knochen würden sich verbiegen, als versuchte sie jemand zu schmelzen, um sie neu zu formen.

Mein Atem ging nur stoßweise. In meinem Kopf war nichts als der Nebel des Schmerzes.

Doch dann kam eine kühle Brise, die ihn mit einem sanften Hauch einfach davon wehte.

Ich wusste nicht, wie lange ich mich auf diesem Boden gewälzt hatte, noch was genau geschehen war, doch als ich die Augen endlich wieder öffnen konnte, waren meine Wangen ganz feucht und ich zitterte am ganzen Leib. Ich zitterte so stark, dass meine Zähne klapperten. Und mein Kopf, er tat so weh.

„Schhh“, machte eine beruhigende Stimme. Zwei Arme schoben sich unter meinen Körper und hoben mich vorsichtig vom Boden auf. „Fax, geh in die Höhle und hol die Tasche. Sofort.“

Askea. Askea hatte mich hochgehoben und trug mich jetzt eilig davon. Aber ich konnte die Jäger noch sehen. Wie weggeworfene Puppen lagen sie verstreut um den brennenden Baum.

„Sind sie tot?“, fragte ich leise.

Er blickte zu mir runter und verzog den Mund unwillig, blieb aber keinen Moment stehen. „Nein. Und deswegen müssen wir hier weg, bevor sie wieder aufwachen.“

Sie waren nicht tot. Aber sie hätten mich getötet. Ich hatte es in Ryus Augen gesehen. Sie waren nicht gekommen, um mich zu retten. Ihr einziger Antrieb war Rache gewesen. Sogar Gaio. Und ich hatte ihnen vertraut.

Die nächsten Minuten nahm ich durch einen unaufhörlichen Tränenschleier wahr.

Fax kam mit einem der Seesäcke aus der Höhle gestürzt. Er schien nicht halb so schwer zu sein wie der andere. Guardian stand an seiner Seite und ließ die Ohren wachsam in alle Richtungen wandern, während über uns mehrere Greife kreisten.

Auch Askea hatte sie bemerkt. „Zum Tunnel. Marsch.“ Er schnappte sich noch den zweiten Seesack, warf ihn sich etwas umständlich über die Schulter und eilte dann über den heißen Sand zu einem Hügel, der nur ein paar Meter weiter aus dem Boden ragte.

Wie bei seiner Höhle lag der Eingang etwas versteckt. Er ließ Fax vorgehen und dann tauchten wir in die Dunkelheit ein. Es war so finster, dass ich die Hand vor Augen nicht sehen konnte. Aber sowohl Askea als auch Fax schienen den Weg gut genug zu kennen, um eilig die gewundenen Gänge entlang zu laufen.

Es konnten Minuten gewesen sein oder auch Stunden. Doch plötzlich endete die Schwärze einfach und wir befanden uns wieder im Sonnenlicht. Keiner der beiden Dämonen blieb stehen. Wir befanden uns immer noch in der buckligen Hügellandschaft und Askea steuerte einen weiteren Sandberg an, um mit uns in die Höhle darunter einzutauchen.

Vier-, fünf-, sechsmal tat er das. Immer wieder ging es nach oben, nur um nach einem kurzen Stück zurück in die Finsternis zu verschwinden. Er wurde keinen Moment langsamer.

Ich brauchte etwas, um zu verstehen, was er hier tat. Das war wie ein Labyrinth. Diese Hügel, Höhlen und Tunnel. Askea verschleierte seinen Weg, während er uns von den Jägern fortbrachte.

Langsam begann ich mich zu fragen, wie lange er diese Geschwindigkeit noch durchhalten konnte, als er in einen weiteren Tunnel eintauchte. Dieses Mal jedoch blieb er im Eingang stehen und sah sich um, ob wir auch wirklich alleine waren, bevor er mich vorsichtig auf den warmen Stein runter ließ.

„Erklär mir, was das gewesen ist“, verlangte er, als er den Sack von seiner Schulter gleiten ließ und ihn hastig aufriss.

„Sie haben versucht, mich zu töten.“ Ich schnaubte. Leider wurde daraus ein Schluchzen. Meine Freunde, die Leute, die ich auf dieser Welt am meisten mochte, hatten versucht mich zu töten.

„Das meine ich nicht.“ Er zog einen Stofffetzen heraus und drückte ihn mir unter die Nase. „Halt das fest.“ Er wartete nicht, bis ich zugriff, sondern ließ gleich los und kramte weiter in seiner Tasche. „Hexen können sich nicht in Tiere verwandeln. Aber genau das hast du gerade getan.“

Der Stofffetzen fiel in meinen Schoß und erst dadurch wurde ich mir zweier Dinge bewusst. Erstens: ich hatte schon wieder Nasenbluten. Und zweitens: ich war nackt – meine Kleidung hatte meine Verwandlung wohl nicht überlebt. Ich wusste nicht, was von beidem schlimmer war.

Langsam griff ich nach dem Tuch mit meinem Blut. Meine Hände und Arme … sie waren voller dunkler Flecken. Nein, keine Flecken, Rosetten - wie bei einem Leopard. Und sie verblassten nur sehr langsam. „Ich bin keine Hexe“, sagte ich leise. Nicht nur. „Ich bin wie meine Eltern.“

„Was bedeutet das?“ Askea zog eine kurze Hose und eine Weste aus der Tasche und hielt sie mir hin.

Ich schaute die Sachen an, griff danach und wandte dann das Gesicht ab. „Ich weiß es nicht, nicht wirklich.“ Im Moment interessierte es mich auch gar nicht. Nicht das Blut, nicht die Flecken, nicht meine Nacktheit und auch nicht die Tatsache, dass ich mich in einen Schneeleoparden verwandelt hatte. Nicht wenn ich in meinem Kopf immer wieder Ryus vor Hass verzerrtes Gesicht sah, als er mit dem Schwert nach mir schlug.

Er hätte mich getötet, wenn Askea ihn nicht daran gehindert hätte. Meine Freunde … meine Familie in dieser Welt … sie waren nun meine Feinde. Nicht, weil ich gebrannt war. Nicht, weil ich bei einem Dämon war. Und auch nicht, weil ich sie hintergangen hatte. Sie gaben mir die Schuld an Ashas Tod und würden auch mein Leben beenden, wenn sie die Gelegenheit dazu bekämen.

Dem ersten Schluchzen folgte ein zweites. Ich schlug die Hände vor den Mund, als mir plötzlich der ganze Umfang dieser Situation bewusst wurde. Ich konnte nicht zu ihnen zurück. Sie hassten mich. Keiner von ihnen würde mir noch helfen, denn sie alle glaubten, ich wäre nun der Feind.

„Du brauchst dich nicht fürchten“, sagte Askea. Aber nicht so, als wollte er mich trösten. Er schien einfach eine Tatsache zu benennen. „Hier können die uns nicht finden. Den Weg zum Klüngel finden sie niemals.“

Warum war hier plötzlich der Dämon der Nette und die Jäger die Bösen? Die Welt stand auf dem Kopf und drehte sich in die falsche Richtung.

Guardian löste sich von Fax‘ Seite und stupste mir gegen die Hand. Er war alles, was mir noch geblieben war.

Die Tränen liefen über und rannen unaufhaltsam über meine Wangen. Was war eine Freundschaft wert, wenn sie so leicht zerbrach? Was konnte ich den Jägern bedeuten, wenn sich mich einfach von sich stoßen konnten?

„Ich kann nicht mehr zurück.“ Meine Stimme war tränenerstickt. „Ich kann nie wieder zu ihnen zurück.“

 

°°°

 

Wie aus dem Nichts tauchte die Schlucht vor uns auf. Askea musste mir nicht erst sagen, wohin er uns geführt hatte, ich kannte diesen Ort. Diese Felsformationen, die Musterung und die rötliche Farbe. Das alles hatte ich schon einmal gesehen. Wir befanden und im Tal des Lichtes.

Doch wir standen nicht oben am Rand dieses Kessels, sondern unten im Tal, in einer Spalte am äußeren Rand. Die Tunnel, durch die Askea uns gebracht hatte, führten genau hierher. Die Spalte sah aus, als hätte ein Riese mit einer enorm großen Axt den Fels vom Boden bis zum oberen Rand durchgeschlagen.

Dieser Riss war nicht der einzige. An dieser Seite des Kessels reihten sie sich dicht an dicht. Manche Lücken waren so breit, dass ein ganzer Elefant hindurchgepasst hätte. In andere wiederum bekam man kaum eine Hand hinein.

Dann war da noch die offene Magie, die an diesem Ort herrschte. Ich hatte sie schon gespürt, bevor wir aus dem Tunnel getreten waren, und auch jetzt strich sie über meine Haut und umschmeichelte meine Nerven. Ich spürte sie so klar, als wäre sie etwas Greifbares. Und ich fürchtete mich. Aber ich wusste nicht, ob ich mich vor der Magie fürchtete oder vor dem Unbekannten, was vor mir lag.

„Es ist nicht mehr weit“, erklärte Askea und wandte sich im Licht der tiefstehenden Sonnen nach rechts. Über seiner Schulter hing der schwere Seesack, an seiner Hand zog er Fax mit sich.

Ich drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, als ich ihm folgte. Nicht nur, dass meine Füße schmerzten – als ich mich verwandelt hatte, waren auch meine Schuhe flöten gegangen – ich wollte ihn auch nicht begleiten. Aber im Moment gab es keinen anderen Ort, an den ich konnte. Eine Rückkehr zu den Jägern war ausgeschlossen und anderer Orts konnte es passieren, dass man mich verhaftete.

Dieser Gedanke war mir erst vor ein paar Stunden gekommen. In den Augen der Mortatia hatte ich mich mit den Dämonen zusammengetan – das Brandmal auf meiner Schulter war ein eindeutiger Beweis. Dadurch war es einem Rubin möglich gewesen, Asha zu töten. Beihilfe zum Mord.

Papá hat deine Freundin nicht getötet. Papá tötet nur Tiere zum Essen.

Wenn ich Fax‘ Worten doch nur glauben könnte. Aber wenn Askea es nicht gewesen war, wer hätte es denn sonst sein können? Etwa Ryu selbst? Ausgeschlossen.

Aber er wirkte immer so überzeugend, wenn er bestritt, etwas mit Ashas Ableben zu tun zu haben. Im Gegensatz dazu hätte ich niemals geglaubt, dass einer der Jäger dazu imstande wäre, sich an Unschuldigen zu vergreifen – soweit man mich eben als unschuldig bezeichnen konnte. Aber das hatten sie getan. Ryu hatte versucht mich zu töten und keiner der Jäger hätte ihn daran gehindert. Nicht Amir und auch nicht Gaio – nicht ernsthaft.

So wie es sich im Moment darstellte, waren die Jäger die Monster und die Dämonen die Opfer. Aber das konnte nicht sein. Allein schon, wenn man bedachte, wie grausam die Dämonen sein konnten.

Aber manchmal waren die Jäger nicht weniger grausam. Wie sie die Dämonen tagelang ohne Essen und Wasser in die Sonnen setzten, war kaum zu ertragen.

Verdammt, die Welt stand Kopf und ich wusste einfach nicht mehr, was ich denken sollte.

Askea führte uns stumm an den Spalten im Felsen vorbei. Manche schienen Höhleneingänge zu sein, deren dunkler Schlund ins Nichts zu führen schien. Andere waren nichts weiter als kleine Nischen.

An den steilen Hängen entdeckte ich wieder Eutherias, diese kleinen, weißen Kletterbären. Dieses Mal jedoch rannten sie nicht weg, als sie unser Eindringen bemerkten. Sie schauten uns nur wachsam zu. Genau wie dieser seltsame Vogel, der dort oben auf dem Felsvorsprung hockte.

Guardian blickte wachsam zurück.

Mit einem „Hier lang“ zog Askea meine Aufmerksamkeit auf sich. Er verschwand in einer der Felsspalten und Fax gleich hinter ihm.

Ich schaute dabei zu, wie sie in die Dunkelheit eintauchten. Dann ging mein Blick nach links und nach rechts. All diese Spalten sahen gleich aus – so mehr oder weniger – woher wusste er, welche die Richtige war?

„Tiara, komm!“

Dieser Befehl … etwas Rebellisches in mir wollte aufbegehren und diesem drakonischen Dämon auf seinen Platz verweisen, aber ein anderer Teil in mir fürchtete sich vor den Folgen einer solchen Handlung. Egal was ich tat, ich konnte nicht gewinnen. Ich konnte mich nur meinem Schicksal fügen und ihm folgen – vorerst. Ich würde einen Weg finden, ihm zu entkommen. Das schwor ich mir.

Als ich einen Schritt in die Kerbe hinein tat, tauchte Fax vor mir auf. Etwas schüchtern reichte er mir die Hand. Es war genau wie gestern, nachdem ich in Askeas Höhle aufgewacht war. Das Lächeln, das auf meinen Lippen erschien, als ich seine Hand nahm, war wohl das erste echte in den letzten Tagen. „Danke“, sagte ich leise und tauchte dann gemeinsam mit ihm in die Dunkelheit ein.

Doch es blieb nicht lange finster. Schon nach wenigen Schritten machte dieser Ort seinem Namen alle Ehre und jeder Schritt wurde durch die Pflanzen erhellt, die hier wuchsen. Erst war es nur das Moos unter unseren Füßen, das schwach zu leuchtete, wenn wir drauftraten, doch die Fauna wurde immer prächtiger. Wir tauchten in eine andere Welt ein.

Es war wie das letzte Mal, als ich an diesem Ort war. Wundersame Pflanzen, leuchtende Wasserfälle, Bachläufe und kleine Teiche. Ein ums andere Mal entdeckte ich kleine Tiere. Guardian machte sich einen Spaß daraus, sie durch die Gegend zu jagen.

Unser Weg führte uns tiefer in den Rand des Kessels hinein. Verschlungene Pfade, Weggabelungen und Höhlen. Ich war mir nicht ganz sicher, doch nach einiger Zeit hatte ich das Gefühl, dass wir im Kreis liefen. Nicht weil wir immer wieder am selben Fels vorbeikamen, nein, eher wie eine Spirale, die sich in die Tiefe schraubte. Als ich mich zu wundern begann, wählte Askea einen Weg, der mehr oder weniger gerade zu verlaufen schien. Aber nicht nur das, er stieg auch wieder an. Dabei kamen wir an so vielen Höhlen und Weggabelungen vorbei, dass ich schon nach kurzer Zeit die Orientierung verloren hätte, wäre das nicht bereits kurz nach dem Betreten der Höhlen passiert.

Ein Labyrinth aus Höhlen und Gängen, eine Welt getaucht in Licht, tief verborgen unter der Oberfläche. Die Magie war hier allgegenwärtig. Ich spürte sie, viel zu intensiv. Ich spürte sie, genau wie ich den leichten Schmerz in meinem Kopf spürte. Die fast verblassten Rosetten auf meiner Haut schienen wieder deutlicher zu werden, so als würden sie auf die Magie reagieren.

Askea hatte gesagt, dass es nicht mehr weit wäre, doch glauben konnte ich das erst, als ich nach einer Ewigkeit Licht am Ende des Tunnels sah.

Bei dem Gedanken verzog ich das Gesicht. Das hörte sich viel zu sehr nach einer Nahtoderfahrung an, als dass es mir im Moment gefallen könnte. Aber genau so war es. Die Pflanzen um uns herum wurden nicht weniger, deswegen bemerkte ich es nicht sofort. Doch dann veränderte sich das Licht und aus dem sanften Leuchten der Pflanzen wurde das rötliche Licht der untergehenden Sonnen.

Hinter Askea trat ich aus dem Tunnel heraus und fand mich in einem Krater unter einem blutroten Himmel wieder. Die Stunde des Zwielichts war angebrochen.

Dieser Krater war ein Spiegelbild der Höhlen. Ein breiter Bachlauf floss mitten durch ihn hindurch. Ein kleines Wäldchen grenzte an ihn. Solche Bäume hatte ich noch nie gesehen. Sie besaßen keine Blätter, sondern blaue Lianen, die wie bei einer Weide hinunterhingen.

Der Boden war bedeckt mit Gras, Moos und exotischen Pflanzen. Eine kleine Oase, versteckt mitten in einem zerklüfteten Krater. Doch die freie Magie spürte ich hier nicht so extrem wie in den Tunneln. Vielleicht weil wir uns im Freien befanden.

Ich ließ meinen Blick an den äußeren Wänden hinaufwandern. Vierzig bis fünfzig Meter gingen sie in die Höhe und waren übersät mit Löchern. Nein, keine Löcher, Eingänge zu Höhlen. In den rötlichen Stein waren Wege und Vorsprünge gehauen worden, die die Höhlen miteinander verbanden. So kam man problemlos vom Boden zu dem Eingang, der sich in dreißig Meter Höhe befand.

Und diese Höhlen waren bewohnt. Auf einem Vorsprung saß ein alter Mann und paffte irgendetwas. Eine Frau mit einem Baby auf dem Rücken schritt einen der Pfade entlang. Aus einer Höhle etwas weiter oben hörte ich laute Stimmen und im Gras neben dem Bach lag ein junger Bursche.

Sie alle hatten eines gemeinsam: sie waren Dämonen. Smaragde, Saphire, Zirkone und Rubine. Allein durch einen Rundblick entdeckte ich an die zwanzig von ihnen. Wie viele sich wohl noch in den Höhlen verbargen? „Wo sind wir hier?“

„Im Klüngel.“ Askea trat neben mich und wollte eine Hand auf meine Schulter legen, um mich vorwärts zu schieben. Ich wich ihm aus, bevor er mich berühren konnte.

„Ich kann allein laufen.“

Er musterte mich, lief dann aber los, ohne mich weiter zu beachten. „Bleib dicht bei mir. Neulinge sind hier nicht gern gesehen.“

Das war … keine gute Nachricht. Besonders, da mich die Dämonin, die gerade am Bach Wasser schöpfte, gerade entdeckt hatte. Ein Rubin. Nicht gut. Ich sah zu, dass ich an Askeas Seite kam, und riss Fax ohne Rücksicht auf Verluste mit mir mit. Doch ich konnte ihren Blick spüren und der gefiel mir gar nicht.

Sie war auch nicht die einzige, die unsere Ankunft mittlerweile bemerkt hatte.

Die Frau mit dem Baby war stehen geblieben, der alte Mann starrte grimmig in die Tiefe und der junge Kerl hatte sich auf die Seite gedreht. Und die Blicke, die sie mir alle zuwarfen ...

„Ich glaube, ich bin hier nicht willkommen.“

Askea schnaubte. „Das ist noch untertrieben. Du bist ein Mortatia. Sie hassen dich.“

Ich öffnete den Mund, aber kein Wort kam heraus. Auch nicht, als Fax meine Hand etwas fester drückte. Im ersten Moment glaubte ich, er wollte mich damit trösten, doch dann drängte er sich näher an mich, als suchte er Schutz bei mir.

„Fax?“

Er sah nur kurz zu mir hoch und dann wieder zu dem Bach. Die rothäutige Dämonin hatte sich erhoben und marschierte ohne Umschweife direkt auf uns zu. Äußerlich sah sie aus wie das nette Großmütterchen, das einem Sonntags immer Kekse backte, doch leider wirkte sie nicht sehr freundlich.

„Ähm … Askea?“

Mein Kidnapper stoppte, sah die Dämonin und zog die Oberlippe nach oben. Es wirkte wie eine Drohgebärde, die die Dämonin wenigstens dazu veranlasste, stehen zu bleiben. Doch Sympathie brachte sie mir deswegen noch lange nicht entgegen. „Lauft weiter“, befahl er uns, ließ die Frau dabei aber keinen Moment aus den Augen.

Es widerstrebte mir zutiefst, seinem Befehl Folge zu leisten, doch bei den ganzen feindseligen Blicken, die mir zugeworfen wurden, war es für den Moment wohl das Beste. „Warum bringst du mich an einen Ort, an dem man mich hasst?“, zischte ich ihm zu, als er mich eilig über die Lichtung schob.

„Weil wir hier sicher sind.“

„Sicher? Hast du dich mal umgeschaut?“ Amir hatte doch gesagt, der männliche Part bei den Dämonen sorgte für die Sicherheit. Mich in ein Nest voller Dämonen zu bringen, fand ich nicht besonders sicher.

„Der Klüngel ist eine Zuflucht für Dämonen. Hier können uns die Jäger nicht finden.“

Nein, vermutlich nicht. Bei den ganzen Höhlen, Tunneln und Abzweigungen könnten sie Jahrzehnte an diesem Ort suchen, ohne auf die kleinste Spur eines Dämons zu stoßen. Aber leider machte das meine Situation nicht unbedingt besser.  

„Na, sieh mal einer an, wer wieder da ist.“

Die Stimme neben mir brachte mich nicht nur dazu, stehen zu bleiben, sondern auch dazu, meine freie Hand zu heben. Nur ein falscher Schritt und ich würde meine Magie spielen lassen.

Doch die junge Frau, die dort aus der Höhle getreten war, beachtete mich gar nicht. Ihr Blick galt allein Askea und hatte etwas Berechnendes. „Hast du nicht gesagt, du kehrst erst zurück, wenn dein Balg auf eignen Beinen steht?“ Fast gleichgültig schweifte ihr Blick zu Fax, der sich sofort fester an mich drückte. „Heißt das, er kann sich nun um sich selbst kümmern?“

Askea setzte einen fast übermütigen Ausdruck auf. „Wie ich sehe, hast du immer noch keinen Mann.“

So wie sie daraufhin die Augen zusammenkniff, hatte er damit wohl einen wunden Punkt erwischt. Doch statt ihn dafür anzufauchen, konzentrierte sie sich auf Fax. „Das lässt sich schnell ändern.“

Etwas in ihren Worten veranlasste mich dazu, den Kleinen hinter mich zu schieben. Wie sie ihn fixierte … es gefiel mir einfach nicht.

Diese Bewegung entging ihr nicht. „Und was ist das?“ Sie ließ ihren Blick abschätzend über mich gleiten. „Ein Mortatia? Was willst …“ Als sie die Markierung auf meiner Schulter entdeckte, blieben ihr die Worte sprichwörtlich im Halse stecken. Aber nur für einen kurzen Moment. „Du hast sie gebrannt?!“

„Bleib von ihr weg, Nubia.“ Askeas Worte waren fast ein Knurren. „Das ist die einzige Warnung, die du bekommst.“

„Glaubst du, ich habe Angst vor dir?“

„Nein, aber du solltest vor ihr Angst haben.“

Vor mir?!

„Vor ihr?!“ Sie lachte spöttisch. „Warum sollte ich mich vor einer kleinen Hexe fürchten?“ Sie musterte mich. Ihr Blick blieb an den verblassten Rosetten hängen.

„Hoffe, dass du das nie herausfindest.“ Als er eine Hand auf meine Schulter legte und mich samt Fax vorwärts schob, kniff die Dämonin ihre Augen leicht zusammen. Dieser Blick … nein, der gefiel mir absolut nicht. Die Jäger hatten schon Recht, weibliche Dämonen waren eine ganz eigene Spezies.

Der Gedanke an die Jäger ließ mich die Lippen fest aufeinanderpressen. Würde es jetzt immer so sein? Würde ich bei allem, was ich tat oder sah, auf ihre Lehren zurückgreifen?

Im Moment bist du nichts weiter als ein Kind im Körper einer Frau. Dein Leben besteht nur aus wenigen Wochen.

Und diese wenigen Wochen hatte ich alle zusammen mit den Jägern verbracht. Im Grunde kannte ich also nichts anderes als ihre Lebensphilosophie. Aber …

Für das, was sie getan hat, wird sie sterben. Hier und jetzt!

 Ich konnte mich nicht länger an die Jäger klammern. Nicht nach dem, was heute passiert war. Doch wenn ich sie hinter mir ließ, blieb eine Frage offen. Vielleicht die wichtigste von allen: Wer bin ich?

Ich drückte Fax‘ Hand ein wenig fester und ließ mich von Askea zu einem geschlungenen Pfad bringen, der bei dem kleinen Wäldchen begann. Wir liefen bis in die zweite Etage, direkt zum ersten Eingang.

Askea wollte direkt hinein gehen, stoppte dann aber und spitzte die Ohren. Auf seine Stirn schlich sich ein Stirnrunzeln.

Dann hörte ich es auch. Ein Schlürfen. In der Höhle war jemand.

„Ihr wartet hier“, befahl Askea, ließ seine Tasche auf den Boden fallen und verschwand durch das Loch in der Wand.

Ich blickte ihm hinterher, doch es war zu dunkel, um mehr als ein paar Schemen ausfindig zu machen.

„Ich glaube, Nubia mag dich nicht“, ließ Fax da verlauten.

Ich folgte seinem Blick in die Tiefe.

Die Dämonin starrte zu uns hinauf. Nein, sie starrte zu mir hinauf und sie sah nicht glücklich aus.

„Ich glaube, dein Vater hat gerade ein wenig zu dick aufgetragen. Warum sollte ein Rubin sich vor mir fürchten?“ Noch dazu ein weiblicher, der geradezu Blitze aus seinen Augen schoss?

„Weil du ein Jäger bist.“ Fax wandte mir das Gesicht zu. „Alle Dämonen fürchten sich vor den Jägern.“

Und das, obwohl sie eigentlich viel stärker waren als wir. Doch die Jäger hatten den Vorteil, dass sie zusammen arbeiteten und nicht wie die Dämonen gegeneinander.

„Und sie ist auch nicht die einzige.“

Ich folgte Fax ausgestrecktem Finger. Da war eine weitere Dämonin, die mich feindselig anfunkelte. Und da war noch eine. Plötzlich schienen sie überall zu sein.

Ich schluckte. Das gefiel mir immer weniger. Mein einziges Glück war wahrscheinlich, dass sie nicht wussten, wer ich wirklich war. In ihren Augen musste ich eine einfache Hexe sein. Keiner von ihnen hatte eine Ahnung, was ich die letzten Monate getan hatte – keiner außer Askea und Fax.

So viel Aufmerksamkeit war mir mehr als unangenehm. Aus jedem Höhleneingang schienen Augen auf mich gerichtet zu sein. Und hier gab es eine Menge Höhlen.

Der einzige, der im Moment mit sich und seinem Leben zufrieden zu sein schien, war Guardian, der neugierig die Gegend erkundete. Ich sah sein rötliches Fell immer mal wieder zwischen den Pflanzen aufblitzen.

Als Fax an meinem Arm zupfte, um mich auf einen Smaragd aufmerksam zu machen, der auf uns zukam, trat ich unwillkürlich einen Schritt zurück. Den Ausdruck in seinem Gesicht mit grimmig zu bezeichnen, wäre noch harmlos gewesen.

Das gefiel mir nicht. „Askea?“, rief ich und drehte mich zur Höhle um, gerade als daraus ein lautes Kreischen von den Wänden widerhallte. Mein Herz sprang mir bis in die Kehle und beruhigte sich auch nicht wirklich, als gleich daraufhin eine weibliche Stimme laut zu schimpfen und fluchen begann. Sie sprach so schnell, dass ich ihre Worte gar nicht verstand. Und sie wurden lauter. Das bedeutete, sie kam auf den Ausgang zu.

Ich war hin und her gerissen zwischen nachsehen und abhauen, da trat plötzlich eine wütende Dämonin aus der Höhle. Nein, sie trat nicht raus, Askea hatte sie am Arm gepackt und warf sie praktisch hinaus.

„Meine Höhle!“, verkündete er und deutete mit dem Finger an ihr vorbei. „Verschwinde!“

„Du verschwindest doch sowieso bald wieder!“

„Wag es nicht noch einmal, sie zu betreten!“

Die alte Vettel plusterte die Backen auf. Mit ihren tausend Falten sah das irgendwie seltsam aus. Dieser Zirkon … ich glaubte nicht, schon mal jemanden begegnet zu sein, der so alt war. „Das wirst du noch bereuen!“, fauchte sie, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte … in die nächste Höhle. Gleich darauf wurde es darin laut.

Ich runzelte die Stirn. Was bitte war das gewesen?

„Kommt.“ Askea klaubte seinen Seesack auf und nahm mir auch meinen ab, bevor er erneut in der Höhle verschwand – meine kleine Tasche durfte ich selber tragen. „Und passt auf den Fluss auf.“

Fax folgte seinen Worten sofort.

Ich warf noch einen kurzen Blick in Richtung der lauten Stimmen und tauchte dann ein ins Unbekannte … nur um fast ins Wasser zu treten.

Direkt vor dem Eingang verlief ein Bach. Er sprudelte aus der linken Wand heraus und verschwand in der rechten. Nur ein schmaler Steg an der Seite sorgte dafür, dass man beim Betreten der Höhle trockene Füße behielt.

Askea war bereits weiter im Inneren und strich mit der Hand über die Wand, woraufhin Magieadern aufleuchteten und ihr sanftes Licht im Innenraum verströmten. So entdeckte ich auch die kleine steinerne Brücke, die über den Bach führte. Sie befand sich knapp zwei Meter neben dem Eingang. Dabei wäre es doch sinnvoller, sie vor den Eingang zu setzen, damit man nicht ausversehen ins Wasser fiel.

Das innere der Höhle wirkte … freundlich – sofern eine rustikale Höhle freundlich wirken konnte. Genau in der Mitte befand sich eine ausgebrannte Feuerstelle. In den hinteren Teil waren Regale aus grobem Holz gezimmert worden. Sie würden sicher keinen Schönheitspreis gewinnen, aber sie boten reichlich Platz für Töpfe, Kleidung und das ganze andere Gerümpel, das man so im alltäglichen Leben brauchte.

Rechts von der Feuerstelle war ein großes Lager aus Fellen, von denen Askea die obersten entfernte und durch die mitgebrachten ersetzte. Daneben, in einer Art Ständer, entdeckte ich mehrere Speere.

Alles war völlig verstaubt.

„Papá, die sind fast alle kaputt.“

„Dann mach sie alle weg. Ich besorge morgen neue.“

Ich folgte mit den Augen Fax‘ Stimme und entdeckte ihn, als er mit den Armen voller alter Felle aus einer versteckten Nische heraustrat und sie auf den Berg warf, den sein Vater bereits aufgehäuft hatte.

„Hier, nimm erstmal die.“ Askea reichte ihm zwei Felle, die mich sehr stark an Lämmchen erinnerten. „Die müssen zum Schlafen erstmal reichen.“

Nickend nahm Fax sie an und verschwand damit wieder in der Nische. Das musste eine kleine Nebenhöhle sein, Fax‘ Höhle. Versteckt in der hintersten Ecke, weit entfernt vom Eingang.

Plötzlich kam es mir gar nicht mehr so dumm vor, dass die Brücke so versetzt war. Jemand, der sich hier nicht auskannte, würde ins Wasser treten und damit sofort auf sich aufmerksam machen. An einem Ort voller Dämonen war so etwas wohl wichtig.

Seufzend wandte ich mich von den beiden ab und schaute draußen den untergehenden Sonnen beim Verschwinden zu. Würde das nun mein Leben sein? Eine … Zwangsehe in einer Höhle? Ohne Möglichkeit, entkommen zu können?

Nein, eigentlich stimmte das ja gar nicht. Es gab eine Möglichkeit, sich von ihm zu lösen, dazu brauchte ich nur einen Spiegel. Aber das hieße, dass ich mich meiner Vergangenheit stellen müsste. Ich würde erfahren, wovor ich geflohen war. Und ich müsste die Magie aufgeben.

Ich schloss die Hand zur Faust. Selbst jetzt noch spürte ich sie über meine Haut streichen. Dieser Ort war so erfüllt von ihr, dass ich sie mit jedem Atemzug einsog. Und dass mir das auf Dauer nicht guttun würde, wusste ich mit Sicherheit.

„Tiara?“

Ich drehte mich nicht zu Askea um. Es war mir egal, was er wollte. Stattdessen richtete ich meinen Blick auf einen männlichen Smaragd, der gegenüber auf einem Vorsprung stand und etwas hinunter kippte. Im Gegensatz zu den anderen Dämonen hatten Smaragde etwas wie Haare, sowohl die Männer als auch die Frauen. Obwohl, ich würde es eher als Lianen bezeichnen. Sie waren nur etwas dunkler als ihre grüne Haut.

Plötzlich, als spürte der Dämon, dass ich ihn beobachtete, hob er den Kopf. Für einen kurzen Moment blickte er mir entgegen, doch schon im nächsten wandte er seine Aufmerksamkeit der Höhle hinter sich zu. Ein weiterer Smaragd tauchte dort auf, eine Frau. Sie schien sehr seeehr sehr wütend zu sein. Das zumindest entnahm ich dem Messer in ihrer Hand, mit dem sie auf den Mann losging.

Ich hielt den Atem an.

Das Messer sauste nach unten, direkt auf seine Brust zu. Doch sie traf nicht. Auf halbem Wege erstarrte sie einfach. Ich sah die Wut in ihrem Gesicht, sah, wie sich ihre Lippen bewegten und sie jedes Wort nur so ausspie. Und ich sah das Messer in der untergehenden Sonne aufblitzen.

Der Mann schaute ihr völlig ruhig entgegen.

Er hat sie gebrannt, sie unterliegt seiner Kontrolle. Meine Hände schlossen sich zu Fäusten.

Genauso ruhig trat der Mann nun näher und entwand ihr das Messer. Es fiel achtlos zu Boden.

Ich hörte weniger, wie Askea die Brücke überquerte, sondern spürte es eher. Noch immer hatte ich keinen Blick für ihn übrig. Dafür war ich viel zu gebannt davon, wie der Smaragd auf die Frau zutrat – ganz dicht. Er neigte ihren Kopf zur Seite, schloss die Augen und senkte seinen Mund auf ihre Schulter.

Augenblicklich durchfuhr ein Schauder ihren Körper. Ich konnte bis hier hin sehen, wie die Wut in ihr sich einfach aufzulösen schien, als hätte es sie nie gegeben.

Als Askea neben mich trat und nachsah, was ich da beobachtete, wich ich ein Stück zur Seite. Es war eine Sache, sich dort draußen von ihm vor einer wildgewordenen Dämonin beschützen zu lassen, aber eine ganze andere, ihm sowas auch hier drinnen zu gestatten.

„Sie sind schon viele Jahre Gefährten“, sagte Askea. „Sie gehörten schon zusammen, als ich das erste Mal in den Klüngel kam.“

Viele Jahre. Und trotzdem brannte er sie noch und hielt sie mit seinem Willen unter Kontrolle. Doch auf einmal schien sie das gar nicht weiter zu stören. Ihre verkrampfte Haltung war weich und anschmiegsam geworden. Sie zog den Mann sogar näher an sich heran, während ein kleines Lächeln um ihre Lippen spielte.

