Cover

Vorwort

Da es in dieser Geschichte sehr viele Eigennamen, und Fremdbezeichnungen gibt, habe ich mir erlaubt, ein Glossar zu erstellen, damit das Lesen einfacher wird. Viel Spaß beim Schmökern.

Glossar der Begriffe, Redewendungen und Eigennamen

Amentrum: Das Reittier eines Kriegers oder Lehrlings, das sich aus dem Sermo verwandelt. Wildhund oder Wildkatze in der Größe eines Pferdes. Treuer Begleiter seines Leiters - selten bissig. 

Amicus: Freunde, beste Freunde - oder der ewige Nagel zu meinem Sarg. 

Brestern: Bruder, Schwester, Geschwister, beide Geschlechter werden mit demselben Wort bezeichnet - die ewigen Quälgeister der Familie.

Coa: Frau die von vielen Männern benutz wird. Hure.

Collusor: Zeitweiliger Partner, den man sich aussucht, um Kinder zu bekommen - Spielgefährte

Ein Herz sein: Geliebter, Partner, Beziehung

Fafa: Vater, Papa

Geleit: Sermo/ Amentrum eines Kriegers oder Lehrlings 

Gemma: Kosename. Bedeutet so viel wie Schatz, oder Edelstein.

Heiler: Arzt - der einem immer so bittere Gebräue aufdrängt und behauptet, dass sie helfen würden. Vorausgesetzt natürlich, man stirbt vorher nicht an einer Lebensmittelvergiftung. 

Heilhütte: Krankenhaus

Lagerkristall: Ein kopfgroßer, federleichter Kristall aus den Höhlen des Glanzes, der sowohl Wärme als auch Licht abgibt - nicht zum Fußballspielen geeignet

Land der Götter: Träumen

Leiter: Krieger oder Lehrling eines Sermo oder Amentrum, sein Gefährte und Führer - oder die Person, die einem immer den Mund verbietet. 

Lichtkristall/ Leuchtkristall: Lichtspender, Kristalle, die durch Sonnenlicht aufgeladen werden

Magister: Lehrer - die die alles verbieten, was Spaß machen könnte. 

Mächte: Die Kraft der Götter, die in den Steinen eingeschlossen ist. Auch wenn die Bewohner auf Silthrim aus dem Leib geboren werden, so stammt die Magie der Wesen doch aus den Mächten in den Steinen und geht nach deren Tod dahin zurück.

Meen-Soror: geliebte Schwester, Kosename

Meen-Suavis: Süße, Süßer, Kosename

Mina: Mutter, Mama - der Regelaufsteller

Nasan: Kosewort für Familienmitglieder

Natis: Kinder, Söhne, Töchter, beide Geschlechter werden mit demselben Wort bezeichnet

Occino: Bastets Stimme. Bastet kann auf Silthrim nicht agieren, spricht aber durch ein heiliges Wesen, wenn sie etwas zu sagen hat. In jeder Generation wird ein Occino geboren.

Phantast: Träumer - hat immer den Kopf in den Wolken

Pravum: Böse Kreaturen die die Magier einst für den Krieg erschaffen hatten. Dämonen, Monster.

Reden im Geist/ Geistreden: Gedanken, denken, nachdenken

Rofafa: Großvater, Opa

Romina: Großmutter, Oma - die einem immer in die Backe kneift

Schöpfungstag: Tag der Erschaffung der einzelnen Spezies. Jede Rasse auf Silthrim hat ihren eigenen Schöpfungstag - und der muss gefeiert werden. 

Sermo: Geleit eines Kriegers oder Lehrlings. Ein Tier das sprechen kann, und sich ab einem bestimmten Alter in einen Amentrum verwandeln kann, um seinen Leiter zu tragen - manche von ihnen sind für ihr vorlautes Mundwerk in den unpassendsten Situationen bekannt. 

Sicuti: Zwilling - doppelt hält besser

Stein der Sonne: Ein sehr heißer Stein aus den Bergen der Naga. Da es auf Silthrim kein Feuer gibt, wird er benutzt, um zu Kochen, oder Hitze zu erzeugen, mit der Metalle geschmolzen werden können. Sollte er einmal abkühlen, nur in die Sonne legen, um ihm wieder aufzuladen - von direktem Hautkontakt wird abgeraten, da das zu Verbrennungen dritten Grades führen kann. 

Theatrum: Theater - oder der Ort der theatralischen Dramen.

Valeo-vir: Kosename für geliebte Männer

Vergelts: Danke schön

Götterliste

Bastet                         Ailuranthrop

Chnum                         Elfen

Sachmet                      Magier & Hexen

Osiris                          Succubus & Incubus

Horus                          Engel

Amun                         Satyr

Anubis                        Vampir

Hathor                        Zentaur

Maat                           Selkie

Sobek                         Gorgonen

Ptah                            Banshee

Thot                            Fee

Geb, Nut & Schu          Nymphen

Isis                              Meermenschen

Chepre                        Sirene

Re                               Harpyien

Seth                            Lykanthropen

Bes                             Naga & Echidna 

Prolog

Betörend liebkoste der sanfte Schein der Kristalle ihre samtige Haut. Ihr Gang war anmutig, verlockend, wie dazu geschaffen einen Mann zu verführen. Verspielt griff sie nach dem Verschluss ihrer grünen Toga auf der Schulter und löste ihn. Der weiche Stoff glitt einfach an ihrem Körper hinab und sammelt sich zu ihren Füßen.

Zaho saß auf dem Bett und beobachtete jede ihrer Bewegungen mit dem geschärften Blick einer Katze. Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte er ihr nicht wiederstehen können und mit den Jahren war es nur intensiver geworden.

Sie lächelte, trat aus dem Stoff hinaus zum Bett und stellte sich zwischen seine Beine.

Er versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er diese Frau begehrte. Äußerlich blieb er ganz ruhig, als er seine Hände huldigend an ihre Schenkel legte und sie bedächtig über die nackte Haut nach oben zu ihrer Hüfte wandern ließ. Doch sein Herz galoppierte wie ein wildgewordener Zentaur. So weich, so auserlesen. So war es immer, wenn er sie sah.

„Ich kann es mir nicht erklären, doch mit jedem Treffen siehst du noch schöner aus als das Mal zuvor.“

Ihr Lächeln wurde durchdringender. „Versuchst du etwa mich mit Worten zu verführen?“

„Das ist mir schon vor langer Zeit gelungen, Meen-Suavis.“

Als sie ihm mit der Hand über den Kopf Strich, beugte er sich vor und küsste die zarte Haut ihres Bauches. Er ließ seine Lippen mit Bedacht darüber gleiten, kostete jeden Moment mit ihr bis zum Ende aus. Und wie schon so oft in seinem Leben fragte er sich, wie er dieses Glück verdient hatte. In seinem Leben hatte er schon viele Geliebte gehabt. Er war Collusor von drei Frauen, hatte sieben Natis, doch keine von ihnen war wie Miranja. Ihre Nähe versprach Sicherheit, Wärme, Vertrauen. Sie war alles was er sich wünschte.

Sie war sein Herz.

Und er das ihre.

„Dein Charme kennt keine Grenzen, Valeo-vir.“ Lächelnd beugte sie sich zu ihm hinunter und küsste ihn mir einer solchen Sehnsucht und Leidenschaft, dass Zaho für einen Moment das Atmen vergaß.

Seine Hände glitten ihren nackten Rücken hinauf. Er wollte sie näher an sich ziehen, wollte sie bei sich spüren, wollte mit ihr den Tanz aller Zeit tanzen, doch in diesem Moment klopfte es an der Tür zu ihrem Gemach.

„Geh nicht hin“, flüsterte er an ihren Lippen. „Bleib bei mir.“

Sie zögerte, war in Versuchung genau das zu tun und die Welt einfach hinter sich zu lassen, doch in diesem Moment klopfte es erneut – beherzter.

„Es ist bestimmt eines der Natis.“

„Geh nicht.“

„Du weißt dass ich gehen muss.“ Sie fuhr mit den Fingern seine Lippen nach. „Es dauert bestimmt nicht lange.“

Wie sollte er wiederstehen, wenn sie das mit diesem Lächeln sagte, mit dem Ton der Versprechungen in ihrer Stimmte? „Lass mich nicht zu lange warten.“ Er raubte ihr noch einen Kuss, bevor er von ihr ab ließ und dabei zusah, wie sie ihre Toga wieder überstreifte. Seine Augen hingen noch immer an ihr, als sie den Raum verließ, um dem Klopfen zu folgen. Erst dann ließ er sich rücklings aufs Bett fallen.

Neunzehn Jahre war es nun her dass er sie kennengelernt hatte. Auf dem Weg zur Geburt seines jüngsten Natis, seines einzigen Mädchens. In den Wäldern von Ellan war er ihr begegnet, wo er sie aus einem Sumpf gerettet hatte. Sie war nicht sehr zugetan gewesen, was auch daran liegen konnte, dass er sich über sie lustig gemacht hatte.

Bei der Erinnerung an die tropfnasse Frau mit dem schlammbespritzen Gesicht schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen – genau wie damals. Sie hatte es ihm vergolten, indem sie ihn mit Dreck bewarf. Seit dem war kein Moment vergangen, in dem er keine Geistreden um sie gehalten hatte. Immer war sie in seinem Kopf, immer war sie in seinem Herzen.

Nun lag er hier und lauschte darauf wie sie sich durch ihr Gemach im Tempel der Elfen bewegte um ihrer einzig wahren Bestimmung nachzukommen. Sie kümmerte sich um die verwaisten Natis, die durch die Streitigkeiten der Volker hierherkamen. Der Krieg war schon lange vorbei, doch es gab immer noch Wesen die sich dem Frieden widersetzten. Und die Natis waren es meist die darunter litten. Miranja hatte es sich schon sehr früh zur Aufgabe gemacht, sich um diese Waisen zu kümmern und ihnen in ihrer schwersten Zeit beizustehen, damit auch sie irgendwann wieder ein Lächeln auf den Lippen tragen konnten.

Die Tür im Nebenraum wurde mit einem leisen Klicken geöffnet. Zaho lauschte auf die beiden männlichen Stimmen, die hektisch auf sie einredeten. Trotz seines guten Gehörs konnte er nicht verstehen was gesprochen wurde, doch eine der Stimmen erkannte er sofort. Es war Licco, sein Sohn.

Das wunderte ihn. Licco wusste genau, dass er nicht gestört werden wollte, wenn er bei Miranja war – außer es handelte sich um eine äußerst dringende Angelegenheit.

Gerade als Zaho sich vom Bett erhob, kam Miranja mit eiligen Schritten zurück in den Schlafraum. Ihr Gesicht berichtete von Bestürzung, was Zaho sofort in Alarmbereitschaft versetzte.

„Was ist geschehen?“

Miranja sah über die Schulter zurück. Hinter ihr kamen Licco und ein junger Elf des Tempels in den Raum. Beide wirkten besorgt.

„Der Tempel der Bastet wurde von Sachmets Brut angegriffen“, berichtete Licco ohne Umschweife. „Ein Händler, der gerade den Tempel besucht, berichtete ihm davon.“ Er nickte dem Elfen zu.

„Ja“, sagte der. „Der Händler berichtete mir, dass der Angriff vor zwei Tagen stattfand. Seit dem geht das Gerücht um, dass das Tigerauge und Occino verschwunden sind.“

Zaho war so schnell auf den Beinen, dass der Elf einen Schritt zurück wich. „Was sagst du da?“ Das konnte nicht stimmen. So etwas war in der Geschichte der Ailuranthropen noch nie geschehen. Es war unmöglich!

„Die Hexen und Zauberer haben den Tempel der Ailuranthropen angegriffen. Das Tigerauge und Occino sind seither verschwunden. Aber nicht nur sie.“ Er leckte sich über die Lippen und warf Licco einen kurzen Blick zu. „Es heißt, dass auch dass Occinos Krieger verschwunden sei, genau wie ein paar Lehrlinge.“

Zaho gab keine Reaktion von sich.

Er war ein Krieger. Schon von klein auf wurde er trainiert um den zweifelhaften Frieden zwischen den Völkern zu erhalten. In diesen Zeiten war er einer der mächtigsten Männer seines Landes, der sich vor nichts fürchtete. Überall wurde er geachtet. Selbst die Wesen der andren Völker drückten ihre Freude aus, wenn er ihnen begegnete.

Doch hier, genau in diesem Moment verspürte er eine nie gekannte Angst. Eines seiner Natis lebte zurzeit im Tempel und sie war die Amicus von Occino, ein Lehrling des Tempels.

Es heißt, dass auch dass Occinos Krieger verschwunden sei, genau wie ein paar Lehrlinge.

„Lilith.“

 

°°°°°

Kapitel Eins

Eine Ruine.

Still.

Zerstört.

Tot.

Das waren die Reden meines Geistes, als ich mit langsamen Schritten durch die Relikte meines Volkes schritt. Alles war verloren. Egal wohin ich sah, nichts als Trümmer. Schutt und alte Gemäuer, die von der Natur überwuchert waren. Alles war verdorrt, alles war verlassen. Ich konnte es mir einfach nicht erklären.

Acht Tage.

Ich war nur acht Tage weg gewesen, von der Magie in eine andere Welt entführt und nun war alles anders. Wie war das möglich? Wie hatte in nur acht Tagen diese Ruine entstehen können? Wo waren all die Ailuranthropen hin? Wo war Priesterin Tia und Magister Damonda? Wo waren die Lehrlinge und die Dienerschaft? Ich verstand es einfach nicht. Vor acht Tagen war doch noch alles gut gewesen.

Meine Hand streifte einen Mauerstumpen, der einmal zu einer Hütte der Lehrlinge gehört hatte. Nur beherbergte er nichts mehr außer vertrockneten Pflanzenresten.

Ich ließ meinen Blick über die Überreste meines Zuhauses gleiten. Der ausgetretene Pfad unter meinen Füßen war mit knochigem  Gestrüpp und Dornenranken so zugewuchert, dass er kaum noch zu betreten war. Ich konnte mich gar nicht daran erinnern, wie oft meine Beine mich über diesen Weg getragen hatten. Das letzte Mal am Tag der Schöpfung, an dem Tag an dem alles begonnen hatte, an dem Tag, als Sachmets Brut über uns hergefallen war.

Sie waren aus dem Wald gekommen, hatten den Tempel angegriffen und versucht das Tigerauge meiner Göttin zu stehlen, den Stein, der ihre gesamte Macht beherbergte. Doch etwas war schiefgelaufen. Anstatt uns die Macht zu entreißen, hatten sie in dem Versuch uns aufzuhalten das magische Portal – unseren Fluchtweg – manipuliert und mich mit dem Lykanthropenkrieger Aman und sein Geleit Acco versehentlich zu fremden Ufern geschickt – zu einem gottlosen Ort ohne Magie.

Aber wir waren nicht die einzigen gewesen. Mehrere Ailuranthropen und Lykanthropen waren in das Portal gesogen worden, nur um sich auf der Erde, den Ort der Menschen, wiederzufinden.

Noch immer waren die Geistreden daran verwirrend. Diese Welt, sie war so anders als mir alles Bekannte und wir hatten dort wohl auch nur überlebt, weil uns eine Gruppe Erdlinge geholfen hatte. Aber nicht alle hatten es geschafft. Naaru war noch am ersten Abend zurück in die Mächte gefahren und mein Amicus Gillette hatte die Gefangenschafft des Kriegergenerals nicht überlebt.

Allein die Geistreden an diesen unsagbar abscheulichen Mann entfachten in mir eine unbändige Wut. Er hatte uns gejagt. Er wollte uns, als seien wir nichts weiter als Trophäen und auch wenn wir ihm am Ende entkommen waren, die Verluste setzten uns zu.

Mein Herz schmerzte nicht nur bei den Geistreden daran, dass er Leben genommen hatte, auf die er kein Anrecht hatte. Er hatte noch etwas viel schlimmeres getan. Er hatte das Tigerauge gestohlen, Bastets Macht. Das was Sachmets Volk verwehrt geblieben war, hatte er geschafft.

Vielleicht war das der Grund, warum der Tempel sich in so kurzer Zeit verändert hatte. Das Tigerauge bedeutete Leben für die Ailuranthropen, aber nun war es seit acht Tagen verschwunden. Doch leider erklärte es nicht die Abwesenheit der Tempelbewohner. Und außerdem sah dieser Ort aus, als sei hier seit Jahren kein Leben mehr gewesen – zumindest nichts, was intelligenter als ein Insekt war.

Ich ließ meine Hand von den Mauerresten gleiten und drang tiefer in die Ruinen des Tempels ein. Mein Ziel war die kleine Rundhütte, in der ich mit Anima und Mikain gewohnt hatte. Anima war mit auf die Erde gestürzt, doch was auch Mikain geworden war, wusste ich nicht zu sagen. Sie war verschwunden, genau wie alle anderen hier.

Vor mir lag eine völlig zerstörte Rundhütte, die von der Natur so überwuchert war, als sei sie ein Teil davon. Meine Beine trugen mich um den Schutt herum. Leider verfing sich dabei mein Beinkleid in dem dornigen Gestrüpp. Ich hatte nicht die Geduld es vorsichtig zu befreien, sondern zerrte einfach daran, bis es mich wieder freigab. Leider zerriss ich damit den Stoff, bis er in Fetzen an meinem Bein hing.

„Heillos!“ Die Kleidung der Menschen war wirklich lästig.

„Alles okay bei dir?“

Ich sah auf und erblickte ein Stück hinter mir John, wie er sich durch die Trümmer einen Weg zu mir bahnte. Er war einer der Erdlinge, doch im Gegensatz zu seiner Familie, stammte er ursprünglich nicht von Silthrim. Er war nur ein einfacher Mensch, ein Tierheiler, der mir einmal das Leben gerettet hatte – mir und auch Amans Brester.

Sein Aussehen hatte mich vom ersten Moment an fasziniert. Nicht die schwarzen Haare, oder die weichen Züge seines Gesichts, mit der etwas zu groß geratenden Nase. Auch nicht der der athletische Körper. Es war seine Hautfarbe. John hatte die Hautfarbe von dunkler Erde. Bevor ich ihm begegnet war, hatte ich so etwas noch nie gesehen. Sein ganzer Körper war braun. Und er hatte so wunderschöne Augen. Braun, mit goldenen Sprenkeln darin.

„Lilith?“ Etwas ungeschickt kletterte er über einen Trümmerhaufen und fiel auf der anderen Seite beinahe runter.

Ja, John faszinierte mich, aber er war kein Krieger. Wenn es nicht gerade ums Heilen ging, waren selbst Natis geschickter als er.

„Mir geht es gut.“ Ich wartete bis er an meiner Seite war, bevor ich meinen Weg fortsetzte. „Warum bist du nicht bei den anderen geblieben?“

„Ich wollte gucken was du so treibst.“ Er sah sich unsicher über die Schulter, als der Wind um die Überreste des Tempels strich. „Ich finde es hier irgendwie unheimlich. Wie eine Geisterstadt.“

„Geisterstadt?“ Ohne viel Mühe sprang ich über die Mauerreste einer Rundhütte. „Was ist das, eine Geisterstadt?“

„Hm … ähm … ein Ort, an dem es kein Leben mehr gibt.“ Etwas umständlich folgte er mir kletternd und eilte dann wieder an meine Seite. „Leer, verlassen. Eben ein Ort, an dem Geister leben.“

Leer, verlassen. Das traf es ziemlich genau. Keine Ailuranthropen mehr, kein Leben, nur noch zerstörte Ruinen, die mit dürrem, vertrocknetem Gestrüpp überwuchert waren. „Bevor ich in das Portal gesogen wurde, war das hier ein wunderschöner Ort.“ Ich richtete den Blick auf die Pyramide, die hoch oben auf einem Hügel über das Gelände wachte. Der Tempel der Bastet. „Alles hat geblüht. Es war eine einzige Pracht. Doch nun ist sie vergangen.“ Und ich konnte mir nicht erklären, wie das passiert war.

Eine starke Brise wehte den Geruch des Ailurafluss zu mir, der an der Südseite des Geländes ruhig dahinfloss. Früher war er sauber gewesen, lockte damit in ihm zu schwimmen, um sich von dem harten Tagesprogramm zu erholen. Doch nun roch er nach fauligem Fisch und Unrat, schlimmer noch als ein dreckiger Tümpel. Krank, vergiftet. Vielleicht war das auch der Grund, warum die Pflanzen an diesem Ort verdorrt und braun waren. Ein trostloses Bild. Völlig ausgetrocknet. Nicht nur die Ailuranthropen waren von hier verschwunden, auch die blühende Grüne hatte sich zurückgezogen und nicht weiter als karges, verwelktes Land zurückgelassen.

„Warum bist du nicht bei den anderen?“, wollte ich wissen, um mich von meinen Geistreden abzulenken.

John lächelte ein wenig verschmitzt. „Ich dachte du könntest vielleicht etwas Gesellschaft gebrauchen. Außerdem erkunden sie das Gelände.“

Das war auch der Grund warum ich losgezogen war. Wir erhofften uns irgendein Hinweis auf den Verbleib der Tempelbewohner zu finden. Oder nützliche Dinge, die uns helfen konnten, denn auf unserer überstürzten Flucht vor dem Kriegergeneral Silvano Winston hatten wir all unsere Sachen zurücklassen müssen. Kein Essen, kein Wasser, keine Kleidung und auch keine Zelte. Wir hatten nur noch das was wir am Leib trugen und uns selber.

„Du brauchst dich nicht zu fürchten.“

Überrascht sah John mich an. „Wie kommst du darauf, dass ich mich fürchte?“

„Ich kann es riechen.“ Ich tippte mir gegen die Nase. „Du riechst nach Natur, nach Entstehung und Werdegang. Aber jetzt ist da diese beißende Note, die mich in der Nase kitzelt.“

Zwei Schritte lang blieb er still. Dann seufzte er. „Lilith, wir müssen uns dringend einmal über Taktgefühl unterhalten.“

„Warum?“

Er blieb mir die Antwort schuldig, lächelte nur ein wenig schief und griff nach meiner Hand.

Das verstand ich nicht. Natürlich, manchmal hatten wir Verständigungsschwierigkeiten, doch John bemühte sich normalerweise mich in die Geheimnisse seiner Sprach einzuweihen. Nun aber wich er beharrlich meinem Blick aus und konzentrierte sich einzig auf den Weg.

Hatte ich ihn gekränkt? Manchmal waren die Erdlinge wirklich schwierig.

Schweigend setzten wir unseren Weg fort. Die Hütte in der ich einst mit Anima gehaust hatte, war eine der wenigen, die nicht völlig zerstört waren, doch auch sie war von der Verwüstung gezeichnet. Dort, wo noch vor acht Tagen der Eintritt gewesen war, klaffte nun ein riesiges Loch. Die halbe Seitenwand fehlte, sodass ich das Innere des Wohnraums bereits hier draußen sehen konnte. Dagegen schien der Zugang zu unserem Schlafraum völlig in Ordnung.

Ich streckte meine Hand nach dem ergrauten Kaltstein aus. Unter meinen Fingern war die Oberfläche rau und bröckelte leicht. Ein schmerzhafter Stich ließ mein Herz verkrampfen. Es tat so weh dies alles zu sehen. Ich hatte geglaubt, wenn wir erst zurückkamen, würde alles wieder in Ordnung kommen, doch wir hatten nichts als karges Land gefunden. Einsam, verlassen. Nichts war mehr da.

„Hier habe ich gewohnt“, erklärte ich John und war mir nicht einmal sicher, warum ich das tat. „Hier habe ich mit Anima und Mikain  gelebt.“ Und mit unseren Sermos.

Ich presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, um sie am Zittern zu hindern. Sian, wo bist du, was ist mit dir geschehen? War mein kleiner, hübscher Sermo mit den anderen verschwunden? Aber wohin? Oh Göttin, bitte weise mir den Weg. Was soll ich nur tun?

„Das war sicher mal hübsch gewesen.“ John ließ den Blick an dem verfallenen Gebäude hochgleiten. „Vor Jahren einmal.“

„Du meinst wohl Tage.“

In Johns Augen blitzte der Zweifel auf. „Lilith, hier war schon seit Jahren niemand mehr gewesen. Schau dich doch nur mal um? Sowas geht nicht von heute auf morgen.“

Da hatte er Recht, aber anders war es nicht zu erklären.

„Außer … vielleicht macht eure Magie ja so verrückte Sachen.“

„Nein.“ Ich ließ meine Finger von dem Gemäuer gleiten, bis sie an meiner Seite hinabhingen. „Die Magie bringt keine Zerstörung, sie schenkt Leben. Fruchtbarkeit und Segen. Sie zerstört nicht das was uns lieb und teuer ist.“

„Hm“, machte er. „Aber vielleicht …“

Als plötzlich ein unheimliches Jaulen über das Gelände hallte, wirbelten wir beider herum. Es war so eindringlich, dass es mir bis in die Knochen drang. Schmerz und Leid schwangen darin mit, aber es war nichts, was ich schon einmal gehört hatte.

Und dann, genauso plötzlich wie es begonnen hatte, brach es auch wieder ab und nichts als tückische Stille blieb zurück. 

„Was war das?“ Johns Augen huschten hektisch hin und her und der Geruch seiner Furcht wurde stärker.

Ich ließ meinen Blick wachsam über die Umgebung gleiten, sondierte jeden Fleck den ich mit den Augen erreichen konnte, doch nichts deutet darauf hin, was es gewesen sein könnte, oder woher genau es kam.

„Lilith?“

„Ich weiß nicht.“ Mein Blick flog rüber zum Wald. „Wahrscheinlich ein verwundetes Tier.“

John folgte meiner Blickrichtung, blieb aber still.

„Aber jetzt ist es wieder still. Komm.“ Ich wartete nicht auf John, trat einfach über Schutt und Gesteinsbrocken auf der Suche etwas aus meinem Leben zu finden. Doch der Hauptraum war nicht nur zerstört, er war auch geplündert worden. Hier gab es nichts mehr Brauchbares, alles war weg.

Ich verstand es nicht. Nicht mal Bilder waren noch hier. Kein Rat, keine Schriften oder Waffen. Alles war weg, so als sei es niemals hier gewesen.

John folgte mir etwas langsamer. Sein Geist nahm jede Kleinigkeit auf, dessen er habhaft werden konnte. Dieser Ort bereitete ihm Unwohlsein, aber er faszinierte ihn auch. Er wusste einfach nicht was er damit anfangen sollte.

Ich beobachtete ihn genau, sah zu wie er mal hier und mal dort über die Überreste der Einrichtung strich, nur um seinen Bick dann weiterwandern zu lassen. Vielleicht redete er im Geist ja darüber, wie das Leben hier gewesen war. Vielleicht fragte er sich aber auch einfach nur, wie es hatte geschehen können, dass er hier gelandet war. Er wollte nicht hier sein.

Diese Worte waren zwar niemals über seine Lippen gekommen, aber ich hatte es bemerkt, als seine Familie darüber sprach, ob sie uns nach Silthrim begleiten sollten. Das war am Morgen gewesen. Er hatte sich nicht dazu geäußert, aber dadurch, dass der Kriegergeneral uns wie Vieh gehetzt hatte, war ihm gar nichts anderes übrig geblieben, als uns zu folgen – oder gefangen genommen zu werden.

„Es tut mir leid“, sagte ich leise.

Überrascht drehte er sich zu mir herum. „Was tut dir leid?“

„Das du hier bist.“ Ich trat zu ihm, lege meine Hand an seine Wange und strich über die kleinen Stoppeln. „Ich weiß dass du nicht mitkommen wolltest.“

Ein schiefes Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Das habe ich nie gesagt.“

„Du musst es nicht sagen, dein Geist liegt in deinen Augen. Ich kann es sehen.“ Ich ließ meine Hand wieder an meine Seite Fallen. „Es tut mir leid.“

Gleichgültig zuckte er mit den Schultern, wich meinem Blick aber aus und versuchte sich auf etwas anderes zu konzentrieren. „Tja, nun ist das Kind in den Brunnen gefallen, also machte es keinen Sinn darüber zu debattieren.“

Ich runzelte die Stirn. „Was für ein Brunnen?“ Hier stand doch gar kein Brunnen.

„Das ist nur so ein Sprichwort, das … egal.“ Er winkte ab und wandte sich dem Durchgang in der Wand zu. „Ist da noch ein Zimmer?“

„Der Schlafraum.“ Versuchte er vom Thema abzulenken? Vielleicht war es ihm ja unangenehm mit mir darüber zu sprechen. „Komm, ich zeige ihn dir.“

Der lange Leinenvorhang, der einst die Räume voneinander getrennt hatte, war verschwunden. Nur noch die Holzstange hing schief am Türsturz. Als ich eintrat, wirbelte eine feine Staubwolke vom Boden auf und schwebte im einfallenden Sonnenlicht durch die Luft.

Auch hier war alles zerstört. Noch vor acht Tagen hatten hier vier frisch bezogene Betten gestanden, an jedem Fußende eine Truhe, in der wir unsere Sachen aufbewahren konnten. Nun waren die Matratzen verschwunden, die Gestelle zerbrochen und die Truhen weg. Nur der gesprungene Spiegel an der Wand war zurückgeblieben. Blinde Flecken verzerrten das Bild, das er wiedergab und ließen eine bedrückende Aura zurück.

Ich tat an den Fenstersims, auf dem Anima immer ihren Schmuck gelagert hatte. Er war leer, verstaubt und mit Steinchen der Fassade berieselt. Alles war so anders.

„Hier war auch schon lange niemand mehr.“

Ich sah es, aber ich wollte es nicht wahrhaben, weil mein Geist einfach nicht erfassen konnte, wie das möglich sein sollte. Nichts was noch hier war ließ darauf schließen, dass ich schon einmal einen Fuß an diesen Ort gesetzt hatte.

Worte die Anima zu mir gesagt hatte, erschienen in meinem Geist.

Das Portal ist nicht nur ein Mittel, um dich von einem Ort zum anderen zu bringen. Es bringt dich auch durch den Steg der Welten in andere Mitwelten, Parallelwelten, Dimensionen.

Sie hatte sogar behauptet, dass uns das Portal durch die Zeit bringen könnte. Aber warum es eigentlich ging: Nur ein Fehler und wir könnten in einer anderen Welt landen.

Ich runzelte die Stirn. War uns bei der Erschaffung des Portals ein Fehler unterlaufen? Waren wir vielleicht gar nicht in dem vertrauten Silthrim, sondern ein einer Mitwelt, die unserer nur unglaublich ähnlich sah? Es würde so einiges erklären.

„Was machen wir, wenn wir hier nichts finden?“, wollte John wissen. „Also auf dem Gelände meine ich.“

Ich wandte mich zu ihm herum. Er stand am Fußende meines Bettes und besah sich das Fell daneben. Einst war es weiß gewesen. Sian hatte sich immer darauf eingerollt, doch nun war es von der Zeit verdreck und leer.

In meinem Hals bildete sich ein unerwünschter Kloß. Wo war Sian nur? Was war mit ihm und den anderen Ailuranthropen nach dem Überfall passiert? Was war mit Jaron und seiner kleinen Mochica? Oh Göttin, warum nur fand ich keine Antworten?

Als ich still blieb, drehte John sich abwartend zu mir herum.

„Ich weiß nicht“, sagte ich ganz ehrlich und richtete meinen Blick wieder auf das Fensterbrett. „Wenn wir hier nichts finden, werden wir wohl in eines der umliegenden Dörfer gehen müssen. Dort wird man uns sagen können, was hier geschehen ist.“ Eine Kerbe im Fensterbrett weckte meine Aufmerksamkeit. Es sah aus, als wenn etwas Schweres mit viel Kraft darauf gefallen wäre.

„Und du glaubst wirklich dass man uns dort helfen wird?“

„Warum denn nicht?“ Ich strich über die Kerbe, folgte ihrem Verlauf, bis mein Blick auf den Boden davor fiel. Dort, zwischen Schutt und Gesteinsbrocken funkelte etwas und erregte meine Aufmerksamkeit.

„Gegenfrage, warum sollten sie?“ Er verlagerte sein Gewicht aufs andere Bein, rieb sie über die Arme, als sei ihm kalt und blickte sich in der kleinen Hütte unruhig um. „Ich meine, ihr seid hier alle so feindlich. Wenn ich nur daran denke, wie du und Aman auf Luan reagiert habt …“ Er stockte, als wüste er nicht was er noch sagen sollte.

„Luan begleitet uns. Es wird keine Probleme geben, wenn wir es erklären.“ Das hoffte ich zumindest.

„Und da bist du dir sicher?“

Nein, ich war es nicht. „Es wird sich schon alles finden.“ Ich bückte mich nach dem Funkeln und beförderte eine kleine Perle zu Tage, die sicher einmal Teil eines Schmuckstücks gewesen war.

„Und wenn nicht? Ich meine, guck uns doch an? Meine Familie sind Feinde oder Mischlinge und ich … ich bin gar nichts dergleichen. Wie hattest du mich noch so schön beschrieben? Unvollständig. Der entscheidende Teil fehlt mir. Und ganz ehrlich, ich will nie wieder ein Messer an meiner Kehle spüren.“

Damit spielte er auf eine unserer ersten Begegnungen an. Aber ich verstand was ihn bedrückte. Er hatte Angst. Diese Welt war ihm noch fremder als mir und er wusste einfach nicht wir es weitergehen sollte. Niemand von uns wusste das genau, weil einfach nichts drauf hindeutet, was hier geschehen war.

Er war genauso unsicher, wie ich mich fühlte und das machte mir Angst. „Ich werde auf euch aufpassen. Mein Wort darauf.“

„Lilith, du bist nur eine einzige Person. Wie willst du das schaffen? Ich meine … ich …“ Er gab ein verdrießliches Geräusch von sich und fuhr sich frustriert durch die Haare. „Was ich meine, wie willst du meine Familie als Ein-Mann-Armee vor einem ganzen Volk schützen? Deine Leute sind ja wohl nicht sonderlich Gastfreundlich. Nicht mal du vertraust uns, und du kennst uns mittlerweile.“

Da konnte ich ihm nicht wiedersprechen. Ich vertraute ihm nicht – keinen von ihnen. Sie waren keine Ailuranthropen. Ich wusste nicht wie ihre Geistreden funktionierten, konnte sie schlecht einschätzen und das brachte Mistrauen mit sich. Ja, John war in Ordnung, aber John war nur ein Mensch. Er war so schwach, dass er keine Gefahr darstellte. Bei seiner Familie sah es anders aus. Sie waren Vampire, Lykanthropen und Magier. Bisher hatten sie uns nichts getan, ganz im Gegenteil, sie hatten uns sogar geholfen, aber wie konnte ich mir sicher sein, dass es auch so blieb?

John schnaubte. „Dein Schweigen ist mir Antwort genug.“

„Ich kann euch nicht vertrauen, John, aber ich kann euch mein Wort geben auf euch aufzupassen, solange ihr meine Hilfe nötig habt. Die Völker haben sich untereinander noch nie vertraut, aber das hat uns nicht daran gehindert miteinander einen Bund einzugehen, der uns Handel und Hilfe bringt.“

„Meine Familie würde euch aber nichts tun.“

„Wie kommst du darauf, dass mein Volk euch ein Leid zufügen würde?“ Als er schwieg, trat ich quer durch den Raum auf ihn zu, bis ich direkt vor ihm stand. „Wir sind misstrauisch, das bestreite ich gar nicht, aber wir sind nicht blutrünstig. Ich kann dir nicht vertrauen, John, aber wenn du das wünschst, kannst du mir vertrauen.“

„Ich vertraue dir Lilith.“ Zögernd legte er eine Hand auf meine Wange und strich damit bedacht zu meinem Schlüsselbein. „Ich wünschte nur, du würdest auch mir vertrauen.“

Versuchung.

 Es war dieses eine kleine Wort, das durch meinen Geist schwebte und mein Herz schneller schlagen ließ. Das passierte nicht zum ersten Mal, doch ich verstand es nicht. Was hatte das zu bedeuten? Woher kam es? Hieß das, dass John die Versuchung war? Und wenn das so war, war das schlecht oder gut? Jedenfalls fühlte es sich gut an von ihm berührt zu werden. Es war angenehm, warm, geborgen und ließ mein Herz ein kleinen wenig schneller schlagen. „Ich wünschte auch, ich könnte dir vertrauen“, flüsterte ich.

John beugte sich so weit vor, dass ich seinen warmen Atem auf meinen Lippen spüren konnte. Ich wich seinem Blick nicht aus, bangte und hoffte und wunderte mich, dass ich nicht vor ihm zurückschreckte. In der Zwischenzeit war ich erfahren genug um zu verstehen, was er vorhatte. Aman hatte es mich mehr als einmal gegen meinen Willen gelehrt. Aber das hier war nicht Aman, das hier war John und John war harmlos. Trotzdem war er kein Ailuranthrop, weswegen ich es nicht zulassen sollte. Und doch konnte ich nichts dagegen tun, dass mein Blick von seinen Lippen angezogen wurde.

„Dann vertrau mir doch einfach“, hauchte er und streifte mich mit seinem warmen Atem.

„Und wie?“

„Denk dir einfach ich sei wie du.“

„Wie ich?“

Sein Daumen streifte über meinen Hals, zog eine Linie bis zu meinen Lippen, die meine Haut angenehm prickeln ließ. „Du sagst doch ich sei unvollständig. Denk dir einfach …“

Ich sollte nicht mehr erfahren, wie dieser Satz zu Ende ging, denn ich diesem Moment hallte ein lauter Schrei über das Tempelgelände und ließ uns auseinanderfahren. Dem Schrei folgte Stille, doch ich hatte bereits erkannt, wer ihn ausgestoßen hatte. „Der kam von Vinea.“

Ohne auf John zu warten, rannte ich hinaus.

 

°°°°°

Kapitel Zwei

„… nicht noch mal wagen!“, wehte Vineas Stimme mir bereits entgegen, bevor ich den zerfallenen Speisesaal umrundet hatte und sie vor dem klaffenden Loch in der Wand des Gebäudes entdeckte. „Schämen solltet ihr euch. Bastet ist über so ein Gebaren gewiss nicht erfreut!“

„Wir haben doch nur …“

„Ich bin noch nicht fertig!“, fuhr sie die beiden Jungs vor sich an.

Die Lykanthropenkriegerin stand auf einem Stock gestützt vor dem Eingang des Speisesaals und sah aus, als wollte sie den Natis vor sich den Kopf abbeißen. Ihr langes, dreifarbiges Haar wehte ihr dabei um die Schultern und die Knochen in dem spitzen Gesicht standen leicht hervor. Sie war wirklich richtig wütend.

Ihr Sicuti Aman lehnte mit verschlossenem Gesicht und verschränkten Armen an der bröckligen Wand hinter ihr, doch sobald er mich kommen hörte, huschte sein Blick zu mir. Nur für eine Sekunde, dann wandte er ihn schnell wieder ab. Trotzdem sah ich noch den gebrochenen Ausdruck in seinen Augen und den verkniffenen Zug um seinen Mund.

Zu seinen Füßen lag sein Sermo Acco und verfolgte das Ganze mit mäßigem Interesse – eigentlich fehlte es nur noch, dass der Wildhund lautstark gähnte.

Von den anderen Mittgliedern unserer Gruppe fehlte jede Spur.

Diese Eindrücke nahm ich alle in dem Moment wahr, als ich um die Ecke schoss, doch es verblasste, als mir klar wurde, wer die beiden Jungs vor Vinea waren.

Ailuranthropen.

„Was habt ihr euch dabei nur gedacht? Ich hätte euch verletzen können, ist euch das eigentlich klar?“

Ein störrischer Zug trat in das Gesicht des größeren Jungen mit dem schwarzen Haar. „Wir werden einmal Krieger der Bastet sein. Außerdem bist du nur ein Lykanthrop und hast uns damit gar nichts … au!“

Vinea hatte ihm mit ihrem Stock so schnell einen Schlag auf den Kopf versetzt, dass es wohl selbst erfahrene Krieger nicht hätten kommen sehen. „Krieger der Bastet?“ Sie schnaubte. „Vielleicht werdet ihr das einmal sein, aber im Moment seit ihr nichts als verzogene Natis!“

Der Schwarzhaarige wich mit der Hand an seinem Kopf vor ihr zurück. Er schien etwas erwidern zu wollen, doch die Reden im Geist rieten ihm wohl davon ab, die Lykanthropin noch weiter zu verärgern. 

Auch der kleinere Junge machte vorsichtshalber einen Schritt zurück, ließ wütende Werwildhündin dabei aber nicht aus den Augen. Dabei wirkte er so misstrauisch, als erwartete er jeden Moment einen Schlag in seine Richtung.

„Um wirkliche Krieger zu werden müsst ihr noch viel lernen und jemanden hinterrücks zu überfallen gehört nicht dazu!“

Bei Bastet.

Ailuranthropen.

Ich konnte es kaum glauben, nicht nachdem ich den Tempel so vorgefunden hatte. Aber dort standen wirklich zwei Lehrlinge der Bastet, zukünftige Hüter meines Volkes und baldige Friedensbringer. Im Moment dürften die beiden nicht mehr wie fünfzehn Sommer zählen, doch in wenigen Jahren sah die ganze Sache schon anders aus. Sie waren mir unbekannt, stammten nicht aus dem Tempel – was schon seltsam war, da nur dort Krieger ausgebildet wurden – aber endlich begegnete ich jemanden aus meinem Volk.

„Du dürftest nicht mal hier sein“, murmelte der kleinere der Jungs. „Wir …“

„Zwischen unseren Völkern herrscht Frieden ihr Steinköpfe!“, fuhr Vinea die beiden an.

Hinter mir bog schwer atmend John um die Ecke und musste sich erstmal auf die Knie stützen, um wieder Luft zu bekommen.

„Wir sind Verbündete! Ihr hättet an mich herantreten und …“

„Vinea, wartete!“ Ich trat zwischen sie, schob mich praktisch vor die Jungs, immer noch ungläubig sie direkt vor Augen zu haben. „Erklärt es mir“, forderte ich sie auf ohne den Blick auch nur einen Moment abzuwenden. „Was ist hier geschehen? Wo sind die Tempelbewohner?“

Die beiden Jungen sahen sich einen Moment an und schauten dann zweifelnd in meine Richtung. „Ist dein Geist krank?“ Der Schwarzhaarige warf einen kurzen Blick zu Vinea und Aman. „Oder waren sie das?“

„So hat es bei Seyed auch begonnen“, murmelte der andere.

„Sie sieht aber gar nicht verwirrt aus.“ Wieder ein kurzer Blick zu seinem Amicus. „Oder krank.“

Ich runzelte die Stirn. „Was redet ihr da? Ich bin weder verwirrt noch krank. Ich will nur wissen was hier geschehen ist. Warum ist hier alles so … so eben?“ Mit den Armen machte ich eine weitausholende Geste, die das ganze Gelände mit einschloss. „Wo ist Priesterin Tia? Was ist geschehen nachdem Sachmets Brut das Portal angegriffen hat?“

Eine Antwort darauf blieben sie mir schuldig, da genau in diesem Moment hastige Schritte aufkamen. Einen Moment später stießen angelockt von Vineas Schrei nun auch Luan, Destina und Janina zu uns.

Die drei waren wie wir, und doch ganz anders. Luan stammte ursprünglich von Silthrim und wurde zusammen mit anderen Kriegern bei einem ähnlichen Zwischenfall wie unserem vor mehreren hundert Jahren auf die Erde geschleudert. Als Vampir lebte er ewig. Damit war er der einzige, der von der ursprünglichen Gruppe noch übrig geblieben war. Die anderen waren an Alter und Zerfall gestorben, doch sie hatten Kinder hinterlassen, Mischlinge ihresgleichen. Daher war Destina eine Lykanthropin, die die Magie und die Fähigkeiten einer Hexe beherrschte. Ihre Enkelin Janina dagegen war nur mit dem Blut der Lykanthropen gesegnet.

Zu ihnen gehörte noch ein junger Mann. Pascal, Janinas Brester, doch er war ausschließlich der Magie kundig. Die Generationen hatten mit dieser Familie wirklich seltsame Spiele gespielt.

Luans Blick fiel sofort auf die beiden Lehrlinge. „Was ist hier geschehen?“ Er wandte sich Vinea zu. „Wir haben einen Schrei gehört.“

Luan war ein Vampir mit den Haaren der Sonne. Sie waren so strahlend hell, dass sie im Licht zu leuchten schienen. Über die vielen Jahre auf der Erde hatte er sich seinen athletischen Körperbau bewahren können und er besaß eine Ausstrahlung, die ihn unter seinesgleichen zu einem begehrten Mann gemacht haben musste – damals, als er noch unter seinem Gott Anubis in Vipan, der Heimat der Vampire, gelebt hatte.

„Ich wurde überfallen.“ Vinea zeigte auf die beiden Lehrlinge. „Hinterrücks sind sie auf mich los.“

„Sie ist ein Lykanthrop!“, verteidigte sich der Schwarzhaarige, stellte sich aber so hinter mich, dass sie ihn kein weiteres Mal erwischen konnte – sein Kopf tat ihm wohl immer noch weh. „Sie hat mich geschlagen! Und auf dem Tempelgelände hat sie nichts zu suchen!“

„Nichts zu suchen?“ Vinea humpelte einen Schritt nach vorne. „Dankt eurer Göttin dafür, dass ihr mich erwischt habt und nicht meinen Sicuti, der hätte euch nämlich den Hintern versohlt!“

Das wollte er wohl nicht hören. Seine Mine wurde störrisch wie bei einem bockigen Zentaur.

„Schluss jetzt“, unterbrach ich sie und wandte mich Lehrlingen zu. „Antwortet endlich auf meine Fragen.“ Ich musste wissen was hier geschehen war. Ich musste wissen, was mit Sian passiert war. „Was ist hier geschehen? Wo sind alle hin?“

„Du willst wissen, warum der Tempel leer und verfallen ist?“, versicherte sich der Schwarzhaarige noch einmal.

„Ja. Vor acht Tagen war doch noch alles in Ordnung. Bis Sachmets Brut kam blühte das Leben im Tempel. Ich verstehe es einfach nicht.“

„Acht Tage?“ Der kleinere runzelte die glatte Stirn und tauschte einen verwirrten Blick mit seinem Amicus aus. „Der Tempel wurde vor acht Jahren verlassen.“

„Ja.“ Der Schwarzhaarige nickte zustimmend. „Damals ist Sachmets Volk in den Tempel eingedrungen. Dabei verschwanden Bastets Tigerauge und Occino.“

„Die Priester der Bastet haben versucht die beiden mit der Hilfe des Tempels in Ellan wiederzufinden, aber sie schafften es nicht.“ Der Kleinere verstummte einen Moment. „Und dann tauchte das Biest auf.“

Mit jedem weiteren Wort verlangsamten sich meine Geistreden. Was sie da sagten, das konnte nicht wahr sein. Es war einfach nicht möglich. „Acht Jahre? Aber nein, wir wurden vor acht Tagen von den greifenden Winden in das Portal gezogen.“

Auch Aman und Vinea konnten das Gesagte nicht glauben. Die Skepsis stand ihnen ins Gesicht geschrieben.

Der Schwarzhaarige schüttelte nur verwundert den Kopf. „Nein, ich spreche wahr. Es sind bereits acht Jahre ins Land gezogen, seit der Tempel verlassen wurde. Ich weiß das so genau, weil meine Brestern eine der letzten war, die gesund geboren wurde und sie wird bald acht Jahre.“

Was hatte das nun wieder zu bedeuten? „Ich verstehe nicht. Es können keine acht Jahre gewesen sein. Wir waren doch nur …“

„Lilith“, unterbrach Luan mich und wartete bis ich mich ihm zugewandt hatte. „Ich glaube ich verstehe jetzt was hier passiert ist. Zumindest teilweise.“

„Dann erkläre es mir, denn mir entgeht das Verständnis.“

„Kannst du eigentlich auch mal bitte sagen?“, fuhr Janina mich an.

Da es mir im Moment ziemlich egal war was Janina zu sage hatte, ignorierte ich sie einfach. Es gab nur eine Sache, nach deren Wissen sich mein Geist sehnte.

Luan griff nach Janinas Hand und drückte sie leicht. „Erinnerst du dich an den Abend, als wir uns begegnet sind?“, fragte er mich dann.

„Wie sollte ich das vergessen? Damit hat alles angefangen.“ An diesem Abend war alles anders geworden.

Luan nickte. „Im Auto habe ich euch erzählt, dass mir das gleiche wie euch passiert ist und ich deswegen bereits seit dreihundert Jahren auf der Erde lebe. Und dort habe ich euch auch nach dem Krieg gefragt. Weißt du noch was du darauf gesagt hast?“

Nein, das wusste ich nicht mehr. Diese fremden Ufer hatten mich so neugierig gemacht, dass ich auf nichts anderes mehr geachtet hatte. „Du sprichst für mich in Rätseln.“ 

„Der Krieg ist schon vor mehr als sieben Millennien beendet worden“, kam es leise von Aman. „Das hast du zu Ihm gesagt. Der Krieg der Völker ist bereits seit sieben Millennien beendet.“

Ja, natürlich. Jetzt wo er es sagte. Luan hatte verwirrt und fassungslos gewirkt, hatte es sich nicht erklären können. Es waren doch nur dreihundert Jahre gewesen, wie konnten es dann plötzlich über sieben Millennien sein?

Luan nickte ihm zu und legte seine Aufmerksamkeit dann wieder auf mich. „Das 493 Jahr im 466 Millennium, dass war das Jahr in dem ich in das Portal gesogen wurde und auf der Erde landete. Laut der Zeitrechnung auf der Erde, lebte ich dort knapp dreihundert Jahre, doch als ihr aufgetaucht seid, hieß es, dass bereits über sieben Millennien vergangen waren. Mindestens. Sag mir Lilith, welches Jahr haben wir?“

Mir gefiel die Richtung seiner Gedanken nicht.

„Das 627 Jahr im 473 Millennium“, antwortete Vinea an meiner Stelle.

Luan wandte sich den beiden Lehrlingen zu. „Sagt mir, welches Jahr haben wir?“

Der Schwarzhaarige schaute etwas unsicher in meine Richtung. Seine Zunge zuckte nervös über seine Lippen bevor er sagte: „Das 635 im 473 Millennium.“

„Was?“ ich wirbelte zu ihm herum. „Das kann nicht sein. Es können keine acht Jahre vergangen sein, wir waren doch nur acht … Tage …“ Als mir Ähnlichkeit meiner Worte auffiel, verstummte ich. War das wirklich möglich?? Konnte es sein, das die Zeit sich in den beiden Welten anderes verhielt? Acht Tage, acht Jahre. „Aber wie …“ Ich drehte mich zu Luan herum. „Wie ist das möglich?“

Seufzend fuhr Luan sich durch die Haare. „Ich weiß nicht. Ich kann dir nicht sagen warum es so ist, ich kann dir nur meine Überlegungen mitteilen. Sie sind logisch, zumindest mit dem was wir wissen. Es würde eine Menge erklären.“

„Aber … dann sind wirklich acht Jahre vergangen?“

Aller Blicke lagen plötzlich auf den Jungs, doch die sahen nur genauso ratlos zurück.

„Ein Tag dort, ein Jahr hier“, sagte Destina. Sie war eine ziemlich dünne, ziemlich große Frau mit weißem Haar. Robust und resolut. Destina war ein Alpha in ihrer Familie.

„Und umgekehrt wären das denn … äh …“ Janina runzelte angestrengt die Stirn. Sie war eine Füchsin. Eine ausgestorbene Rasse unter den Lykanthropen, doch ihre Vorfahren waren auf die Erde geschleudert worden und so hatte die Art dort überleben können. Und außerdem war sie ein Biest. Sie konnte mich nicht leiden, weil ich bei unserer ersten Begegnung in dem Versuch sie zu retten fast den Fafa ihres noch ungeborenen Kindes getötet hätte – Luan.