„Es gefällt ihr“, sagte ich leise. So genussvoll, wie sie die Augen schlossen, konnte es gar nicht anders sein. „Sie mag, was er macht.“

„Das Brennen ist nur beim ersten Mal schmerzhaft. Mit der Zeit wird es zu etwas anderem. Zu mehr.“

Als ich seine Hand auf meiner Schulter spürte, zuckte ich vor ihm zurück, doch Askea ließ nicht zu, dass ich mich weit von ihm entfernte. Das Mal pulsierte leicht und hinderte mich daran, auch nur einen weiteren Schritt zu machen. Ich schaffte es gerade mal, mich mit dem Rücken innen gegen die Wand zu lehnen und die Arme vor der Brust zu verschränken. „Tu es nicht“, flüsterte ich. Ich wollte nicht noch enger an ihn gebunden sein.

„Auch du wirst es mit der Zeit mögen.“

Aber ich wollte es nicht mögen. Ich wollte einfach nur die Zeit zurückdrehen, zu dem Moment, als wir aus Sternheim zurückgekommen waren. Denn dort hatte alles begonnen. Vorher war meine Welt in Ordnung gewesen.

Doch jetzt war ich hier und konnte nichts dagegen tun, dass Askea mein Gesicht sanft zur Seite drehte und seine Lippen auf meine Schulter legte.

Ich schloss die Augen, um es nicht sehen zu müssen. Leider spürte ich es dadurch aber umso intensiver. Wie nahe er mir war und sie er seine Hand auf meine Taille legte. Ich spürte wieder diesen warmen Hauch, der in mich hineinfloss und jeden Winkel meines Seins berührte.

Es tat nicht weh. Es war warm, fast angenehm. Und es berührte etwas tief in mir. Wie ein Sonnenstrahl, der auf kaltes Wasser traf und es langsam erwärmte. Ein Teil von mir schrie mit jeder Faser, dass ich ihn von mir stoßen sollte. Doch selbst, wenn ich es gekonnt hätte, war da ein anderer, sehr kleiner Teil, der es genoss, ihn so dicht bei mir zu wissen. So tat ich nichts anderes als dazustehen und mir zu wünschen, dass es endlich vorbei war. Und auch, dass ich diesen Wunsch ernst meinte.

„Papá, ich hab Hunger.“

Diese Worte schienen nach einer Ewigkeit erst ausgesprochen worden zu sein. Doch Askea riss sich deswegen nicht von mir los. Er tat, was er tat, bis er der Meinung war, dass er für heute genug hatte. Erst dann löste er sich von mir, trat aber nicht zurück. Er schaute mir in die Augen und was ich darin sah, verstand ich nicht.

Da war keine Furcht, kein Hass. In ihnen brannte ein Feuer, so hell, wie ich es in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen hatte. Warum legte mein Herz bei diesem Blick einen Takt zu?

„Papá?“

Meine Finger zuckten und für einen Moment hatte ich das überwältigende Bedürfnis, sie anzuheben und ihn damit zu berühren. Doch ich konnte es einfach nicht tun. Das hier war Askea. Ein Dämon und der Mörder meiner Freundin – wahrscheinlich.

Das Beste, was ich in diesem Moment tun konnte, war den Blick abzuwenden. Und genau das tat ich auch.

„Du wirst lernen müssen, mir zu vertrauen.“

Ich drückte die Lippen fest zusammen.

„Irgendwann wirst du mir vertrauen.“

„Papá, ich …“

„Sieh in der Tasche nach“, unterbrach er seinen Sohn, bevor dieser ihn nochmal auf sein Magengrummeln aufmerksam machen konnte, und trat nun endlich einen Schritt von mir zurück. Leider fühlte sich das nicht so gut an, wie es sollte. Es war einfach nur ein Entzug seiner Wärme. „Und du, komm jetzt. Es war ein langer Tag.“

Ja, ein sehr langer Tag, der im Grunde nur eine Frage aufgeworfen hatte: Wer bin ich?

 

°°°°°

Tag Vierundachtzig

 

Dieser drakonische Dämon! Was glaubte er eigentlich, wer er war?! Aber viel wichtiger: warum zum Teufel spielte ich da auch noch mit?!

Wütend auf mich und diesen Mann, ließ ich den Eimer ohne Rücksicht auf Verluste aufs Wasser klatschen.

„Bist du wütend?“

Ich stockte mitten in der Bewegung. Meine Hand klammerte sich um den Griff des Eimers, doch plötzlich schien meine Kraft mich einfach zu verlassen. „Nein“, flüsterte ich und ließ den Kopf hängen. „Nein Fax, ich bin nicht wütend.“ Ich war nur enttäuscht und wusste nicht mal genau von wem. Wahrscheinlich einfach nur von mir selbst.

Askea hatte mich gebrannt. Heute Morgen, bevor er aufgebrochen war, um ein paar Sachen zu besorgen. Und es hatte mir gefallen. Nicht nur das. Mein Herz hatte geklopft. Viel zu laut. Wahrscheinlich hatte er es gehört. Was geschah hier nur mit mir?

„Aber du bist auch nicht glücklich“, stellte er fest und hockte sich neben mich an unseren Höhlenbach.

Nein, ich war nicht glücklich. Ich war vieles – besonders durcheinander – aber gute Gefühle zählten im Moment nicht wirklich zu meinem Repertoire.

„Was würde dich denn glücklich machen?“

Sicher nicht, für so einen drakonischen Dämon seine Höhle zu putzen. Ich konnte es noch immer nicht richtig fassen, dass ich das tun sollte. Und auch nicht, dass ich nun wirklich an dem Bachlauf kniete und einen Holzeimer in der Hand hielt. Besonders, da es heute nicht das erste Mal war. Ich hatte bereits Fax‘ Zimmer sauber gemacht – es war nicht mehr als ein versteckter Winkel, gerade groß genug dafür, dass eine Person dort bequem schlafen konnte und noch Platz dafür hatte, eine Kiste hinzustellen, um Spielzeug und Kleidung unterzubringen.

Jetzt war ich dabei, die Regale hinten zu putzen. Ausgeräumt und aussortiert hatten Fax und ich sie bereits. Aber ich bezweifelte, dass ich diese dicke Staubschicht durch schnelles Darüberwischen beseitigen konnte.

Ich seufzte und sah zu Fax, der offensichtlich immer noch auf eine Antwort wartete. Aber die konnte ich ihm nicht geben. Ich hatte sie nicht. „Was macht dich denn glücklich?“, fragte ich stattdessen.

Er neigte den Kopf leicht zur Seite und verzog den Mund zu einer nachdenklichen Schnute. „Weißt du noch, im Lager bei den Jägern?“

„Was meinst du?“ Ich tauchte den Eimer tiefer ins Wasser, wartete einen Moment, bis er voll war, und stellte ihn dann neben mich.

„Du hast gesungen. An dem einen Tag hast du gesungen, bis ich eingeschlafen bin.“ Seine Lider sanken leicht herab. „Mamá hat das auch immer gemacht. Daran erinnere ich mich noch.“

Langsam wandte ich ihm das Gesicht zu. Seine Mamá. Bisher wurde sie nur einmal erwähnt – ganz nebenbei. Ich hatte gar nicht darüber nachgedacht, was das bedeutete. Natürlich musste er eine Mutter haben. Auch wenn bei den Dämonen eine Menge anders lief als bei den Mortatian, so unterschieden sie sich in dieser Hinsicht nicht voneinander.

Was wohl mit ihr passiert war? Warum war sie nicht an Fax‘ Seite, wo sie hingehörte?

„Würdest du etwas singen? Ich mag das.“

Nein, das konnte ich ihn nicht fragen. So wie Askea war, hätte er seine Gefährtin niemals freiwillig gehen lassen. Es muss also etwas Schlimmes geschehen sein und ich wollte Fax nicht unnötig daran erinnern. Das war eine Frage, die ich seinem Vater stellen musste. „Aber nur mit dir zusammen.“

Das ließ ihn strahlen, wie es nur Kinder konnten. „Und welches Lied?“

„Hm, lass mich mal nachdenken.“ Ich kramte in den Tiefen meines Gedächtnisses herum und meine Erinnerung spuckte ein Lied aus. Ich hatte zwar keine Ahnung, woher ich es kannte, aber es war passend. „Okay, pass auf. Putzen, spülen, Wäschewaschen, da dürfen wir alle ran.“ Mit dem Finger spielte ich den Takt mit. „An den Flaschen bloß nicht naschen, und bitte, bitte denkt daran: alles was zum Putzen ist … ist für Kinder großer Mist. Drum lassen wir …“

„Das kenn ich nicht.“

„Kein Problem, dann bringe ich es dir bei. Also, nochmal. Und pass gut auf.“ Ich gab wieder den Takt vor. „Putzen, spülen, Wäschewaschen.“

„Putzen, spülen, Wäschewaschen.“

Ich nickte, griff meinen Eimer und erhob mich. „Da dürfen wir alle ran.“

„Da dürfen wir alle ran.“ Er folgte meinem Beispiel.

„An den Flaschen bloß nicht naschen.“

Ein Runzeln legte sich auf seine Stirn. „Was für Flaschen?“

Grinsend schaute ich zu ihm runter. „Putzflaschen. Reinigungsmittel.“

Er nickte ernst und verstehend, was mich gleich noch breiter grinsen ließ.

„Okay. Nochmal. Putzen, spülen, Wäschewaschen …“

Dieses Mal versuchte Fax vom ersten Wort an mitzusingen. Und so machten wir uns über den Dreck in der Höhle her. Singend, lachend und hin und wieder auch tanzend. Jedes Mal, wenn wir an Askeas Schlaflager vorbeiliefen, stellte Guardian die Ohren auf und sah uns hinterher. Das hieß allerdings nicht, dass er seinen Liegeplatz verließ. Zumindest nicht, bis Fax ihn runterscheuchte, um die Felle auszuklopfen.

Ich stellte schnell fest, dass Fax für sein Alter schon sehr selbstständig war. Ob das normal war? Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht mal, ob ich in der Vergangenheit viel mit Kindern zu tun gehabt hatte. Aber mit Fax war es so leicht, dass ich mich dran gewöhnen konnte.

Das Regal war verhältnismäßig schnell sauber, die Sachen, die darin standen, musste Fax aussortieren, weil ich keine Ahnung hatte, was man davon noch gebrauchen konnte – viel, wie ich später feststellen musste, denn ich war es, die jedes einzelne Stück sauber schrubbte.

Als es dann an den Boden ging, blieb ich erstmal einen Augenblick unschlüssig stehen. Wie in Herrgottsnamen solle ich den jemals richtig sauber bekommen? Das war grober Stein. Überall Huckel und Risse. Fegen und wischen würde da nicht viel bringen, auch wenn Fax sagte, dass sie das immer so machten.

Nein, ich hatte da eine bessere Idee, zögerte aber, sie in die Tat umzusetzen. Nicht weil es Askea vielleicht nicht gefallen könnte – seine Meinung war mir eigentlich ziemlich egal – es war die Furcht davor, Magie einzusetzen. Zwar umgab sie mich die ganze Zeit und kribbelte verlockend auf meiner Haut, doch ansonsten ging es mir eigentlich ganz gut. Diesen Zustand würde ich sehr ungern ändern.

Andererseits wollte ich doch gerade wegen der Magie in dieser Welt bleiben. Ich mochte sie, sie faszinierte mich. Ich wollte sie nutzen und sie wollte genutzt werden. Das war ein Gefühl, das sich nicht abschütteln ließ.

Nun gut, ich würde ja sehen, was geschah.

Entschlossen kniete ich mich hin, legte meine Hände flach auf den Boden und gab meiner Magie einen Wunsch.

Es begann unter meinen Fingern. Der rotmemorierte Boden wurde glatt wie ein geschliffener Diamant. Von dort aus breitete es sich wellenförmig in der ganzen Höhle aus. Erst nur um meine Hände herum, dann um meinen ganzen Körper.

Fax ging einen Schritt zurück, als die Magie sich auf ihn zubewegte, Fugen und Rillen schloss und Erhöhungen glättete.

Ich lächelte in der Euphorie der Magie, sah zu, wie der ganze Boden glatt wurde. Aber dabei beließ ich es nicht. Auch in den Unebenheiten der Wände konnte sich Dreck ohne Ende absetzen und wenn ich vorerst schon hier bleiben musste, dann konnte es wenigstens sauber sein.

Mit großen Augen schaute Fax zu. Sein Mund stand leicht offen und auch Guardian blieb nun nicht mehr still sitzen.

Die Magie kroch über die Wände, hinauf zur Decke, und hinterließ nichts als glatten Stein, der viel leichter zu pflegen war. Da ich schon mal dabei war und keine Lust hatte, noch eine weitere Stunde den Kehrbesen zu schwingen, richtete ich mich auf und erschuf zwischen meinen Händen eine leuchtende Kugel. Es war wie ein eingeschlossenes Feuer.

Sie schwebte über meinen Fingern und ich ließ sie das tun, wofür ich sie erschaffen hatte: Dreck absorbieren. Der Gedanke dahinter war eine Art Magnet. Wie ich im nächsten Moment leider feststellen musste, funktionierte sie sehr gut. Woran ich dabei leider nicht gedacht hatte: der Staub und Schmutz umgab uns von allen Seiten. Und mit einem Schlag wurde er angezogen.

Das Ergebnis war eine riesige Staubwolke, die von allen Seiten blitzartig auf mich zustrebte und mich in einen Nebel hüllte, die mich zum Husten brachte. Es war nur für einen kurzen Augenblick, aber es war nichts, was einer Wiederholung bedurfte.

Fax schaute mich mit großen Augen an, während ich noch dabei war, den Staub aus meiner Lunge zu husten, und die Kugel langsam erlosch.

„Tiara?“

„Moment, einen … Augenblick noch.“ Gott, das war wirklich eklig.

Als der Kleine sich neben mich hockte und mir ein Tuch reichte, schaute ich ihn etwas verwirrt an. „Deine Nase blutet.“

Oh nein. Reflexartig flog meine Hand in mein Gesicht und tatsächlich, an den Fingerspitzen blieb Blut haften. Mist. Aber wenigstens war die Höhle nun sauber. Leider bemerkte ich dabei auch die blassen Flecken, die auf meine Haut zurückgekehrt waren. Sie waren kaum zu erkennen und verschwanden bereits wieder, aber ich wertete es nicht als gutes Zeichen. „Das ist nicht so schlimm“, sagte ich leichthin und nahm das Tuch, um es mir unter die Nase zu drücken. Dabei war ich nicht sicher, ob ich ihn oder mich selbst beruhigen wollte. Mir war nicht schlecht und ich hatte auch keine Kopfschmerzen, aber ich wusste nicht, ob eine blutende Nase und schattenhafte Flecken wirklich eine Verbesserung waren.

„Du hast auch gestern geblutet.“

Ja, gestern, nachdem ich mich gegen meine Freunde verteidigen musste, gegen Ryu. Ich biss die Zähne zusammen. Der Gedanke an die Jäger schmerzte furchtbar.

Sie ist seine Hure! Schau sie dir doch nur an! Und sowas hab ich gerettet.

Sie hatten mir nicht helfen wollen, keiner von ihnen. Sie hatten mir ja nicht einmal zugehört. Ich war mir nicht mal sicher, ob Gaio es wirklich verstanden hatte. Dabei war er es doch gewesen, der mich hatte ziehen lassen, um zu tun, was getan werden musste.

Asha rächen.

Askea töten.

Es war mir nicht gelungen. Alles war ganz anders gelaufen, als es geplant gewesen war.

„Tia?“

Und nun saß ich hier fest.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“

Ich zwang mich zu einem Lächeln, als ich Fax ansah. Er war nur ein kleiner Junge und der wohl Unschuldigste in diesem ganzen Drama. „Ja, mir geht es gut. Wirklich.“ Ich nahm das Tuch von meiner Nase. Die Blutung hatte anscheinend schon wieder aufgehört. Genau wie gestern. Aber dass sie überhaupt aufgetreten war, gefiel mir absolut nicht.

„Und was machen wir jetzt?“

Ich knüllte das Tuch zusammen und warf es auf den kleinen Müllhaufen, der sich bei unserer Putzaktion angesammelt hatte. Den würde Askea selber entfernen können. „Ich glaube, ich bekomme allmählich Hunger. Was hältst du davon, wenn wir uns etwas zu essen machen?“

Fax verzog zweifelnd das Gesicht. „Wir haben nur noch ein bisschen Trockenfleisch. Papá muss erst neues Essen besorgen.“

Mir war es eigentlich egal, da ich nicht wirklich Hunger hatte. Ich wollte nur den Kleinen ablenken. Aber mit Trockenfleisch würde ich das wohl nicht hinbekommen. „Ist wirklich nichts anderes mehr da?“

Er schüttelte den Kopf, hielt dann aber inne. „Wir können Beeren pflücken. Die sind wirklich lecker, aber ich darf sie mir nicht allein holen gehen.“

Mein Mundwinkel zuckte. „Aber wenn ich bei dir bin, bist du ja nicht alleine. Und Guardian kommt sicher auch mit.“

„Stimmt.“ Er sprang auf die Beine und rannte zum Regal. Dort zog einen Beutel, den ich gerade erst ordentlich zusammengelegt hatte, heraus, achtete dabei gar nicht darauf, dass er auch noch fast den Topf daneben mit herausriss, und stand in der nächsten Sekunde schon wieder neben mir. „Fertig.“

Ich schmunzelte. Wenn er so begierig darauf war, mussten die Beeren wirklich lecker sein. „Na, dann lass uns mal aufbrechen.“ Nur vorsichtig erhob ich mich vom Boden, da ich nicht wusste, ob der Magieeinsatz noch andere Tribute außer der Genannten von mir fordern würde. Aber ich hatte keine Probleme. Kein Schwindel, kein gar nichts. Alles völlig normal.

Sehr seltsam.

Da Fax schon ungeduldig neben mir auf und ab hüpfte, unterbrach ich meine Selbstanalyse. „Na dann, lass uns mal losdackeln.“

„Losdackeln?“ Er runzelte die Stirn – mal wieder.

Schmunzelnd ließ ich den Wohnraum hinter mir und trat über die Brücke. Auch sie war nun glatt und glänzend. Der schmale Sims dahinter allerdings nicht. Dafür hatte meine Kugel selbst hier den Dreck eingesogen, sodass sich nun keine kleinen Steinchen in meine dünnen Lederlatschen bohren konnten.

„Es ist gar nicht weit“, verkündete Fax aufgeregt und schaffte es irgendwie, sich auf dem Sims an mir vorbei zu drängen, um als erster nach draußen zu treten – Guardian klebte ihm dabei an den Fersen.

Trotz dessen, was gerade geschehen war und den ganzen Gedanken, die mein Hirn heimsuchten, konnte ich gar nicht anders als zu lächeln. So selbstständig Fax auch war, mit seinen neun Jahren war er immer noch ein kleines Kind.

Ich trat hinaus in die Hitze der Mittagssonnen. Seltsamerweise spürte ich sie hier nicht so sehr wie in der Wüste. Ich hatte geglaubt, dass es an der Höhle lag, dass sie einfach kühler war, aber auch hier draußen war es einfach nur angenehm. Lag es daran, dass wir in diesem Krater waren? Oder dass die Magie hier so allgegenwärtig war? Wahrscheinlich eher das zweite.

Fax und Guardian befanden sich bereits auf halbem Weg nach unten. Ein paar Augen folgten ihm, doch sie waren nichts im Vergleich zu der Aufmerksamkeit, die ich bekam, als ich dem abschüssigen Pfad nach unten folgte. Ein paar der Dämonen, die sich im Freien aufhielten, unterbrachen sogar ihre Arbeit, um mich feindlich anstarren zu können.

Obwohl ich schlucken musste, tat ich so, als würde ich sie alle nicht bemerkten. Dabei waren meine Augen die ganze Zeit in Bewegung. Saphire, Smaragde und Rubine. Sie alle starrten mich an. Nur einer nicht, ein Zirkon. Oder besser gesagt: die alte Vettel, die Askea gestern aus unserer Höhle geschmissen hatte.

Sie saß auf einem Felsen am Fluss und verwob die dünnen Ranken in ihrem Schoß zu einem Korb. Doch als Fax an ihr vorbeilief, hefteten sich ihre Augen auf Guardian. Sie schaute ihn an, blinzelte und brach dann in solch schallendes Gelächter aus, dass sie fast vom Felsen kippte.

In Ordnung, das war seltsam. Sehr seltsam.

Mein Blick blieb wachsam auf ihr liegen, als ich den Pfad verließ und durch das üppige Grün auf dem Kratergrund schritt. Sie schien es nicht zu merken. Auch nicht, als ich an ihr vorbeilief. Ich konnte mich nur wiederholen: sehr seltsam. Obwohl, wenn man es aus einem anderen Sichtwinkel betrachtete, dann war das einzige Seltsame an diesem Ort wohl ich.

„Tia!“, rief Fax und wedelte wie wild mit der Hand. „Hier sind welche. Komm!“

Ich sah gerade noch, wie er in das kleine Wäldchen lief, dann war er auch schon verschwunden – und Guardian mit ihm.

Wann hatte mein kleiner Wächter eigentlich angefangen, andere zu bevorzugen? Naja, solange es Fax war, konnte ich damit leben.

Ich beeilte mich, hinter den beiden herzukommen, und verschwand wie sie zwischen diesen seltsamen Bäumen. Von nahem wirkten die Lianenblätter fast, als wären sie aus Glas. Durch die Helligkeit des Tages war das schwache Leuchten kaum zu sehen, man musste schon ganz genau hinschauen. Und auch sie vibrierten vor Magie. Trotzdem konnte ich es mir nicht verkneifen, den Arm auszustrecken und sie mir über die Finger gleiten zu lassen.

Glatt und gleichzeitig irgendwie weich. Wie ein Lichtschlauch.

„Tia, hier bin ich!“

Das wusste ich, ich konnte ihn schließlich sehen. „Bin schon unterwegs.“

Fax wartete genau, bis ich nur noch einen halben Meter von ihm entfernt war, dann zeigte er auf ein sonderbares Gebüsch. Ein dünner Stamm wuchs ungefähr einen halben Meter nach oben und hatte eine purpurne Blüte direkt auf der Spitze. Eine Blüte mit langen Fühlern, die sich bewegten. Die Äste waren fächerförmig um den ganzen Stamm verteilt, was ihm das Aussehen eines geometrischen Zylinders gab. Die kleinen, kreisrunden Blätter waren in einem sehr hellen Blau – so hell, dass sie beinahe durchscheinend wirkten. Zwischen diesen Blättern hingen dunkelblaue Beeren, die mich an Kastanien in der Größe von Murmeln erinnerten. Sie hatten keine Schale, aber Stacheln.

Fax griff einfach hinein und pflückte ein paar Beeren ab. Dann hielt er mir die offene Hand hin. „Willst du auch?“

Zweifelnd sah ich mir die Stacheln an. „Kann man die wirklich so essen?“

„Wie willst du sie denn sonst essen?“

Berechtigte Frage. Vorsichtig nahm ich mir eine Beere. Die Stacheln waren weich, die Beere dagegen fest. Ich steckte sie mir in den Mund und verzog beinahe sofort das Gesicht. Oh Gott, waren die süß. Das war, als würde man Zucker pur essen. Kein Wunder, dass Fax so auf sie abfuhr und sich gleich fünf auf einmal in den Mund schob.

Ich bekam mit Mühe und Not die eine runter. Ich mochte ja süßes Zeug, aber das war echt hart. Selbst nachdem ich sie runtergeschluckt hatte, verschwand der Geschmack nicht. „Wie heißen diese Beeren?“, wollte ich wissen und klaubte Fax‘ Beutel vom Boden auf. Er musste ihn einfach hingeschmissen haben.

Fax‘ Augen wurden wieder groß. „Du kennst keine Stachelbeeren?“

Stachelbeeren? Nun, die kannte ich schon, aber die Stachelbeeren, die ich kannte, sahen ganz anders aus. „Nicht diese“, sagte ich daher.

Der Kleine schüttelte den Kopf, als könnte er das nicht fassen. „Jeder kennt doch Stachelbeeren.“

Aber ich war nicht jeder. Ich stammte schließlich aus einer anderen Welt und … in dem Moment wurde mir bewusst, dass weder Fax noch Askea wussten, dass ich ein Viator war. War das gut oder schlecht? Ich war mir nicht sicher.

„Jetzt kenne ich sie jedenfalls auch“, sagte ich und hielt den Beutel auf. „So, dann mach den mal voll, oder willst du die alle jetzt schon auffuttern?“

Die Beere, die schon halb in seinem Mund war, stoppte. Er schaute mich an, grinste und schob sie dann ganz hinein. Dann machte er sich über den Strauch her und begann die Beeren zu pflücken. Fast zwei Drittel landeten auch wirklich im Beutel, der Rest in seinem Magen. Hoffentlich würde ihm später nicht schlecht werden.

Guardian schnüffelte im Unterholz um uns herum, während wir den Busch leer machten und dann zum nächsten gingen. Dabei konnte ich es mir nicht verkneifen, wieder mit dem Singen anzufangen.

Fax versuchte nach Kräften mitzusingen, doch der Text war ihm unbekannt, weswegen nur jedes dritte Wort seine Lippen verließ.

„Diese ganzen Lieder, die du singst, kenn ich gar nicht“, sagte er, als wir am inzwischen sechsten Strauch standen. Unser Beutel war halb voll.

„Alles zu kennen ist doch langweilig“, sagte ich leichthin und ließ ein paar Beeren in den Beutel fallen. Meine Hände waren in der Zwischenzeit schon ganz blau. „Dann gäbe es doch gar nichts Neues mehr zu entdecken. Und das macht das Leben doch erst interessant.“

Fax nickte, aber ich glaubte nicht, dass er das wirklich verstanden hatte. „Papá sagt immer, nur wer viel lernt, aus dem …“

Das Lächeln verschwand so plötzlich aus Fax‘ Gesicht, dass ich mich verwundert umdrehte, um zu erfahren, was er entdeckt hatte. Und was ich da sah, gefiel mir ganz und gar nicht.

Nubia.

Fast lässig kam sie auf uns zu. Das lange Indianerkleid wogte um ihre Beine. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, doch ihr Blick drückte das genaue Gegenteil aus. Hass und … Neid? „Na sieh mal einer an, wer sich da aus seiner Höhle getraut hat. So ganz allein.“

Nein, dieser Moment gefiel mir wirklich nicht. Sich die aufkeimende Furcht nicht anmerken zu lassen, war gar nicht so einfach.

Ich ließ den Beutel sinken und griff nach Fax‘ Hand. „Komm, wir haben genug. Lass uns gehen.“

Der Kleine nickte, ließ den anderen Dämon dabei genauso wenig aus den Augen wie ich. Nur deswegen schaffte ich es, rechtzeitig zu reagieren, als sie plötzlich eine Feuerkugel nach uns warf.

Ich stieß Fax zur Seite, kam aber selbst nicht mehr rechtzeitig weg. Das Feuer erwischte mich am Arm. „Ahhh!“ Der Beutel fiel mir aus der Hand.

Guardian positionierte sich neben mir und fauchte. Fax hatte es geschafft, auf den Beinen zu bleiben, doch die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Mich hingegen interessierte nur eines. „Hast du gerade versucht, Fax zu treffen?!“

Gelangweilt ließ sie eine weitere Feuerkugel über ihrer Hand erscheinen.

Ich schob mich so vor Fax, dass sie ihn nicht treffen konnte, ohne mich vorher aus dem Weg zu räumen. Dabei ignorierte ich den Schmerz in meinem Arm so gut es ging. Verdammt, dass tat wirklich säuisch weh.

„Weißt du, wie wenig männliche Rubine es in dieser Gegend noch gibt? Ich meine Rubine, die keine Gefährtin haben?“

Woher sollte ich das wissen.

„Nur Askea“, löste sie ihre eigene Frage auf.

Hallo? War ich unsichtbar? Die glaubte doch nicht, dass ich ihr meinen … nein, Moment, stopp. Askea glaubte vielleicht, dass ich seine Gefährtin war, aber da irrte er sich.

„Und das einzige, was mich von ihm trennt, ist dieser Junge.“

Ich kann keine Dämonin brennen. Sie würde Fax töten. Keine Dämonin würde ihn als ihr Kind akzeptieren.

Ich konnte es nicht glauben. „Was soll der Mist? Du kannst doch kein Kind töten, nur weil du dir den Vater angeln willst!“

„Ach nein? Und was soll ich stattdessen machen? Beide nehmen?“ Sie schnaubte, als hätte sie noch nie etwas so absurdes gehört. „Ich brauche nur Askea. Mit ihm werde ich eigene Kinder haben. Dieses Balg ist mir nur im Weg.“ Sie ließ ihre Feuerkugel so plötzlich auf uns zufliegen, dass ich es gerade noch rechtzeitig schaffte, meine Hand zu heben und sie mit meiner Magie abzulenken.

Das Geschoss krachte in einen Baum.

Nubia hob eine Augenbraue. „Willst du dich wirklich zwischen mich und Askea stellen? Bist du wirklich so dumm, Hexe?“

Ich richtete mich ein wenig gerader auf. „Ich lasse nicht zu, dass du meinem Fax etwas tust. Und nur damit du es weißt, der Platz als Askeas Gefährtin ist bereits besetzt.“

„Etwa von dir?“ Sie stieß ein schallendes Lachen aus. „Eine Hexe? Oh bitte, das kann nicht dein Ernst sein.“

Na warte. Provozierend wischte ich mir die Haare von der Schulter und zeigte ihr damit meine Markierung. Natürlich richtete sich ihr Blick sofort darauf.

„Na gut, dann wirst du halt auch sterben.“ Dem nächsten Geschoss konnte ich gerade so ausweichen.

Guardian schoss vor und biss nach ihrem Bein. Das überraschte sie so sehr, dass sie einen Satz zurück machte.

Ich nutze meine Chance, dachte gar nicht darüber nach und beschwor meine gesamte Magie herauf. Im nächsten Moment waren Fax und ich in ein Schutzschild gehüllt. Aber das reichte mir nicht. Sie schoss mit Feuer? Bitte, das würde sie zurückbekommen. Vielleicht war ich kein Dämon, aber die Elemente heraufzubeschwören, war mittlerweile eine der einfachsten Sachen, die ich konnte.

Gerade als sie nach Guardian trat und mein kleiner Wächter einen Satz zurück machte, begannen meine Hände an zu glühen. Im nächsten Moment zahlte ich es ihr mit gleicher Münze heim.

Der Feuerball zischte durch den Schild und traf sie mitten auf der Brust. Leider war sie ein Rubin und wie ich feststellen musste, juckte sie diese Kugel kein bisschen. Sie lachte sogar auf.

„Ist das alles, was du kannst?“

Mist, ich hätte Wasser benutzen sollen. „Das war nur ein Warnschuss.“

Das ließ sie ein weiteres Mal lachen. „Du kannst Askea nicht für dich haben, du bist kein Dämon.“

Als ob ich ihn haben wollte. „Und du kannst ihn nicht haben, solange du sein Kind nicht akzeptierst.“ Ich sammelte meine Magie in der Hand.

„Warum sollte ich? Wir werden eigene Kinder haben.“

„Nicht solange ich noch hier bin.“ Ich schlug mit meiner Hand auf den Boden.

Nubia schaute etwas verwirrt, doch der Ausdruck änderte sich schnell in Überraschung.

Ich ließ meine Magie in den Boden fließen und die Bäume um uns herum fingen an, sich zu bewegen. Genaugenommen die lianenartigen Blätter. Sie griffen nach der Dämonin, packten ihre Arme und Beine.

Anfangs schaffte Nubia es noch, ihnen auszuweichen oder sie zu zerreißen, aber es wurden immer mehr und mehr. Sie zerrten an ihr, umwickelten sie. Selbst noch, als sie sich in Feuer hüllte. Die Lianen verbrannten, aber es waren sofort neue zur Stelle.

Aus ihrer Überheblichkeit wurde bodenlose Verärgerung. Sie fauchte und fluchte. Es brachte rein gar nichts.

„Unterschätz mich niemals“, sagte ich noch und klaubte dann ein weiteres Mal den Beutel vom Boden auf. „Fax, komm.“

„Du kannst ihn nicht haben!“, fauchte sie mich an.

„Ich hab ihn schon“, sagte ich zu leise, als dass sie es hören konnte. Dann nahm ich Fax‘ Hand und verließ mit ihm das Wäldchen. Nubia konnte da ruhig noch ein Weilchen mit den Bäumen hantieren. Ich wusste nicht, wie lange mein Zauber hielt, aber allzu lange würde es nicht sein. Und wenn sie wieder frei war, wollte ich nicht mehr hier draußen sein. Am besten, ich brachte ein Schild in unserem Höhleneingang an, das Dämonen fernhielt. Naja, zumindest alle außer Fax. Und vielleicht auch Askea – aber nur vielleicht.

Aber diesen Denkzettel mit den Bäumen hatte Nubia wirklich verdient. Schon alleine dafür, dass sie mich mit dem Feuerball getroffen hatte.

Mein Arm schmerzte fürchterlich und in meinem Ohr hatte ich so ein seltsames Piepen.

„Tia, du blutest wieder.“

Mist. Ich hob meinen Handrücken zu meiner Nase. Ich musste es mir nicht erst anschauen, um zu wissen, dass er Recht hatte.

„Nein, nicht da, dein Ohr. Du blutest aus deinem Ohr.“

Was? Oh nein. Ich brauchte ihn gar nicht erst zu fragen, welches Ohr er meinte. Das piepende. Jetzt konnte ich es auch spüren. Warm tropfte es auf meine Schulter und hinterließ rote Flecken.

Angst. Das war es, was ich in diesem Moment spürte. Ich hatte Angst. Mir diese nicht anmerken zu lassen, war extrem schwierig. „Nicht so schlimm“, sagte ich und versuchte wieder zu lächeln.

Dieses Mal jedoch schien er mir nicht zu glauben.

 

°°°

 

Immer wieder gingen mir die Worte und Warnungen der Jäger durch den Kopf. Ich konnte den ganzen Abend an nichts anderes denken, nicht mehr, seit Nubia mir gezeigt hatte, was es bedeutete, unter den Dämonen zu leben. Die Brandwunde schmerzte noch immer. Ich war mir nicht sicher, ob ich mit dem feuchten Lappen auf meinem Arm nicht eine Infektion riskierte, weil das Wasser aus dem Bach sicher nicht keimfrei war. 

„Und du willst wirklich keine?“, fragte Fax zum bestimmt hundertsten Mal und hielt mit eine Stachelbeere hin. Er saß neben mir auf Askeas Lager im Schneidersitz und hatte den ganzen Beutel im Schoß – ungefähr die Hälfte unserer Beute fehlte bereits.

„Nein wirklich, ich …“

„Papá!“ Ohne Rücksicht auf Verluste – und Guardian, der sich neben uns zusammengerollt hatte – ließ er den Beutel fallen und sprang auf die Beine. Doch entgegen meiner Erwartungen lief er Askea nicht entgegen, sondern blieb genau dort, wo er war.

Vielleicht weil er gegenüber Askea immer eine gewisse Zurückhaltung pflegte. Oder auch, weil die Arme des Dämons bis zum Geht-Nicht-Mehr überfüllt waren.

Da waren verschiedene Felle – alle sehr frisch, wie ich an dem Blut und den Fleischfetzen erkennen konnte. Auf dem Rücken trug er einen der großen Seesäcke, der kaum noch zu schießen war, und über der Schulte hing eine weitere Tasche.

Nur seine rechte Seite war leer. Wahrscheinlich, weil er dort den Speer hielt.

Vollbeladen trat er auf die Brücke, runzelte die Stirn und richtete den Blick dann auf den Boden. Von dort aus wanderte er durch den Rest der Höhle. Ja, wir hatten hier gründlich sauber gemacht. Und nicht nur das, alles war glatt.

Askea überquerte unkommentiert die Brücke und ließ seine Ausbeute neben der Feuerstelle auf den Boden gleiten. „Die Felle müssen getrocknet und gesäubert werden.“ Sein Blick richtete sich auf mich.

Einen Moment schaute ich ihn an. Dann blickte ich hinter mich. Aber da war niemand. Natürlich nicht, denn da war die Wand.

Ich zog eine Augenbraue nach oben. „Redest du etwa mit mir?“

„Natürlich, wen soll ich denn sonst meinen?“

Meine Lippe begann zu zittern und dann prustete ich einfach los. Allein der Gedanke daran, dass ich irgendwas mit diesen Fellen machte, war so lächerlich, dass es nur ein Witz sein konnte.

Askeas Mundwinkel sanken ein Stück herab. „Ich weiß nicht, was daran so witzig ist.“

„Davon abgesehen, dass ich keine Ahnung habe, wie man so etwas macht? Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich für dich auch nur einen Finger krumm machen werde.“

„Es ist ja nicht nur für mich. Es ist auch für dich und Fax. Außerdem hast du bereits die Höhle …“ Er verstummte, als er den Lappen bemerkte, den ich auf meinen linken Oberarm drückte. „Was ist das?“

„Ein Stück feuchter Stoff.“

„Nubia hat uns aufgelauert und Tia verbrannt“, berichtet Fax. „Als wir Stachelbeeren pflücken waren.“

„Petze“, murmelte ich so, dass der Kleine es nicht hören konnte. Guardian jedoch stellte die Ohren auf.

„Und ihre Nase hat geblutet. Zweimal. Und einmal auch das Ohr.“

Okay, ihm keinen bösen Blick zuzuwerfen, war nicht wirklich einfach. Nicht dass ich es Askea verheimlichen wollte – dazu bestand kein Grund – aber ich wollte es selbst nicht hören. Andererseits, für Verdrängung war es nun wohl zu spät.

Askea schaute von seinem Sohn zu mir. Auf seiner Stirn hatten sich kleine Falten gebildet. „Fax, nimm dir Bindfaden aus dem Regal. In der kleinen Tasche sind Kräuter drin. Bind sie zusammen und häng sie zum Trocknen auf. Und räum die Beeren ordentlich weg, ich will hier drinnen keine Käfer haben.“

Schon bei dem Wort „Bindfaden“ war Fax losgeeilt. Askea hingegen kam zu mir und hockte sich vor mich auf das Lager. Was er dachte, war nicht zu entschlüsseln, doch so wie er mich musterte, war ich mir nicht sicher, ob es mir gefiel.

Als er dann die Hand nach mir ausstreckte, wollte ich schon ganz reflexartig vor ihm zurückzucken. Doch das Mal auf meiner Schulter begann zu kribbeln und so wunderte es mich nicht, dass ich es nicht konnte. Sehr vorsichtig – ja sogar fast sanft – löste er meine Hand von dem feuchten Tuch und nahm es dann langsam von meinem Arm. Es sah wirklich böse aus. Blasen hatten sich gebildet und ein kleiner Teil der Haut war sogar schwarz. Ja, es schmerzte wirklich sehr.

„Heil es“, befahl er mir.

Fast hätte ich gelacht. Ich hatte heute schon so viel Magie angewandt und es war mir nicht gut bekommen.

„Los.“

„Nein.“ Ich würde nicht riskieren, ein weiteres Mal aus heiterem Himmel mit Bluten anzufangen. Besonders nicht, nachdem es beim letzten Mal so lange gedauert hatte, bis es aufhörte. „Es ist gar nicht so schlimm, wie es aussieht.“

„Warum lügst du? Das hier ist nicht nur eine Kleinigkeit.“

„Egal. Ich werde nicht zaubern.“

Sein Unverständnis nahm mit jeder Sekunde zu. Hätte er gekonnt, hätte er mich vermutlich dazu gezwungen, seinem Befehl Folge zu leisten. So jedoch konnte er mich nur finster anstarren, weil ich mich seinem Willen widersetzte. Doch dann runzelte er auf einmal die Stirn. Sein Blick glitt von der Wunde zu Fax, der bereits den Beutel durchwühlte, und dann zurück auf mich.

„Du hast geblutet. Nicht zum ersten Mal.“

Nein, leider nicht.

„Das ergibt keinen Sinn“, sagte er dann leise.

Auch wenn mir die Frage auf der Zunge brannte, blieb ich still.

„Du hast aus der Nase geblutet, nachdem wir auf die Jäger getroffen sind. Und in Lager … du bist umgefallen. Aber … das ergibt absolut keinen Sinn.“

Nein, nicht nach den Regeln dieser Welt. „Magie ist Leben“, sagte ich genauso leise wie er. „Aber nicht für mich. Die Magie tötet mich. Immer ein kleinen bisschen mehr.“ Ihm die ungeschminkte Wahrheit so ins Gesicht zu knallen, war für mich wohl schmerzhafter als für ihn. Aber irgendwann würde er es ja sowieso erfahren und ich musste mich endlich den Tatsachen stellen. „Ich bin krank, Askea. Die Magie macht mich krank. Ich werde sterben.“

Der Schock stand ihm schlichtweg ins Gesicht geschrieben. Sein Mund ging auf, das jedoch war alles.

Mein Mund verzog sich zu einem unerfreuten Lächeln. „Damit hast du wohl nicht gerechnet, was? Eine Gefährtin, die bald abkratzt.“ Ich musste schlucken. Das auszusprechen, tat mehr weh als die Wunde an meinem Arm. Ich würde sterben. Und solange ich hier blieb, konnte ich nichts dagegen tun.

Plötzliche Entschlossenheit verdrängte jedes andere Gefühl in Askeas Gesicht. „Nein“, sagte er. „Nein, du wirst nicht sterben.“

Es klang wie ein Befehl und zum ersten Mal konnte ich darüber lächeln. „Ich glaube nicht, dass die Regeln sich plötzlich ändern, nur weil du es so willst.“

„Magie ist Leben. Sie ist in jedem von uns, sie kann dich nicht töten.“

„Ich bin nicht wie du.“

„Ich weiß. Aber das ändert nichts …“

„Nein, du verstehst nicht. Hier geht es nicht um die Dämonen. Ich bin nicht wie du und auch nicht wie die Mortatia. Ich bin anders als jedes Wesen in dieser Welt. Ich bin mir nicht mal sicher, ob die Bezeichnung ‚Hexe‘ wirklich auf mich zutrifft.“ Warum erzählte ich ihm das eigentlich? Vielleicht weil ich eh nichts mehr zu verlieren hatte. Oder vielleicht hoffte ich auch, dass er mich freigab, wenn er die Wahrheit kannte. Wer will schließlich schon eine kranke Gefährtin?

„Ich versteh nicht, was du meinst.“

„Mein Vater ist ein Magier – wahrscheinlich. Meine Mutter nicht.“

„Das … ist nicht möglich.“

In Ordnung, alles oder nichts. „Ich bin nicht von hier, Askea. Ich wurde in einer nichtmagischen Welt geboren. Ich bin ein Viator.“

„Ein Weltenwanderer.“

Er wusste, was das war? Jetzt war ich doch überrascht. „Ich trage zwei Magien in mir und solange ich hier bin, werden sie mich langsam aber sicher zerstören.“

„Nein.“

Wie schön es wäre, wenn er Recht hätte. „Die einzige Möglichkeit es aufzuhalten, ist noch einmal durch den Spiegel zu gehen.“

„In die andere Welt.“

Ich nickte. „Aber ich will nicht“, sagte ich leise und senkte den Kopf. Ich wollte diese Welt nicht verlassen. Ich hatte Angst vor dem, was mich auf der anderen Seite erwartete. Und trotz allem liebte ich die Magie noch immer.

Askeas Griff an meinem Arm wurde ein klein wenig fester. Dann stand er so abrupt auf, als hätte ihn etwas in den Hintern gebissen – nein, Guardian lag immer noch artig neben mir – und trat zu Fax. Zwischen den ganzen Kräutern, die der Junge sorgsam vor sich aufgereiht hatte, suchte er ein paar heraus, holte sich dann aus dem Regal eine Schale und einen Mörser und setzte sich wieder zu mir. „Du wirst nicht sterben“, sagte er leise und begann damit, die Kräuter zu einer grünen Pampe zu mahlen.

Ich schnaubte und lehnte meinen Kopf gegen die Wand.

„Es wird schlimmer, wenn du zauberst.“

„Ja, dann schreitet es schneller voran.“

Er nickte, als wäre das genau das, was er erwartet hatte.  

Danach kehrte Stille bei uns ein. Nur das Rascheln der Kräuter und das Mahlen des Mörsers waren zu hören. Zumindest bis Askea begann, mir die grüne Pampe auf den Brandwunde zu schmieren. Dabei schaffte ich es nicht, still zu bleiben, es tat einfach zu sehr weh. Ich spürte auch keine wirkliche Linderung. Es brannte einfach nur und einen kurzen Moment musste ich mich einfach fragen, ob Askea überhaupt wusste, was er da tat.

Askea tat so, als würde er es nicht bemerken – vielleicht interessierte es ihn aber auch einfach nur nicht – und erst als auch das letzte bisschen Grün auf meinem Arm verstrichen war, begann er damit, sich um seine Einkäufe zu kümmern.

„Ich werde dir beibringen, wie man frische Felle säubert und trocknet.“

„Wer hat gesagt, dass ich das lernen möchte?“

„Ich.“

Natürlich. Der Herr und Meister befahl und alle anderen trollten sich. „Träumer“, murmelte ich. Wenn ihm so etwas Spaß machte, bitte. Ich würde da nicht mitspielen.

Leider war es völlig egal, was ich wollte, wie ich in den nächsten Tagen feststellen musste. Er zeigte und erklärte mir nicht nur, wie man aus frisch gehäuteten Fellen warme und weiche Lager bastelte, er brachte mich doch wirklich dazu, dass ich aus Leder und Sehnen Kleidung herstellte. „Fax wächst so schnell, dass er regelmäßig neue braucht“, erklärte er mir dabei und das, was er da nähte, sah wirklich nicht schlecht aus. Meines dagegen … naja, sprechen wir nicht drüber.

Ich lernte auch, wie man mit Steinen ein Feuer entzündete und warum man trockenes Holz verwenden sollte.

Die Wunde an meinem Arm verheilte nur langsam, aber wenigstens nässte sie nicht.

Ein paar Tage später kam Askea mit einem Beutel voll bunter Pflanzen, Beeren und auch Käfern in die Höhle. Mit all diesen Dingen zeigte er mir, wie man Farbe herstellte. Das war wirklich faszinierend. Ich wäre wohl niemals auf die Idee gekommen, aus kleinen roten Käfern Farbe zu machen.

Die Dinge, die Askea mir beibrachte, waren wirklich faszinierend, und gegen meinen Willen fing ich an, das Leben mit ihm und seinem Sohn ein klein wenig zu mögen – ein ganz klein wenig.

Der einzige Schatten, der an diesen Tagen tief über uns hing, war die feindselige Haltung der anderen Dämonen. Sie verstanden nicht, wie Askea so tief sinken konnte, sich eine Hexe als Gefährtin zu nehmen. Besonders Nubia missfiel diese Tatsache. Bei einer unserer Begegnungen teilte ich ihr unmissverständlich mit, dass sie den Kerl gerne haben könnte, sie müsste sich nur mit seinem Kind arrangieren. Sie hatte mir einfach den Rücken gekehrt und war gegangen. Ich glaubte, die Sache mit dem Baum nahm sie mir übel. Vielleicht hatte es aber auch daran gelegen, dass Askea hinter mir gestanden hatte.

Die anderen Dämonen ließen mich weitestgehend in Ruhe. Nur ihre feindlichen Blicke waren immer auf mich gerichtet. Und nach einem Vorfall mit einem Smaragd hatte ich auch gelernt, dass es nicht klug war, allzu nahe an ihnen vorbeizulaufen.

Es war schon seltsam. Nach allem, was mir im Lager der Jäger über Dämonen beigebracht worden war, war es doch recht friedlich, mit den anderen in diesem Krater zu wohnen. Das konnte aber auch daran liegen, dass Askea immer wie ein Schatten im Hintergrund lauerte. Offensichtlich wollte sich keiner der anderen mit einem gebundenen, männlichen Dämon anlegen.

Wäre da nicht Askeas herrische Art, hätte es eigentlich ganz nett sein können. Doch ständig gab er Befehle. Tu dies, mach jenes und lass das. Es war zum Verrücktwerden. War es wirklich so schwer, bitte oder danke zu sagen? Offensichtlich.

Und wenn ich nicht tat, was er wollte, dann konnte dieser Mann richtig eingeschnappt sein. Aber das hieß noch lange nicht, dass er nicht weiter versuchte, mich herumzukommandieren.

Es kam nicht selten vor, dass ich mich ihm verweigerte. Besonders als das Brennen begann, angenehm zu werden. Das erste Mal war ich so überrascht, dass ich ihn beschimpft hatte und aus der Höhle gestürmt war. Er hatte mich gehen lassen. Als es jedoch dunkel wurde, hatte er mich in den Höhlen aufgespürt und zurückgebracht.

Es war nicht so, dass ich mit einem Mal voll auf das Brennen abfuhr, aber … ich wusste selbst nicht so genau, was es eigentlich war. Nur hörte ich auf, mich zu wehren, wenn er mich brannte. Und ganz langsam schien Askea mehr zu werden als ein einfacher Dämon, der mich gegen meinen Willen verschleppt hatte. An manchen Abenden unterhielten wir uns. Einmal erwischte ich mich sogar dabei, wie ich zusammen mit ihm lachte – ein seltsames Gefühl. Es wurde immer schwerer, ihn zu hassen, und mehr als einmal musste ich mich daran erinnern, dass er Ashas Mörder war – vielleicht. Je länger ich ihn kannte, desto schwerer wurde es für mich, zu glauben, dass er etwas so grausiges wie Töten tun konnte. Andererseits war er es, der das Essen besorgte, und es gab nicht selten Fleisch. Trotzdem war ich mit jedem Tag mehr geneigt, ihm zu glauben.

Meine Gefühlswelt war in diesen Tagen wirklich das reinste Chaos.

Die Sonnen erhellten die Tage und verabschiedeten sich jeden Abend zur Nacht. Die Zeit verging. Tage, Wochen.

Doch bei all dem Guten und Schlechten gab es einen Sonnenstrahl, der herausragte. Fax. Er war ein wahrer Sonnenschein und mir gegenüber nicht so zurückhaltend wie bei seinem Vater. Er schien sich wirklich nach Zuwendung zu sehen.

„Er wünscht sich eine Mutter“, sagte Askea eines Abends zu mir.

„Aber ich bin nicht seine Mutter.“

„Und trotzdem akzeptierst du ihn.“

Wie konnte man einen so lieben Jungen auch nicht akzeptieren?

Askea blickte von dem Stab, an dem er jeden Abend schnitzte, zu mir rüber, beobachtete den schlafenden Jungen in meinem Schoß. „Du bist seine Mutter, Tia. Du bist die einzige Mutter, die er hat.“

Nein, das war falsch. Ich strich dem Jungen über den Kopf und biss mir auf die Lippe. Da gab es eine Frage, die ich schon eine ganze Weile stellen wollte. „Was ist mit seiner leiblichen Mutter?“

„Sie ist tot.“ Sein Blick verhärtete sich und ich wagte es nicht, weiter nachzufragen.

So klang dieser Abend sehr still aus. Und auch der nächste. Und der darauf.

Nachts schlief ich bei Fax in seiner Nische. Es war mir einfach unangenehm, neben Askea zu liegen. Außerdem war es schön, den Jungen im Arm zu halten. Es gab mir das Gefühl, gebraucht zu werden. Auch die Tage verbrachte ich überwiegend mit ihm. Wir spielten Spiele, stromerten durch die lichtdurchfluteten Höhlen und kamen sogar auf die Idee, selber Perlen herzustellen. Das war gar nicht weiter schwer. Einfach kleine Holzwürfel machen, ein Loch rein und die dann bunt bemalen. Alles auf eine Schnur aufziehen und voila, man hatte ein Armband. Vielleicht nicht besonders hübsch, aber dafür selten.

Fax und ich stellten ein paar Tage so viele davon her, dass ich eines davon sogar Askea schenkte. Er ließ es sich von mir umbinden und behielt es sogar am Arm – was mich doch ziemlich verwunderte. Aber nicht mehr als der lange Stab, in den er jeden Abend sorgfältig Runen und Muster hinein ritzte. Mit der Zeit sah es wirklich schön aus und als er mir anbot, mir zu zeigen, wie man so etwas tat, war ich sofort Feuer und Flamme. Eigentlich machte ich alles mit, was er mir so beibrachte. Nur als er mich eines morgens aufforderte, ihn zu begleiten, um mir zu zeigen, wie man ein Tier tötete, es ausnahm, um anschließend jeden Bestandteil seines Körpers nützlich zu verwenden, zeigte ich ihm den Vogel, schnappte mir Fax und bemalte mit dem Jungen die Wände in seinem Zimmer.

Eine Sache jedoch wurde nicht besser: meine Krankheit. Jeden Tag aufs Neue spürte ich, wie die Magie mir zusetzte. Es wurde so schlimm, dass Askea mir verbot Magie anzuwenden, um den Schwindel- und Ohnmachtsanfällen zu entgehen. Wenn er nur einen Tropfen Blut an meiner Nase entdeckte, wurde er rasend vor Wut.

Irgendwie fand ich das süß. Naja, bis auf den Teil, wenn er mich anbrüllte. Dann brüllte ich auch mal zurück. Zum Glück passierte das in diesen Wochen nur zweimal. Auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte, gab es eine Sache, auf die ich mich mit der Zeit zu freuen begann. Das Brennen.

Es war zu einem abendlichen Ritual geworden. Wenn Fax schon lange tief und fest schlief und ich mich dazu entschloss, dass es für mich auch an der Zeit war, in die Federn zu hüpfen, fing Askea mich noch einmal ab.

Es war nicht so, dass es noch nötig gewesen wäre. Die Verbindung zwischen uns war in der Zwischenzeit in Stein gemeißelt, dagegen konnte ich gar nichts tun. Doch wenn er seine Essenz in mich leitete, wurde mir jedes Mal ganz warm ums Herz. Als wäre ich nicht allein in meinem Körper, als wäre da etwas, das meine Seele umarmte und jegliches Leid von ihr fernhielt.

„Ich habe dir gesagt, dass es so sein würde.“

„Du hast schon so viel gesagt und nicht mal die Hälfte davon ist eingetroffen.“

Das brachte mir einen finsteren Blick ein, der mich lächeln ließ. Doch es verblasste gleich wieder, denn die eigentliche Frage war damit nicht geklärt.

„Es ist das, was wir tun, Tia. Wie oft soll ich es dir noch sagen.“

„So lange, bis ich es verstehe. Ich meine, in Ordnung, Magie ist nun mal Magie, aber auch sie muss doch irgendwelchen Regeln folgen, oder?“

„Nein.“

Nein. Natürlich nicht. „So eine Verbindung sollte es nicht geben.“

„Warum? Geht es dir denn schlecht bei mir?“

Das konnte ich nicht unbedingt behaupten, obwohl ich immer noch gehen würde, wenn ich könnte – wahrscheinlich. „Es ist einfach nicht richtig, dass du meinen Willen kontrollieren kannst.“

Er antwortete nicht, schaute nur still ins Feuer.

„Ich meine …“

„Tia?“

„Ähm … ja?“

„Sei still.“

Oh, dieser … dieser drakonische Dämon. Ich blies die Backen auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Da er mir aber den Rücken zugewandt hatte, sah er es nicht mal. „Du bist ein Blödmann.“

„Was glaubst du, was passieren würde, wenn wir die Dämoninnen gewähren ließen?“, fragte er, ohne die Beleidigung auch nur zur Kenntnis zu nehmen. „Du hast selbst erfahren, zu was sie fähig sind. Und manchmal reichen eben keine Worte.“

Er hatte Recht. Es war ein Sicherheitsmechanismus, aber … ich war eben kein Dämon.

Als ich still blieb, seufzte er, erhob sich von seinem Platz und setzte sich neben mich aufs Lager. „Komm her.“

Einen Moment war ich am überlegen, ob ich mich dumm stellen sollte – allein schon aus Prinzip – doch dafür war es schon zu spät. Insgeheim sehnte ich mich auch danach. Deswegen drehte ich einfach den Kopf zur Seite und ließ ihn gewähren, als er sich vorbeugte.

Allein schon sein warmer Atem auf meiner Schulter jagte mir einen Schauder über den Rücken. Sobald er seine Magie spielen ließ, schloss ich einfach die Augen, um es zu genießen. Dieses warme Kribbeln, seine Lippen auf meiner Haut.

Ich wusste, es war falsch. Ich wusste, ich sollte es nicht wollen und erst recht nicht genießen, aber ich konnte einfach nicht anders.

Jeder Teil meinen Körpers wurde von seiner Wärme erfüllt. Mein Herz schlug ruhiger und gleichzeitig schneller. Ganz unwillkürlich rückte ich näher an ihn heran. Es kribbelte. Mein ganzer Körper schien in diesen Minuten unter Spannung zu stehen und gleichzeig weich zu werden.

Selbst als er seine Lippen von meiner Haut nahm, war der Nachhall noch so extrem, dass ich darin schwelgen konnte.

Ich konnte nichts gegen das Lächeln tun, das sich auf meinen Lippen bildete, als ich ihm das Gesicht zuwandte. Doch auf den Blick, mit dem er mich ansah, war ich nicht gefasst. So offen und ehrlich. Es war ein Ausdruck, den ich so oft bei ihm sah, und doch schien ich ihn in diesem Moment irgendwie anders wahrzunehmen.

Vielleicht war es noch der Nachhall des Brennens. Vielleicht auch etwas ganz anderes. Doch in diesem Moment, in dem sein Blick unverkennbar auf mich gerichtet war, als gäbe es niemanden außer mir, beugte ich mich einfach vor und küsste ihn.

 

°°°°°

Tag Einhunderzehn

 

Dieses Gefühl, es war wie ein Stromschlag, der mein Herz zum Rasen brachte und meinen Magen Purzelbäume schlagen ließ. Diese kurze Berührung unserer Lippen katapultierte mich in eine andere Welt. Zumindest für den Moment, den dieser Kuss dauerte. Denn mit einem Schlag wurde mir bewusst, was ich hier gerade trieb. Ich küsste Askea.

Ich schreckte so heftig vor ihm zurück, dass ich fast rückwärts umfiel. Mein Atem ging viel zu heftig. Diese kurze Berührung rechtfertigte das nicht, genauso wenig wie meinen schnellen Herzschlag. Und doch konnte ich nichts anderes tun als ihn anzustarren.

Nein, er hatte meinen Kuss nicht erwidert. Wahrscheinlich war er viel zu überrascht davon gewesen. Doch auch jetzt gab er keine Regung von sich. Er schaute mich einfach nur an und je länger es dauerte, desto unwohler fühlte ich mich in meiner Haut.

Was war da nur in mich gefahren? Gott, manchmal war mir wirklich nicht mehr zu helfen. „Ich glaub, ich geh dann mal schlafen.“ Ja, Flucht war vielleicht feige, aber im Moment die beste Möglichkeit für mich, dieser Situation zu entkommen. Und wer weiß - vielleicht hatte er es ja schon morgen vergessen.

Nur leider griff er in dem Moment, in dem ich mich erhob, nach meinem Arm und zog mich zurück aufs Lager. Nun konnte ich endlich in seinen Augen lesen. Darin loderte ein Feuer, wie ich es bisher nur einmal gesehen hatte. An meinem ersten gemeinsamen Morgen mit Askea.

Nun wusste ich, was er wollte, doch ich war mir nicht sicher, ob ich das auch wollte. Ich wusste ja nicht mal, warum ich ihn geküsst hatte. Trotzdem sehnte ich mich in diesem Moment nach mehr davon.

Das musste der Nachhall des Brennens sein. Ich hatte das auch schon bei anderen Dämonen beobachtet. Die Frauen wurden immer sehr … zugänglich, wenn die Männer die Verbindung auffrischten. Würde das nun auch mit mir passieren?

„Askea, ich …“ Ja, was ich? Warum spielten meine Gefühle in diesem Moment nur so verrückt? Warum wusste ich nicht, was ich wollte? Warum war ich mir plötzlich nicht mehr sicher, ob das Richtige nicht doch das Falsche war?

Verdammt, in einem solchen Zwiespalt war ich nicht mehr gewesen, seit von mir verlangt worden war, Dämonen zu jagen.

Was sollte ich nur tun? Und warum zum Teufel zog es mich plötzlich so zu ihm?

„Küss mich.“ Verdammt, waren diese Worte etwa gerade aus meinem Mund gekommen?!

„Dämonen küssen nicht.“ Er riss mich an sich heran und dann lagen seine Lippen auf meiner Markierung.

Ein Schwall heißer Energie flutete in meinen Körper. Sie war wirklich heiß. Jeder Teil von mir schien sich um ein paar Grad zu erwärmen.

Ich schnappte nach Luft, als meine Haut plötzlich spannte und einen rosigen Schimmer annahm. Doch am stärksten spürte ich es im Unterleib. Dort bildete sich eine Spannung, dass ich mir auf die Lippen beißen musste, um nicht laut zu stöhnen.

Meine Arme schlangen sich um seinen Hals. Seine freie Hand fuhr an meiner Seite herab, fand den Bund meiner Hose.

Meine ganze Haut kribbelte und ein Schauder nach dem anderen rieselte über meinen Rücken.

Ohne mein Zutun schlossen sich meine Lider von ganz alleine. So wurde ich mir seiner Nähe nur noch bewusster. So nahe, so warm. Mein Herz schlug wie wild. Und noch immer wirkte er seine Magie auf mich.

Ein kleiner Teil von mir wurde sich bewusst, dass mein Körper nur so reagierte, weil er dafür sorgte. Einem anderen – viel größeren – Teil war das völlig egal. Schließlich sorgten Männer im Allgemein auch ohne eine solche Verbindung dafür, dass die Frauen auf sie reagierten. Aus dieser Sichtweise gesehen, war es gar nicht so anders. Oder?

Als Askeas Hand über meine Hüfte strich und meinen Po umschloss, wurde mir erst bewusst, dass der das Hindernis Hose hinter sich gelassen hatte. Wann hatte er sie geöffnet?

Als er seine Lippen von meiner Schulter löste, schnappte ich nach Luft. Der Rausch ließ ein klein wenig nach, doch mein Körper blieb auf Hochtouren und sehnte sich nach mehr – so viel mehr. Doch dann zog er auch noch die Hand aus meiner Hose und sich ein Stück zurück.

Zuerst verstand ich nicht, warum er abrückte. Doch dann griff er hektisch nach seiner Weste und streifte sie sich ab. Dabei kam ich nicht umhin, die Muskeln zu bemerken, die sich unter seiner Haut wölbten. Genau wie seine haarlose Brust. Und seinen Mund.

Noch ehe er die Weste zur Seite gefeuert hatte, griff ich nach seinem Gesicht und wollte ihn erneut küssen. Doch er riss seinen Kopf zurück, als wäre ich giftig.

„Lass das.“

Ich schaute ihn einen Moment an, nicht sicher, ob ich das richtig verstanden hatte. „Was soll ich lassen?“

„Das Küssen. Ich habe es dir gesagt. Dämonen küssen nicht.“

Das war wohl der Moment, in dem meine rosarote Blase einfach platzte. Dieses Mal war es an mir, vor ihm zurück zu weichen, als er mich an sich ziehen wollte. „Aber ich bin kein Dämon“, sagte ich leise.

Diese einfachen Worte schienen zwischen uns eine unüberwindliche Mauer zu errichten.

„Das ist egal, du gehörst zu mir.“

Wieder wich ich aus, als er nach mir griff, rutschte an den Rand des Felllagers und stand auf. „Ich gehöre zu dir - oder ich gehöre dir?“

Plötzlich schlug die Stimmung um und die Luft schien raus zu sein.

Seine Augen verengten sich leicht. „Das ist beides das gleiche.“

„Nein, es gibt einen Unterschied.“ Zwei Schritte rückwärts, noch einer, immer weiter weg von ihm. „Ich gehöre dir nicht.“ Das einzige Wesen, dem ich gehörte, war ich selber.

„Tia, komm her.“

Ich schüttelte den Kopf. Niemals im Leben würde ich ihm in diesem Augenblick zu nahe kommen.

„Komm her.“

„Nein!“

Etwas in seinem Gesicht verhärtete sich. Es war keine Wut, die mir da entgegenschlug, eher … Enttäuschung? Frustration? „Wie du meinst.“

Ich spannte meine Muskeln an, fühlte nach meiner Magie, bereit, mich gegen alles zu wehren, was er tun könnte. Doch er drehte mir einfach den Rücken zu und legte sich hin.

Die folgende Stille war ohrenbetäubend. Nicht mal das knisternde Feuer schien sie durchbrechen zu können.

Ich konnte nur dastehen, ohne zu verstehen, was hier eigentlich gerade passiert war. Warum hatte er mich nicht küssen wollen? Küssen war etwas so Schönes. Das Gefühl war berauschend. Aber er hatte es mir sogar verboten.

Sehr langsam drehte ich mich von ihm weg und ging in die Nische zu Fax. Der Kleine schlief schon – natürlich. So war es jeden Abend. Eingemummelt in mehrere Felle, sah man gerade noch so die spitzen Ohren hervorschauen.

So leise wie möglich legte ich mich neben ihn und zog mir mein eigenes Fell bis zum Kinn hinauf. Aber ich war mir sicher, dass ich nicht würde schlafen können. Meine Gefühlswelt fuhr gerade Achterbahn. Aber nicht diese kleinen Jahrmarktachterbahnen, nein, das hier war eine richtig riesige Horrorachterbahn. Doch in dem ganzen Chaos gab es nur eine Frage, die sich mir immer und immer wieder aufdrängte.

Warum nur wollte er mich nicht küssen?

 

°°°

 

„Schau, Tia, schau!“ Aufgeregt raste Fax zu mir, griff meine Hand und zerrte mich förmlich hinter sich her zu der großen violetten Blüte in der Ecke der Höhle. Auf ihr saß etwas, das mich an eine Mischung zwischen Eidechse und Schmetterling erinnerte.

Es war wunderschön – auf eine sehr exotische Weise. Und es leuchtete. Nun ja, Teile der Flügel leuchteten, genau wie die Blüte, auf der es saß.

Bereits vor Stunden war ich mit Fax aufgebrochen, um die Höhlen im Tal des Lichtes zu erkunden. Es gab immer etwas Neues zu entdecken und es war wunderschön und … na gut, ich hatte mich hier verkrochen, um Askea aus dem Weg zu gehen. Nach dem, was in der Nacht geschehen war … in seiner Nähe zu sein war heute einfach … unangenehm. Nicht dass er etwas dazu gesagt hätte oder gar sauer deswegen wäre. Genaugenommen verhielt er sich ganz normal. Aber ich konnte mich heute eben einfach nicht normal verhalten.  

„Das ist ein Lichtar“, erklärte mir Fax und zog meine Aufmerksamkeit damit zurück auf die seltsame Eidechse. „Man findet sie überall in den Höhlen.“

„Mir ist sie bisher noch nicht aufgefallen.“ Und ich hatte mich mit dem Kleinen schon einige Mal hier rumgetrieben. Naja, nicht in dieser Höhle – zumindest nicht, dass ich mich erinnerte. Aber die sahen ja auch irgendwie alle ein bisschen gleich aus.

„Ja, weil sie sich meist verstecken.“ Fax streckte den Finger aus und stupste den Lichtar gegen den Flügel. Wie ein Geschoss verschwand es. In dem einen Moment sah man noch einen Lichtstreifen und dann gar nichts mehr.

Guardian flitzte der kleinen Eidechse zwar sofort hinterher, aber ich glaubte nicht daran, dass er es noch schaffen würde, sie zu einer seiner Mahlzeiten zu machen.

„Na gut.“ Ich klatschte mir auf die Knie und erhob mich. „Und was machen …“

„Hallo.“

Bei der plötzlichen Stimme schreckte ich herum. Nicht nur ich, auch Fax fuhr überrascht auf und schob sich dann halb hinter mich.

Nicht weit von uns entfernt, in einem Meer aus leuchtenden Blumen, stand die alte Vettel. In der Zwischenzeit wusste ich, dass sie Mae hieß. Und dass sie wohl ein wenig verrückt war. Das zumindest hatte Askea mir erklärt, nachdem sie mich einmal praktisch durch den ganzen Krater verfolgt hatte. Immer mit ausreichend Abstand, aber egal, in welche Richtung ich mich an diesem Tag gewandt hatte, immer war sie da gewesen.

Nun lächelte sie mich mit ihrem zahnlosen Mund an, als wäre gerade die Sonne aufgegangen und hätte versprochen, der schönste Tag aller Zeiten zu werden. Dabei schlug die gelbe runzlige Haut noch mehr Falten. Nur die gelben, pupillenlosen Augen blieben klar und zielgerichtet.

Sie trug ein ledernes Kleid, an deren langen Ärmeln Fransen hingen. Doch im Gegensatz zu all den anderen Dämoninnen waren ihre Schultern bedeckt.

Ich griff nach Fax‘ Hand und wandte mich ab. Egal was sie hier suchte, es war immer besser, Dämonen aus dem Weg zu gehen.