Das Natis unter dem Herzen der rothaarigen, zierlichen Frau stammte von einem Vampir. Sie war nicht nur ein Mischlingen, sie stand auch kurz vor der Niederkunft, um selber eines zur Welt zu bringen. Dieses Natis in ihrem Bauch … keiner wusste zu diesem Zeitpunkt wohl zu sagen, was es einmal sein würde. Vielleicht ein Magier, so wie Janinas Brestern Pascal. Oder ein Vampir wie der Fafa. Vielleicht aber auch ein Fuchs, wie die Mina.

Ja, es hatte schon einen Grund, warum die Völker sich untereinander nicht mischten, denn wo sollte ein solches Natis in einer so feindlichen Welt leben? Es würde es nicht einfach haben.

„Ein Tag hier, vier Minuten auf der Erde.“ Luan sah zu seinem Herz. „Ungefähr. Um es genau zu wissen, müsste ich mich hinsetzten und alles auf den Tag und die Minute genau ausrechnen, aber im Großen und Ganzen kann man sagen, ein Tag hier sind vier Minuten dort. Und ein Tag dort ist ein Jahr hier.“

Es würde alles erklären, aber … wie war das möglich?

Das Portal ist nicht nur ein Mittel, um dich von einem Ort zum anderen zu bringen. Es bringt dich auch durch den Steg der Welten in andere Mitwelten, Parallelwelten, Dimensionen. Nenn es wie du möchtest. Es gibt sogar eine Schrift, die besagt, dass man durch ein Portal auch in den Zeiten wandern kann.

Das waren Animas Worte gewesen.

Es gibt sogar eine Schrift, die besagt, dass man durch ein Portal auch in den Zeiten wandern kann.

War es das, was sie damit gemeint hatte? War das schon einmal geschehen? Woher sonst wollten unsere Priester davon wissen? Die Priester, die nun nicht mehr hier waren.

Das Gesagte war einfach so schwer zu erfassen, dass mein Geist sich weigerte die Wahrheit darin zu akzeptieren. Natürlich, Luan hatte Recht, wenn es wirklich der Wahrheit entsprach, würde das alles erklären. Es war logisch und er hatte keinen Grund mich zu belügen. Außerdem hatte er schon einmal Recht behalten, als er versuchte mich von etwas so unglaublichen zu überzeugen. Trotzdem, es war einfach … unfassbar.

„Soll das heißen, wir waren acht Jahre fort?“, versicherte Aman sich noch einmal. Er wirkte genauso ungläubig wie ich mich fühlte, konnte es einfach nicht verstehen. Nicht mal die Magie sollte in der Lage sein die Zeit zu manipulieren, wie also konnte eine Reise es?

Doch er war nichts im Gegensatz zu Vinea. In jedem ihrer Züge hatte sich Unglaube und Entsetzten eingegraben. „Nein, aber … nein, das darf nicht sein, das …“

Luan öffnete nur in einer Geste der Machtlosigkeit die freie Hand. „Ich kann es auch nicht erklären, jedenfalls nicht so …“

„Da kommt jemand“, unterbrach Acco ihn. Das Fell im Nacken des Sermos hatte sich leicht gesträubt. Vielleicht wegen dem Gesagten, vielleicht aber auch wegen der Anspannung, die in der Luft lag.

Wir alle spitzten die Ohren und hörten die schweren Schritte bereits von weitem. Das konnte nur einer der Erdlinge sein. Nur sie bewegten sich so laut, als gehörte die Welt ihnen allein. Und tatsächlich. Einen Moment später bog Pascal um die Ecke. Sich in der gleichen Sekunde der ganzen Aufmerksamkeit bewusst, stockte er im Schritt einen Augenblick.

Pascal hatte vom äußeren Schein nichts mit seiner Brestern oder seiner Romina gemeinsam. Er war groß, schlaksig und hatte sehr dunkle Haare. Dafür trug er aber immer ein verspieltes Lächeln auf den Lippen. Nur jetzt nicht. Seine Augen sprachen von Sorge und der eilige Schritt sagte mir, dass etwas geschehen sein musste.

„Was ist los?“, wollte Luan auch sofort wissen. Ihm schien das ernste Auftreten auch nicht entgangen zu sein.

„Es ist wegen Anima.“ Er stieß zu unserer kleine Gruppe, beachtete die Lehrlinge nur mit einem kurzen, verwunderten Blick und wandte sich dann direkt mir zu. „Ich weiß nicht was ich mit ihr machen soll. Sie hat sich neben den Toten gelegt und spricht mit ihm, als sei er lebendig. Das ist … unheimlich.“

Oh Göttin, bitte nicht.

Er sprach von Gillette, einer meiner Amicus und das Herz von Anima. Sie liebte ihn, aber es war uns nicht gelungen ihn lebend aus den Klauen vom Kriegergeneral zu befreien. Und dann hatte sie bei unserer Rückreise auch noch das Tigerauge verloren.

„Ich werde nach ihr sehen.“ Unentschlossen machte ich einen Schritt, verharrte dann aber wieder und wandte mich den Lehrlingen zu. „Ihr kommt mit, ich muss mit euch reden.“

Sie folgten meiner Aufforderung, wenn auch nur zögernd. Und auf dem Weg zurück in den Tempel wurde mir sehr schnell klar, warum.

„Sprich, bist du wirklich mit einem Vampir unterwegs?“, fragte mich der Schwarzhaarige auf halbem Wege. Er und sein Amicus liefen ziemlich nahe bei mir. Die anderen Wesen waren ihnen wohl unheimlich. Sie warfen auch immer wieder kurze Blicke über die Schulter um sich zu vergewissern, was sie taten.

„Er hat mir geholfen, als die greifenden Winde mich in das Portal gezerrt haben.“

Der Kleinere horchte auf. „Soll das heißen, du bist eine von jenen, die vor acht Jahren mit dem Tigerauge und Occino verschwunden sind?“

Ich kniff die Lippen zusammen. Ich wusste genau worauf sie hofften, doch ich konnte es ihnen nicht geben. Wir hatten es in der anderen Welt zurück gelassen. „Ich werde es euch später erklären. Aber nun sagt mir erstmal wer ihr eigentlich seid, und was ihr hier tut, wenn der Tempel doch bereits seit so langer Zeit verlassen ist.“

„Aber das Tigerauge, was …“, begann der Schwarzhaarige, brach dann aber ab, als sein Amicus ihm den Elenbogen in die Seite stieß und den Kopf leicht schüttelte.

„Ich bin Kek und der Schwarzhaarige hier ist Ravic. Wir sind hier um das Biest zu jagen.“

„Das Biest?“ Das hatten sie vorhin doch schon einmal erwähnt. „Was soll das sein?“

„Pravum.“ Fast flüsternd sprach Kek den Namen aus.

Meine Augen wurden groß. „Was sagst du?“ Das konnte nicht stimmen. Ein Pravum war eine von den Magiern erschaffene Kreatur, die so bösartig war, dass nicht mal sie sie hatten kontrollieren können. Sie wurden für den Krieg erschaffen, hatten sich dann aber gegen ihre eigenen Herren gewandt und wurden ausgerottet.

Ich kannte die Geschichte um die Pravum, aber genau das waren sie, nur Geschichten aus früherer Zeit. Etwas das einmal geschehen war, für das es heute aber keinen Beweis mehr gab.

„Es ist nicht wirklich ein Pravum“, erklärte Ravic und warf wieder einen vorsichtigen Blick über die Schulter – genau zu der humpelnden Vinea. Den Schlag auf den Kopf hatte er sich wohl gemerkt. „Wir nennen es nur so.“

In diesem Moment schallte wieder das gebrochene Heulen über das Tempelgelände. Ich war nicht die einzige da bei diesem mitleidigen Ton zusammenzuckte und sich nach der Ursache umsah. Es war unheimlich, wie ein Wehklagen das von Schmerz zollte, der niemals vergehen wollte.

„Pravum“, flüsterte Kek.

 

°°°

 

Wir hatten unser provisorisches Lager vor dem zerstörten Tempeleingang zwischen ein paar Gesteinsbrocken und den Überresten der verstreuten Marmorsäulen aufgeschlagen. Alles war trocken und wild überwuchert. Ohne die Schuhe der Erdlinge würde ich aufpassen müssen, wohin ich meine Füße setzte, da überall struppige Dornenranken wucherten. Es war wirklich nichts mehr von dem einstigen Glanz des Tempels übrig.

Dort hatten wir auch Anima und Pascal mit Asokan und Nebka zurück gelassen. Halb verborgen von den Ruinen, um der sengenden Sonne zu entgehen. Und dahinter, zwischen den Trümmern tief im Schatten lag Kaio, Gillettes Geleit. Als wir nach Gillette gesucht hatten, hatten wir nur ihn gefunden, doch er schien nicht mehr der zu sein den ich kannte.

Asokan saß mit der kleinen Nebka im Schoß an der Seite und beobachtete meine Amicus mit wachsamen Blick.

Als ich aufgebrochen war, hatte Anima stumm in der Ecke gesessen und blicklos vor sich ins Leere gestarrt. Nun lag sie an den toten Leib von Gillette gekuschelt, den Kopf auf seine Brust gebettet und sprach mit leiser Stimme auf ihn ein. Dabei strich sie ihm ununterbrochen über den Bauch, so wie sie es früher immer getan hatte.

Dieser Anblick brach mir das Herz und ließ mich einen Moment im Schritt stocken. Es tat mir weh die beiden so zu sehen, weil ich wusste, dass es das letzte Mal war. Gillette war zurück in die Mächte gefahren und keine Kraft der Welt konnte dagegen etwas unternehmen. Keine.

Gillette war tot.

„Nim?“ Ich nährte mich ihr vorsichtig, hockte mich neben sie. „Nim, du musst damit aufhören. Das ist nicht Gillette.“

Ihre Hand erstarrte mitten in der Bewegung und erschlaffte dann einfach. Ihr Murmeln verstummte. Völlig regungslos lag sie neben ihm und wirkte nicht lebendiger als er.

„Nim, bitte, komm zu dir.“ Zögernd legte ich ihr eine Hand auf den Arm und in dem Moment als ich sie berührte, fuhr sie auf und begann wie eine Harpyie zu schreien. Sie schlug sich die Handballen gegen den Kopf. Immer und immer wieder. Und dabei schrie sie ihren ganzen Schmerz heraus.

Einen Moment gab ich mir, um meine Schrecksekunde zu überwinden. Dann packte ich sie, hielt ihre Handgelenke fest und versuchte sie daran zu hindern sich selber zu verletzen. „Bei Bastet, Nim, hör auch. Nim, Nim, Anima, bitte, Nim.“

Aber sie hörte nicht auf. Sie schrie weiter und wand sich in meinem Griff so stark, dass ich Probleme hatte sie festzuhalten.

„Nim, bitte, du musst aufhören.“ Ich warf einen hilflosen Blick zu den anderen, doch die waren von ihren Schreien so verunsichert, dass sie es nicht wagten näher zu kommen. Nur Pascal blieb nicht zurück. Er war unsicher was er tun sollte und doch entschlossen zu helfen. Aber als er sich neben sie hockte, schüttelte sie so heftig den Kopf, dass sie ihn damit fast traf.

„Bei Bastet, Anima!“

Als sie dann auch noch versuchte nach mir zu schlagen, rutschte sie aus meinem Griff. Sie warf sich herum, kroch schreiend und weinend in die hinterste Ecke des Gerölls und bewegte sich dann nicht mehr. Ihr Schreien wurde zu einem Wimmern, das Schluchzen zu einem leisen weinen. Ihr ganzer Körper bebte und die sonst so liebliche und starke Erscheinung wirkte nur noch schwach, zerschlagen und stumpf.  

Es tat mir in der Seele weh sie so zu sehen, doch ich wagte es nicht mich ihr erneut zu nähren aus Unsicherheit wie sie reagieren würde.

„Occino“, flüsterte Ravic und schlug sich gleich darauf die Hände vor den Mund. Fremde Völker durften nicht wissen wer der Occino war. Sie war unsere Verbindung zu unserer Göttin und wurde im Krieg oft entführt, um sich einen unlauteren Vorteil zu verschaffen. Und nun hatte er es vor Vampiren, Lykanthropen und Magiern ausgesprochen. Seine Hautfarbe wirkte in diesem Moment nicht sehr gesund.

„Sie wissen es“, sagte ich nur leise, wandte den Blick aber nicht von Anima ab. Was sollte ich nur mit ihr machen? Solange sie Gillette vor Augen hatte, konnte ihr Geist nicht genesen. Solange er hier war, würde es schlimmer werden. „Wir müssen ihn wegbringen.“

„Wegbringen?“ Johns Augen huschten zu dem Toten. „Wohin?“

„Dahin wo sie ihn nicht sehen kann.“

Pascal rückte näher an Anima heran, legte die Hand neben ihrem Gesicht auf den Boden und murmelte leise Worte, bis neben ihrem Kopf mehrere rote Knospen aus der Erde sprossen. Ich erkannte sie sofort. Das war Schlafmohn.

„Ich kenne einen Ort.“ Asokans Blick huschte nervös zwischen uns hin und her. „Ich meine, ich … also früher wurden die Toten des Tempels immer in die Heilerhütte gebracht.“

„Dann bringt ihn dahin.“ Ich rutschte etwas näher an Anima heran, wagte es aber noch immer nicht sie zu berühren. „Bringt ihn erstmal hier weg. Asokan zeigt euch den Weg.“

Es war mir egal wer meiner Aufforderung nachkam. Es war mir auch egal, dass es sich wie ein Befehl anhörte, ich wusste nur er musste hier weg, wenn ich nicht wollte, dass Animas Geist daran zerbrach. Und ich selber wusste auch nicht, wie lange ich seinen Anblick noch ertragen konnte. Ich war nur froh als Asokan sich mit Nebka auf dem Arm erhob und Luan den Weg zeigte.

Wir würden Gillette beerdigen müssen, aber nicht jetzt, ich konnte meine Amicus nicht allein lassen. Und ich wusste nicht, ob ich es im Moment verkraften würde, ihn der Erde aus der unser Volk einst entstanden war, wieder zurück zu geben.

Ich würde es tun, ja, aber nicht jetzt.

 

°°°

 

Als Luan und Asokan wiederkamen, stand die Sonne bereits tief am Äther. Die kleine Luchs-Sermo Nebka tapste auf ihnen auf ihren Pfötchen hinterher, steckte ihre Nase dann in eine Dornenranke und quietschte auf, als ein Dornen sie in die Nase piekte.

Acco seufzte. „Bei Seth, kann man dich keine Minute aus den Augen lassen?“ Schwermütig erhob er sich auf die Pfoten, packte sie im Nackenfell und schleppte sie zurück auf seinen Platz, wo er sie zwischen seinen Pfoten platzierte und ihr mit der Zunge das Fell wusch.

Wenn Nebka einmal groß war, würde sie Acco überragen, doch im Moment war sie kaum ein Jahr alt und noch dazu eine Waise, da sie ihren Leiter auf der Erde verloren hatte. Ich hatte ihr versprochen mich um sie zu kümmern, als wäre sie mein eigener Sermo, doch im Moment fragte ich mich, wie viel dieses Versprechen wert war. Ich hatte auch versprochen Gillette heil nach Hause zu bringen und hatte es nicht halten können. Und ich hatte nicht mal auf meinen eigenen Sermo aufpassen können.

Wo Sian wohl war? Wie es ihm ging? Nicht mal auf so einfache Fragen fand ich die Antwort.

Neben mir knurrte Pascals Magen laut und vernehmlich. Er grinste leicht schief. „Sorry.“

Kaum war dieses Wort über seinen Mund, begann auch ein Magen mein eindeutiges Geräusch von sich zu geben.

„Ich hab auch Hunger“, piepste Nebka und versuchte sich einen Moment vor Acco zu ducken, um seiner Putzzwut zu entgehen – funktionierte nicht.

„Wir haben alle Hunger“, sagte Vinea. „Aber da musst du jetzt durch, bis wir jagen waren.“

„Jagen?“ Pascal verzog das Gesicht, legte die Hände auf den Boden und dann konnten wir dabei zusehen wie rund um ihn herum Brombeersträucher aus dem Boden wuchsen. Erst nur ganz klein. Dann wurden aus den dünnen Trieben kleine, grüne Sträucher, die immer größer wurden. Sie begannen zu blühen und dann viele kleine Früchte auszubilden.

Pascal tropfte der Schweiß von der Stirn. Sein Gesicht lag in Runzeln, so sehr strengte er sich an. In solcher Magie er war nicht sehr geübt und etwas aus dem Nichts zu erschaffen, bedeutete immer Anstrengung. Und da er eben schon Mohnblumen für Anima hatte wachsen lassen, waren seine Reserven auch schon angeschlagen.

Ich richtete den Blick auf meine Amicus. Sie schlief nun, doch selbst jetzt konnte ich noch die Tränen sehen, die an ihren Wimpern hingen. Der Schlafmohn hatte sie ins Land der Götter geschickt, damit ihr Geist sich ein wenig erholen konnte, doch die Zeichen der Trauer hatte er ihr nicht nehmen können.

„Oh Gott.“ Schweratmend ließ Pascal den Kopf hängen. „Das sollte ich nicht zu oft machen.“

„Aber das Ergebnis kann sich sehen lassen.“ Janina streckte den Arm nach den Himbeerranken aus und pflückte ein paar der schweren Früchte. Im nächsten Moment waren sie in ihrem Mund verschwunden. „Hmmm, und schmecken tun sie auch noch. Du bist also doch zu etwas nutze.“

„Ha ha, ich lache dann später.“

Auch Vinea und Destina streckten die Arme aus. Asokan setzte sich direkt an die Ranken heran und steckte auch Nebka immer wieder welche zu.

Obwohl auch mein Magen vernehmlich knurrte, gab es im Augenblick Dinge die mich mehr interessierten. Essen konnte ich später noch – immer vorausgesetzt, die anderen ließen mir etwas übrig. Darum wandte ich mich Kek und Ravic zu. „Ihr sagtet der Tempel wurde vor acht Jahren verlassen. Was ist seit dem passiert? Wo sind alle hin?“

Ravic konnte nicht antworten, da er den Mund voller Himbeeren hatte, darum übernahm Kek das Wort. „In den Höhlen in Ellan. Das ist der noch einzig Sichere Ort für uns.“

Vinea runzelte die Stirn. „In Ellan? Dem Land der Elfen?“

Kek nickte. „Sie haben uns Zuflucht gewährt, als es nicht mehr anders ging. Wir dürfen ihre Dörfer nicht betreten, aber sie dulden uns auf ihrem Land.“

„Was soll das heißen?“, wollte ich wissen. „Warum sind die Ailuranthropen denn nicht in Ailuran geblieben?“

Ravic schüttelte den Kopf. „Ihr wisst aber auch wirklich gar nichts, oder?“

Als sich ein dutzend stechender Blicke auf ihn richteten, schluckte er vernehmlich und zog den Kopf leicht ein. Natürlich wussten wir nicht was hier passiert war, waren wir doch in einer anderen Welt gewesen und alles hatte sich seit dem verändert. Wie sollten wir es also wissen? Bei Bastet, wenn wir nur noch solche Steinköpfe als Lehrlinge hatten, war es kein Wunder, dass die Ailuranthropen sich bei anderen Völkern Schutz suchen mussten. Obwohl mein Geist mit dieser Tatsache noch nicht ganz klar kam. Es ergab einfach keinen Sinn.

Der Tempel war zwar verlassen und zerstört, aber das erklärte noch lange nicht, warum die Bewohner dann zu den Elfen gegangen waren.

Aman ließ sich neben seine Sicuti nieder. „Am besten ihr erzählt von Anfang an, damit wir es verstehen können. Von dem Moment an, als Bastets Tempel überfallen wurde.“

Ravic kniff die Augen leicht zusammen. „Warum sollte ich einem Hund etwas erzählen? Geh zu deinem Volk und lass dir von ihnen berichten!“

Das Knurren das Aman ausstieß, ließ seinen Brustkorb vibrieren und Ravic rutschte vorsorglich näher an mich heran.

Vinea schüttelte den Kopf. „Also wenn man dich so reden hört, könnte man glauben du seist nicht intelligenter als ein Felsbrocken.“

Nun war es Ravic der leise grollte. „Besser ein Fels als ein steinköpfiger Hund.“

Destina klatschte laut in die Hände und sicherte sich damit die Aufmerksamkeit der ganzen Gruppe. Selbst Nebka hörte für einen kurzen Moment auf Himbeeren zu naschen. „Euch sollte klar sein, das Streitereien uns nicht weiter bringen“, maßregelte sie Aman und Vinea. Dann wanderte ihr strenger Blick auf Ravic und Kek. „Und euch wurde sicher beigebracht, Erwachsenen mit einem gewissen Respekt zu begegnen, auch wenn sie nicht zu eurem Volk gehören. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass es bei euch Gang und Gebe ist, Älteren die ganze Zeit Beleidigungen an den Kopf zu werfen. So jedenfalls habe ich die Ailuranthropen nicht kennengelernt.“

Janina schnaubte. „Nee, beleidigen tun sie dich nicht, aber sie zerstören deine Einrichtung und versuchen ständig dich zu ermorden.“

„Einmal!“, platze ich heraus. „Ich habe es nur ein einziges Mal probiert!“

„Einmal ist schon zu viel!“

„Die Reden in meinem Geist sagten mir, du seist eine Gefangene!“

„Gott, es geht also wirklich dümmer als Plankton!“

„Schluss jetzt“, schnitt Destina mir das Wort ab, als ich den Mund wieder öffnen wollte.

Ich funkelte Janina an und in diesem Moment streckte sie mir doch Tatsächlich die Zunge raus. Dabei achtete sie vorsorglich darauf, dass wirklich nur ich es sah. Am liebsten hätte ich irgendwas nach ihr geworfen, doch ich war nicht so ein steinköpfiges Natis wie sie, ich wusste mich zu beherrschen. Und im Moment gab es wirklich wichtigere Dinge, als sich mit ihren Launen herumzuplagen.

Destina wandte sich wieder den beiden Lehrlingen zu. „Und würde ich euch höflichst bitten und zu berichten, was in den letzten acht Jahren geschehen ist. Es ist wichtig für die Krieger. Und so wie es aussieht, auch für euer Volk.“

Ravic zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen, doch bevor ein Wort seine Lippen verlassen konnte, hatte Kek ihm bereits den Elenbogen in die Seite gerammt und brachte ihn damit sehr wirksam zum Schweigen.

„Ich werde es euch erzählen.“ Kek zog die Beine in den Schneidersitz und obwohl seine Worte an alle gerichtet waren, lag sein Blick doch auf mir. „Mein großer Brestern Seyed war damals im Tempel angestellt. Er war Pfleger der Gärten und von ihm weiß ich auch was geschehen ist.“ Er verstummte kurz, als würden ihm die Erinnerungen an seinen Brestern schmerzen. „Es war der Tag der Schöpfung und alle haben gefeiert. Viele der Krieger sind an diesem Tag nach Hause zu ihren Familien gegangen, um bei diesem Fest mit ihnen zusammen zu sein. Er hat mir von dem Fest berichtet, von dem Bühnenstück mit der Geschichte unseres Volkes und dem großen Festmahl danach. Dann wurde zum großen Lauf aufgerufen und die Tempelbewohner haben sich auf der Wiese am Waldrand versammelt.“

„Und dann kamen die Magier aus dem Wald.“ Ja, an diesem Augenblick erinnerte ich mich nur zu genau. Alle waren in Panik ausgebrochen. Die Lehrlinge hatte man sofort in den Tempel geschickt, damit sie durch das Portal fliehen konnten und die Krieger waren an die vorderste Front gerückt, um uns die Zeit zu verschaffen, die wir brauchten. Doch nichts hatte so geklappt wie es sollte.

Kek nickte nur. „Die Magier waren an diesem Tag wohl in der Übermacht und die Unterstützung durch die Lykanthropen ist nicht so schnell gekommen, wie man es sich erhofft hatte.“

„Unser oberster Priester war krank“, erklärte Vinea. „An diesem Tag war es für ihn schwierig gewesen, sich der Macht Seths zu bedienen.“

„Das habe ich später auch gehört“, sagte Kek. „Mein Brestern Seyed war im Tempel gewesen, als uns die ersten Krieger zu Hilfe kamen. In dem Moment sind die Magier wohl in den Tempel eingedrungen und haben das Portal mit Magie befeuert. Keiner weiß genau was geschehen ist, nur das viele Ailuranthropen plötzlich in das Tor gesogen wurden – auch Occino.“

Mein Blick legte sich wieder auf die schlafende Anima. Pascal saß neben ihr und hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt, als wollte er sie mit dieser Geste beruhigen. Doch dass einzige was ihren Geist im Moment ruhig stellte, waren wohl die Mohnblumen. Ihr Herz war tot und sie hatte das Tigerauge verloren. Ich konnte nur hoffen, dass sie daran nicht zerbrach.

„Keiner weiß genau warum, aber irgendwann hat Sachmets Brut sich zurückgezogen, aber nicht ohne den Tempel bis auf die Grundmauern zu zerstören. Kurz darauf stellten die Priester fest, dass mit dem Verschwinden der Magier und Hexen auch das Tigerauge verschwunden war, doch Sachmets Brut behauptet bis heute steif und fest, dass sie es nicht genommen haben.“ Er drückte die Lippen fest zusammen. „Sie lügen, wir wissen es, aber egal wie oft wir zu ihnen in den Tempel vorgedrungen sind, wir haben es nicht finden können.“

„Weil sie es nie hatten.“

Ravic und Kek sahen mich an, als sei mir plötzlich ein Geweih gewachsen.

„Natürlich haben sie es genommen. Wo soll es denn sonst sein?“, sagte Ravic unwirsch. 

Ich runzelte die Stirn. „Priesterin Tia hatte es Anima gegeben, damit sie sich damit zu den Lykanthropen in Sicherheit begibt, aber die greifenden Winde haben sie vorher erwischt und in das Portal gesogen.“  

„Bedeutet das …“ Keks Blick flog zu Anima. „Oh Göttin. Bastet sei es vergolten, wir sind …“

„Nein“, unterbrach ich ihn. „Wir haben es nicht mehr.“ Ich rieb mir mit der Hand über die Stirn, während ich die letzten Minuten auf der Erde Revue passieren ließ. Wir hatten es geschafft uns selber ein neues Portal zu bauen und mit dem Tigerauge konnten wir es auch öffnen, doch kurz bevor wir es benutzen konnten, war General Silvano Winston mit seinen grünen Kriegern aufgetaucht und hatte versucht uns aufzuhalten. Es war ihm nicht gelungen, doch im letzten Moment hatte er Anima Bastets Macht entreißen können.

Wir hatten es zurück nach Silthrim geschafft, doch das Tigerauge war auf der Erde zurück geblieben.

Keks Augen bekamen einen katzenhaften Zug. „Was bedeutet, ihr habt es nicht mehr? Was ist geschehen?“

„Es wurde gestohlen. Wir hatten keine Chance es zurück zu bekommen.“ Seinem fassungslosen Blick hielt ich stand. „Ihr versteht das nicht. Dort wo wir waren ist es so ganz anders als hier. Wir waren auch keine acht Jahre, sondern nur acht Tage weg. Acht Tage in denen viele von uns gestorben sind. Wir wurden gejagt und befanden uns auf der Flucht. Ich kann nicht einmal sagen, ob wir alle gefunden haben die durch das Portal gesogen wurden. Das Occino zu uns gestoßen ist, das war … Bastet muss unsere Schritte gelenkt haben.“

„Aber das Tigerauge …“

„Es ist weg.“ Ich drückte die Lippen einen Moment aufeinander. „Und wir können nichts dagegen tun.“

Plötzlich fauchte Ravic mich an. Er schmiss die Himbeeren weg und sah dabei so wütend aus, als wollte er damit jemand Schmerzen zufügen.

„Ravic“, sagte Kek leise. „Sie können …“

„Sei still!“ Er sprang auf die Beine, wirbelte herum und stampfte mit wütenden Schritten davon.

Wir konnten ihm nur verwirrt hinterher sehen.

„Seine Brestern liegt im Sterben“, sagte Kek leise. „Mit dem Tigerauge hätte sie sicher gerettet werden können, aber so …“ Unbeendeten Wortes schüttelte er den Kopf. „Seit Bastets Macht verschwunden ist, muss das Volk leiden. Es wird jeden Tag schlimmer.“

„Ich versteh nicht. Warum …“ Ich runzelte die Stirn. „Priesterin Tia hat das Tigerauge an Anima weiter gegeben. Warum hat sie es euch nicht gesagt?“

Kek hob den Blick. In seinen Augen lag der Schmerz eines ganzen Lebens. „Priesterin Tia ist beim Angriff auf dem Tempel gestorben.“ Er seufzte. „So viele sind seit dem gestorben.“

Priesterin Tia war zurück in die Macht gefahren? Aber nein! Das durfte nicht sein! Wir brauchten sie doch, sie war wichtig für das Volk.

Aman neigte den Kopf leicht zur Seite. „Was bedeutet, so viele sind seit dem gestorben?“

Einen Moment sah es so aus, als wollte Kek dem Lykanthropen in gewohnter Manier das Wort verweigern, doch dann schüttelte er nur resigniert den Kopf. „Es begann schleichend. Am Anfang wurde es nicht gemerkt, zu sehr waren die Ailuranthropen damit beschäftigt das Bastets Macht wieder an sich zu bringen. Die Priester haben mit den Tempeln der Elfen und Nymphen zusammengearbeitet. Unsere Hoffnung baute darauf so zu Occino und dem Tigerauge zurück zu finden, doch nichts was sie taten brachte den erhofften Erfolg und Sachmets Brut behauptete steif und fest, es nicht genommen zu haben.“ Er schnaubte. „Wie hätten wir den glauben können, dass sie einmal Wahr sprechen, wo sie doch sonst nur Unheil bringen?“

Das verstand ich. Wäre ich nicht in das Portal gesogen worden, hätte ich es auch geglaubt. Es war einfach das Naheliegest.

„Und dann verstanden die anderen Völker plötzlich wie angreifbar wir ohne die Macht und Occino waren. Die meisten von ihnen ließen uns in Frieden, aber sie stellten den Handel mit uns ein. Ohne die Macht unserer Göttin war es in unserem Land nicht mehr sicher. Andere Völker begannen in unsere Dörfer einzudringen und plünderten alles, dessen sie habhaft werden konnten. Währenddessen breitete sich die Krankheit schleichend aus. Es war der Beginn vom Untergang der Ailuranthropen.“

Meine Stirn runzelte sich. „Ich verstehe nicht.“

„Das Land.“ Er machte eine weitausholende Bewegung mit den Armen, die alles um uns herum mit einschloss. „Es begann zu vertrocknen. Die Magie wich aus Ailuran und ließ nichts all Dürre und Trockenheit zurück. Flüsse und Seen vergifteten sich selber. Pflanzen starben und ließen nichts als karge Land zurück, auf dem nicht einmal mehr Gras wuchs.“

„Aber …“ Vinea schüttelte unverständlich den Kopf. „Wie ist das möglich? Das Land existierte schon lange vor den Ailuranthropen. Es wurde von Chnum erschaffen und hat nichts mit der Entstehung der Völker zu tun.“

„Das nicht“, sagte Aman. „Aber die Steine der Götter haben ihre ganz eigene Magie und nach so vielen Millennien sind sie auf ihre Art mit ihrem Land verbunden. Sie sind wie eine Energiequelle und wenn die verschwindet …“

„Dann stirbt das Land“, vollendete ich den Satz. Einen Moment begegneten sich unsere Blicke und ich sah wieder das Leid in seinen Augen. Doch ich hatte kein Mitgefühl für ihn.

Vinea hatte mir einmal gesagt, dass Aman daran glaubte anderen Unglück zu bringen. Als sie es mir erzählt hatte, hatte ich es als unwahr abgetan. Doch jetzt wusste ich es besser. Weil er mich aufgehalten hatte, war Gillette tot. Hätte er mich damals nur gehen lassen, wäre es vielleicht anders gekommen, doch nun würde ich meinen Amicus nie wieder lachen hören und sein Herz Anima war gebrochen.

Kek bekam von dem kurzen Blickwechseln nichts mit. Er rieb sich über das zerzauste Haar und zum ersten Mal sah ich ihn mir wirklich genau an. Er wirkte viel zu mager und sehr ungepflegt. Die Haut war staubig und der Lendenschurz alt und zerschlissen. In so etwas hätte meine Mina mich nicht mal als kleines Kätzchen zum Spielen herumlaufen lassen.

Kek machte einen wirklich schäbigen Eindruck, aber wenn ich nun Geistreden daran hielt, dann fiel mir auf, dass auch Ravic nicht besser ausgesehen hatte.

„Nach und nach wurden auch die Ailuranthropen krank“, berichtete der Lehrling weiter. „Erst waren es nur vereinzelte Fälle, doch von Woche zu Woche wurden es mehr. Nahrung wurde knapp und Wasser mussten wir uns aus Ellan holen. Doch egal was wir taten, die Ailuranthropen starben. Es war immer das gleiche. Erst waren sie etwas verwirrt, dann nahmen sie ab, obwohl sie gegessen haben. Sie bekamen furchtbare Kopfschmerzen und irgendwann sind sie einfach umgefallen. Die Heiler konnten nichts dagegen tun. Die Ailuranthropen fielen einfach, so schwach waren sie und dann konnten sie nur noch auf den Tod warten. Ganze Dörfer sind so gestorben.

Oh … Göttin.

„Dann konnten die Frauen keine Natis mehr bekommen. Nur noch wenige wurden schwanger und selbst wenn sie sie bis zum Ende halten konnten, so kamen sie fast immer tot zur Welt. Seit vier Jahren gab es nun gar keine neuen Natis mehr.“

Asokan hatte aufgehört Himbeeren zu naschen. Der Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er wirkte genauso ungläubig, wie ich mich fühlte.

„Dann begannen die Sermos zu sterben. Mit jedem Tag wurden sie weniger und schwächten uns damit umso mehr.“ Er schüttelte den Kopf, als könnte er diese Wahrheiten nicht glauben, obwohl er sie miterlebt hatte. „Mit jedem Tag wurden wir schwächer. Keine Nahrung, kein Wasser, keine Sicherheit. Wir wurden Opfer der Natur. Irgendwann kam ein großer Krieger der Ailuranthropen zu uns. Er sagte er habe mit den Elfen gesprochen und mit ihnen einen Handel ausgemacht. Wenn wir ihre Grenzen zum Land der Harpyien bewachten, würden sie uns bei sich dulden. Die Ailuranthropen verließen Ailuran und leben seitdem am Rande von Ellan in den Höhlen vom Dispertiogebirge.“

„Was?!“ Das konnte nicht wahr sein!

Kek zuckte nur mit den Schultern. „Wir leben nun schon mehr als fünf Jahre in den Ausläufern des Dispertiogebirges und auch wenn wir dort Nahrung und Wasser haben, die Krankheit schreitet immer weiter fort. Wir sterben aus. Mit jedem Tag wird es schlimmer.“

Nach diesen Worten wurde es sehr still. Nicht einmal Insekten wagten es in der hereinbrechenden Dunkelheit einen Laut von sich zu geben. Was Kek da erzählte war einfach so unbegreiflich, dass ich es nicht glauben konnte. Die Ailuranthropen sollten aussterben? Aber … „Mein Fafa! Was ist mit meiner Familie?“ Ich packte seine Hand so fest, dass meine Finger davon schmerzten. „Was ist mit Sian? Sag es mir!“

Kek verzog das Gesicht und versuchte sich von meinem Griff frei zu machen, doch ich drückte so fest, dass es ihm nicht gelang. Er gab einen Laut des Schmerzes von sich, doch ich realisierte das nicht wirklich.

„Lilith“, sagte John da. Als ich nicht reagierte, weil ich so auf eine Antwort hoffte, erhob er sich und hockte sich an meine Seite. Seine Hand legte sich warm und schwer auf meine Schulter. „Lilith, lass los.“

„Aber …“

„Du tust ihm weh.“ Sanft griff er nach meinem Handgelenk und zog daran. „Es hilft niemanden, wenn du ihn verletzt.“

Nein, natürlich nicht, aber … meine Familie! Was war mit ihnen? Warum nur hatte das geschehen müssen.

Ich spürte es mit einem Mal so stark wie mein Herz schmerze, spürte den Schmerz der Angst, des Verlustes. Gehörten mein Fafa und meine Mina zu jenen, die bereits der Krankheit erlegen waren? Und was war mit meinen Brestern? Was war mit Sian?

Ich ließ von Kek ab und schlug die Hand vor den Mund. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Warum nur meine Familie? Ich war es doch die zu nichts nütze war, ich war doch die kleine Lilith. Immer zu klein, die Letzte, die die niemand brauchte. Warum nur hatte es mich dann nicht getroffen?

„Hey, Lilith.“ Als John nach meiner Wange greifen wollte, schlug ich seine Hand weg und fuhr auf. Ich konnte nicht mehr sitzen, konnte nicht mehr ruhig auf dem Boden hocken, während meine Welt gerade Stück für Stück zerbrach. Es war alles weg. Mein Volk war dem Untergang geweiht und ich konnte nichts dagegen tun. Nicht ohne das Tigerauge. Aber das war unerreichbar. Und selbst wenn ich es hätte, was sollte ich noch damit. Kek hatte gesagt das die meisten Ailuranthropen bereits tot waren. Wenn meine Familie weg war, dann konnte selbst Bastets Macht sie nicht zurück bringen.

„Geht“, sagte Aman plötzlich und beobachtete wie ich zwischen den Himbeerranken hin und her lief, während ich immer weniger Luft bekomme. „Lasst sie alleine.“

John kniff die Augen zusammen. „Ich werde sie in diesem Zustand sicher nicht …“

„Tu einmal etwas das ich dir sage!“, fuhr er ihm über den Mund. „Lass Lilith alleine. Sofort!“

Ich bekam es gar nicht richtig mit, bemerkte kaum wie die anderen sich erhoben und gehen wollten.

In dem Moment schallte wieder das Heulen über das Tempelgelände. Die Sonne war fast am Äther verschwunden und erhellte das Land nur noch mit dem rotschimmernden Zwielicht des Abends.

„Pravum“, flüsterte Kek und zog einen alten Doch aus der Lederscheide an seinem Gürtel.

„Pravum?“ Janina runzelte die Stirn. „Was soll das sein?“

„Das Biest das hier haust. Es tötet jeden der diesen Ort aufsucht.“

Das Heulen brach ab und begann dann gleich von neuem. Noch eindringlicher als vorher.

Kek ließ seinen Blick wachsam über die die Ruinen gleiten. Auch die anderen wirkten nun aufmerksamer. Nebka hatte sich halb unter Acco verkrochen und kauerte mit zitterndem Leib unter ihm.

„Ravic und ich sind hergekommen um es zu töten“, erklärte er. „In den Höhlen ist es so … ich weiß nicht. Wir dachten die Ailuranthropen brauchten einen Erfolg. Die meisten haben sich bereits aufgegeben und jetzt wo auch noch Ravics Brester krank geworden ist …“

„Seit ihr von allen Göttern verlassen?!“, fuhr Vinea den Lehrling an. „Ihr wolltet ein Pravum jagen?!“

Kek kniff die Augen zusammen. „Du weißt nicht wie das ist, wenn alles um dich herum stirbt, wenn du nichts mehr hast auf dass du dich verlassen kannst.“

Ich röchelte. Ich bekam immer weniger Luft. Was ich hier gehört hatte, es konnte einfach nicht stimmen.

„Und deswegen wollt ihr euer Leben einfach wegschmeißen?“

„Wir können auf uns aufpassen.“

„Keine … Luft … ich …“ Oh Göttin, ich bekam keine Luft mehr. Ich beuge mich nach vorne. Mein Blick verschwamm und plötzlich waren da Hände. Jemand drückte mich auf den Boden schob meinen Kopf zwischen meine Knie. Ein Knurren lag in der Luft.

„Ganz ruhig.“ John strich mir über den Kopf und ich brachte einfach nicht die Kraft auf ihn wegzustoßen. „Tief einatmen, gleich geht es wieder.“

Ich wollte nicht dass es wieder ging, ich wollte dass dieser Schmerz nachließ. Ich wollte nicht glauben, was ich gehört hatte. Bitte Bastet, mach dass es nicht wahr ist. Bitte, ich flehe dich an.

Das Heulen verstummte.

Kek ließ seinen Blick wieder über die Ruinen schweifen. „Es ist auf der Jagd.“

„Was soll das heißen?“ Janina klammerte sich an Luans Arm. „Was jagd es?“

Pascal schluckte. „Das will ich eigentlich gar nicht so genau wissen.“

Langsam bekam ich wieder besser Luft. Und erst jetzt bemerkte ich den vertrauten Geruch, der mein Herz ständig stärker schlagen ließ.

Aman …

Er war hier, er hockte direkt vor mir. „Weiche von mir“, fauchte ich ihn an, doch es wurde eher ein Krächzen.

„Lilith …“

„Geh weg!“ Ich schlug nach ihm, bemerkte erst dass ich meine Krallen ausgefahren hatte, als mir der Geruch nach Blut in die Nase stieg und noch während mein Ruf über die zerstörten Mauern des Tempels hallte sah ich die drei tiefen Kratzer auf seiner Wange. Sie bluteten so stark, dass ich das Rot selbst in der Dämmerung erkennen konnte.

Aman drückte die Lippen zusammen, erhob sich dann wortlos und wollte verschwinden, doch in dem Moment kamen hastige Schritte auf uns zu. Gleich darauf tauchte Ravic in unserem Sichtfeld auf. „Da kommt was auf uns zu!“

Kek griff seinen Doch fester. „Pravum?“

„Ich weiß nicht.“ Hektisch sah er über die Schulter und lauschte in die aufkommende Dunkelheit, doch das Heulen war verstummt. Niemand gab einen Ton von sich und doch war es in dieser Nacht nicht still. Ich konnte es hören, etwas kam auf uns zu.

 

°°°°°

Kapitel Drei

Bevor ich überhaupt Geistreden darüber halten konnte, lag der gläserne Dolch bereits in meiner Hand. Ich wusste nicht was wir zu erwarten hatten, doch ich wollte gewappnet sein. Vielleicht war es ja das Biest. Oder Sachmets Brut, die an diesen Ort ihrer unverzeihlichen Schandtaten zurückkehrte.

Voller Anspannung richteten ich all meine Sinne auf die Geräusche der anbrechenden Nacht und erhob mich langsam vom Boden. Ich verbot mir Geistreden über das Gesagte zu halten, verbot mir das Geschehene in meinem Geist zu wälzen, oder ein weiteres Mal in Panik zu verfallen – jetzt musste ich wachsam sein.

Allein durch Willenskraft kontrollierte ich meine Atmung, zwang mein Herz zur Ruhe.

Ravic und Kek rückten ein wenig näher zusammen und John stellte sich hab hinter mich. Acco hatte sich das Fell gesträubt und selbst Destina schien bereit für alles was da auf uns zukam. Nur Kaio, der Sermo von Gillette regte sich nicht. Er lag noch immer in den Schatten der Ruinen, für jedermann unsichtbar, als gehörte er nicht mehr zu dieser Welt.

Aman positionierte sich vor seiner Sicuti, die ihn dafür böse anfunkelte und Luan schob Janina nach hinten zu Pascal, Asokan und Nebka, während wir im Zwielicht des Abends weiter auf die Geräusche achteten, die sich uns nährten.

Wer oder was auch immer dort kam, sie bewegten sich leise und vorsichtig, so als wollten sie keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Und doch waren meine Ohren gut genug, dass ich sie hören konnte. Leise Schritte, das Flüstern des Windes, ein Murmeln aus dem finsteren Wald.

Ich spannte mich an, spähte in die Dämmerung, die lange Schatten warf und alles zu einem Trugbild werden ließ, konnte außer den Blendwerken aber nicht erkennen.

Die Geräusche kamen näher. Schritte auf leisen Pfoten. Einen Moment später verstummten sie. Für kurze Zeit herrschte Ruhe, dann trat an ihre Stelle leises Murmeln, dass mich die Ohren spitzen ließ. Im nächsten Moment hörte ich ihn. „Kek?!“ Pause. „Ravic?!“

Aber das war doch … das … was …

„Wo seid ihr? Kommt raus!“

„Oh Göttin.“ Es war nur ein Hauch den ich ausstieß, dann fiel der gläserne Dolch ohne mein Zutun zu Boden und im nächsten Moment rannte ich bereits auf die Stimme zu.

„Lilith!“, rief John noch nach mir, doch ich ignorierte ihn.

„Ravic! Kek! Wir wissen dass …“ Die Stimme verstummte, als sie mich kommen hörte.

Ich rannte um ein großes Trümmerstück des alten Speisesaals herum und da entdeckte ich die beiden Krieger auf ihren Amentrums. Sie drehten sich genau in dem Moment zu mir herum, als ich um die Ecke hetzte und kaum einen Meter vor ihnen stehen blieb.

Bei Bastet …

Ich war so schnell gerannt dass mein Atem nur noch keuchend ging und starrte die beiden an, als seien sie eine Illusion, die mein Geist geschaffen hatte, weil ich die Wahrheit nicht wahrhaben wollte. Das konnte nur eine Täuschung sein, oder?

Ich kniff die Augen zusammen, nur um sie gleich darauf wieder aufzureißen, doch sie waren noch immer da und sie konnten meinen Anblick wohl genauso wenig fassen, wie ich den ihren.

Der eine Krieger war muskulöser als ich ihn in Erinnerung hatte. Das blonde Haar war mit dunkeln Rosetten durchzogen, die sich sogar auf seiner Haut zeigten. Früher hatte dieses markante Gesicht immer gelächelt und einen Scherz auf den Lippen gehabt, nun wirkte es verkniffen und vom Leben gezeichnet. Über seine Schulter, den ganzen Rücken hinunter zog sich eine hässliche, gezackte Narbe, die sein Fleisch leicht deformiert wirken ließ und die gelben Leopardenaugen waren von einer Kälte, die mich frösteln ließ.

Er saß hoch oben auf einem Amentrum, ein Sermo der bereits sein drittes Lebensjahr hinter sich gebracht hatte und damit nun die Fähigkeit besaß, sich bei Bedarf in ein pferdegroßes Reittier zu verwandeln. In diesem Falle ein riesiger Leopard – oder genauer, eine Leopardin. Auch sie war vom Leben gezeichnet. Etwas musste sie vor langer Zeit stark verletzt haben. Ihr halber Kopf war vernarbt. Auf der linken Seite gab es kein Fell mehr, nur noch die blanke Haut. Das Auge war blind und das Ohr fehlte ganz. Und sie hatte keinen Schwanz mehr, nur noch einen kleinen Stummel.

Neben ihr thronte ein weiterer Krieger auf seinem Amentrum. Das kurze, weiße Haar fiel ihm strähnig in die Stirn und der Körper wirkte ausgezehrt. Das einst so weiche Gesicht war knochig und hohlwangig, weswegen das markante Kinn noch deutlicher zu Tage trat. Die Augen wirkten müde und viel älter als sie waren und mit seinem Arm stimmte etwas nicht. Er wirkte steif, als gehörte er nicht zum Körper dazu.

Dieser Krieger ritt auf einem wunderschönen Schneeleopard. Zumindest war sie einmal schön gewesen. Nun wirkte das Fell stumpf und die Augen trüb.

Sie sahen schäbig aus, verkommen, dreckig, genau wie Kek und Ravic und trotzdem erkannte ich sie. Das waren mein Amicus Jaron und mein Brestern Licco.

„Oh Göttin.“ Ich schlug die Hände vor dem Mund und konnte nichts dagegen tun, dass mir plötzlich Tränen in den Augen standen. Mein Brestern, er lebte.

„Lilith?“ Licco sah mich so ungläubig an, als glaubte auch er einem Trugbild erlegen zu sein. Als er von seinem Amentrum stieg, waren seine Bewegungen unbeholfen. Er machte einen Schritt auf mich zu, blieb dann aber wieder stehen. „Bei Bastet, bist du es wirklich?“

Hinter mir wurden Schritte laut. Die anderen waren mir gefolgt, doch das war mir gleich. Ich flog nur so auf meinen Brestern zu, warf mich an seinen Hals und drückte ihn so fest an mich, dass er nicht einfach wieder verschwinden konnte. Dabei liefen mir die Tränen über die Wangen und ich konnte nicht aufhören seinen Namen zu flüstern. Licco, Licco, immer wieder Licco.

„Oh Bastet.“ Auch Licco schlang seine Arme um mich und drückte mich so fest an sich, dass ich glaubte er würde mich durchbrechen. „Bei Bastet, Lilith, oh Göttin, wie ist das möglich?“

„Lilith?“ Nun schien auch Jaron verstanden zu haben, wer ich war. „Aber wie …“ Sein Blick flog zu den anderen, zu der seltsamen kleinen Gruppe, die wir geworden waren. Aman, Vinea, Janina, Destina und Luan. Asokan, Nebka, Acco, Kek und Ravic. Und auch zu John. Er musterte ihre Kleidung, ihr Gebaren, ihre Gesichter und schien etwas in ihnen zu erkennen, was ihn dazu brachte seine Hand auf den Dolch an seinem Gürtel zu legen. Misstrauisch, wachsam, vorsichtig.

Licco löste sich von mir, aber nur um mein Gesicht zwischen seinen Händen festzuhalten. „Lilith, bei unserer Göttin, wie ist das möglich? Wir dachten … nach dem Angriff … oh Göttin, du warst verschwunden, wir konnten dich nicht finden.“

„Das Portal, ich wurde eingesogen und konnte nicht zurück und … oh Göttin, Licco, sie haben gesagt … sie  …“

„Nicht weinen.“ Er strich mir mit dem Daumen die Tränen von den Wangen und zog mich dann wieder an seine Brust. „Nicht weinen, Nasan, du bist zu Hause, alles wird gut. Schhh.“

Jaron ließ seinen Blick argwöhnisch über die Gruppe gleiten. „Könnte mir jemand erklären, was hier geschehen ist?“ Sein Blick blieb auf den Lehrlingen hängen. „Ravic?“

Der Angesprochene leckte sich über die Lippen. Unter Jarons Blick schien er sich sehr unwohl zu fühlen. „Wir haben sie hier gefunden. Sie haben Occino bei sich.“

Jarons Augen weiteten sich ungläubig. Dann flog sein Blick zu mir. „Anima? Sie ist … bei euch.“

„Sie schläft“, erklärte Kek und deutete nach hinten, wo Anima mit Pascal und Kaio zurückgeblieben war.

„Und … Gillette?“ Er schien diese Frage kaum über die Lippen zu bekommen. „Was ist mit Gillette?“

Ich wandte den Blick ab, vergrub mein Gesicht an Liccos Brust. Ich konnte es ihm nicht sagen. Nicht jetzt.

Luan räusperte sich. „Es tut mir leid, aber wir waren zu spät. Gillette ist gestorben, bevor wir ihn retten konnten.“

Der Schmerz flammte nur kurz in Jarons Augen auf, dann war da wieder nur diese Kälte, die er aus allen Poren auszuscheiden schien. „Gillette ist tot. Aber Occino lebt.“

„Occino ist gebrochen“, sagte Aman leise. „Sie trauert um Gillette und um das Tigerauge.“

„Das Tigerauge?“ Liccos Kopf flog so schnell herum, dass ich seinen Nacken knacken hörte, doch ich ließ nicht von ihm ab, klammerte mich weiter an seinen Hals aus Angst, dass er sich sonst einfach in Luft auflöste. „Was sprichst du da?“

„Das Tigerauge wurde ihnen gestohlen“, erklärte Ravic und zeigte auf die kleine Gruppe, als wolle er alle Schuld von sich weisen. „Sie hatten es die ganze Zeit, nicht die Magier.“

Licco senkte ungläubig den Blick auf mich. „Spricht er wahr?“

Ich nickte leicht. „Priesterin Tia hat es Anima gegeben, bevor die greifenden Winde sie in das Portal gezogen haben, doch … wir haben es nicht mehr.“

„Was soll das heißen?!“, forderte Jaron zu wissen. Als wir nicht schnell genug antworteten, sprang er von seinem Amentrum und stürmte auf mich zu. „Was bedeutet: ihr habt es nicht mehr? Wo ist es?“ Er wollte nach mir greifen, doch Licco drehte sich mit mir im Arm so, dass er ins Leere griff und fauchte meinen Amicus warnend an.