„Nein, warte.“ Sie schnitt mir so schnell den Weg ab, dass es mich wirklich überraschte. Für ihr Alter hatte sie ein ganz schönes Tempo drauf. „Du brauchst keine Angst vor mir zu haben“, sagte sie und zeigte mir wieder ihr zahnloses Lächeln.

Fax drückte meine Hand etwas fester, woraufhin ich ihn hinter mich schob.

In dem Moment kam Guardian aus dem Gebüsch gekrochen und so, wie er sich das Schnäuzchen leckte, hatte er irgendwas gefunden, was er verspeisen konnte.

Meas Blick richtete sich sofort auf ihn und ihr Lächeln wurde noch breiter. „So selten. Sie folgen nur den Reinsten unter uns. Eine Seele in hundert Jahren. Ohne sie würden sie verloren gehen.“

Ähm … mit wem genau sprach sie eigentlich?

„Fennlix“, flüsterte sie. „Begleiter der Ersten, der Verlorenen. Beschützer. Führer.“

Man sagt, ein Fennlix begleitet und beschützt reine Seelen, die verloren herumirren, um sie zurück auf den richtigen Weg zu führen.

Sich Ashas Worte in Erinnerung zu rufen, schmerzte. Sie hatte mir so viel beigebracht. Und nun? Nun war sie tot und würde niemandem jemals wieder etwas beibringen.

Mae begann lauthals loszugackern. Es hallte in der ganzen Höhle wieder. Doch als sie abrupt aufhörte und ihren Blick wieder auf mich richtete, machte mich das nicht gerade glücklich. „Ein Licht in der Dunkelheit, eine Reine.“

Mein Blick huschte zum Ausgang der Höhle. „Ähm … ja. War nett, aber wir müssen jetzt gehen.“

„Du kannst jetzt nicht gehen!“ Sie riss die Arme hoch und im nächsten Moment war die Höhle erfüllt mit orkanartigen Böen, die nicht nur an Fax und mir rissen. Blütenblätter flogen durch die Gegend, ein ganzer Sturm von ihnen umwehte mich. Ich musste die Augen zusammenkneifen.

„Komm!“, rief sie plötzlich. Eine knochige Hand schlang sich um mein Handgelenk. Der Wind verpuffte einfach und dann wurde ich durch die Höhle gezerrt.

„Nein, Flossen weg!“

„Komm, schneller. Komm!“

Ihr Griff war eisenhart. Ich ließ sogar Fax los, um mich besser wehren zu können, doch es brachte nicht einmal etwas, als ich die Beine in den Boden stemmte. Mea zog mich einfach mit sich, quer durch die Höhle, in die nächste hinein. Die alte Vettel hatte eine Kraft, die ich ihr niemals zugetraut hätte.

„Tia!“

Fax. Ich warf einen Blick über die Schulter. Der Junge stand etwas unschlüssig und verloren da. Er wusste nicht, was er tun sollte.

Mir blieb nur noch eine Wahl, um mich von ihr loszumachen und mit Fax zu verschwinden. Ich griff nach meiner Magie und genau in dem Moment, als ich sie auf Mea loslassen wollte, gab sie mich plötzlich frei.

„Sieh“, sagte sie. „Sieh es dir an. Die Zukunft.“

Ich brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, was sie von mir wollte.

Wir standen in einer sehr kleinen Höhle vor einer Wand, an der ein riesiges Bild prangte. So verblasst, wie es war, musste es uralt sein. Dennoch war jede Einzelheit genau zu erkennen.

Aber das war nicht das einzige Bild. Die ganze Höhle war voll davon. Jede Wand, jede freie Fläche. Sogar die Decke war bemalt worden. Das Ganze wurde nur von den Lichtern der Pflanzen erhellt.

„Nein, nicht die anderen.“ Mea zeigte auf das große Bild vor uns. „Das da.“

Ja, die Alte war wirklich unheimlich. Ich rückte sogar ein kleines Stück von ihr ab, bevor ich mir die Malerei genauer ansah. Und zwar nicht, weil sie mich so nachdrücklich hierher gezerrt hatte, sondern weil mich interessierte, warum sie das getan hatte.

Auf der Wand war ein wunderschöner Phönix in allen Einzelheiten ausgearbeitet. Er stand im Mittelpunkt der Malerei. Den Schnabel zu einem Schrei aufgerissen, loderten um seine ausgebreiteten Flügel riesige Flammen. Der Boden unter ihm – in weiter Ferne – war blutrot und der Himmel in einem kränklichen Grün gemalt worden. Um ihn herum fuhren Lichtstreifen vom Boden in den Himmel – vielleicht auch umgekehrt.

Der Boden zeigte Brände, Verwüstung, Tod. Direkt aus der Brust des Phönixes schien ein schwaches Glühen zu strahlen. Doch viel mehr interessierten mich die Lichtstreifen. Irgendwie kamen sie mir bekannt vor.

„Die Zeichen sind deutlich“, erklärte Mea. „Alles ist im Wandel. Der Phönix wird über uns kommen, der Reine wird gebraucht.“

„Ähm …“ Ich sah über die Schulter zu Fax, der noch halb in der andern Höhle stand, schaute dann wieder in ihr erwartungsvolles Gesicht und leckte mir leicht nervös über die Lippen. „Das ist schön.“

„Das ist nicht schön“, fuhr sie mich ungeduldig an. „Das ist schlimm, aber es ist das, was passiert. Der Fennlix zeigt es, der Reine ist gekommen und der Phönix wird erscheinen.“

„O-kay, ich verstehe.“ Nicht das ich viel damit anfangen konnte.

„Nein, du verstehst nicht. Da!“ Sie zeigte auf die Lichtstreifen. „Die Lichtsäulen. Und da.“ Ihr Finger ging nach oben. „Der grüne Himmel. Es passiert. Genau jetzt.“

„Das ist … nicht gut.“ Glaubte ich. Oder doch?

„Nein, es ist nicht gut. Und nun bist du aufgetaucht. Die Reine. Alles wird sich ändern – wegen dir.“ Sie strahlte mich an, aber ich war nicht ganz sicher, ob das etwas Gutes oder etwas Schlechtes war. Ich wusste ja nicht mal, was ich von ihrem wirren Geschwätz halten sollte.

Da sie scheinbar etwas von mir erwartete, sagte ich wieder: „Okay.“

Sie verdrehte doch tatsächlich die Augen. „Die Zeit des Phönix.“ Sie kicherte etwas verstörend. „Du bist gekommen.“

Wenn ich das jetzt richtig verstand, hieß das … „Soll das heißen, ich bin dieser Phönix?“

„Stell dich nicht so dumm. Du bist eine Hexe, wie kannst du da der Phönix sein?“

Gute Frage.

„Du bist nicht der Phönix, doch du wirst es sein, der ihn beeinflussen wird.“

„Ah-ja, ich werde also einen Vogel beeinflussen.“ Das war wenigstens mal etwas Neues.

Ihr Lächeln erlosch. „Du glaubst mir nicht.“

Nein, das tat ich nicht. Davon mal abgesehen, dass ich nur die Hälfte verstanden hatte, schien die alte Vettel wirklich nicht mehr ganz bei Verstand zu sein.

„Aber es ist wahr“, beharrte sie. „Du wirst schon sehen. Dein Schicksal ist fest geschrieben, deiner Zukunft kannst du nicht entgehen.“

Aber diesem Gespräch, dem konnte ich entgehen. „Ja, das ist ja alles ganz nett, aber für uns wird es langsam Zeit.“ Ich kehrte ihr den Rücken zu und schritt eilig durch die Höhle. Ich glaubte nicht, dass von ihr eine Gefahr ausging, doch es war besser, sich schnellstmöglich davon zu machen. Deswegen griff ich Fax‘ Hand, sobald ich ihn erreicht hatte, und zog ihn hinter mir her.

„Versuch ruhig, davon zu laufen“, rief sie mir hinterher, „aber merke dir meine Worte. Du wirst es sein, der die Weichen stellt. Niemand entkommt seinem Schicksal – auch nicht du.“

Vielleicht hatte sie Recht – was auch immer mein Schicksal war – doch dieser Situation konnte ich entkommen, und zwar auf schnellstem Wege. Trotzdem hörte ich ihr gackerndes Lachen noch eine ganze Weile hinter mir her schallen. Gruselig.

 

°°°

 

Es störte mich. Es störte mich mehr, als ich mir gegenüber zugeben würde. Wenn er nur wieder Befehle geben würde, dann würde mir diese Stille zwischen uns vielleicht nicht so erdrückend vorkommen. Doch es schien nur mir so zu gehen.

Er sah mich nicht an. Ruhig und gelassen saß er auf dem Felllager, ein Messer in der Hand, und schnitzte mal wieder Runen in den langen Stab. Seine Arbeit schien ihn komplett einzunehmen.

Ich saß auf der anderen Seiter der Feuerstelle und schaute ihn durch die Flammen hinweg an. Nein, es war eigentlich schon mehr ein Starren. Ich wollte mit ihm über das reden, was letzte Nacht passiert war, einfach weil es mir keine Ruhe ließ, doch damit schien ich allein dazustehen.

Seufz.

Eigentlich benahm er sich völlig normal. Er sprach normal mit mir, er behandelte mich ganz normal und auch sonst schien heute für ihn alles völlig normal zu sein.

Vielleicht dachte ich auch einfach nur zu viel darüber nach, gab dem Ganzen zu viel Bedeutung.

Dämonen küssen nicht.

Ach verdammt.

Frustriert arbeitete ich mich auf die Beine und marschierte, ohne einen weiteren Blick auf ihn, aus der Höhle hinaus. Ich brauchte frische Luft, sonst würde mein Kopf noch platzen. Aber ich ging nicht weit. Ich setzte mich draußen auf den Pfad vor der Höhle und ließ die Beine baumeln. Unter mir ging es bestimmt sechs Meter in die Tiefe, aber mein Blick war nach oben gerichtet.

Es war so still. Nur ich und die Sterne am Himmel. Die Nacht in der Wüste hatte etwas Geheimnisvolles. Wenn die Magie heute nur nicht so stark pulsieren würde. Schon den ganzen Tag strich sie mit dem Wind um mich herum. In meinem Kopf lauerte der Kopfschmerz, immer wieder waren die Rosetten des Leoparden auf meiner Haut aufgetaucht und Essen hatte ich heute auch kaum runterbekommen. Vielleicht war deswegen gerade der Griesgram bei mir zu Besuch. Andererseits, in der letzten Zeit war so viel passiert und nichts davon ließ mich in Ruhe.

Da war immer noch die Frage nach Ashas Mörder, auch wenn ich nicht mehr ganz so stark dazu tendierte, Askea zu verdächtigen. War es, weil ich ihn besser kennengelernt hatte? Naja, im Grunde wusste ich ja eigentlich immer noch nicht viel über ihn. Er sprach nie von der Zeit vor dem Lager der Jäger.

Und ja, die Jäger. Ich fühlte mich noch immer von ihnen verraten. Niemals hätte ich geglaubt, dass sie mich zum Feind erklären könnten. Sie waren doch meine Freunde gewesen. Dann war da noch diese verfluchte Krankheit.

Ich konnte spüren, wie es mit jedem Tag schlimmer wurde. Manchmal fing meine Nase aus heiterem Himmel an zu bluten und der Kopfschmerz setzte ein, wann immer es ihm danach beliebte. Diese Umgebung war nicht gut für mich.

Trotzdem wollte ich nicht gehen. Es war seltsam. Ich liebte diese Welt, aber mittlerweile gab es einen ganz anderen Grund, der mich zum Bleiben bewegte: Fax. Vielleicht lag es auch ein klein wenig an Askea.

Wer hätte das jemals für möglich gehalten? Ich sicher nicht.

Seufzend zog ich ein Bein an die Brust und wollte mein Kinn rauflegen, doch dann hörte ich Schritte. Sie kamen nicht aus der Höhle, sondern vom Pfad.

Eine Gestalt bewegte sich auf mich zu, im Gesicht ein zahnloses Lächeln.

Ich kniff die Augen leicht zusammen. „Verfolgst du mich?“

Das brachte mir wieder ihr gackerndes Lachen ein, doch eine Antwort bekam ich nicht. Stattdessen setzte sie sich mit einem Ächzen neben mich. „Die alten Knochen wollen nicht mehr so wie früher.“

Vorsichtshalber rutschte ich ein Stück von ihr weg. Nicht dass ich glaubte, sie könnte mir gefährlich werden – besonders nicht, da wir direkt vor Askeas Höhle saßen und er garantiert schon mitbekommen hatte, dass ich nicht mehr allein war – aber man musste ja nichts provozieren. Und wenn sie plötzlich auf die Idee kam, mich hinunter zu schupsen, könnte keiner so schnell reagieren, um sie noch daran zu hindern.

„Ja, ja, was für eine schöne Nacht. Findest du nicht auch?“

Hm, vielleicht war sie ja einfach nur einsam. Die anderen Dämonen mieden sie nicht nur, sie schnitten sie regelrecht. Das hatte ich mehr als einmal beobachten können. Auch für einen Dämon konnte so etwas belastend sein – davon ging ich zumindest aus. „Ja, es ist eine schöne Nacht“, sagte ich daher. Gegen ein einfaches Gespräch war schließlich nichts einzuwenden.

„Nanu.“ Sie zog eine Augenbraue nach oben. „Warum so betrübt?“

Ich seufzte. „Dafür gibt es viele Gründe.“

„Wenn du magst, ich höre dir zu. Ich habe im Moment sowieso nichts Besseres zu tun.“

Wie kam es, dass sie plötzlich nicht mehr so verrückt wie in der Höhle klang? „Ach, es ist nur …“ Ich biss mir auf die Unterlippe. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihr sowas Privates anvertrauen konnte. Sie war schließlich eine Fremde.

„Es geht um Askea.“

Überrascht sah ich sie an.

Sie grinste nur. „So, wie du hier rumgeseufzt hast, kann es sich nur um einen Mann handeln.“

„Er ist … schwierig.“ Das Wort hohlköpfig hatte ich mir gerade noch so verkneifen können.

„Er ist anders.“ Sie setzte ihre Hände auf den Boden und lehnte sich ein wenig zurück.

„Anders?“ Ich runzelte die Stirn. „Was meinst du damit?“

Nun war sie es, die überrascht dreinschaute. „Hat er dir das nie erzählt?“

Nein, im Grunde hatte er mir gar nichts erzählt. „Er ist eher in sich gekehrt.“

Sie schnaubte. „Askea ist vieles, aber nicht in sich gekehrt. Am besten könnte man ihn wohl mit dem Wort … vorsichtig beschreiben. Ja, Askea ist vorsichtig. Er tastet sich immer an alles heran.“

Nicht an alles. „Aber was meinst du mit anders?“

„Er ist nicht wie die anderen Dämonen aufgewachsen. Er kam erst zu uns, als er fünfzehn war. Seine ganze Kindheit hat er mit Mortatian verbracht.“

„Was?“

„Zumindest kursiert hier dieses Gerücht. Er spricht nicht über diese Zeit, deswegen weiß keiner etwas Genaueres.“

Askea war bei Mortatian aufgewachsen? War sowas überhaupt möglich? Die Mortatia hassten die Dämonen.

„Und als Aamu dann gestorben ist … es hat ihm wirklich etwas ausgemacht.“

„Aamu?“

„Seine erste Gefährtin.“

Fax‘ Mutter. „Wie ist sie denn gestorben?“

Mae zuckte mit den dürren Schultern. „Das weiß niemand. Askea schweigt darüber. Aber es hat ihm ziemlich zugesetzt. Nach ihrem Tod hat er seinen Sohn genommen und das Tal des Lichtes verlassen.“ Sie richtete ihren Blick zum Himmel. „Erst Jahre später ist er wieder aufgetaucht. Und siehe da, wen bringt er mit?“

Über die Antwort brauchte ich nicht erst lange nachzugrübeln. „Mich.“

„Das Reine. Die Beeinflusserin des Phönix.“

Jetzt fing das schon wieder an. „Ich habe dir schon gesagt …“

„Es wird regnen.“

Ich unterbrach mich und sah hinauf zum Himmel. Er war sternenklar. „Wie kommst du darauf?“

„Der Wind hat es mir verraten.“

Der Wind. Natürlich.

„Aber das ist es nicht, was dich so sehr bedrückt.“

Okay, Themawechsel. Die Alte war wirklich seltsam.

„Was hat Askea gemacht?“

Für einen kurzen Moment war ich wirklich am überlegen, ob ich es ihr erzählen sollte, doch als ich den Mund öffnete, kamen da ganz andere Worte raus. „Ich glaube, Askea hat meine Freundin getötet.“

Mae richtete sich leicht auf, blinzelte mich dann an und brach in schallendes Gelächter aus. Sie lachte und lachte, ja, kugelte sich beinahe auf dem Boden.

Ich dagegen kam mir ziemlich veralbert vor. „Das ist nicht witzig.“

„Doch, ist es!“ Sie wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel, prustete dann aber erneut los, als sie ihren Blick auf mich richtete.

„Hör auf damit!“, fuhr ich sie an. Daran war nun wirklich nichts komisch.

„Oh nein, oh nein“, japste sie. „Askea tut nicht mal der sprichwörtlichen Fliege etwas. Es gibt keinen harmloseren Dämon als ihn.“

Als hinter mir ein abschätzendes Schnauben erklang, schaute ich über die Schulter.

Askea stand im Höhleneingang und fixierte die alte Vettel auf eine Art, als wollte er sie den Pfad hinunterschubsen.

„Na, beteiligst du dich nun auch endlich an dem Gespräch?“, fragte Mae.

Endlich? „Wie lange stehst du schon da?“

„Ich bin rausgekommen, als Mae sich zu dir gesetzt hat.“

Das bedeutete, er hatte alles gehört. Und ich hatte es nicht einmal geahnt.

Normalerweise konnte ich ihn in der Zwischenzeit spüren, wenn er sich in meiner Nähe aufhielt. Seine Magie war unverwechselbar. Doch heute war die Magie im Krater so stark, dass sie meine Sinne abstumpfte.

„Hast du geglaubt, ich würde deiner kleinen Hexe etwas tun?“ Mea grinste ihn breit an.

„Ich hielt es für angebracht, ein Auge auf euch zu haben.“

Mit anderen Worten: Ja. Ja, er war davon ausgegangen, dass sie mir etwas antat.

Die alte Vettel schnaubte. „Ihr nicht, niemals der Reinen. Wir brauchen sie schließlich noch.“

Auf ein Neues. „Ich hab dir bereits gesagt, dass … ahhh!“ Der Schmerz in meinem Kopf schlug so plötzlich zu, dass ich fast vornüber kippte. Ich riss die Hände an den Kopf, versuchte den Schmerz mit Druck zu lindern, doch es wurde immer schlimmer.

Etwas Warmes floss aus meiner Nase, lief über mein Kinn und tropfte in meinen Schoß.

Zwei Hände packten mich, zogen mich von der Kante weg. Askeas Gesicht tauchte vor meinem auf. Ich sah, wie seine Lippen sich bewegten, doch ich verstand kein Wort. Da war nur dieses unheimlich laute Piepen in meinen Ohren.

Plötzlich begann ich am ganzen Körper zu zittern. Etwas fiel auf mich herunter. Tropfen.

Es wird regnen.

Regen? Wie war das möglich? Noch vor wenigen Minuten war der Himmel klar gewesen.

Ich spürte, wie Askea seine Arme unter mich schob.

Der Regen wurde stärker. Aber es waren nicht die Tropfen, die ich spürte, nein, es war die Magie, die ihnen anhaftete. Sie traf mich, drang in mich ein. Der Schmerz wurde fast unerträglich. Ich schrie, ich wusste es, auch wenn ich es nicht hören konnte.

Blut tropfte aus meinen Ohren. Meine Muskeln verkrampften sich.

Ein Regentropfen fiel mir direkt auf die Stirn. Die Welt um mich herum explodierte in einem hellen Lichtschein. Dann war da nur noch Dunkelheit.

 

°°°°°

Tag Einhundertelf

Das Geräusch von sanftem Atmen zog mich aus meinem Schlummer. Ein Weilchen versuchte ich es noch zu ignorieren und mich zurück in die Welt der Träume ziehen zu lassen, doch leider wurde ich immer wacher und das fand ich ärgerlich. Ich hatte gerade so schön geträumt.

Ergeben reckte ich die Arme über den Kopf, gähnte herzhaft und ließ mich dann sogar dazu herab zu blinzeln.

Die Magieadern in der Wand gaben ein sanftes Licht ab. Das bedeutete, dass es noch Nacht sein musste - oder sehr früh am Morgen.

Ich blinzelte erneut. Das hier war nicht Fax‘ Nische. Diese Aussicht kannte ich. Ich lag auf Askeas Lager.

„Geht es dir gut?“

Langsam drehte ich den Kopf nach links. Neben mir lag Askea auf der Seite. Ein Arm wie ein Kopfkissen unter seinen Kopf geschoben, beobachtete er mich aufmerksam. Seine andere Hand lag direkt neben meiner Hüfte, so als wäre sie vor kurzem noch woanders gewesen. Er wirkte völlig entspannt, richtig gelassen.

„Warum sollte es mir nicht gut gehen?“ Abgesehen davon, dass ich irgendwie eine Gefangene war und neben ihm auf dem Lager lag.

Askeas Blick huschte aufmerksam über mein Gesicht. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe, wie nach einer schlaflosen Nacht. „Du bist gestern Abend schreiend zusammengebrochen.“

„Ich bin …“ Ach ja, ich hatte wieder einen Zusammenbruch – einen ziemlich heftigen sogar. Aber warum spürte ich davon keine Nachwehen? „Was ist passiert?“

„Ich weiß nicht genau. Es ist Regen vom Himmel gefallen. Goldener Regen. Ohne Wolken, so als würde er aus dem Nichts kommen. Du hast angefangen zu schreien und zu zittern. Es hat Stunden gedauert, bis du aufgehört hast und endlich eingeschlafen bist.“

Ja, natürlich, ich hatte mit Mae draußen gesessen, aber was war dann geschehen? Ich runzelte die Stirn. Kopfschmerzen. Plötzlich hatte ich fürchterliche Kopfschmerzen bekommen.

„Du hast geblutet“, sagte er leise. „Aus der Nase, aus den Ohren und sogar aus den Augen. Und die Flecken.“ Sein Blick richtete sich auf meinen Arm. „Sie gehen nicht mehr weg.“

Was?! Mein Blick schoss auf meine Haut. Klar und deutlich zeichneten sich die Leopardenrosetten darauf ab. Meine zweite Magie, sie begann sich nun mit Nachdruck durchzusetzen. Würde ich jetzt so bleiben? Für immer? Oh mein Gott, sah ich etwa am ganzen Körper so aus?

Mein Mund ging auf, aber kein Ton kam heraus. Oh nein. Ich hatte … was bedeutete das?

„Fax hat die halbe Nacht neben dir gesessen. Ich musste ihn zwingen, ins Bett zu gehen, aber er hat lange gebraucht, bis er endlich eingeschlafen ist. Er hat sich Sorgen um dich gemacht.“

Der Kleine hatte das gesehen?! „Es wird schlimmer“, flüsterte ich und hob meinen Arm, um die Haut von jeder Seite betrachten zu können. Mit jedem Anfall wurde es mittlerweile schlimmer.

„Auch ich hab mir Sorgen gemacht.“ Seine geflüsterten Worte waren so leise, dass ich schon richtig hinhören musste, um sie zu verstehen.

Mein Arm kam auf meinem Bauch zum Liegen. Askea hatte sich Sorgen um mich gemacht. Ich wusste nicht genau, was ich davon halten sollte, doch das warme Gefühl in meiner Brust hieß ich willkommen. „Mir geht es gut“, versprach ich mit einem aufrichtigen Blick in seine Augen. „Alles in Ordnung.“ Was mich selbst wunderte, wenn ich über die Heftigkeit und die Nachwirkungen des Anfalls nachdachte. Es war irritierend. Kein Schmerz, keine Übelkeit oder sonst ein Krankheitszeichen. Alles war, wie es sein sollte. Naja, zumindest wenn man von meinem momentanen Befinden ausging.

Ob er mir glaubte, konnte ich nicht erkennen, doch er wirkte ein klein wenig erleichtert, auch wenn die Sorge nicht ganz verschwand.

Wie hatte das nur wieder passieren können? Ich hatte in der letzten Zeit so sehr darauf geachtet, dass ich mich von der Magie fernhielt, hatte das Sehnen in meinem Inneren ignoriert. Aber was brachte das, wenn die Magie so verrückt spielte, dass mich sogar ein wolkenloser Regen umhaute? Da konnte nur Magie im Spiel gewesen sein.

Wäre ich nur nicht nach draußen gegangen. Aber ich konnte mich ja auch schlecht die ganze Zeit in der Höhle verkriechen. Irgendwann würde ich einfach verrückt werden.

Vielleicht wäre es ja nicht passiert, wenn ich Mae Glauben geschenkt hätte.

„Woran denkst du?“

„An Mae.“ Und das, was sie gesagt hatte. Ich runzelte die Stirn. „Stimmt es, was sie erzählt hat? Bist du unter Mortatian aufgewachsen?“

„Ja.“

Einfach so, gerade heraus. Das verschlug mir für einen Moment die Sprache, denn die ganzen Fragen, die plötzlich in meinem Kopf herumspukten, ließen sich nicht so schnell in Worte fassen, wie ich es gerne hätte. Ich riss mich zusammen. „Aber … warum hast du mir das nie gesagt?“

„Du hast nicht gefragt.“

Das stimmte wohl, aber wer bitte kam schon auf so eine Idee, dass ausgerechnet dieser Dämon bei den Mortatian aufgewachsen war? Wie war das überhaupt möglich? Die Mortatia hassten Dämonen, ja, sie jagten sie sogar, wie ich nur zu gut wusste. „Du hättest es mir auch einfach so mal sagen können.“ Gegen den kleinen Vorwurf in meiner Stimme konnte ich nichts tun.

Seine Finger zuckten, aber ansonsten blieb er völlig entspannt. „Ich hab nicht geglaubt, dass dich das interessieren könnte.“

Ich wollte ihm sofort widersprechen, verkniff es mir dann aber. Er hatte Recht. Bisher hatte ich nie viel darauf gegeben, was er zu sagen hatte. Nur wenn er mir etwas beibringen wollte. Ansonsten war er für mich einfach nur Askea gewesen, der Dämon, der mich gegen meinen Willen gebrannt hatte – zumindest die meiste Zeit. Wer er wirklich war, hatte ich nie wissen wollen. Bis jetzt.

Vielleicht war von den Jägern doch mehr bei mir hängen geblieben, als ich bisher angenommen hatte. „Erzähl es mir.“

„Ich bin bei Mortatian großgeworden.“

Oh Mann. „Ein bisschen genauer hätte ich es schon ganz gerne. Wie bist du zu ihnen gekommen? Warum bist du nicht mehr bei ihnen? Wie ist das überhaupt möglich?“ Das war wohl die interessanteste Frage an dem Ganzen.

Sein Mundwinkel zuckte leicht. „Ich war noch ein Baby, ich weiß nur von den Erzählungen meines Vaters, was passiert ist“, begann er. Wieder zuckten seine Finger.

Ich zögerte einen Moment, legte dann aber meine Hand darauf, weil mich diese Bewegung ständig ablenkte.

Sein Mundwinkel zuckte erneut. „Mein Vater war ein Rakshasa. Er hat …“

„Dein leiblicher Vater?“

„Nein. Meinem leiblichen Vater bin ich nie begegnet. Wenn ich von meinem Vater spreche, rede ich von dem Mann, der mich aufgezogen hat.“

Ich nickte, damit er wusste, dass ich verstanden hatte.

„Mein Vater war Forscher mit Leib und Seele. Manchmal war er für Wochen fort, um ein einziges Tier zu beobachten und jedes noch so kleine Detail zu dokumentieren. Er lebte für seine Arbeit. Und so hat er mich gefunden.“ Er bewegte seinen Daumen, bis er über meiner Hand war, und streichelte damit über meine Haut.

Irgendwie lenkte mich das mehr ab als seine zuckenden Finger. Aber das Gefühl war angenehm, deswegen unterbrach ich den Kontakt auch nicht. Nur die Flecken auf meiner Haut irritierten mich dabei. Würden sie wieder verschwinden? Bisher war es immer so gewesen.

„Auf einer seiner Forschungsreisen entdeckte er eine Frau, einen Rubin, um genau zu sein. Sie lag mitten in der Wüste. Mein Vater näherte sich ihr vorsichtig, weil er nicht wusste, was mit ihr los war. Doch auch als er sich neben sie hockte, regte sie sich nicht. Das konnte sie nicht, denn sie war tot.“ Er seufzte schwer. „Ich weiß nicht warum, aber er entschloss sich dazu, sie zu begraben, doch als er sie umdrehte, traf ihn beinahe der Schlag. Unter ihrem Körper, schützend in ihren Armen, hielt sie ein Baby. Und es lebte noch.“

„Du“, sagte ich leise. „Du warst das.“

„Wie ein Schatz. Das hat er immer gesagt. Ich war versteckt und er fand mich. Wie einen kostbaren Schatz.“

Das war echt … süß. Ein anderes Wort fiel mir dazu nicht ein. Besonders, wie Askeas Augen bei dieser Erinnerung zu leuchten begannen. Es war einfach nur süß.

„Zuerst wusste er nicht recht, was er mit mir tun sollte, doch er war viel zu gutherzig, um mich einfach liegen zu lassen. Darum entschloss er sich, mich mit in den Tempel zu nehmen.“

„Tempel?“

Er nickte. „Mein Vater gehörte zu einer Gruppierung, die in einem Tempel lebte. Fernab von den anderen Mortatian. Ein Tempel der Rakshasa und Rakshasi.“

Etwas in meiner Erinnerung klingelte, doch ich schob es einfach zu Seite. Ich wollte das unbedingt hören.

„Wie nicht anders zu erwarten, waren die anderen nicht besonders begeistert von seiner Idee, mich aufzuziehen, doch er sagte immer nur, dass das Umfeld ein Kind formte. Kein Wesen sei von Natur aus böse oder gewalttätig. Mit dem richtigen Einfluss würde aus mir ein guter Mann werden.“

Die letzten Worte klangen so, als würde er sie selbst nicht glauben.

„Er durfte mich behalten und nach und nach nahmen mich auch die anderen Tempelbewohner an. Da mein Vater alleinstehend war und immer noch gerne und viel unterwegs war, wurde ich von der ganzen Gemeinschaft aufgezogen. Besonders viel Zeit verbrachten Mila und ihre Tochter Lahja mit mir. So wuchs ich bei ihnen auf.“

Er seufzte schwer. „Manchmal hatte ich das Gefühl, ich sei für die Mortatia nur ein Experiment, so als wollten sie herausfinden, ob man einen Dämon in die Gesellschaft eingliedern kann, um ihn zu einem Mortatia zu machen.“

Das war ja … schrecklich. Wie konnte man einem Kind nur ein solches Gefühl geben?

„Auch bei meinem Vater war das so. Und bei Mila. Nur Lahja war anders. Sie war nur ein halbes Jahr jünger und so kam es, dass wir beide eigentlich jeden Tag miteinander gespielt haben. Für sie war ich wohl das, was die Mortatia einen Freund nennen. Leider habe ich das damals falsch verstanden. Und deswegen …“ Er verstummte. Plötzlich war sein Blick nach innen gekehrt. Die Vergangenheit schien ihn zu verschlucken.

Ich drückte seine Hand leicht. Damit hielt ich ihn nicht nur im Hier und Jetzt, es sollte ihm auch ein beruhigendes Gefühl geben.

„Du kannst es nicht wahrnehmen, denn du bist ein Mortatia, doch wenn wir unsere Gefährtin brennen, dann sondern wir ein Pheromon ab, das allen anderen Dämonen im Umkreis sagt: halt dich von mir fern. Und, naja, ich war fünfzehn und hab die Zeichen, die Lahja mir gesandt hat, falsch verstanden. Ich hab versucht, sie zu brennen.“

Oh je. „Und? Ist es dir gelungen?“

Er schnaubte. „Als sie verstand, was ich vorhatte, hat sie mir ein Buch auf den Kopf gehauen, mir gesagt, ich solle mit diesem Unfug aufhören, und ist in die Küche gegangen, um sich etwas zu Essen zu machen.“

Diese Erinnerung schien ihn zu erheitern. Leider nur für einen kurzen Moment, dann wurde er sehr ernst.

„Was ich nicht wusste - zu diesem Zeitpunkt befanden sich ein paar andere Dämonen unweit vom Tempel und haben meine Pheromone wahrgenommen.“ Seine Lippen wurden zu einem dünnen Strich und sein Daumen bewegte sich nicht mehr. „Ich wusste es nicht, ich habe nicht damit gerechnet, schon gar nicht mit dem, was sie dann taten.“

Wieder zwickte etwas an meiner Erinnerung.

„Sie haben wohl geglaubt, die Tempelbewohner hätten mich gefangen. Sie konnten nicht akzeptieren, dass einer der ihren in den Händen der Mortatia war. Jedenfalls kann ich es mir nur so erklären. Noch am gleichen Tag griffen sie den Tempel an und töten jeden, der sich darin aufhielt. Der Tempel Sandbrach existierte nach diesem Tag nicht mehr.“

Nach diesen Worten brach die Erinnerung über mir zusammen. Die Dämonen auf den Dächern, die tote Frau, die an den Haaren herumgezerrt wurde, durch die Gegend fliegende Leiber. Und ein Rubin, nur im Augenwinkel für einen kurzen Moment zu sehen. „Die Oase des Todes.“

Ich konnte es nicht glauben. Was mir Amir da gezeigt hatte, dafür war Askea verantwortlich? Er war schuld, dass so viele hatten sterben müssen und … nein. Was dachte ich denn da? Wie kam ich dazu, Askea die Schuld zu geben? Er war nur ein dummer Junge gewesen, der seinen Hormonen gefolgt war. Wie hätte er ahnen sollen, was aus dieser Tat folgen würde?

Auch er war ein Opfer. Die wahren Täter waren die anderen Dämonen, die so eiskalt über den Tempel hergefallen waren. Obwohl, sie hatten ja eigentlich nur helfen wollen – irgendwie. Nur waren sie dabei viel zu grausam vorgegangen.

Askea gab keine Reaktion von sich. Die Vergangenheit hatte ihn zurück.

Ich zog an seinem Arm, versuchte ihn aus seinen Gedanken zu holen. „Hey, bleib bei mir.“

Seine Lippen pressten sich ein wenig fester aufeinander. „Als sie angriffen, wurde ich mit ein paar der andern Jugendlichen fortgeschickt. Wir sollten uns in Sicherheit bringen. Sie versuchten auch mich zu schützen, verstehst du, aber deswegen hat keiner von ihnen überlebt. Nicht mein Vater, nicht Mila und auch nicht Lahja, denn die Dämonen sind mir gefolgt, als sie mich im Tempel nicht fanden, und haben alle getötet, die bei mir waren. Anschließend sollte ich ihnen auch noch danken. Sie haben mich aufgefordert, mich für ihre Hilfe zu bedanken.“ Er schnaubte. „Ich habe ihnen ins Gesicht gespuckt.“

Als er wieder in Schweigen verfiel, drehte ich mich auf die Seite. „Du musst nicht weiter erzählen, wenn du nicht willst.“

Entweder hörte er mich nicht, oder es interessierte ihn nicht, was ich sagte. „Deswegen habe ich diese Narbe.“ Er ließ meine Hand los und strich die lange, wulstige Narbe auf seinem Gesicht nach. „Die haben sie mir verpasst mit den Worten, dass es mir eine Lehre sein sollte. Dann verließen sie mich einfach.“

Oh nein. Erst zerstörten sie sein ganzes Leben und dann ließen sie ihn einfach alleine. Es gab sie also doch, die bösen Dämonen.

„Ich habe die Bewohner aus dem Tempel alle begraben, das war ich ihnen schuldig. Danach lebte ich monatelang allein in der Wüste. Doch dann, als ich sechzehn war, begegnete ich auf der Jagd einer Dämonin. Aamu.“

„Fax‘ Mutter.“

Er nickte. „Ich brüllte sie an, dass sie verschwinden sollte. Ich wollte nie wieder etwas mit Dämonen zu tun haben. Doch sie lächelte nur, hockte sich hin und grub Chara aus. Ich kehrte ihr den Rücken und verschwand. Aber ein paar Tage später tauchte sie plötzlich wieder auf und wieder hatte sie dieses Lächeln im Gesicht. Von da an begegnete ich ihr fast jeden Tag. Sie schien immer da zu sein, wo auch ich war, und falls du dich das jetzt fragst, ja, sie hat mich verfolgt, denn sie suchte einen Mann. Ich war zwar zwei Jahre jünger als sie, aber das war ihr egal. Rubinmänner sind selten.“

Auch eine Art, auf Männerfang zu gehen.

„Irgendwie schaffte sie es, mein Misstrauen zu überwinden, und dann habe ich sie gebrannt.“

Nicht anders zu erwarten, auch wenn mir diese Worte einen kleinen Stich versetzten. Das, was er mit mir tat, hatte er bereits mit einer anderen geteilt, und nein, das war kein schönes Gefühl. Aber das würde ich nicht laut zugeben.

„Sie brachte mich ins Tal des Lichtes. Anfangs war es nicht ganz einfach für mich, zwischen den ganzen anderen Dämonen zu leben, doch mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt. Es war ein sicherer Ort und nur das zählte – besonders als Fax dann auf die Welt kam.“

Ich lächelte leicht. „Er war bestimmt ein süßes Baby.“

„Er war ein Baby, die sehen alle gleich aus.“

Blödmann.

„Als Fax fünf war, verließ Aamu den Krater, um Pilze zu besorgen – sie liebte diese Dinger. Doch als sie am Abend noch nicht wieder zurück war, nahm ich Fax und machte mich auf die Suche nach ihr. Ich brauchte zwei Tage, um sie zu finden. Sie war tot, den Beutel mit den Chara hielt sie noch immer in der Hand.“

Oh nein.

„Jemand hat sie getötet und … da war so viel Blut und …“

„Hey.“ Ich legte ihm eine Hand auf die Wange, bis er mich wieder ansah. „Bleib bei mir, okay?“ Und da sollte Amir noch einmal behaupten, Dämonen besäßen keine tiefergehenden Gefühle.

Für einen Augenblick schloss er die Augen und atmete tief durch. „Nachdem ich sie entdeckt habe, bin ich ins Tal des Lichtes zurückgekehrt, doch dort war es plötzlich nicht mehr sicher. Da Aamu fort war, versuchten andere Dämoninnen bei mir ihr Glück, indem sie Fax töten wollten.“

„Nubia“, riet ich einfach mal.

„Ja, Nubia war auch unter ihnen. Und nachdem es einer von ihnen fast geglückt ist, habe ich meinen Sohn genommen und bin fortgegangen.“

„Und erst zurückgekommen, als du mich … ähm … hattest.“ Verschleppt hast, erschien mir im Moment nicht angebracht.

Sein Mundwinkel zuckte, als wüsste er genau, was in meinem Kopf vor sich ging. „Du hast mein Kind gerettet. Vor den Einhörnern.“ Sein Blick richtete sich auf meine Augen. „Keine andere Frau hätte das getan. Und dann bei den Jägern … du hast es wieder getan. Du hast Fax beschützt.“

„Naja, er ist ein Kind. Klar habe ich das.“

„Fax braucht jemanden wie dich.“

„Schon, aber … Moment, heißt das, du hast das mit dem Brennen von langer Hand geplant?“

Er zog die Augenbrauen ein Stück nach oben. „Natürlich, oder glaubst du, ich hätte jede genommen?“

Mein Mund ging auf, aber kein Ton kam heraus. Er hatte das geplant? Schon in dem Moment, in dem er mich wiedergesehen hatte? „Aber … du warst doch ein Gefangener. Das wäre doch gar nicht gegangen.“

„Anfangs war es auch nur ein entfernter Gedanke. Doch dann bist du immer wieder zu mir gekommen. Ich habe gehofft, dass ich dein Vertrauen gewinnen kann und du mich dann freilässt.“

„Um was zu tun? Mit dir in den Sonnenuntergang zu reiten?“ Ich nahm meine Hand von seiner Wange und richtete mich ein wenig auf. „Dass du freigekommen bist, was nichts als dummer Zufall.“

„Das weiß ich. Aber ich habe dich gemocht und du warst gut zu Fax. Am Ende ist alles so gekommen, wie ich es mir vorgestellt habe.“

Na, das war doch … ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Doch, Moment, ich wusste es. „Du bist weggelaufen. Nachdem du mich das erste Mal gebrannt hast, bist du abgehauen. Wäre ich dir nicht gefolgt, würde ich wahrscheinlich noch immer bei den Jägern sein.“ Oder in einem Gefängnis. Dieser Gedanke tat weh.

„Nein, wärst du nicht. Ich hätte dich geholt, sobald ich wieder bei Kräften gewesen wäre. Du hast mir einfach nur den Weg erspart.“

Ich schnaubte. Das gab es doch nicht. Das hieß ja, dass mein Schicksal in dem Moment besiegelt war, als er ins Lager gebracht wurde. Nein, gar nicht, erst zwei Tage später, als ich Fax entdeckt hatte.

Oh Mann, das war alles so verzwickt. Und nicht nur das. Wie war es möglich, dass ich auf den einzigen Dämon traf, der unter Mortatian aufgewachsen war? Andererseits würde das auch erklären, warum es ihn nicht störte, eine Hexe zur Gefährtin zu haben. „Das ist … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“

„Sag gar nichts.“ Ganz überraschend streckte er die Hand nach meiner Wange aus und strich darüber. Das Gefühl war unglaublich.

Beug dich vor, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf – wahrscheinlich meine eigene. Beug dich vor und küss mich.

„Schlaf. Du brauchst das.“ Er ließ seine Hand sinken und stand auf.

Die Stimmung war dahin. Ich grummelte etwas sehr unhöfliches. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.

Als Askea über mich hinwegtrat und den Stab, an dem er immer arbeitete, aus der Ecke holte, sah ich ihm verwundert nach. „Willst jetzt noch schnitzen?“

„Nein.“ Er kam wieder zum Lager und hockte sich neben mich. Den Stab legte er neben mich aufs Lager. „Der ist für dich. Er ist zwar noch nicht ganz fertig, aber … benutze ihn, wenn du ihn brauchst.“

„Der Stab ist für mich?“

„Im Lager der Jäger hattest du immer einen dabei. Du sollst auch hier einen haben.“

Ich drehte mich um und fuhr die feine Musterung mit den Fingern nach. Der Stab war sorgsam gearbeitet. Alles an ihm schien perfekt zu sein. „Was bedeuten die ganzen Zeichen?“

„Stärke, Mut, Heilung, Schutz, Furchtlosigkeit.“

Meine Finger verharrten über einer geschwungenen Rune, die wie zwei Flügel mit einem Heiligenschein aussah.

„Unverwundbarkeit.“

„Danke. Das ist …“ Ich sah zu ihm auf. „Er ist wunderschön.“

„Wenn ich zurückkomme, werde ich ihn fertigstellen. Aber bis dahin …“

„Zurückkommen?“ Ich runzelte die Stirn. „Wo gehst du denn hin?“

„Ich muss etwas besorgen.“ Er erhob sich und holte sich einen Wasserschlauch und etwas Proviant aus dem Regal. „Ich beeile mich.“

„Das war jetzt nicht wirklich eine Antwort.“

Askea stopfte seine Ausbeute in einen Beutel und hängte ihn sich auf den Rücken. Dann nahm er seinen Speer, hockte sich noch einmal zu mir und strich mir wieder über die Wange. „Ich werde dich beschützen, Tia. Ich lasse nicht zu, dass dir etwas passiert.“

Und mit diesen kryptischen Worten marschierte er aus der Höhle, gerade als die Dämmerung anbrach.

 

°°°

 

Immer wieder zogen meine Finger die feinen, geschwungenen Kerben in dem Stab nach. Ich konnte immer noch nicht glauben, dass Askea das für mich gemacht hatte. So viele Stunden Arbeit steckten darin und wenn ich ihn richtig verstanden hatte, war er noch gar nicht fertig.

Askea.

Wo war er nur?

Wieder blickte ich zum Höhleneingang. In den letzten Stunden hatte ich das so oft getan, dass man es gar nicht mehr zählen konnte.

Draußen wurde es bereits dunkel.

Es war nicht ungewöhnlich, dass Askea bereits in den frühen Morgenstunden aufbrach, um etwas zu besorgen, was wir brauchten, aber spätestens am Nachmittag war er immer zurück. Doch nun brach bereits der Abend an und von ihm gab es immer noch kein Lebenszeichen.

Als Fax fünf war, verließ Aamu den Krater, um Pilze zu besorgen – sie liebte diese Dinger. Doch als sie am Abend noch nicht wieder zurück war, nahm ich Fax und machte mich auf die Suche nach ihr.

Ich schüttelte den Kopf. Nein, sowas durfte ich gar nicht erst denken, sonst würde ich hier gleich die Wände hochgehen.

„Ich hab Hunger.“

Mein Blick schwenkte zu dem Kleinen. Er hockte auf dem Boden und spielte mit kleinen Figuren aus Holz. Neben ihm saß Guardian und beobachtete aufmerksam jede seiner Bewegungen. 

„Was haben wir denn noch da?“

Fax zuckte seine Schultern auf eine Art, wie es nur kleine Kinder konnten.

Ich schmunzelte. „Na dann werde ich mal schauen.“ Seufzend legte ich den Stab zur Seite und erhob mich vom Lager. Dabei streifte mein Blick - wie so oft an diesem Tag - über meinen Arm. Die Flecken waren leicht verblasst, doch ihre Konturen noch immer deutlich zu sehen. Wahrscheinlich würden sie in den nächsten Stunden verschwunden sein, doch es beunruhigte mich, dass es dieses Mal so lange dauerte. Ich konnte mir einfach nicht einreden, dass das ein gutes Zeichen war.

War es Talita damals auch so ergangen? Hatte die Magie plötzlich Flecken auf ihrer Haut hinterlassen? Und hieß das jetzt, dass ich auch die Fähigkeit hatte, mich in eine Raubkatze zu verwandeln?

Einmal war es bereits geschehen. Nur einen kurzen Augenblick, doch ich erinnerte mich sehr deutlich an meine Hände - oder besser gesagt Pfoten. Aber ich war mir immer noch nicht sicher, was ich davon halten sollte und ob es ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Schließlich sagten alle, dass ich eine Hexe war. Meine Magie war die einer Hexe.

Und doch prangte auf meiner Haut der unwiderlegbare Beweis, dass noch mehr in mir steckte.

Ich seufzte. Diese Gedanken waren müßig. „Du kannst ja schon mal Feuer machen“, sagte ich zu Fax. Schließlich war er ein Rubin und bekam das bereits mit seinen neun Jahren weit besser hin, als ich es jemals könnte.

Fax sprang sofort auf und eilte zur Feuerstelle, während ich mich ans Regal stellte und die Dosen nach Essbarem durchsuchte. Getrocknetes Fleisch? Nein danke. Obst? Wohl kein angemessenes Abendessen. Dann entdeckte ich noch einen Rest Reis. Für mich und Fax würde er reichen. Ich könnte ein bisschen Gemüse rein machen und …

Als Guardian plötzlich fauchte, wirbelte ich alarmiert herum. Fax sprang in dem Moment auf die Beine und rannte hinter mich, denn an unserem Höhlenbach stand Nubia und musterte unsere Einrichtung abfällig, bis sie ihren Blick auf mich richtete.

„Raus.“ Mehr sagte ich nicht, aber der Ton in meiner Stimme sollte ihr den Rest verraten.

Fax‘ Finger klammerten sich in meine Weste, als er vorsichtig an mir vorbeispähte.

„Also stimmt es wirklich“, sagte Nubia, ohne auf meinen Ton einzugehen. „Askea ist wirklich einige Zeit fort.“

Ich sagte nichts und versuchte mir auch nichts anmerken zu lassen, doch die Überraschung musste mir ins Gesicht geschrieben stehen. Was sollte das heißen, dass er für einige Zeit fort war?

„Na, hättest wohl nicht geglaubt, dass ich das weiß, oder?“

Ich bemühte mich, einen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten, doch mit jeder Minute fühlte ich mich unwohler in meiner Haut.

Nubia hatte dieses Problem nicht. Als wäre das hier ihre Höhle, trat sie über die Brücke in den Innenraum.

Das nahm Guardian zum Anlass, sich vor sie zu postieren und sie warnend anzufauchen.

Sie hatte nur einen kurzen Blick für ihn übrig, blieb aber stehen. Dann lächelte sie mich wieder an. „Meine Mutter hat gesehen, wie er sich aus dem Krater geschlichen hat. Er wollte wohl nicht, dass einer von uns bemerkt, dass er euch schutzlos zurückgelassen hat.“

Mein Blick schweifte zu dem Stab. Er hatte gewusst, dass er heute nicht mehr nach Hause kommen würde, deswegen hatte er ihn mir gegeben. Aber warum hatte er mir denn nichts gesagt? Noch viel wichtiger, wann würde er wieder auftauchen?

„Du sagst ja gar nichts.“

„Das kommt daher, dass jedes Wort an dich verschwendet wäre.“

„Immer noch so überheblich. Aber diese Mal sind hier keine Bäume, die das Kind vor mir retten können.“

„Ich brauche keine Bäume, um ihn vor einer aufgeblasenen Barbie wie dir zu beschützen.“

Sie blinzelte verwirrt. „Barbie?“

„Weiber auf Männerfang.“

„Daran ist nichts Falsches.“ Sie fixierte Fax, woraufhin er wieder hinter mir in Deckung ging. „Ist dir eigentlich bewusst, dass der einzige Grund deines Aufenthalts hier dieser Junge ist? Würde es ihn nicht geben, hätte Askea dich keines zweiten Blickes gewürdigt.“

Da ich das selber wusste, trafen mich diese Worte nicht. Und in der Zwischenzeit war sowieso alles anders geworden. Nubia hatte keine Ahnung, wie sehr Askea mir vertraute. Wahrscheinlich wusste sie nicht mal, was Vertrauen bedeutete.

„Was glaubst du, was passiert, wenn der Junge tot ist?“

„Dann hätte auch dein letztes Stündchen geschlagen.“

Sie grinste und das war so richtig gruselig – ja sogar ein halbes Zähnefletschen. „Nein, ich meine mit dir. Was macht Askea mit dir, wenn der Junge aus dem Weg geräumt ist? Weißt du es? Nein? Dann werde ich es dir verraten.“

Sie wartete gar nicht erst auf meine Antwort.

„Du hättest versagt. Er braucht dich dann nicht mehr. Er würde dich einfach töten und sein Leben in Ruhe weiterleben.“

„Das glaubst du wirklich?“ Ich lachte auf. „Ob mit oder ohne Fax, Askea würde mir nie etwas tun. Er ist kein Mörder!“ In dem Moment, als ich diese Worte aussprach, glaubte ich sie nicht nur selbst; ich war von ihrem Wahrheitsgehalt felsenfest überzeugt. Askea war kein Mörder. Ich hatte die letzten Wochen mit ihm verbracht. Dann waren da auch noch Maes Worte.

Dieser plötzlichen Überzeugung folgte natürlich eine sehr wichtige Frage, doch im Moment hatte ich keine Zeit darüber nachzudenken. Nicht wenn Nubia mich mit diesem irren Blick anstarrte.

„Du bist so naiv, kleine Hexe.“

„Besser naiv als eine durchgeknallte Psychopathin!“, hielt ich dagegen.

„Nicht in diesem Fall.“ Noch ehe ich mich versah, flog ein Feuerball auf mich zu. Ich reagierte einfach nur, riss meine Hand hoch und wehrte ihn mit meiner Magie ab. Er flog gegen die Wand und zerbarst dort einfach. Doch der nächste kam bereits angeflogen.

„Guardian!“, rief ich und beschwor ein unsichtbares Schild herauf, das uns vor ihren Angriffen schützen konnte.

„Du kannst dich nicht ewig … aaauuu!“, kreischte sie, als mein kleiner Wächter sich in ihrer Wade verbiss. Doch als sie anfing sich in Feuer zu hüllen, musste er von ihr ablassen.

„Ich habe nicht vor, hier eine Ewigkeit mit dir zu verbringen!“, rief ich zurück und riss meine Hände hoch. Mein Blick war auf das Wasser hinter ihr gerichtet und es folgte meiner Bewegung.

Wie zähflüssiger Honig erhob es sich, wurde zu einer Kaskade und ballte sich in der Luft zu einer Kugel zusammen. Das war etwas, was ich bei den Jägern gelernt hatte. Zum ersten Mal war ich froh darüber, dass ich so eine gute Schülerin gewesen war.

Nubia brauchte zu lange, um zu bemerken, was ich da tat.

Vielleicht war es das kleine Lächeln in meinem Gesicht oder auch die Geräusche des Wassers, die sie wahrnahm, auf jeden Fall war es zu spät, als sie sich umdrehte.

Meine Hände bewegten sich blitzschnell. Ich stülpte die Kugel aus Wasser einfach über sie. Sie riss den Mund noch zu einem Schrei auf, da versank sie bereits im Wasser.

Ein Dämon in einer Wasserkugel.

Ihre Flammen verloschen augenblicklich. Ich sah die Panik in ihren Augen, als sie versuchte, sich daraus zu befreien, und feststellen musste, dass sie gefangen war.

Mir brach der Schweiß aus und ich bemerkte, wie sich die Vorboten eines drohenden Zusammenbruchs langsam an mich anschlichen. Der puckernde Schmerz in meinem Kopf, die aufsteigende Übelkeit in meinem Magen. Die Flecken auf meiner Haut wurden wieder dunkler.

Noch ein bisschen, sagte ich mir. Nein, ich wollte ihr nichts tun, ich wollte ihr nur einen gehörigen Schrecken einjagen, damit sie sich in Zukunft von uns fernhielt. Doch ich spürte, wie meine Kraft mich nach und nach verließ, obwohl die Magie noch immer mächtig in mir pulsierte.

Meine Beine zitterten, meine Hände wurden schweißfeucht. Plötzlich durchschnitt ein scharfer Schmerz mein Hirn. Ich biss mir auf die Lippe, um keinen Ton von mir zu geben, doch die Magie brach einfach zusammen und Nubia klatsche samt Wasser auf den Boden.

Hustend versuchte sie zu Atem zu kommen, während das Wasser zurück in den Bach floss – zumindest das meiste davon.

Vor meinen Augen tanzten helle Lichter und auch wenn ich am liebsten einfach zusammengebrochen wäre, so zwang ich mich, auf den Beinen zu bleiben. Wenigstens noch ein kleines bisschen. „Verschwinde jetzt und lass dich hier nie wieder blicken.“ Ich wusste nicht, wie ich es schaffte, meine Stimme so fest klingen zu lassen, aber ich war froh darüber.

Tropfnass funkelte Nubia mich an. In ihren Augen wohnte der Hass. „Wie kann man nur so dumm sein und das Kind einer fremden Frau beschützen?!“

„Fax ist mein Sohn.“ Klar und deutlich kamen diese Worte über meine Lippen und ließen keinen Zweifel daran, dass ich auch wirklich meinte, was ich sagte. Ich hatte Fax vielleicht nicht geboren, aber das änderte nichts daran, dass er nun zu mir gehörte. „Und solltest du jemals wieder versuchen, Hand an ihn zu legen, wirst du mich mal von einer anderen Seite kennenlernen.“

„Droh mir, so viel du willst, ich habe keine Angst vor dir!“

„Ich spreche keine Drohungen aus, nur Versprechen. Und nun verschwinde.“ Bevor du sehen kannst, wie ich einfach zusammenbreche.

Ihre wütenden Blicke trafen mich wie Dolche, doch sie sah ein, dass sie verloren hatte, und trat den Rückzug an – zumindest für den Moment.

Ich wartete genau bis zu dem Augenblick, in dem sie um die Ecke verschwand, dann gestattete ich es meinen zitternden Beinen, endlich unter mir nachzugeben, und sackte einfach in mir zusammen.

„Tia!“

„Keine Sorge, mir geht es gut. Gib mir nur einen Moment.“ Als mein Blick anfing, unscharf zu werden, schüttelte ich meinen Kopf. Ich durfte auf keinen Fall das Bewusstsein verlieren, nicht solange Askea fort war. „Gleich geht’s mir besser und dann mach ich uns was zu essen, okay?“

Fax stand nur still auf und kehrte mit einem Lappen in der Hand zurück. Ich musste nicht erst groß fragen, wofür der war, ich spürte, wie das Blut mir aus der Nase zu tropfte.

„Ich darf nicht einschlafen“, sagte ich, als ich unkontrolliert nach dem Lappen griff. „Hörst du? Wenn du glaubst, ich schlafe ein, dann kneif mich.“

Fax nickte, ohne zu zögern. „Du darfst nicht einschlafen.“

Jedenfalls nicht, solange die Bewusstlosigkeit am Rande meines Sichtfeldes lauerte. Wäre ich außer Gefecht, wäre Fax eine einfach Beute, und das konnte ich nicht zulassen.

Also stimmt es wirklich, Askea ist wirklich einige Zeit fort.

Warum nur hatte Askea mir nichts gesagt? Und wo war er überhaupt? Verdammt sollte dieser drakonische Dämon sein!

 

°°°°°

 

Tag Einhundertvierzehn

 

 

Übermütig klatschte Fax mit der flachen Hand auf das Wasser, dass es nur so in alle Richtungen spritzte und ich schützend die Hände vors Gesicht hielt, um den Wasserschwall auszuweichen.

„Na warte, du!“ Als ich zurückschlagen wollte, tauchte er lachend ab und schaute mich grinsend aus dem Wasser an.

Ich war gerade am überlegen, ob ich mehr als nur meine Füße in unseren kleinen Bach stecken sollte, als ich es spürte - diesen Hauch von Magie. Seine Magie.

Ich riss den Kopf genau in dem Moment herum, als Guardian freudig losrauschte und Fax prustend aus dem Wasser auftauchte.

Zweiunddreißig Sekunden, solange brauchte er, um mit Guardian auf den Fersen im Höhleneingang aufzutauchen – ja, ich wusste das so genau, weil ich mitgezählt hatte. Dann spazierte er mit dem seltsamen Brett unter dem Arm herein, als wäre er nur mal Zigaretten holen gewesen – oder eben ein seltsames Brett im Baumarkt.

„Papá!“ Wassertropfen spritzten in alle Richtungen.

Askea nickte seinem Sohn nur zu und schritt dann über die Brücke an uns vorbei. Das Brett, das zwar nur einen halben Meter breit war, dafür aber fast so hoch wie er selbst, stellte er vorsichtig an der Wand ab. „Komm aus dem Wasser und trockne dich ab, Tia wird bald Essen machen.“

Ich blinzelte. Dreieinhalb Tage war er weg gewesen und das war alles, was er zu sagen hatte? Seinen Sohn rumkommandieren und mir unterschwellig zu vermitteln, dass er Hunger hatte?

Die Wut stieg mit der Stärke von Lava in mir auf. „Bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen?!“, fauchte ich ihn an und stand auf. „Du verschwindest tagelang, ohne vorher auch nur ein Sterbenswörtchen darüber zu verlieren, und dann tust du so, als wärst du eben nur mal kurz vor der Tür gewesen?!“

Er warf mir nur einen kurzen Blick zu, bevor er seine Tasche von der Schulter rutschen ließ und achtlos nebens Lager legte. „Ich hatte etwas zu erledigen.“

„Ja, du musstest ein Brett besorgen, während ich mich mit Nubia herumschlagen musste!“

„Das ist kein Brett, das ist ein …“

„Hast du überhaupt gerade verstanden, was ich gesagt habe? Ist dir eigentlich klar, dass ich mir Sorgen gemacht habe, bevor diese Barbie hier aufgetaucht ist und mir schadenfroh berichtete, dass du dich für ein paar Tage aus dem Staub gemacht hast?“

„Nubia ist keine Gegnerin für dich. Sie …“

„Das ist doch scheißegal und darum geht es hier auch nicht!“

Askea verzog verärgert die Mundwinkel. Dass ich ihn nun schon zweimal unterbrochen hatte, ging ihm gegen den Strich, aber das war mir gerade völlig egal.

„Du kannst doch nicht einfach … huch.“

Als Askea plötzlich vor mich trat und mich an sich heranzog, verlor ich beinahe das Gleichgewicht. Ich fiel praktisch gegen ihn. Doch was das sollte, wurde mir erst klar, als er sich vorbeugte.

Ohne dass ich es wirklich registrierte, schlug ich ihm gegen den Hinterkopf. „Spinnst du?!“ Brennen war im Augenblick das letzte, was ich wollte.

Ich gab ihm einen kleinen Stoß, doch mir war klar, dass ich nur freikam, weil er es zuließ, und das machte mich gleich noch wütender. „Ich bin keine Dämonin! Ich lasse mich nicht beruhigen, nur weil du deine Spielchen durchziehst! Ich bin sauer auf dich und dazu habe ich auch jedes Recht! Weißt du eigentlich, was hier los war?!“

„Wenn du aufhören würdest mich anzuschreien und es mir einfach erzählen würdest, dann ja, dann wüsste auch ich es.“

Dafür, dass er in einem so ruhigen und sachlichen Tonfall mit mir sprach und sich von meiner Wut in keinster Weise beeindrucken ließ, hätte ich ihn am liebsten in den Bach geschubst. So beließ ich es aber einfach bei einem wütenden Knurren, kehrte ihm den Rücken zu und marschierte aus der Höhle. Sollte er mir doch den Buckel runterrutschen.

 

°°°

 

Einhundertvierundsiebzig Sekunden, solange brauchte er, bis er mir nach draußen folgte – ja, ich hatte auch dieses Mal mitgezählt.

Wie schon vor ein paar Tagen, saß ich wieder am Rand des Pfades und schaute dem alltäglichen Treiben der Dämonen zu. Dabei entdeckte ich Mae, die bis zu den Waden im Wasser stand und versuchte, mit bloßer Hand einen Fisch zu fangen. Als sie mich bemerkte, winkte sie mir zu, widmete sich aber gleich wieder ihrer Aufgabe.

„Tia.“

Ich ignorierte ihn. Er sollte sich ruhig mal ein bisschen Mühe geben.

Ein paar Minuten wartete er still hinter mir, dann setzte er sich seufzend neben mich. Leider klang das nicht besonders reuevoll, sondern eher genervt. „Ich hab nicht gewusst, dass es so lange dauern würde, aber es hat sich als schwieriger herausgestellt, als ich dachte.“

Ich schnaubte. „Schwache Entschuldigung.“

„Das war keine Entschuldigung.“

Nein, natürlich nicht. Welchen Grund hätte er auch, sich zu entschuldigen?

„Ich war für dich unterwegs“, sagte er leise.

Meine Augenbraue wanderte ein Stück nach oben, als ich mich dazu herabließ, ihm mein Gesicht zuzuwenden. „Du warst fast vier Tage unterwegs, um mir ein Brett zu besorgen? Du hast mich und Fax ohne ein Wort einfach zurückgelassen, ist dir das eigentlich klar?“

„Ich hätte es nicht getan, wenn es nicht wichtig gewesen wäre.“

„Ja, so ein Brett ist echt wichtig.“

Askea ließ die Beine ein wenig baumeln. Meine Wut schien ihn wirklich nicht zu beeindrucken. „Das ist kein Brett, es ist ein Spiegel.“

Überrascht riss ich den Kopf herum. „Ein … ein Spiegel?“

„Dein Weg in deine Heimat.“

Mein Mund öffnete sich, doch jedes Wort verschwand, bevor ich es aussprechen konnte. Er hatte einen Spiegel besorgt? Für mich? Er wusste, dass ich durch einen Spiegel wieder nach Hause konnte? Aber woher? Ich hatte es ihm nie gesagt. Und … und überhaupt … ein Spiegel?

Ich sprang auf die Füße und eilte zurück in die Höhle. Das Brett stand noch unverändert an der Wand. Nein, kein Brett, ein Spiegel. Ich drehte ihn herum und erblickte mein eigenes Bild in dem Glas. Es starrte mich an, als könnte es nicht glauben, was ich hier vor mir hatte.

Askea war drei verfluchte Tage weggewesen, um mir einen Spiegel zu besorgen, der mich zurück nach Hause brachte? „Warum?“, flüsterte ich.

„Es ist Zeit für dich zu gehen.“

Sehr langsam wandte ich ihm mein Gesicht zu. Er stand im Eingang der Höhle und beobachtete mich, aber er wirkte nicht sehr glücklich.

„Du willst, dass ich gehe?“ Allein bei dem Gedanken daran, diese Welt zu verlassen, Fax zu verlassen, und vor allen Dingen ihn zu verlassen, zog mein Herz sich schmerzhaft zusammen. „Warum?“

„Du bist krank, Tia. Ich habe dir versprochen, dich zu beschützen, und das ist der einzige Weg, wie ich dein Leben retten kann.“

„Aber du brauchst mich!“, schrie ich ihn an. „Du brauchst mich für Fax, Fax braucht mich, ich kann nicht weg!“

„Tot bringst du mir nichts.“

Diese Worte trafen mich mit einer Härte, die drohte, mir den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Ich spürte wie meine Augen brannten und konnte nichts dagegen tun. Askea wollte, dass ich verschwand. „Warum hast du mich dann erst hierhergebracht?“, fragte ich leise. „Wenn es so endet, warum hast du mich dann nicht einfach in Ruhe gelassen?“

„Tia …“

„Ich werde nicht gehen!“, schrie ich ihn an. „Dazu kannst du mich nicht zwingen!“

Seine Mundwinkel sanken leicht herab. „Willst du etwa sterben?“

„Was interessiert es dich? Du willst mich doch eh loswerden!“

Askea mahle mit den Zähnen, als versuchte er, eine feste Schuhsohle weich zu bekommen. „Das ist nicht wahr.“

„Und ob es wahr ist, der Beweis steht hier!“ Sehr nachdrücklich zeigte ich auf den Spiegel. „Du hast dieses Ding hierher geschafft! Nach allem, was du getan hast, versuchst du nun, mich auf diese Art loszuwerden und das ist …“

„Ich kann niemanden mehr sterben sehen!“, brüllte er mich in diesem Moment an und brachte mich damit zum Verstummen. Seine Hände waren an den Seiten wütend zusammengeballt und seine Augen sprühten nur so vor Zorn. „Ich habe ihn nicht geholt, weil ich dich loswerden will, sondern weil ich dich nicht sterben sehen kann, verstehst du?! Jeden Tag muss ich zusehen, wie es dir schlechter geht! Nach deinem letzten Anfall habe ich befürchtet, dass du gar nicht mehr aufwachen würdest! Du bist noch blasser als an dem Tag, an dem ich dir das erste Mal begegnet bin, du hast abgenommen, obwohl du manierlich isst, du zerfällst direkt vor meinen Augen!“

Ich konnte nicht widersprechen, denn er hatte Recht. Selbst jetzt noch waren die Schatten der Rosetten auf meiner Haut zu finden. Doch das machte es nicht leichter. Ich wollte diesen Spiegel nicht hier haben, ich wollte ihn nicht benutzen. Ich hasste dieses Teil, denn es stand für das, wovor ich mich fürchtete: meine Vergangenheit.

„Du hast es doch selbst gesagt, die Magie tötet dich“, sagte er nun viel leiser. „Du kannst nicht hier bleiben.“

„Aber ich will nicht gehen. Ich will hier bleiben. Bei dir.“ Und das nicht nur, weil ich mich vor meiner Vergangenheit fürchtete. Ich wollte ihn einfach nicht verlassen.

„Aber du kannst nicht bleiben, ich will nicht, dass dir etwas passiert!“

Ich schaute ihn nur stumm an, dann den Spiegel, und trat von ihm zurück. „Ich werde ihn nicht benutzen.“

Askea stieß ein Brüllen aus, das mich erschaudern ließ, und stürmte aus der Höhle.

Ich schlang die Arme um meine Mitte und schaffte es nicht länger, dem Brennen in meinen Augen standzuhalten. Ich war nicht dumm, ich verstand durchaus, was er sagte. Diesen Spiegel hatte er nur besorgt, weil er sich Sorgen um mich machte, aber ich konnte ihn einfach nicht benutzen.

„Papá will nicht, dass du gehst“, sagte Fax leise. Er stand an der Ecke zu seinem Zimmer. „Aber er hat Angst um dich, er mag dich nämlich.“

Ich schüttelte nur den Kopf. Ich wusste das alles. In den letzten Wochen war zwischen Askea und mir eine Verbindung entstanden, die weit über das Brennen hinausging. Auch wenn wir beide es nicht zugeben wollten, wir spürten es. Das zwischen Askea und mir war etwas Besonderes und ich wollte es nicht aufgeben. Ich konnte es einfach nicht aufgeben.

Wenn ich doch nur eine Möglichkeit finden könnte, die mich gesund machte oder wenigstens dafür sorgen würde, dass die Magie mir nicht weiter zusetzen konnte. Aber es war aussichtslos. Das alles, diese ganze Situation, war einfach nur … aussichtslos.