Auch aus der Gruppe heraus tönte ein leises Grollen und ich musste gar nicht erst nachsehen um zu wissen, dass es von Aman kam.

„Antworte mir!“, verlangte Jaron.

„Rede nicht so mit ihr!“, fauchte Licco ihn an.

Zwischen den beiden Männern entstand eine feindliche Atmosphäre, bei der sich mir die Härchen im Nacken aufstellten.

„Wir brauchen das Tigerauge!“, fuhr Jaron meinen Brestern an. „Du weißt dass wir es brauchen. Das Volk geht zugrunde!“

„Das Volk ist bereits zugrunde gegangen“, erwiderte Licco leise und drückte mich ein wenig fester an mich. „Das weißt du genauso wie ich. Doch wenn Occino zurück ist, dann haben wir wieder Hoffnung.“

„Das ist nicht genug.“ Sein kalter Blick richtete sich auf mich. „Wo ist es Lilith, wo ist das Tigerauge!?“

Ich war viel zu verwirrt um sofort zu antworten. So hatte Jaron noch nie mit mir gesprochen. Ich konnte mich nicht mal entsinnen, dass er überhaupt mal mit jemanden so gesprochen hatte. Ich wusste nicht wer das war, aber das war nicht der Jaron den ich kannte.

„Antworte“, knurrte er.

Im gleichen Moment machte Aman sich mit einem tiefen Grollen bemerkbar. „Seit wann ist es bei den Ailuranthropen üblich, dass die eigenen Leute so angegangen werden?“

„Halt dich da raus, Lykanthrop.“

„Nicht wenn du deine Zunge nicht im Zaun halten kannst.“

„Halt dich da raus, Aman!“, fuhr ich ihn nun an. Ich wollte nicht dass er mich verteidigte. Ich wollte nie wieder etwas mit diesem Krieger zu tun haben. Er war unwürdig, eine Plage und eine Last, und ich würde ihm niemals verzeihen, was geschehen war.

Er begegnete meinem Blick, doch dieses Mal war darin nicht der vergrämte Geist zu sehen. Es war ein Funke von Wut, den ich nicht einordnen konnte, ein Gefühl, das ich nicht benennen konnte.

„Jeder macht Fehler, Lilith“, sagte er leise.

„Doch deiner ist unverzeihlich!“ Ich ließ Licco los und fuhr zu ihm herum. „Es ist deine Schuld! Bleib weg von mir, du Unglücksbringer!“

„Nenn mich nicht so“, knurrte er.

„Warum, wenn es doch wahr ist? Es ist deine Schuld und das weißt du ganz genau!“

„Was ist seine Schuld?“ Jaron fixierte den Krieger. „Das Tigerauge? Ist es wegen ihm weg?“

Ich sah zu meinem Amicus. Wegen ihm ist Gillette tot. Die Worte lagen mir schon auf der Zunge, doch meine Geistreden hielten mich davon ab sie laut auszusprechen. „Nein. Bastets Macht wurde von dem Kriegergeneral genommen und ist für uns nun unerreichbar.“

„Der Kriegergeneral?“

Wie sollte ich das nur erklären? Ich konnte doch selber kaum glauben was geschehen war, wie sollte ich es ihnen da begreiflich machen?

„Sprich endlich!“, forderte Jaron mich auf. „Wo bist du die ganze Zeit gewesen? Was ist mit dem Tigerauge geschehen?“

Sein gesattelter Amentrum schlich hinter ihn. Diese Verletzungen, ich fragte mich wo er sie herhatte. Sie waren so schlimm, als hätte etwas versucht ihm bei lebendigem Leibe die Haut vom Gesicht zu ziehen.

Das Bild von einem kleinen Leopardenbaby erschien vor meinem inneren Auge. Süß, quirlig und immer mittendrin. Die kleine Mochica. Sollte dies das Baby von vor acht Tagen sein? Dieser Amentrum war das genaue Gegenteil. Kalt, düster und von einer Aura umgeben, die einem das Fürchten lehren konnte.

„Lilith!“, forderte Jaron mich erneut auf.

Es gefiel mir nicht, dass er in diesem Befehlston mit mir sprach, das passte gar nicht zu ihm. Seine Ausstrahlung, seine ganze Art war so anders als früher. War es das was das Leben auf Silthrim nun aus den Ailuranthropen machte? So wollte ich nicht werden.

Ich schüttelte den Kopf. „Du würdest es  mir nicht glauben.“

„Versuch es.“

Göttin, steh mir bei. „Die greifenden Winde, erinnerst du dich an sie?“

„Noch heute sehe ich sie im Land der Götter, wenn ich zurück zu dem Moment reise, an dem der Tempel über unseren Köpfen zusammen bricht.“ Geistesverloren tastete er nach Mochicas Kopf und strich über die narbige Haut. „Jede Nacht sehe ich sie.“

War es das, was mit Mochica passiert war? Hatte sie diese Verletzungen bei dem Überfall auf dem Tempel davon getragen? „Die greifenden Winde, sie brachten uns an einen seltsamen Ort. Aman, Acco und mich.“ Ich zeigte auf den Krieger und seinen Sermo und lehnte mich dann wieder an Liccos Brust. Seine Nähe tat gut. Licco war Familie, Licco bedeutete Sicherheit. „Wir landeten in einem Wald. Er roch dreckig und krank und dort wuchsen seltsame Bäume, geformt wie Kegel und mit Nadeln statt Blättern.“

Licco runzelte die Stirn. „Nadeln?“

Ich nickte. „Ja. Und es fiel Wasser vom Himmel. Regen nennen die Einheimischen dieses Wunder.“

Licco und Jaron sahen beide hinauf zum Himmel, als erwarteten sie, dass dieses Phänomen auch hier geschehen könnte, nur weil ich davon berichtete.

„Warum sollte Wasser vom Himmel fallen?“, wollte Jaron wissen. „Das ist nicht logisch.“

„Es fällt, damit die Erde es trinken kann.“ Bei seinem Stirnrunzelnden schüttelte ich nur wieder den Kopf. „Ich sagte doch, es war ein seltsamer Ort. Dort gab es auch einen Weg aus Stein, der keinen Anfang und kein Ende hatte, und Autos. Große Gefährte, die ganz alleine fahren und schnell wie ein Amentrum sind.“

Mein Brestern schaute mich an als hätte ich meinen Verstand verloren und tastete nach meiner Stirn. „Geht es dir gut?“

Dafür funkelte ich ihn an. „Schau nicht so, ich spreche wahr. Wenn du mir nicht glaubst, dann frag die anderen.“ Ich zeigte auf die kleine Gruppe. „Sie können dir meine Worte bestätigen.“

Er fragte nicht, aber die Zweifel blieben.

„Wie dem auch sei. Wir trafen auf Luan und Janina. Luan stammt auch aus Silthrim, aber er kam schon vor Jahrhunderten auf die Erde und fand keinen Weg zurück. Sie gehörten zu einer kleinen Gruppe, einer Familie, die bis auf John alle ihren Ursprung in dieser Welt haben. Sie …“

„Moment“, unterbrach Jaron mich. „Was heißt, dieser Welt? Willst du sagen, dass du in einer anderen Welt warst?“

„Willst du das nun hören, oder nicht.“

Er kniff die Augen leicht zusammen, ließ den Mund aber geschlossen.

„Vergelts“, kam es mir etwas zu schnippig über die Lippen. „Wie gesagt, wir trafen auf sie und sie nahmen uns mit. Und ja, mir ist sehr wohl bewusst, dass Luan ein Vampir ist, ihr braucht mich also gar nicht so ansehen. Doch auf der Erde sind die Völker alle Amicus und helfen sich. Sie haben uns geholfen.“

Luan hielt dem Blick der beiden Krieger stand, zog Janina aber ein wenig zu sich heran.

„Janina ist sein Herz. Sie ist zur Hälfte Magier, genau wie ihr Brestern und ihre Romina.“

„Sie ist … was?!“ Jaron sah die Erdlinge fassungslos an. Eine solche Mitteilung war einfach nicht zu glauben. Natürlich kam es auch hier vor, dass bei den Völkern untereinander Liebschaften entstanden, doch sie wurden verschämt und im Geheimen gehalten. Die Mentalität auf Silthrim verurteilte solche Beziehungen. Die Völker sollten sich nicht mischen. Vampire gehörten zu Vampiren. Und Ailuranthropen blieben bei Ailuranthropen.

Mein Blick glitt zu Aman, dessen Augen die gleichen Geistreden spiegelten wie die meinen. 

„So ist es dort nun einmal“, erklärte Luan. „Wir sind nur wenige und wir müssen im Verborgenen bleiben. Uns blieb gar keine andere Wahl als und zusammenzuraufen.“

Das verstanden die Krieger nicht. Ich konnte es ihnen nachfühlen, mir ging es nicht anders.

„Sie lebten zusammen in einem kleinen Haus“, erzählte ich weiter. „Und dort haben sie einen Kasten, der bewegte Bilder zeigt und zwei Schwänze hat.“

Janina schnaubte. „Hör sich das einer an.“

Ich ignorierte sie. „In diesem Kasten sah ich Gillette und Kaio und … sie wurden gejagt. Von den grünen Kriegern.“

Jaron grollte leise aus der Brust.

„Sie haben ihn gefangen und mitgenommen. Ich konnte ihn nicht befreien. Es waren Bilder der Vergangenheit. Als ich es sah, war es bereits passiert und bevor wir etwas unternehmen konnten, hörten wir von Naaru, ein Lehrling der Schriften hier aus dem Tempel.“

„Ich erinnere mich an sie“, sagte Jaron leise. „Sie hat ihren Sermo nur wenige Wochen vor mir erhalten. Ein Geschenk ihrer Eltern.“

Ich nickte. Es war nicht üblich dass außer den Kriegern die Leute einen eigenen Sermo besaßen. Dass war nur den wirklich guten betuchten Familien vorbehalten. „Auch sie wurde von den grünen Kriegern gejagt. Die Menschen, die Wesen die dort leben, sie hatten Angst vor ihr, deswegen wurde sie mit gläsernen Pfeilen beschossen. Sie hat es nicht überlebt.“ Ich schloss die Augen als ich mich an den Moment zurück erinnerte, als ich sie umringt von den grünen Kriegern zwischen den Büschen gefunden hatte. „Ich war zu spät.“ So wie immer.

„Aber du hast Nebka gerettet“, sagte John nach einem kurzen Moment des Schweigens und zog damit die Aufmerksamkeit auf sich.

Licco musterte ihn irritiert. Diese Hautfarbe, so etwas gab es auf Silthrim nicht.

„Das ist nicht genug.“ Ich drückte die Lippen aufeinander. Nie war ich für irgendetwas gut genug. Außer für diese eine Sache, die ich noch immer nicht verstand. „Danach haben wir uns auf die Suche nach Gillette gemacht. Wir kannten den Ort an den er gebracht wurde, doch er war nicht mehr dort. Stattdessen trafen wir auf den Kriegergeneral, der die Wesen aus Silthrim als seine persönlichen Trophäen ansieht.“ Jedenfalls war das das Gefühl, das er mir vermittelt hatte. „Er wollte uns nicht mehr gehen lassen und wir mussten uns rauskämpfen. Dabei wurde mit den gläsernen Pfeilen auf mich geschossen.“ Ich sah zu Licco auf. „Ich war tot. Für kurze Zeit bin ich in die Mächte eingekehrt.“

Licco sog die Luft scharf an. „Du warst was?“

„Tot.“ Ein Bild von einem leeren weißen Raum aus Nichts erschien vor meinem inneren Auge. Ein Lachen. Ein klingendes Geräusch wie ein liebliches Glöckchen. „Ich bin die Hoffnung und auf gewisse Art ist alles in mir vereint. Der Glaube, das Unheil, die Versuchung und das Vertrauen.“ Ich runzelte die Stirn. War ich wirklich Bastet begegnet? Woher sollte ich diese plötzliche Erinnerung sonst haben? Aber vielleicht war es auch einfach nur eine Erinnerung an eine Reise ins Land der Göttin. Ich wusste es nicht. „Ich bin gestorben und John hat mich zurück ins Leben geholt.“ Ich schenkte ihm ein leichtes Lächeln. „Er hat an meinem Lager gewacht, bis es mir wieder besser ging. Aber danach …“ Ich seufzte. „Der Kriegergeneral hat Luan gefunden. Wir mussten fliehen und haben gleichzeitig noch nach Gillette gesucht. Aber stattdessen haben wir Anima und das Tigerauge gefunden.“

Ich blickte wieder zu Licco hinauf. Es fiel mir einfacher darüber zu sprechen, wenn ich nur ihn ansah. „Der Küchenjunge Asokan war bei ihr. Und Vinea, die Sicuti von Aman. Aber sie war schwer verletzt.“ Ich geistredete an den Moment, als ich sie in der Höhle gesehen hatte. Mehr tot als lebendig. Ein Ast hatte sich durch ihren Leib gebohrt und der Arm war gebrochen. „John konnte sie retten, doch dazu mussten wir vorher in ein Heilerhaus der Menschen, um die nötige Ausrüstung zu besorgen. Es war nicht einfach, aber wir schafften es.“ Und Aman hatte es dort auch geschafft mich zu küssen. Nicht zum ersten Mal, aber am intensivsten. Ich schüttelte die Geistreden daran ab. Ich wollte es nur vergessen. Alles was mit diesem Krieger zusammen hing, wollte ich vergessen. „Und da roch ich ihn, Kaio.“

„Aber nicht Gillette“, fasste Jaron zusammen.

Mein Kopfschütteln war ihm Antwort genug. „Aman blieb dort um herauszufinden, woher der Geruch kam, während ich mit John zurück ins Lager fuhr um Vinea beizustehen. Und dort kam mir die Idee dazu ein eigenes Portal zu erschaffen, um zurück nach Hause zu kommen. Wir hatten alles was wir brauchten. Das Tigerauge, Occino und einen Erdling, der uns bei der Erschaffung des Portals helfen konnte. Wir mussten nur noch Gillette und Kaio retten, doch wir kamen zu spät.“ Ich musste schlucken, als ich mich an den Moment erinnerte, als ich den toten Leib meines Amicus fand. Die ganze Zeit hatte ich nach ihm gesucht, doch in der Apotheose hatte es nichts gebracht. „Wir fanden nur noch Kaio und dann verfolgte uns der Kriegergeneral wieder.“

Ich begegnete Jarons kaltem Blick. „Wir haben es geschafft zu entkommen und auch Gillettes Leib mit nach Hause zu bringen, doch das Tigerauge wurde uns auf der Flucht entrissen. Wir konnten nichts dagegen tun.“

„Ihr hättet bleiben müssen und es zurückholen!“, fuhr er mich an.

Ich kniff die Augen zusammen. „Rede nicht so mit mir. Wenn es möglich gewesen wäre, hätten wir es getan, doch er hat es Anima in dem Moment aus der Hand gerissen, als wir durch das Portal stiegen. Du weißt selber, dass es dann keine Möglichkeit gibt noch einmal zurückzukehren.“

„Stattdessen taucht ihr hier lieber mit leeren Händen auf!“

„Hätten wir wegbleiben sollen?!“

„Ja!“ Er machte einen wütenden Schritt auf mich zu, drehte sich dann aber abrupt um und griff nach Mochicas Zügeln. Doch anstatt aufzusitzen blieb er einfach vor ihr stehen. „Alles ist besser als in diesem Leid zu vegetieren und zusehen zu müssen, wie die Ailuranthropen nach und nach dahinsiechen.“

„Nein“, wiedersprach ich ihm. „Es ist besser wieder hier zu sein. Außerdem wurde mir von der Göttin eine Aufgabe übertragen. Sie selbst hat uns befohlen nach Silthrim zurückzukehren.“

„Die Göttin?“ Jaron schnaubte. „Sie hat zu dir gesprochen?“

„Sie hat durch Occino gesprochen.“

„Und sie hat sie sogar gezeichnet“, fügte John hinzu.

Die beiden Krieger der schauten erst ihn und dann mich an.

Licco Stirn bekam noch mehr Runzeln. „Sie hat dich gezeichnet?“

Ich zögerte mit der Antwort und wusste nicht einmal genau warum. „Ja.“ Ich biss mir auf die Lippe. „Als ich gestorben bin. Ich glaube ich bin ihr begegnet.“

Ich bin die Hoffnung und auf gewisse Art ist alles in mir vereint. Der Glaube, das Unheil, die Versuchung und das Vertrauen.

„Sie hat mich gezeichnet. Ich bin … ich bin eine Auserwählte.“ Bei den ungläubigen Blicken drückte ich die Lippen fest aufeinander. Natürlich, ich fand es genauso absurd, dass ausgerechnet ich gezeichnet wurde, aber so war es nun mal.

„Eine Auserwählte“, hauchte Licco und wirkte dabei mehr als nur ehrfürchtig. „Meine kleine Brestern ist eine Auserwählte.“

„Ja, ich …“ Ich strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. „Ich weiß nicht warum sie das getan hat, aber es stimmt.“ Um es ihnen zu beweisen, griff ich nach dem Beinkleid der Menschen an meinem Leib und krempelte das Hosenbein hinauf. Zwei Handgriffe später hatte ich die glatte Haut freigelegt und mich leicht gedreht.

In filigranen, verschlungenen Linien was das Abbild der Bastet auf meinem Oberschenkel dargestellt. Eine Katze in hoheitsvoller Pose. Das Auge bildete den Mittelpunkt und gleichzeitig auch die Stelle, an der der gläserne Pfeil sich in meine Haut gebohrt hatte.

Licco ging vor mir in die Knie. Es wirkte fast, als könnte er sein eigenes Gewicht nicht mehr tragen. „Oh Göttin, ich danke dir.“ Er streckte die Hand aus, berührte das Bildnis der Göttin und schloss die Augen. „Eine Auserwählte.“

Jaron starrte mich nur stumm an.

„Vielleicht wird nun alles wieder gut“, murmelte der Amentrum hinter Licco und zum ersten Mal fiel mir auf, dass das nicht Liccos Geleit war, sondern Lacota, das Geleit meines Fafas.

Aber warum … „Wo ist Fritte?“

Licco schaute zu mir hoch, senkte den Blick jedoch gleich wieder. „Er ist in die Mächte zurückgekehrt.“

Oh Göttin, nein. „Aber … was ist mit Fafa und Mina? Was ist mit Cuver und Unisum? Und Migin und Anadon? Was ist mit Sian?“ Mit jedem Wort wurde meine Stimme schriller, doch ich konnte mich dem nicht erwehren. Plötzlich war die Angst wieder da und verdrängte die Freude über das Wiedersehen mit meinem Brestern. Wenn Lacota statt Fritte hier war, was bedeutete das dann für meine Familie? Und Liccos gequälter Gesichtsausdruck ließ mich sofort das schlimmste befürchten.

„Fafa ist in den Höhlen zurückgeblieben. Mina ist … Lilith, es tut mir leid, aber sie sind alle weg.“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Das kann nicht sein. Du bist doch auch hier, das …“

„Lilith …“

„Nein!“ Ich machte einen Schritt von ihm weg. Meine Familie sollte in die Mächte zurückgegangen sein? Sie alle? Aber das durfte nicht stimmen. Der Kloß in meinem Hals war zurück, genau wie das brennen in meinen Augen. Meine Familie durfte nicht weg sein. Sie durfte es einfach nicht!

„Viele von uns sind gestorben, Auserwählte“, sagte Jaron leise und schwang sich auf Mochicas Rücken. „Keine Familie bildet da eine Ausnahme. Auch nicht deine. Und da du das Tigerauge nicht mitgebracht hast, wird es nur noch schlimmer werden. Egal ob …“

„Jaron, es reicht!“, fauchte Licco ihn an und kam wieder auf die Beine. Er stellte sich vor mich, als wollte er mich vor ihm abschirmen. „Halte Geistreden, bevor du den Mund aufmachst!“

„Ich spreche wahr. Wir haben keinen Platz für Feinhäutige. Besser sie versteht das gleich.“

„Aber nicht so!“

„So sprichst du nur, weil sie deine Brestern ist.“ Sein Blick richtete sich auf mich. „Und eine Auserwählte.“

Licco kniff die Augen zusammen. „Vor langer Zeit war sie einmal deine Amicus gewesen.“

„Zeiten ändern sich und für so etwas gibt es heute keinen Platz mehr.“

Ich konnte nicht glauben was ich da hörte. Es wollte einfach nicht in meinem Kopf. Oh Bastet, was ist nur mit Jaron geschehen? Wieso musste meiner Familie das wiederfahren? Warum nur ist das Schicksal so grausam zu deinem Volk? Wir haben doch nichts Unrechtes getan!

„Es ist eines der Wenigen Dinge, die wir noch besitzen“, belehrte er Jaron.

„Du bist ein Phantast, Licco. Sieh es endlich ein, wenn wir so weiter machen, werden wir untergehen. Das Einzige was …“ Er verstummte als der Wind ein Heulen über das Gelände trug.

Das Geräusch war ein Spiel aus Wut und Trauer in dem der Ton von Verzweiflung und Verwirrung mitklang. Vor dem heuten Tag war mir so etwas noch nie zu Ohren gekommen.

„Pravum“, flüsterte Licco und legte mir die Hand auf den Rücken. „Komm. Bei Dunkelheit sollten wir uns nicht mehr im freien Aufhalten.“

Aman ließ seinen Blick wachsam über das Gelände schweifen. „Woher kommt Pravum?“

„Es tauchte nach dem Angriff auf den Tempel auf“, erklärte Ravic. „Am Anfang war …“

„Lasst uns in den Tempel gehen“, unterbrach Licco ihn grob.

Jaron kniff die Augen zusammen und musterte meinen Brestern auf eine seltsame Weise. Es schien als wollte er etwas sagen, schwieg dann aber und lenkte Mochica in die Richtung. „Licco hat Recht, hier draußen ist es in der Nacht nicht mehr sicher, wir sollten wir nicht draußen sein.“

Das Heulen verklang und wurde durch ein Knurren ersetzt. Gleich darauf ertönte der Todesschrei eines Tieres und brach genauso plötzlich ab, wie er begonnen hatte.

Ich spürte wie die Erdlinge unruhig wurden. Ihre Nervosität ging in Wellen von ihnen aus, doch ich konnte mich nicht darum kümmern. Ich konnte es immer noch nicht glauben was Licco gesagt hatte. Wozu dann das Ganze? Wozu hatte die Göttin mich auserwählt, wenn ich nicht einmal meine Familie retten konnte? Das war so … falsch, so unlauter.

In meiner Brust machte sich ein leeres Gefühl breit, dass mich zu verschlingen drohte. Sie waren weg, sie alle. Nur noch mein Fafa und Licco waren da. Unisum war weg. Der Älteste von uns und der einzige, der bei meiner Mina auf dem Hof geblieben war. Er zählte siebzehn Jahre mehr als ich, hatte uns andere mit aufgezogen, denn keiner von Minas Collusors war auf dem Hof geblieben. Wenn überhaupt hatten sie uns nur hin und wieder besucht.

Und Anadon. Er war immer so ernst gewesen, hatte sich selten amüsiert und seine Nase immer nur in Schriften gesteckt. Er war ein gelehrter gewesen, hatte die Kätzchen der Ailuranthropen die Geschichte unseres Volkes gelehrt. Und nun? Jetzt würde er niemanden mehr etwas beibringen können.

Migin war da ganz anders gewesen. Immer Abenteuerlustig, immer dabei etwas zu erforschen. Meine Mina hatte es nie einfach mit ihm gehabt und war vor Trauer fast zergangen, als er sich bereits in seinem sechzehnten Sommer auf den Weg machte die Welt zu entdecken. Es hatte Jahre gebraucht, bis er wieder aufgetaucht war. Aber genauso schnell wie er auftauchte, verschwand er nach kurzer Zeit auch wieder. Unbemerkt, so als fürchtete er sich davor, dass ihn jemand aufhalten könnte.

Und dann war da noch Cuver. Er war immer sehr schüchtern gewesen. Höfflich, zuvorkommend. Gemma hatte Mina ihn immer genannt. Er war ihr Gemma. Doch dann hatte er eine Frau kennengelernt. Mina mochte sie nicht, er jedoch verliebte sich in sie und zog mit ihr nach Feles, der Hauptstadt in Ailuran. Seit dem hatten wir ihn nur noch selten gesehen. Er konnte meiner Mina nicht verzeihen, dass sie seine Frau nicht akzeptierte und sie konnte ihm nicht verzeihen, dass er sich für diese Frau von allem abgewandt hatte, was ihm einst wichtig gewesen war.

Sie alle waren weg, genau wie meine Mina. Meine starke, unerschütterliche Mina, die immer für mich da gewesen war. Sie hatte meine Kratzer versorgt, wenn ich beim Spielen mal wieder vom Bett gefallen war, oder mit mir gekuschelt, wenn ich nachts nicht schlafen konnte. Sie war immer da gewesen. Selbst als ich im Tempel gewohnt hatte, wäre sie sofort gekommen, wenn ich nur gerufen hätte. Doch nun war sie fort – unwiderruflich.

Ich spürte den leichten Druck mit dem Licco mich vorwärts schob gar nicht. Ich hatte keine Ahnung wohin meine Beine mich trugen und hörte auch nicht die Stimmen um mich herum. Da waren nur diese vielen Erinnerungen in meinem Kopf. An meine Brestern, meine Mina. An so viele Momente die wir miteinander verbracht hatte. Kleinigkeiten wie ein einfaches Frühstück, oder der Moment als Unisum mit einem Frosch nach Hause kam, um ihn mir zu zeigen. Der Morgen als wir den Brief von Migin fanden, in dem er uns mitteilte, dass er weg war, um die Welt zu sehen, oder das Leuchten in Anadons Augen, wenn er wieder eine neue Schrift bekam.

Ich sah es noch genau vor mir, wie Cuver mit einem gebrochenen Arm nach Hause kam und auch wie meine Mina sich leise schnurrend um ihn gekümmert hatte, bis auch die letzte Träne versiegt war.

Und jetzt sollten da nur noch Licco und Fafa sein?

Nun verstand ich den Scherz den Anima litt. Es war das schlimmste, was ich jemals gefühlt hatte.

 

°°°

 

Es war das Heulen eines wilden Tieres, das mich in tiefster Nacht vom Rand des Landes der Götter riss. Ich hatte nicht schlafen können, zu viele Reden beherrschten meinen Geist. In den letzten Tagen war einfach so viel geschehen, dass ich nicht zur Ruhe kommen konnte. Nicht nur die Ereignisse auf der Erde, auch was hier alles während meiner Abwesenheit geschehen war.

Acht Jahre. Oh Göttin, wie hatte das nur passieren können?

Regungslos blieb ich auf dem provisorischen Lager im Tigersaal liegen und lauschte den Geräuschen um mich herum. In meinem Rücken spürte ich Johns Wärme. Er hatte den Arm um mich gelegt und sein Gesicht an meinem Nacken vergraben, sodass ich jeden seiner Atemzüge auf meiner Haut spüren konnte. Dieses Gefühl war tröstlich, es zeigte mir, dass nicht alles anders geworden war.

Irgendwo in meiner Nähe schnarchte Pascal in seliger Ruhe und auch die Atemgeräusche der anderen drangen an meine Ohren. Nebka strampelte im Schlaf an Accos Seite. Ihre Pfoten kratzen dabei über den Boden und schubsten kleine Steinchen durch die Gegend. Sie erlebte wohl gerade ein Abenteuer im Land der Götter. 

Das Heulen brach ab und erklang dann von neuem. Es wirkte so … traurig.

Pravum.

Ich erkannte dieses Geräusch inzwischen. Wo kam er her? Was suchte er hier? Und warum heulte es so leidvoll, als lasteten die Qualen der Welt auf seinen Schultern?

„Kannst du nicht schlafen?“

Erschöpft blinzelte ich zu Licco hinauf. Er saß in dem Loch in der Außenmauer und hielt wache. Ein Bein aufgestellt und den Elenbogen darauf abgelegt. Neben ihm auf dem Boden, halbverborgen im Schatte, lag Lacota. Nachdem Licco sie abgesattelt hatte, hatte sie sich wieder in einen Sermo verwandelt. Ein normaler Schneeleopard, der mit dem Geist eines Ailuranthropen gesegnet war und die Fähigkeit des Sprechens beherrschte.

Auch Mochica hatte sich verwandelt. In dieser Gestallt wirkten die Narben noch grausiger.

„Es ist so viel passiert“, flüsterte ich. „Alles ist so anders.“

Hinter Licco ragte der Vollmond über dem Tempelgelände auf und tauchte sein Gesicht in Schatten. „Manchmal läuft das Leben eben nicht so wie die Vorstellung es einem zeigt.“ Er richtete seinen Blick nach draußen über die Weiten der Wälder. „Wir können nur versuchen mit dem Schicksal zu leben, doch dabei dürfen wir nicht aufgeben, denn dann hätten wir bereits verloren.“ 

Er klang ganz genau wie mein Fafa. „Gibt es denn überhaupt noch etwas zu gewinnen?“ Jetzt wo das Land zerstört und meine Familie tot war.

„Du bist eine Auserwählte.“ Er lächelte mich leicht schief an. „Also sag du es mir.“

Pravums Lied wurde tiefer. Es scholl über den Tempel und erreichte jede noch so kleine Ecke.

„Es klingt so traurig.“

In der Dunkelheit blitzten Lacotas Augen.

Licco drückte die Lippen aufeinander und richtete seinen Blick in die Ferne. „Jeder von uns hat seine eigene Geschichte. Auch Pravum.“

„Es ist nicht wirklich ein Pravum, oder? Kein Geschöpf der Magier.“

Zwischen uns breitete sich eine Stille aus, in der auch das Lied des Biestes verklang und mir die Einsamkeit dieses Ortes deutlich machte.

Als die Stille sich immer weiter ausbreitete, runzelte ich die Stirn. „Oder?“

Weiter hinten hob Mochica den Kopf. „Pravum war einmal wie ich und Lacota. Er war ein Sermo mit Gefühlen und …“

„Mochica!“, fauchte Licco scharf.

Sie blinzelte ihn an und zeigte ihm die Zähne.

„Sag es ihr“, forderte Jaron. „Sie hat ein Recht es zu erfahren.“

„Nicht jetzt.“ Er wandte den Blick wieder ab. „Nicht hier.“

Ging es hier um mich? „Was erzählen?“ Als niemand antwortete, richtete ich mich auf. Dabei rutschte Johns Arm von meine Taile und weckte ihn auf – ja er schreckte geradezu hoch. „Was muss ich erfahren?“, fragte ich, während John sich hektisch umsah.

Auch Aman richtete sich auf. Schlief hier denn eigentlich niemand mehr?

„Sag es ihr“, wiederholte Jaron. „Oder ich werde es tun.“

Licco funkelte ihn wütend an. „Du bist ein Scheusal, Jaron.“

Davon ließ er sich nicht beeindrucken. „Ich würde es auch erfahren wollen. Du nicht?“

„Was erfahren?“ Ich sah zwischen den beiden Männern hin und her und bekam ein sehr ungutes Gefühl. Hier stimmte etwas nicht. „Was verschweigt ihr mir?“

John rieb sich müde über das Gesicht und ließ sich wieder auf den Rücken fallen. Ihm war wohl gerade wieder eingefallen wo er sich befand und mit dieser Tatsache schien er nicht sehr glücklich.

Es war Lacota die das Maul öffnete. Nur ein Wort kam ihr über die Lefzen, nur vier Buchstaben. „Sian.“

Mein Mund klappte auf, aber kein Ton kam heraus.

„Lacota“, warnte Licco, aber sie beachtete ihn gar nicht.

„Pravum“, sagte sie. „Das Biest. So wird er genannt, doch für mich ist und bleibt er mein Sohn Sian.“

Mein Herz setzte einen Schlag aus und schlug dann im doppelten Rhythmus weiter. „Was sagst du da?“ Als sie schwieg, wirbelte ich zu Licco herum. „Stimmt es? Ist Pravum Sian? Mein Sian?“

Ein gequälter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. „Lilith, das ist nicht so einfach. Er …“

„Ja oder nein?!“

Asokan hob den Kopf von seinem Lager und Vineas Augen blitzten in der Dunkelheit. Selbst Pascal hatte aufgehört zu schnarchen. Und sie waren in der Zwischenzeit sicher nicht die einzigen, die wach waren.

Unter meinem stechenden Blick knickte Licco ein. „Ja.“

„Er lebt.“ Ich konnte es kaum fassen, Sian lebte. „Oh Göttin, er … ich muss zu ihm.“

„Nein Lilith, warte!“

Ich wartete nicht. Keiner konnte mich aufhalten, als ich aufsprang und auf den Ausgang zu hastete. Sian lebte. Er war da draußen und er brauchte mich.

„Lilith!“, rief Licco erneut, auch er war aufgesprungen und rannte hinter mir her, doch ich war zu schnell.

Leider gab es in dieser Halle jemanden der noch schneller als ich war. Sie stand ganz plötzlich vor mir, bleckte die Zähne zu einem warnenden Fauchen und sträubte das Nackenfell. Mochica. Sie versperrte mir den Ausgang und hatte sogar die Krallen ausgefahren.

„Weiche zurück!“, forderte ich sie auf. Im nächsten Moment schloss sich Liccos Hand um meinen Arm. „Lass mich los, ich muss zu ihm!“

„Nein, du musst mir zuerst zuhören. Sian ist nicht mehr der, der er einst war. Er …“

„Es ist Sian!“, fiel ich ihm ins Wort. „Mein Sian!“

„Er trägt den Namen Pravum nicht umsonst.“ Jaron erhob sich von seinem Lager und trat langsam auf uns zu. „Sian ist kein Sermo mehr und auch kein Amentrum. Er ist das Biest vom Tempel der Ailuranthropen.“

„Was redest du da?“

Er stellte sich direkt vor mir und ich musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht schauen zu können. Das gefiel mir nicht. Ich mochte es nicht, wenn mir jemand seine Überlegenheit so deutlich demonstrierte. „Seit dem Überfall auf den Tempel ist Sian nicht mehr der der er einmal war. Der Zauber, der das Portal getroffen hat, drang auch in ihn ein.“

Das Entsetzten schlug seine Krallen in meinen Leib. Bedeutete dies, dass mein Sian verflucht war? „Oh Göttin, nein.“

Jaron fuhr unbeirrt weiter. „Zuerst bemerkten wir nicht, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Ich merkte es nicht, weil ich viel zu sehr mit Mochica beschäftig war.“ Seine Hand fand ihren Kopf, strich vorsichtig über die vernarbte Haut. „Im Tempel herrschte das Chaos. Es war Lacota, der es auffiel.“

Mein Kopf schnellte zum Sermo meines Fafas. Wenn Lacota hier her gekommen war, dann bedeutete das … „Fafa, er war hier, er ist in den Tempel gekommen.“

„Sobald die Nachricht zu uns durchgedrungen war“, bestätigte Licco meine Worte. „Zwei Tage später haben wir davon erfahren und drei Tage später waren wir dort. Fafa hat keinen Moment Pause gemacht, nicht bevor er in Erfahrung bringen konnte, was mit dir geschehen war.“

„Ich war verschwunden.“ Mein Fafa war gekommen – wegen mir – und ich war nicht da gewesen.

„Und da fiel Lacota auf, das Sian sich seltsam benahm“, fuhr Jaron unbeirrt fort. „Er vergaß ständig alles, schlich in der Dunkelheit umher und biss die Pfleger, die ihm helfen wollten. Erst glaubten wir, dass es an deinem Verlust lag, doch mit jeder verstreichenden Stunde wurde es schlimmer. Sian verlor die Fähigkeit zu geistreden und plötzlich konnte er nicht mehr sprechen.“

Lacota erhob sich von ihrem Platz unter dem überwucherten Loch in der Wand und schlich an unsere Seite. „Es dauerte nur vier Tage, dann war mein kleiner Sian von einem Sermo zu einem wilden Tier geworden. Ohne Verstand, ohne Gefühle, ohne Intelligenz.“

„Fafa hat ihn eingesperrt, damit er weder andere noch sich selber verletzen konnte. Doch dann verwandelte er sich plötzlich.“

„Verwandeln?“ Ich sah von ihm zu Lacota. „In was?“

„In das Biest“, knurrte Jaron.

„In einen extrem großen Amentrum“, verbesserte Licco und warf seinem Kriegergefährten einen warnenden Blick zu.

Meine Augen wurden groß. „Aber das … er war doch erst zwei.“ Die Erste Verwandlung vollzogen Sermos mit ihrem dritten Lebensjahr – frühestens – und dann war sie auch immer sehr instabil. Sie mussten üben und lernen, wie ihre Krieger, um das zu sein, wofür sie bestimmt waren.

„Er hat sich verwandelt.“ Licco schüttelte den Kopf, als könnte er diese Tatsache noch immer noch fassen. „Und danach war er nicht mehr zu bändigen. Jeder der ihm zu nahe kam wurde angegriffen. Wenn wir ihn einsperrten, schaffte er es immer sich zu befreien. Teilweise riss er die Wände ein. So etwas war bisher nicht geschehen.“

„Sian soll … was?“ Das konnte ich nicht glauben. Mein kleiner, süßer Sian konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Er war immer freundlich, zuvorkommend. Mein Sian war keine böse Kreatur!

„Und dann tötete er seinen ersten Ailuranthropen.“

Das verschlug mir einfach die Sprache.

„Er tötete und floh dann hinaus in die Wälder. Doch von da an war niemand auf dem Tempelgelände mehr sicher.“ Jaron schüttelte den Kopf. „Wir hätten ihn töten sollen als wir noch die Gelegenheit dazu hatten, doch dein Fafa sprach sich dagegen aus. Er verbot den Kriegern Hand an Pravum zu legen.“ Er drückte die Lippen zusammen, als gefiel ihm diese Tatsache immer noch nicht. „Dein Fafa ist ein mächtiger Krieger und die Leute haben auf ihn gehört.“

Was ich hier hörte … ich konnte es kaum glauben.

„Fafa hat immer wieder versucht ihn einzufangen, doch Sian lernte schnell und schaffte es ihm zu entkommen – jedes Mal aufs Neue.“

„Und dabei schaffte er es auch immer wieder die Ailuranthropen des Tempels zu verletzten – oder sogar zu töten“, fügte Jaron den Worten meines Brestern bitter hinzu.

Nein, nein, so etwas würde Sian nicht tun!

Jarons Blick legte sich mit einer Eindringlichkeit auf mich, dass ich darunter erschauderte. „Und als die Ailuranthropen gingen, blieb er. Er folgte uns nicht, sondern herrschte fortan über dieses Gebiet. Selbst die anderen Völker halten sich von hier fern, da Pravum keine Eindringlinge duldet.“

„Aber … was macht er denn hier? Was …“ Das konnte doch nicht sein. Nichts von dem was sie sagten, konnte wahr sein. Sian sollte das Biest sein? Mein kleiner, süßer Sian?

Licco gab endlich meinen Arm frei und seine Hand zurück an seine Seite fallen. „Fafa hat immer gesagt, dass er an dem Ort geblieben ist, an dem er dich verloren hat, weil er glaubt, dich so irgendwann zurückzubekommen.“

Er wartete auf mich. Ich hatte all das gehört, jedes einzelne Wort in mich aufgenommen, doch wirklich verstanden hatte ich nur den letzten Teil. Sian war noch immer hier, weil er auf mich wartete – seit acht Jahren. „Ich muss zu ihm.“ Bevor mich noch einer aufhalten konnte, wirbelte ich herum und rannte auf das große Loch in der Wand zu. Ich stoppte nicht um zu sehen, was auf der anderen Seite lag, hörte nicht auf die Rufe die mich zurückhalten wollten, sondern sprang einfach hindurch ins Freie. Und während ich fiel, ließ ich meiner Natur freien Lauf. Ich spürte wie mein Körper sich mit Fell überzog, Gelenke und Knochen verschoben sich leicht im Rausch des Windes. Meine Wirbelsäule verlängerte sich zu eine langen Schwanz, mit dem ich das Gleichgewicht halten konnte. Mein Mittelpunkt verlagerte sich auf meine Fußballen, während meine Ohren sich seitlich nach oben schoben.

Zwei Sekunden dauerte mein Fall, dann landete ich in einer perfekten Fusion zwischen Mensch und Schneeleopard zwischen den Trümmern am Fuß der Pyramide. In der Hocke federte ich den Sprung ab und nur den Bruchteil einer Sekunde landete etwas neben mir. Ich wirbelte herum in Erwartung Licco oder Jaron zu erblicken, doch es war Aman in seiner Kriegergestallt. Eine Mischung aus Mann und Wildhund. Der Köper bedeckt von schwarzem Fell, das mit braunen, rötlichen, gelben und weißen Flecken durchsetzt war. Der bunte Wolf der Wälder – so hatte Unisum diese Lykanthropen immer genannt. Die gelben Augen über der langen Schnauze waren zielerfasst auf mich gerichtet, als er sich langsam erhob.

„Willst du mich aufhalten?“ Dann würde er meine Krallen zu spüren bekommen. Ich würde nicht zurückgehen, nicht bevor ich Sian nicht gefunden hatte.

Wortlos trat Aman einen Schritt zur Seite und deutete mir vorzugehen.

Ich verstand nicht was er damit bezweckte, doch da oben wieder mein Name gerufen wurde, zögerte ich nicht länger, sondern sprang die Trümmer herunter, bis ich festen Boden unter den Füßen hatte. Steinchen und leichtes Geröll rutschten dabei mit und sammelte sich lose am Boden.

Ich wartete nicht auf Aman, konnte ich doch hören, wie er mir folgte. Ich sah auch nicht zurück, als mein Name laut aus Johns Mund erklang. Für mich gab es nur eine Geistrede: Sian. Er war irgendwo da draußen. Er war es, der den ganzen Tag nach mir heulte und sein klagendes Lied über diesen verwunschenen Ort schickte. Er gehörte zu mir.

Meine Beine trugen mich schnell über vertraute Pfade, die heute so fremd waren. Ich versuchte mich an den Gerüchen zu orientieren, doch der vergiftete Duft des Ailuraflusses war allgegenwärtig und verwirrte meine Sinne. Ich konnte kaum die vertrockneten Gräser und Pflanzen riechen, an denen ich vorbei rannte.

Weit hinter mir hörte ich Licco meinen Namen rufen.

„Sian!“, rief ich, hielt dabei aber nicht an. Mein Blick flog wild umher, als ich in den Wald eintauchte. Dabei klammerten sich meine Geistreden nur an einer Sache fest. Ich hatte ihn gehört. Schon den ganzen Abend, seit dem Moment in dem wir hier angekommen waren, hatte ich ihn immer wieder gehört. Doch leider konnte ich nicht bestimmen, aus welcher Richtung sein Lied erklungen war. Es hätte von überall herkommen können.

„Siiiaaan!“ Ich wich ein paar verdorrten Bäumen aus, rannte im Zickzack um sie herum und wandte meine Ohren dabei in jede Richtung, um die Geräusche der Nacht aufnehmen zu können.

Die Zeit verstrich. Immer tiefer rannte ich in den Wald, lief über vertraute Wege die heute so anders aussahen und umkreiste Orte die mit meiner Erinnerung fest verankert waren, doch es war nicht zu hören. Nichts außer meinem Atem, die Geräusche der Nacht, Aman und dem Wispern des Windes.

Immer wieder rief ich Sians Namen. Immer wieder blieb ich bei einem fremden Geruch stehen, in der Hoffnung es könnte seiner sein. Und immer wieder ließen Geräusche mich anhalten, um in die Nacht hinein zu lauschen. Doch egal wie viel Mühe ich mir gab, egal wie weit ich rannte, ich fand keine Spur von ihm. Es war, als hätte es das Heulen nicht gegeben.

„Siiiaaan!“, rief ich wieder und verharrte an einem gespaltenen Baum zwischen ein paar Ginstersträuchern. „Sian!“ Mein Blick ging nach oben in die kahlen Baumkronen, blieb an Astgabelungen hängen, in der Hoffnung dort weißen Pelz zu entdecken. Ich suchte die Gebüsche nach weißem Fell ab, das bei seinen Streifgängen hängen geblieben sein könnte. Irgendwas das mir zeigte, dass ich mich auf dem richtigen Weg befand. Aber da war nichts außer verdorrten Wäldern und dem Geruch nach Alter und Verfall.

„Sian!“

Hinter mir kam Aman zum Halten. Er war ruhiger, sein Blick wachsamer und die Ohren auf die Geräusche der Nacht gerichtet. „Vielleicht befindet er sich auf der anderen Seite des Geländes. Oder unten am Fluss.“

Ich runzelte die Stirn. Warum war er mir eigentlich gefolgt? Warum blieb er bei mir und machte mir keine Vorhaltungen, wie er es sonst immer handhabte? „Der Fluss ist vergiftet.“

„Aber es muss hier irgendwo eine Wasserstelle für ihn geben.“ Er wandte sich zu mir um. „Sonst hätte er niemals so lange überlebt.“

„Aber da ist kein Geruch nach Wasser. Nur der tote Wald. Da sind nicht einmal Tiere. Keine Mäuse, keine Kaninchen. Rein gar nichts. Wo sind die alle hin? Wo ist das Leben das hier einst herrschte?“ Wo war der Wald den ich kannte und liebte?

„Es ist mit Bastets Macht verschwunden.“

Also war es meine Schuld? Weil ich das Tigerauge nicht zurückgebracht hatte? Weil es nun in der Obhut vom Kriegergeneral war? Ich schloss diese Geistreden aus und richtete meinen Blick wieder auf diese alles umfassende Dunkelheit, die nur wenig vom Sternenlicht durchließ. „Sian!“, rief ich wieder. „Siii … ah!“

Etwas fiel direkt vor mir aus dem Baum und packte mich am Arm. Nein, nicht etwas, jemand. Das war Jaron.

„Zur Sachmet, musst du mich so …“

„Wenn du jetzt nicht still bist, dann werde ich dafür sorgen dass dein Mund geschlossen bleibt.“ Er ließ den Blick wachsam über die Bäume ringsum wandern. „Und jetzt komm.“

„Nein, ich …“

Mit einem heftigen Ruck riss er mich an sich heran. „Du wirst jetzt mitkommen.“

Aman knurrte und machte einen Schritt auf uns zu. „Pass auf was du tust, Katze.“

„Misch dich nicht in Dinge ein von denen du nichts verstehst“, konterte Jaron und zog mich hinter sich her. Dabei störte er sich nicht daran, dass ich mich gegen seinen Griff wehrte und versuchte ihn abzuschütteln. „Göttertod noch eins, gib mich endlich frei.“

„Nein, wir gehen jetzt zurück zum Tempel.“ Er zog mich an Aman vorbei.

„Nein!“ ich riss heftiger an meinem Arm, war einen Moment sogar versucht ihm meine Krallen über den Arm zu ziehen. „Ich habe Sian noch nicht gefunden. Ich muss …“

Wütend fuhr er zu mir herum. „Verstehst du es nicht? Bist du jetzt nicht nur unfähig, sondern auch noch dumm? Früher jedenfalls konntest du deine Schwächen wenigstens mit deiner Intelligenz ausgleichen.“

Du willst eine Kriegerin werden, was bedeutet, dass du ihn jeder Lage deinen Geist beisammenhatten musst. Wie ein kopfloses Huhn drauf loszurennen bringt nicht nur dich, sondern auch jene in Gefahr, denen du beistehen sollst. Kein Krieger würde so handeln.“ Ich biss die Zähne fest zusammen. „Ich bin nicht dumm.“

„Du erweckst aber den Anschein. Was von dem was wir gesagt haben hast du nicht verstanden? Sian ist nicht mehr. Was du suchst ist Pravum und der wird dich töten.“

„Es ist immer noch Sian. Licco hat es doch gesagt, er wartet auf mich, er …“

„Licco ist ein Phantast. Er versucht in allem das Gute zu sehen und verliert dabei die Realität aus den Augen. Sian hat getötet, viele Male und er wird auch vor dir nicht Halt machen.“

Das konnte er nicht wissen. Das konnte ich nicht glauben. Meine Fafa hatte es gesagt, er wartete auf mich, also musste noch etwas von ihm da sein. „Was interessiert es dich überhaupt?“

„Du bist wiedergekehrt, als Auserwählte. Du darfst dein Leben nicht für eine so törichte Idee aufs Spiel setzten, nicht wenn das Volk dich so dringend braucht. Ich werde dich schützen, auch wenn ich es gegen deinen Willen tun muss und jetzt komm.“

Als er wieder versuchte an mir herumzuzerren, krallte ich meine Hände in den nächsten Baum.

„Lilith!“

„Nein, jetzt wirst du mir zuhören. Ich weiß nicht was mit dir geschehen ist und im Moment ist mir das auch gleich, aber ich werde dir nicht erlauben so mit mir umzugehen!“

Jaron starrte mich nur stumm an. Es schien ihn gar nicht zu interessieren, was ich zu sagen hatte.

Plötzlich sprang er zur Seite, riss mich dabei mit und verdrehte mir so den Arm. Ich musste den Baum loslassen, um mir nicht den Arm auszukugeln. Ein keuchen entrang sich mir. Aman knurrte und im nächsten Moment fand ich mich mit verdrehtem Arm vor Jaron wieder.

Ich spürte seinen Atem an meinem Ohr, als er meinen Arm auf meinem Rücken noch etwas hochschob. Oh Göttin tat das weh.

„Wir gehen jetzt zurück, Auserwählte. Hier draußen ist es zu gefährlich.“

„Ich habe keine Angst“, zischte ich und versuchte gegen den Schmerz zu atmen. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich Aman, der mit gefletschten Zähnen langsam näher rückte.

Jaron schnaubte. „Weder Angst noch Verstand.“

„Sprich nicht so mit mir! Und gib mich frei!“

Im Unterholz knackte es.

Ich drehte den Kopf so gut es ging, doch es war nur Mochica, die leise um uns herum schlich. Seit wann war sie da? Warum hatte ich sie nicht früher bemerkt?

„Los jetzt.“ Jaron schob mich vor sich her und mir blieb die Wahl zwischen laufen oder hinfallen. Ich entschied mich fürs Erste, aber auch nur, weil Jaron mich sonst vermutlich einfach unter seinem Körpergewicht begraben hätte.

„Sobald du mich loslässt, ziehe ich dir die Krallen durch das Gesicht.“

„Dazu müsstest du mich erst einmal bekommen.“

War Jaron schon immer so arrogant gewesen? „Du hast keine Ahnung was ich durchgemacht habe und wozu ich fähig bin.“

„Diese Worte richte ich auch an dich.“

Zur Sachmet! Ich konnte gegen seinen Griff nichts tun. Jeder Versuch mich zu befreien würde nicht nur schmerzen, er könnte auch dazu führen, dass meine Schulter aus dem Gelenk sprang. Mein Blick glitt zu Aman, der neben uns herlief. Mit wachsamen Blick beobachtete er Jaron und jede seiner Bewegungen. Meine Zwangslage schien ihm nicht zu gefallen, aber er tat auch nichts um mir zu helfen.

Ich biss die Zähne zusammen. Warum sollte er auch? Außerdem wollte ich von so einem steinköpfigen Hund auch keine Hilfe. Aman sollte sich von mir fernhalten. Ich verstand sowieso nicht, warum er mir in den Wald gefolgt war.

„Lass mich wenigstens los“, verlangte ich von ihm. Meine Schulter wurde vor Schmerz bereits taub.

„Damit du wieder kopflos in die Nacht hinausrennen kannst?“ Jaron schnaubte. „Dazu müsste Bastet selber mich auffordern.“

„Lass von ihr ab.“

Nein, es war nicht Aman, von dem diese Worte gekommen waren, sondern Licco, der mit Lacota an der Seite zwischen den Bäumen hervortrat.

„Sie wird wieder …“

„Lass sie los, Jaron.“ Die Worte kamen als Knurren über Liccos Lippen. Seine Haltung, sein ganzes Gebaren war eine einzige Drohung.

Der Griff an meinem Arm wurde fester. Er quetschte mein Handgelenk geradezu zusammen, bevor er mich freigab und zurücktrat. Ich stolperte nach vorne auf Licco zu, fuhr herum und fauchte Jaron an. Das er sich erdreistet hatte das zu tun. „Solltest du noch einmal Hand …“

„Lilith!“, mahnte Licco.

Es war der gleiche Ton, den mein Fafa immer benutzt hatte, wenn ich etwas angestellt hatte. Der scharfe Klang, unter dem ich mich immer geduckt hatte, weil ich wusste, dass er von mir enttäuscht war.

Ich presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, wich seinem Blick aus. „Ich muss ihn finden“, sagte ich leise. „Er ist doch mein Sian.“

„Es tut mir leid dir das sagen zu müssen, aber er ist nicht mehr dein Sian. Er ist jetzt das Biest vom Tempel der Ailuranthropen und es ist gefährlich ihm zu begegnen. Besonders bei Nacht.“

Nein, das stimmte nicht. Vielleicht war es für ihn gefährlich, aber nicht für mich, den auch ohne ihn gesehen zu habe wusste ich, dass er doch immer noch mein Sian war.

„Lass uns zurück gehen, Lilith.“ Licco streckte mir die Hand entgegen, hoffte darauf, dass ich Vernunft annehmen würde. Aber ich wollte nicht. Ich wollte meinen Sian finden, ein Stück Normalität zurück gewinnen. Doch im Augenblick würde es wohl nicht dazu kommen.

Jaron stand unnachgiebig hinter mir und würde mich sofort wieder einfangen, sollte ich einen Schritt in die falsche Richtung machen. Und so wie Mochica um uns herum schlich, würde ich auch von ihr keine Nachsicht erfahren.

Licco und Lacota wirkten zwar nicht so aggressiv, doch auch von ihnen ging eine gewisse Unruhe aus und ich wusste, dass sie mich nicht ziehen lassen würden. Sie hatten Angst vor Sian – oder zumindest maßlosen Respekt.

Der einzige der mich nicht aufhalten würde war Aman, was schon ziemlich eigentümlich war, wenn ich mich daran erinnerte, dass er die letzten Tage nichts anderes getan hatte als mich herumzukommandieren und mir seinen Willen aufzuzwingen.

Nein, heute Nach würde ich nicht mehr dazu kommen Sian zu suchen, nicht mit diesen ganzen Kriegern um mich herum. „Lass uns gehen“, willigte ich ein, ignorierte aber Liccos Hand und schritt einfach an ihm vorbei. Heute würde ich nichts mehr ausrichten können. Die Nacht war zu finster und die Gesellschaft zu verstockt.

Nein, heute konnte ich nichts mehr tun, aber ich würde wiederkommen, gleich morgen früh. Und dann würde ich Sian finden.

Das war ein Versprechen.

 

°°°°°

Kapitel Vier

Als ich zielsicher in den Wald eintauchte, brach der Morgen gerade an und schickte die ersten Strahlen des Tages auf das kahle Blätterdach. Er musste hier irgendwo sein, ich musste ihn nur finden und dieses Mal würde ich mich nicht von Licco und Jaron aufhalten lassen. Ich würde mich von niemanden aufhalten lassen. Sian gehörte zu mir, ich war für ihn verantwortlich und ich würde dieser Verantwortung nachkommen.

Bastet, bitte lenke meine Füße, sodass ich auf den richtigen Weg gelange.

Dieses Mal war ich am anderen Ende des Geländes in den Wald eingetaucht. Dabei hingen mir die Worte von Aman in die Ohren. Es muss hier irgendwo eine Wasserstelle für ihn geben, sonst hätte er niemals so lange überlebt. Meine Augen huschten auf der Suche nach einem geeigneten Orientierungspunkt hin und her. Ich glaubte nicht daran so fündig zu werden, aber irgendwo musste ich beginnen.

Ich warf noch einen wachsamen Blick über die Schulter um sicher zu gehen, dass mir dieses Mal niemand gefolgt war. Acco hatte ich gesagt, dass ich zur Morgentoilette hinaus ging, die anderen hatten noch geschlafen, doch ich machte mir nichts vor, es würde sicher nicht lange dauern, bis sie meine Abwesenheit bemerkten. Bis dahin musste ich ihn gefunden haben. Daher lief ich eiligen Schritts tiefer in die Wälder um den Tempel. Doch dieses Mal war ich nicht kopflos, brüllte nicht unnütz im Wald umher. Ich sah mir alles ganz genau an, hielt Ausschau nach Hinweisen. Abdrücke im Boden, Kratzspuren an den Bäumen, Fellbüschel, die in den Büschen hängen geblieben waren, oder auch Futterreste oder Exkremente. Das alles konnte mir einen Hinweis auf seinen Aufenthalt geben. Gleichzeitig behielt ich Augen und Ohren offen, nahm die Gerüche um mich herum in mich auf und streifte immer wieder die Bäume, damit mein Duft an ihnen hängen blieb.

Ich fand keine Spur.

Nicht eine einzige.

Das konnte nicht sein. Wenn Sian nicht zu Luft geworden war und hier lebte, dann musste er Spuren hinterlassen. Jedes Lebewesen hinterließ Spuren, aber ich konnte suchen so viel ich wollte, es war vergeblich.

Ich schreckte ein mageres Kaninchen auf, fand das vertrocknete Skelet eines kleinen Vogels und Spuren von Wild, dass hier hin und wieder seine Kreise zog.

Der Tag wurde heller, die Temperaturen stiegen. Schon bald begann ich zu schwitzen. Und ständig blieb ich mit der Kleidung der Erdlinge an Sträuchern hängen. „Zur Sachmet!“, fluchte ich, als ich mich wieder einmal mit dem Saum an einem Ast verfing. Für einen solchen Ort war die Kleidung einfach nicht geeignet. Sie war nicht nur zu grell und auffällig, sie war auch noch warm und hielt mich von meinem Weg ab. Kurzentschlossen streifte ich die Hose samt Schuhen ab und ließ sie zusammen mit dem Pullover achtlos auf den Boden fallen. Nun trug ich nur noch ein Set Unterwäsche, bestehend aus einem Slip und einem BH. So jedenfalls hatte Destina die Kleidung benannt, als ich sie erhalten hatte. Ich fand es ziemlich beengend, aber so war es auf jeden Fall besser als vorher.

Als ich ein Geräusch zu meiner Rechten hörte, wirbelte ich herum, doch es war nur ein Ast, der heruntergefallen war. Wenn ich nur daran Geistreden hielt, wie schön und Lebendig dieser Teil des Waldes früher war, so schmerze es mich zu sehen, was nun daraus geworden war. Still, leer, nicht mehr als ein Grab.

Ich schob diese düsteren Geistreden weit von und setzte meine Weg fort. Dieser Wald war nicht tot – nicht ganz. Irgendwo hier musste Sian sein, ich musste ihn nur finden und dann konnte ich allen beweisen, dass er nicht die böse Kreatur war, für die sie ihn hielten.

Er ist das Biest vom Tempel der Ailuranthropen.

Sian hat getötet, viele Male und er wird auch vor dir nicht Halt machen.

Sian ist nicht mehr. Was du suchst ist Pravum und der wird dich töten.

Ich konnte ihn nicht so sehen wie die anderen. In meinem Kopf waren Bilder – unzählige – und sie alle zeigten mir meinen Sermo.

„Lilith, komm schnell, es ist so weit!“

Bevor ich überhaupt meinen Kopf gedreht hatte, rannte Anima schon wieder davon. Im Moment konnte es nur eine Sache geben, die sie meinte, etwas auf das wir bereits seit Tagen warteten.

Ich warf meinem Übungspartner einen kurzen Blick zu, ließ den Dolch dann einfach auf den sandigen Ausbildungsplatz fallen und folgte Anima. Es war mir gleich dass ich mit Magister Damonda ärger bekam, sobald sie bemerkte, dass ich die Schulung verlassen hatte. Auf diesen Augenblick wartete ich nun schon siebzehn Sommer und ich würde dabei sein. Nicht mal Bastet konnte mich davon abhalten.

Ich tauchte unter einem tiefhängenden Ast weg und erinnerte mich nur zu genau an diesen Augenblick. Ja, es hatte Ärger gegeben. Zur Strafe dass ich unerlaubt die Lektion verlassen hatte, musste ich vier Wochen in der Küche helfen – zusätzlich zu meinen normalen Tagesaufgaben. Aber das war es wert gewesen. Sogar ein Jahr Küchendienst wäre es wert gewesen, solange ich nur dabei sein konnte, als dieses kleine, weiße Wunder die Welt betreten hatte.

Lacotas Brust hob und senkte sich schwer, während eine weitere Wehe ihren Körper malträtierte um das kleine Wesen hinauszuzwingen. Mein Fafa saß hinter ihr, murmelte Worte und strich ihr beruhigend über den Nacken, während die Pfleger der Aufzucht sich um den Rest kümmerten.

Ich reckte den Hals um besser sehen zu können. Zwar war Anima und mir erlaubt worden bei der Geburt dabei zu sein, doch da sie befürchteten wir könnten im Weg stehen, waren wir an den Rand des Geschehens verband worden.

Lacota keuchte. Ihr ganzer Körper spannte sich an.

„Ja, so ist gut, nur noch ein kleines bisschen.“

Oh Göttin, warum nur dauerte das so lange? War das immer so, oder stimmte da etwas nicht?

Fafa murmelte ihr etwas zu, dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Lacota entkam ein tiefes Seufzen und gleichzeitig kam etwas Hektik in die Helfer. Ein Handtuch wurde angereicht.

„Lilith.“ Mein Fafa winkte mich zu sich heran. „Komm her.“

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Er hatte nicht mal richtig ausgesprochen, da war ich bereits an seiner Seite und beugte mich über Lacota hinüber.

Der Helfer legte gerade ein kleines, weißes Knäul neben ihr ab, dass noch etwas orientierungslos nach seiner Nahrungsquelle suchte.

Taub. Blind. Völlig hilflos. Und in drei Tagen würde es in meine Obhut übergegen, dann wäre ich für dieses kleine Wesen verantwortlich.

„Es ist ein kleines Männchen“, erklärte uns der Helfer.

Mein Fafa lächelte weiter, kraulte Lacota dabei das Fell. „Das hast du gut gemacht.“

Anima trat von der anderen Seite heran. „Er ist wunderschön.“

Ja, das war er. Vorsichtig streckte ich eine Hand nach dem kleinen, noch feuchten Fellknäul aus. Er war so weich und so winzig. Erstaunlich, dass daraus einmal mein Geleit werden würde.

Anima lächelte mich an. „Und? Wie wirst du ihn nennen?“

Das war ein Problem, dass ich seit dem Moment wälzte, in dem ich mich dafür entschieden hatte eine Kriegerin zu werden. Ich hatte gewusst, dass dieser Zeitpunkt kommen würde und wollte vorbereitet sein. Unzählige Namen hatte ich mir überlegt, Worte die Stärke, Macht und Gefahr ausdrückten, doch nie hatte ich mich für einen entscheiden können.

Aber jetzt wo ich dieses kleine, unschuldige Wesen vor mir hatte, war es ganz einfach. „Sian“, sagte ich und musste lächeln, als die kleine Nase auf der Suche nach seiner Milch gegen mein Finger stupste. „Wie der Stern der Nacht.“

Ich blickte durch das Blätterdach nach oben, doch leider war der Stern bei Tag im Licht der Sonne verborgen. Doch Nachts strahlte er ein so helles Licht ab, dass er weiß wirkte. Meine Mina hatte mir einmal erzählt, dass dieser Stern über jene wachte, die unschuldig waren, auf das ihnen niemals ein Unheil zuteil wurde.

Das weiße Licht, die Unschuld, all das hatte ich in diesem Moment in Sian gesehen. Und auch jetzt war er nur ein unschuldiges Wesen, das durch Magie zu etwas gemacht wurde, dass er nicht war. Sian war keine blutrünstige Kreatur, er war der Stern der Nacht, der über die Unschuldigen wachte.

Wie an diesem einen Tag, als er wegen dem kleinen Vogel zu mir gekommen war.

„Lith, Lith!“ Sian kam so schnell den Hügel hinuntergerannt, dass er über seine noch viel zu großen Pfötchen fiel und mir direkt vor die Füße kullerte.

Er war noch so tollpatschig, dass ich manchmal wirklich nur über ihn schmunzeln konnte. „Lilith“, erklärte ich ihm zum bestimmt hundertsten Mal. Sian war jetzt seit mehreren Monaten bei mir und sprach für sein Alter bereits sehr gut, doch er schaffte es einfach nicht meinen Namen richtig auszusprechen. „Nicht Lith, sondern Lilith wiederholte ich, ging in die Hocke und stupste ihm gegen die Nase.

Er lag auf dem Rücken, die Pfötchen ´gen Himmel gestreckt und blinzelte mich mit großen Augen an. „Lith.“

Ohje. Aber ich hatte es immer noch besser getroffen als Gillette. Er wurde von Kaio am Anfang immer Mina genannt. „Das lernst du auch noch.“ Ich pflückte ihm ein Grashalm aus dem Fell und drehte ihn wieder auf die Pfoten. „Aber jetzt komm, die anderen warten sicher bereits.“

„Aber der Vogel!“

„Was für ein Vogel?“

„Der auf dem Hügel. Er fliegt nicht mehr.“

Ich blickte den Hügel hinauf. Oben auf stand ein ausladender Baum, der auch an den heißen Tagen kühlenden Schatten spendete. Ich liebte diesen Platz. Von dort konnte man den Tempel in seiner ganzen Herrlichkeit überblicken. „Warum fliegt er nicht mehr?“

„Ich weiß nicht. Er liegt auf dem Boden.“

Sian wirkte so verstört, dass ich ihn auf den Arm nahm und fest an mich drückte. „Dann lass uns mal nachsehen gehen.“

Aber den Vogel hatte ich nicht mehr helfen können. Es war ein Küken gewesen, das aus seinem Nest gefallen war, doch dass musste stunden bevor Sian ihn gefunden hatte geschehen sein. Mein kleiner hatte so bitterlich geweint und ich hatte lange gebraucht, um ihn wieder zu beruhigen. Es war das erste Mal gewesen, dass er dem Tod begegnet war und er hatte hart daran zu knabbern gehabt.

Und solche Erinnerungen waren es die mich nun vorwärts trieben. Immer weiter. Vielleicht hatte Sian sich durch den Zauber verändert, doch in seinem Herzen war er immer noch mein kleines Katerchen – das wusste ich mit Sicherheit.

Ich suchte noch eine lange in diese Richtung, schlug zwischendurch einen Bogen, um das Gebiet um den Tempel zu erkunden, nach hinten Richtung Fluss und eines wurde mir dabei sehr deutlich bewusst. Dieser Geruch nach Fäulnis und Moder wurde nicht nur mit dem Wind vom Fluss zu mir getragen. Der Boden, die Bäume, der ganze Wald dünstete ihn aus. Dieser Ort war krank. Das Verschwinden von Bastets Macht hatte ihm das Leben entzogen und nun starb er langsam aber sicher – genau wie die Ailuranthropen.

An einem krummgewachsenen Baum fand ich einen alten Wildwechsel, der aber schon lange nicht mehr von Beutetieren genutzt wurde. Er war leer und vergessen, so wie der Rest des Waldes, doch an einem dornigen Strauch entdeckte ich ein Büschel schwarzen Fells. Es erregte meine Aufmerksamkeit, weil es an diesem Ort so fehl am Platz wirkte, doch als ich es näher betrachtete und zwischen die Finger nahm, bemerkte ich sofort, dass es schon lange hier hängen musste. Es war stumpf, borstig und von der Sonne ausgeblichen. Egal von welchem Wesen es stammte, mit Sian hatte es wohl nichts zu tun.

„Du solltest nicht allein hier rauskommen.“

Bei Amans Stimme wirbelte ich so schnell herum, dass ich fast auf dem Hintern landete. „Göttertod! Musst du mich so erschrecken?“ Ich legte eine Hand auf mein wild schlagendes Herz. Wie schaffte er es nur immer, sich so an mich heranzuschleichen?

Aman lehnte sich an einen Baum. Sein Blick richtete sich dabei auf das kleine Fellbüscheln in meiner Hand. „Hast du etwas gefunden?“

Ich war versucht die Hand hinter meinem Rücken zu verstecken, nur damit er es nicht sehen konnte, doch dass wäre unreif gewesen. „Ich wüsste nicht was dich das angehet.“ Auf der Suche nach Acco, oder einen der anderen aus der Gruppe, schaute ich an ihm vorbei, doch er war alleine gekommen. Warum? Was tat er hier? Ich hatte ihm doch gesagt, dass er sich von mir fernhalten sollte. Ich wollte ihn nicht mehr sehen, wollte diesen Blick nicht mehr vor Augen haben, es erinnerte mich zu schmerzlich daran was geschehen war. Wegen ihm war Gillette tot, nur weil er mich aufgehalten hatte, weil ich seinen Worten geglaubt hatte.

Dumm, naiv, Ballast, so hatte er mich bezeichnet. Immer  nur im Weg weil ich kein fertiger Krieger war. Doch auch er hatte versagt, und das konnte ich ihm einfach nicht verzeihen.

Aman beobachtete mich unter gesenkten Augenlidern. „Hör auf mich s anzusehen.“

„Dann bleib weg.“ Ich drehte ihm den Rücken zu, ließ das Fellbüschel dabei zu Boden fallen. Es war unnütz, brachte mich auf meiner Suche nicht weiter.

„Du hattest mir nicht gesagt, dass er krank ist“, sagte Aman leise und brachte mich damit zum Stoppen. Er schwieg einen Moment, dann hörte ich, wie er sich in Bewegung setzte. Direkt hinter mir blieb er stehen. Ich konnte seine Wärme in meinem Rücken spüren und glaubte auch den Hauch einer Berührung am Arm zu fühlen. „Es ist keine Entschuldigung“, flüsterte er, „aber hätte ich es gewusst, hätte ich eher reagiert. Und es hieß auch immer, dass die grünen Krieger ihm nichts tun würden. Ich konnte es doch nicht ahnen, Lilith. Ich konnte … es nicht ahnen.“

Warum erzählte er mir das? Warum entstand in mir der Wunsch ihm zu glauben? Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht, dass er mir so nahe war und so mit mir sprach. Ich wusste nicht wie er es machte, doch das war sein Bann. Er sprach mit mir, mit dieser weichen Stimme und ich wollte ihm glauben.

Meine Hände schlossen sich an meinen Seiten zu Fäusten. „Bleib einfach weg von mir.“ Über die Schulter funkelte ich ihn an. „Komm mir nicht mehr zu nahe. Am besten gehst du einfach zurück nach Lakaien, dann muss ich dich nicht mehr sehen.“ Nie wieder. Wenn er weg war, konnte ich endlich wieder ich sein. Dann würden all diese seltsamen Dinge aufhören. Und vielleicht würde mein Geist dann endlich wieder zur Ruhe kommen. „Geh nach Hause, Aman.“

Er drückte die Lippen zusammen und funkelte mich an, doch das interessierte mich nicht. Es war etwas das er mit sich selber ausmachen musste. Ich hatte im Moment wichtigeres zu tun. Wenn er hier war, hatten die anderen meine Abwesenheit in der Zwischenzeit sicher auch bemerkt. Mir blieb also nicht mehr viel Zeit Sian zu finden.

Doch trotz der Wichtigkeit meines Anliegens, tat es weh ihm den Rücken zu kehren. Ich musste meine Beine schon beinahe zwingen sich in Bewegung zu setzen und …

„Ich weiß wer Occino ist.“

Es waren nicht die Worte, sondern der drohende Ton, der mich dazu veranlasste herumzuwirbeln. Fassungslos starrte ich ihn an.

Seine Lippen waren entschlossen zusammengedrückt und der Blick zeigte eine Härte und Beharrlichkeit, die ich so noch nie an ihm gesehen hatte.

„Ich weiß wer Occino ist“, wiederholte er noch einmal, als ich stumm blieb. „Und ich weiß auch wer die Auserwählte ist, die das Volk der Ailuranthropen retten soll.“

Retten? Ich? „Du hast gesagt, dass du es für dich behalten wirst.“

Er blieb stumm.

Das konnte er nicht tun. Das war nicht ehrenhaft. „Du hast es gesagt!“

„Ich bin ein steinköpfiger Hund, das hast du selber gesagt.“ Er machte einen Schritt auf mich zu. „Daher, willst du wirklich auf mein Wort vertrauen?“

„Du hast es aber gesagt.“ Im Wald auf der Erde, nachdem er entdeckt hatte, welche Bedeutung Anima für mein Volk hatte. Er hatte es nicht mit genau diesen Worten gesagt, aber er hatte den Anschein erweckt, dass er es für sich behalten würde – auch vor den Seinen.

„Dann werde ich dir nun etwas anderes sagen.“ Er trat noch näher, so nahe, dass ich seinen Atem im Gesicht spüren konnte. „Schickst du mich weg, werde ich wieder unter meinem Gott sein und vor ihm verweigere ich mich nicht. Die Lykanthropen werden diese Hinweise erhalten. Es ist meine Pflicht sie ihnen zu geben und auch wenn wir verbündete sind, so weiß ich nicht, was sie aus meinem Bericht machen werden.“

Das durfte er nicht. Die einzige Alternative wäre ihn zu töten, aber das konnte ich nicht. Ich wusste dass ich es nicht konnte. Und ich wusste auch, dass ich nicht zulassen würde, dass es jemand anders tat. Aber was blieb mir sonst noch für eine Wahl? Ihn bei mir behalten? Es tat so schon schwer in seiner Gegenwart zu sein. Wie sollte ich das nur in dem Wissen schaffen, dass ich auf ihn achten musste, damit er keine Geheimnisse der Ailuranthropen preis gab? Ich würde ihn nicht mehr aus den Augen lassen dürfen – nie wieder. Und seine Sicuti auch nicht. Er drängte mich in die Ecke und ich konnte nichts dagegen tun.

Resigniert schloss ich die Augen und zwang mich meine Krallen bei mir zu behalten. „Warum tust du das? Warum kannst du mich nicht in Ruhe lassen?“

Seine Berührung an meiner Wange war federleicht und es war allein meiner Selbstbeherrschung zu verdanken, dass ich nicht zusammen zuckte.

„Du gehörst mir, Lilith. Ich werde dich nicht mehr gehen lassen.“ Er schwieg, bis ich die Lider öffnete und ihm direkt in die Augen sah. Die Augen, die so viel mehr verrieten, als ich begreifen wollte. „Ich werde alles daran setzten, dass du bei mir bleibst. Und auch wenn du mich hasst, du bist wichtig für mich. Ich kann nicht einfach gehen.“ Sein Daumen wanderte zu meiner Unterlippe und strich bedächtig darüber. „Und ich weiß, dass es dir genauso …“

„Fass mich nicht an!“ Ich schlug seine Hand weg, taumelte vor ihm zurück und brachte ein Gebüsch zwischen uns, damit er mich nicht mehr berühren konnte. „Bleib weg von mir, komm mir nicht mehr zu nahe!“

„Ich werde dich  nicht aufgeben, Lilith.“ Der Ausdruck in seinen Augen bekam etwas so entschlossenes, dass mir ganz anders wurde. „Niemals.“

„Ich will das aber nicht! Ich will dich nicht und ich will nie wieder von dir Berührt werden! Ich will das diese Gefühle aufhören!“ Zur Sachmet, was redete ich denn da? „Ich will das nicht mehr, ich will mich nicht so fühlen.“ Ich schlang die Arme um mich selber. „Bei Bastet, ich will das nicht mehr. Es soll aufhören. Bitte mach das es aufhört.“ Der Schmerz, das ganze Leid, diese Empfindungen, die mich trotz allem dazu bringen wollten seinem Flehen nachzugeben.

„Lilith. Wenn du nur …“

„Nein!“ Ich wollte seine Worte nicht hören, wollte mich kein weiteres Mal mit dem Bann belegen lassen, den er immer über mich sprach. „Geh einfach weg, du Unglücksbringer!“

Der Schmerz nach diesen Worten blitzte in seinen Augen auf. Er war nicht körperlich, dass hätte er sicher ohne Probleme verkraften können. Nein, dieser Schmerz ging viel tiefer und war geboren in einer Zeit, in der wir uns noch gar nicht kannten.

Er drückte die Lippen zusammen, wich meinem Blick aus. Seine Hände schlossen und öffneten sich immer wieder, so als wüsste er nicht wohin mit seinen Empfindungen. „So siehst du mich?“

„Wie sollte ich es denn sonst sehen? Vinea hat es mir erzählt, sie hat von deiner Romina gesprochen und die hatte Recht. Du bringst Unglück. Wie sonst hätte das alles passieren können? Erst als du aufgetaucht bist sind wir auf der Erde gelandet und von da an wurde es immer schlimmer. Jetzt ist meine Familie tot, mein Land zerstört und mein Volk am Ende. Und trotzdem gibst du nicht auf. Ich habe dir gesagt dass du dich von mir fernhalten sollst, und wieder bist du zu mir gekommen!“

„Nur wegen Gillette.“

„Was?“

Er richtete seinen Blick auf mich. „Sie wollen Gillette begraben und ich hab geglaubt, dass du dabei sein möchtest. Anima wird jemanden brauchen, damit sie nicht Vollendens zerbricht.“

Anima, Gillette. Und auch Kaio. Ich hatte ich so auf Sian versteift, dass ich all das Unschöne der letzten Tage aus meinem Geist verband hatte. Die Suche nach Sian hatte mir eine Aufgabe gegeben bei der ich die Probleme um mich herum vergessen konnte – wenigstens für kurze Zeit. Aber deswegen verschwanden sie nicht. Sie blieben weiter bestehen und lauerten nur auf ihre Gelegenheit, um wieder über mich herzufallen.

„Ich habe deinem Brestern gesagt, dass ich dich holen werde, doch wenn wir nicht bald auftauchen, werden sie uns sicher suchen kommen.“

Licco hatte das erlaubt? Das konnte ich nicht glauben. Er hatte mich die ganze Nacht nicht aus den Augen gelassen, warum also sollte er nun Aman, einen Lykanthropen gestatten mich zu holen.

Mein Misstrauen wuchs. Hier stimmte etwas nicht. „Folge mir nicht.“

 

°°°

 

Es war lautes Fauchen, dass mich empfing, als ich mich dem zerfallenen Tempel nährte.

Auf einer zerstörten Mauer lag Lacota in der Sonne. Sie blinzelte, als sie mich kommen hörte, wandte ihre Aufmerksamkeit aber nicht von den beiden Männern ab, die auf der anderen Seite lautstark miteinander stritten.

„Warum nicht?“, wollte Jaron wissen. „Wann hast du das letzte Mal eine so gesunde Frau gesehen? Vielleicht ist sie die Antwort auf unsere Gebete, vielleicht ist sie noch in der Lage gesunde Natis zu bekommen.“

„Komm ihr nicht zu nahe, Jaron.“

Das warnendes Knurren eines Sermos wurde laut.

Ich wusste es gehörte sich nicht, doch das Gefühl, das mich bereits im Wald beschlichen hatte, kehrte zurück. Hier stimmte etwas nicht und die lauten Stimmen der beiden Krieger verdeutlichten es mir noch einmal.

„Das hast du nicht zu entscheiden.“

„Ich habe auf diese Entscheidung ein größeres Anrecht als du.“

Vorsichtig schlich ich näher und blickt um die Ecke herum.

Jaron und Licco standen gegenüber. Zwischen ihnen lag Aggressivität in der Luft, die zu meiner Überraschung von Licco ausging. Er wirkte, als wolle er gleich über Jaron herfallen und ihm die Krallen durch das Gesicht ziehen. Wahrscheinlich war das auch der Grund für den wachsamen Blick, den Mochica von der Seite auf meinen Brestern gerichtet hatte.

„Sie ist eine Auserwählte“, erklärte Jaron. „Vielleicht ist genau das die Aufgabe, für die Bastet sie vorgesehen hat. Gesunde Natis, die nächste Generation. Es wäre das größte Glück das uns wiederfahren könnte.“

Oh Göttin, sie sprachen über mich!

„Sie ist viel mehr als eine Auserwählte. Und du vergisst, dass sie noch zu jung ist.“

„Sie ist nicht zu jung, sie ist älter als ich.“

„Nein, ist sie nicht“, wiedersprach Licco ihr sofort. „Hast du Ravics Worte nicht verstanden? Für uns sind acht Jahre ins Land gezogen, doch für sie waren es nur wenige Tage. Sie ist noch ein Lehrling, kaum älter als an dem Tag, an dem sie verschwand.“

Jaron schnaubte und schüttelte den Kopf, als könnte er es nicht fassen, so einen Steinkopf vor sich zu haben. „So sprichst du nur, weil sie deine Brestern ist.“

„So spreche ich, weil es die Wahrheit ist.“ Er trat einen Schritt auf ihn zu. „Du bist so verblendet von dem Wunsch dem Volk Hoffnung und Leben zurückzubringen, dass dir dafür jedes Mittel recht ist. Doch ich schwöre dir: Solltest du Lilith bei diesem Versuch auf irgendeine Art schaden, dann solltest du dich verstecken, denn wenn ich dich finde, wirst du es bereuen.“

Mochica sträubte sich das Nackenfell, doch sie blieb still neben ihrem Krieger sitzen.

Eine Hand an der Mauer trat ich einen Schritt vor. Was ich da hörte war kaum zu glauben. Die Reden in meinem Geist versuchten das Gesagte zu verblenden. Es konnte nicht das beuten was ich glaubte. Jaron hatte sich ohne Zweifel verändert, aber dies ging doch zu weit. Es konnte einfach nicht stimmen.

„Sie wurde von Bastet auserwählt“, erwiderte Jaron schroff. „Du kennst sie genauso gut wie ich. Wofür sollte die Göttin sie auswählen, wenn nicht genau dafür? Sie war nie ein guter Lehrling, und wie du bereits sagtest, sie war nur wenige Tage fort. Glaubst du wirklich, dass sie in so kurzer Zeit plötzlich ungeahnte Fähigkeiten in sich entdeckt hat, die sie zu einer Kriegerin machen, wie das Volk sie braucht? Du bist ein Phantast, Licco. Der schlimmste den ich kenne.“  

Das zu hören tat weh. Es schmerzte, als hätte er mir einen scharfen Dolch ins Fleisch gebohrt. Hatte Jaron schon immer im Geist so über mich geredet? War ich in seinen Augen schon immer eine schlechte Anwärterin gewesen? Aber warum hatte er sich dann so um mich bemüht?

„Lilith hat in der Ausbildung nie herausgestochen“, fuhr er fort. „Sie kennt nur ein paar kleine Tricks und kann Messer werfen und das auch nur, weil Gillette es ihr beigebracht hat. Und nun ist sie zu etwas Höherem bestimmt. Was glaubst du wohl, was das bedeutet?“

Licco kniff die Augen bis auf zwei Schlitze zusammen. Seine Zähne mahlten, als versuchte er ein besonders zähes Stück Fleisch klein zu bekommen. „Halt dich von ihr fern.“

Doch Jaron schien nicht einsichtig. In seinem Kopf war eine Idee entstanden, von der er nun nicht mehr los kam. „Ich bin der beste Krieger den wir haben.“ Er tippte sich gegen die Brust. „Und ich bin einer der Wenigen der noch gesund ist.“

Licco zeigte ihm die Zähne und oben auf der Mauer zuckte Lacota unruhig mit ihrem Schwanz. Das Gehörte schien ihr genauso wenig zu gefallen wie mir.

Jaron trat einen Schritt von Licco zurück. „Bei unserer Rückkehr werde ich mit den Priestern sprechen und du wirst sehen, sie werden es genauso geistreden wie ich. Lilith wurde auserwählt und von der Göttin zu uns zurück geschickt. Nun muss sie ihrer Bestimmung folgen.“

„Sie ist noch viel zu jung.“

„So sprichst du nur, weil sie deine kleine Brestern ist. Wäre es Anima über die wir hier reden, oder eine andere Freu, dann wärst du nicht dagegen.“

Es war faszinierend und beängstigend zu gleich, wie schnell Licco seine gelassene Ader wiederfand. „Willst du nun auch noch Anima zu einer Coa machen? Sie ist Occino. Niemand fast Occino ohne ihre Zustimmung an.“

Coa?! Jaron glaubte Bastet hätte mich zu einer Coa gemacht?

„Anima ist gebrochen, Lilith nicht. Und sie ist eine Auserwählte, keine Coa. Die Männer werden ihr als Collusor dienen. Gewöhn doch daran.“

Licco kniff die Augen zeigte ihm die Zähne.

„Du wirst schon merken, ich werde nicht der einzige sein, der so geistredet.“ Er drehte sich herum und schien nicht mal überrascht mich zu sehen. Wusste er die ganze Zeit dass ich hier stand? War es ihm egal, dass ich seine Worte gehört hatte, dass er mich praktisch als ein Stück Fleisch ansah?

Er schenkte mir keine Aufmerksamkeit, schritt wortlos an mir vorbei, als wäre ich wirklich nichts weiter als Luft. Und genauso still folgte Mochica ihm.

Lilith wurde auserwählt und von der Göttin zu uns zurück geschickt. Nun muss sie ihrer Bestimmung folgen.

Sollte das wirklich meine Bestimmung sein? War es dass, was die Göttin für mich im Sinn hatte? Ich sollte Natis bekommen, um das Volk zu retten? Um ihm neue Hoffnung zu geben?

Licco trat neben mich und legte mir eine Hand auf dem Rücken. „Am besten gehst du ihm aus dem Weg.“

„Glaubst du das auch? Glaubst du ich wurde dazu auserwählt die Coa vieler Männer …“

„Nein.“ Seine Lippen wurden zu einem dünnen Strich, während er dabei zusah, wie Jaron um ein paar Trümmer verschwand. „Ich weiß nicht was Bastet mit dir im Sinn hat, doch sicher wollte sie dich keinem Mann schenken.“

„Und wenn doch?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich kann es mir nicht vorstellen. In der Geschichte bist du nun die dreizehnte Auserwählte der Ailuranthropen und bisher war keine von ihnen für eine solch niedrige Aufgabe bestimmt.“

„Du findest es niedrig Natis in die Welt zu setzen?“

„Nein, ich würde es niedrig finden, wenn dein Talent für eine solche Aufgabe verschwendet werde würde.“

Ich schnaubte. Talent. Ich besaß keine Talente.

Licco strich mit der Hand auf meine Schulter du drückte sie leicht. „Erinnerst du dich noch daran was Fafa früher immer zu dir gesagt hat?“

Nasan, du hast das, was eine Kriegerin brauch, das Herz und den Willen. Wenn es das ist, was du tun willst, lass dich von niemand aufhalten. Ich werde immer stolz auf dich sein. „Wie könnte ich das vergessen.“

„Fafa war immer stolz auf dich. Nicht nur weil du seine einzige Tochter bist und auch nicht weil du dich für den Weg des Kriegers entschieden hast, sondern wegen deiner Art. Du glaubst gar nicht wir oft Tarpan und ich abends mit ihm zusammengesessen haben und uns Geschichten über dich anhören mussten.“ Er lächelte leicht schief. „Manchmal war es wirklich unerträglich.“

„Hat er das wirklich getan?“

„Natürlich.“ Er seufzte. „Was ich dir damit eigentlich sagen will. Fafa war immer stolz auf dich und er weiß dass du es schaffen wirst. Du kennst ihn gut genug um zu wissen, dass er sein Vertrauen nur in wenige Leute steckt, aber du hast es. Und bis jetzt hast du ihn nie enttäuscht.“

„Das ist aber völlig egal, wenn die Göttin mich wirklich dazu auserkorene hat, dem Volk durch neue Natis zu helfen.“

Licco zog eine Augenbraue nach oben. „Fafa ist nur ein Ailuranthrop und hat dein Talent bereits früh erkannt. Glaubst du nicht auch, dass die Göttin es nicht sogar noch besser weiß als er?“

Wenn er das so sagte, wollte ich es wirklich glauben. Ich wollte Talent haben, wollte einmal etwas Besonderes sein, das herausragte und zwar nicht nur durch schlechte Leistungen. Aber was wenn Jaron Recht hatte und die Priester ihm zustimmen würde? Was wenn es wirklich Bastets Wille war, dass ich mir einen Mann nahm und Natis in die Welt setzte?

Das Bild von Aman erschien vor meinem inneren Auge, die Momente in denen er sich mir genährt hatte, seine Berührungen und die gestohlenen Küsse. Ich schüttelte den Kopf, um diese Bilder loszuwerden. Aman war ein Lykanthrop, das alleine reichte bereits um mich von ihm fernzuhalten. Ich würde ihn kein weiteres Mal zu nahe an mich heran lassen und das nicht nur, weil er Schuld an Gillettes Tod trug.

Du hattest mir nicht gesagt, dass er krank ist. Es ist keine Entschuldigung, aber hätte ich es gewusst, hätte ich eher reagiert. Und es hieß auch immer, dass die grünen Krieger ihm nichts tun würden. Ich konnte es doch nicht ahnen, Lilith. Ich konnte … es nicht ahnen.

Ich verfluchte mich dafür, dass ich einen Moment in Betracht zog diese Worte zu glauben. Es würde vieles einfacher machen und doch alles komplizierter. Zur Sachmet noch eins, warum konnte er nicht einfach wieder verschwinden?!

„Bedeutet dein Schweigen, dass du es nicht glaubst?“

„Ich weiß nicht was ich glauben soll“, sagte ich ganz ehrlich und richtete meinen Blick auf den Waldrand. Aman war nicht mit mir zurückgekommen, er war noch immer dort draußen. „Alles ist so … anders, kaputt. Ich … wie hatte das nur passieren können?“

„Das Schicksal kann sehr grausam sein und manchmal können nicht einmal die Götter etwas dagegen ausrichten.“

In diesem Fall musste ich ihm leider zustimmen.

„Aber jetzt sind du und Occino zu uns zurückgekehrt und alles andere wird sich finden.“ Er lächelte mich an und mir wurde klar, dass auch er sich mit unserer Rückkehr neue Hoffnungen machte. Doch was wenn ich diesen nicht gerecht werden konnte? Was wenn Bastet sich geirrt hatte und durch mich alles nur noch schlimmer wurde? Ich konnte das nicht, ich konnte diese Verantwortung nicht tragen, dazu war ich einfach nicht stark genug.

Er runzelte die Stirn und musterte mich. „Was trägst du da nur für Kleidung?“

Ich sah an mir herunter. „Kleidung der Menschen. Unterwäsche. Das trägt man auf der Erde.“

Sein Kopfschütteln sagte mir alles. „Ich habe in meiner Satteltasche noch einen Lendenschurz, den ich dir geben kann.“

„Vergelts.“

„Warte hier. Ich bringe ihn dir und dann gehen wir und begraben Gillette.“

Gillette.

Während ich Licco dabei zusah, wie er in den Tempel verschwand, lehnte ich mich an die zerbröckelte Mauer. Eigentlich war es brauch den toten Leib seiner Familie zu bringen. Das wir ihn nun hier begraben würden konnte nur bedeuteten, das Jaron nun völlig allein war und so entschieden hatte. Anima war dazu nicht mehr in der Lage.

Ich sah an der zerfallenen Pyramide hinauf. Eigentlich wäre es meine Pflicht an ihrer Seite zu weilen, bis es ihr besser ging, doch ich ertrug diesen allgegenwärtigen Schmerz der von ihr ausging nicht. Es erinnerte mich immer daran, dass ich bei dem Versuch mein Versprechen zu halten versagt hatte. Ja, es war mir zu verdanken dass wir zurück nach Silthrim gekommen waren, doch was zählte das schon, wenn wir dafür ein Leben zurück lassen mussten und ein weiteres zerbrach. An Kaio wollte ich gar nicht erst geistreden. Wenn Anima zerbrochen war, dann war er nur noch ein Wrack. Seit wir ihn aus der Gefangenschaft des Kriegergenerals befreit hatten, starrte er nur noch mit glasigem Blick ins Leere.

Anima zeigte hin und wieder wenigstens noch das Leben in ihr steckte. Sie schrie oder weinte. Doch Kaio gab keine Regung von sich. Er schien nur noch eine leere Hülle zu sein, die sich zwar ans Leben klammerte, aber trotzdem bereits in die Mächte eingegangen war.

„Du warst im Wald und hast Sian gesucht.“

Bei Lacotas Stimme schreckte ich aus meinen Geistreden auf. Ich hatte ganz vergessen, dass sie hinter mir auf der Mauer lag.

„Ich verstehe dich.“ Sie richtete ihren Blick in die Ferne, ließ ich über die blattlosen Bäume des Waldes wandern. „Auch ich war oft dort draußen um ihn zu finden. Zusammen mit deinem Fafa. Meine Suche war selten von Erfolg gekrönt. Er versteckt sich in diesen Wäldern. Sie sind sein Zuhause.“

„Sein Zuhause ist bei uns, bei seiner Familie.“

Sie ließ die Worte verklingen. Nur das wispern des Windes umfing uns. Sann seufzte sie und sprang geschmeidig neben mich auf den Boden. „Folge mir, ich möchte dir etwas zeigen.“

„Licco …“

„Wir uns schon finden. Und nun komm.“

Es war unüblich, dass ein Sermo Befehle gab, doch Lacota tat nie etwas ohne Grund. Deswegen folgte ich ihr ohne ein weiteres Wort über den Tempel und war verwirrt, als wir an unserem Ziel ankamen. Die kleine Rundhütte, in der ich mit Anima und Mikain gelebt hatte. Doch sie ging nicht in die Hütte hinein, sondern blieb an der Außenwand stehen.

„Sieh es dir an.“

Ich runzelte die Stirn und trat näher zu ihr. Trotzdem musste ich die Augen zusammenkneifen um zu erkennen, was sie mir zeigen wollte. Da in der Hauswand waren frische Kratzspuren. Sie waren sehr tief und strömten einen moschusartigen Geruch aus, der mir völlig unbekannt war.

Ich ging in die Hocke, strich mit den Fingern darüber. Kleine Krümel lösten sich aus dem Gestein und rieselten zu Boden, bedeckten meine Haut mit weißem Staub. „Die sind frisch.“ Sie konnten nicht älter als ein Tag sein. Vielleicht noch weniger. 

Mein Blick richtete sich auf den erdigen Boden unter mir. Auch dort waren Spuren. Abdrücke von sehr großen Pfoten. Sie verliefen in  beide Richtungen, hin und her, im Kreis herum. Der ganze Platz war übersät mit diesen Spuren, so als hätte der Besitzer hier nach etwas gesucht.

„Sian war heute Nacht hier.“ Lacota schaute mich nicht an. Ihr Blick war auf die Kratzspuren gerichtet. „Eigentlich hat er gelernt das Gelände nicht zu betreten, wenn ich in der Nähe bin. Er weiß dass ich ihm gefährlich werden kann und doch hat ihn der Wald heute Nacht nicht halten können.“ Sie richtete ihren durchdringenden Blick auf mich. „Er hat dich gerochen, Lilith. Er weiß das du hier bist.“

 

°°°

 

Janina lachte ein glockenhelles Lachen und lächelte Luan an. „Warum habe ich das noch nicht früher getan?“

„Weil es auf der Erde keine Sermos gibt?“ Pascal ließ es als Frage klingen und sprang grinsend zur Seite, als seine Brester mit dem Fuß nach ihm ausholte.

„He“, protestierte Vinea. Sie saß hinter Janina auf Acco und hatte Schwierigkeiten sich festzuhalten, wenn Janina so rumhampelte.

„Amentrum“, sagte Acco. „Ich bin jetzt ein Amentrum, kein Sermo.“

„Ist mir egal.“ Lächelnd strich sie ihm über den Kopf. „Es ist auf jeden Fall klasse auf dir zu reiten.“

Die Sonne brannte heiß auf uns hinunter.

Ich strich mir die Haare aus dem Nacken und richtete den Blick nach oben in den Himmel. Wir waren noch immer im Wald und würden ihn auf unserem Weg auch nicht verlassen. Ganz Ailuran lag in diesem Wald. Nur wenige Abschnitte lagen unter dem freien Himmel. Doch die Grüne war verschwunden. Alles war vertrocknet, kahl, krank.

Das war nicht mehr das Land das ich noch vor wenigen Tagen mein Zuhause genannt hatte. Dies war nur noch eine karge Landschaft, in der die Fremde wohnte. Es war als zeigte das Land seine Trauer um den Verlust von Bastets macht. Es zeigte die gleiche Trauer, die in meinem Herzen wohnte.

Es war bereits Stunden her, dass wir Gillette begraben hatten. Hoch oben auf dem Hügel, auf dem wir sooft miteinander gelacht hatten. Anima war völlig zusammengebrochen, während Jaron keine Regung gezeigt hatte. Doch was mir wirklich das Herz in der Brust zerrissen hatte war Kaio gewesen. Er hatte sich still neben das Grab seines Leiters gelegt und während wir die Vorbereitung für unseren Aufbruch getroffen hatten, war er einfach eingeschlafen.

Es waren Nebka und Asokan gewesen, die ihn dort entdeckt hatten. Sie wollten ihn holen, damit wir abreisen konnten, doch so viel Mühe sie sich auch gegeben hatten, er war nicht mehr erwacht. Es war als hätte Kaio nur darauf gewartet in Stille mit seinem Leiter vereint zu sein um friedlich in die Mächte einzugehen.

Während ich mir Geistreden darüber gemacht hatte, wie ich Sian dazu bringen konnte mir zu folgen, war Kaio gestorben. Ganz alleine. Ohne Wiederkehr.

Ich blinzelte die Tränen aus meinen Augen. Wir hatten seinen Körper aus den Klauen des Kriegergenerals befreien können, doch sein Geist war bereits verloren gewesen und hatte nur noch darauf gewartet den Körper verlassen zu dürfen.

Jetzt hatten wir nichts mehr. Wir hatten Gillette nicht retten können, das Tigerauge verloren und nun war auch noch Kaio von uns gegangen.

Wir sterben aus. Mit jedem Tag wird es schlimmer.

Doch Kaio war nicht wegen einer Krankheit gestorben. Kaios Leid war die Trauer, die sich in seinen Geist gefressen hatte und ihn malträtierte bis er endlich einschlafen konnte. Dort oben auf dem Hügel neben Gillettes Grab hatte er den Frieden gefunden den er so dringend brauchte. Doch ich konnte es ihm nicht verzeihen.

Ein weiteres Leben war verloren. Würde es nun jeden Tag so sein? Würde ich immer mehr meiner Amicus sterben sehen? Wieviel Leid konnte ein Wesen ertragen? Erst das Volk, dann das Land. Meine Familie, Sian, Naaru, Gillette und nun auch noch Kaio.

Sie alle verschwanden und keiner von ihnen kehrte wieder.

Eine Berührung an der Hand ließ mich den Kopf drehen. Es war John, der mich mit gründlichem Blick musterte. „Alles in Ordnung bei dir?“

„Nein, im Moment ist gar nichts in Ordnung.“ Ich griff seine Hand und schaute nach vorne zu Janina. Sie hatte Spaß dabei auf Acco zu reiten. Der Weg war beschwerlich und sie stand kurz vor der Niederkunft. Mit jeder verstreichenden Stunde war es ihr schwer gefallen unser Tempo zu halten. Deswegen hatte Destina mit Aman gesprochen. Reiten zu können war für sie einfacher – und auch für uns. So mussten wir keine Rücksicht auf sie nehmen. Nicht das Jaron das getan hätte.

Er thronte hoch oben auf Mochica und führte unsere kleine Gruppe an. Licco ritt ein Stück hinter ihm auf Lacota und versicherte sich immer wieder, dass wir noch vollständig waren. Der Rest der Gruppe lief hinter ihnen her.

John verzog verlegen das Gesicht. „Tut mir leid, das war eine blöde Frage gewesen.“

„Es ist in Ordnung.“ Ich drückte seine Hand. „Ich verstehe schon, du machst dir Geistreden.

Aman lief ein kleines Stückchen Abseits. Immer wieder spürte ich wie er mich beobachtete.

Kurz bevor wir aufgebrochen waren, war es aus dem Wald gekommen. Was er dort getan hatte, hatte er mich nicht gesagt – ich hatte auch nicht gefragt.

Und wenn sein Blick nicht auf mir lag, dann lag er auf seiner Sicuti. Es war offensichtlich, dass er sich noch Sorgen um sie machte. Natürlich, durch John ging es ihr bereits erheblich besser, aber der Bruch in ihrem Arm war noch nicht ganz geheilt und die Bauchwunde konnte sich bei Überanstrengung immer noch wieder öffnen. 

John blickte nach vorne, als seine Brestern wieder loslachte. Sie war ziemlich wütend gewesen, als ich mit nichts als einem Lendenschurz bei von der Beerdigung gekommen war, doch hier gab es das Schamgefühl der Erde nicht und daran würde sie sich gewöhnen müssen.

„Wie wird es jetzt weiter gehen?“, wollte er wissen. „Ich meine, wie es scheint habt ihr im Moment genug Probleme und … ich weiß nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Leute so entzückt darüber sein werden, wenn sie sich um ein paar gestrandete Außenseiter kümmern sollen.“

Mit dieser Frage erwischte er mich eiskalt. Die Ailuranthropen waren zu Außenstehenden noch nie besonders zuvorkommend gewesen. Sie waren anders als wir, gehörten nicht zu uns. Unsere Einstellung ging oft in eine ganz andere Richtung.

Ich gab es ungern zu, aber ja, wir waren engstirnig und traditionell und so wie die Lage im Moment war, wusste ich wirklich nicht was ich darauf antworten sollte. Würde die Ailuranthropen Fremde in ihrer Mitte dulden? Jemand der so völlig anders war? Sie verstanden ja nicht mal unsere Kleidung. Unsere Ansichten waren völlig verschieden.

„Dein Schweigen ist ziemlich eindeutig.“

„Nein, es … du bleibst bei mir. Ich werde mit den Priestern reden.“

Sein Blick ging zum Boden. „Ich bleibe bei dir? Und was ist mit meiner Familie?“

Mein Mund schloss sich mit einem hörbaren klacken. John konnte bleiben, da war ich mir sicher. Er war keine Gefahr, er gehörte keinem Volk, keinem Gott an, aber die anderen. „Du willst bei ihnen bleiben.“

„Sie sind meine Familie.“

„Sie sind anders als du.“ Dieser bohrende Blick war wieder da. Ich versuchte ihn so gut es ging zu ignorieren und streifte beim Laufen beiläufig die Rinde eines Baumes. Das tat ich schon die ganze Zeit. Es waren Markierungen. Wenn Sian wirklich auf der Suche nach mir war und in der Nacht die kleine Hütte aufgesucht hatte, weil er meinen Geruch dort wahrgenommen hatte, dann würde das reichen damit er mir folgen konnte.

„Lilith.“ John atmete tief ein. „Bei dir zu bleiben … naja, es würde mich nicht stören, aber leider habe ich den Eindruck, dass du mich nur behalten möchtest, weil ich in deinen Augen eine Kuriosität bin.“ Er lächelte leicht schief. „Okay, manchmal ist da noch was anderes, aber so im Allgemein …“ Er ließ den Rest des Satzes offen.

Als das durchdringende Gefühl des Blickes noch nachließ, wandte ich den Kopf zu Aman. Er sollte damit aufhören, doch er sah mich gar nicht an. Ich schaute umher und musste feststellen, dass mich im Moment niemand beobachtete.