Lautlos fielen meine Tränen auf den Boden. Sie waren genauso endgültig wie mein Schicksal. Entweder der Spiegel - oder ich würde sterben. Vielleicht nicht heute und vielleicht auch nicht morgen, doch lange würde es nicht mehr dauern – ich konnte es spüren.

 

°°°

 

Ich blickte auf, als Askea am Abend in die Höhle trat, und hätte vor Erleichterung fast laut geseufzt. Stundenlang war er fort gewesen und ich hatte schon befürchtet, dass er wieder einfach verschwinden würde. Nicht dass ich nicht auch ohne ihn klargekommen wäre, aber mit ihm in der Nähe fühlte ich mich einfach … besser. Und nach den Worten, die zwischen uns gefallen waren … ich hatte ein Menge Zeit zum Nachdenken gehabt und fand, dass es an der Zeit war, sich zu unterhalten.

Askea war in sich gekehrt, als er nach seinem schlafenden Sohn sah. Mich ignorierte er nicht direkt, doch irgendwie schien er einfach an mir vorbei zu sehen, bevor er sich seufzend auf sein Lager setzte und sich müde mit den Händen durchs Gesicht strich.

Ich biss mir auf die Lippe, denn ich wusste nicht, wie ich beginnen sollte. Da waren so viele Worte, doch ich traute mich nicht, sie über meine Lippen zu bringen. Warum nicht? War es die Angst vor Zurückweisung? Oder fürchtete ich einfach nur, dass sich der Streit vom Nachmittag wiederholen würde?

Aber wenn ich weiterhin schweigend in der Ecke saß und ihn nur anstarrte, würde ich auch nicht weiterkommen.

Komm schon, mach es einfach! Mein Mund ging auf, schloss sich aber genauso schnell wieder.

Askea hatte die Hände sinken gelassen und saß einfach nur da. Sein Blick war in die Reste der Glut gerichtet. Ich konnte nicht sagen, was in ihm vorging. Aber ich konnte etwas anderes tun.

Entschlossen stand ich auf und lief durch die Höhle. Er sah mich nicht an, als ich mich neben ihn auf das Lager setzte. Er gab überhaupt keine Regung von sich.

Einen Moment war ich versucht, die Hand zu heben und ihn zu berühren, doch etwas hinderte mich daran. Meine eigene Angst.

„Es wird dein Tod sein“, sagte er leise. „Irgendwann wirst du dich schlafen legen und dann nicht mehr erwachen.“

Im besten Falle. Ich drückte die Lippen aufeinander. Nein, Galgenhumor half mir im Moment wirklich nicht weiter. „Es ist meine Entscheidung.“

Er schnaubte und wandte mir endlich das Gesicht zu. „Es ist eine dumme Entscheidung.“

„Und trotzdem ist es meine.“

Seine Augenlider senkten sich leicht herab. „Warum willst du sterben? Warum gehst du nicht einfach? Das ist es doch, was du gewollt hast.“

Sterben? Nein, das wollte ich auf keinen Fall. Es gab so viel, wofür es sich zu leben lohnte. Doch es gab auch Gründe, die mich auf dieser Seite des Spiegels hielten, und sie bestanden nicht allein aus meiner Angst vor meiner Erinnerung. „Warum willst du, dass ich gehe?“

„Habe ich dir das heute nicht schon deutlich genug gesagt?“ Sein Blick richtete sich wieder auf die Glut.

„Weil du nicht sehen willst, wie ich sterbe. Du fühlst dich verpflichtet, mich zu beschützen.“

„Du bist meine Gefährtin“, erwiderte er schlicht.

Bei diesen Worten fühlte ich einen Stich im Herzen. Ja, ich war seine Gefährtin, aber nur aus praktischen Gründen, und mittlerweile schmerzte dieser Gedanke. „Ist das alles?“

„Was sollte da denn sonst noch sein?“

Hatte ich mir das alles etwa eingebildet? Als er vorhin aus der Höhle gestürmt war, hatte ich das Gefühl gehabt, hinter seinen Worte steckte mehr, als er sagte. Doch was, wenn ich mich getäuscht hatte und gerade voll zu Hanswurst machte? „Was wäre, wenn es Fax nicht geben würde?“

Mit einem leichten Stirnrunzeln wandte er mir den Blick wieder zu. 

„Ich meine das, was wir alles durchgemacht haben. Was wäre, wenn es Fax nie gegeben hätte, wenn ich damals nur dich vor den Einhörnern gerettet hätte und wir uns im Lager wieder begegnet wären? Was, wenn es auch ohne Fax einen Grund gegeben hätte, zu dir zu kommen und dich mit Wasser und Essen zu versorgen? Hättest du genauso gehandelt?“

Diese Frage schien er genau zu durchdenken, bevor er wieder den Mund öffnet. „Ich weiß es nicht.“

Das war kein Nein gewesen. Leichte Hoffnung stieg in mir auf. Er hatte nicht nein gesagt - aber leider auch nicht ja. Es führte kein Weg daran vorbei. Ich musste ihn fragen, denn ich musste es wissen. „Magst du mich?“

„Du bist meine Gefährtin.“

Wäre diese Antwort nicht so frustrierend, hätte ich vielleicht gelacht. „Das war es nicht, was ich wissen wollte. Magst du mich? Als Mensch, so wie ich bin.“

Er schien nicht genau zu wissen was er darauf antworten sollte, weil er keine Ahnung hatte, wohin dieses Gespräch führte. 

Ich rutschte zu ihm, bis ich direkt vor ihm saß. Unsere Knie berührten sich dabei. „Du bist wohl das rechthaberischste Wesen, das ich kenne. Ich mag es nicht, wie du mich herumkommandierst. Ich mag es nicht, wie dein Eigentum behandelt zu werden. Und ich mag es auch nicht, dass mir andere deswegen nach dem Leben trachten. Von unserer ersten Begegnung an hast du viele Dinge getan, die ich nicht mag und über die ich mich stundenlang ärgern konnte. Du bist manchmal so … frustrierend. Und doch …“ Ich senkte den Blick leicht. Meine Hände lagen in meinem Schoß und spielten nervös miteinander rum. „Wenn du bei mir bist … ich fühle mich wohl. Ich weiß nicht, was der Auslöser dafür war oder wann es begonnen hat, denn anfangs wollte ich einfach nur von dir weg. Doch das ist jetzt anders. Ich mag dich, Askea.“ Viel zu sehr für diese kurze Zeit. So sehr, dass es mich schon beinahe ängstigte. Das war mir heute klargeworden. Ich hatte den Spiegel gesehen und mir war klargeworden, dass ich nicht gehen konnte. Ich wollte Askea nicht verlassen.

Stumm hatte er meinen Worten gelauscht, doch ich konnte nicht sagen, ob er wirklich verstanden hatte, was ich ihm damit vermitteln wollte. „Ich weiß nicht. was du jetzt von mir hören möchtest.“

„Die Wahrheit. Magst du mich oder bin ich für dich einfach nur ein Mittel zum Zweck?“

Hinter mir knackte ein Ast in der Glut. Es war das einzige Geräusch in der folgenden Stille. Wusste er nicht, was er sagen sollte, oder traute er sich einfach nicht?

Meine Finger wurden immer nervöser. Warum antwortete er denn nicht? So schwer war die Frage doch gar nicht. Wollte er mich etwa behutsam abwimmeln? Aber warum sollte er das tun, wenn ich ihm egal war?

„Hör auf damit.“ Askea griff nach meinen Händen und augenblicklich stellten sie ihre Bewegungen ein. Er seufzte, schaute mir in die Augen. „Um diesen Spiegel zu holen, musste ich mich in ein Dorf der Mortatia schleichen.“

Was?! War er lebensmüde?!

„Glaubst du, ich hätte das gemacht, wenn du für mich nur ein Mittel zum Zweck wärst?“

Er mochte mich. Er hatte es nicht direkt gesagt, doch was sollten seine Worte sonst bedeuten?

Ich befreite meine Hände unter seiner und beugte mich vor. „Küss mich.“

Er runzelte die Stirn. Vermutlich irritierte es ihn, wie ich auf einmal so vom Thema abkam. „Ich habe es dir schon gesagt, Dämonen küssen nicht.“

Ja, wahrscheinlich weil sie lange Reißzähne hatten und die nicht nur zur Dekoration gedacht waren. „Aber ich bin kein Dämon“, erwiderte ich schlicht. „Ich bin eine Frau und ich will, dass du mich küsst.“

Er reagierte nicht. Er beugte sich nicht vor oder versuchte mich zu sich zu ziehen, so wie ich es mir wünschte. Aber er wich auch nicht vor mir zurück oder stieß mich gar von sich. Er saß einfach nur da und schaute mich an. Vielleicht wusste er ja selbst nicht, was er tun sollte.

Zögernd sah ich von seinen Lippen zu seinen Augen. In ihnen tanzte das Feuer seines Innersten. Nun gut, wenn er nicht wollte, würde ich die Sache in die Hand nehmen müssen, schließlich hieß es doch: selbst war die Frau.

Sehr langsam beugte ich mich ihm entgegen. Ich wollte, dass er wusste, was auf ihn zukam, denn eines war klar, das hier würde sein erster Kuss werden – vorausgesetzt, er ließ es zu.

Er wich nicht zurück, kam mir aber auch nicht entgegen. Sein Blick war nur wachsam auf mich gerichtet. Diese Situation schien ihn leicht zu verunsichern. Auch als ich vorsichtig mit meinen Lippen über seine streifte, gab er keine Regung von sich.

„Es tut nicht weh“, flüsterte ich. „Es ist wie Brennen, nur auf meine Art.“

Seine Augenlider sanken leicht herab, als ich seine Lippen erneut streifte.

„Vertrau mir einfach.“ Und dann küsste ich ihn. Schon allein diese leichte Berührung ließ meine Lippen prickeln und mich nach mehr verlangen, doch ich durfte ihn nicht bedrängen. Vorsichtig, sanft. Ich wollte ihn verführen und ihn nicht verschrecken. Ich wusste nicht, warum Dämonen eine Abneigung gegens Küssen hatten. Deswegen hielt ich diesen Kuss sehr kurz.

Es war nur ein Hauch, der mich von ihm trennte. Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen, während er mich nur ruhig beobachtete.

Vorsichtig rutschte ich ein Stück näher, legte meine Hände an sein Gesicht und küsste ihn erneut. Seine Lippen waren so weich, sie waren dafür geschaffen und ich wollte, dass er es verstand, doch er rührte sich noch immer nicht.

Völlig regungslos ließ er die Berührungen unserer Münder über sich ergehen. Doch so schnell gab ich nicht auf. Ich wollte ihm eine Reaktion entlocken, ich wollte, dass er mir entgegen kam.

Es dauerte lange, doch dann spürte ich die Berührung an meinem Bauch. Seine Hand. Die Finger fuhren sanft über die zarte Haut und hinterließen ein Prickeln, das sich in einem Schauder auf meinem Rücken ausbreitete und mir ein kleines Lächeln ins Gesicht zauberte. Sein Atem war ein wenig schneller geworden und ich wusste, würde ich meine Hand auf seine Brust legen, könnte ich sein Herz im gleichen, schnellen Takt wie mein eigenes schlagen spüren.

Ich ließ meine Lippen über seinen Mund wandern, küsste seinen Mundwinkel, strich an seiner Nase entlang. Er war mir so nahe. Sein Geruch nach Anis erfüllte mich, genau wie die Wärme, die er abstrahlte. In diesem Moment war er alles, was ich haben wollte.

Und dann begannen sich plötzlich seine Lippen zu bewegen. Zuerst war es nur ein Zucken seiner Lippen, die sich leicht teilten. Dann bewegten sie sich. Zögernd, tastend. Das hier war ungewohntes Terrain für ihn. Diese fremden Bewegungen schienen ihm nicht ganz leicht zu fallen. Doch mit jeder Minute wurde er sicherer.

Ich ließ meine Hände von seinem Gesicht zu seinen breiten Schultern gleiten. Mein Kuss wurde drängender und nochmal unterbrochen, als er mich plötzlich an der Taille packte und auf seinen Schoß zog.

Seine Arme umschlangen mich, seine Hand wanderte in meinen Nacken, vergrub sich in meinem Haar.

Ich öffnete die Lippen, ließ meine Zunge hervorschnellen und spürte den Schauder, der durch seine Körper rieselte. Doch plötzlich packte er meine Haare fester, sodass ich den Kopf nicht mehr bewegen konnte, und zog sich einen Hauch von mir zurück.

Mein Atem ging wesentlich hektischer als der seine, doch auch an ihm konnte ich die Spuren unseres Kusses erkennen, während er mich mit großen Augen anstarrte, gleichzeitig aber verhinderte, dass ich mich ihm noch einmal näheren konnte.

Hatte er es sich plötzlich anders überlegt? Ausgerechnet jetzt?! „Hör nicht auf“, flüsterte ich.

In seinen Augen loderte das Feuer. Seine Oberlippe zog sich leicht zurück und aus seiner Kehle drang ein Geräusch, das mich erschaudern ließ. Sein Griff in meinem Haar wurde bis an die Schmerzgrenze fester.

„Küss mich“, forderte ich ihn leise auf.

Sein Kopf schoss nach vorne, doch seine Lippen landeten nicht in meinem Gesicht, sondern auf meiner Schulter, und seine Energie schoss mit einer Hitze in mich hinein, dass ich den Rücken durchdrückte. Nicht nur mein Herz zog sich in diesem Moment zusammen.

Mir wurde heiß, so heiß, dass ich fast zu kochen begann. Ein Stöhnen kam über meine Lippen, meine Augenlider schlossen sich flatternd, während die Hitze in meinem Körper immer weiter zunahm.

Ich ließ meine Hände über seine Schultern wandern, die Arme hinunter, krallte mich praktisch in seine Haut, als die Hitze noch mehr zunahm. „Zu heiß“, flüsterte ich. „Askea, zu viel.“

Dieses Mal war es eindeutig ein Knurren, dass er von sich gab, als er den Mund von meiner Schulter löste. „Das hast du zu verantworten“, raunte er und ließ seine Lippen über die empfindliche Haut wandern.

Oh Gott, das hielt ich kaum noch aus.

Meine Finger griffen nach seiner Weste. Ich wollte sie ihm abstreifen, doch soweit kam ich nicht, weil er mich nicht losließ. Fast widerwillig verließ ich die Wonne und öffnete die Augen einen Spalt. „Askea.“

Wieder machte er dieses Geräusch, doch dieses Mal ließ er mein Haar unwillig los und ließ sich von mir die Weste abstreifen. Dabei entging seinen Augen keine meiner Bewegungen.

Ich rutschte höher, ließ meine Finger über die straffe Haut seiner Brust wandern und beugte mich dann mit einem kurzen Blick in seine Augen vor, um alle Stellen zu küssen, die ich gerade berührt hatte.

Wieder zog sich seine Oberlippe zurück. Seine Fänge schienen eine Warnung zu sein, doch mich brachten sie seltsamerweise zum Lächeln.

Ich strich mit dem Gesicht über seine Brust, hinauf zu seinem Hals, und atmete seinen Geruch tief in meine Lungen. Es war … berauschend.

Doch viel besser war das Gefühl seiner Hände, die langsam an meiner Haut hinaufwanderten und das störende Leder meines Oberteils dabei einfach hochschoben. Davon bekam ich eine Gänsehaut.

„Heb die Arme“, befahl er und das war wohl das erste Mal, dass sich in mir nichts gegen seinen herrischen Tonfall sträubte.

Ich tat genau das, was er wollte, streckte meine Arme nach oben und bekam von der kühlen Luft eine Gänsehaut, als er mir mein Oberteil abstreifte. Achtlos fiel es auf das Lager.

Askea tastete meinen Körper mit den Augen ab, beobachtete, wie ich die Arme wieder sinken ließ und meine Brust sich unter meinen Atemzügen hob und senkte.

Seine Hand fand wieder zurück an meine Haut, strich an meiner Seite hinauf, zu der Rundung meiner Brust. Ich seufzte wohlig, als er die Unterseite streifte. Im nächsten Moment jedoch musste ich mich an ihn klammern. Er griff nach mir, versuchte aufzustehen, und ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass er mich auf den Rücken legen wollte. Und noch einen, bis es ihm gelang.

Das weiche Fell kitzelte an meiner Haut.

Ich sah zu ihm auf, als er sich über mich kniete, wollte nach ihm greifen, doch er zeigte mir wieder die Zähne.

„Küss mich.“

Seine Hand strich meinen Arm hinauf und drückte mein Handgelenk über meinen Kopf auf das weiche Lager.

Ich beugte meinen Rücken durch, als sein Mund über mein Schlüsselbein strich und diese Stelle auf meiner Schulter suchte.

Wenn er seinen Mund doch nur höher gleiten lassen würde. Ich wollte ihn so gerne auf meinen Lippen spüren. Doch er wanderte wieder zu meiner Schulter.

Eine Welle ging durch meinen Körper, als er zögernd einen Kuss auf meine Markierung hauchte, so als wäre er sich nicht sicher, ob das richtig war.

Ich seufzte wohlig, schloss flatternd die Augenlider. Das war der Wahnsinn.

Askea veränderte seine Position. Ich spürte, wie er näherkam, wie das Gewicht seines Körpers sich auf mich legte.

Wie von selbst schlang sich eines meiner Beine um seine Hüfte und drängte ihn noch näher an mich. Dieses Gefühl, es war so süß, dass ich darin vergehen wollte. Doch es war nichts im Gegensatz zu dem, was er dann tat.

Das Knurren in seiner Kehle vibrierte in meinem ganzen Körper wider und dann waren seine Lippen genau da, wo ich sie die ganze Zeit haben wollte – auf meinen.

Von da an geriet mein Denken ein wenig ins Trudeln. Ich schlang die Arme um ihn, drückte den Rücken durch und hielt mich dieses Mal nicht zurück.

Im ersten Moment schien er ein wenig überrascht zu sein, als ich meine Zunge in seinen Mund gleiten ließ. Danach zählten nur noch Berührungen. Seine Haut auf meiner, seine Wärme, so nahe, die Gefühle, die in mir widerhallten.

Er war nicht sanft, hielt sich nicht zurück. Unsere Hosen verschwanden und ich konnte feststellen, dass er am ganzen Körper rot war; rot wie ein köstlicher Wein.

Ich spürte ihn, konnte ihn in jeder meiner Zellen fühlen. Wie er sich näher an mich drängte, seinen schnellen Herzschlag, einen Kuss, als wäre er am Verdursten.

Ich war offen für ihn, genoss das Gefühl, als er mich ganz zur Seinen machte.

Alles passte, es war so gut, dass ich mich für den Augenblick selbst vergaß. Da waren nur noch er und ich, zwei Wesen vereint, wie die Natur es vorgesehen hatte.

Ich ritt auf einer Welle des Glücks, hielt mich an ihm fest, um nicht verloren zu gehen. Doch in dem Augenblick, als seine Lippen wieder auf der Markierung landeten und mich in höhere Gefilde beförderten, verstand ich erst, was mein Herz schon seit einer ganzen Weile wusste: ich liebte ihn. Ich wusste nicht, wie es passieren konnte oder wann genau es geschehen war, doch ich liebte Askea, meinen drakonischen Dämon.

Es machte mir keine Angst. Denn auch, wenn er es wahrscheinlich niemals mit diesen Worten sagen würde, so war seine Zuneigung zu mir greifbar. Das war alles, was ich brauchte, um mich ihm ungehindert ausliefern zu können und die Stunden des Vergnügens zu genießen. Zweimal, wie ich zu meinem Entzücken feststellen konnte.

Auch danach ließ er nicht so einfach von mir ab. Der Nachhall klang noch immer durch meinen Körper, während seine Lippen mich brannten und ein Gefühl von Zufriedenheit alles in mir erfüllte.

Meine Finger strichen über seinen Rücken, sein Körper war die einzige Decke, die ich in diesem Moment brauchte. Und seine Magie floss ungehindert in mich hinein. Ja, ich hieß sie sogar willkommen.

„Hätte ich nur schon vorher gewusst, wie gut du das kannst“, murmelte ich und schwelgte noch ein wenig im Gefühl des Brennens.

„An mir hat es nicht gelegen“, murmelte er an meiner Schulter und zwar so knurrig, dass mein Mundwinkel zuckte.

Mein drakonischer Dämon.

Meine Finger zogen eine Linie über seinen Rücken, bis in den Nacken und wieder zurück. Befriedigt stellte ich fest, dass er davon eine Gänsehaut bekam.

Ich drehte den Kopf leicht. „Wie lange willst du das noch machen?“ Nicht dass es mich störte, es war angenehm und ließ mich in dem schwelgen, was geschehen war.

Er grummelte etwas Unverständiges, löste dann aber seine Lippen von mir und hob den Kopf. In seinen Augen lagen ein Frieden und eine Gelassenheit, die ich so bei ihm noch nie gesehen hatte. Er schien mit sich und der Welt rundum zufrieden zu sein.

„Und?“, fragte ich leise und ließ meine Finger wieder in seinen Nacken wandern. „War es jetzt so schlimm, mich zu küssen?“

Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „Es war anders, als ich es mir vorgestellt habe.“

Na hoffentlich meinte er damit besser. „Würdest du es wieder tun?“

„Wahrscheinlich.“

Jupp, er meinte besser. Ich konnte nicht widerstehen, mich ihm entgegen zu beugen und mir einen weiteren Kuss von diesen Lippen zu klauen. Und dieses Mal erwiderte er ihn sofort, rutschte sogar noch ein klein wenig höher, um besser heran zu kommen. Ja, ich ging definitiv davon aus, dass es ihm gefallen hatte.

Als er sich wieder von mir trennte, schwebte dieses inzwischen so vertraute Gesicht über mir, und wieder zog mein Herz sich leicht zusammen.

Wie hatte das nur passieren können? Wann hatte mein Herz begonnen, für ihn zu schlagen? „Ich will bei dir bleiben“, flüsterte ich.

Etwas Gequältes trat in den Ausdruck seiner Augen.

„Noch ist Zeit“, sagte ich leise. „Vielleicht gibt es ja doch noch ein Heilmittel. Wir müssen es nur finden.“

„Ja, vielleicht“, stimmte er mir zu, doch ich wusste, dass er es nicht so meinte. Er glaubte nicht mehr daran. Wäre es anders, wäre er sicher nicht losgezogen, um diesen Spiegel zu besorgen, der nun wie ein Damoklesschwert über uns schwebte.

Seufzend richtete Askea sich auf und griff nach seiner Hose. „Zieh dir etwas an.“

Verwundert richtete ich mich leicht auf. Warum dieser plötzliche Rückzug. „Alles in Ordnung?“

„Natürlich.“ Er stand auf, um sich die Hose über den Hintern zu ziehen – einen echt süßen Hintern, wie ich feststellen konnte. „Nur wenn Fax morgen aufsteht, dann sollten wir vielleicht nicht nackt hier liegen.“

Fax. Oh mein Gott, den hatte ich ja ganz vergessen. Mein Kopf schnellte zu seiner Nische herum, doch es war nur Guardian zu sehen, der sich davor zu einem kleinen Knäuel zusammengerollt hatte. 

„Wenn er erstmal schläft, hört er gar nichts mehr“, beruhigte Askea mich. „Er hat nichts mitbekommen.“

„Wie kannst du dir da so sicher sein?“ Hastig sprang ich auf die Beine und zog meine Kleidung in Windeseile über. Wenn Fax nun doch etwas mitbekommen hatte, dann wäre er sicher für sein Leben geschädigt, und das wäre meine Schuld.

„Tia, er schläft.“

„Ja, aber …“

„Hör auf und komm her, ich will schlafen.“

Und da war er wieder, der drakonische Dämon. Trotz meiner Verunsicherung ließ mich das lächeln. „Aber ich schlafe doch immer bei Fax. Warum … huch!“

Ein Griff nach vorne. Er packte mein Bein und riss es unter mir weg. Ich fiel nach vorne und landete halb auf ihm. Aua.

„Du schläfst bei mir.“

„Das wäre doch auch sicher anders gegangen, oder?“

Er sah mich nur stumm an, aber im Augenblick hatte ich viel zu viele Endorphine im Körper, um ehrlich böse mit ihm zu sein. Trotzdem bekam er einen Klaps auf die Schulter, bevor ich mich neben ihm ausstreckte.

Er zog noch das eine Fell vom Fußende, deckte uns damit zu und legte dann den Arm um mich. Mit einem zufriedenen Seufzer schloss er die Augen.

Und wieder schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen. Wenn das nicht bald ein Ende hatte, würde ich damit wahrscheinlich gar nicht mehr aufhören können. Aber wie er hier neben mir lag, völlig entspannt, konnte ich einfach nicht anders. Ich war noch so überdreht, dass ich es auch nicht schaffte, die Augen von ihm zu nehmen. Wenn er nur immer so wäre.

Eine Idee nahm in meinem Kopf Gestalt an. Es gab eine Möglichkeit, die Zeit einzufrieren. Lächelnd schlüpfte ich vom Lager und lief zum Regal. Meine Tasche stand auf dem untersten Brett. Ich schnappte sie mir einfach, setzte mich damit zurück aufs Lager und begann darin herum zu kramen.

Askea beobachtete mich unter schweren Lidern. Nicht einen Moment ließ er mich aus den Augen.

Ganz unten in der Tasche fand ich, wonach ich gesucht hatte. Mein Handy. Ich hatte es seit Monaten nicht mehr in der Hand gehabt, wusste nicht einmal mehr, ob es noch funktionierte oder der Akku bereits leer war. Zwar dürfte das eigentlich nicht sein, da ich es die ganze Zeit ausgeschaltet gelassen hatte, trotzdem war ich leicht überrascht, als das Gerät in meinen Händen zum Leben erwachte und mich mit einer kleinen Melodie begrüßte.

Mein Lächeln wurde breiter, als ich aus dem Menü die Fotooption auswählte und die Kamera dann auf Askea richtete. Es blitzte, was Askea blinzeln ließ.

„Was hast du gemacht?“

„Ich habe diesen Moment auf ewig gebannt.“ Grinsend zeigte ich ihm das Foto von ihm selbst, wie er auf dem Lager lag, die Augen auf Halbmast, ein zufriedener Ausdruck im Gesicht.

Askea war weder erstaunt noch überrascht. Sich selbst zu sehen, schien ihn nur mäßig zu interessieren. „Pack es weg und komm her. Ich bin müde.“

„Immer so drakonisch.“ Nach einem letzten Blick auf das Bild, schaltete ich das Handy wieder aus, steckte es zurück in meine Tasche und schob diese neben das Lager. Ich hatte jetzt keine Lust, noch einmal aufzustehen. Morgen würde ich sie wegräumen.

Zufrieden seufzend streckte ich mich wieder neben ihn aus, kuschelte mich an seine warme Brust und konnte endlich die Augen schließen.

 

°°°°°

Tag Einhundertfünfzehn

Es war der Schrei einer Frau, der mich in den frühen Morgenstunden aus dem Schlaf riss. Nur Askeas Arm verhinderte, dass ich sofort auf die Beine sprang. „Was war das?“

„Ich bin mir nicht sicher.“ Seine Schultern waren angespannt, der Blick wachsam.

Draußen setzte bereits die Dämmerung ein, doch in der Höhle war es noch immer dunkel.

Askea horchte. Es blieb ruhig. Trotzdem konnte ich seinen Herzschlag spüren, der ein wenig zu schnell schlug. Leider lag das im Moment nicht an mir.

„Bleib liegen“, forderte er mich auf und stemmte sich hoch. Leise schob er unseren Überwurf zur Seite. „Ich meine es ernst, bleib hier“, flüsterte er, als er über mich hinweg stieg und aus der Ecke seinen Speer holen wollte. Gerade als er danach griff, sprang Guardian auf und rannte fauchend mit gesträubtem Fell aus der Höhle.

„Guardian!“ Ich wollte auf die Beine springen, doch in diesem Moment gab es draußen eine Detonation. Die Erschütterung ließ die Erde beben. Ich fiel zurück aufs Lager. Eine zweite Detonation folgte.

Die Magieadern in der Wand leuchteten auf und vertrieben die Dunkelheit in der Höhle.

Askea musste sich an der Wand abstützen, um sein Gleichgewicht zu halten. Er hatte auch das Licht angemacht.

„Papá!“

Fax tauchte aus seiner Nische auf und blickte sich ängstlich um.

„Versteck dich!“

„Askea, schau!“

Er wirbelte herum.

Dichter Rauch waberte an unserer Höhle vorbei. Ein Flackern kam aus dem Inneren des Kraters. Feuer?

„Du bleibst auch hier“, ordnete er an, griff seinen Speer und rannte durch die Höhle. Über die Brücke, durch den …

Am Eingang wurde er plötzlich zurückgestoßen und fiel mit lautem Platschen in den Bach. Das Wasser spritzte übers Ufer, leckte am Boden der Höhle.

„Askea!“ Verdammt, was war hier los?

„Nein, bleib, wo du bist!“

Von wegen, dieses Mal blieb ich nicht auf dem Lager sitzen. Ich benutzte auch nicht den Umweg über die Brücke, sondern rannte direkt ins Wasser.

Askea sah mich natürlich kommen, was nicht nur daran lag, dass das Wasser zu allen Seiten spritzte, als ich auf ihn zueilte. „Ich hab gesagt …“

„Ich bin nicht taub, ich habe wohl verstanden, was du gesagt hast“, unterbrach ich ihn. Das Wasser war um diese Zeit noch ziemlich kalt, aber ich hatte so viel Adrenalin im Blut, dass ich es kaum bemerkte. „Was waren das für Explosionen?“

Mehr verärgert als alles andere, fischte er im Wasser nach seinem Sperr. „Mich interessiert viel mehr, wer unsere Höhle versiegelt hat.“

„Was?“ Was meinte er damit?

Er watete aus dem Bach, dieses Mal langsamer, mit ausgestrecktem Arm.

Ich folgte ihm. Das Wasser lief aus meiner Hose heraus und machte den Untergrund leicht glitschig. „Was tust du?“

„Wir sind eingesperrt.“ Er ließ die Hand sinken und wandte sich mir zu. „Da ist eine magische Barriere.“

„Was?“ Auch ich streckte nun die Hand aus. Meine Finger berührten eine glatte Oberfläche, die leicht vibrierte. Magie. „Das ist …“ Mein Atem stockte. Der Rauch lichtete sich einen Moment und ich konnte weißgekleidete Gestalten erkennen, die auf der anderen Seite des Kraters über einen Pfad in eine Höhle eindrangen. „Jäger“, hauchte.

„Was hast du gesagt?!“ Askea trat näher.

Mein Blick huschte hin und her und plötzlich sah ich sie überall. Bewaffnet marschierten sie in Höhlen und stießen gefesselte Dämonen hinaus. Die Barrieren hielten sie nicht auf. Überall rannten sie über die Pfade.

In der Mitte, um ein riesiges Feuer herum, erblickte ich mindestens ein Dutzend Magier und Hexen. Sie mussten der Ursprung für die Barriere sein, sie schlossen uns ein, genau wie all die anderen Dämonen. Ich konnte sie in den Eingängen ihrer Höhlen wüten sehen. Ein Rubin versuchte ein Loch hindurch zu brennen, ein Smaragd wollte das Gestein zu sprengen, andere klopften einfach nur gegen die Barriere oder rannten wieder ins Innere der Höhle, nachdem sie erblickten, was sich draußen abspielte.

Egal wohin ich schaute, überall entdeckte ich plötzlich Jäger. Aber … es waren so viele. Viel zu viele. Amirs Gruppe bestand aus fast vierzig Leuten, doch der Krater wurde von mindestens hundert gestürmt. „Wie konnten sie diesen Ort finden?“ Noch nie war es den Jägern gelungen, hierher vorzudringen, das wusste ich mit Sicherheit. Der Weg hierher, das Labyrinth, war so verschlungen, dass man mehrere Leben bräuchte, um es zu durchforsten. Wenn man den Weg nicht kannte, war es fast unmöglich, hierher zu finden.

„Jemand muss sie geführt haben.“ Askeas Kiefer mahlten vor Wut. Sein Griff um den Speer war so fest, dass das Holz protestierend knarrte.

Ich sah, wie sie die bereits gefangenen Dämonen nach unten brachten und mit ihren magischen Seilen aneinanderbanden. Unter ihnen waren nicht nur Frauen und Männer, ich erkannte auch ein paar Kinder.

„Wir müssen etwas tun.“

„Wir müssen uns selbst retten.“

Bitte?! „Aber …“

„Tiara!“, fuhr er mich an und funkelte wütend. „Wir können ihnen nicht helfen. Nicht mal du könntest es mit so vielen gleichzeitig aufnehmen. Wir müssen verschwinden.“

Nein, wir konnten nicht verschwinden. Auch wenn Askea Recht hatte, ich konnte diese Leute nicht einfach im Stich lassen. Doch bevor wie überhaupt etwas tun konnten, gab es noch ein anderes Problem zu lösen. „Wie?“, fragte ich. „Wir sind eingeschlossen. Wie kommen wir hier raus?“

Plötzlich verhärtete sich sein Ausdruck. „Geh vom Eingang weg.“

„Warum soll …“

„Geh!“, brüllte er mich an und zeigte mir die Zähne, doch in dem Moment sah ich ihn. Elias. Er stand weiter unten auf dem Pfad und wollte gerade in eine andere Höhle gehen. Unsere Blicke begegneten sich. In seinem war nichts als Verachtung.  

Mein Herz zog sich zusammen. Plötzlich waren da tausend Erinnerungen in meinem Kopf. Wie wir zusammen trainiert hatten. Unsere Abende am Lagerfeuer, die gemeinsamen Essen oder wie er einmal vor Guardian geflohen war.

Die Gesichter in meiner Erinnerung wechselten. Kiran, Ryu, Asha, Amir.

Gaio.

Ich erinnerte mich, wie ich den Gargoyle das erste Mal im Lazarett erblickt hatte und wie er gegrummelt hatte, als ich auf Tuchfühlung gegangen war. Oder wie er mit den Zeitschriften auf mich und Asha zugeschritten war, in der festen Überzeugung, dass ich etwas im Schilde führte.

Aber viel klarer waren all die schönen Momente, die ich mit ihm geteilt hatte. Nicht nur mit ihm, mit allen. Wie wir gelacht hatten und die Scherze, die wir gerissen hatten. Amirs Geburtstag, an dem alle zu viel getrunken hatten. Oder die Momente an der Lagune. Mehr als einmal hatten wir uns gegenseitig überrascht. Oder der Moment, an dem Gaio zur Seite getreten war, damit ich auf Askea Jagd machen konnte.

Doch dann gab es auch noch eine andere Erinnerung, die messerscharf hervorstach und drohte, alle anderen zunichte zu machen.

Ryu.