„Du darfst mir ruhig wiedersprechen.“

Ich blieb stehen und blickte zwischen den Bäumen umher. Seit wir losgezogen waren hatte sich die Landschaft nicht großartig verändert. Der Wuchs der Bäume war magerer geworden und ließ immer wieder kleine Freiflächen, in denen die Sonne auf uns niederbrannte. Früher war hier alles grün gewesen. Die Bäume hatten dicht an dicht gestanden, eine undurchdringliche Mauer gegen den Rest der Welt, die uns nicht nur Schutz, sondern auch Nahrung gegeben hatte. Jetzt waren es nur noch verdorrte, knochige Gerippe auf rissigem Ödland. Keine Pflanzen, kein Gras, kein Leben. Es war eine ausgetrocknete Wüste in der die Sonne erbarmungslos auf uns niederbrannte.

Selbst die wenigen Wasserstellen an denen wir vorbeigezogen waren, schienen schon vor langer Zeit ausgetrocknet zu sein. Und auch die zwei Dörfer die wir passiert hatten, beherbergten schon lange kein Leben mehr.

Es tat mir weh Ailuran, das blühende Land meiner Göttin so sehen zu müssen. Es war nur noch ein Grab. Der Grund selber schien über den Verlust von Bastets Macht zu trauern.

Außer uns gab es hier kaum noch Leben. Und trotzdem hatte ich das starke Gefühl aus dem Hinterhalt beobachtet zu werden. Ich konnte die Richtung nicht bestimmen, konnte es nicht eindeutig benennen, aber es war da.

„Alles in Ordnung?“ John blickte ich umher, runzelte die Stirn und sah dann den andern nach, die nicht bemerkt hatten, dass wir stehen geblieben waren. „Sie warten nicht.“

Woher kam das nur?

Ich ließ meinen Sinnen freien Lauf, versuchte die Ursache zu finden, doch da war nichts als große vertrocknete Bäume, die gen Himmel ragten und nur wenig Schatten über dieses unwirkliche Land warfen.

„Lilith?“

„Ja ich … ich hab nur geglaubt da wäre etwas gewesen.“ Vorsichtshalber warf ich noch einen Blick umher, doch das Bild blieb das gleiche. Da war nichts. Nur wir und der tote Wald. „Ich hatte nur … egal. Komm, lass uns weitergehen, bevor wir den Anschluss verlieren.“ Ich würde den Weg zwar auch alleine finden, doch das wollte ich nicht, denn obwohl das hier meine Heimat war, war sie mir in der Zwischenzeit doch völlig fremd.

Ich zog John weiter hinter mir her und versuchte meine Geistreden auf etwas anderes zu richten. Blaue Funken zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie kamen von Pascal. Er schien zu versuchen Anima mit kleinen Tricks aufmuntern zu wollen, ließ bunte Lichter in die Luft fliegen, Kreise und Schnörkel ziehen, bis sich Lichtgebilde vor ihnen in der Luft abbildeten, doch sie schien es nicht einmal zu bemerken. Ihr Blick war auf den Boden gerichtet. Er war eine rein gewohnheitsgemäße Geste, dass sie einen Fuß vor den anderen setzte.

Ich biss mir auf die Lippen. Eigentlich wäre es meine Aufgabe an ihrer Seite zu laufen, doch ich konnte mich nicht dazu durchringen. Die Schuld meines Versagens lastete auf meinem Schultern. Wie sollte ich ihr so unter die Augen treten?

Die Sonne wanderte über unseren Köpfen am Horizont entlang. Die Zeit verstrich, doch das Land veränderte sich nicht. Und noch etwas anderes blieb bestehen. Dieses Gefühl beobachtet zu werden. Es lastete auf mir wie ein schwerer Fels, aber egal wie sehr ich mich bemühte, ich konnte die Ursache nicht entdecken.

Vielleicht war es ja die Göttin selbst, die ihren Blick auf mich gerichtet hatte. Ich war ihre Auserwählte, der dreizehnte Ailuranthrop der dazu bestimmt war dem Volk auf eine ganz spezielle Weise zu dienen. Nur leider hatte sie vergessen mir meine Aufgabe zu eröffnen.

Würde ich wissen was ich tun musste, wenn es so weit war? Und würde ich die Aufgabe die mir bevorstand auch bewältigen können?

Oh Göttin, du hast die falsche gewählt.

 

°°°

 

Meine Augen huschten zu den kahlen Bäumen, die sich vor der Höhle dicht an dicht drängten. Dieses bohrende Gefühl war geblieben, ich glaubte immer noch, dass mich jemand beobachte, doch bisher hatte ich nichts auswindig machen können.

„Hier, trink das.“

Ich sah zu Licco auf, der mir eine Schale mit Wasser hin hielt.

„Vergelts.“ Ich nahm die Schale und setzte sie an meine Lippen, konnte dabei aber nicht vermeiden, weiter nach der Ursache dieses Gefühls zu suchen.

Der Tag war bereits weit voran geschritten, der Höchstpunkt der Sonne überschritten und wir alle hatten eine Pause gebraucht. Deswegen hatten wir uns an diesem Felsen nieder gelassen. Licco war mit Ravic und Kek aufgebrochen um etwas Essbares zu besorgen, während Janina sich im Schatten zu einem Schläfchen hingelegt hatte. Für sie war diese Reise besonders anstrengend, doch es schien ihr ausnehmend gut zu gefallen. Pascal dagegen schimpfte immer wieder über Insekten und war schon mehrfach über Wurzeln gestolpert. Er mochte diesen Wald nicht.

Ich leere die Schale, wischte mir über den Mund und reichte sie an Licco zurück.

„Die Erdlinge sind seltsam.“ Er beobachtete Luan und Destina, die neben Janina saßen und sich leise miteinander unterhielten. „Ihre Kleidung, ihr ganzes Gebaren.“

„Ich habe mich an sie gewöhnt.“

„Ich traue ihnen nicht.“ Er erhob sich. „Sie sind schwer einzuschätzen.“

„Pascal und Janina sind ungefährlich. Sie sind nicht geschult, bewegen sich wie ungestüme Natis. Luan war einst Krieger unter Anubis, doch die vielen Jahre der Trägheit haben ihn schwach und unaufmerksam gemacht. Ich habe gesehen wie er in eine von Animas Fallen gelaufen ist, obwohl er sie hätte sehen müssen. Und John ist wie ein Neugeborenes. Er verfügt über keinerlei Magie.“ Auch ich richtete ich auf und folgte seinem Blick. „Destina dagegen …“

„Sie ist gefährlich.“

„Ja.“ Ich erinnerte mich noch zu gut an den Moment, als wir in das Haus des Kriegergenarals eingedrungen waren. „Wenn sie ihre Familie schütz, ist sie gefährlich. Eine Lykanthropen mit der Macht von Sachmets Natis.“

„Eine gefährliche Mischung.“

„Nur wenn du sie gegen dich aufbringst.“ Ich strich mir das kurze Haar aus dem Nacken und rieb über meine Arme. Ich fühlte mich schmutzig. Der Staub der Wanderung hatte sich über meine ganze Haut gelegt und juckte unangenehm. „Ich gehe kurz zum Bach hinunter, bevor der Dreck mich noch wahnsinnig macht.“  

Licco verzog mitleidig das Gesicht. „Du wirst wohl ausharren müssen, bis wir in den Höhlen sind. Der Bach ist ausgetrocknet.“

Natürlich war er das, das war mir bewusst. Aber ich brauchte eine Möglichkeit um mich unbemerkt davon zu machen, ohne dass die andern mir folgten. Die letzten Stunden hatte Licco mich so in Beschlag genommen, dass ich nur wenige Geruchsspuren hatte setzten können. Ich musste noch einmal zurück, damit Sian mir folgen konnte und bangte gleichzeitig darum, ob er es auch wirklich tat.

Ich drückte die Lippen fest zusammen. „Der Bach hat immer gesprudelt.“

„Früher, vor vielen Jahren. Heute ist er nur noch ein trockener Lauf, in dem sich der Kompost des Waldes sammelt.“

Ich blickte weg von ihm, hinüber zum Wald, da dieses bohrende Gefühl immer stärker wurde. Irgendwas war das gefiel mir nicht. Die Nackenhärchen stellten sich mir davon auf. Doch darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Um Sians Willen musste ich es ignorieren. Und einen Weg finden unbemerkt zu verschwinden. „Alles ist so anders.“

Mitfühlend legte er mir eine Hand auf die Schulter. „Ich weiß es ist nicht einfach, aber du wirst dich schon daran gewöhnen. Und Fafa wird sich freuen dich noch einmal sehen zu können.“ 

Ich runzelte die Stirn. Warum hatte er das so komisch formuliert? „Noch einmal sehen?“

„Wenn du in den Höhlen bist.“ Er lächelte etwas schief, doch es erreichte seine Augen nicht. „Fafa hat dich vermisst.“

„Ich habe ihn auch vermisst.“ Ich seufzte. „Ich werde trotzdem zum Bach gehen. Ich muss einfach … ich … ich weiß nicht.“

Licco schwieg, verstärkte dann sein Griff und drückte mich an sich. Ich nahm den vertrauten Geruch meiner Kindheit wahr. Er bedeute Sicherheit, Geborgenheit. Licco war immer mein liebster Brestern gewesen. „Es wird alles wieder gut werden. Jetzt wo du und Anima zurück seid wird alles wieder gut werden.“

Wie sehr ich seinen Worten Glauben schenken wollte, doch da waren all diese Zweifel.

Sie ist eine Auserwählte. Vielleicht ist genau das die Aufgabe, für die Bastet sie vorgesehen hat. Gesunde Natis, die nächste Generation. Es wäre das größte Glück das uns wiederfahren könnte.

Ich löste mich von ihm. „Ich werde nicht lange weg sein.“

„Soll ich dich begleiten?“

„Nein, ich …“ Ich sah zu ihm auf. „Ich brauche einfach mal ein paar Minuten für mich.“

Dass passte ihm nicht. Ich sah es ihm deutlich an.

„Ich werde nicht weit weg gehen und bald zurück sein.“

Er wollte wiedersprechen, schüttelte dann aber resigniert den Kopf. „Nimm wenigstens Lacota mit.“

„Ich werde nicht lange weg sein“, wiederholte ich nur und wandte mich von ihm ab. Ich glaubte nicht das Lacota mich bei meine, Vorhaben behindern würde, doch mir war durchaus bewusst, dass sie es Licco erzählen konnte und das wollte ich nicht. Er war dagegen dass ich nach Sian suchte und er würde es sicher auch nicht gutheißen, wenn ich eine Spur legte, damit er mir folgen konnte.

Nein, es war besser wenn ich das allein tat.

Sein Blick verfolgte mich, bis die Bäume mich von ihm trennten. Und nicht nur seiner. Ich bemerkte durchaus, dass auch Aman mich beobachtete, doch es war nicht sein bohrender Blick, der mich die ganze Zeit so unruhig werden ließ.

Ich lief noch ein kleinen wenig tiefer in den Wald bis ich sicher war, dass mich keiner der anderen beobachten konnte. Hier gab es kein einziges Blatt, kein Leben, nur dieses karge Land mit verdorrten Bäumen und ausgetrockneten Sümpfen. Es wollte mir einfach nicht in den Kopf, wie das Verschwinden des Tigerauges daran schuld sein konnte. Meine Geistreden sagten mir, dass es einfach falsch war. Wie konnte das Land vertrocknen? Es war doch nicht von Bastets Macht abhängig – nicht so wie mein Volk.

Doch diese Reden im Geist brachten mich nicht weiter. Ich versuchte sie zu verdrängen, suchte mir einen geeigneten Baum und rieb mit der Schulter deutlich über die Rinde. Ein paar Meter weiter tat ich das gleiche mit einem andern. Und noch einem. Sieben. Acht. Neun. Immer weiter entfernte ich mich vom Lager, suchte mit geeignete Plätze, bis dieser Teil des Waldes geradezu meinen Geruch ausdünstete. Wenn der Wind günstig stand würde Sian mich über Kilometer riechen können. Trotzdem wollte ich auf Nummer sicher gehen und suchte mir noch einen weiteren, mageren Stamm heraus, der kaum dicker als mein Handgelenk war.

Ich fuhr gerade die Krallen aus um eine Deutliche Markierung zu setzen, als sich meine Nackenhärchen plötzlich senkrecht aufstellten. Dieses bohrende Gefühl war wieder da und in dem Moment als ich herumwirbelte, hörte ich das Knacken eines Astes.

Ich war nicht länger allein.

 

°°°°°

Kapitel Fünf

Meine Nasenflügel blähten sich, meine Sinne wurden scharf wie der gläserne Dolch von Aman, der in meinem Gürtel steckte. Für einen kurzen Moment glaubte ich, dass es schon wieder der Lykanthropenkrieger war, der mich verfolgt hatte, doch das Knacken des Astes war aus der falschen Richtung gekommen.

Und dann roch ich ihn.

Es war der gleiche Geruch den ich bereits am Tempel gerochen hatte, dieser würzige Moschusduft, der an den Kratzspuren von Sian gehangen hatte.

Oh Göttin, konnte es wirklich sein?

Nur sehr langsam drehte ich den Kopf. Sollte er wirklich hier sein, wollte ich ihn nicht verschrecken. Aber da war nichts. Nichts als dieses Ödland mit den knochigen Bäumen, die ihre dürren Ärmchen wie zu einem Gebet gen Himmel streckten. Staubiger Boden, heller Sand, der sich wie eine zweite Haut über alles gelegt hatte, was er erreichen konnte. Selbst an hörgelegene Stellen war er gelangt, getragen vom Winde der wie eine Liebkosung um die Stämme wehte und mit seinem Lieb die trauenden Lande von Ailuran umspielte.

Aber ich hatte diesen Geruch in der Nase. War er hier vielleicht vor kurzem vorbei gekommen? Aber woher war dann dieses Geräusch gekommen? Das war nicht meinem Geist entsprungen, das war real gewesen. Da war ich mir sicher.

Mein Blick glitt wachsam über die Umgebung. Nichts entging meiner Aufmerksamkeit. Nicht die Geräusche, nicht die Gerüche und auch nichts was das Auge erfassen konnte. Und daher entging mir auch nicht die Bewegung. Es war ein kleiner Hügel zwischen einer Reihe vertrockneter Büsche der leicht bebte und dann erhob er sich einfach. Ein sanfter Hügel der plötzlich auf mageren Beinen vor mir stand. Links und rechts rieselte heller Sand von der Gestalt und fiel in kleinen Staubwölckchen zurück zu Boden. Langsam wurden die knochigen Umrisse eines Pumas deutlich. Ein Amentrum, aber von solch einer Größe, wie ich sie in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen hatte.

Das Fell dieses Wesens war genauso braun wie das Land auf dem es sich bewegte. Nur die Augen stachen heraus. Sie waren von einem so klaren Blau, dass sie wie zwei reine Saphire in den Sanddünen der Wüste wirkten.

Dieses Blau, es war … oh Göttin, aber … das war … das konnte nicht sein. „Sian.“ Es war nicht mal ein Flüstern, nur ein Atemzug, der als warmer Hauch über meine Lippen kam.

Aber … das war nicht möglich, konnte nicht der Wahrheit entsprechen. Nicht nur das Sian als Schneeleopard weiß sein müsste, dieser Amentrum sah auch so krank und verwahrlost aus, dass es meinen Geist schmerzte. Das war nicht der Sermo, den ich mit seiner Geburt zu meinem Geleit genommen hatte. Dies hier war ein fremdes, unbekanntes Wesen.

Und es hatte Sians Augen.

Der Amentrum blähte die Nasenflügel. Ein zittern durchlief seinen Körper und Gleichzeitig richtete sich das Fell in seinem Nacken bedrohlich auf. Ich hörte das leise Grollen in seiner Kehle, sah wie er die Zähne bleckte und die Krallen ausfuhr, in Bereitschaft sie auch einzusetzen.

Alle meine Sinne sagten mir, dass ich fliehen sollte solange ich noch konnte, aber bei Bastet, das hier war mein kleines Kätzchen, mein Geleit, mein Sian. Selbst wenn ich gewollt hätte, es wäre mir gar nicht möglich gewesen zu fliehen – nicht jetzt wo ich ihn endlich wieder hatte.

Niemals.

„Sian“, flüsterte ich wieder, wagte es aber mich von der Stelle zu bewegen.

Wieder witterte er, legte die Ohren dann ganz flach an den Kopf und zog die Lefzen etwas höher. Er war aggressiv, keine Frage, aber er schien auch unsicher.

Ein Hauch von Hoffnung machte sich in mir breit. Er erinnerte sich an mich.  Irgendwo tief in seinem Geist verborgen wusste er wer ich war. Fafa sollte Recht behalten. Sian hatte ich nicht vergessen, nicht so wie alles andere. Er hatte auf mich gewartet – die ganze Zeit.

Von diesen Geistreden beflügelt wagte ich es mich ein wenig zu entspannen. Wenn er merkte dass ich keine Angst vor ihm hatte und ihm nichts Böses wollte, vielleicht würde er sich dann auch ein wenig entspannen. „Gegrüßt sein die Götter und der Morgen“, flüsterte ich an dem Kloß in meinem Hals vorbei. Seit wann brannten meine Augen so?

Sian machte einen kleinen Schritt rückwärts. Dabei wirkte er so unsicher, dass mir fast das Herz brach. Was war nur mit ihm geschehen?

Als er sein Gewicht leicht verlagerte, rieselte ihm zu allen Seite Sand aus dem Fell. An seiner Flankte blitzte eine dunkle Rosette auf und mir wurde deutlich bewusst, dass mein kleiner Nasan einfach nur verdreckt war.

„Es tut mir so leid“, flüsterte ich. Ein drückendes Gefühl schnürte mir die Luft ab, als er einen weiteren Schritt von mir zurück wich. „Ich wollte dich nicht alleine lassen. Und ich habe alles getan um zu dir zurück zu kommen. Bei Bastet, wenn ich nur gekonnt hätte, dann …“ Als mir die Stimme wegbrach, schluckte ich angestrengt. Meine Augen brannten  und eine einsame Träne löste sich. „Ich wollte nicht dass es so kommt.“ Eine weitere Träne löste sich.

Sians Ohren zuckten, seine Schnurrhaare zitterten. Er wich nicht weiter zurück, kam aber auch nicht näher.

„Wenn ich nur könnte, ich … zur Sachmet!“ Wütend auf mich selber wischte ich die Tränen aus meinem Gesicht, was ihn heftig mit dem Schwanz zucken ließ. Meine hektische Bewegung verunsicherte ihn.

Seine Angriffslust hatte etwas nachgelassen, aber er blieb weiterhin wachsam.

„Es tut mir leid.“ Diese Worte halfen nicht wirklich, aber sie waren alles was in im Moment hatte. Kraftlos ließ ich meine Hände zurück an die Seiten fallen. Was sollte ich denn nun tun?

„Es tu mir leid.“ Ich wusste nicht was ich sonst sagen sollte. Worte waren einfach zu wenig um den Schmerz und dem Verlust, der in meinem Inneren wütete, Ausdruck zu verleihen. Und bei meiner Göttin, es war mehr als nur ein Verlust, den ich hier spürte. Nicht nur meine Familie war für immer fort, auch Sian. Er war weg und hatte dieses zerstörte Wesen direkt vor mir zurück gelassen.

Doch das war in meinen Augen kein Grund sich von ihm abzuwenden. Er war vielleicht nicht mehr mein kleiner Sermo, aber er war auch nicht Pravum. Und irgendwo in dieser Kreatur musste noch etwas von Sian übrig sein – da war ich mir sicher. Ich musste es nur finden. „Und nichts kann mich davon abhalten.“

Bei meiner Stimme richtete er die Ohren auf. Ich glaubte schon dass er auf meine Worte reagierte, doch dann zuckten seine Ohren unruhig hin und her. Er drehte den Kopf, duckte sich leicht und fletschte wieder die Zähne. Und in dem Moment hörte ich es auch. Es war ein Ruf, nicht weit von mir entfernt. Jemand rief nach mir. Rascheln, jemand bewegte sich durchs Unterholz und kam direkt auf uns zu.

„John.“ Bei Bastet, warum jetzt?

Wieder rief er nach mir. Mein Name schallte laut durch den Wald. Am liebsten hätte ich ihm gesagt dass er fortbleiben sollte, weil ich Angst hatte das er Sian verscheuchen würde, doch genauso fürchtete ich mich davor laut zu sprechen, den auch das konnte ihn verjagen.

Sian spannte sich wieder merklich an. Seine Schwanzspitze zuckte unruhig hin und her und aus seiner Kehle tönte ein leises Grollen. Das gefiel mir nicht. So wie er durch die kahlen Büsche spähte gefiel mir absolut nicht. Es machte nicht den Eindruck als würde er den Rückzug in Erwägung ziehen. Er lauerte auf die Geräusche, die immer näher kamen.

Sian hat getötet, viele Male.

Er lauerte auf seine Beute.

Je näher John kam und je deutlicher seine Rufe wurden, desto mehr Anspannung baute sich in Sian auf. Die Muskeln in seinen Beinen waren so angespannt, als hätte er vor jeden Moment loszustürmen. Er beachtete meine Gegenwart nicht mal mehr, für ihn gab es nur ein Ziel.

Mit wachsenden Entsetzten wurde mir die Gefahr des Moments klar. Sian hatte Beute entdeckt und John war nicht klar, dass er diese Beute war.

„Sian.“ Ich warf einen hektischen Blick nach rechts zu John und nährte mich meinem Geleit dann vorsichtig. Ein Schritt. Und noch einer. Ich musste versuchen seine Aufmerksamkeit zurück zu gewinnen, bevor etwas Schlimmes geschah. „Sian. He mein Hübscher, weißt du was wir jetzt tun werden?“ nervös leckte ich mir über die Lippen.

Johns Rufe wurden immer deutlicher. Er konnte keinen hundert Meter mehr entfernt sein. Ich konnte ihn bereits zwischen den knochigen Stämmen des Waldes ausmachen.

„Wir werden ihn einfach missachten.“

Er beachtete mich noch immer nicht, war nur auf sein Ziel fixiert. Keinen Moment ließ er John aus den Augen.

Oh Bastet, hilf! Ich trat noch einen Schritt näher, versuchte mir dabei meine wachsende Anspannung nicht anmerken zu lassen.

Mit jedem Stück das ich mich ihm nährte, kam John drei Schritte in unsere Richtung. Ohne hinzusehen wusste ich genau wann er uns entdeckte. Seine Rufe uns Schritte verstummten, genau wie das leise Grollen in Sians Kehle.

„Komm nicht näher“, sagte ich und konnte nur hoffen, dass er es auch verstanden hatte. Ich wagte es nicht lauter zu sprechen, weil ich befürchtet Sian damit verscheuchen zu können. „Und bleib genau dort stehen wo du bist.“

Mit einem kurzen Schulterblick versicherte ich mich dass er auch wirklich tat was ich verlangt hatte. Am liebsten hätte ich ihn einfach weggeschickt, dich ich befürchtetet, dass Sian ihn dann jagen würde – und John ihm niemals entkommen können.

Ob es  nun an dem Befehl lag, oder an der Furcht, die John bei Sians Anblick verspürte, er blieb genau dort wo er war. Jetzt musste ich es nur noch schaffen Sians Aufmerksamkeit zurück zu gewinnen.

Ich sprach mit ihm, stellte mich in sein Sichtfeld und hoffte darauf ihn von John weglocken zu können, doch egal was ich tat, er reagierte nicht auf mich. Trat höchstens mal einen Schritt zur Seite, um seine Beute nicht aus den Augen zu verlieren – das war nicht gut. Und als er dann plötzlich die Muskeln in seinen Hinterbeinen anspannte, wusste ich, dass ich sofort handeln musste.

Ich hielt gar keine Geistreden an das was ich tat, überbrückte nur den letzten Schritt der uns noch trennte und legte meine Hand auf seine knochige Schulter. Und dann ging alles ganz schnell.

Sian erschrak, wirbelte zu mir herum und schlug fauchend mit ausgefahrenen Krallen nach mir.

Der Schlag traf mich in die Seite und war so heftig, dass ich hart zu Boden geschleudert wurde. Ich prallte mit der Hüfte und der Schulter auf.

„Lilith!“

Im ersten Moment realisierte ich nicht wirklich was geschehen war. Ich wunderte mich nur was ich auf dem Boden tat und richtete mich sogar halb auf. Es war der Schock der Überraschung. Aber dann kam der Schmerz. Ein heftiges Stechen über meine ganze Seite und halb auf meinem Bauch. Meine Hand fand von ganz allein das Pochen unter der Haut. Warm und klebrig lief es mir über die Hand und unter dem kupferartigem Geruch der mir in die Nase stieg musste ich feststellen, dass meine Hand ganz rot war.

„Lilith!“

Ungläubig starrte ich sie an und verstand nicht wirklich was da gerade geschehen war. Auch die blutig aufgerissenen Wunden an meinem Brustkorb wollten mir darüber keinen Aufschluss geben. Kratzer, das waren Kratzer. Sian hatte nach mir geschlagen und nun blutete ich. Es war … verstörend.

Sian hatte mich angegriffen. Diese Geistrede kam mit einem so heftigen Schlag, dass sie mich fast umwarf. Er hatte mich wirklich angegriffen.

Mein Blick richtete sich auf mein Geleit.

Sian zitterte. Nein, er zitterte nicht, er bebte geradezu am ganzen Körper. Seine Augen waren so weit aufgerissen, dass ich das Weiße darin erkennen konnte und seine Nasenflügel blähten sich immer wieder, als könnte er selber nicht fassen, was er dort roch.

Mir wurde schwindlig. Der Schmerz raubte mir die Sinne und jedes Quäntchen Kraft floss wie Wasser aus meinem Leib. Ich versuchte sitzen zu bleiben, stützte mich mit den Armen ab ohne mitzubekommen, wie meine Finger sich in das helle Erdreich gruben, doch meine zitternden Muskeln gaben einfach nach.

Die Welt kippte, der Schwindel wurde schlimmer und das Atmen ging nicht mehr so leicht wie es sollte.

Im gleichen Moment stieß Sian ein schauriges Heulen aus, wirbelte herum und rannte. Tiefer in den Wald, weg von dem was geschehen war, weg von mir.

Meine Sicht verschwamm. Sein schmutziges Fell verschmolz bereits nach wenigen Metern mit den Dünen zwischen den Bäumen.

„Sian.“ Ich blinzelte, hörte eilige Schritte näher kommen und dann war da eine Hand, die besorgt über meine Wange strich. John.

Er fragte nicht lang nach, schob einfach meinen Arm zur Seite und stieß einen herben Fluch aus, den ich so noch nie gehört hatte. „Da muss ein Blutgefäß verletzt sein“, murmelte er leise, riss sich dabei hastig das Shirt vom Leib und presste es auf meine offene Wunde.

Ich keuchte auf vor Schmerz.

„Tut mir leid, aber ich muss die Blutung stoppen.“ Er suchte mein Blick, doch selbst wenn ich mehr als verschwommene Umrisse hätte wahrnehmen können, wäre ich ihm nicht begegnet. Meine Augen suchten einzig und allein Sian.

Er hat ihn verscheucht. Er ist wieder verschwunden. Göttin, bitte, nein.

„Lilith? Hey, bleib bei mir. Lilith? Hörst du mich?“ Seine Finger zitterten, als er mir die Hand wieder auf die Wange legte. „Hey, komm schon, nicht einschlafen.“

„Ich bin nicht müde.“ Meine Stimme war nur ein Krächzen, verzerrt vom dem Schmerz und der Pein, die durch meinen Körper jagten. Doch das war egal. Wo war Sian hin? Er sollte zurückkommen, er durfte nicht einfach wieder verschwinden.

„Gut, das ist gut, aber … verdammt.“

Ein weiteres Keuchen entrang sich mir, als er dein Shirt fester auf die Wunde drückte und in meinem Kopf war plötzlich ein Karussell, das sich viel zu schnell drehte.

„Tut mir leid, aber Blutung will einfach nicht aufhören. Und wenn ich nicht …“ Er biss sich auf die Lippen. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“

„Sian.“ Ich kniff die Augen fest zusammen, versuchte gegen den Schmerz zu atmen. „Das war … Sian.“

Johns Mund ging auf, aber kein Ton kam heraus.

Ich war zu sehr mit mir selber beschäftigt, um es wirklich zu bemerken. Der Schmerz peinigte mich.

„Ich kann hier nichts tun“, flüsterte er und biss frustriert die Zähne zusammen. „Ich habe nicht einmal ein verdammtes Pflaster bei mir.“ Fahrig wanderte sein Blick zwischen den Bäumen umher, als würde dort irgendein Heimmittel wachsen. „Ich muss dich zu den anderen bringen. Sie können bestimmt …“

„Nein!“ Ich riss die Augen auf, versuchte den Kopf zu schütteln, doch er war so schwer. „Nicht … zu den anderen.“

„Was soll ich denn sonst machen.“ Den leicht panischen Unterton in seiner Stimme konnte er nicht verstecken. „Ich kann dich doch hier nicht einfach verbluten lassen.“

Da musste ich ihm zustimmen, aber ich konnte nicht zurück. Ich wollte nicht wissen was Licco und Jaron taten, wenn sie ich so erblicken – besonders Jaron. So wie er sich mir gegenüber gab … nein, Jaron durfte es auf keinen Fall erfahren.

„Lilith, du musst …“

„Aman“, flüsterte ich und erst danach wurde mir klar, was ich da gerade gesagt hatte. Aber es war die Lösung. Zwar wiederstrebte es mir ihn um Hilfe bitten zu müssen, doch er konnte mich heilen und niemand würde von diesem kleinen Zwischenfall erfahren müssen. „Hol Aman“, wiederholte ich daher. Ich atmete angestrengt ein. „Aber nicht Licco … nicht Jaron.“ Noch ein schwerer Atemzug. „Sie dürfen es nicht … wissen.“ Ich versuchte seinen Blick zu fokussieren. „Aman kann … mich heilen.“

John zögerte. Er war im Zwiespalt. Natürlich wollte er sofort loseilen und Hilfe holen, doch er wollte mich auch nicht allein lassen. Der Zerstreit in seinem Kopf war ihm deutlich anzusehen und nach einer gefühlten Ewigkeit und einen letzten Blick in mein Gesicht, siegte die Vernunft. „Ich bin gleich zurück. Du musst solange das Shirt fest auf die Wunde drücken.“ Dann tat er etwas, dass mich völlig überraschte. Er beugte sich vor und drückte mir einen schnellen, festen Kuss auf die Lippen. Doch es endete so geschwind, dass ich gar nicht darauf reagieren konnte – nicht mal wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte. „Nicht einschlafen“, befahl er mir noch, dann schwand er bereits eilig über die sandigen Hügel zwischen den hageren Bäumen.

Mein Geist war zu benebelt, als sich mit der Frage, warum er das gerade getan hatte, auseinander setzten zu können. Meine Augen waren plötzlich viel zu schwer und mit jeder verstreichenden Sekunde in dieser unnatürlichen Sille wurde es schwieriger sie offen zu halten.

Aber bei meiner Göttin, ich würde einst als Kriegerin unter Bastet dienen und mich auch nicht von solch einer Wunde daran hindern lassen. Nicht vom Schmerz und auch nicht von der drohenden Ohnmacht. Krieger wurden nicht Ohnmächtig und ich würde einst eine Kriegerin sein – vielleicht, denn in der neuen Ordnung meiner Welt war es fraglich, ob diese Strukturen für mein Volk noch galten. Und auch das Blei in meinen Augen würde mich nicht davon abhalten können.

Als zukünftige Kriegerin würde ich immer wieder Kämpfe ausfechten müssen. Und dies hier war nichts anderes: ein Kampf den ich mit mir selber ausfechten musste, ein Kampf, bei dem ich es mir verbot zu verlieren.

Das war alles was ich in der Stille des Waldes tat, bis eine Berührung an der Schulter mich aufschreckte. Stimmen, Bewegung, rascheln. Wo kamen nur die Geräusche plötzlich her?

„Lilith!“ Ein schwacher Schlag auf die Wange.

Jemand drehte mich auf den Rücken und schob meinen Arm zur Seite.

Ich stöhnte vor Schmerz.

„Gott sei Dank, sie lebt noch.“

„Bei Seth, dich kann man aber auch nicht aus den Augen lassen.“

„Rede nicht so viel, sondern tu etwas, bevor sie noch mehr Blut verliert.“

Meine Augen öffneten sich nur langsam, als ich die Berührung in meinem Gesicht spürte. Verschwommene Bilder strömten auf mich ein. Zwei Gestalten in einem hellen, endlosen Braun. John und Aman. Hinter ihnen bewegte sich ein weiterer Schatten.

Neben mir wurde geknurrt.

Sanfte Hände entfernten den Stoff von meinen Wunden. Meine ganze Seite siedete in der Zwischenzeit so sehr, dass ich es kaum spürte.

„Das wird wehtun, kleine Kriegerin.“

Und es tat weh.

Aman zog die tiefste der drei Wunden auseinander und bevor ich es verhindern konnte, entrang sich meiner Kehle ein Schrei. Ich riss den Arm hoch, biss auf meinen Handballen, um jedes weitere Geräusch bereits im Keim zu ersticken und kniff die Augen zusammen. Die beiden Tränen konnte ich damit aber nicht verhindern und auch nicht das heftige Heben und Senken meines Brustkorbs.

John murmelte mir leise beruhigende Worte zu und strich mir ununterbrochen übers Gesicht und den Kopf, während Aman die Wunde noch ein wenig spreizte und sich dann vorbeugte. Dann spürte ich nicht nur seinen warmen Atem, sondern auch  noch seine Zunge, mit der er begann die Wunde von innen nach außen zu schließen.

Genau wie Ailuranthropen prodozierten Lykanthropen auf der Zunge bei kontakt mit frischem Blut ein Sekret, das dabei half die Wundheilung unheimlich schnell voran zu treiben. Offene Wunden wurden so nicht nur gereinigt, sondern schlossen sich auch in Zeitraffer.

Die erste Berührung siedete, als sei die Wunde in heißes Wasser getaucht worden. Gleich darauf jedoch wurde das kochende Gefühl zu einem angenehmen Prickeln, das bis tief unter die Haut zog. Es war nur eine kleine Linderung, doch das erleichterte seufzen kam von Herzen.

Systematisch heilte Aman so meine Wunden Stück für Stück und schon bald nahm ich nicht mehr den Schmerz, sondern nur noch seine Zunge und seine Hände wahr. Meine Sicht klärte sich, der Nebel in meinem Kopf wich an einen Ort zurück, der für die Lebenden unerreichbar war und während John weiter leise auf mich einredete, beobachtete ich Aman wie er neben mir kniete und sich immer wieder über mich beugte.

Sein Gesicht war von meinem Blut verschmiert. Der Blick konzentriert und die Hände völlig ruhig, so als sei er nicht das erste Mal dass er so etwas tat.

Hinter stand Acco und schlich immer wieder wie ein lautloser Schatten um uns herum, der uns vor dem Unheil der Welt beschützen wollte. Nur hin und wieder warf er einen Blick auf die Wunden, die von der Seite bis auf meinen Bauch reichten. Sian hatte wirklich einen kräftigen Schlag. Nur hätte ich niemals geglaubt, dass ich das jemals zu spüren bekommen würde.

Doch eines wusste ich mit Sicherheit. Er hatte das nicht mit Absicht getan. Er hatte sich erschrocken, dass war alles. In den letzten Jahren musste er so viel Schlimmes durchlebt haben, dass ihn so eine einfache Berührung so reagieren ließ. Sian war nicht böse, nicht so wie die anderen die ganze Zeit behaupteten. Ich hatte es an seiner Reaktion bemerkt. Sobald er verstanden hatte was geschehen war, war er geflüchtet. Ein böses Wesen würde nicht flüchten, wenn seine Beute am Boden war. Es würde immer weiter wüten und Leben nehmen, wo es nur konnte. Nein, Sian war kein Pravum. In diesem Moment, wo ich hier lag war ich mir da noch sicherer als vorher.

Der Schmerz ließ immer weiter nach. Langsam konnte ich mich auch wieder ein wenig entspannen und auch mein Geist schwamm nicht mehr in zähflüssigem Zuckersirup.

Acco spitzte die Ohren, ließ sich dann neben Aman auf den Hintern plumpsen und kratzte sich dann sehr geräuschvoll hinter dem Ohr. „Wie ist das eigentlich passiert?“ Er ließ seine Pfote sinken und schüttelte den Kopf. Dabei flogen in alle Richtungen Haare von ihm, die sich beim Kratzen gelöst hatten.

„Da war so ein Riesenvieh.“ John schüttelte den Kopf, als könnte er immer noch nicht glauben, was er gesehen hatte. „Sah aus wie eine Großkatze. Und Lilith hat versucht es anzufassen.“

Bitte? „Ich wollte ihn nur von dir ablenken. Wärst du nicht hergekommen, wäre das nicht passiert.“

Aman hielt einen Moment inne, warf John dabei einen scharfen Blick zu und machte dann damit weiter die Wunde zu schließen.

John biss die Zähne fest zusammen.

„Warum wolltest du ein Riesenvieh anfassen?“ Acco runzelte die haarige Stirn. „Was ist eigentlich ein Riesenvieh? Kann man das Essen?“

„Sian“, sagte ich leise ohne auf seiner zweite Frage einzugehen. „Das war … Sian.“

Aman stoppte mitten in der Bewegung. Er blinzelte nicht, sah mich einfach nur an, bevor er sich wieder seiner Arbeit widmete. „Er ist uns gefolgt.“

„Er ist mir gefolgt“, korrigierte ich ihn und senkte den Blick auf meine Wunden um zu sehen, wie weit er bereits war. Vielleicht würde ich es ja noch schaffen Sian einzuholen.

„Ach deswegen hast du überall deinen Geruch hinterlassen.“ Acco legte sich hin und bettete den Kopf auf den Pfoten. „Und ich hatte mich schon gewundert was das soll.“

John sah richtig entsetzt aus. „Du hast dieses Monster hinter uns her gelockt?“

Ich zeigte ihm die Zähne. „Sian ist kein Monster!“

„Er hat dich angegriffen.“

„Aber nur weil er sich erschreckt hat.“ Ich zischte als Aman sich der obersten Wunde widmete. Dreck war hinein gekommen und er versuchte ihn zu entfernen. Es tat trotzdem weh.

„Lilith.“ John nahm mein Gesicht zwischen die Hände, damit ich ihn ansehen musste. „Ich habe es gesehen. Mir ist fast das Herz stehen geblieben. Hast du vergessen, was dein Bruder und sein Freund gesagt haben? Sian ist …“

„Du solltest dich aus Dingen raushalten, die sich deinem Horizont entziehen“, unterbrach Aman ihn.

„Meinem Horizont entziehen?“ John lachte scharf auf. „Dieses … diese Katze ist gefährlich. Sie hat sie fast umgebracht! Sieh sie dir doch an!“

„Ich sehe sie wahrscheinlich besser als du.“ Einen kurzen Moment suchte er den Augenkontakt mit mir, richtete seinen Blick dann aber auf John. „Du hast keine Ahnung was es bedeutet einen Sermo zu haben. Sie sind keine Haustiere oder einfache Diener, sie sind viel mehr. Sie werden zu einem Teil von uns. Aber das kein ein kleiner Mensch wie du natürlich nicht verstehen.“

„Oh, ich verstehe eine ganze Menge. Du bist hinter Lilith her und erhoffst dir Chancen bei ihr, wenn du ihr in allem zustimmst. Und dabei ist es dir völlig egal ob ihr Leben in Gefahr ist!“

Aman schnaubte nur. „Und wieder einmal verstehst du nicht worum es geht.“ Er beugte sich vor und machte sich daran auch meine letzte Wunde zu verschließen.

John malte so stark mit den Zähnen, als versuchte er ein zähes Stück Fleisch klein zu bekommen. Er sprang auf die Füße, lief aufgebracht neben mir hin und her und warf mir immer wieder beunruhigte Blicke zu.

Davon ließ Aman sich nicht aus dem Konzept bringen. Ruhig und besonnen schloss er meine Wunde, bis der Schmerz ein fernes Echo war und nur noch leichte Striemen an das erinnerten, was hier kurz zuvor geschehen war. Dabei wurden wir immer bewusster, wie nah er mir mal wieder war. Unter den Berührungen seiner Hände juckte meine Haut, aber es war nicht unangenehm und das beunruhigte mich. Ich wollte das nicht fühlen. Es sollte aufhören.

Als Aman dann den Kopf hob und mich ansah, musste ich den Blick abwenden. Eigentlich sollte ich es ihm nun vergelten, doch irgendwas hinderte mich daran den Mund zu öffnen.

„Du brauchst nichts sagen.“ Er schnappte sich das Shirt von John und wischte sich damit den Mund ab. „Deine Geistreden stehen dir ins Gesicht geschrieben.“

Ich drückte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Wann nur war alles so kompliziert geworden?

„Und ich habe es gerne getan.“

Oh Göttin! „Bitte sag den anderen nichts hiervon. Besonders nicht Jaron. Er …“

„Du willst es verheimlichen?!“ John schnaubte entgeistert.

„Du verstehst das nicht.“ Er hatte nicht gehört was Jaron welche Worte Jaron über mich gesprochen hatte. Er wusste nicht dass ich in seinen Augen nur eine bessere Coa war, eine die ihm von der Göttin gesandt wurde. Und wenn Jaron glaubte dass ich in Gefahr war, traute ich es ihm auch zu, dass er mich notfalls verschnürt in die Höhlen der Ailuranthropen brachte, nur um sicher zu gehen, dass ich dort auch heile ankam.

„Da kann ich dir nur zustimmen, ich verstehe es wirklich nicht.“ Er hielt mit seinem Lauf inne und verschränkte die Arme vor der Brust. Er hatte noch nie so feindlich ausgesehen, aber gleichzeitig erkannte ich auch die Sorge in seinen Zügen.

„Du brauchst keine Angst haben, mir wird nichts geschehen.“

„Du meinst, dir wird kein zweites Mal etwas geschehen.“

„Nein, wird es nicht.“ Sehr vorsichtig setzte ich mich auf. Die Haut um die Wunden war noch immer empfindlich und spannte leicht. Ich würde mich vorsichtig bewegen müssen. Doch was mir viel mehr Sorgen machte war das Blut. Wie sollte ich das erklären?

„Reib es mit Sand ab“, riet Aman mir, als würde er meine Geistreden kennen. „Du bist so staubig, dass es nicht weiter auffällt.“

Das hatte er Recht. Vorsichtig griff ich mir eine Hand voll Sand und begann damit das Blut wegzutreiben. Erst wurde es eine zähe Masse, aber je mehr ich nahm, desto besser wurde es. Und zum Schluss sah es wirklich so aus, als sei ich einfach sehr staubig. Es war nicht perfekt, aber es würde ausreichen bis wir einen Fluss fanden in dem ich mich waschen konnte. Leider war das im Moment nicht mein größtes Problem. Sian war wieder verschwunden und ich hatte keine Zeit mehr mich erneut auf die Suche zu begeben. Es war jetzt bereits auffällig, wie lange ich bereits weg war.

Ich blickte hinaus in den offenen Wald. Sill, leer.

„Wir werden ihn finden.“ Aman reichte mir die Hand und nach kurzem zögern ergriff ich sie und ließ mich von ihm auf die Beine ziehen. Dabei kam er mir so nahe, dass ich hastig einen Schritt vor ihm zurück wich. Das ging dann doch zu weit.

„Ich werde ihn finden“, sagte ich leise und ließ meinen Blick wieder in die Richtung schweifen, in die er verschwunden war. „Ich werde ihn kein zweites Mal verlieren.“

John schüttelte nur ungläubig den Kopf. „Das kannst du nicht ernst meinen.“

„Das kannst du nicht verstehen.“

„Lilith.“ Er trat an mich heran und ignorierte Amans bösen Blick. „Sian ist gefährlich. Eure erste Begegnung ist bereits schiefgegangen. Willst du dass sich das wiederholt?“

„Das wird es nicht.“ Ich legte ihm eine Hand auf den Arm, hoffe dass die Berührung ihn beruhigen würde. „Ich kenne Sian, er wird mir nichts tun.“

„Das hat er bereits!“ Er griff nach meinem Arm. „Versteh doch, er ist einfach gefährlich, dass musst du einsehen.“

„Er ist nicht gefährlich.“

„Er ist ein wildes Tier, unberechenbar. Ich kenne mich da aus, denn falls du es vergessen hast, ich bin Tierarzt. Ich habe bereits …“

„Er ist immer noch Sian.“

John atmete einmal tief ein, so als müsste er sich beruhigen „Lilith, ich verstehe vielleicht noch nicht viel von dieser Welt und ich kannte Sian auch nie, aber selbst du musst sehen, dass er ganz anders ist als Acco oder Nebka. Vielleicht war Sian einmal dein Sermo, aber diese Zeiten sind vorbei.“

„Du hast doch keine Ahnung von den Worten die du da sprichst.“ Ich riss mich von ihm los und funkelte ihn an. „Er ist mein Sian und ich werde ihn nicht im Sich lassen. Nichts kann mich daran hindern ihn zu finden. Nicht du und auch kein anderer.“

„Scheiße!“ Das war es was er sagte, als er die Entschlossenheit in meinen Augen sah.

 

 

°°°

 

Mit einem kurzen Blick versicherte ich mich, dass ich von niemanden beobachtet wurde, dann rieb ich mit der Schulter am Baum entlang, um eine deutliche Geruchsmarkierung zu hinterlassen. Es war nicht die erste die ich setzte und es würde auch nicht die letzte sein. Ich hatte Sian einmal verloren, das würde mir kein zweites Mal passieren. Egal was die anderen behaupteten, das Biest war immer noch mein Sian und ich würde ihn wieder zurückholen.

„Du machst es also wirklich.“

Bei Johns Stimme zuckte ich so heftig zusammen, dass ich mir vor Schreck auf die Zunge biss. Oh Göttin tat das weh.

John trat mit freiem Oberkörper unweit hinter einem Baum hervor und funkelte mich böse an.

Das blutige Shirt hatten wir um Wald zurück gelassen. Es war bereits schwer genug gewesen zu erklären warum wir alle nach frischem Blut rochen. Aman hatte geistesgegenwärtig erklärt, dass wir ein frisch gerissenes Reh im Wald untersucht hätten.

Ich glaubte noch immer nicht, dass auch nur einer diese Worte für Wahr erachtet hatte. Und Jaron beobachtete mich seit dem so merkwürdig. Er ließ mich kaum einen Moment aus den Augen. Und nun fing John auch noch damit an.

„Ist dir eigentlich bewusst, dass du damit nicht nur dich, sondern auch alle anderen in Gefahr bringst?“

„Sian wird niemanden wehtun, dafür sorge ich.“

„Sian hat bereits jemanden wehgetan, dir!“ Er stieß sich vom Baum ab und trat ganz nahe vor mich. „Weißt du eigentlich was das für ein Gefühl war dich da in deinem eigenen Blut sehen zu müssen? Und nicht nur das. Stell dir vor er schleicht unbemerkt um uns herum und Janina oder Pascal müssen mal ins Gebüsch pinkeln gehen. Sie haben keine Ahnung was da draußen auf sie lauern könnte. Und sie sind auch nicht wie Luan und Gran, sie haben keine Chance gegen ihn.“

Ich schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht glauben. Sian folgt uns schon die ganze Zeit und es ist nichts geschehen.“

„Du meins wohl bis auf die Tatsache, dass er dich fast umgebracht hat!“

„Das war deine schuld gewesen! Nur weil du mir hinterhergelaufen bist hat er mich angegriffen!“ Sobald die Worte raus waren, bereute ich sie. Ich war sauer geworden, doch das hatte ich nicht sagen wollen. Es hatte ihn verletzt. Sein Blick sagte mir, dass ich ihm genauso gut ins Gesicht hätte schlagen können. „John, ich …“

Er hob die Hand, was mich sofort verstummen ließ. Er biss die Zähne aufeinander, rang mit sich und es schien, als wenn er noch etwas sagen wollte, doch er kam nicht mehr dazu, weil von den anderen in der Zwischenzeit bemerkt worden war, das wir zurück geblieben waren. Und die denen es nicht aufgefallen war, bekamen es spätestens dann mit, als Pascal lautstark fragte, wo wir Turteltauben den blieben.

Einen Moment war ich versucht John zu fragen, was Turteltauben seien, doch bei dem Ausdruck in seinem Gesicht blieb mir jedes Wort in der Kehle stecken.

Er blieb auch still, wandte sich nur ab und schloss mit hängendem Kopf zu seiner Familie auf.

Janina warf mir einen giftigen Blick zu und sprach gleich heftig auf John ein. Natürlich hatte sie keine Ahnung was vorgefallen war, doch da ich ihm mehr als nur ein Dorn im Auge war, war diese kleine Tatsache nicht weiter von Bedeutung.

„Lilith?“ Licco warf mir einen fragenden Blick zu, der mich veranlasste mich in Bewegung zu setzten, bis ich an seiner Seite lief. „Was war los?“

Ich spürte dein misstrauischen Blich von Jaron auf mir und hätte ihn am liebsten angefaucht, dass er das lassen sollte. „Nichts war los. John und ich sind nur verschiedener Meinung.“ Ich sah nach vorne, wo er zwischen Acco und Lacota lief, die wie schon auf dem ganzen Weg wieder Janina und Destina mit Vinea auf ihren Rücken trugen. Ganz vorne an der Spitze ritt Jaron und führte die Gruppe an.

„Er versteht unsere Welt einfach nicht“, erklärte ich. „Dort auf der Erde ist es so ganz anders als hier.“

„Er hätte dort bleiben sollen, genau wie seine ganze Familie.“

Ich sah überrascht zu ihm auf. „Beim Kriegergeneral?“

„Sie gehören nicht hier her, Lilith. Ihre Ahnen stammten einst von Silthrim, doch sie selber werden hier niemals glücklich werden. Versteh mich nicht falsch, aber was soll mit ihnen geschehen? Wir können sie nicht einfach ziehen lassen. Sie wissen wer Occino ist und auch wen unsere Göttin zu einer Auserwählten gemacht hat.“

So ehrfürchtig mit Anima in einem Satz genannt zu werden, so als sei ich etwas Besonderes, war noch immer neu. Und auch unangenehm, da ich noch immer nicht wusste, was genau Bastet von mir erwartete. Aber darum ging es im Moment gar nicht. Natürlich hatte das Thema über den Verbleib der Erdlinge irgendwann zur Sprache kommen müssen, doch ausgerechnet jetzt wo meine Geistreden sowieso am rotierten waren und einfach nicht zur Ruhe kommen konnten. „Sie sind harmlos, sie werden nichts verraten.“

„Das kannst du nicht mit Sicherheit wissen.“ Licco schüttelte den Kopf. „Sei dir im Klaren darüber, dass sie bei uns keinen Schutz finden werden. Wir dulden sie nur, weil wir sie so einfacher bewachen können. Aber sobald wir in den Höhlen sind, wird sich das ändern. Sie sind Unfreie, bis die Priester entschieden haben, was mit ihnen geschehen wird.“

„Ihnen darf nichts geschehen.“ Ich biss mir auf die Lippe. „Licco, ich habe ihnen mein Wort darauf gegeben.“

„Das war vielleicht ein Fehler gewesen.“

Nein, das war es nicht. Die Ailuranthropen mussten die Erdlinge nur ein wenig kennen lernen, dann würden sie es genauso sehen. Oh Göttin, was geistredete ich denn da? Noch vor wenigen Tagen wären mir solche Worte niemals in den Sinn gekommen. Doch jetzt …

Mein Blick glitt wieder nach vorne zu den Erdlingen. Pascal lief wieder neben Anima und sprach dabei überschwänglich auf sie ein. Seit unserer Ankunft war er dem verdreckten Mädchen kaum von der Seite gewichen. Wie immer versuchte er ihr eine Reaktion zu entlocken und als sie nicht reagierte, fuchtelte er mit den Händen in der Luft herum, als wollte er ein paar Fliegen verscheuchen.

Zuerst verstand ich nicht was er da tat, doch dann erschien zwischen seinen Handflächen ein sanftes Glühen. Als er die Arme dann sinken ließ, schwebte vor ihm in der Luft eine Lichtkugel, deren blasser Schein rötlich pulsierte. Sie wuchs, bis sie kopfgroß war, verformte sich und dann pulsierte ein rotes Herz mitten in der Luft. Und gerade als Anima ihren gebrochenen Blick darauf richtete, zerstob es in tausend kleiner Lichtpunkte, die sich bei ihr auf die Haut legten, wo sie langsam verblassten.

Direkt vor ihnen lief der Rest der Familie. Destina und Janina unterhielten sich aufgeregt mit Vinea und bekamen davon gar nichts mit.

Etwas abseits liefen John und Luan hinter den beiden Lehrlingen. Luan gestikulierte mit weit ausholenden Bewegungen, als erzählte er John von etwas Großem, dem auch Asokan mit Nebka auf dem Arm lauschte.

„Kein Fehler“, sagte ich. „Ich habe ihnen mein Wort gegeben. Ich kann nicht zulassen, dass ihnen etwas passiert.“ In den letzten Tagen war es zu oft geschehen, dass ich meine Versprechen nicht halten konnte – das würde mir kein weiteres Mal passieren.

Licco ließ sich nicht anmerken, welche Geistreden ihm durch den Kopf gingen. Wenn er wollte, konnte er geheimnisvoller und verschlossener sein als die Götter selber. „Vertraust du ihnen?“

Noch vor Tagen hätte ich eine solche Frage sofort verneint, doch jetzt in diesem Moment musste ich darüber erstmal geistreden. Vertraute ich ihnen? „Ich mag sie.“ Außer vielleicht Janina, aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. „Sie sind gute Leute. Sie haben Nim und mir geholfen und mir sogar das Leben gerettet, obwohl sie das nicht hätten tun müssen.“

Licco seufzte nur und rieb sich über die Stirn. Kein Wort kam mehr über seine Lippen.

 

°°°

 

„Ihr werdet schon sehen. Der Garten ist riesig. Er hat sogar einen eigenen Badeteich. Auf den war mein Vater damals immer besonders stolz gewesen.“ Lächelnd strich Luan seinem Herz über den Bauch. „Ich werde ihn einzäunen, damit unser neustes Familienmitglied nicht reinfallen kann.“

„Erstmal muss er da rauskommen.“

„Du meinst wohl sie“, korrigierte Luan Janina und lächelte mit so viel Stolz auf den runden Bauch, das er mit Händen zu greifen war. „Und ich weiß auch schon genau, welchen Raum wir als Kinderzimmer nutzen werden. Natürlich nur, wenn du auch damit einverstanden bist.“

Janina zuckte mit den Mundwinkeln. „Aber denk daran, das Prinzessinnenzimmer ist für Pascal reserviert.“

„Aber nur wenn die Wände rosa sind“, warf Pascal von der Seite ein und reichte ein Stück Trockenfleisch an Anima. Sie nahm es, ließ es aber einfach in ihren Schoß sinken ohne überhaupt daran geistzureden es zu essen.

„Destina schüttelte über die Jugend ihrer Familie den Kopf. „Ihr vergesst immer wie lange Luan fort war. Wer weiß ob sein Anwesen noch existiert.“

Luan lächelte. „Das ist das Schöne daran ein Vampir zu sein. Zwar sind wir nicht unsterblich und altern auch, doch wir können uns selber aussuchen, wann wir das tun möchten. In meinem Volk gab es schon damals Uralte. Niemand wusste wie viel Jahre sie zählten. Manchmal wussten sie es nicht einmal mehr selber, so viele Millennien hatten sie gelebt und … ich schweife vom Thema ab.“

„Nur ein bisschen“, stimmte Pascal ihm zu. „Aber das kennen wir von dir ja nicht anders.“ Er wich grinsend zur Seite, als Janina einen Kiesel nach ihm warf.

„Was ich eigentlich sagen wollte“, fuhr Luan fort, „ich hatte damals einen Onkel, der selber auf dem Weg war ein Uralter zu werden. Er sagte immer, er würde auch dann noch leben wenn dieser und jeder andere Krieg vorbei seien, um der nächsten Generation zu helfen die Fehler der Vergangenheit … naja, er wird es euch sicher alles selber erzählen“, kürzte er ab, bevor er wieder zu sehr abschweifen konnte. „Auf jeden Fall, sollte mein Anwesen wirklich nicht mehr stehen – was ich nicht glaube – dann reisen wir zu ihm und bauen uns ein neues Haus.“

„Mit einem Prinzessinnenzimmer für Pascal“, grinste Janina.

Mit jedem weiteren Wort das die Erdlinge über ihre geplante Zukunft verloren, wurde der Knoten in meinem Magen fester. Ich sollte sie aufklären, warnen, aber das konnte ich nicht, das wäre verrat. Deswegen tat ich nichts anderes als schweigend in den Lagerkristall zu starren, um den wir uns gruppiert hatten. Er war die einzige Lichtquelle in dieser düsteren Nacht. Aber dieses Schweigen fühlte sich alles andere als gut an, und das war es was mir besonders zu schaffen machte.

Meine Göttin und mein Volk hatten Vorrang – immer – und bisher war das nie ein Problem gewesen. Doch jetzt … ich verstand mich selber nicht mehr.

Schweigend hatte ich ihren Worten gelauscht. Sie würden uns bis zu den Höhlen in Ellan begleiten und von dort aus alleine nach Vipan weiterreisen. Luan war fest entschlossen seine Familie in seine Heimat zu bringen, ohne darüber geistzureden, ob sie dort auch erwünscht waren. Er wollte einfach zurück – unbedingt. Und er wollte sie alle bei sich haben.

Die Zeit auf der Erde hatte den Krieger in ihm sterben lassen, denn sonst wäre ihm sicher bewusst, dass sie Ailuranthropen ihn mit seinem Wissen über unsere Geheimnisse nicht einfach ziehen lassen würden. Doch wie konnte ich ihm das sagen? Es wäre Verrat an meiner Göttin. Mir blieb gar nichts anderes übrig als seinen Worten zu lauschen und darauf zu hoffen, dass mein Volk das Gute in ihren Herzen sah. Aber wenn dem nicht so war … ich wüsste nicht was ich dann tun sollte.

All diese Wiedersprüche in meinem Kopf, wanderte mein Blick über die kleine Waldlichtung, die Jaron für die Nacht zu unserem Lagerplatz auserkoren hatte. Einst war sie sicher wunderschön gewesen, doch nun war hier nichts außer Stein, Sand und den schattigen Gerippen, die einst der Wald von Ailuran gewesen waren.

Warum nur war alles so kompliziert geworden? Die Reden der anderen wurden zu einem fernen Murmeln, als ich zwischen den kahlen Bäumen eine Bewegung wahrnahm. Augenblicklich verdoppelte sich mein Herzschlag. Im ersten Moment glaubte – hoffte und bangte – ich, dass es Sian war, der meinen Geruchsmarkierungen gefolgt war, doch die Enttäuschung schlug wie eine Welle über mir zusammen, als ich die kleine, bunte Gestalt erkannte, die gleichmütig auf das Lager zu tappte. Er war nur Acco.

Er ging vorbei an dem schlafenden Asokan mit Nebka im Arm, vorbei an Pascal, der wieder versuchte Anima mit kleinen Zaubertricks eine Reaktion zu entlocken und auch vorbei an Jaron, der etwas abseits von uns an Mochica lehnte und uns alle wachsam im Auge behielt – besonders Kek und Ravic, die schon die ganze Zeit leise miteinander tuschelten und ihm dabei immer wieder unauffällige Blicke zuwarfen.

Acco beachtete sie alle nicht, ließ sich nur mit einem Plumps zwischen der schlafenden Vinea und Aman fallen und blickte treuherzig zu seinem Leiter auf. Seine Lefzen bewegten sich leicht, als würde er etwas sagen, doch die Worte waren so leise, dass ich sie über das Gerede der Erdlinge nicht verstehen konnte. Als Aman dann begann ihn hinter den Ohren zu kraulen, gab er ein zufriedenes Grummeln von sich und schloss genüsslich die Augen.

Licco, der neben mir seinen Kopf auf Lacota gebettet hatte und bereits halb zu schlafen schien, beobachtete mich unter schweren Lidern. „Es war ein Glück, dass du Anima und Asokan gefunden hast.“

Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf ihn. Die Beine angezogen, hatte ich die Arme darum geschlungen und meinen Kopf darauf gebettet. „Warum?“

„Weil du sonst mit dem Krieger die ganze Zeit allein gewesen wärst.“ Er musterte mich einen grüblerischen Moment. „Oder hat dich das gar nicht gestört?“

Ich senkte den Blick und wusste nicht recht was ich antworten sollte. Natürlich hatte es mich gestört. Am Anfang gab es nur einen aus der Heimat und das war ausgerechnet dieser selbstverliebte Hund. Ja, es hatte mich gestört … am Anfang. Und dann wurde alles kompliziert. „Er ist ein Lykanthrop“, erwiderte ich schlicht. Was Licco aus dieser Antwort machte, musste er selber wissen.

Leider wurde sein Blick ziemlich bohrend, so als würde er ahnen, dass da viel mehr war, als ich jemals breit sein würde zu offenbaren. Daher änderte ich auch schnell das Thema. Sonst würde ich mich früher oder später noch unter seinen Blicken zu winden beginnen. „Mina, wann ist sie … war sie auch krank?“ Es war eine Frage, die mir schon den ganzen Tag immer wieder im Geist herumschwirrte, doch genauso wie ich Angst davor hatte sie zu stellen, hatte ich auch Angst vor der Antwort. Aber ich musste es wissen.

Ich hatte sie so lange nicht gesehen gehabt. Und jetzt wurde mir gesagt, dass ich das auch nie wieder würde tun können. Ich musste den Grind dafür erfahren. Ich musste alles wissen, sonst würde es mir keine Ruhe lassen.

Licco schwieg lange. Vielleicht hatte ich ihn damit überrascht, vielleicht fiel es ihm auch einfach nur schwer darüber zu sprechen, oder er wollte seine Worte einfach nur mit Bedacht wählen. Es dauerte jedenfalls lange bis er den Mund öffnete. „Nein, keine Krankheit. Nicht so wie all die anderen.“ Er seufzte. „Die Heiler wissen nicht genau was es war. Ich schon.“

Ich musste schlucken um die nächste Frage über die Lippen zu bringen. „Und was?“

„Ein gebrochenes Herz.“ Er drückte die Lippen einen Moment fest zusammen. „Erst verschwandst du. Nur wenige Wochen später wurden Unisum und Anadon krank. Anadon erlag der Krankheit sehr schnell. Sie fraß sich durch seinen Körper, bis nur noch eine leere Hülle zurückgeblieben war.“ Die Worte waren bitter. Aus ihnen sprach der Schmerz, weil er nichts hatte dagegen unternehmen können – niemand hatte das. „Kurz nah Anadons Tot bekamen wir von Curvers Herz die Nachricht, dass auch er in die Mächte gefahren war. Auch er war krank geworden und niemand hatte uns Bescheid gesagt.“ Er verstummte einen Moment. „Aber Unsium lebte noch. Er war stark und kurze Zeit glaubten wir dass er es vielleicht schaffen würde. Mina ist ihm vom diesem Zeitpunkt an nicht mehr von der Seite gewichen. Tag und Nacht hat sie an seinem Lager gewacht und gehofft, dass er wieder genesen würde.“ Sein Blick war nach innen gerichtet, die Erinnerung hatte ihn in seinem Bann. „Fafa und ich waren währenddessen auf der Suche nach Migin. Er war bereits wieder seit Monaten spurlos verschwunden, doch wir mussten die Sicherheit haben. Wenn es ihm gut ging, mussten wir das einfach wissen. Doch dann wurde Tarpan auch noch krank. Wir konnten nicht weiterreisen, nicht mit einem Kranken und Fafa hätte ihn niemals zurück gelassen. Also harten wir aus, bis auch er seiner Krankheit erlag. Es gab einfach keine Heilung.“

Tarpan war neben Licco der einzige, den Fafa auf seinen Reisen geduldet hatte. Er war jünger als Licco gewesen. Ich hatte ihn nur wenige Male getroffen, doch dass auch er in die Mächte gefahren war, betrübte mich. So viel sinnloses Leid.

„Kurz darauf ereilte uns die Nachricht, dass Unisum es nicht geschafft hat. Er hatte lange gegen die Krankheit gekämpft und kurze Zeit war es ihm auch wieder besser gegangen, doch zum Schluss wurde auch er von ihr besiegt.“

Ich schluckte angestrengt. Ich wollte nicht weinen, wollte sein Andenken nicht mit Tränen beschmutzen, das hätte er nicht gewollte, doch es war schwer.

„Das war auch der Abend gewesen, an dem Mina uns verlassen hat. Sie ist an Unisums Bett eingeschlafen und nie mehr ausgewacht. Sie hat den Verlust eines weiteren Natis einfach nicht verkraftet.“

Der Kloß in meiner Kehle wurde immer größer. Nur mit Mühe schaffte ich es die Tränen zurück zu drängen und mein Leid zu verstecken. Alles war zerbrochen und ich war nicht da gewesen.

„Migin habe ich bis heute nicht gefunden. Fafa und ich haben noch lange nach ihm gesucht, doch es war, als hätte der Erdboden sich aufgetan und ihn einfach verschluckt. Ich weiß bis heute nicht was aus ihm geworden ist.“

Migin war schon immer ein Freigeist gewesen, der sich keine Fesseln anlegen lassen wollte und dabei auch seine Pflichten gegenüber dem Volk und unserer Göttin gerne hinter sich ließ – nicht selten auch die der Familie. Aber wenn Licco ihn nicht gefunden hatte … „Das heißt, er könnte noch leben.“ Es war nur ein Lichtpunkt an Hoffnung, doch ich klammerte mich an ihn. Irgendwo da draußen konnte noch jemand aus meiner Familie am Leben sein. Ich musste ihn nur finden.

Licco seufzte. „Ich hoffe es, aber ich glaube nicht daran. Nicht mehr.“

Natürlich nicht. Nicht nach allem, was er in den letzten Jahren durchleiden musste. Und trotzdem. „Glaube ist alles, was uns noch bleibt.“

Licco drückte die Lippen fest aufeinander und wich meinem Blick aus, was mir die Hoffnungslosigkeit unserer Situation besser wiederspiegelte, als jedes Wort es hätte tun können. Wenn selbst ein starker Krieger wie er, der unserer Göttin seit jeher mit seinem Herzblut diente, aufgegeben hatte, dann war das stolze Volk der Ailuranthropen wirklich verloren.

Aber das durfte nicht sein. So konnte es einfach nicht enden. Die Göttin hätte mich nicht ausgewählt, wenn es keine Hoffnung mehr gäbe. Und auch wenn ich nicht wusste was meine Aufgabe war, so sollte ich vielleicht langsam damit anfangen wie eine Auserwählte zu handeln. „Hast du daran geglaubt, dass ich noch lebe?“ Ich wartete, bis er den Blick hob. „Hast du daran geglaubt, dass wir uns wiedersehen?“

„Ich habe es gehofft, aber nein, ich habe schon lange nicht mehr daran geglaubt.“

Ich konnte den besiegten Ton in seiner Stimme verstehen, aber ich konnte ihn nicht akzeptieren. „Alles was uns wiederfährt ist das Leben und auch wenn wir die Gründe nicht immer verstehen, so sind sie doch vorhanden. Wir brauchen vieles um leben zu können. Leider gehören nicht nur die guten Dinge dazu, aber solange wir unseren Glauben haben, haben wir auch eine Zukunft. Unsere Göttin ist unsere Hoffnung. Solange wir an sie glauben, können wir Wege in die Zukunft finden.“

„Du bist noch so jung, Lilith.“ Licco bekam einen mitleidigen Zug um den Mund. „Irgendwann wirst auch du verstehen, dass die Dinge selten so einfach sind wie wir es uns wünschen.“

„Ich habe nie behauptet dass es einfach wer, ich habe nur gesagt, dass wir nicht aufgeben dürfen.“

Ein kleines Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. „Ich wünschte ich könnte noch so voller Hoffnungen sein wie du es bist. Aber jetzt schlaf. Es ist spät und …“

„Lilith?“ Von der Seite stupste Acco mir gegen den Arm. „Kannst du mal kurz mitkommen?“

„Mitkommen? Wohin willst du denn?“

„Harnen.“

War das sein Ernst? Fragte er mich wirklich gerade, ob ich ihn zum pinkeln ins Gebüsch begleiten könnte?

„Bitte“, fügte er noch hinzu, als ich ihn nur erstaunt ansah.

„Warum ich? Frag doch Aman, er ist schließlich dein …“ Ich verstummte, als mein Blick zu dem leeren Platz glitt, auf dem er gesessen hatte. Da war nur noch Vinea, die friedlich im Land der Götter wanderte.

„Aman ist spazieren gegangen. Ich weiß nicht wann er zurück kommt und ich muss ganz dringend.“

„Dann geh doch alleine.“

„Aber ich will nicht. Wer weiß was da so alles in den Wäldern herumstreicht.“

Spielte er damit auf Sian an? „Oh Göttin, du solltest doch in der Lage sein dich zu verteidigen. Du bist ein Sermo.“

„Aber wenn ich harne, dann will ich das in Ruhe machen.“

Bei Bastet, dieses Gespräch fand doch nicht wirklich gerade statt, oder?

„Bitte“, flehte er noch einmal.

Das geschah gerade nicht wirklich. Das konnte ich einfach nicht glauben. Trotzdem erhob ich mich seufzend. „Ich bin gleich zurück.“

Licco schien sich ein Lächeln verkneifen zu müssen, hielt mich aber nicht auf, als ich mich mit Acco an der Seite vom Lager entfernte.

„Das darf man wirklich niemanden erzählen“, schimpfte ich leise. „Ein Sermo der sich bei Nacht nicht allein in den Wald traut.“

Wir passierten die ersten Bäume der Lichtung. Ohne die Wärme und den Schein des Lichtkristalls war es hier sehr finster. Nur gut dass ich als Katze so gute Augen besaß.

„Ich traue mich nachts in den Wald.“

„Aber nicht wenn du harnen musst.“

Nur wenige Schritte weiter wurden wir von der Dunkelheit der Nacht verschluck. Das Lager war außer Sicht.

„Auch dann gehe ich normalerweise alleine.“

Ich stolperte fast über einen Ast. „Und warum musste ich dann … ahhh!“ Jemand riss mich zur Seite, drückte mir von hinten eine Hand auf den Mund und packte mich um die Tailie, als ich mich zu wehren begann.

„Nach ich och!“

„Pssst“, machte eine sehr vertraute Stimme in ein Ohr und zog mich noch etwas tiefer in den Wald. Im gleichen Moment nahm ich auch seinen Geruch wahr. Das war Aman. „Sei leise.“

Für diese Frechheit holte ich mit dem Fuß aus und trat nach hinten. Was wagte er es auch mich so zu überfallen? Leider streifte ich sein Bein nur.

„Hör auf und sei still!“, zischte er mich an und zog mich noch ein wenig vom Lager weg.

Oh Göttin, was sollte das den werden?

Seltsamer weise verspürte ich keine Angst, es ärgerte mich einfach nur welche Freiheiten er sich nun wieder heraus nahm. Ich strampelte noch ein wenig mehr, bis er mich loslassen musste, außer er wollte mich mit roher Gewalt festhalten. Um ein Haar wäre ich dabei auch noch auf die Nase gefallen und bevor ich ihm die Leviten lesen konnte, hatte er mir schon wieder den Mund mit der Hand verschlossen und mich mit seinem ganzen Körper gegen den Baum gedrängt. Leider war mir dieser Zustand nur viel zu bewusst und wie er mir dann in die Augen starrte machte mich völlig bewegungslos.

Still verharrte ich vor ihm. Meine Brust hob und senkte sich viel zu schnell und dieser intensive Augenkontakt löste wieder eines dieses seltsamen Gefühle in mir aus, dass in mir leider nicht nur den Wunsch weckte ihm die Krallen durch das Gesicht zu ziehen.

„Du musst mir jetzt vertrauen“, flüsterte er. „Ich nehme jetzt die Hand weg. Sei leise.“

Ich wartete, blieb leise, aber nur bis zu dem Moment als ich wieder frei sprechen konnte. „Was fällt dir ein?! Und was bitte sollte mich dazu bringen so einem sturen Hund wir dir zu vertrauen?!“

„Es ging nicht anders. Ich musste dich vom Lager wegbekommen, aber mit mir hätten sie dich niemals gehen lassen.“

Dann war das also nur ein Trick gewesen? Ich funkelte Acco böse an. Er schaute nur treuherzig zurück.

„Sie werden sicher bald nach dir suchen.“

„Natürlich werden sie das!“

„Lilith, bitte, vergiss einmal deine feindliche Ader. Ich mache das hier für dich.“

„Für mich? Was bitte soll daran für mich sein? Erst lockt ihr mich in den Wald und dann werde ich auch noch hinterrücks überfallen! Was hast da dabei nur gegesitredet?!“

„Nur einmal“, sagte er leise. Dann trat er von mir weg, bis ich wieder frei atmen konnte. Leider fühlte sich der Verlust seiner Wärme nicht so gut an wie er sollte.

Ach zur Sachmet!

Als Aman mir dann auch noch seine Hand reichte und darauf zu warten schien, dass ich sie ergriff, war ich vollends verwirrt. Was sollte das nun wieder. „Vertrau mir dieses eine Mal.“

Ich sollte ihm vertrauen? Nachdem was er alles getan hatte? Darauf gab es nur eine Antwort. „Niemals.“ Ich stieß mich vom Baum ab, schritt direkt an ihm vorbei und versuchte den verletzten Blick nicht zu beachten. Gleichzeitig fragte ich mich was das ganze eigentlich sollte. Warum lockte er mich mitten in der Nacht in den Wald? Weg von den andren. Dafür musste es einen Grund geben. Aber den würde ich nur erfahren, wenn ich mich unter seine Führung begab.

Das war lächerlich. Niemals würde ich etwas so törichtes tun. Auch meine siedende Neugierde konnte mich nicht dazu bringen. Nein, ich würde nicht stehen bleiben und umkehren. Ich würde jetzt einfach immer weiter zum Lager laufen und mich dann hinlegen. Alles andere wäre auch dumm. Niemals würde ich …

„Göttertot noch eins!“ Ich blieb stehen, atmete einmal tief durch und drehte mich dann zu ihm herum. Er stand noch immer an der gleichen Stelle, als wüsste er, dass meine Neugierde mich dazu bringen konnte ihm zu folgen. „Ich vertraue dir nicht.“

„Dann folge mir wenigstens.“

Ich haderte noch mit mir selber, obwohl mir bewusst war, dass ich bereits verloren hatte. „Licco und Jaron werden mich suchen kommen, wenn ich zu lange weg bleibe.“ Besonders Jaron.

„Dann lass und keine Zeit mehr verlieren.“

Ich wusste dass es ein Fehler war. Ich sollte einfach wieder zurück ins Lager gehen. Ich sollte mich von ihm fernhalten. Und trotzdem ging ich zu ihm zurück und ließ mich tiefer in den Wald führen.

 

°°°°°

Kapitel Sechs

Mein Gefühl sagte mir, dass es falsch war – grundlegend. Trotzdem folgte ich Aman und Acco immer tiefer in den Wald von Ailuran. Bei jedem Schritt wirbelten meine Füße den trockenen Staub auf. Nichts erinnerte an die frühere Grüne und Schönheit, die hier einst geherrscht hatte. Auch hier war es nur noch ein trostloser Ort, der kein Platz mehr für das Leben bot.

Aman lief schweigend neben mir und so sehr die Neugierde auch in mir siedete, ich fragte nicht nach dem Grund unseres nächtlichen Spaziergangs, denn ich ahnte was hier vor sich ging. Kaum dass ich mich von dem Schreck erholt  hatte, war es mir klar geworden. Es konnte nur einen Grund geben, warum er mich heimlich aus dem Lager schaffte und tiefer in den Wald brachte und als mir nach wenigen weitere Metern der mittlerweile wohlbekannte Moschusduft in die Nase stieg, sah ich meine Vermutung bestätigt. „Sian.“ Sofort blieb ich stehen und sah mich nach allen Seiten um.

„Acco hat den ganzen Abend seine Fährte gesucht.“ Auch Aman hielt an und blickte mir mit einer Eindringlichkeit in die Augen, die mich beinahe erschaudern ließ. „Es war unauffälliger ihn zu schicken, als selber zu suchen.“

„Und das war gar nicht so einfach, sag ich dir.“ Acco sah zu mir auf. „Die Gerüche hier scheinen sich bereits nach kurzer Zeit einfach in Luft aufzulösen.“ Er schüttelte den Kopf. „Wirklich seltsam.“

Ich runzelte die Stirn. „Einfach in Luft auflösen? Aber hier rieche ist Sian.“ Eindeutig. In der Zwischenzeit würde ich diesen Geruch blind erkennen.

„Was bedeutet, dass er nicht weit sein kann.“ Aman ließ den Blick suchend über unsere Umgebung gleiten.

„Oder das er vor Kurzem hier war“, ergänzte Acco.

Welche der beiden Varianten auch stimmte, eines war deutlich: Sian musste in der Nähe sein. Auch mein Blick wanderte durch die viel zu stille Nacht.

„Wie bist du ihm beim letzten Mal begegnet?“, wollte Aman wissen. „Hat er dich gefunden, oder du ihn?“

Das war eine wirklich ausgezeichnete Frage. „So genau kann ich dir das gar nicht sagen.“ Ich tippte mir mit dem Finger gegen das Kinn. „Ich hab Markierungen gesetzt und dann war er plötzlich hinter mir. Aber er war so mit Sand bedeckt, dass er da schon eine Weile gelegen haben muss.“

„Hast du ihn entdeckt, oder hat er sich gezeigt?“

„Er hat sich gezeigt.“

Aman nickte, als hätte er nichts anderes erwartete. „Dann sollten wir hier warten. Er wird dich finden.“

Ich glaubte nicht, dass es so einfach sein würde, doch Aman ließ sich bereits an Ort und Stelle in den Schneidersitz sinken. Und trotz der Dunkelheit konnte ich dabei das Muskelspiel seiner Arme erkennen. Zwar trug er immer noch die Hose der Erdlinge – da ihm niemand einen Lendenschurz gegeben hatte – doch das war auch alles. Den Rest konnte ich sehen. Und das ich es wirklich sah, das war … Oh Göttin hilf!

Hastig wandte ich den Blick ab und ließ mich unweit von ihm nieder. Warum nur musste mir das auffallen? Und warum nur schielte ich schon wieder zu ihm rüber, nur um die Kratzer an seiner Wange zu bemerken, die ich ihm selber zugefügt hatte?

Bei Bastet, nicht schon wieder!

Zähneknirschend zwang ich mich in die Schwärze des Waldes zu blicken und seine Gesellschaft zu ignorieren. Aman war ein Lykanthrop, mir sollten solche Dinge nicht auffallen. An diesem Mann sollte mir rein gar nichts auffallen, außer vielleicht, dass er schon wieder viel zu nahe war.

Warum war er eigentlich hier? Ich hatte ihm doch bereits mehr als einmal deutlich gemacht, dass er sich von mir fernhalten sollte. Aber dann hatte ich John geschickt, um ihn zu holen. Er hatte mir geholfen und dafür nicht mal Vergeltung erwartet. Natürlich hatte er das nicht. Bei seinen Amicus und seiner Familie brauchte man das nicht. Sie wussten es auch ohne Worte. Doch Aman gehörte weder zu dem einen, noch zu dem anderen. Er war ein Krieger unter einem anderen Gott und sobald wir in den Höhlen waren, würde er ein Gefangener der Ailuranthropen sein.

„Manchmal kann ein wenig Vertrauen nicht schaden.“

Ich konnte mich gerade noch daran hindern den Kopf zu drehen. „Du hast mir nie einen Grund gegeben dir zu vertrauen.“

„Ich habe dir nie einen Grund gegeben mir nicht zu vertrauen.“

„Doch hast du.“ Ich drückte die Lippen fest zusammen, um die anderen Worte am Rauskommen zu hindern. Ich sollte nicht mit ihm sprechen, nicht wenn das Gespräch wieder in diese Richtung verlief.

Aman wartete. Ich spürte seinen ruhigen Blick auf mir, bis ich ihn am liebsten angefaucht hätte, dass er das unterlassen sollte. Stattdessen kamen ganz andere Worte aus meinem Mund. „In dem Zimmer in Johns Haus bist du einfach über mich hergefallen, genau wie im Wald und im Heilerhaus der Menschen. Und das obwohl ich dir mehr als deutlich gemacht habe, dass ich das nicht will.“

Aman legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf auf das Sternenmeer am Himmel. Das einzig wirklich schöne an diesem Ort. „Es waren nicht deine gesprochenen Worte, die mich zum Handeln bewegt haben, sondern die Sprache deines Körpers. Deine Blicke, der Ausdruck deines Geistes. Ich habe …“

„Mein Körper hat keine Sprache. Das alles hast du dir nur eingebildet.“ Ich schlang die Arme um die Knie und legte mein Kinn darauf. Wenn ich ihn nur nicht ansah, dann würde dieses ganze Chaos in meinem Inneren vielleicht endlich Ruhe geben. Zumindest wenn ich endlich diesen bohrenden Blick auf mir ignorieren könnte.

„Lilith, sieh mich an.“

„Nein.“

Acco gab ein Geräusch von sich, das nach einem unterdrückten Lachen klang. Dann räusperte er sich schnell und erhob sich von seinem Platz. „Ich glaube ich werde mir mal ein wenig die Füße vertreten und …“

„Nein!“, sagte ich sofort. „Du bleibst hier!“ Er wollte mich und Aman allein lassen? Niemals!

Ganz langsam hob sich Accos Augenbraue. Er warf mir einen Blick zu, dann Aman und als sein Leiter nichts dazu sagte, drehte er sich einfach um und marschierte davon.

„Acco!“

„Lilith.“

Zur Sachmet, dieser Sermo!

„Lilith, sieh mich bitte an.“

Wenn Sian nicht wäre, dann hätte mich nichts mehr an diesem Platz gehalten. Nicht allein mit diesem … Hund.

„Lilith.“

Aber auch so könnte ich einfach aufstehen und herumlaufen. Vielleicht würde ich so auf Sian treffen.

Als ich seine Anwesenheit weiter ausblendete, seufzte Aman und erhob sich von seinem Platz. Er hockte sich direkt vor mich, doch auch das konnte mich nicht dazu bringen ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Nicht wo der Sand unter meinen Füßen doch so viel interessanter war. Vielleicht sollte ich die Körnchen zählen. Das würde mich zumindest eine Weile von diesem überheblichen Hund und meinem wild pochendem Herzen ablenken.

„Wovor hast du Angst, Kleine Kriegerin?“

„Ich habe vor nichts Angst.“ Ich war eine zukünftige Kriegerin und eine Auserwählte meiner Göttin, ich durfte vor nichts Angst haben.

„Du solltest dem was du fühlst vertrauen und dich nicht von Regeln einsperren lassen.“ Er beugte sich ein wenig vor, blickte mir damit genau in die Augen und ließ meinen Puls ein kleinen wenig in die Höhe schnellen.

Da war es wieder, dieses Gefühl das ich nicht benennen wollte, nicht benennen konnte.

Aman hob die Hand. Ich sah ganz genau wie sie näher kam und konnte seine Wärme bereits spüren, bevor er meine Wange berührte. „Weich nicht aus“, flüsterte er, als ich im Begriff war meinen Kopf wegzudrehen. Aber die Wärme, sie war so verlockend.

Es war wie an dem Tag im Wald, nur das mir hier langsam die Kraft ausging, mich gegen seinen Bann zu wehren. Etwas in mir wollte seine Nähe. Es war nur ein kleiner Teil, doch er strahlte so stark, dass er alles andere zu überdecken drohte. Selbst die kleine Stimme, die mir befahl ihn wegzustoßen und auf Abstand zu gehen.

Und dieser tiefe Blick seiner Augen … er war so offen, er zeigte mir alles was er war. Es war nicht das erste Mal, dass ich es sah, doch es ängstigte mich. Das hier durfte nicht sein. Aman war ein Lykanthrop.

„Vergiss wer wir sind“, flüsterte er. „Vergiss was geschehen ist.“

Meine Lippen teilten sich leicht. Ich konnte seinen Geruch riechen. Mit jedem Atemzug drang er tiefer in mich ein und raubte mir all meine Sinne. Und dann dieser Blick.

Ich schloss die Augen um ihm auszuweichen, doch schaffte ich es dann nicht mehr sie zu öffnen. Und so drang sein Geruch noch tiefer in ich ein. Es war wie ein Rausch, dem ich mich nicht erwehren konnte, auch wenn alles in mir danach schrie.

Aman kam noch näher, kniete sich vor mich, sodass ich zwischen seinen Beinen saß. Seine Wärme war so allumfangend, dass ich nichts mehr anderes spüren konnte. Und dann, ohne ein weiteres Wort spürte ich seinen Mund auf meinen.

Mein ganzer Körper wurde stocksteif, doch seine Lippen blieben weich und nachgiebig, als sie sich sehr langsam auf meinen Bewegten und etwas in mir auslösten, das mich bis tief in meinen Geist traf.

Sein Daumen strich über meinen Wangenknochen, lockte mich ihm zu folgen, doch es war sein warmer Atem, der mein Sein zu durchdringen schien und mein Herz dazu brachte rasend schnell gegen meinen Brustkorb zu schlagen.

Ihn so nahe bei mir zu haben … es war das erste Mal seit meiner Rückkehr, dass ich nicht von Trauer und Leid erdrückt wurde. Die sanfte Berührung war wie ein Hoffnungsschimmer, etwas Gutes in dieser düsteren Welt, die aus meiner Heimat geworden war.

Und hier, genau in diesem Moment, verbannte ich alles was ich gelernt hatte, alles was mich ausmachte. Ich wollte nur diesen kurzen Augenblick des Friedens haben, der all das Dunkle, das um mich herum tobte, zum Schweigen brachte.

Die erste Bewegung meiner Lippen war nur ein zarter, unsicherer Versuch. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie jemanden geküsst. Natürlich, Aman war mir schon mehr als einmal viel zu nahe gekommen, aber es war immer von ihm ausgegangen. Doch jetzt …

Seine Hand schob sich in meinen Nacken. Von der Berührung bekam ich eine Gänsehaut, die mein Puls verdoppelte. Mein ganzer Körper kribbelte und summte. Es war beinahe wie eine Melodie aus Harmonie, gespielt von unbrennbaren Gefühlen.

Aman überließ mir das Tempo. Ich war es die drängender wurde. Zum ersten Mal gab ich dem Sehen nach, das in mir siedete, seit er mich das erste Mal berührt hatte. Es gab mir nicht nur den ersehnten Frieden, den ich so dringend brauchte, es löste tief in mir etwas aus, von dem ich nicht gewusst hatte, dass ich es besaß und auch wenn es noch zögerlich und unsicher war, so bewegten unsere Lippen sich so im Einklang, als miteinander, als hätten wir nie etwas anderes getan.

Ich merkte kaum, wie ich meine Hand von meinen Beinen löste und auf seine Brust legte, auf die warme, strafe Haut, unter der sein Herz mindestens genauso wild wie meines Schlug. Ich erlaubte mir sogar, meine Hand auf Wanderschaft zu schicken, strich über die Feste Brust, hinauf zu seinem Schlüsselbein und stellte erstaunt fest, dass sein Atem schneller wurde. Sein Griff in meinem Nacken blieb sanft, wurde aber unnachgiebiger.

Ich konnte seine Sehnsucht spüren, als sei es meine eigene. Er wollte mehr, so viel mehr und doch hielt er sich zurück und überließ es mir, was wir taten.

Es war ein Kuss, nur ein Kuss, aber er reichte über Millennien. Er spülte alles fort was nicht in diesen Augenblick gehörte und ließ nur uns und die Berührungen die wir teilten zurück.

Und endlich verstand ich, was er mir die ganze Zeit hatte sagen wollen, was in dem Moment geschehen war, als ich seine Hand packte, um ihn vor den greifenden Winden zu schützen. Es war das gleiche, was auch Anima und Gillette zueinander geführt hatte; seit dem Moment ihrer ersten Begegnung.

Du gehörst mir.

Finis.

Aman war mein Finis.

Diese Erkenntnis kam so plötzlich und unerwartet, dass ich eigentlich hätte zurückschrecken müssen. Doch diese Geistrede war nicht unangenehm. Jeder fand irgendwann seinen Finis. Es war eine Vorherbestimmung der Götter, eine Verbindung, die immer etwas Gutes voraussetze und nach sich zog.

Langsam löste ich mich von Aman und öffnete die Augen. Meine Hand lag noch immer auf seinem wild schlagenden Herzen und unter seinem Blick begann meine Haut zu prickeln.

Er hatte es schon die ganze Zeit gewusst.

Du gehörst mir.

Er hatte es mir gesagt, mehr als einmal, doch ich hatte es nicht verstanden. Ich konnte es nicht verstehen, schließlich war er ein Lykanthrop. War er wirklich mein Finis?

Ich suchte in seinem Gesicht, in seinen Augen nach der Wahrheit. Ein kleiner Teil von mir hoffte dass ich mich irrte, dass es einen anderen Grund für dieses Sehnen gab, dass er immer wieder in mir auslöste. Ich fand keine Antwort, nur seinen ruhigen, abwartenden Blick, der mir nicht sagen konnte, ob ich mich irrte.

„Ich hätte das nicht tun dürfen“, flüsterte ich und zwang mich meine Hand von seiner Haut zu nehmen. Sofort vermisste ich die Wärme, doch wie ich es auch drehte und wendete, er war immer noch ein Lykanthrop. „Ich hätte das nicht tun dürfen“, wiederholte ich leise.

Aman verstärkte seinen Griff leicht. „Verschließ dich nicht wieder.“

„Du verstehst nicht. Du bist …“

„Ich verstehe sehr wohl. Du bist ein Ailuranthrop. Ich nicht.“

„Nein, so einfach ist das nicht. Ich …“ Ich drückte die Lippen zusammen, wich seinen Blick aus. „Ich kann das nicht.“

Aman stieß hart die Luft aus den Lungen. „Es ist unsere Erziehung. Es sind die Grenzen, die uns schon von klein auf anerzogen werden, der Krieg, der die Völker immer wieder auseinander treibt, selbst in der Zeit eines wackligen Friedens, der immer wieder gestört wird. Lilith, sieh mich an.“

Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste nicht was ich machen würde, wenn ich ihn wieder ansah. Das hier durfte nicht sein. Es war gegen alles was ich wusste.

„Kleine Kriegerin.“ Er griff nach meinem Kinn, wollte mein Gesicht zu sich drehen, doch ich wich ihm aus. Und dabei entdeckte ich ihn.

Still und leise stand er neben einem dicken Baumstamm und beobachtete uns.

„Nicht bewegen“, flüsterte ich und wusste nicht ob ich Aman oder mich selber damit meinte.

Natürlich konnte dieser sture Hund nicht hören. Er drehte den Kopf, um in meine Richtung zu blicken und sah das gleiche wie ich. Einen sehr großen Amentrum, der bis aus die Knochen Abgemagert war. Stumpfes, verdrecktes Fell, das mit der Zeit die Farbe der Umgebung angenommen hatte. Nur diese blauen Augen zeugten von einer Klarheit, die niemand einem so gebrochenen Wesen zutrauen würde.

„Ist er das?“

„Ja“, sagte ich fast ehrfurchtsvoll. „Das ist mein Sian.“

„Er ist wunderschön.“

Ja, das war er. Ein Produkt von Kraft und Stärke, über die auch der Verfall seines Körpers nicht hinwegtäuschen konnte.

Aman ließ seine Hand sinken und setzte sich halb neben mich, sodass ich zwischen ihm und Sian war. Er war nicht dumm, wusste dass er keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen sollte und bewegte sich daher sehr langsam.

Mein Herz schlug dabei wie wild. Sian ließ ihn nicht aus den Augen, doch es war anders als bei John, es wirkte fast nachdenklich.

„Rede mit ihm“, flüsterte Aman. „Lass ihn deine Stimme hören, kleine Kriegerin.“

Ja, das war vermutlich eine gute Idee. Doch was sollte ich sagen? Ich wusste nicht mal ob er mich verstehen konnte. Aber er war wieder hier, war mir weiter gefolgt. Das musste doch eine Bedeutung haben. „Hallo mein Meen-Suavis, ich …“ Ich stockte.

Sian beobachtete mich ganz genau. Die Unsicherheit haftete noch immer wie ein unsichtbarer Film an ihm, doch die Aggression war von ihm gewichen. Wie er da stand wirkte er einfach nur verloren. Wie ein kleines Natis, das sich nichts weiter als die Umarmung seiner Eltern wünschte. Und ich hätte sie ihm gerne gegeben, doch ich wusste, er würde es nicht zulassen. Vielleicht irgendwann einmal, aber nicht heute. Dafür war er einfach noch zu angespannt.

Wenigstens war er jetzt ruhiger als heute Morgen. Er streckte nur immer wieder den Kopf in die Luft, als würde er meine Witterung so besser aufnehmen können. Ansonsten war da nur dieser eindringliche Blick. Als würde er etwas suchen, oder mich mustern.

Ich neigte den Kopf leicht zur Seite. „Wunderst du dich, warum ich nicht mehr verletzt bin? Mach dir keine Sorgen, Aman hat mir geholfen. Aber das nächste Mal sei bitte vorsichtig, das hat wirklich wehgetan.“

Er reagierte, indem er erneut die Nase hob und die die Nüstern blähte.

„Am wäre es, wenn ich dir etwas erzähle, oder? So wie früher, als du noch ganz klein warst. Aber das sind Geschichten für Natis, und du bist ja kein Natis mehr.“ Ich verstummte kurz. Nein, das war er wirklich nicht. Während ich acht Tage lang versucht hatte zurück nach Hause zu kommen, war aus ihm ein ausgewachsener Amentrum geworden. „Ich kann dir von dem Ort erzählen, an dem ich war. Weißt du, dort war es wirklich seltsam, aber dir hätte es sicher gefallen. Naja, zumindest manches davon.“

Als Sian sie Ohren spitzte, glaubte ich im ersten Moment, dass da schon wieder jemand käme, doch dann wurde mir klar, dass er einfach nur meiner Stimme lauschte.

„In Ordnung, was kann ich dir erzählen?“ Ich rief mir unsere Ankunft aus der Erde in Erinnerung. „Dort, auf der Erde gibt es etwas, dass nennen die Menschen Regen. Es ist Wasser das vom Himmel fällt. Aber nicht wie ein Wasserfall, sondern ganz viele kleine Tropen, die alles nässen, was sie berühren.“ Ich hielt mich mit meinen Worten nur an Dinge, denen nichts Böses anhaftete. Ich wollte ihn nicht aufregen, falls er doch etwas von dem was ich sagte verstehen konnte. Daher ließ ich Teile wie die Begegnungen mit dem Kriegergeneral außen vor. Doch ich erzählte ihm von den Wundern der Erde. Von den bemalten Holzpflöcken am Straßenrand, deren Sinn mir bis heute entging, oder auch den riesigen Wohnorten der Menschen, Bauten, die bis hinauf in die Wolken reichten um den Göttern an den Fußsohlen zu kitzeln. Ich erzählte ihm von Autos und Wasser das aus der Wand kommt. Von Kaffee und Nutella. Von der seltsamen Kleidung und den Riten mit dem Schamgefühl.

Leise und beständig erzählte ich immer weiter.

Mein Redefluss kam erst ins Stocken, als Sian sich ganz unvermittelt bewegte. Die ganze Zeit hatte er einfach nur still dagestanden und mich beobachtet, doch dann machte er plötzlich einen Schritt nach vorne. Nicht um wegzulaufen, oder anzugreifen. Auch nicht um näher zu kommen. Nein, er legte sich hin.

Ich brauchte von Aman eine kleine Ermahnung weiter zu reden und mich davon nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. Sian hatte sich hingelegt, das hieß doch, dass er sich langsam entspannte, oder?

Danach brauchte ich einige Minuten um in meinen Redefluss zurück zu finden.

Weil ich nicht wusste, was ich sonst noch erzählen sollte, begann ich damit das Haus der Erdlinge zu beschreiben. Die Wände, die mit Papier beklebt waren, oder das Fell, das jeden Teil des Bodens bedeckte. Ich erzählte ihm von den Kasten mit den bewegten Bildern, der zwei Schwänze hatte und auch davon, dass das Licht ganz von alleine aufleuchtete, wenn man sich in seine Reichweite begab.

Als ich mir nichts mehr einfiel, was ich sonst noch beschreiben konnte, begann ich damit von den Erdlingen zu erzählen, von John und Janina, von Pascal, Destina und Luan. „John ist der, den du heute Morgen jagen wolltest“, sagte ich. „Seine Haut ist ganz braun. Überall. Er und auch die anderen Erdlinge behaupten, dass er so auf die Welt gekommen ist. Wie Nymphen, die kommen ja auch mit anderen Hautfarben auf die Welt. Ich glaube ja es kommt davon dass er Kaffee trinkt. Das Nutella kann es nicht sein. Das habe ich gegessen, aber ich bin nicht braun geworden.“

Sian drehte sich auf den Bauch, hob den Kopf von den Pfoten und robbte ein Stück näher an mich heran.

Ich musste mich zwingen nicht darauf zu achten und einfach weiter zu erzählen, aber mein Herzschlag beschleunigte sich. Nicht aus Angst, nein. Es war Hoffnung. Er kroch auf mich zu. Es war nur ein kleines Stück und uns trennten immer noch mehre Meter, doch er suchte meine Nähe. Warum sonst sollte er es machen.

Der Strohm meiner Worte wurde zu einem entfernten Rauschen. Ich achtete nun genauer auf jede seiner Bewegungen. Immer wieder kam er ein Stück näher gekrochen, doch einen gewissen Abstand überbrückte er nicht. Es war als sei er sich noch unsicher. Er wirkte entspannt, zugänglich, aber da war auch eine gewisse Furcht.

Was nur hatte er durchleben müssen, um so wachsam und misstrauisch zu werden? Ich wollte es mir gar nicht so genau vorstellen.

Knapp zwei Meter trennten mich von ihm. Dann kam er nicht mehr näher. Doch er blieb nicht still liegen. Immer wieder stand er auf, lief ein Stück um mich herum, witterte und legte sich dann dort wieder hin. Das wiederholte er alle paar Minuten.

Als er sich hinter Aman legte, wurde ich ein wenig nervös, doch dass musste ich gar nicht. Offensichtlich gefiel ihm die Aussicht auf den Lykanthropen nicht besonders, denn er erhob sich sehr schnell wieder, umkreiste uns zwei Mal und legte sich dann direkt vor mich.

Mir stockte der Atem. Er war so nahe. Ich müsste nur den Arm ausstrecken und würde ihn berühren können. Doch ich tat es nicht. Ich wusste nicht wie er reagieren würde und ich wollte ihn nicht verscheuchen. Er sollte Vertrauen aufbauen, ich musste ihm also das Tempo überlassen – auch wenn es mir schwer fiel.

„Aber was ich dir nicht empfehlen würde, ist eine Fahrt in einem Auto. Es schaukelt so und dann die Gerüche.“ Ich erinnerte mich nur zu gut an das Gefühl, das mich immer überkam, sobald sich das Auto von Janina oder John in Bewegung gesetzt hatte. „Mir ist immer schlecht davon geworden. Janina meinte, wenn das Fenster offen ist, dann würde es mir besser gehen, aber …“

Ruckartig riss Sian den Kopf nach oben, legte die Ohren an und fletschte die Zähne.

Ich wirbelte den Kopf herum, doch es war nur Acco, der zwischen den Bäumen aufgetaucht ist und in einiger Entfernung ruhig wartete. Göttertot, warum konnte er nicht wegbleiben? Es war doch gerade so gut gelaufen.

Aman runzelte die Stirn. „Ist etwas passiert?“

Als Sian Amans Stimme hörte, sprang er auf die Beine und wich sofort vor uns zurück. Die ganze Zeit hatte er sich an seiner Anwesenheit nicht gestört, doch dass er jetzt sprach, schien ihn zu irritieren. Die Anspannung war zurück, alles Sinne wach uns auf Achtsamkeit gestellt.

Acco blieb wo er war, behielt Sian aber vorsichtshalber Auge. „Sie suchen nach uns. Ich hab sie ein wenig in die Irre geführt, aber lange lassen sie sich nicht mehr an der Nase herumführen.“

Zur Sachmet, Licco und Jaron. Ich hatte sie ganz vergessen.

Aman neigte den Kopf leicht zur Seite. „Willst du gehen?“

Ob ich gehen wollte? Ich blickte zu Sian, der mit der neuen Situation sichtlich überfordert wirkte. Nein, ich wollte nicht gehen. Zumindest nicht ohne ihn, aber was würde passieren, wenn die anderen davon erfuhren, dass ich Sian hinter uns hergelockt hatte? Ich wollte es gar nicht so genau wissen. „Ich muss gehen.“ Andernfalls würden uns die anderen früher oder Später hier finden.

Aman erhob sich sehr langsam von seinem Platz. Er war sich sehr wohl bewusst, dass Sian jede seiner Bewegungen verfolgte. Doch solange er sich ruhig verhielt, würde er Sian keinen Grund geben ihn als Gefahr zu sehen.

Doch die plötzliche Bewegung verunsicherte Sian immer mehr. Ohne uns aus den Augen zu lassen, wich er immer weiter zurück, bis er zwischen den dunklen Schatten der Bäume kaum noch zu erkennen war.

„Komm.“ Auffordernd hielt Aman mir seine Hand hin, die Hand, mit der er mich vorhin berührt hatte. Eine Berührung, die mich gegen meinen Willen in seinen Bann geschlagen hatte. Und wieder musste ich mich fragen, war er wirklich mein Finis, oder war ich doch nur einem Zauber erlegen, den er um mich herum gesponnen hatte?

Diese Erklärung wäre so einfach zu glauben gewesen. Sie wäre unkompliziert und ich könnte ihm an allem die Schuld geben, doch mittlerweile hatten sich Zweifel eingeschlichen. War es wirklich ein Zauber oder nur ein schicksalhafter Streich der Götter?

Ich wusste es nicht und im Augenblick war es zu müßig darüber geistzureden. Dazu bräuchte ich ruhe und Einsamkeit.

Aman wartete geduldig, doch ich wagte es nicht seine dargebotene Hand zu ergreifen. Ich wusste einfach nicht, wie ich das alles einordnen sollte, denn dieses Mal war es anders gewesen. Ich hatte ihn nicht weggestoßen, oder sonst wie versucht mich von ihm freizumachen. Trotz allem was geschehen war, trotz allem wofür er stand und trotz allem was ich wusste, hatte ich mitgemacht.

Ich hatte Amans Kuss erwidert.

Und es hatte sich gut angefühlt.

Seufzend ignorierte ich seine Hilfe und kam alleine auf die Beine. Dabei wagte ich es nicht ihm anzusehen. Mein Blick galt Sian, doch der war weg.

Dort wo er eben noch gestanden hatte, war jetzt nichts weiter als eine weitere leere Stelle mitten im Wald.

 

°°°

 

Es war so still. Der Boden des Waldes verschluckte sogar die Geräusche unserer Schritte. Und das Schweigen das zwischen uns herrschte, machte es noch unangenehmer. Trotzdem war ich nicht glücklich darüber, als Jaron plötzlich aus dem Nichts vor uns auftauchte und mich mit einem einzigen Blick anklagte, etwas Abscheuliches getan zu haben.