Der Hass in seinen Augen. Diese Wut und die Verzweiflung. Die scharfe Klinge seines Schwertes, die nur um Haaresbreite an meinem Kopf vorbeisauste.

Elias ließ mich nicht aus den Augen, als er den Mund öffnete. Er rief etwas, dass ich nicht verstand, dafür war es draußen einfach zu laut. Doch als ich sah, wer seinen Worten folgte, trat ich unwillkürlich einen Schritt zurück. Amir.

Seine Augen richteten sich so zielsicher auf mich, als wüsste er ganz genau, wo er nach mir suchen müsste. Dieses Mal versteckte er seine Gefühle nicht hinter einer Maske. Berechnung. Wie er mich ansah … es war reines Kalkül, so als wüsste er ganz genau, was als nächstes zu tun war.

Dann setzte er sich mit einem Trupp Jäger in Bewegung.

„Geh!“, schrie Askea mich erneut an und stieß mich am Arm vom Eingang weg. Durch den groben Griff stolperte ich und fiel unter lautem Platschen in den Bach. Ich brauchte zwei Sekunden, um wieder auf die Beine zu kommen, und eine weitere, um das Wasser auszuspucken.

„Steh auf!“, brüllte Askea mich an und griff nach meinem Arm. In seinen Augen lag Besorgnis. „Geh nach hinten, sonst …“

„Pass auf!“, schrie ich noch, doch da war es bereits zu spät. Eine Kugel purer Energie flog durch die Barriere und traf ihn mit solcher Wucht in die Seite, dass er über den Bach gestoßen wurde und heftig auf den Boden krachte. Der Aufprall war hart, sein Speer flog ihm aus der Hand und rutschte quer durch die Höhle, doch was mir fast das Herz gefrieren ließ, war der Schmerzenslaut, den er von sich gab.

„Askea!“ Wassertropfen spritzten zu allen Seiten, als ich aus dem Bach sprang und an seine Seite stürzte. Meine Hand legte sich auf seine Schulter, während mein Herz mir bis zum Hals schlug. „Askea.“

Er stemmte sich auf die Knie. Blut rann ihm übers Gesicht. Seine alte Narbe war aufgeplatzt. Doch was mich einen Moment wirklich schlucken ließ, war der Ausdruck in seinen Augen: purer Hass.

„Na, sieh mal einer an, wen wir da haben.“

Ich wirbelte herum und erstarrte einfach.

Du hast dich mit diesen Ungeheuern verbündet. Wegen dir ist Asha tot!

Amir.

Askea zog die Oberlippe hoch und fletschte die Zähne. Seinen Arm streckte er schützend vor mir aus und schob mich ein wenig hinter sich, als er in die Hocke sprang und sich mit dem anderen Arm am Boden abstützte.

Dieser Bewegung folgten die Jäger. Elias, Kiran, Gaio, Ryu und Amir. Sie alle standen draußen und beobachteten uns.

„Verschwindet!“, fauchte Askea.

Amir zog nur eine Augenbraue nach oben. „Jetzt, nachdem wir mit eurer Hilfe endlich das Nest der Dämonen gefunden haben? Wohl kaum.“

„Was?“, hauchte ich. Hatte ich ihn gerade richtig verstanden?

„Überrascht?“ Amirs Mundwinkel zuckte. Seine Hand glitt zu der Peitsche an seiner Hüfte. „Ja, es ist wahr. Diesen Ort suchen wir schon sehr lange. Und nur weil du nun hier bist, war es uns möglich, ihn zu finden. Du hast uns praktisch hergeführt.“

Hinter ihm gab es eine erneute Detonation. Ein Mann brüllte in seiner Wut. Die Winde im Krater begangen sich zu regen, nur einen Augenblick, dann beruhigten sie sich wieder.

Amir warf einen kurzen Blick über die Schulter in die Tiefe. Ein zufriedenes Lächeln erschien in seinem Gesicht, bevor er sich mir wieder zuwandte. „Weißt du, Tiara, es gibt da einen Zauber, mit dem lassen sich Lebenswege zurückverfolgen. Um ihn anwenden zu können, brauch man etwas von der betreffenden Person, etwas, das sie gerne hatte, was ihr am Herzen lag. Wie ein Buch, das man oft liest, oder eine Kette, die man immer trägt.“ Er ließ den Riemen der Peitsche durch seine Hand gleiten. „Oder auch einen Kampfstab, den man einst bekommen hat und jeden Tag wie einen Schatz pflegte.“

Mir entglitt jeder Gesichtsmuskel. Oh nein, der Stab, den Amir mir gegeben hatte. Ich hatte ihn zurückgelassen.

„Besitzt man ein solches Objekt, ist es mit dem besagten Zauber möglich, verschwundene Personen aufzuspüren. Zum Beispiel mitten in der Wüste, mit einem kleinen Dämonenkind an der Seite. Wo ist der Junge eigentlich?“

Ich vermied es, in die Ecke zu spähen. Die Nische war nur zu erkennen, wenn man direkt vor ihr stand, für Amir war sie also praktisch nicht vorhanden. Hoffentlich blieb Fax auch dort hinten. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was sonst geschehen konnte, was ich sonst tun würde, denn egal, was passiert war, beim Anblick der Jäger zog mein Herz sich zusammen und ich spürte die Sehnsucht nach meinen Freunden.

Nur waren sie jetzt meine Feinde.

„Keine Antwort?“ Amir ließ seinen Blick durch die Höhle wandern, inspizierte sie geradezu.

Askea jedoch fletschte die Zähne noch weiter. Seine Körpertemperatur nahm zu. Die ansteigende Hitze schien sich in Wellen in ihm aufzubauen.

Sein Feuer, ging es mir durch den Kopf.

Amir grinste, als wüsste er genau, dass wir den Jungen vor ihm versteckten und es nur eine Frage der Zeit wäre, bis er in zwischen die Finger bekam. „Wie dem auch sei. Nachdem wir dich in der Wüste verloren haben, mussten wir den Zauber natürlich ein weiteres Mal anwenden. Dieses Mal führte er uns ins Tal des Lichtes. Ein gutes Versteck übrigens. Hier jemanden zu finden, ist wie die berüchtigte Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Und wir haben unsere Nadel gefunden. Leider kam es etwas unerwartet, dass sie sich genau im Nest der Dämonen befand, also mussten wir uns wieder tatenlos zurückziehen.“

Hieß das, er war heute nicht zum ersten Mal im Krater?

„Aber wie sagt man so schön? Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben. Ich habe mich sofort auf den Weg nach Sternheim gemacht, um den Hohen Rat über meine Entdeckung zu informieren und Verstärkung anzufordern. Sie waren sehr entgegenkommend. Nur leider dauerte es ein bisschen, alles vorzubereiten. Doch dank dir sind wir nun hier, um das Nest zu zerstören und den Phönix auferstehen zu lassen.“

Was sagte er da?

Der Reine ist gekommen und der Phönix wird erscheinen. Du wirst es sein, der ihn beeinflussen wird.

„Dafür möchte ich dir danken, Tiara.“ Die Peitsche fest im Griff, trat er durch die Barrie in die Höhle. „Ohne dich hätte ich diesen Ort wohl niemals gefunden.“

Oh Gott.

Plötzlich stieß Askea mich hinter sich. Ich landete ziemlich hart auf meinem Hintern, doch was ich vor allen anderen Dingen spürte, war die enorme Hitze, die auf einmal von ihm ausging. Ich schaffte es gerade noch, den Kopf herumzureißen, um zu sehen, wie er eine Flammenzunge in Amirs Richtung schoss. Doch in dem Moment erhob sich das Wasser im Bach und baute sich in rasender Geschwindigkeit zu einer schützenden Mauer vor dem Serpens auf.

Das Feuer prallte gegen sie. Das Wasser fing an zu kochen. Dampf stieg auf und füllte die Höhle, doch Askea schaffte es nicht hindurch. Knurrend ließ er das Feuer versiegen.

Die Wasserwand blieb nur einen kurzen Moment länger erhalten, bevor sie einfach in sich zusammenfiel und über das Ufer schwappend zurück in ihre Rinne fand.

Kiran.

Er ließ gerade den Arm sinken, doch der entschlossene Ausdruck in seinem Gesicht blieb auch, als er durch die Barriere neben Amir trat. Und er war nicht der einzige. Sie alle kamen herein, doch nur in einem Gesicht war nichts von der Feindseligkeit zu erblicken, die die anderen mit sich brachten. Gaio. Er wirkte völlig emotionslos, als er die Spitze seiner Armbrust auf Askea richtete.

„Wartet!“ Ich sprang auf die Beine und baute mich direkt vor Askea auf. Er funkelte mich warnend an, doch ich ignorierte ihn. „Ihr dürft ihm nichts tun, er ist harmlos.“

„Er ist ein Dämon, Tiara.“ Amir schüttelte den Kopf, als hätte er es mit einem kleinen, dummen Mädchen zu tun. „Dämonen sind niemals harmlos, wie oft muss ich dir das noch sagen?“

„Er wird niemanden etwas tun. Ich verspreche es.“

„Deine Versprechen sind nichts wert!“, fauchte Ryu und ließ die beiden Schwerter in seiner Hand kreisen.

Plötzlich ging alles ganz schnell. Ein Pfeil löste sich von Elias Sehne. Askea stieß mich so kräftig zur Seite, dass ich aufs Lager knallte und mir das Bein verdrehte. Schnelle Schritte, das Dröhnen wie von einem Wasserfall. Askea brüllte vor Wut auf. Ich spürte, wie die Hitze in der Höhle wieder zunahm, und wirbelte herum.

Eine riesige Kugel aus Wasser schwebte durch die Höhle.

„Nein!“

Askea wollte noch auszuweichen, doch er war zu langsam. Sie zerplatzte, sobald sie ihn berührte, sammelte sich neu und schloss meinen drakonischen Dämon in ihrem Innersten ein.

Es war wie vor ein paar Tagen bei Nubia. Natürlich war es das. Diese Technik hatte ich bei den Jägern gelernt. Sie war die stärkste Waffe der Jäger gegen einen Rubin.

Askea strampelte im Innersten. Das Wasser drohte ihn zu ersticken, doch er kam nicht durch die gummiartige Haut der Kugel. Um ihn herum begann es zu brodeln, als er sein Feuer heraufbeschwor. Ein Teil des Wassers wurde zu Dampf, doch es konnte nirgendwo hin, kondensierte einfach wieder und füllte die Kugel erneut.

„Askea!“ Ich beschwor meine Magie herauf, riss mit ihr an der äußeren Haut der Wasserkugel, bis ein Teil von ihr aufplatzte und Askea oben auftauchen konnte. Der Rest bekam Risse, das Wasser lief ab. Askea knallte auf den Boden. Hustend und spuckend, versuchte er sofort auf die Beine zu kommen, leider wurde er in diesem Moment erneut von einer Energiekugel getroffen, die ihn in das hintere Regal krachen ließ.

Töpfe und Tiegel fielen mit ihm klappernd zu Boden. Die Wunde in seinem Gesicht blutete stärker.

Ich richtete meine Hände auf Kiran, bevor er das noch einmal tun konnte.

„Tia, nein, keine Magie“, knurrte Askea und bemühte sich, wieder auf die Beine zu kommen. Doch er schien irgendwie benommen.

Von wegen. Ich beschwor meine Magie erneut herauf, doch bevor ich damit Kiran außer Gefecht setzen konnte, schlang sich plötzlich etwas schmerzhaft um mein Handgelenk und riss mich zur Seite. Ich stolperte und musste mich an der Höhlenwand abstützen, um nicht hinzufallen. Mein Handgelenk brannte. Der Riemen einer Peitsche hatte sich darum gewickelt.

„Genug“, dröhnte Amirs Stimme durch die Höhle. Fast schon gemächlich trat er mir entgegen, immer darauf bedacht, die Spannung der Peitsche nicht aufzugeben.

Die anderen vier verteilten sich in der Höhle. Gaio richtete seine Armbrust auf Askea, Kiran hielt seine Hände warnend nach oben. Nur eine falsche Bewegung von meinem drakonischen Dämon und er würde ihn erneut in eine Wasserkugel hüllen. Ryu stand mit seinen Schwertern in der Hand neben dem Magier, doch sein Blick war auf mich gerichtet, genau wie der von Elias, der kaum einen Meter von mir entfernt mit Pfeil und Bogen auf mich zielte.

„Weißt du, Tiara, es beeindruckt mich immer noch, welch große Macht sich in dir verbirgt.“ Amir trat soweit an mich heran, dass er mein Handgelenk packen konnte. Es geschah so schnell, dass ich nicht rechtzeitig reagierte. Ich trat nach ihm, wollte ihn mit meiner anderen Hand schlagen, doch er verdrehte mir das Handgelenk, bis ich vor Schmerz das Gesicht verzog.

Askea sprang auf die Beine.

Amirs Blick schnellte zu ihm herum. „Keine Bewegung, Dämon.“

Mein drakonischer Dämon verharrte mitten in der Bewegung, als er den Dolch in Amirs Hand aufblitzen sah, und zeigte ihm einmal mehr die Zähne.

Erst als Amir sich sicher war, dass Askea im Augenblick keine Dummheiten anstellen würde, riss er mich mit einem Ruck zurück. Ich knallte mit dem Bauch gegen die Höhlenwand. Im nächsten Moment war Amir hinter mir und verdrehte mir die Arme auf den Rücken, bis ich mich nicht mehr bewegen konnte.

Ich kniff die Augen zusammen und atmete gegen den Schmerz an, während Askea auf dem Boden hockte und auf seine Gelegenheit lauerte.

„Du hast mich enttäuscht, Tiara.“ Amirs Stimme war sanft, so als würde er ein unartiges Kind tadeln. „Ich habe so viele Hoffnungen in dich gesetzt, doch was hast du getan? Du bist weggelaufen, in die Arme dieses Monsters.“

„Askea ist kein Monster“, spie ich ihm entgegen. „Nur du …“ Ich stöhnte vor Schmerz, als er den Druck verstärkte.

„Siehst du, genau das meinte ich. Weißt du, ich war wirklich wütend auf dich. Doch als ich dann gesehen habe, wohin du uns geführt hast, habe ich endlich verstanden. Du hast uns nicht verraten. Ganz im Gegenteil, du hast dir das Vertrauen dieser Bestien erschlichen und dann nur darauf gewartet, dass wir dich finden.“

Was?

„Natürlich wäre es schlauer gewesen, wenn du mich vorher in deinen Plan eingeweiht hättest, aber du musstest es natürlich glaubhaft gestalten. Ich verstehe das. Deswegen hast du keinen Grund mehr, gegen uns zu kämpfen. Hör auf damit, du gehörst immer noch zu uns und ich möchte, dass du mit mir ins Lager zurückkommst.“

Ich konnte ihn einfach nur sprachlos anschauen. Meinte er das etwa ernst? „Ich kann … ich kann zu den Jägern zurück?“

„Natürlich. Du bist ein Teil der Jäger. Das warst du schon immer und das wirst du immer bleiben. Wir passen aufeinander auf.“

Nein, in diesem Moment wusste ich wirklich nicht, was ich denken sollte. Er konnte doch nicht ernsthaft glauben, dass ich das alles inszeniert hatte? Ich versuchte mich ein wenig zu drehen, um in seine Gesicht sehen zu können, und seltsamerweise ließ er das sogar zu. Nicht nur das, er gab mich sogar frei, damit ich mich ganz herumdrehen konnte.

„Komm zu uns zurück.“ Vertrauensvoll hielt er mir seine Hand entgegen. „Wir brauchen dich.“

Wir. Nicht ich.

Ich schaute zu Ryu, der mich mit einem solchen Hass anstarrte, dass mein Herz sich vor Schmerz zusammenzog. Askea hockte noch immer auf dem Boden. Seine Muskeln waren zum Zerreißen gespannt. Und seine Augen. Da war wieder diese Furcht, die ich schon bei unserer ersten Begegnung gesehen hatte. Aber er hatte keine Angst um sich, sondern um seinen Sohn. Und auch um mich. Für ihn war es mehr als nur die Verpflichtung eines Gefährten, seine Familie zu beschützen. Er hatte mich niemals belogen, nicht so, wie Amir es getan hatte.

„Du willst mich gar nicht“, sagte ich leise. „Du willst nur meine Macht.“

Die Schlangen auf seinem Kopf zischten gefährlich. „Ich biete dir an, zu uns zurückzukehren, und das ist deine Antwort? Verstehst du nicht? Ich kann die Verbindung zwischen dir und diesem Mörder trennen. Er kann dir dann nicht mehr gefährlich werden.“

Mörder. Mein Blick glitt zu Ryu. Mörder. „Askea ist kein Mörder.“ Meine Gesichtszüge verhärteten sich. „Er hat Asha nicht getötet!“

Ein Muskel in Amirs Gesicht zuckte. „Ich weiß“, sagte er so leise, dass nur ich es hören konnte. Plötzlich preschte er vor. Seine Hand schloss sich um meinen Hals und mein Kopf knallte gegen die Höhlenwand.

Askea fuhr in die Höhe.

„Nicht bewegen“, befahl Kiran und hob die Hände ein wenig höher.

„Und jetzt werde ich dir ein kleines Geheimnis verraten.“ Amir beugte sich vor, bis sein Mund an meinem Ohr war. Dabei drückte er so stark zu, dass ich kaum Luft bekam. Ich wand mich, wollte ihm die Hand zerkratzen, doch es schien ihn gar nicht zu interessieren.

„Die Welt wird ein Phönix sein“, flüsterte er. „Altersschwach wird sie sich selbst vernichten, um dann aus der Asche neu zu erstehen. Jung, gesund und ohne Verderbnis. Verstehst du?“

Ich war nicht in der Lage zu antworten. Meine Bemühungen galten im Moment allein der Aufgabe, genug Luft in meine Lungen zu bekommen.

„Es wird geschehen“, flüsterte er. „Asha wusste das. Sie hat die Zeichen erkannt und wollte mich aufhalten.“

Ich erstarrte. Nein, das konnte nicht sein, das konnte ich nicht glauben.

„Bei unserem letzten Gespräch drohte sie mir, zum Hohen Rat zu gehen und sie über meine wahren Absichten aufzuklären. Natürlich musste ich sie aufhalten.“

„Du“, flüsterte ich. Ich brauchte meine ganze Kraft, um diese Worte durch meine gequetschte Kehle zu bringen. „Du warst es.“ Amir war Ashas Mörder.

„Ich? Nein.“ Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Obwohl ich zugeben muss, dass nicht mehr viel gefehlt hat, um es selbst zu tun, war nicht ich es, der ihr einen Dolch in den Rücken gestoßen hat.“ Sein Griff um meinen Hals lockerte sich leicht. „Willst du wissen, wer es war?“ Er zog sich ein wenig von mir zurück und starrte mich an. In seinen Augen tobte der Wahnsinn. Wie hatte mir das nie auffallen können? „Es war Gaio.“ Nur ein Hauch, mehr waren seine Worte nicht.

Mein Blick schoss zu dem Gargoyle, der seine Armbrust noch immer gespannt auf Askea gerichtet hatte. Und seine Augen … sie waren so kalt und gefühllos.

„Er hat mitbekommen, was Asha vorhatte. Er trat ins Lazarett und hörte unseren Streit. Asha konnte ihn nicht sehen, er war hinter ihr und ihre Wut hat sie blind für ihre Umgebung gemacht.“

Nein. Nein, das konnte nicht sein. Jeder, aber doch nicht Gaio.

„Ich muss sagen, seine Tat hat mich selbst überrascht, aber es ließ sich nun mal nicht ändern. Asha ist zu einer Gefahr geworden.“

Meine Augen schweiften zu Ryu.

„Er weiß es nicht.“ Amirs Gesicht wurde hart. „Und er wird es auch nie erfahren.“

„Warum?“, fragte ich leise. „Warum … Gaio?“

„Weil er etwas zurückbekommt, was ihm sehr viel bedeutet, wenn das alles hier erst einmal vorbei ist.“

Er bekam etwas zurück? Er tötete Asha, meine Freundin, die Frau seines Freundes, nur um etwas zurückzubekommen, was er einmal verloren hatte? Was konnte so wichtig sein, dass er deswegen jemanden hinterrücks erstach?

„Deswegen brauchen wir dich. Du kannst an unserer Seite stehen, wenn das neue Zeitalter anbricht. Du musst dich nur von dieser Dämonenbrut lossagen und dich wieder meinem Befehl unterstellen. Ohne Wenn und Aber.“

Eine kleine Bewegung im Augenwinkel verhinderte meine bissige Bemerkung. Fax. Auf Bodenhöhe lugte er um die Ecke seiner Nische. Oh Gott, nein, was machte er denn da? Er sollte sich doch verstecken! Noch hatte ihn niemand bemerkt – naja, niemand außer mir. Ich musste etwas tun, bevor sich das änderte.

Hastig flitzte mein Blick hin und her. Ich brauchte einen Plan und zwar schnell, sonst … meine Augen fanden meine Tasche. Sie lag noch immer neben dem Lager, wo ich sie gestern hingeschoben hatte. Amirs Fuß stand im Schulterriemen. 

„Was sagst du, Tiara? Ich werde nicht ewig auf deine Antwort warten. Komm zu uns zurück, bewahre meine Geheimnisse und du wirst Teil von etwas Großem sein.“

Ich würde nur eine Chance haben. „Du willst eine Antwort? Okay, hier ist sie. Selbst wenn die Hölle zufriert, wärst du der Letzte, zu dem ich jemals wieder zurückkehren würde! Fax, der Magier!“ Ich ließ mich fallen, griff nach dem Henkel meiner Tasche und riss sie zu mir heran. Amir verhedderte sich im Schulterriemen, verlor das Gleichgewicht und knallte auf den Rücken.

Noch in der gleichen Bewegung fuhr ich herum und knallte sie Elias samt der Bücher darin ins Gesicht. Sein Pfeil löste sich von der Sehne und flog nutzlos gegen irgendeine Wand.

Zeitglich beschwor Kiran wieder die Wasserkugel herauf, doch da traf ihn ein Feuerball von Fax und verbrannte ihm die Hände. Mit einem Schrei sprang er zurück, doch durch diese Aktion hatte Gaio den Jungen entdeckt. Er riss die Armbrust herum und noch bevor ich einen Warnruf von mir geben konnte, hatte Askea bereits eine Feuerzunge auf ihn und Ryu gerichtet, die sie von ihrem Vorhaben abbrachte.

Fax kam herausgerannt und versteckte sich hinter seinem Vater.

„Du miese Hexe!“ Als Amir wieder auf die Beine sprang und mit seinem Dolch auf mich zuhielt, entließ ich instinktiv meine Magie. Es war wie eine mächtige Welle, die jeden in der Höhle einfach umriss. Nur Askea und Fax konnte ich noch rechtzeitig mit einem Schild schützen.

Ryu knallte mit dem Kopf gegen die Wand und rutschte bewusstlos an ihr hinunter. Ein Rinnsal Blut blieb an dem Stein zurück.

Kiran und Gaio wurden auf den Boden geworfen, Elias landete in den Überresten des Regals und Amir schlug mit dem Rücken in die Feuerstelle ein.

Ich entließ eine zweite Welle. Die Magie zerrte an mir. Ich spürte, wie meine Nase zu bluten begann.

„Tia! Hör auf!“

Askea. Ich musste ihn retten. Ich musste Fax retten. Nur wegen mir waren die Jäger an diesen Ort gekommen. Ich musste es wieder in Ordnung bringen. Eine Hand krampfte sich um den Riemen meiner Tasche.

Die Jäger regten sich, doch eine dritte Welle drückte sie erneut zu Boden.

Mein Herz schlug immer schneller. Auf meiner Haut erschienen die Rosetten mit einer Deutlichkeit, die keinen Zweifel an meiner zweiten Natur ließ. Ich bekam kaum noch Luft, doch ich durfte nicht nachlassen. Ich musste die Barriere vor der Höhle zerstören, sonst würden sie hier niemals rauskommen.

„Tia!“

Meine Beine fingen an zu zittern. Ich schmeckte Blut auf der Zunge. Die Barriere vibrierte, während mein Atem immer hektischer wurde. Mir wurde schlecht, Galle trieb mir die Kehle hinauf und mein Kopf fühlte sich mit jeder weiteren Sekunde an, als würde er jeden Moment bersten.

Meine Haut begann zu jucken. Fell spross aus ihr heraus, ein weißer Flaum, der sich auf meinen ganzen Körper legte.

Eine weitere Welle krachte durch die Höhle. Ich hörte die Jäger stöhnen.

Meine Beine knickten ein. Nein, noch nicht. Ich muss noch …

In dem Moment, in dem mich etwas in die Seite rammte und zu Boden riss, schickte ich eine letzte Welle in die Welt hinaus. Die Barriere der Jäger konnte meiner Magie nicht länger standhalten und zerbarst wie Glas in tausend Einzelteile, die sich auf ihrem Weg zum Boden einfach in Luft auflösten.

„Ich habe dir verboten, das zu tun!“, brüllte Askea mich an. Er hatte mich umgerannt und damit angestrebt, mich am Zaubern zu hindern.

Ich versuchte mich an einem Lächeln, nur das Blut, das aus meinem Mund floss, wollte nicht ganz dazu passen. „Du hast mich nicht … daran gehindert.“

„Ich konnte nicht!“, schrie er mich an, während er mit fliegenden Fingern über meinen Körper flatterte. „Deine Magie hat die Verbindung blockiert!“

Er hatte es also probiert. Natürlich hatte er das, schließlich war das hier Askea. „Das ist … gut.“ Ich probierte einzuatmen. Meine Lunge rasselte. „Der Weg …“ Oh Gott, mir wurde schwindlig. Schwärze kroch auf mich zu. „Frei.“ Noch ein rasselnder Atemzug. „Flieht.“

Hinter ihm tauchte Fax auf und sah sich unruhig in der Höhle um. „Papá, sie sind nicht tot.“

Askeas verbissener Ausdruck war auf mich gerichtet. Ich konnte ihn nur noch verschwommen erkennen. „Rettet … euch.“ Für mich war es zu spät. Ich konnte es spüren. Dieses Mal hatte ich es eindeutig übertrieben. Die Magie forderte nun ihren Tribut von mir ein und niemand konnte noch etwas dagegen tun. Auch Askea wusste das.

Seine Augen bekamen eine Härte, die ich noch nie an ihm gesehen hatte.

„Papá.“ Es war Angst, die in der Stimme des Kleinen mitschwang.

Askeas Griff wurde fester. Er drückte mich an sich, ließ meinen Kopf dann in seinen Schoß sinken und griff über mich hinweg nach etwas, das auf dem Boden lag. Amirs Dolch. „Ich schicke dich zurück“, sagte er, während er eilig nach meiner Hand griff. Meine Haut begann zu brennen, als er den Dolch ansetzte. „Dort kannst du leben, die Magie kann dir nichts mehr anhaben.“ Er schnitt feine Linien in meine Haut, doch ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass sie sich zu einem Pentagramm zusammenfügten.

Den Zeitpunkt, als er fertig war, spürte ich mit jeder Faser meines Körpers. Es war das Brennen von Magie, das durch meine Zellen zog.

Das Zeichen der Hexen, ein magisches Symbol.

Askea ließ den Dolch einfach fallen, riss mich mit einem Blick über seine Schulter in die Arme und trug mich zum Spiegel. Meine Tasche schleifte dabei über den Boden. Warum hielt ich sie eigentlich noch immer fest?

Nein, wollte ich sagen. Nein, schick mich nicht zurück. Doch mehr als ein Röcheln konnte ich nicht mehr von mir geben. Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, als er meine blutende Hand gegen den Spiegel drückte. „Schick sie nach Hause, schick sie in die Welt ohne Magie.“

Plötzlich fing der Spiegel an zu leuchten. Blaue Schlieren zogen über ihn hinweg. Unser Spiegelbild verschwand. Stattdessen war dort nur noch dieser sanfte Schein.

„Wag es nicht zu sterben“, knurrte Askea. Er beugte sich zu mir hinunter und dann spürte ich seine Lippen auf meinen. Dieser Kuss, in ihm schwang so viel Schmerz und Leid mit. Eine Träne rollte über meine Wange. Er griff meine Hand, drückte sie gegen seine Wange. Diese kleine Geste ließ zwischen uns eine Verzweiflung aufkommen, wegen der ich am liebsten geschrien hätte.

Verlass mich nicht, bitte, schick mich nicht fort.

Doch seine Lippen lösten sich von meinen.

„Papá!“, rief Fax ängstlich.

Hinter ihm war Amir auf die Beine gekommen und sah sehr wütend aus.

„Pass auf dich auf“, befahl Askea mir. Dann stieß er mich von sich, direkt in den Spiegel hinein.

Nein!

Ich fiel. Das Licht verschluckte mich einfach, ohne darauf zu achten, dass ich gar nicht gehen wollte. Mein einziger Halt war meine Tasche, doch auch sie konnte das Geschehen nicht verhindern.

Meine Augen waren panisch aufgerissen, mein Herz schlug viel zu schnell und meine Seele schrie in ihrem Schmerz. Ich wollte nicht gehen, doch Askea wirbelte bereits zu seinem Angreifer herum. 

Das letzte, was ich von ihm sah, war die Feuersbrunst, die aus seinem Körper hervorbrach und alles in der Höhle verschlang – auch ihn und Fax.

 

°°°

 

Der Aufprall war hart. Ich fiel aus dem Spiegel und knallte direkt auf den Rücken. Mein Herz trommelte immer noch wild gegen meinen Brustkorb.

Einen Moment lag ich einfach nur da, starrte eine mir vertraute Decke an. Noch immer war mir schlecht, aber mein Magen schien sich mit rasender Geschwindigkeit zu beruhigen, genau wie der Schmerz in meinem Kopf. Meine Muskeln zitterten, doch mein Blick klarte wieder auf. Ich blinzelte. Das war mein Zimmer. Ich war durch den Spiegel gefallen und befand mich nun wieder in meinem Zimmer, genau an dem Ort, an dem diese Reise begonnen hatte. Hier hatte die Magie keinen Zugriff auf mich und deswegen ging es mir mit jeder Sekunde besser. Ich war gerettet. Eine Träne rollte über meine Wange. Ich war wieder zu Hause.

Dann wurde mir plötzlich klar, was es bedeutete.

Wie von der Tarantel gestochen, sprang ich auf, knickte aber sofort wieder ein und stürzte schmerzhaft auf meine Knie. Ich zischte. Ein blutiger Abdruck meiner Hand bildete sich auf meinem grünen Teppich, direkt neben meiner Tasche. Auf meinem Handrücken verblasste das Symbol der Hexen in Zeitraffer, bis nicht einmal mehr eine Narbe übrig war. Genau wie die Flecken auf meiner Haut. Das Fell war bereits verschwunden, nicht mal ein Schatten war zurückgeblieben.

„Nein“, flüsterte ich und arbeitete mich wieder schwerfällig auf die Beine. Nur zwei Schritte, mehr musste ich gar nicht schaffen. Zwei Schritte trennten mich von meinem Schrank. Es war so schwer, sie hinter mich zu bringen, bevor ich wieder stürzte. Ich streckte die Hand aus. Mein Ziel war der mannshohe Spiegel an meiner Schranktür.

Schwer atmend, klatschte ich die Hand drauf. Ich war zurück, aber Askea und Fax waren noch auf der anderen Seite, in einem Inferno aus Feuer, bei dem selbst ein Rubin Schwierigkeiten haben dürfte, es zu überleben. „Öffne dich“, flüsterte ich. „Bring mich in die Welt jenseits des Spiegels.“ Egal was Askea gesagt hatte oder was mir dort blühte, ich musste zurück – sofort. Doch die Oberfläche blieb glatt. Aber … „Öffne dich“, wiederholte ich nun mit mehr Nachdruck. Meine Finger krampften sich auf dem Glas zusammen. Nichts geschah. Noch immer war da nichts weiter als mein Spiegelbild.

Langsam geriet ich in Panik. „Öffne dich!“, schrie ich und dabei glitt mein Blick auf meinen Handrücken. Das Pentagramm, es war nicht mehr da. Die Schnittwunde hatte sich geschlossen, denn ihre Magie war aufgebraucht.

Ohne darüber nachzudenken, hievte ich mich auf die Beine und torkelte zu meinem Schreibtisch. Nun ging es schon einfacher, doch ich musste mich sofort abstützen, um nicht umzufallen. Verdammt, wie lange würden diese Nachwehen denn noch anhalten?

Ich schüttelte den Kopf. Dafür hatte ich jetzt keine Zeit. Ich musste ganz schnell zurück.

Meine Hand griff nach dem ersten Stift, den ich zwischen die Finger bekam. Welch Ironie, dass es genau der rote Filzstift war, den ich auch beim letzten Mal benutzt hatte.

Mit den Zähnen zog ich die Schutzkappe ab und spuckte sie achtlos zur Seite. Meine Hand zitterte, als ich das kleine Symbol auf meine Hand kritzelte. Aber das reichte nicht, es brauchte noch etwas, um durch den Spiegel zu gehen. „Blut“, flüsterte ich. Nur mit Blut ließ sich der Durchlass in die andere Welt bezahlen.

Hastig riss ich meine Schublade auf, rutschte dabei weg und landete mit ihr und dem ganzen Inhalt laut krachend auf dem Boden. Fluchend bestimpfte ich mich für meine Schwäche, schüttelte den Kopf, um einen klaren Blick zu behalten, und begann damit, das Chaos um mich herum nach meiner Schere abzusuchen.

Genau in diesem Moment wurde meine Zimmertür von außen aufgestoßen.

Papiere, Stifte, Kleber.

„Tia?“

Ich warf nur einen kurzen Blick über die Schulter zu Talita und Veith, die mich mit aufgerissenen Augen anstarrten, bevor ich zwischen dem ganzen Zeug weiter nach meiner Schere suchte. Ich musste mich beeilen, sonst … oh Gott, ich wollte gar nicht darüber nachdenken.

Askea, was passierte dort drüben gerade? Und Fax, was war mit ihm geschehen? In seinem Blick hatte so viel Angst gelegen.

„Tiara, wo … was …“ Talita brauchte vier Schritte, um das Zimmer zu durchqueren, doch als sie ihre Arme um mich legen wollte, wich ich ihr aus und riss die nächste Schublade aus dem Schreibtisch. Wo war nur die verdammte Schere?!

„Tia, was ist los?“

Was los war? Mein dummer, drakonischer Dämon glaubte wieder einmal, alles allein in den Griff bekommen zu können, und starb in diesem Moment wahrscheinlich.

Meine Sicht verschwamm und plötzlich brach sich sein Schluchzen bahn.

„Tia.“

Meine Hände zitterten, als ich versuchte, mir die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Ich brauchte die Schere! Aber sie war nicht da. Diese dumme Schere war einfach nicht da. Ich schlug auf den Boden, dass die Stifte nur so hüpften, und erstickte fast an dem nächsten Schluchzer.