„Kannst du mir mal erklären, was du hier im Wald treibst?“

Ich kniff die Augen zusammen. „Ich wüsste nicht, dass ich dir eine Rechenschaft schuldig wäre.“

„Wenn durch dich die Sicherheit der anderen gefährdet wird, dann bist du das.“

Eiskalte Panik packte mich. Wusste er etwa von Sian? Aber wie hatte er das herausbekommen? Nein. Nein, er konnte da nicht wissen. Oder? „Wie meinst du das?“

Hinter ihm schlick Mochica um die Bäume und behielt die Umgebung im Auge.

„Ist das nicht offensichtlich? Wegen dir musste ich das Lager verlassen. Die andern sind im Augenblick schutzlos und das nur, weil ich nach dir suchen musste.“

Den Göttern sei es vergolten, er sprach nicht von Sian. „Ich habe dich nicht gebeten nach mir zu suchen. Ich bin bisher immer gut ohne dich klar gekommen.“

„Das war früher vielleicht einmal so gewesen, aber die Welt hat sich verändert. In Ailuran gibt es nun Dinge, die du dir nicht einmal vorstellen kannst. Ich kann nicht zulassen, dass die Auserwählte meines Volkes aus purem Trotz nächtliche Wanderungen unternimmt.“

Trotz? Trotz!?

Mit den Augen maß er den Abstand zwischen mir und Aman. „Was machst du eigentlich mit ihm hier draußen?“

Wie er es aussprach. Ihm. Als sei allein seine Gegenwart eine Beleidigung.

Aman kniff die Augen leicht zusammen. „Ich war spazieren und habe sie unterwegs getroffen und gebeten mich ein Stück zu begleiten.“

Etwas an Amans Worten passte Jaron nicht. Ich konnte es nicht genau benennen, aber es war ihm deutlich anzusehen. Vielleicht war es die Art, wie er seinen Bogen fester packte, oder der kleine Zug um seinen Mund, der sich vertiefte. „Ich habe den Eindruck, du interessierst dich ein wenig zu sehr für unsere Auserwählte.“

„Sie ist mehr als nur eine Auserwählte“, erwiderte Aman schlicht.

„Vielleicht war sie das früher einmal, aber jetzt ist sie in erster Linie die Auserwählte der Göttin, ein Geschenk an die Ailuranthropen und du tätest gut daran dies nicht zu vergessen.“

Ein leises Grollen tönte aus Amans Brust. „Versuch nicht mir zu drohen.“

„Dann halte Abstand zu ihr.“ Er richtete seinen Blick auf mich. „Und du? Gefällt es dir von einem Hund angehechelt zu werden?“

„Bitte?“ Ich glaubte mich verhört zu haben. Das hatte er doch nicht wirklich gerade gesagt.

„Es ist ziemlich verdächtig, wie oft du mit ihm aus dem Wald auftauchst. Und du scheinst dich in seiner Gegenwart auch nicht … unbehaglich zu fühlen.“ Er schwieg kurz. „Nicht so wie am Anfang.“

Mit jedem Wort das seinen Mund verließ, siedete die Wut in mir heißer. Es fiel mir schwer meine Atmung zu kontrollieren und am liebsten hätte ich ihm die Krallen durch das Gesicht gezogen. Diese obszönen Unterstellungen, die er von sich gab, das grenzte ja schon an Beleidigung. Vielleicht empfand ich es auch nur so, weil dem ein Körnchen Wahrheit gegeben war und ich unter keinen Umständen wollte, dass diese Tatsache jemals ans Licht kam. Nicht die vielen Male, als ich Amans Annäherungsversuche abgewehrt hatte und ganz bestimmt nicht der Moment im Wald, als ich es nicht nur zugelassen, sondern auch mitgemacht hatte.

„Halt dich von mir fern“, quetschte ich mit unterdrückter Wut zwischen den Zähnen hervor. „Komm mir nicht zu nahe und richte nicht mehr das Wort an mich, sonst werde ich vergessen, dass du mein Amicus bist.“ Oder es wenigstens einmal war.

Jaron schulterte seinen Bogen auf dem Rücken, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Ich werde nicht zulassen, dass du für das Volk verloren gehst. Und wenn ich es gegen deinen Willen machen muss, dann werde ich das tun. Begibt dich einfach nicht mehr aus meinem Blickfeld.“

„Du kannst mir keine Befehle erteilen, dazu hast du kein Recht. Und nun geh mir aus den Augen.“

„Ich nehme keine Anweisungen von einem Lehrling entgegen. Besonders von keinem, der zurzeit dem falschen Pfad folgt und Dinge tut, die verboten sind.“

„Ich habe nichts Verbotenes getan!“, fauchte ich ihn an und wusste doch dass er Recht hatte. Ich hatte Aman geküsst und das war falsch. Es wiedersprach allem was mir beigebracht wurde.

„Dann gibt es für dich keinen Grund dich so aufzuregen.“

Ich fühlte mich in die Ecke gedrängt. Seinem scharfen Blick schien nichts zu entgehen und das behagte mir nicht. Er war der Wahrheit viel zu nahe gekommen. Es gab nur eines, was ich im Moment tun konnte, den Rückzug antreten.

Ich wandte mich von ihnen allen ab und marschierte zurück ins Lager. Ihren Blicken in meinem Rücken war ich mir dabei sehr wohl bewusst.

 

°°°

 

Es begann ganz langsam. Plötzlich war da ein Grashalm, der sich aus der Düne ans Sonnenlicht gearbeitet hatte. Ein frisches Grünes Blatt an einem Baum. Ein kleines Stück Wiese mit zwei violetten Blumen darauf. Das Land veränderte sich so unscheinbar, dass es im ersten Moment gar nicht auffiel.

Erst als Nebka in einem vertrockneten Gebüsch eine Eidechse aufscheuchte, würden uns die Veränderungen Bewusst. Aus braun wurde grün. Aus Sand wurde Gras. Aus Tod wurde Leben. Aus der Wüste wurde eine Oase mit den schönsten und exotischsten Blumen auf ganz Silthrim. Innerhalb von kürzester Zeit liefen wir noch mehr über das verlassene Land, sondern liefen durch einen dichten Urwald, in dem man aus jedem Winkel die Geräusche der Natur auffangen konnte.

Es war Stunden her, seit wir am Morgen aufgebrochen waren. Jaron hatte uns so früh aus unseren Lagern gejagt, dass mir nicht einmal mehr die Gelegenheit geblieben war, noch einmal in die Tiefen von Ailuran zu verschwinden, um nach Sian zu suchen. Doch wenigstens hatte ich weiter unbemerkt Markierungen anbringen können. Sian würde ihnen folgen – dieses Mal wusste ich es mit Sicherheit.

„Also wenn wir nicht bald da sind, dann streike ich.“ Janina seufzte schwer und hielt sich den Unterrücken. Die ganze Zeit auf Acco zu reiten war anstrengend für sich und nachdem sie sich darüber beschwert hatte, dass ihr Hintern wehtat, lief sie nun. Daher kamen wir nur sehr langsam voran.

„So weit ist es gar nicht mehr“, beruhigte Ravic sie. „Spätestens morgen Mittag sind wir bei den Höhlen.“ Und erst dann schien er zu bemerken, dass er sich gerade mit einer Lykanthropin unterhielt, als sei es das normalste der Welt. Er schaute schon beinahe erschrocken aus. Dann wandte er sich blitzschnell an und hustete in seine Hand. Tja, das war auch eine Möglichkeit vom Thema abzulenken.

Janina schnaubte. „Also unter so weit ist es gar nicht mehr, verstehe ich nicht morgen Mittag, sondern innerhalb der nächsten zehn Minuten.“ Wieder seufzte sie. „Und ein Bad, ich will unbedingt ein Bad nehmen. Ich kann mich echt nicht mehr riechen. Und euch auch nicht.“

Die Augen zu verdrehen wäre unreif gewesen, was wohl auch der einzige Grund war, warum ich es nicht tat. Trotzdem musste ich einräumen, dass sie Recht hatte. Seit drei Tagen war kein Wasser mehr an meine Haut gekommen. Der Dreck, die Reste von Blut und Sand, dass alles war zu einer unangenehmen Kruste auf meiner Haut geworden.

„Wir kommen an einem Fluss vorbei“, sagte Licco. „Es ist nicht mehr weit, dort können wir uns waschen.“

Janina zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen. „Nicht mehr weit im Sinne von morgen Mittag, oder nicht mehr weit im Sinne von wir sind in den nächsten zehn Minuten da?“

„Ungefähr eine Stunde“, kam es vorne von Jaron. Wie immer hatte er die Spitze übernommen, aber zur Abwechslung lief er mal auf seinen eigenen Beinen.

„Naja, besser als gar nichts.“ Für einen kurzen Moment schwieg Janina. „Und wie sieht es mit Duschgel und Shampoo aus? Oder Handtüchern?“

Sie Antwort auf diese Frage war schweigen und ein Hustenanfall von Ravic.

 

°°°

 

„Ich kommeee!“ Laut platschen landete Nebka neben mir in dem kristallklaren Fluss. Kleine Tropfen spritzten in alle Richtungen und glitzerten im Licht der Sonne wie kleine Diamanten. Einen Moment später kam ein kleiner, pitschnasser und nach Luft schnappender Luchs wieder an die Oberfläche, nur um rauszuklettern und noch einmal reinzuspringen.

Lächelnd wrang ich meinen Lappen aus und wischte damit dann wieder über Animas Arme. Sie ließ es über sich ergehen. Seit wir uns ausgezogen hatten und in den Fluss gestiegen waren, hatte sie nicht eine Reaktion von sich gegeben und mir war wieder schmerzlich bewusst geworden, was sie verloren hatte. Auch wenn sie körperlich anwesend war, so war ihr Geist in dem Moment gestorben, als sie von Gillettes Tod erfahren hatte. Es schmerzte mich sie so zu sehen, diese leere Hülle, der man keine Reaktion mehr entlocken konnte.

„Du solltest sie das selber machen lassen.“

Ich sah rüber zu Destina, die neben Janina auf einem der riesigen Findlinge saß, die überall im tiefen Fluss herumlagen. 

Vinea saß am Ufer im saftgrünen Gras und ließ sich in der warmen Sonne trocknen. Um sie herum lag überall unsere gewaschene Kleidung, damit sie nicht mehr nass war, wenn wir den Fluss für die Männer freimachten.

„Wie soll ich sie das selber machen lassen? Sie rührt sich doch nicht.“

„Weil ihr ihr alles abnehmt.“ Destina richtete sich ein wenig auf. „Ihr behandelt sie wie eine Invalidin, aber das ist sie nicht. Aber bevor ihr nicht damit aufhört so mit ihr umzugehen, wird sie auch nicht aufhören sich so zu benehmen. Glaub mir, ich weiß wovon ich spreche.“

Ich kniff die Augen leicht zusammen und musterte den Lappen in meiner Hand, den Jaron aus seiner Reittasche hervorgezogen hatte. Irgendwo klang es logisch was sie sagte. „Und was soll ich dann tun?“

„Gib ihr den Lappen in die Hand und sag ihr, sie soll es selber machen, wenn sie nicht stinken will.“

Das fand ich grausam. Anima hatte gerade ihr Herz verloren, wie konnte ich da von ihr verlangen, dass sie sich ganz normal benahm?

Ich spürte die Blicke der anderen Frauen deutlich auf mir. Selbst Lacota hatte sich aus ihrem Sonnenbad erhoben und beobachtete mich.

„Was überlegst du da so lange?“, fragte Janina mich. „Wenn Gran sagt, dass du das so machen sollst, dann tu es. Sie hat wesentlich mehr Erfahrung mit sowas.“

Ja, weil sie wesentlich älter war. Einen Versuch war es auf jeden Fall wert.

Ich nahm Animas Hand und legte den Lappen hinein. Sie starrte ihn nur an, als wüsste sie nicht mal was das ist.

„Wasch dich, Nim“, sagte ich leise. Und weil sie immer noch keine Reaktion von sich gab, fügte ich noch hinzu: „Gillette hätte sicher nicht gewollt, dass aus dir diese leere Hülle wird. Er würde es nicht gutheißen und das weißt du.“

Ihr Blick glitt einfach durch mich hindurch. Sie sah mich gar nicht, sie hörte meine Worte nicht. Sie war einfach nicht mehr da.

„Bitte Nim. Mach dich nur ein wenig sauber. Du kannst das.“ Als wieder keine Reaktion kam, sah ich hilfesuchend zu Destina hinüber. Es war ein seltsames Gefühl mich in einer solchen Situation an jemand anderes als einen Ailuranthropen zu wenden.

„Lass ihr den Lappen und geh weg“, sagte Destina. „Sie weiß was sie damit tun muss.“

Natürlich wusste sie das, schließlich war sie kein kleines Kätzchen mehr. Aber sie sah so verloren aus. Wie konnte ich sie da allein lassen? Andererseits hatte Destina natürlich Recht, daher erhob ich mich zögernd aus dem Wasser und kletterte neben Vinea ans Ufer, während Nebka noch immer planschend im Wasser herumpaddelte.

„Und schau sie nicht die ganze Zeit wie ein Versuchskaninchen an.“ Destina lehnte sich wieder zurück und schloss die Augen. „Sie ist eine erwachsene Frau, sie wird das schon machen.“

Wegzusehen war fast noch schwieriger, als sie einfach alleine im Wasser sitzen zu lassen. Doch ich schaffte es meinen Blick auf etwas anderes zu konzentrieren. Einen Wasserkäfer, der munter über die Oberfläche lief.

„Es ist toll, oder?“ Vinea hatte sich rücklings ins Gras gelegt und genoss sichtlich die Sonne auf ihrem Körper. „Endlich wieder sauber.“

Ja, da hatte sie recht. Den Schmutz und den Dreck abzuwaschen war gleichzeitig auch eine Reinigung für den Geist gewesen. Und ich schien das nicht als einzige so zu empfinden. Seit wir am Fluss angekommen waren, schienen alle entspannter. Selbst Janinas scharfe Zunge war weicher geworden.

Trotz Destinas Ermahnung, konnte ich es nicht verhindern, dass ich Anima aus dem Augenwinkel beobachtete. Sie hatte sich immer noch nicht bewegt, saß nur im Wasser und starrte den Lappen an.

„Wenn wir jetzt noch Öle hätten, dann wäre ich rundum zufrieden.“

So sah sie auch aus. Die schreckliche Bauchwunde war bis auf eine kleine Narbe fast verschwunden. Ihr Arm war noch dick bandagiert, aber auch der Bruch schien beinahe verheilt. Selbst das Laufen fiel ihr mittlerweile wieder leichter. Sie brauchte nicht einmal mehr ihren Stock. Pascal fand es äußerst faszinierend, wie schnell der Heilungsprozess bei Lykanthropen verlief – das hatte er heute Morgen gesagt.

„In den Höhlen haben wir sicher Öle, die du benutzen kannst. Und Wasser.“ Davon zumindest ging ich aus.

„Wenn das so ist, dann werdet ihr mich morgen nach unserer Ankunft lange Zeit nicht sehen.“

Es gab ein lautes platschen, als Nebka dicht neben Anima ins Wasser hüpfte und den Occino der Ailuranthropen dabei von oben bis unten nass spritzte. Vielleicht war es nur ein Reflex, aber Anima riss schützend die Arme vors Gesicht und wischte sich dann das Wasser aus den Augen.

Ich hielt den Atem an, zeigte aber ansonsten nicht, dass ich es gesehen hatte. Das war die erste richtige Reaktion, die sie seit unserer Ankunft in Ailuran von sich gegeben hatte. Sie schien davon selber überrascht, ja sogar richtig fasziniert. Wie sie ihre Arme sinken ließ, es war als hätte sie vergessen, dass sie das konnte.

„Sie wird sich wieder finden“, sagte Lacota leise und bettete ihren Kopf auf ihren Pfoten. „Sie braucht nur etwas Zeit.“

Nebka, die von dem ganzen nichts mitbekommen hatte, strampelte fröhlich ans Ufer zurück um wieder reinzuspringen.

„Ich hoffe es. Wir brauchen sie.“ Ich brauchte sie. Sie war meine Amicus und auch wenn ich sie in den letzten Tagen im Stich gelassen hatte, so fehlte sie mir. Nach allem was passiert war … sie war eine der wenigen die mir noch geblieben waren und ich war nicht bereit sie auch noch zu verlieren.

„Sie ist stärker als es im Moment den Anschein hat.“ Vinea drehte ihren Kopf ein wenig, um Anima zu beobachten. „Sie wird zu sich zurückfinden, ihr müsst ihr nur Zeit zum Trauern geben.“

„Woher weißt du das?“ Wie konnte sie sagen, dass alles wieder in Ordnung wurde und dabei auch noch so sicher klingen?

Für eine lange Zeit blieb ihr Mund geschlossen. Dann seufzte sie. „Ich habe dir doch erzählt, dass unsere Eltern gestorben sind, und auch unsere Romina. Aman hatte sich danach ganz ähnlich verhalten. Damals war ich noch ein kleines Natis und ich habe es nicht verstanden. Er war alles was mir geblieben war und er verhielt sich so seltsam. Ich habe ihn angeschrien, ihn geschlagen, immer wieder, aber er hat einfach nicht darauf reagiert. Und dann, eines Morgens stand er auf, frühstückte und begann wieder zu leben.“ Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie es immer noch nicht glauben. „Ich weiß bis heute nicht was der Auslöser dafür war, aber ich fragte auch nicht nach. Ich war einfach nur glücklich, dass er nicht mehr still vor sich hinvegetierte.“

Das konnte ich mir vorstellen. „Aber du …“ Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung bei den Bäumen rund um den Fluss wahr. Ich zwang mich still zu halten, um die anderen nicht darauf aufmerksam zu machen. War es Sian? Mein Herz begann schneller zu klopfen. Hier wäre ein denkbar schlechter Moment um einfach so aus dem Wald aufzutauchen. „Ich gehe mir mal ein wenig die Beine vertreten.“

Ich erhob mich von meinem Platz und nahm meinen Lendenschurz. Er war noch nicht ganz trocken, genau wie meine Haare, aber es würde gehen. Mich zur Ruhe zwingend, stieg ich hinein, warf Anima dabei noch einen Blick zu und hätte dabei fast vergessen, was ich eigentlich vorhatte.

Sie wusch sich.

Anima hatte den Lappen erhoben und machte sich damit die Arme sauber. Sie bewegte sich endlich. Vielleicht hatte Destina wirklich Recht.

Bevor Anima bemerken konnte, dass ich sie beobachtete, schlenderte ich auf die urwaldliche Wand aus Bäumen zu. Und dann sah ich ihn.

Ich hielt so abrupt, als hätte sich direkt vor meiner Nase eine Wand aufgetan. Das war nicht Sian, der da hinter den Bäumen lauerte und uns beobachtete, das war Jaron! Jaron stand mir Mochica an einem Baum gelehnt und beobachtete uns beim Waschen! Ich konnte es nicht fassen. Natürlich, Gruppenbäder – auch mit Männern – waren etwas völlig normales, aber dann trugen wir Badekleidung. Doch hier waren wir alle nackt! Jaron hatte uns bespannert!

Von unbändiger Wut gepackt, stürmte ich auf ihn zu. Dass er so völlig ruhig mit seinem Bogen auf dem Rücken am Baum lehnte, steigerte meinen Ärger auf ihn ins unermessliche. Er hatte nicht das Recht uns so zu sehen, er hatte nicht das Recht mich so zu sehen!

„Was glaubst du, was du da tust?!“, fragte ich ihn und schlug ihm im gleichen Moment gegen die Brust. Das zumindest war der Plan gewesen, doch ich berührte ihn nicht einmal, da er meine Fäuste in der Luft abfing. Das machte mich erst richtig wütend. Ich wehrte mich gegen ihn und stolperte er zurück, als er mich ganz unvermittelt wieder freigab. Das hatte er mit Ansicht getan.

Wütend funkelte ich ihn an. „Du hast nicht das Recht uns so zu sehen.“

„Keiner von euch hat etwas, dass mir noch nicht unter die Augen gekommen wäre.“

Oh, dieser Steinkopf! „Und das gibt dir das Recht uns heimlich zu beobachten?!“

„Ich habe es dir gesagt, ich werde dich nicht mehr aus den Augen lassen. Du bist zu wichtig und auch zu töricht, und ich werde nicht still daneben sitzen, wenn du in dein Verderben rennst.“

„Verderben?“ War er gegen einen Baum gelaufen? „Wie kommst du darauf, dass ich …“

„Streite es nicht ab Lilith, es ist viel zu offensichtlich. Du verschwindest ständig in den Wald und tauchst anschließend mit diesem Lykanthropen wieder auf.“

Das verschlug mir glatt die Sprache. Was unterstellte er mir da? In Ordnung, ja, es hatte da ein paar … Zwischenfälle gegeben, aber das gab ihm noch lange nicht das Recht mir nachzuspionieren. „Wie oft soll ich dir das noch sagen, Aman ist ein Lykanthrop!“

„Was es umso schlimmer macht.“ Er kniff die Augen leicht zusammen. „Vergiss nicht, du bist nicht für diesen Mann bestimmt.“

„Und für wen denn dann? Für dich etwa?“ Der Spott triefe nur so aus meiner Stimme.

„Vielleicht. Das werden die Priester entscheiden.“

Damit spielte er wohl auf das Gespräch zwischen sich und Licco an. Meine Lippen kräuselten sich verächtlich. „Das wird niemals geschehen, nicht mal wenn du der letzte Mann auf der Welt wärst. Dann ziehe ich doch lieber Aman vor.“

Jaron kniff die Augen zusammen. Diese Abweisung hatte ihm nicht gefallen. „Treib es nicht zu weit, Lilith.“

„Nein Jaron, treib du es nicht zu weit. Vergiss nicht, ich habe immer noch Krallen und wenn du nicht aufpasst, wirst du sie zu spüren bekommen.“

Im nächsten Moment bewegte Jaron sich so schnell, dass ich nicht mehr reagieren konnte. Er packte mich einfach an den Oberarmen und drückte mich dann mit seinem ganzen Körper gegen den Baum. In seinen Augen funkelte die Wut. Aber was mich wirklich erschreckte war der Schmerz, Jaron hatte die Krallen ausgefahren und bohrte sie in meine Arme.

Ich biss mir auf die Lippen und jeglichen Laut zu unterdrücken. Niemals würde ich ihm die Genugtuung geben und erkennen lassen, dass er mir überlegen war.

„Es gab eine Zeit, da hättest du mich nicht so einfach abgewiesen.“

„Ich hätte dich immer abgewiesen.“

„Nein, früher nicht.“ Er drückte etwas fester zu. Es tat weh. Oh Göttin, es tat so weh. Ich spürte wie warmes Blut über meine Haut lief.

„Damals im Tempel hättest du es nicht getan.“

„Im Tempel warst du nichts weiter als mein Amicus und das auch nur, weil du Gillettes kleiner Brestern warst. Ohne ihn hätte ich dich nicht mal beachtet. Und nun gib mich frei.“

Jaron verengte die Augen und lockerte seinen Griff ein wenig, aber er rückte nicht von mir ab. „Die Priester werden entscheiden was geschieht.“

„Nicht mal Bastet könnte mich dazu bringen dir freiwillig nahe zu kommen.“

Er biss die Zähne so fest zusammen, dass es schmerzen musste. „Aber einen dreckigen Hund, den lässt du an deinen Körper? Du …“

„Ich habe ihn immer abgewehrt!“ Kaum das diese Worte meinen Mund verlassen hatten, bereute ich sie bereits. Was sich in seinem Gesicht auftat, war nicht nur Erstaunen, sondern auch Verstehen.

„Ich hatte also doch Recht.“

„Nein, hattest du nicht. Und jetzt gib mich frei!“ Und dann tat ich etwas, das mein Fafa mir bereits beigebracht hatte, als ich noch ein kleines Kätzchen war. Ich riss das Knie hoch und rammte es ihm genau zwischen die Beine.

Jaron war von seinen Geistreden so abgelenkt, dass er nicht mehr rechtzeitig reagieren konnte. Er jaulte auf vor Schmerz, wurde kreidebleich und sackte dann einfach in sich zusammen. Leider vergaß er dabei die Krallen aus meinem Arm zu nehmen und riss die Haut noch ein wenig weiter auf.

Ich zische, taumelte zurück, während Mochica laut fauchte. „Lass mich in Ruhe!“

Jaron lag keuchend auf dem Boden. Schweiß stand ihm auf der Stirn und die Augen waren krampfhaft zusammengekniffen. Ja, das musste wirklich schmerzen. Wenn ich auch nicht viel Ahnung hatte, das wusste ich.

„Und wag es nicht noch mal mir zu nahe zu kommen.“ Ohne einen weiteren Blick auf ihn wirbelte ich herum und marschierte in das grüne Dickicht des Waldes. Ich war so wütend auf diesen Krieger. Was glaubte er damit zu erreichen? Er würde niemals das Recht bekommen, über mich zu bestimmen – nicht solange ich noch ein Wort mitzureden hatte.

Meine Geistreden kreisten, die Wut siedete in mir. Ich merkte kaum, wie das Blut auf meine Armen antrocknete, das einzige was ich fühlte war diese unbändige Wut. Würden sich die anderen Ailuranthropen auch so verhalten, wenn sie erfuhren, wer ich nun war? Oh Bastet, warum hast du mir diese Last aufgebürdet? Was soll ich tun?

Ich war so ratlos, dass ich einfach nicht wusste, was ich tun sollte.

Immer tiefer lief ich in den Wald. Einfach nur weg von Jaron.

Erst jetzt bemerkte ich, wie ich zitterte, aber das kam nicht aus meiner Wut heraus. Es war … nein, ich fürchtete mich nicht. Es war … alles. Alles war einfach zu viel. Die Reise zur Erde, der Kriegergeneral, Gillettes Tod, Animas gerochene Augen, der Verlust des Tigerauges, meine Familie, die ich nie wieder sehen würde, der Status einer Auserwählten. Und jetzt auch noch Jaron.

Die erste Träne fand ihren Weg unbemerkt ins Freie. Die zweite und dritte drängten dich auf. Ungeduldig wischte ich sie mir aus dem Gesicht, doch es kamen gleich neue. Es wurden so viele, dass mein Blick verschwamm. Deswegen übersah ich auch die Wurzel und fiel der Länge nach einfach hin. Ich hatte nicht einmal mehr die Kraft mich abzufangen.

Der Aufprall tat weh, meine Arme taten weh, doch was wirklich schmerze, das war mein Herz.

Alles war so entsetzlich schiefgelaufen. Wären wir doch damals nur nicht in den Tempel gelaufen, sondern hinaus in den Wald, dann wäre alles anders gekommen. Es war nur ein kleiner Fehler gewesen, der so viel Schrecken zur Folge hatte.

Ich krallte meine Finger in das tote Laub. Ich hatte nicht einmal mehr die Kraft aufzustehen. Ich war am Ende. Warum nur hatte Bastet ausgerechnet mich ausgewählt? Ich war die Falsche. Zu jung, zu klein, die Schwächste, immer die letzte. Ich war nicht für diese Aufgaben geschaffen. Ich schaffte es ja nicht mal mit dem weinen aufzuhören.

Einfach nur liegen und weinen. Minuten, Stunden, Tage. Die Tränen versiegten irgendwann, doch der Schmerz in meinem Herzen blieb. Irgendwann rollte ich mich zu einer festen, kleinen Kugel zusammen. Meine Augen brannten. Sie waren vom Weinen geschwollen, doch es war mir egal. Es war mir egal, wie lange ich hier bereits lag und auch, ob die anderen mich suchen kamen. Sie sollten mich einfach in Ruhe lassen. Alle sollten mich in Ruhe lassen.

Wenigstens für kurze Zeit.

Doch natürlich gewährte mir das Schicksal nicht mal diese kleine Bitte. Es war das Rascheln des Laubes, das mich auf seine Ankunft vorbereitete. Vorsichtig, leise, verstohlen, so als sei er unsicher, wie er sich verhalten sollte.

„Meen-Suavis, ich weiß das du das bist.“ Und er war im Moment wohl auch der Einzige, den ich nicht in die Mächte wünschte.

Ich brauchte den Kopf nicht zu bewegen, um ihn zu sehen. Sian trat von alleine in mein Sichtfeld. Den Kopf leicht geneigt beobachtete er mich und blähte die Nüstern. Er roch das Blut an meinen Armen. Es war nicht viel, aber so einer Katzennase entging nicht viel.

„Es ist nicht schlimm“, sagte ich leise. „Nur ein paar Kratzer.“ Um die ich mich kümmern sollte. Ich konnte sie selber heilen, aber im Moment war mir das egal. Ich wollte einfach nur hier liegen bleiben und den Rest der Welt vergessen.

„Alles ist so schlimm geworden.“ Wieder trat eine Träne aus meinen Augen. „Bis auf Licco und Fafa sind alle tot und das Tigerauge hab ich auch nicht mit zurückbringen können. Licco sagt, dass deswegen alle krank werden und sterben.“ Ich biss mir auf die Lippen. Natürlich wusste ich, dass es eigentlich nicht meine Schuld war. Ich hätte nichts anders machen können und doch war ich eine der letzten gewesen, die es gesehen hatte.

„Weißt du was wirklich schlimm ist? Alles ist jetzt so ungewiss.“

Da Sian zu merken schien, dass ich nicht vorhatte aufzustehen, legte er sich nach einem wachsamen Rundumblick ein Stück entfernt hin. Er war nicht mehr so nervös wie bei unserem ersten Treffen. Er schien sich mit jedem wiedersehen ein wenig mehr zu entspannen.

„Früher hatte ich ein Ziel.“ Ich schnaubte über meine eigenen Worte. „Noch vor zwei Wochen hatte ich ein Ziel. Ich wollte eine Kriegerin werden, doch nun bin ich eine Auserwählte und ich weiß nicht einmal, was das bedeutet.“ Ich senkte die Augen, um Sians stechenden Blick zu entgehen. Er schien so viel mehr zu verstehen, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. „Weißt du noch, wir wollten das größte Gespann auf ganz Silthrim werden, du und ich.“ Und jetzt würden wir nicht einmal mehr gemeinsam am großen Rennen teilnehmen können, denn das große Rennen gab es nicht mehr.

Eine plötzliche Berührung an meiner Hand ließ mich den Kopf heben.

Sian hatte die Pfote ausgestreckt und stupste damit gegen meine Hand. Und dann koch er auch noch ein Stück näher.

Ich hielt den Atem an und wagte es nicht mich zu bewegen. Er wirkte nicht aggressiv, nur … tröstend. Es war als wollte er meinen Schmerz mit dieser kleinen Berührung lindern. Doch als er dann seinen Kopf gegen meinen schmiegen wollte, war er etwas zu übermütig. Es gab ein lautes Klock und ich zischte. Das hatte wehgetan.

Er jedoch schien das gar nicht wahrzunehmen. Übermütig ließ er sich auf die Seite plumpsen und blickte mich abwartend an. Dabei war er mir so nahe, dass ich seinen fauligen Atem in Gesicht spüren konnte. Trotzdem verzog ich keine Mine.

„Was willst du, Meen-Suavis?“

Er blinzelte, blieb aber ansonsten völlig ruhig.

Ich wusste dass es schwerwiegende Folgen haben könnte, trotzdem wagte ich es sehr langsam meine Hand nach ihm auszustrecken. Dabei ließ er mich keinen Moment aus den Augen. Doch wenn er mich freiwillig berührte, dann durfte ich das doch sicher auch, oder?

Einen kurzen Moment zögerte ich noch, dann fühlte ich vorsichtig, nur mit dem Fingerspitzen nach dem ungepflegten Fell an seinem Kopf. Es fühlte sich weich an, vertraut.

„Rrrk“, machte er sehr kehlig. „Rrrk.“

Ich hielt inne, wagte es nicht einmal zu atmen, doch er tat nichts weiter, als noch mal dieses Geräusch von sich zu geben. Es war irgendwie guttural, etwas das gar nicht zu einem Tier passte.

„Lirrrk.“

Oh Göttin, das konnte doch nicht sein. Versuchte er etwa zu sprechen?!

„Was ist, mein Kleiner?“

„Lirrrl. Lil … Lil … Lilith.“

Das war der Moment, in dem die Tränen die gerade erst versiegt waren wieder ausbrachen.

Mein Sian, er war nicht fort, er war noch da.

Und er erinnerte sich an mich.

 

°°°°°

Kapitel Sieben

Ich konnte es nicht einfach glauben, Sian hatte gesprochen, er hatte meinen Namen gesagt! Ich hatte recht gehabt. Mein kleiner Sermo war noch unter der Oberfläche dieser Kreatur, ich musste ihn nur wieder an die Oberfläche locken. In diesem Moment war ich mehr dennjäh entschlossen, ihn nicht aufzugeben.

Es war ein Lichtblick in all dem Dunkel das mich umgab und ich krallte mich mit all meiner Macht an ihm fest. Ich konnte etwas zum Besseren wenden, ich brauchte nur ein wenig Zeit, dann würde ein kleiner Teil meiner Vergangenheit zu mir zurückkehren. Das war ich nicht nur Sian schuldig.

Diese Geistreden hielten mich so gefangen, dass ich auf meinem Rückweg kaum darauf achtete, wohin ich trat. Umso mehr erschrak ich, als Aman plötzlich hinter den Bäumen hervortrat. Allein sein Anblick reichte aus, um meinen Herzschlag zu beschleunigen und den Knoten an Gefühlen in meinem Magen aus seinem Schlaf zu reißen.

Er tat nichts weiter als mich anzusehen, stellte keine Fragen, bewegte sich nicht, stand nur da mit diesem Blick in den Augen, denn er seit meinem Urteilsspruch nicht mehr ablegen konnte. Nein, etwas war anders. Es war nicht mehr dieser gequälte Blick, er hatte sich verändert, aber ich wusste nicht, ob mir diese Veränderung gefallen wollte.

Es war ein langer Moment, den wir einfach nur dastanden und uns wortlos in die Augen schauten, ein Moment, der viel zu viel in mir auslöste, das ich nicht verstand, das ich nicht verstehen wollte. Und um diesem Moment zu entgehen, gab es nur eines, dass ich tun konnte: Ich wandte mich einfach ab. Vielleicht war es feige sich dieser Situation so zu entziehen, doch andere Möglichkeiten blieben mir einfach nicht.

„Was hast du da an den Armen?“

Blut. Ich verkniff es mir es laut auszusprechen, verbot mir stehen zu bleiben und versuchte diesen Kuss aus meinem Geist zu bannen – mit wenig Erfolg.

„Lilith.“ Ganz leise kam dieser Name über seine Lippen. Fast wie eine Liebkosung die mich bis tief in mein Innerstes berührte. Und dann blieb ich doch stehen. Ich konnte es gar nicht verhindern. Meine Beine wollten mir einfach nicht mehr gehorchen. Der Geist bekriegte das Herz und … Moment, das Herz? Nein, das konnte nicht sein, das durfte einfach nicht sein.

Ich kniff die Augen zusammen, ballte meine Hände zu Fäusten und konnte doch nichts dagegen tun, dass mein Herz schneller schlug, als er sich mir leise nährte.

Seine Berührung an meinem Arm war nicht mehr als ein Hauch. Vorsichtig strich er an den verkrusteten Kratzern entlang. „Wer was das?“

„Das ist egal, er wird kein zweites Mal tun.“ Das zumindest hoffte ich. Jaron musste deutlich gespürt haben, wie sehr mir seine Gegenwart missfiel; vor allen Dingen die Sachen die er dabei sagte.

Vergiss nicht, du bist nicht für diesen Mann bestimmt.

Ich biss die Zähne zusammen. Warum waren diese Worte nur im Bewusstsein geblieben?

Aman verzog verärgert die Lippen. „Es war der Krieger, oder? Dieser Jaron.“

„Das ist egal und jetzt hör endlich damit auf!“ Ich trat von ihm weg, weg von seinen Fingern und vermisste die Berührung sofort, was mich wütend machte. „Bleib weg von mir.“

„Warum?“ Er trat einen Schritt auf mich zu, ich einen von ihm weg.

„Weil ich es sage.“

„Fangen wir jetzt wieder von vorne an?“ Wieder einen Schritt auch mich zu und wieder wich ich vor ihm zurück. „Müssen wir jedes Mal wieder an diesem Punkt beginnen?“

„Wir beginnen nicht an diesem Punkt, weil es kein wir gibt!“

Er kniff die Augen leicht zusammen. „Und was war das gestern gewesen? Das habe ich sicher nicht allein getan.“

„Das war … das ist …“ Ach zur Sachmet. „Es war Neugierde, nichts weiter. Und es wir nicht noch einmal vorkommen.“

„Warum? Ist deine Neugierde in der Zwischenzeit gestillt?“ Er beachtete meine Lippen mit einem so intensiven Blick, dass sie zu kribbeln begannen. „Meine ist es nämlich nicht.“ Und wieder trat er einen Schritt auf mich zu, doch dieses Mal bewegte ich mich nicht von der Stelle.

 Er hielt mich mit seinen Augen gefangen, bannte mich an diesen Ort, an ihn. Immer näher kam er, so nahe, dass ich seinen warmen Atem im Gesicht spüren konnte.

„Tu das nicht“, flüsterte ich sehr leise.

„Deine Augen bitten um etwas anderes.“ Er hob die Hand und strich mir über die Wange. Sein Daumen wanderte dabei an meiner Lippe entlang. „Sie sprechen nicht von Neugierde, sie sprechen von Sehnsucht, von unerfüllten Wünschen.“

Ich schloss die Augen, ließ mich von seiner Stimme umschmeicheln, doch die Zweifel zerrten an mir. Ich durfte das nicht und ich sollte das nicht wollen.

Warum nur Göttin, warum nur passiert das?

„Lilith.“ Nur ein Hauch, genau wie sein Atem auf meinen Lippen.

Es würde wieder passieren. Ich konnte es fühlen und ich war machtlos mich dagegen zu wehren. Es war wie …

Ein überlautes Krachen ließ uns beide auseinander springen. Einen Moment später hörte ich ein Fluchen und ein Lachen. Kek und Ravic.

„… doch die Augen auf“, lachte Kek und trat aus einem Magnolienbusch hervor. Er entdeckte mich sofort und wahrscheinlich auch die Rötung meiner Wangen.

„Diese Wurzel kam aus dem Nichts.“ Hinter Kek tauchte Ravic auf. Er hatte einen Schmierfleck auf der Wange und Erde und Blätter an der Seite. „Ah, da bist du ja. Licco schickt uns, wir wollen weiter.“

Das war vielleicht Glück. Oder auch nicht. Ich war mir nicht ganz sicher.

Ich warf Aman einen Blick zu. Auf jeden Fall war es eine sichere Möglichkeit sich aus der Affäre zu ziehen. Die Göttin sein gelobt. Ich wollte gar nicht wissen, was sonst geschehen wäre. „Dann lasst uns gehen.“

 

°°°

 

Die anderen warteten beim Fluss, was mir noch die Möglichkeit gab meine Wunden zu versorgen und das Blut abzuwaschen.

Jaron war noch nicht da. Er war schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen worden und tauchte auch erst kurz bevor wir aufbrachen aus dem Wald auf. Der Blick den er mir zuwarf, war unergründlich. Es war keine Wut und auch keine Verachtung. Ich hatte viel mehr das Gefühl, dass etwas Bitteres darin lag. Doch der Ursprung dessen war mir nicht bewusst.

Als wir uns endlich in Bewegung setzten, war es schon weit nach Mittag. In der schwülen Luft lag ein flimmern. Nur das dichte Blätterdach der Bäume schützte uns vor der Sonne.

Die ganze Zeit hielt ich mich von Aman fern. Natürlich, ich spürte seine wiederkehrenden Blicke und ja, jedes Mal überlief mich ein Kribbeln, das ich nicht benennen wollte. Daher konzentrierte ich mich lieber auf die anderen.

Pascal hatte es sich mal wieder zur Aufgabe gemacht, Anima zu beleben. Er wurde dem scheinbar nie müde und wurde am Ende sogar mit einem kleinen Lächeln von ihr belohnt. Ich war wohl nicht die einzige, die das erstaunte. Wie schaffte er das nur? Nicht mal ich wusste wie ich diese leere Hülle wieder füllen konnte und ich war ihre Amicus.

Manchmal waren die Wege der Götter eben doch unergründlich.

Doch was mich wirklich erstaunte, war Janinas Begeisterung für diesen Ort. Alles schien ihr zu gefallen und überall entdeckte sie wunderschöne Dinge. Es machte richtig Freude sie bei ihrer Begeisterung zu beobachten. Und auch ihre beiden Brestern, die nicht mal annähernd das gleiche empfanden.

„Es ist heiß, schwül und mir tun die Füße weh“, nörgelte Pascal fortwährend. „Ich weiß ehrlich nicht, was du daran so toll findest.“

„Na sieh dich doch nur mal um. Diese Blütenpracht und … was ist das?“ Sie zeigte auf ein kleines, grünes Wesen mit langen Ohren und Schwimmhäuten zwischen den Zehen.

„Ein Lacerta, eine Wassereidechse.“ Luan legte den Kopf leicht schief. „Ich habe schon ewig keine mehr gesehen.“

„Was wohl daran liegt, dass du ewig nicht mehr hier warst“, kommentierte Pascal und hob einen Farnwedel hoch, damit Anima drunter durchschlüpfen konnte.

„Ui, sind wir heute ein Gentleman?“

Pascal streckte seiner Brestern die Zunge raus.

„Sehr erwachsen.“ Zusammen mit Vinea passierte sie auf Accos Rücken die gleiche Stelle. Lacota folgte mit Destina auf dem Rücken. Dann kam Luan. John war außer mir der letzte.

Schon die ganze Zeit fiel mein Blick immer wieder auf ihn. Seit unserem Streit hatten wir kein Wort mehr miteinander gewechselt und irgendwie fehlte mir das. Seine Gegenwart fehlte mir, einfach seine ruhige Art. Ich wollte das er wieder normal war, dass er wieder mein Amicus war. Doch was er gesagt hatte, war nun mal falsch gewesen. Das Sian heute meinen Namen gesagt hatte, bewies es doch. Vielleicht sollte ich ihm das sagen, vielleicht würde er es dann auch endlich verstehen.

Er griff gerade nach dem Farnwedel, als ich endlich den Mut fand nach seinem Arm zu greifen. „Warte mal kurz.“

Er blieb stehen und richtete abwartend seinen Blick auf mich. Ansonsten tat er nichts.

„Ich wollte mich bei dir entschuldigen. Was ich da gesagt habe … ich hab es nicht so gemeint.“

Seine Lippen wurden zu einem dünnen strich.

Ich wartete dass er etwas erwiderte, dass er die Wahrheit in meinen Worten erkennen würde, doch er senkte nur schweigend seinen Kopf.

„John, bitte, es … ich weiß nicht was ich sonst sagen soll. Das mit Sian … weißt du, ich habe recht gehabt.“

Er schnaubte.

„Nein, wirklich. Er hat heute gesprochen. Er hat meinen Namen gesagt. Verstehst du?“

„Nein, Lilith, ich verstehe nicht. Ich verstehe dich nicht, ich verstehe diesen Ort nicht und ich verstehe nicht warum ich dir überhaupt zuhöre. Weißt du eigentlich was du da gesagt hast? Du wurdest fast umgebracht und du hast mir die Schuld daran gegeben. Dabei wollte ich doch nur …“ Pause. „Ach, vergiss es.“

Als er sich von mir abwenden wollte, packte ich seinen Arm mit beiden Händen. „Bitte John.“ Ich suchte seinen Blick. „Du fehlst mir.“ Ich hatte nicht mehr viele Amicus.

Wieder ein Kopfschütteln. „Jedes Mal wenn ich sehe wie du in den Wald gehst, frage ich mich, ob du wieder herauskommen wirst und jedes Mal muss ich mich daran hindern dir zu folgen, damit sowas nicht noch mal passieren kann. Weißt du wie schlimm das für mich ist?“

Was sollte ich dazu sagen? „Sian ist kein Pravum, er wird mir nichts tun.“

„Wie kannst du dir da so sicher sein?“ Er riss sich von mir los und rieb sich vergrämt übers Kinn. „Wie kannst du wissen dass er dich nicht noch mal angreift?“

„Ich weiß es einfach.“ Wie sollte ich es anders beschreiben? Es war ein Gefühl, ein Instinkt. Ich wusste einfach dass Sian es nicht noch mal tun würde, nicht so verstört wie er beim letzten Mal gewirkt hatte. Es war nur ein dummes Versehen gewesen.

„Das reicht mir nicht.“ Er schüttelte den Kopf, als müsste er sich selber davon überzeugen. „Das reicht mir absolut nicht. Nicht wenn ich jedes Mal wenn du gehst … Gott!“ Er drehte sich weg, lief einen Schritt, nur um sich dann wieder umzudrehen. „Ich habe Angst um dich, verstehst du? Ich will nicht dass dir etwas passiert!“

Ich machte den Mund auf, um ihm zu sagen, dass er sich nicht sorgen brauchte, doch da sprach er schon weiter.

„Aber du gehst immer wieder hin. Immer und immer wieder und jedes Mal habe ich Angst um dich.“

Ich öffnete machtlos die Hände. Natürlich verstand ich ihn, aber ich konnte Sian doch nicht aufgeben. „Ich kann ihn nicht einfach im Sich lassen.“ Ganz offen blickte ich ihn an. Er musste einfach verstehen. „Sian gehört doch zu mir.“

John starrte mich an. In seinen Augen tobten seine Geistreden.

„Was soll ich denn tun? Ich will dich nicht verlieren.“ Ich hatte in den letzten Tagen zu viele verloren. Er durfte nicht auch noch dazu gehören.

John kniff die Lippen zusammen, schaute weg, schaute mich wieder an, strich sich nervös übers Kinn. Plötzlich packte er mein Kinn und im nächsten Moment lagen seine Lippen auf meinen.

Ich war viel zu überrascht um ihn abzuwehren und … ich wusste auch gar nicht ob ich das wollte. Er war kein Lykanthrop, aber auch kein Ailuranthrop. John war nur etwas halbes, ein Mensch. Aber sein Kuss … er war so drängend, fast verzweifelt.

Ich wusste nicht wie und auch nicht warum, aber ich erwiderte ihn. Nicht so stürmisch, vorsichtig, wachsam. Es war ein seltsames Gefühl. Nichts schlecht, aber dieses Kribbeln fehlte. War es weil in ihm keine Magie wohnte? Warum hielt ich so seltsame Geistreden? Das war gestern bei Aman nicht geschehen.

Als er spürte, dass ich mich nicht von ihm losreißen würde, wurde er sanfter. Hauchzarte Berührungen, doch mein Gesicht hielt er immer noch mit der Verzweiflung eines ertrinkenden fest. Und als er seine Lippen dann von meinen löste und seine Stirn an meine lehnte, suchten seine Augen meinen Blick. „Ich will nicht dass dir etwas passiert.“

Was sollte ich dazu sagen? Ich wollte ja auch nicht, dass mir etwas geschah, aber … „Ich kann Sian nicht im Stich lassen.“ Nicht noch einmal.

„Dann … dann pass auf dich auf.“ Er drückte die Lippen einen Moment aufeinander, die Lippen, die gerade noch meine Berührt hatten. „Ich will einfach nur dass du auf dich aufpasst.“

„Okay.“

Das Erdenwort entlockte ihm ein Lächeln. „Okay“, flüsterte er leise und hauchte noch einen Kuss auf meine Lippen. Aber damit gab er mich nicht frei. Sobald er mein Gesicht losgelassen hatte, griff er nach meiner Hand.

„John“, sagte ich leise und hielt ihn auf, als er unter den Farnwedel hindurchtauchen wollte. „Das kann ich nicht. Mein Brestern, ich weiß nicht …“ Ich verstummte, weil mir etwas ganz deutlich klar wurde. Es war mir eigentlich ziemlich egal was Licco davon hielt, aber es gab jemand anderen, der das nicht sehen sollte. Und zu meinem eigenen Entsetzen war das Aman.

John seufzte. „Wahrscheinlich hast du Recht.“ Er drückte meine Hand noch einmal und ließ sie dann los – einfach so, obwohl ich ihm genau ansah, dass es ihn nicht passte. „Wir sollten jetzt trotzdem gehen, sonst verlieren wir den Anschluss.“

„Ja das sollten wir.“ Es war immer noch besser als ihn stumm anzustarren, während ich mich fragte, was hier gerade geschehen war. In Ordnung, eigentlich war das klar, John hatte mich geküsst, nur wollte mir das Warum nicht ganz einleuchten. Er war mein Amicus. Er sollte nur mein Amicus sein, aber er sah das offensichtlich anders.

Manchmal war es wirklich lästig so wenig Erfahrung zu haben. Und jetzt hatte ich nicht mal jemanden, mit dem ich darüber sprechen konnte. Anima hatte im Moment genug mit sich selber zu tun und zu Licco konnte ich nicht gehen.

Warum nur musste immer alles so kompliziert sein?

Genau wie es Pascal für Anima getan hatte, so hielt auch John mir den Farnwedel hoch. Als er mir folgte, strich er mir unauffällig über den Rücken und flüsterte leise Worte.

„Was hast du gesagt?“ Nicht mal mit meinem guten Gehör hatte ich es verstanden.

Er schüttelte nur den Kopf. „Nicht so wichtig. Komm, lass uns gehen.“

Ich runzelte die Stirn. Manchmal war er wirklich komisch.

Die anderen einzuholen war nicht weiter schwer. Sie waren stehen geblieben. Aber nicht weil sie auf uns gewartet haben. Sie hatten sich in einer Traube um Ravic gescharrt. Ich hörte ihn Husten, während Jaron aus Mochicas Satteltasche eilig ein Tuch holte und es ihm vor den Mund hielt.

Die Blicke der anderen waren besorgt.

Ich griff nach Liccos Hand. „Was ist los?“

Über die Schulter warf er mir einen blick zu. „Ravic, er …“ Er schüttelte den Kopf. „Er hat sie, die Krankheit.“

Und in dem Moment roch ich es. Blut. Ravic hustete Blut.

 

°°°

 

Das Land der Götter wollte sich einfach nicht für mich öffnen. Ich lag in Johns Armen, spürte seine angenehme Wärme in meinem Rücken und versuchte mir Zugang zu verschaffen, doch die Reden in meinem Geist wollten einfach nicht ruhig sein.

Es war nicht Johns Nähe, die mich leicht nervös machte, sondern der Blick von Aman. Er hatte sich auf der anderen Seite vom wärmenden Lagerkristall sein Lager für die Nacht bereitet und beobachtete mich schon die ganze Zeit.

„Hör auf damit“, flüsterte ich. Die anderen schliefen schon. Pascal schnarchte wieder als wolle er den Wald um uns herum fällen und Ravic … er war erschöpft. Irgendwann hatte er aufgehört Blut zu husten, aber es ging ihm schlecht. Morgen in den Höhlen musste er gleich zu einem Heiler. Dort würde man sein Leid lindern können, doch helfen konnte ihm niemand mehr.

Es war schrecklich. Er war noch so jung. Und das alles passierte nur weil wir das Tigerauge verloren hatten. Nie stand mir deutlicher vor Augen, wie abhängig die Völker doch von den Mächten ihrer Götter waren. Es war grausam.

Ich schloss die Augen, verdrängte diese Geistreden, genau wie die Tatsache, dass Aman mich noch immer beobachtete. Doch auch so konnte ich seinen Blick spüren. „Bitte Aman, hör auf.“

Er seufzte. Ich hörte es ganz deutlich, aber ich verbot mir die Augen aufzumachen. Zumindest bis zu dem Moment, als ich die Tücher seines Lagers rascheln hörte. Ich sah gerade noch wie er sich von seinem Platz erhob und sich nach einem langen Blick auf John abwandte, um in der Düsternis des Waldes zu verschwinden. Nicht einmal Acco nahm er mit.