Eine Hand berührte mich an der Wange. „Wo kommt das ganze Blut her?“

Ich schüttelte nur den Kopf. Das war doch im Moment völlig gleichgültig.

Nun trat auch Veith in den Raum. „Was suchst du?“

„Schere“, war alles, was ich erstickt über die Lippen brachte. Von mir aus auch ein Messer oder einen Brieföffner. Es musste eben nur etwas scharfes sein.

„Sie liegt auf deinem Nachttisch.“ Auf seiner Stirn bildete sich eine kleine Falte.

Nachttisch. Ich riss den Kopf herum und da lag sie wirklich.

Ohne die Hände zu beachten, die Talita nach mir ausstreckte, mühte ich mich auf meine Beine. Zwei Schritte, dann hielt ich sie in der Hand.

„Tia?“, fragte Tal, als sie bemerkte, wie komisch ich sie hielt.

Ich ignorierte sie, legte meine freie Hand auf den Nachttisch und stach mir dann einfach ins Fleisch.

„Tiara!“ Das Entsetzen schwang in Talitas Stimme mit.

Die Schere fiel mir klappernd aus der Hand. Oh, ich hatte gewusst, dass es wehtun würde, aber darauf war ich nicht gefasst gewesen. Einen Moment musste ich die Augen schließen, versuchte den Schmerz hinunterzuschlucken, doch mir blieb keine Zeit, um lange zu verharren. Schon wandte ich mich um und marschierte so schnell es ging auf den Spiegel zu. Doch ich sollte ihn niemals erreichen.

Direkt bevor ich ihn berühren konnte, schlangen sich zwei starke Arme um meine Taille und rissen mich zurück.

„NEIN!“ Mein Schrei hallte durch das ganze Haus, doch Veith ließ nicht los.

„Du kannst ihn nicht anfassen“, murmelte er und versuchte mich zu beruhigen. „Sieh hin, du darfst ihn nicht berühren.“

Ich verstand kaum, was er sagte, wehrte mich nur gegen seinen Griff und versuchte zum Spiegel zu kommen. „Ich muss zurück!“, schrie ich. „Er braucht mich, ich muss zurück!“

„Sieh hin, Tia, sieh hin.“

Ich wollte ihm wehtun. Noch nie in meinem Leben wollte ich jemandem so sehr wehtun wie in diesem Moment, und als Talita dann noch angelaufen kam und auch versuchte, mich zu beruhigen, stieß ich sie einfach von mir.

„Ich muss zurück!“ Warum verstanden sie das denn nicht?

„Tia, sieh hin“, verlangte Veith wieder. „Sieh dir den Spiegel an.“

Und das tat ich dann auch.

Oh Gott.

Die Holztür rund um den Schrank war leicht angesengt und färbte sich vor meinen Augen immer dunkler. Der Spiegel selbst war so heiß, dass seine Oberfläche flimmerte. Der Metallrahmen rundherum glühte sogar.

Das letzte, was ich von ihm sah, war die Feuersbrunst, die aus seinem Körper hervorbrach und alles in der Höhle verschlang.

Hätte ich meine Hand dort draufgelegt, hätte ich jetzt wahrscheinlich Verbrennungen dritten Grades. Askeas Inferno, es hatte auch auf den Spiegel auf dieser Seite übergegriffen.

„Nein“, flüsterte ich und schlug die blutende Hand vor den Mund. Ich konnte nicht zurück auf die andere Seite, denn dort tobte ein Feuer, das ich unmöglich überleben konnte. Ich war mir nicht mal sicher, ob ein Rubin das überleben konnte.

Meine Kraft verließ mich einfach. Ich sackte in mich zusammen und wurde dabei nur von Veith gehalten, der sich mit mir langsam auf den Boden sinken ließ.

„Schhh“, machte er leise und wiegte mich dabei hin und her, wollte meine Trauer, meinen Schmerz lindern. „Schhh, alles ist gut.“

Eine leichte Berührung an der Schulter ließ mich vollends zusammenbrechen. Ich spürte nur noch Talitas Arme, die sich um mich schlangen, spürte die Tränen und das Schluchzen. Ich hatte ihn verloren und damit auch meine ganze Welt.

 

°°°

 

Ich hörte Veith in der Küche hantieren, während Talita mir mit zitternden Fingern einen Verband an meiner Hand festklebte und die Reste zurück in den Erste-Hilfe-Kasten räumte. Ihr Blick huschte dabei immer wieder zu meinem Gesicht, doch die Tränen waren weg. Da war nichts mehr, ich war einfach … leer. Ich hatte nicht nur Askea und Fax verloren, jetzt wusste ich auch wieder, warum ich vor meiner Erinnerung geflohen war.

„Okay, pass auf.“ Übermütig ließ ich mich neben Veith auf die Couch plumpsen, zog die Beine an und drapierte mein Notebook auf meinem Schoß.

„Das wagst du nicht“, sagte Talita mit drohendem Unterton.

„So schlecht kennst du mich?“ Ich grinste sie an und öffnete nebenbei den Ordner mit den Fotos.

„Ich schwöre dir, wenn du das machst …“

Das Telefon neben ihr klingelte. Sie warf mir noch einen warnenden Blick zu, dann griff sie danach.

Ich nutzte die Gunst der Stunde, rückte näher zu Veith und öffnete einen Unterordner, der ausschließlich Babyfotos von Talita und mir enthielt. Zwei Klicks später hatte ich schon einen Volltreffer. „Hier, guck.“ Ich drehte das Notebook leicht und zeigte Veith ein Bild von Talita, wie sie nackig nach dem Baden auf ihrem Wickeltisch lag und herzhaft am Daumen nuckelte.

Veiths Mundwinkel zuckten.

Ich klickte weiter zum nächsten Bild.

Etwas schepperte.

Als ich aufblickte, sah ich Talitas völlig entgleistes Gesicht. Das Telefon lag auf dem Boden, doch sie schien gar nicht zu bemerken, dass es ihr aus der Hand gerutscht war. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass sie gerade einen Schock erlitten hatte.

„Tal?“

Veith beugte sich leicht vor und berührte ihren Arm.

Wie in Zeitlupe wandte sie uns das Gesicht zu. Tränen liefen ihr über die Wangen. „Mama“, sagte sie. „Sie hatte einen Autounfall.“

Und sie hatte ihn nicht überlebt.

Es war nur wenige Wochen vor meiner Abreise geschehen. Meine Mutter war einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben gewesen. Sie hatte streng sein können – natürlich, das konnte jede Mutter – aber wenn sie gelacht hatte, hatte die Welt zu leuchten begonnen.

Ein betrunkener Autofahrer hatte nicht beachtet, dass seine Ampel auf Rot geschaltet war. Sie war noch auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben.

Mein Herz wurde schwer. Sie fehlte mir so. Besonders jetzt wollte ich sie bei mir haben.

„Rede mit mir“, flehte Talita zum … ich wusste gar nicht, wie oft sie das in der letzten Stunde bereits zu mir gesagt hatte. Ich wusste nur, dass ich nicht antworten konnte. Für das, was ich grade fühlte, schien es keine Worte zu geben.

Ich war zerrissen.

Meine Mutter war tot und Askea für mich verloren.

Er hatte mich durch den Spiegel gestoßen, aber der größte Teil von mir war auf der anderen Seite geblieben. Meine Magie, Fax, er.

„Tia, bitte, du machst mir langsam wirklich Angst.“

Ohne ihn war ich nur noch eine leere Hülle, ohne ihn war ich … nichts.

Als Veith den Raum betrat, schnellten ihre Augen einen Moment in seine Richtung.

„Ich habe deinen Vater angerufen“, sagte er leise und setzte sich neben mich auf die Couch. „Er macht sofort Feierabend und kommt nach Hause.“ In der Hand hielt er eine Tasse Tee, die er vor mich auf den Wohnzimmertisch stellte, doch ich hatte kein Interesse daran, ihn zu trinken. Ich wollte nur eines - zurück. Ich wollte mich versichern, dass es ihm gut ging.

Ich spürte die Blicke der beiden auf mir, spürte ihre Fragen, als hätten sie sie mir ins Ohr gebrüllt, doch ich hatte einfach keine Worte.

„Wir haben deinen Brief gefunden“, sagte Veith leise.

Ach ja, bevor ich das erste Mal durch den Spiegel getreten war, hatte ich ihnen eine Nachricht hinterlassen, damit sie sich keine Sorgen machten, falls es wirklich klappte. Ich erinnerte mich genau, wie ich diese Zeilen niedergeschrieben hatte. Es schienen Jahre zwischen damals und jetzt zu liegen. So viel war geschehen.

„Du warst in der magischen Welt“, fügte er leise hinzu.

Mein Blick richtete sich auf Veith. Seine Augen, sie waren genauso wie von dem nackten Mann aus dem Wald. „Du bist ein Lykaner.“

Wenn ihn der plötzliche Themenwechsel irritierte, zeigte er es nicht. „Ich war einer.“

War. Er hatte alles zurückgelassen, um bei Talita zu sein. Nicht nur seine Familie und seine Freunde, nein, auch einen Teil von sich selbst. Ich wusste, wie sich das anfühlte.

„Ich wollte nicht gehen“, flüsterte ich und ließ den Kopf hängen, während mein Herz sich vor Kummer und Schmerz zusammenzog. Meine Augen fingen an zu brennen. Meine Lippen zitterten. „Er hat mich einfach hindurch gestoßen.“

„Wer?“ Talita rutschte an die Kante ihres Sessels und griff nach meiner unverletzten Hand. „Was ist passiert?“

Ich spürte die Träne, die mir über die Wange lief.

Pass auf dich auf.

„Er hat mich gerettet.“ Nicht nur vor den Jägern. Er hatte mich vor einer unheilbaren Krankheit bewahrt, vor dem Tod. „Und jetzt …“ Ich schüttelte den Kopf. Der Gedanke war einfach zu grauenhaft.

„Wer?“, fragte Talita erneut.

Mein Herz zog sich zusammen.

Pass auf dich auf.

„Oh Gott.“ Ich vergrub das Gesicht in den Händen, als die Tränen mit ihrer ganzen Kraft zurückkehrten. Das war sein Abschied gewesen. Für immer.

 

°°°°°

 

Epilog

 

Zwei Streifen. Einer in jedem Feld.

Ich starrte den weißen Stab in meiner Hand an. Er war so klein, unauffällig, unbedeutend. Und doch veränderte er in diesem Moment mein ganzes Leben.

Ich war schwanger.

Seufzend ließ ich meinen Kopf in die Hand sinken, nicht fähig, den Blick von dem Schwangerschaftstest zu nehmen. Was sollte ich denn nun tun? Es war doch so schon schwer genug. Ich wusste einfach nicht, wohin mit meinen Gedanken. Alles schien verkehrt und nichts konnte das ändern.

Und jetzt …

Schwanger.

Ein leises Klopfen an der Badezimmertür störte die Stille. „Tiara?“, fragte Talita. „Alles okay?“

Nein, nichts war okay. Schon seit vier Wochen nicht mehr. Vor vier Wochen war meine Welt in Trümmer zerfallen.

„Tiara?“ Wieder ein Klopfen. „Wenn du da nicht bald rauskommst, sage ich Veith, er soll die Tür aufbrechen.“

Das würde ich ihr sogar zutrauen.

„Tiara, bitte, du bist da schon seit über einer Stunde drin.“

So lange? Kein Wunder, dass mir mein Hintern langsam wehtat. Der Badewannenrand war halt nicht wirklich bequem. Aber dieser Schmerz war nichts gegen den, der in meinem Herzen tobte.

Askea.

Schon allein, wenn ich seinen Namen dachte, wollten die Tränen zurückkehren, um aller Welt zu zeigen, wie sehr mein Herz um diesen Verlust weinte.

Und nun war ich von ihm schwanger.

Talita hatte mir den Test besorgt, nachdem sie gemerkt hatte, dass ich mich jeden Morgen erbrach, egal ob ich etwas gegessen hatte oder nicht. Sie wusste noch immer nicht genau, was in der magischen Welt geschehen war, genauso wenig wie alle anderen. Ich konnte nicht darüber reden, es tat einfach zu sehr weh.

„Tia.“

Dieser geschlagene Ton in ihrer Stimme entfachte die Tränen in meinen Augen erneut. Talita versuchte wirklich alles, um mir zu helfen, aber sie wusste nicht wie, weil sie nicht wusste, was geschehen war.

Ich ließ den Schwangerschaftstest sinken und richtete meinen Blick auf den Spiegel über dem Waschbecken. Jeder Spiegel konnte ein Portal sein, man musste nur wissen, wie man es öffnete. Und ich wusste das nicht nur, ich hatte auch die Kraft dazu, denn meine Magie wartete auf der anderen Seite und würde reagieren, wenn ich sie rief.

Ich erhob mich von meinem Platz und trat zum Spiegel. Wie glatt sich die Oberfläche unter meiner Hand anfühlte. Es wäre ein leichtes für mich, mir einen Weg zu bahnen, doch die Angst hielt mich davon ab. Ich wusste nicht, was mich auf der anderen Seite erwartete. Ich hatte Angst davor zu erfahren, dass Askea und Fax es nicht geschafft hatten, dass Amir trotz allem siegreich davon gezogen war.

Es waren so viele Jäger gewesen.

Als ich hinter mir ein leises Klicken hörte, drehte ich mich nicht um. Das brauchte ich gar nicht. Sobald sich die Tür öffnete, sah ich Talita durch das Spiegelbild im Rahmen stehen – gleich hinter ihr Veith. Sie hatten also wirklich die Tür von außen geöffnet.

„Tia“, sagte sie sehr leise und das Mitleid in ihrer Stimme bewog mich dazu, die Augen zu schließen.

Meine Hand rutschte vom Spiegel, bis sie kraftlos an meiner Seite hin. „Herzlichen Glückwunsch“, sagte ich leise. „Du wirst Tante.“ Und Askea würde sein Kind niemals kennenlernen.

Ihr Mund öffnete sich leicht, aber sie wusste wohl nicht, was sie sagen sollte, denn sie blieb stumm.

Ich legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf zur Decke. „Freu dich, das ist ein Grund zum Feiern. Ich bin schwanger und du wirst Tante.“ Und trotzdem hätte ich im Moment nur weinen können.

„Denkst du wieder daran, zurück zu gehen?“ Ihre Stimme war so leise, unsicher.

Ich lachte auf. Von all den Fragen, die sie hätte stellen können, kam ausgerechnet das? „Nein“, sagte ich. „Nein, ich kann nicht zurück.“ Nicht nur, weil ich Angst vor der Wahrheit hatte. Würde ich zurückgehen, würde das kleine Wesen in meinem Leib sterben. Die Magie würde es töten. Boudicca hatte es mir doch erklärt und ich hatte es am eigenen Leib erfahren. „Ich muss auf sein Kind aufpassen.“ Denn es war alles, was ich noch von ihm hatte.

„Wessen Kind?“, wollte Talita wissen. „Wer war er?“

Ich legte meine Hand auf meinen Bauch. „Askea“, flüsterte ich. „Mein drakonischer Dämon.“

Veith sog scharf die Luft an. „Dämon?“

Langsam wandte ich mich zu ihm um. „Rubin. Askea ist ein Rubin und er hat mein Leben mehr als einmal gerettet.“ Vielleicht sogar meine Seele.

Sein Blick ging von meinem Gesicht zu meinem Bauch und wieder zurück, doch was er dachte, konnte ich nicht entziffern.

„Dämonen, sind das nicht …“ Talitas Augen wurden kreisrund. „Sind das nicht die, die kurz nach der Entstehung des Codex wieder aus ihm ausgeschlossen wurden, weil sie zu … äh … instinktgetrieben sind?“

Veith nickte. „Ja.“

Ich kniff die Augen zusammen. Jetzt wusste ich genau, was sie dachten. Das Gleiche, was auch alle anderen über sie glaubten. „Er ist kein Monster“, flüsterte ich. „Sie alle sind keine Monster.“ Nur anders.

„Er kann kein Monster sein, denn er hat dir das Leben gerettet“, sagte Veith leise und überraschte mich damit wohl mehr, als jeder andere es hätte tun können.

Meine Augen begannen wieder zu brennen.

Talita sah es. Eine Träne rann über meine Wange. „Ach, Tia.“ Sie nahm mich in den Arm und drückte mich so fest an sich, als glaubte sie, ich würde sonst einfach zerbrechen. Aber da war sie zu spät, ich war bereits zerbrochen. Und zwar in dem Moment, als das Portal sich zwischen mir und Askea geschlossen hatte.

Trotzdem schlang ich meine Arme um sie und vergrub mein Gesicht an ihrem Hals, während Schluchzer mich schüttelten und die Tränen einfach kein Ende finden konnten.

Es tat so schrecklich weh. Er war weg und ich würde ihn wohl nie wieder sehen können.

„Du bist nicht allein“, flüsterte Talita. „Ich und Veith sind für dich da. Und Papa auch. Wir sind alle für dich und dein Baby da.“

Meine Augen öffneten sich einen Spalt und erblickten verschwommen den Spiegel. Nein, einer war nicht da. Ich trug ein Baby in mir, das seinen Vater niemals kennenlernen würde.

Was wohl geschehen war? Jedes Mal, wenn ich auf den Spiegel in meinem Zimmer blickte, stellte ich mir genau diese Frage. Ich wollte zu ihm – so sehr.

Spiegel waren für mich Magneten geworden, denn hinter ihnen lag das, was ich am meisten in dieser und der andern Welt begehrte.

Trotz der starken Hitze war der Spiegel in meinem Zimmer ganz geblieben. Das bedeutete, dass auch das Gegenstück auf der anderen Seite noch funktionierte. Ich sehnte mich danach, dieses Portal zu öffnen, um zu ihm zu gehen. Alles in mir schrie danach, jetzt mehr noch als die letzten vier Wochen.

Denkst du wieder daran, zurück zu gehen?

Nein, ich würde nicht mehr zurückkehren. Mein drakonischer Dämon hatte sein Leben riskiert, um mich zu schützen, und nun trug ich sein Kind im Leib. Ich würde keines dieser Geschenke wegwerfen, in der verzweifelten Hoffnung, dass er und Fax vielleicht noch lebten. Nein, ich würde nie wieder in die magische Welt gehen. „Pass auf dich auf“, flüsterte ich und schloss die Augen.

 

°°°°°

 

Ende dritter Teil

Und so geht es weiter ...

 

 

Tag Eins

 

Fünf kleine Finger drückten sich vorsichtig gegen die glatte Oberfläche des Glases. „Aja!“

Ich ließ mein Buch in den Schoß sinken und sah zu meiner kleinen, zweijährigen Tochter, die sich wirklich für alles begeistern konnte. Besonders der große Schrankspiegel hatte es ihr angetan. Sie bekam nie genug davon. Stundenlang konnte sie davorsitzen und sich selbst ansehen.

„Aja!“

„Nein Finchen, nicht Aja, das heißt Spiegel, das hab ich dir doch schon ganz oft erklärt. Spiegel.“

Serafina zog ihre Stirn über den großen, grünen Augen leicht kraus. „Aja!“, rief sie wieder freudig und klatschte in die Hände. „Aja! Aja!“

Schmunzelnd beobachtete ich, wie sie mit ihren kleinen Patschhändchen wieder gegen den Spiegel schlug und dabei jauchzte, als würde sie ein Einhorn auf einem Regenbogen beobachten und nicht ihr eigenes Spiegelbild.

Wehmut machte sich in meinem Herzen breit. Es war der Spiegel, durch den ich bereits zweimal getreten war.

Drei Jahre war es nun her, dass Askea mich in meine Heimat zurückgeschickt hatte. Drei Jahre, in denen kein Tag vergangen war, an dem ich nicht an ihn oder Fax gedacht hatte. Drei Jahre, in denen ich nur dank meiner Tochter nicht zerbrochen war.

Sieben Momente nach meiner Rückkehr war sie zur Welt gekommen. Die Schwangerschaft mit ihr war problematisch gewesen. Ab dem vieren Monat hatte ich das Bett nicht mehr verlassen dürfen, um einer Fehlgeburt entgegenzuwirken, und dann war sie doch zu früh gekommen. Einunddreißigste Schwangerschaftswoche.

Tage und Wochen hatte ich an ihrem Brutkasten gebangt. Es war mir fast wie ein Wunder vorgekommen, als die Ärzte endlich erlaubten, sie mit nach Hause zu nehmen. Seitdem hütete ich sie wie meinen Augapfel. Sie war der größte Schatz in meinem Leben und ich würde sie gegen nichts in der Welt eintauschen wollen. Niemals.

Und doch konnte sie diese quälende Sehnsucht in meinem Herzen nicht lindern. Jeden Tag, wenn ich aus meinem Bett stieg, sah ich den Spiegel an meinem Schrank und wünschte mir, ihn noch einmal zu durchschreiten – auch wenn es nur für wenige Tage war. Doch das konnte ich nicht. Ich wusste, dass es mein Todesurteil wäre. Askea hatte richtig gehandelt, als er mich hierher zurückgeschickt hatte – heute war mir das bewusst. Leider linderte das meinen Schmerz nicht.

Aber was diese Qual wirklich unerträglich machte, war die Ungewissheit. Bis heute hatte ich keine Ahnung, was mit meinem drakonischen Dämon und seinem Sohn geschehen war, und ich hatte Angst davor, es herauszufinden, weil es mich vollends zerstören könnte. Was, wenn sie den Jägern damals nicht entkommen konnten? Noch heute zeigte der Spiegel die Spuren des Kampfes. Das Holz drum herum war verbrannt und schwarz, die Einfassung leicht geschmolzen. Doch trotz der schmerzhaften Erinnerungen wagte ich es nicht, ihn abzunehmen. Dieser Spiegel war alles, was mir geblieben war.

Er und das Foto auf meinem Handy.

„Niedlich“, hatte Talita vor Jahren gesagt, als ich es ihr gezeigt hatte, und es dann heimlich für mich rahmen lassen. Jetzt stand es auf meinem Schreibtisch.

„Aja!“, rief Serafina wieder und gluckste begeistert. Sie war mir praktisch wie aus dem Gesicht geschnitten. In ihrem Alter hatten Talita und ich ganz genauso ausgesehen, nur waren unsere Ohren nie so spitz gewesen. Und unser Haar war blond, nicht rot. Das Vermächtnis ihres Vaters.

„Mamam, Aja.“ Als sie hüpfte, tanzten die kleinen Zöpfchen auf ihrem Kopf.

„Ja, mein Schatz, ich sehe es.“ Ich neigte den Kopf leicht zur Seite und musterte meine Tochter. Manchmal fragte ich mich, ob sie in dem Spiegel etwas sehen konnte, was mir verborgen blieb. Wie sonst sollte ich ihre Begeisterung für dieses Möbelstück erklären?

Ach quatsch. Das war nur wieder Wunschdenken. Leider.

Seufzend legte ich mein Buch zur Seite und erhob mich von meinem Bett. Ich musste mich dringend von meinen Gedanken ablenken. Also holte ich Serafinas Malzeug aus dem Schrank uns setzte mich damit auf den Boden. „Guck mal, Finchen, wollen mir malen?“

„Ja!“ Begeistert kämpfte sie sich hoch und lief dann, so schnell ihre kurzen Beinchen es zuließen, zu mir auf ihre Spieldecke. Mit einem Rums setzte sie sich mir gegenüber hin und griff sofort nach dem roten Stift. Das war ihre Lieblingsfarbe.

„Malbuch oder Blatt?“, fragte ich schmunzelnd.

„Bat“, sagte sie und griff bereits danach, ohne mir die Chance zu geben, es ihr zu reichen.

Für ihr Alter sprach Serafina sehr schlecht. Die Ärzte sagten, dass es nicht weiter schlimm wäre, es käme davon, dass sie eine Frühgeburt war, und es würde sich mit der Zeit von alleine regeln. Trotzdem machte ich mir Sorgen um sie. Sie war schließlich meine Tochter. Sie war alles, was mir aus meiner Zeit in der anderen Welt geblieben war, und gleichzeitig das größte Geschenk, das ich jemals hätte bekommen können.

Die Kappe von ihrem Stift riss Serafina so schwungvoll ab, dass sie ihr beinahe aus der Hand geflogen wäre. Sie bemerkte es nicht mal, griff nur nach ihrem Blatt und …

Plötzlich hielt sie inne. Ihre Mundwinkel sanken herab und in ihrem Auge bildete sich eine kleine Träne. „Mamam.“ Ihre Lippe zitterte. „Aua.“

Oh je, da war eine kleine rote Linie auf ihrem Finger. Sie hatte ihn sich geschnitten, als sie zu schnell nach dem Papier gegriffen hatte.

Vorsichtig hob ich ihre Hand und pustete darauf. „Das ist nicht schlimm“, tröstete ich sie. „Das verheilt ganz schnell.“

Ihre Lippe zitterte noch immer. „Aua“, jammerte sie wieder.

„Ach Schatz.“ Ich strich ihr übers Gesicht und wischte die kleine Träne weg. „Pass auf. Ich geh kurz in die Küche und hole dir ein Pflaster, dann ist gleich wieder alles in Ordnung. Okay?“

Das Zittern ihrer Unterlippe ließ ein wenig nach.

„Okay.“ Ich beugte mich vor und gab ihr einen Kuss auf den Kopf. Dann erhob ich mich und verließ das Zimmer, das ich seit meiner Geburt bewohnte.

Ja, ich wohnte noch immer im Haus meines Vaters. Vielleicht war das für eine Fünfundzwanzigjährige seltsam, aber es war einfach praktisch. Wenn ich zu meiner Arbeit als Bürokraft musste, war immer jemand da, der auf die Kleine aufpassen konnte. Und hier, im Herzen meiner Familie, fühlte ich mich auch nicht so verloren.

Auch Talita und Veith leben noch immer unter diesem Dach. Für Veith war es als Lykaner einfach normal, sein Leben mit der Familie zu verbringen. Mein Vater störte sich nicht daran, ganz im Gegenteil. So konnte er immer einen Blick auf seine kleinen Mädchen haben und war auch nicht so alleine. Schließlich waren wir alles, was er nach dem Tod unserer Mutter noch hatte. Das und seine Kreuzworträtsel, von denen nun auch wieder eines in seinem Schoß lag, als ich das Wohnzimmer betrat.

Überrascht schaute er auf. „Musst du nicht arbeiten?“

„Ich habe Urlaub, Papa.“

„Du auch?“

Ich schmunzelte. „Talita und ich haben ihn zusammengelegt, damit wir ein paar Tage wegfahren können.“ Ich beugte mich zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Mein Vater war letztes Jahr in Rente gegangen und seitdem bekam er kaum noch etwas um sich herum mit. Nicht dass ihm irgendwie geistiger Verfall drohte, doch er war meist so beschäftigt, dass unwichtige Sachen einfach an ihm vorübergingen.

„Wo soll es denn hingehen?“

Ich zuckte mit den Schultern und lief an ihm vorbei Richtung Küche, von wo ich Talitas und Veiths Stimmen hörte. „Das haben wir noch nicht entschieden.“ Ich trat in die Küche, vorbei an dem großen Tisch zum Hängeschrank in der Ecke, und kramte den Erste-Hilfe-Kasten hervor.

„Ist was passiert?“

Veith bemerkte sowas natürlich sofort.

Ich schmunzelte ihn an. Heute trug er sein sandfarbenes Haar ein wenig kürzer als zu der Zeit, in der ich ihn kennengelernt hatte. Ansonsten hatte er sich kein bisschen verändert. Er war immer noch ein Hingucker, für den es sich auch lohnte, einen zweiten Blick zu riskieren. Leider war er nicht mein Hingucker.

„Finchen hat sich an einem Blatt geschnitten und jetzt braucht sie dringend ein Pflaster, damit die Welt wieder in Ordnung kommt.“

„Oh, armes Finchen.“ Auch Tal schmunzelte, schob dann die Liste vor ihrer Nase zur Seite und streckte sich. „Hätte ich nur gewusst, was auf mich zukommt, hätte ich es mir vielleicht noch einmal anders überlegt.“

„Natürlich“, stimmte ich ihr zu und zog ein Pflaster mit kleinen Herzchen aus dem Kasten. „Deswegen hältst du auch jedem, dem du begegnest, deinen Verlobungsring unter die Nase. Egal, ob es ihn interessiert oder nicht.“

Sie grinste nur breit.

Vor ungefähr einem Jahr war Veith zu mir gekommen. Er hatte sich mit Talita einen Liebesfilm angesehen, in dem es darum ging, dass die Braut immer direkt vor dem Altar flüchtete und es deswegen einfach nicht schaffte zu heiraten. Danach hatte Talita von dem Ring und den Kleidern geschwärmt.

Veith hatte das für einen Wink mit dem Zaunpfahl gehalten und mich um Hilfe gebeten. Das nächste Juweliergeschäft war unseres gewesen und nur drei Wochen später hatte er ihr einen Antrag gemacht.

Nun rückte der Termin für die Hochzeit immer näher. Talita hatte im Moment nur noch Gästelisten, Dekoration, Musik und Blumenbuketts im Kopf. Das Kleid war bereits beim Schneider, um noch letzte Änderungen vorzunehmen, und der Pastor bereits bestellt.

„Ich bin eben stolz auf meinen zukünftigen Mann“, säuselte sie und beugte sich über den Tisch, um ihm einen Kuss zu geben.

Ich stellte schnell den Kasten zurück, um es nicht sehen zu müssen. Es war nicht so, dass ich ihr das Glück missgönnte, doch ich kam gegen diesen Hauch von Eifersucht einfach nicht an, wenn ich die beiden zusammen sah.

Sie hatte mir erzählt, wie schwer es gewesen war, sich ihn zu angeln, und auch sie kannte meine Geschichte mit Askea. Es war anders, aber deswegen noch lange nicht einfacher gewesen. Doch der Unterschied, der zwischen uns bestand, war, dass sie ihr Glück hatte mit nach Hause bringen können. Ich hingegen war allein zurückgekehrt.

„Dann wünsche ich euch beiden noch viel Vergnügen bei der Auswahl der …“ Ich lugte über ihre Schulter auf den ganzen Papierkram, der vor ihr auf dem Tisch ausgebreitet war. „Bei was auch immer ihr im Moment gerade auswählt.“

„Wie stellen gerade das Menü für den Cateringservice zusammen und müssen dann noch den Tischplan erstellen.“

„Wie gesagt, viel Spaß. Und wenn ihr Hilfe braucht, dann sagt Bescheid.“ Ich machte schnell, dass ich davonkam, damit sie nicht wirklich auf die Idee kamen, mich zurückzurufen. Nicht dass ich ihr nicht gerne half, aber da war ein kleines Mädchen, dass auf ihr Pflaster wartete. Außerdem fühlte ich mich immer etwas unwohl, wenn ich sah, was die beiden hatten und was mir verwehrt blieb.

Seufzend schüttelte ich über mich selbst den Kopf. Heute hatte ich wohl mal wieder einen melancholischen Tag erwischt. Zum Glück war das nicht immer so.

Als ich zurück in mein Zimmer trat, erstarrte ich auf der Türschwelle. Das Pflaster fiel mir aus der Hand und segelte leise zu Boden.

Das Malzeug auf dem Boden war verwaist. Der rote Stift lag auf dem Blatt, der passende Deckel dazu auf dem Teppich. Das Zimmer war leer, von Serafina keine Spur.

Doch das war es nicht, was mein Herz fast zum Stillstand brachte. Es war der Spiegel. Er war … offen. Am Rand war ein kleiner, roter Fleck und das Portal leuchtete in einem schwachen Blau.

„Nein“, flüsterte ich und sah mich hektisch im Zimmer um, aber mein kleines Mädchen war nicht da. „Finchen?“ Ich sah sogar unter dem Bett nach. „Finchen!“ Das konnte nicht sein.

Natürlich, die Kleine war meine Tochter, aber es konnte ihr doch unmöglich gelungen sein, das Portal in die andere Welt zu öffnen. „Serafina!“ Langsam bekam ich Panik. „Tal, Veith!“, schrie ich und rannte aus dem Zimmer, um das Bad zu überprüfen. Aber auch hier war sie nicht.

Ich stürmte wieder zurück in mein Zimmer. Serafina hatte sich geschnitten. Blut war für den Übergang nötig, genau wie ein Pentagramm. Sie konnte einfach nicht auf der anderen Seite des Spiegels sein, sie wusste doch noch nicht mal, was ein Pentagramm war!

Ich riss die Schranktür auf, in der Hoffnung, dass sie sich vielleicht darin versteckt hatte, aber bis auf meine Kleidung war er leer.

Gerade als ich ihn wieder schloss, hörte ich hastige Schritte auf der Treppe. Ich lief ihnen entgegen. Auch mein Papa war dabei.

„Was ist los, warum hast du geschrien?“

„Ist Finchen bei euch?“ Bitte sagt ja, bitte.

Alle drei schüttelten den Kopf.

„Verdammt!“ Ich schlug gegen den Türrahmen und rannte dann zurück in mein Zimmer. Ohne darüber nachzudenken, griff ich nach dem Stift und malte mir das Zeichen der Hexen auf den Handrücken.

„Was ist los?“ Talita schaute sich suchend in meinem Zimmer um und entdeckte das offene Portal. Sie schlug die Hände vor den Mund. „Tiara, warum …“

„Ich war das nicht“, erklärte ich und suchte mein Taschenmesser aus der Schublade meines Nachttisches. „Es war schon offen, als ich ins Zimmer kam.“

„Finchen“, sagte Veith.

Ich nickte „Ich weiß nicht wie, aber sie muss es geschafft haben, das Portal zu öffnen. Und jetzt ist sie weg.“ Die Klinge meines Messers klappte auf. Etwas zu heftig ließ ich sie über meinen Finger schneiden. Sofort quoll Blut heraus.

„Was hast du vor?“, fragte mein Vater.

„Was schon? Sie ist meine Tochter. Ich muss ihr hinterher.“

„Nein, warte Tia, du kannst doch nicht …“

„Ich muss.“ Nichts konnte mich aufhalten. Es war egal, ob die Magie mich wieder krank machte, darum konnte ich mir später Sorgen machen.

Entschlossen schritt ich zum Spiegel, warf meiner Familie einen kurzen Blick zu und atmete noch einmal tief durch. „Bring mich zu meiner Tochter.“ Ich drückte meinen Finger in das blaue Licht, dann trat ich hinein.

 

°°°

 

Imprint

Publication Date: 03-15-2015

All Rights Reserved

Dedication:
Für meine Sonne Rike Nach jedem Tief kommt auch wieder ein Hoch

Next Page
Page 1 /