„Es tut ihm weh dich so zu sehen.“

Diese flüsternde Stimme war von Vinea gekommen. Ich glaubte sie schliefe schon. Scheinbar hatte ich mich geirrt. „Es gibt keinen Grund für seinen Schmerz“, flüsterte ich zurück. Ich wollte die anderen bei ihrer Nachtruhe nicht stören.

„Lilith, ich bin nicht dumm und ich habe Augen im Kopf. Was immer da zwischen euch ist, es verletzt ihn.“

„Da ist nichts zwischen uns.“ Das war einfach unmöglich. Nicht so wie die Dinge standen.

Vinea seufzte. „Ich hoffe um euer beider Willen, dass du deine Meinung noch änderst.“

Darauf erwiderte ich nichts. Es gab nichts zu erwidern, denn es gab nichts zu ändern. Und doch beschäftigte sich mein Geist noch eine ganze Weile mit ihm, bevor ich endlich wegdämmerte, nur um durch einen lauten Schrei aus meinem angehenden Schlaf gerissen zu werden.

„LUAN!“ Janinas Stimme war ein einziges Kreischen.

Ich war nicht die einzige, die sofort auf den Beinen war, doch bevor ich verstehen konnte, was hier überhaupt los war, schlangen sich von hinten zwei Arme um meinen Bauch und zogen mich weg vom Licht und vom Tumult. John, da war John.

Zwischen den Bäumen des Waldes brach Chaos aus. Alle rannten im aufgeregt hin und her, doch im schwachen Licht des Lagerkristalls war nicht viel zu erkennen.

Rufe, ein Schrei, Jaron brüllte Befehle, bis zu dem Moment als er etwas von seinem Lager nehmen wollte, und Licco ihn einfach zur Seite stieß. Und dann waren da noch die Geräusche von kämpfenden Katzen.

Das alles geschah innerhalb einer Sekunde.

Und dann sah ich ihn.

Sian.

Er huschte im Licht des Kristalls entlang, als suchte er etwas. Sein verwirrter Blick streifte umher, während er versuchte Mochicas Angriffen auszuweichen. Er wirkte beinahe … furchtsam.

Luan zerrte Janina und Pascal auf die Beine und brachte sie weg vom Geschehen. Acco hatte Wache vor Vinea bezogen, während Kek Ravic und Asokan mit Nebka zur Seite schaffte. Lacota rannte ihnen hinterher, immer mit einem Blick auf Sian.

Nur Destina blieb völlig unbewegt in der Mitte des Lagers stehen und behielt alles wachsam im Auge.

Doch das Absurdeste in diesen Augenblicken waren Jaron und Licco, die sich im Lager auf dem Boden wälzten und aufeinander einschlugen.

„Sian!“, brüllte ich.

Mochica hatte ihm bereits blutige Ohren gekratzt und hörte einfach nicht auf immer wieder auf ihn einzuschlagen, obwohl er ihre Angriffe nur abwehrte. Er wollte ihr nichts tun, er verstand nicht was hier los war, warum sie so aggressiv war, denn er wollte einfach nur zu mir.

Oh Göttin, nicht jetzt, das war noch zu früh.

„Nein, lass ihn!“, schrie ich, als sie sich in seine Schulter verbiss. Ich zerrte an Johns Armen, doch er zog mich immer weiter weg. „Sian!“

Bei meinem Ruf wirbelte er herum, was Mochica sofort ausnutzte, um ihm einen kräftigen Prankenhieb zu verpassen.

„Nein!“ Ich griff nach John Armen, wollte mich von ihm frei machen, doch er hielt mich nur umso fester und zog mich immer weiter vom Geschehen weg. „Nein, was tust du?! Lass mich los!“ Ich strampelte und wehrte mich, krallte mich sogar in einem Baumstamm fest, damit er mich nicht weiter wegbringen konnte. Bis zu diesem Moment hatte ich nicht gewusst, welche Körperkraft in John wohnte. Er wollte mich einfach nicht freigeben. Ich konnte nur weiter tatenlos mit ansehen, wie Sian versuchte verzweifelt zu mir zu kommen, aber keinen Schritt vorwärts kam, da Mochica ihn mit Schlägen immer weiter zurück drängte.

Doch dann gab Jaron einen Schmerzenslaut von sich, was sie einen kurzen Moment ablenkte. Sian nutzte es sofort aus, sprang zur Seite, rannte um einen Baum herum und machte dann einen großen Satz an ihr vorbei – direkt in meine Richtung. Deswegen sah er es auch nicht kommen, dass sie sich mit Zähnen auf ihn stürzte.

Sie setzte ihm nach, ihre Krallen packten seine Flanke und dann versenkte sie die Zähne darin.

„Sian, nein!“

In den nächsten Sekunden schien die Zeit ein zäher Brei aus Honig zu werden, der in einem Mahlstrom nur langsam voran schritt.

Ich sah Aman zwischen den Bäumen auftauchen. Die Geräusche mussten ihn angelockt haben. Ein Blick genügte ihm und er verstand was hier gerade geschah.

Genau in dem Moment versetzte Jaron meinem Brestern einen derart heftigen Schlag gegens Kinn, dass Licco benommen zu Boden ging und Schwierigkeiten hatte wieder auf die Beine zu kommen. Jaron nutzte das sofort aus. Er wirbelte zu seinem Lager herum, ergriff seinen Bogen samt Pfeil und riss ihn hoch. „Mochica, weg da!“, brüllte er und spannte den Boden.

Das Entsetzen packte mich. „Sian!“

Mochica verpasste Sian noch einen heftigen Hieb und ließ sich dann auf den Boden fallen.

Licco versuchte auf die Beine zu kommen, während Aman und Lacota losrannten um Jaron aufzuhalten, denn sein Pfeil zeigte genau auf Sians Brust.

„NEIN!“

 

°°°°°

Kapitel Acht

„Sian, lauf!“

Mein Herz setzte einfach einen Schlag aus.

Der Pfeil schnellte von der Sehne. Aman rannte Jaron einfach um und riss ihn mit sich zu Boden. Der Bogen brach mit einem lauten Knacken, dass jedes andere Geräusch im Lager zu übertünchen schien.

Und Sian, er lief nicht. Er war einfach versteinert und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Aus seiner Brust ragte das Ende des Pfeils. Er hatte sich mitten in sein Herz gebohrt.

Die Welt um mich herum verschwamm. Einen Herzschlag lang sah ich dort meinen kleinen Sermo, sah das Baby das er einst war, das Jungtier zu dem er geworden war und dann das Biest, für das ihn alle hielten.

„Lil … Lil-ith.“ Das Licht in seinen Augen erlosch und dann brach er einfach zusammen.

„Neeein!“ Ich fuhr die Krallen aus und riss John damit die Arme auf. Es war mir egal, dass er vor Schmerz aufbrüllte, ich wollte nur dass er endlich von mir abließ. Sian, Sian, Sian. Alles was mein Geist war Sian. Mich hielt nichts mehr. Die Angst um meinen Sermo ließ mich schneller laufen, als ich es je für möglich gehalten hatte. Es interessierte mich nicht, dass Aman Jaron einen Schlag versetzte und ihn anbrüllte. Es interessierte mich nicht, dass sich in Lacotas Auge eine Träne sammelte, weil sie ihr Natis nach so langer Zeit hatte sprechen hören. Und es interessierte mich auch nicht, dass die Erdlinge zu John rannten, während ich neben Sian auf die Knie stürzte und nach seinem Herzschlag tastete. In diesem Moment blieb mir einfach nur die Hoffnung, dass Jaron danebengeschossen hatte, dass Sian durch ein Wunder noch zu retten war. Ich flehte geradezu darum, doch ich wusste bereits, dass es vergebens war, denn sein Blick war gebrochen und das klare Blau nur noch eine stumpfe Erinnerung.

„Nein“, flüsterte ich, strich ihm über die blutige Brust und den Kopf, schüttelte ihn an der Schulter. Er sollte sich bewegen. Wenn er sich nur bewegte, dann würde alles wieder gut werden. Ich bettete zu meiner Göttin, dass er sich bewegte, doch er blieb still und regungslos. Das heiße Gefühl begann in meinen Augen. Ich spürte die Tränen bevor sie mir über die Wangen rollten. „Wach auf, bitte, wach auf.“ Ich wollte ihn nicht auch noch verlieren.

Auf leisen Pfoten trat Lacota neben mich und drückte ihren Kopf gegen Sian. Ihr Schmerz war ein anderer, aber deswegen nicht weniger Wert. „Er hat gesprochen“, flüsterte sie.

Ich schluchzte.

„Sian hat gesprochen“, widerholte sie und wandte sich dann knurrend herum, bis ihre Augen Jaron fanden, der von Licco daran gehindert wurde Aman seine Krallen durch das Gesicht zu ziehen. Und dann griff sie ohne Vorwarnung an. Sie verwandelte sich im Lauf, riss dabei Janina um und stürzte sich auf Jaron, um ihn halb unter sich zu begraben.

„Lacota, nein!“, brüllte Licco.

Mochica rammte Lacota, bevor Lacota zum ersten Schlag gegen ihren Leiter ausholen konnte und schleuderte sie zur Seite. Die beiden gingen in einem fauchenden und beißenden Bündel zu Boden.

„Scheiße!“, fluchte Janina. Sie lag halb auf dem Boden und hielt sich ihren Bauch. „Meine Fruchtblase ist geplatzt.“

Pascal sah sie entsetzt an. „Ausgerechnet jetzt?“

„Nein du Vollpfosten, ich habe mir gerade in die Hose gepinkelt, weil ich … ähhhu.“ Ihre Worte gingen in ein Schmerzhaftes Stöhnen über.

Luan ging neben ihr auf die Knie und strich ihr besorgt eine Strähne aus dem Gesicht. „Ganz ruhig.“

„Ganz ruhig?! Hast du schon mal ein Baby auf die Welt ge-gnnn …“ Während sie gegen den Schmerz der Wehe kämpfte, lief ihr Gesicht ganz rot an.

„Das geht zu schnell.“ Destina ließ sich auf der anderen Seite ihrer Enkelin nieder, schien jedoch nicht viel machen zu können.

„Das ist der Schreck.“ Vinea humpelte langsam auf die Füchsin zu. „Der Schreck hat die Wehen ausgelöst, das Baby will raus.“

„Jetzt? Hier?“, fragte Pascal wieder? Diese Situation war ihm nicht nur unangenehm, sie überforderte ihn auch maßlos. „Aber brauchen wir nicht einen Arzt, oder ein Krankenhaus, oder so? Und … und … wie zum Teufel sollen wir hier ein Baby zur Welt bringen?!“

„Für ein Krankenhaus ist es wohl ein wenig zu spät“, presste Janina zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und sah sich nach John um, doch mit seinen aufgekratzten Armen war er als Heiler im Moment nicht brauchbar.

Vinea sah zweifelnd von einem zum Andren. „Ihr wisst nicht wie man Babys entbindet?“

Es war Schweigen, das ihr antwortete.

Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Ihr Erdlinge seid wirklich seltsam.“

Janina gab wieder einen Laut des Schmerzes von sich. Ihr Atem ging angestrengt und auf ihrer Stirn hatte sich ein feiner Schweißfilm gebildet.

Wieder schüttelte Vinea den Kopf. Es war ihr einfach unverständlich. „Aber ich weiß wie es geht. Ich habe schon mehreren Geburten beigewohnt. Luan, setzt dich hinter sie, stütz ihren Rücken. Pascal, schaff John weg. Jemand muss sich seine Wunden ansehen.“ Sie schaute zu Licco, Jaron und Aman, die noch immer versuchten Lacota von Mochica runterzuziehen. „Ich werde mir seine Wunden nachher ansehen.“ Sie ließ sich vor Janina nieder und zog ihren Dolch aus dem Futteral an ihrem Oberschenkel.

Janinas Augen wurden riesig. „Was hast du vor? Geh weg!“

„Ich will dein Beinkleid aufschneiden, weil du nicht in der Lage bist dich ihm selber zu entledigen.“

Luan streichelte seinem Herz tröstend über die Arme. „Ganz ruhig. Sie weiß was sie macht. Du hast doch gehört, es ist nicht das erste Baby, dass sie auf die Welt bringt.“

Das schien Janina nicht wirklich zu beruhigen.

Vinea warf noch einen Blick auf die fauchenden Katzen und konnte gerade noch sehen, wie Lacota ins Unterholz verschwand. Die Krieger hatten sie von Mochica runterziehen können. Aber damit war der Disput noch lange nicht beigelegt. Liccos Gesicht war hochrot, als er Jaron anbrüllte und Aman spuckte dem Mörder von Sian vor die Füße, bevor er sich abwandte.

„Dann wollen wir mal anfangen.“ Vinea setzte den Dolch an und zerschnitt den Stoff der Hose mit geübten Handgriffen. „Konzentrier dich einfach nur aufs Atmen. Press erst, wenn ich es dir sage, verstanden?“

Janina nickte.

Ich hörte das alles, hörte ihre Gespräche, Janinas Schmerzenslaute und das Fauchen der Amentrums, doch es schien alles an einem anderen Ort stattzufinden, in einer anderen Zeit, fern von mir. Nichts davon schien real, während ich ununterbrochen durch Sians Fell strich und einfach nicht glauben konnte, dass er tot sein sollte. Nicht jetzt, nicht nachdem er wieder zu sich selber fand. Vielleicht war das hier nur eine Wanderung durch das Land der Götter, vielleicht war das hier alles gar nicht real und wenn ich aufwachte, wäre alles wieder in Ordnung.

Doch ich wachte einfach nicht auf.

Meine blutigen Hände strichen immer weiter durch Sians Fell. Tränen rollten mir über die Wangen und tropften auf ihn herab. Warum hatte das geschehen müssen? Wie konnte das Schicksal nur so grausam sein? Hatte ich in den letzten Tagen nicht bereits genug verloren? „Bitte, wach auf“, flüsterte ich, obwohl mir bewusst war, dass es nichts bringen würde. „Bitte.“

Eine weitere Träne landete in seinem Fell.

Von hinten nährten sich langsame Schritte. Sie verharrten einen Moment, dann hockte sich Aman neben mich. „Lilith?“

„Er wacht nicht auf“, flüsterte ich. Mit jedem Augenblick der verstrich wurde mir klarer, dass er das nie wieder tun würde. Sian war tot, für immer verloren, ohne Hoffnung auf Wiederkehr.  

Meine Hände krallten sich in sein Fell.

„Es tut mir leid.“ Aman legte mir eine Hand auf den Arm, doch sie spendete keinen Trost. Das konnte im Moment nichts. „Wenn ich nur schneller gewesen wäre, dann …“ Er drückte die Lippen aufeinander. „Es tut mir leid.“  

Ja, wenn er nur einen kleinen Moment schneller gewesen wäre, dann wäre das vielleicht nicht passiert. Aber ihn traf keine Schuld. Den Fehler hatte allein Jaron begangen. Und John. Wenn er mich nicht aufgehalten hätte, hätte ich Jaron aufhalten können. Sian hatte niemanden etwas tun wollen, er wollte einfach nur zu mir und deswegen war er jetzt tot. Deswegen und weil John mich aufgehalten hatte, statt zu helfen.

Diese Geistreden siedeten plötzlich so stark durch keinen Kopf, dass ich von einer unbändigen Wut ergriffen wurde.

„Lilith, wenn ich …“

„John ist schuld“, flüsterte ich. Meine Hände gruben sich tiefer in das schmutzige Fell. „Er hat mich aufgehalten.“

Aman schloss seinen Mund wieder und warf einen Blick über die Schulter. „Er versteht nicht was ein Sermo bedeutet. Er weiß nicht dass sie mehr als nur Tiere sind.“

„Und das gibt ihm das Recht einen Bluttat zu unterstützen!?“, schrie ich ihn an. Mein Herz begann zu rasen. Die Tränen liefen heiß über meine Wangen, als ich auffuhr und herumwirbelte. „Du bist schuld an seinem Tod!“, schrie ich quer über das Lager.

John war nicht der einzige der erschrocken aufsah, doch er war der einzige mit diesem unschuldigen Funkeln in den Augen. Er verstand wirklich nicht, dass das seine Schuld war. Das machte mich so wütend. Unbändiger Zorn fraß sich seinen Weg durch meinen Geist. Ich merkte gar nicht dass ich mich in Bewegung gesetzt hatte, bis Aman mich plötzlich am Arm packte und zu sich drehte.

„Tu es nicht“, beschwor er mich.

„Warum nicht?! Er hat mich aufgehalten!“ Meine Verwandlung setzte ein. Ich spürte die Veränderung, das Kribbeln meiner Haut, als mein weißes Fell mit den schwarzen Rosetten wuchs, wie meine Ohren sich verschoben und mein Gesicht sich wandelte, bis es das einer Raubkatze war. Das vertraute Ziehen an meiner Wirbelsäule, als sie sich zu einem Schwanz verlängerte und auch wie mein Körper sich streckte, als sich mein Gewicht auf meine Fußballen verlagerte. Meine Zehen und Hände wurden zu Pfoten mit scharfen Krallen, meine Zähne wurden spitz und dann war ich fertig. Ein gefährliches Geschöpf für alle meine Feinde.

Halb Mensch, halb Schneeleopard. Die perfekte Verschmelzung zweier Gattungen, eine einzigartige Fusion. Ich lief auf zwei Beinen und besaß die Sinne einer Raubkatze.

Und auch den Instinkt.

Ohne mein Zutun setzte ich mich in Bewegung. Alles an mir schrie nach Rache. Ich hatte John vertraut und er hatte mich auf diese Art hintergangen. Und das würde er nun büßen.

„Lilith, nein!“, rief Luan.

John sprang auf die Beine, taumelte ein paar Schritte zurück. Seine Augen waren weit aufgerissen.

Und dann wurde ich von hinten gepackt. „Nein!“, schrie ich und wollte kratzen, doch meine Arme waren an meinen Leib gedrückt. So konnte ich mich nicht wehren. „Lass mich los!“, schrie ich und strampelte mit den Beinen. Tränen liefen mir über die Wangen. Es tat so weh. Der Schmerz des Verlustes, er wurde immer schlimmer.

„Das willst du nicht“, flüsterte Aman in mein Ohr. Es waren seine Arme die mich festhielten. „Blut ist keine Lösung.“

„Er hat mich aufgehalten!“, schrie ich. „Wegen ihm ist Sian tot! Ich habe ihm versprochen vorsichtig zu sein und jetzt ist Sian tot!“ Dieses Wort aus meinem eigenen Mund zu hören, raupte mir mit einem Schlag all meine Kraft. „Sian ist tot“, schluchzte ich. „Oh Göttin, er ist tot. Tot, tot, tot …“

„Schhhh.“ Aman drückte mich fester an sich, während Vinea Janinas Kind zur Welt holte.

 

°°°

 

Eine Träne rollte über meine Wange, tropfte von meinem Kinn und landete auf der aufgeschütteten Erde, die Sians toten Leib verbarg. Alles war so schief gelaufen. Mit jedem Moment der verging brockelte ein weiteres Stück meiner Welt einfach ab und ich konnte nichts dagegen tun. Naaru war fort. Gillette würde niemals mehr zurückkehren. Meine Familie war in die Tiefen der Mächte zurückgekehrt, genau wie hunderte der Ailuranthropen. Und nun gab es auch keinen Sian mehr.

Ich hockte mich auf den Boden, berührte die lose Erde, unter der mein kleiner, hübscher Sian lag. Es tat so weh, dieses Wissen der Vergänglichkeit. Es war ein Schmerz gegen den es kein Heilmittel gab, niemals geben würde.

Neben mir standen Licco und Lacota. Aman lehnte etwas abseits an einem Baum. Er hatte mich die ganze Nacht festgehalten und auch heute noch keinen Moment aus den Augen gelassen. Er und Licco waren es gewesen, die die Ruhestätte ausgehoben hatten, während ich daneben gesessen hatte und in meinem Schmerz versank.

Sie alle warteten nun darauf, dass ich etwas sagte, doch ich hatte keine Worte für sie. Es gab nichts was meinen Schmerz ausdrücken konnte, und nichts was ihn milderte.

Sian war fort und er würde niemals wieder zurückkommen.

„Lilith.“ Licco hockte sich neben mich und drückte meine Schulter. „Es ist spät und wir müssen los, wenn wir heute noch in den Höhlen ankommen wollen.“

„Ich kann nicht gehen“, flüsterte ich. Meine Hand grub sich in das aufgeschüttete Erdreich. Ich konnte ihn doch nicht einfach zurücklassen.

„Der Schmerz wird vergehen.“ Licco drückte mir einen Kuss auf den Scheitel und erhob sich wieder. „Ich sage den anderen, dass du noch ein wenig brauchst, dann komme ich dich holen.“

Ich antwortete nicht. Was hätte ich auch sagen sollen? Dieser Schmerz war wie eine offene Wunde. Sie war entstanden, als ich nah Silthrim zurück kam und mit jedem Verlust wurde sie größer. Es tat einfach nur weh.

Alle waren sie weg und jetzt hatte ich auch noch Sian verloren.

Ich hörte wie Licco und Lacota sich langsam entfernen. Das Lager war nicht weit entfernt, also würde er nicht lange brauchen. Auch wenn Janina den Aufbruch verlangsamen würde.

Sie hatte ein Mädchen auf die Welt gebracht, so wie Luan es sich gewünscht hatte. Einen hübschen, kleinen Blondschopf mit dem Gesicht eines Engels. Das zumindest hatte Destina gesagt. Ich selber hatte die kleine Lina noch nicht gesehen. Ich konnte es einfach nicht, weil ich diese Ungerechtigkeit nicht verstand. Wie konnte es sein, dass in dem Moment in dem jemand geboren wird, ein anderer sterben musste? Wie konnte das Schicksal so grausam sein und mir das Glück der andere vorhalten, während mein Leid immer größer wurde?

„Du solltest nicht so viele Geistreden darüber halten.“ Aman stieß sich von seinem Baum ab und hockte sich neben mich. Genau wie Licco es vorhin getan hatte, nur auf die andere Seite. „Und du darfst dir auch nicht die Schuld daran geben. Das hätte er sicher nicht gewollte.“

„Sian hatte leben wollen.“ Wieder rollte eine Träne über meine Wange und tropfte auf sein Grab. „Aber ich habe ihn nicht retten können. Ich habe niemanden retten können. Naaru, Gillette und jetzt auch noch Sian. Sie sind tot. Sie alles sind tot.“ Bei dem letzten Wort brach mir die Stimme weg.

Bei allen hatte ich geschworen sie zu retten, aber es war mir nie geglückt. Das Schicksal war immer schneller als ich gewesen.

„Nicht alle.“ Mit vorsichtigen Fingern nahm Aman mein Kinn in die Hand und drehte mein Gesicht zu ihm. Sein Daumen strich mir die Tränen von den Wangen, wie er es schon die ganze Nacht immer wieder getan hatte. „Du hast noch Licco und Lacota und auch deinen Fafa.“ Seine Augen blickten ernst. „Und auch mich“, fügte er leise hinzu.

„Aber ich will sie alle wieder haben“, schluchzte ich. „Sie sollen zu mir zurückkehren Bitte.“ Der Schmerz nahm wieder zu. Er drohte mir das Herz zu zerreißen. „Bitte“, flehte ich noch einmal und hoffte das Aman mir helfen konnte. Doch das war nicht möglich. Er konnte nichts weiter tun, als die Arme um mich zu legen und mich an sich zu drücken, bis Licco uns holen kam.

 

°°°°°

Kapitel Neun

Ein Fuß vor den andern. Ich achtete gar nicht darauf wohin ich lief, oder wer um mich herum war. Selbst für ihre Worte war ich taub. Die Reden in meinem Geist konnten einfach nicht das Bild von Sian loslassen. Wie er da gelegen hatte, mit dem Pfeil in seiner Brust. Dieses Bild, ich konnte es einfach nicht vergessen.

„Wir sind gleich da“, rief Jaron an der der Spitze unserer kleinen Schar. Wie immer ritt er hoch oben auf Mochica, doch heute war er ausgesprochen Wortkarg. Vielleicht war ihm klar geworden, was er getan hatte. Vielleicht lag es aber auch einfach nur an dem blauen Auge, das er nun zu Tage trug.

Ich wusste nicht wer es ihm verpasst hatte. Licco und Aman hätten es beide gewesen sein können. Als ich es heute Morgen entdeckt hatte, wartete ich auf die Befriedigung, die mich bei diesem Anblick hätte ergreifen sollen. Doch da war nichts. Es verdeutlichte mir nur noch einmal, was geschehen war.

Sian war tot und nichts und niemand würde dagegen etwas tun können. Diese Tatsache lag wie eine bleierne Decke über mir, die mich zu erdrücken drohte. Doch die anderen schien es nicht so zu berühren. Die Geburt der kleinen Amelia ließ es für sie zu einer unangenehmen Nebensächlichkeit werden. Selbst Anima hatte sich das Baby bereits angesehen. Keiner von ihnen schien meinen Schmerz wahrzunehmen, keiner von ihnen verstand, was dieser Verlust bedeutete. Die Geburt dieses kleinen überschattete den Tod von Sian, machte ihn zu etwas unwichtigem.

Ich verabscheute dieses Baby dafür.

Licco lief neben mir. Seine wachsamen Blicke hatten mich bereits den ganzen Weg über begleitet. Ihn hatte Sians Verlust auch nicht wirklich getroffen. Warum auch? In seinen Geistreden hatte er die Hoffnung auf Heilung bereits vor langer Zeit aufgegeben. Und der Tod war für ihn bereits so alltäglich geworden, dass er ihn kaum noch berühren konnte.

„Schau mal, Anima lächelt.“

War es mir schon immer so schwer gefallen den Blick zu heben? Ich konnte mich nicht entsinnen. Aber Licco hatte Recht, Anima lächelte wirklich. Es war ein kleines, trauriges Lächeln, und wieder hatte Pascal es ihr entlockt.

Würde ich auch wieder lächeln können? Irgendwann? „Ich will Migin suchen.“ Diese Geistrede kam ganz plötzlich. es war einfach die Verzweiflung. Ich brauchte etwas an das ich mich klammern konnte, eine Aufgabe, die mir half nicht zu zerbrechen. „Ich will ihn finden.“ Wenn ich Migin bei mir wusste, würde ich ein kleines Stück Realität zurückgewinnen. Licco, Fafa und Migin.

Licco schwieg lange. Der Wald um uns herum wurde bereits lichter und das dichte Unterholz glitt langsam in eine offene Grüne über, die immer spärlicher von Bäumen bewachsen wurde. „Ich habe ihn lange gesucht, Lilith, ich glaube nicht …“

„Du glaubst nicht, aber du weißt es nicht!“, fuhr ich ihm einfach über den Mund. Jedoch bereute ich meinen scharfen Ton sofort wieder. „Du weißt es nicht mit Sicherheit“, fügte ich leise hinzu. „Er könnte noch leben.“

Kek, Ravic und Asokan brachen in lautes Gelächter aus, weil Nebka bei ihrer Jagt nach Eidechsen in ein Erdloch gefallen war und nun sichtlich Probleme hatte aus eigener Kraft wieder heraus zu kommen.

Mit ausgefahrenen Krallen krakselte sie am Rand herum, doch außer dass sie jede Menge Gras ausrupfte, passierte rein gar nichts – sie kam kein Stück vorwärts, auch wenn sie sich redlich Mühe gab.

Sich noch die Lachtränen aus den Augenwinkeln wischend, erbarmte sich Ravic ihrer und zog sie am Nacken heraus. Und dann, ganz plötzlich, wurde er kalkweiß im Gesicht. Er schwankte, stürzte auf die Knie und wurde von einem heftigen Hustenkrampf gepackt. Es war so schlimm, dass wir anhalten mussten.

Das Blut kam ihm dieses Mal nicht nur aus dem Mund, auch Nase, Augen und Ohren waren betroffen. Die Krankheit schritt voran, es wurde immer schlimmer und niemand konnte etwas dagegen unternehmen.

Während wir dabei zusahen, wie Jaron Ravic versorgte und ihn auf Mochicas Rücken setzte, trat etwas Hartes in Liccos Augen. „Nein“, sagte er leise. „Das überlebt niemand.“

Ich verstand was er mir damit sagen wollte. Selbst wenn Migin noch lebte, war es nur eine Frage der Zeit bis sich das änderte. Und trotzdem. Solange noch eine kleine Chance bestand ihn wiederzusehen, konnte ich ihn einfach nicht aufgeben.

 

°°°

 

Die letzten Bäume des Waldes blieben hinter uns zurück. Das Land wurde offen und weit, bis es an das Dispertiogebirge stieß, das sich über en halben Kontinent Silthrim zog und das Land dort wo es keinen Wald gab in zwei Hälften teilte. Und dort, direkt in einer Talsenke am Fuß des rauen Gebirges lag die neue Heimat der Ailuranthropen.

Die Senke war übersät mit kleinen Bauten, runden höhlenartigen Gebilden aus Wurzeln, die an die Oberfläche gekrochen waren, um den Heimatlosen Unterschlupf zu bieten. Sie waren überwuchert mit Efeu und Blumenranken.

Das musste das Werk der Elfen sein. Nur sie waren in der Lage Pflanzen zu beschwören und ihr Wachstum nach ihren Wünschen zu lenken.

Von weiten wirkte es noch wie eine kleine idyllische Stadt mitten in der Natur – sogar Felder für den Anbau von Nahrungsmitteln waren rundherum angelegt worden. Doch je näher wir kamen, desto deutlicher wurde der Verfall.

Auf ausgetretenen Pfaden ließen wir die ersten Hütten hinter uns. Ein paar Ailuranthropen kamen uns geschäftig entgegen, doch nur wenige hatten einen Blick für uns übrig. Sie alle waren von der Zeit und dem Erlebten gezeichnet, genau wie dieser Ort.

„Irgendwie düster hier“, murmelte Pascal und musterte einen Haufen alten Hausrats, der wie ein Turm zwischen den Hütten aufgehäuft war.

„Ich würde ja heruntergekommen sagen“, kommentierte Janina und wog vorsichtig die kleine Amelia auf ihren Armen. Luan hatte ihr den Arm um die Schultern gelegt, als wollte er sie vor diesem Ort schützen. Vielleicht ahnte er auch etwas, denn Jaron behielt sie nun genauer um Auge.

„Als wir Ailuran aufgeben mussten und hier her kamen, waren all diese Hütten belegt gewesen“, erklärte Licco, der meinen Blick auf eines der überwucherten Bauwerke bemerkte. „Nicht alle Ailuranthropen verließen das Heimatland, doch es kamen so viele, dass der Platz in den Höhlen bei Weitem nicht ausreichte. Die Elfen halfen uns fast täglich neue Hütten hochzuziehen. Aber sie reichten nie aus – zumindest zu Anfang.“ Er schüttelte den Kopf. „Doch das Sterben machte auch vor diesem Ort keinen Halt. Mit jeder Woche wurde es schlimmer. Wir brauchten keine Hütten mehr, denn es gab niemanden mehr der sie füllen konnte.“

Ich ließ meinen Blick über die Bauten schweifen. Der Hauptweg auf dem wir uns befanden, führte mitten durch diesen Ort. Weiter vorne, direkt vor den Höhlen konnte ich sogar einen kleinen Marktplatz erkennen. Doch die Hütten um uns herum schienen bis auf einige Wenige alle verlassen zu sein.

Das Elend das hier herrschte übertraf alles in meiner Vorstellung. Von dem stolzen Volk der Ailuranthropen war nichts mehr übrig. Krankheit, Armut und Kummer lagen wie ein schweres Lacken in der Luft und überdeckten alles.

Es war die Vergänglichkeit des Lebens, die mir hier vor Augen geführt wurde. Mein Volk starb nicht nur, es war schon so gut wie tot. Und das alles nur, weil wir die Macht unserer Göttin verloren haben.

„Aber jetzt haben wir wieder neue Hoffnung“, sagte Kek und ließ sich an meine Seite zurück fallen. „Die Göttin hätte uns keine Auserwählte geschickt, wenn sie damit keinen Plan verfolgen würde. Richtig? So ist es in den alten Schriften doch immer gewesen.“

„Ich weiß nicht was die Göttin sich von mir wünscht“, sagte ich schwach. Ich konnte einfach nicht glauben, dass ich dazu ausersehen war die Ailuranthropen zu retten. Ich hatte es ja nicht mal geschafft Sian zu retten, obwohl nur wenige Meter von ihm entfernt war.

Mein Blick schweifte zu John. Er hielt schon den ganzen Tag vorsichtigen Abstand zu mir. Der Duft nach Angst, der von ihm ausging, lag beißend in der Luft. Ja, ich hatte ihm gestern das Gesicht zerfetzen wollen und er hatte es erkannt. Für das was er getan hatte, dafür dass er mich daran gehindert hatte Sian zu helfen, wollte ich ihm immer noch Scherz zufügen. Er sollte verstehen wie das war, verstehen was er aus falscher Fürsorge getan hatte. Er hatte mich ganz bewusst festgehalten, denn nur so hatte er dafür sorgen können, dass Jaron Sian erschoss und die Gefahr damit ein für alle Mal bannte.

Dafür hasste ich ihn. 

Je weiter wir liefen, desto voller wurde es um uns herum. Stimmen, Trubel, geschäftiges Treiben. Besonders der Markplatz war von Ailuranthropen überlaufen. Doch sie alle trugen dieselben Makel an sich, die ich schon bei Licco, Jaron und den Lehrlingen entdeckt hatte: schäbige Kleidung, eingefallene Wangen und einen Ausdruck in den Augen, der nur von Kummer und Verzweiflung geprägt sein konnte. Und noch etwas war sehr auffällig. Es gab nur noch wenige Alte und auch Kinder sah man keine – zumindest keine kleinen. Das jüngste Kind das ich entdecken konnte musste um die zwölf Jahre zählen.

Und niemand von ihnen hatte auch nur einen Blick für uns übrig.

„Ich werde unsere Ankunft bei den Priestern ankündigen“, erklärte Jaron. „Ich möchte, dass ihr solange vor der Höhle wartet.“ Sein Blick glitt unauffällig zu den Erdlingen. Mir war bewusst, was er bedeutete, doch sie schienen es nicht zu merken.

„Ich bringe Ravic nach Hause“, sagte Kek. „Und hole dann einen Heiler.“

„Ja, das wird wahrscheinlich das Beste sein.“ Jaron führte uns noch bis zum Entree ins Höhlenreich der Ailuranthropen. Es war nichts anderes als ein großes Loch im massiven Gestein des Gebirges, das hinunter zu kleinen Höhlen und verschlungenen Gängen führte.

Von den vielen Füßen, die diesen Ort über die Jahre begangen hatten, war das Erdreich davor völlig platt getreten. Einige Laternen säumten den Bereich und Banner die unsere Göttin anpriesen.

Ein Stück den Hang hinauf entdeckte ich einen Trainingsplatz. Nur wenige Lehrlinge befanden sich drauf. Und auch bei ihnen herrschte das Bild der Krankheit und Vergänglichkeit vor.

„Ihr wartet hier“, befahl Jaron, als er Mochica zügelte und Ravic hinunter half. Dann verschwanden die beiden mit Kek im Schlund der Höhle.

Janina ließ ihren skeptischen Blick über alles schweifen, was ihre Augen erreichen konnten und drückte die kleine Amelia enger an ihre Brust. „Also wenn ich ehrlich bin, dann haben mir die Tempelruinen besser gefallen als das hier. Hier ist es so … düster.“ Es war offensichtlich, dass sie hier einfach wieder schnell weg wollte.

Ich sagte nichts dazu. Vielleicht war es schäbig von mir ihnen das was ihnen bevorstand zu verschweigen, doch selbst wenn ich es ihnen sagte, würde es nichts ändern. Ich konnte gar nichts ändern. Ich konnte nicht einmal die beschützen, die mir wichtig waren.

Mein Blick glitt zu einer Frau, die neben einem Stand mit Kräutern und Heilpflanzen auf einer Bank saß und verloren vor sich ins Nichts starrte. Der verkniffene Mund war mit Falten umrandet. Der Blick gebrochen, so als hätte sie schon zu viel in ihrem Leben gesehen. Sie hatte nur noch einen Arm und trug das Haar so kurz, dass die Farbe dadurch unkenntlich wurde. Einst schien sie eine starke Persönlichkeit gewesen zu sein, doch nun wirkte sie nur noch zerbrechlich.

Sie kam mir entfernt bekannt vor, doch mein Geist war zu müde um sich mit der Genauigkeit der Frage zu beschäftigen, wo ich sie schon einmal gesehen hatte. Oder besser, wann.

Sie schien meinen Blick zu spüren, denn ihr gebeugtes Haupt hob sich und dann blickten mir uralte Augen entgegen. Es war nicht die Art von Alter, die man mit den Jahren erlangte, sondern das Alter, das von einem schweren Leben geprägt wurde. Und wieder musste ich feststellen, dass sie mir bekannt vorkam, gleichzeitig aber völlig fremd war.

Sie musterte mich, meinen wohlgenährten Leib und ihre Augen weiteten sich ungläubig. Flüsternde Worte, die nur sie verstehen konnte, kamen über ihre Lippen. Ihre Augen tasteten mein Gesicht ab, als könnte sie nicht glauben, was sie dort sah. Doch das alles verblasste in dem Moment, als sie das Zeichen der Auserwählten an meinem Oberschenkel entdeckte. Dieses Mal in der Form einer sitzenden Katze, von der Göttin selber mit verschlungen Linien in die Haut gemalt, auf das ein jeder ihre Bedeutung sofort erkennt.

Jedes Wort auf den Lippen der Frau erstarb. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Tränen sammelten sich darin und als sie überliefen, schlug sie sich die verbliebene Hand vor den Mund, um ihr Schluchzen zu ersticken.

„Du bist das Zeichen ihrer verloren geglaubten Hoffnung.“

Mein Blick glitt zu Aman. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er neben mich getreten war. „Wie kann ich ihre Hoffnung sein, wo doch jedes Leben das in meinen Händen lieg wie Nebel einfach hindurch gleitet.“ So wie das von Naaru. Und Gillette. Und Kaio. Und auch das von Sian. Sie alle hatte ich enttäuscht und sie waren es die dafür mit dem Leben bezahlen mussten.

„Hab Vertrauen, kleine Kriegerin“, sagte Aman leise. „Ein Gott tut nichts grundlos.“

Das vielleicht nicht, aber auch sie konnten sich täuschen.

Mein Blick glitt wieder zu der Frau. Sie hatte sich erhoben und kam langsamen Schritts auf uns zu. Dabei bewegten sich ihre Lippen ohne Unterlass, doch ihre Worte waren so leise, dass ich sie erst verstand, als sie direkt vor mir stand.

„… es vergolten, eine Auserwählte. Bastet hat uns nicht vergessen. Sie schickt uns Hilfe, schickt uns die Verlorenen. Jetzt wird alles gut. Lilith. Es ist Lilith. Oh Göttin, wie ist das möglich? Lilith, eine Auserwählte. Aber sie war verschwundenen. Lilith ist eine Verlorene. Ich habe gesehen, wie sie …“

„Damonda“, sagte Licco leise und berührte ihre Schulter leicht, was sie sofort verstummen ließ. „Was machst du allein hier draußen? Wo ist Taisia?“

Sie schaute Licco mit großen, runden Augen an und schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht.“

Auch meine Augen weiteten sich. Das konnte nicht sein, das war nicht möglich. „Magister Damonda?“

„Magister.“ Sie neigte ihren Kopf zur Seite, als müsste sie über die Bedeutung dieses Wortes nachdenken. „Schon lange sagt das keiner mehr zu mir. Nicht mehr seit seinem Tod, nicht mehr seit dem Überfall, nicht mehr seit …“

„Damonda“, versuchte Licco ihre Aufmerksamkeit zurück zu erlangen. „Du solltest nicht alleine hier draußen sein. Du …“

„Occino!“, schrie sie da plötzlich laut. „Occino! Occino! Occino!“

Auf einmal wurde es sehr ruhig um uns herum. Jeder Ailuranthrop im Umkreis hielt mit dem was er gerade tat inne um zu sehen, warum Damonda so rumschrie. Die geballte Aufmerksamkeit lag sofort auf Anima. Jeder Ailuranthrop kannte ihr Gesicht. Und dann entdeckten sie mich.

„Wie die uns alle anstarren.“ Pascals Blick flog unruhig hin und her. „Irgendwie ist das Unheimlich.“

„Nicht irgendwie“, verbesserte Janina ihn. „Das ist unheimlich.“

Diese Blicke, wie sie uns still beobachteten, es war unangenehm. Die Erkenntnisse die in ihren Augen aufflackerten. Was sie hier sahen, es war ihr Silberstreif am Horizont.

Irgendwo brach eine Frau in lautes Schluchzen aus. Eine andere ging ehrergiebig auf die Knie. Arme wurden zum Gebet in die Luft gestreckt. Sie vergolten unserer Göttin. Ein Mann rief laut seinen Jubel heraus, während Damonda noch immer verkündete, das Bastet uns nicht vergessen hatte und die Zeit des Leids nun bald zu Ende ginge.

Und dann begann die Menge unter Freudentaumel nach vorne zu drängen. Sie wollten uns berühren, wollten sich versichern dass wir keine Phantome ihrer Geister waren.

Das war zu viel, das konnte ich nicht ertragen. All die Blicke, der Unglaube, die Freude. Und die Hoffnung. Ich wollte nicht der Grund für ihre Hoffnung sein. Diese Last gebührte nicht mir. Nein, bitte, nein.

„Haltet ein!“, rief Licco laut.

Es gab nicht einen der seinen Worten folgte.

Mochica bahnte sich einen Weg und stellte sich schützend vor Anima, die das ganze seltsam abwesend erfasste. Lacota hielt mit einem gewaltigen Fauchen zwei Männer zurück, doch es half alles nichts. Das Chaos wurde immer größer. Auch die Ailuranthropen außerhalb des Markplatzes bekamen langsam mit, was hier geschah. Es kamen immer mehr. Sie strömten aus den Höhlen, kamen von den Hütten. Aufgeregte Rufe, laute Schreie. Die Nachricht verbreitete sich mit unglaublicher Geschwindigkeit.  Eine dichte Traube und wir mitten drin. Und dann erschien Jaron mit einem Trupp Krieger im Schlepptau.

„Ergreift sie!“, war sein Befehl.

Einen Moment kam Verwirrung auf.

Ein Teil der Krieger drängte die Menge zurück, während der andere sich zu uns durcharbeitete. Jaron war direkt hinter ihnen und steuerte auf Anima und mich zu. Er würde uns höchstpersönlich zu den Priestern bringen und auch versuchen seine Eingebung durchzusetzen – ich sah es an seinem Blick.

Plötzlich gab John einen Schmerzenslaut von sich. Einer der Krieger hatte ihn gepackt und ihm den Arm auf den Rücken gedreht, ohne auf die Wunden zu achten, die trotz Vineas Versorgung noch nicht ganz geschlossen waren.

„He!“, protestierte Pascal. „Was soll denn … scheiße, verdammt!“

Auch der kleine Brestern wurde in die Obhut der Krieger genommen – ob er nun wollte, oder nicht.

Und das war der Moment, in dem der Krieger in Luan zurück fand. Die Erkenntnis, als er begriff was hier geschah, dass auch in den Zeiten des unsicheren Friedens viel zu oft Krieg vorherrschte, ließ ihn die Augen weit aufreißen.

Und dann versuchte ein Krieger nach Janina und Amelia zu greifen. Luan bleckte die ausgefahrenen Fänge, packte den Mann und schleuderte ihn in die Menge, als wöge er gar nichts. Alles Zivilisierte fiel von ihm ab. Wenn es um sein Herz ging, hielt er sich nicht zurück, was die Krieger zu spüren bekamen. Selbst Jaron musste eingreifen, als Luan mit gezielten Handkanten in den Nacken zwei weitere Krieger ausschaltete.

Janina quietschte auf, als ein Krieger sie am Arm erwischte. Sie schrie Zeter und Mordio. Ihre Verwandlung setzte ein, doch solange sie das Baby im Arm hielt, konnte sie sich gegen den Ansturm nicht verteidigen. Außerdem war sie noch immer von der Geburt geschwächt.

Ich wurde von Licco zur Seite gezogen, als einer der Krieger nach Amans. Arm griff und ihn ihm auf den Rücken verdrehte, um ihn abzuführen. Er blieb ganz ruhig, ließ es sich einfach gefallen, behielt aber den Mann in den Augen, der das gleiche mit seiner Brestern tat. „Sie ist verletzt“, sagte er mit einem deutlichen Grollen in der Stimme. „Tut ihr nicht weh.“

Der Ailuranthrop hielt einen Moment inne, nickte Aman dann aber zu.

„Licco!“, rief da plötzlich mitten in der Menge eine Frauenstimme nach meinem Brestern. „Licco!“

Er sah sich sofort nach ihr um, zog mich einfach hinter sich her, ohne darauf zu achten was hier vor sich ging.

Wieder ein Ruf. Zwischen der Menge und den ganzen Kriegern schob sich eine kleine, zierliche Frau hindurch, die mehr als einmal droht abgedrängt zu werden. Sie trug das schwarze Haar eines Panthers und hatte selbst in dieser Gestallt sehr Katzenhafte Züge. „Licco.“ Als sie nach seiner Hand griff, hatte sie nur einen sehr flüchtigen Blick für mich übrig. „Du hattest recht mit deiner Vermutung. Er hat es die ganze Zeit verborgen. Vor vier Tagen ist er einfach zusammen gebrochen.“

Die Augen meines Brestern weiteten sich leicht. „Ist er …“

„Nein.“ Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Er ist schwach, aber …“ Sie verstummte, doch in ihren Augen lag die ganze Wahrheit die sie verschwieg.

„Wie lange noch?“

„Du solltest zu ihm gehen, es …“ Sie wurde von hinten angerempelt, als die Menger wieder nach vorne drängte. Die Krieger hatten alle Hände voll zu tun sie zurück zu halten, doch es half nicht viel.

Licco schuppste zwei Frauen zurück und stellte sich dann schützend vor den Panther. „Wo ist er jetzt?“

„In seinem Quartier. Ich aber ihn nicht aus den Augen gelassen.“

„Vergelts, Taisia, ich … ich muss zu ihm.“

Sie nickte ihm zu, aber da hatte er sich bereits abgewandt und bahnte sich einen Weg durch die Traube, die uns umschloss.

Ich wusste nicht ob er vergessen hatte, dass er meine Hand noch immer fest umschloss, doch als ich an ihr zog, schüttelte er sofort den Kopf.

„Nein, du musst mitkommen.“

Ohne auf eine Erwiderung zu warten, drängte er immer weiter. Er stieß Krieger und Zivilisten gleichermaßen zur Seite, bis er den Eingang zur Höhle erreicht hatte. Doch auch dort stoppte er nicht. Immer weiter ging es. Hinein in den Schlund.

Die Wände die uns umschlossen waren aus rauem Stein, der von fähigen Händen bemalt worden war. Leuchtkristalle an den Wänden erhellten diese Kunstwerke unter denen die Ailuranthropen sich bewegten. Der vordere Bereich war eine riesige Höhle, von dem viele Gänge abgingen. Auch bewegte das Volk sich geschäftig – zumindest ein Teil. Die meisten strebten nach draußen um zu sehen, was dieser Aufruhe sollte.

Wir liefen unbemerkt an ihnen vorbei. Keiner schenkte uns Beachtung.

Ich warf einen letzten Blick über die Schulter auf das was hinter uns vor sich ging und fing den von Aman auf, wie er immer noch ganz ruhig da stand und mir nachsah. Die Krieger schienen es auch endlich geschafft zu haben Luan Herr zu werden, aber bis sie den Aufruhe unter Kontrolle gebracht hätten, würde es noch eine Weile dauern. Doch wie lange würde ich nicht erfahren, denn Licco zog mich ohne Unterlass vorwärts, hinein in einen Gang, weg von allem was gerade geschehen war – er schien sogar noch schneller zu werden. Wir rannten nicht, doch die Wände flogen nur so an uns vorbei.

Der Anblick hier veränderte sich nicht viel. Immer wieder wurden die Wände von der künstlerischen Ader der Ailuranthropen geziert. Alle paar Meter bog ein weiterer Gang in das verwirrende Labyrinth der Höhlen ab. Licco zog mich unerbittlich weiter. Sein Gesicht, es war so verbissen und … zugeknöpft. Es war nicht zu erraten, was in seinem Kopf vor sich ging.

„Wo gehen wir hin?“, fragte ich, als wir erneut in einen Gang abbogen. In der Zwischenzeit hatte ich schon längt die Orientierung verloren. Der einzige Anhaltspunkt der mir versicherte dass wir nicht im Kreis liefen, waren die Gemälde an den Wänden.

Als mein Brestern mir nicht antwortete, riss ich an seinem Arm. „Licco!“ Ich wollte ihn zwischen stehen zu bleiben, doch auch wenn er nur noch ein Schatten von dem war, was er einmal präsentierte, seine Kraft hatte er nicht verloren.

Er blieb nicht stehen, doch er drosselte sein Schritt ein wenig. Aber antworten, dass tat er nicht.

Langsam beschlich mich ein ungutes Gefühl. „Wenn du mir nicht auf der Stelle sagst warum du mich so durch die Gegend zerrst, werde ich keinen Schritt mehr gehen. Von wem hat diese Frau gesprochen?“

Über die Schulter warf er mir einen kurzen Blick zu, richtete ihn dann aber sofort wieder nach vorne. „Taisia. Sie ist Heilerin.“

Das Ungute Gefühl verstärkte sich. „Warum kommt eine Heilerin zu dir?“

Wir liefen an zwei Männern vorbei, die mit schweren Säcken laut lachend den Tunnel herunter kamen.

Licco verlangsamte seinen Schritt noch ein wenig, bevor er in den nächsten Gang abbog. Er war sehr kurz und mündete in eine Höhle, die wild mit exotischen Pflanzen bewuchert war. Sogar ein kleiner unterirdischer Flusslauf lief hindurch. Eine Brücke aus Stein war darüber gesponnen. Er hielt direkt vor ihr an und deutete auf einen der bunten Vorhänge, die sich auf der anderen Seite des Flusses in gleichmäßigen Abständen über die Wand verteilten.

„Das sind die Quartiere der Krieger.“ Er zeigte auf einem ganz bestimmten, den zweiten von rechts. „Da ist er drin.“

„Wer?“

Er biss sich auf die Lippe, schüttelte den Kopf und drehte mich dann zu sich. Seine Hände lagen warm auf  meinen Wangen, als er mir tief in die Augen blickt. „Bevor ich aufgebrochen bin … in den letzten Wochen … ich …“ Er seufzte schwer. „Ich habe ihn beobachtet. Schon seit Wochen hatte ich das Gefühl das etwas nicht stimmt, aber er … er ist so stur. Schon seit langer Zeit hat er nicht mehr die Kraft, aber er war immer jemand zu dem das Volk aufgesehen hat und jetzt nachdem Taisia … er ist zusammengebrochen und ich … ich …“

„Licco.“ Ich presste seine Hände auf seine. „Was willst du mir sagen.“

Er zögerte, leckte sich einmal über die Lippen und wirkte, als wollte er am liebsten fliehen. „Fafa“, sagte er dann leise. „Ich habe vermutet dass er die Krankheit hat und jetzt … er ist zusammengebrochen.“

Meine Augen weiteten sich ungläubig. Die Worte von Taisia widerholten sich in meinem Geist. „Nein“, sagte ich und schüttelte den Kopf.

„Lilith …“

„NEIN!“, schrie ich ihn an und machte mich von ihm los. Dann rannte ich. Über die Brücke, vorbei an den exotischen Pflanzen die einen süßlichen Duft verströmten, zu dem zweiten Vorhang von rechts. Ich riss ihn einfach auf und ließ meinen Blick hektisch durch die kleine Höhle dahinter gleiten. Ein Tisch mit zwei Stühlen. Ein Regal, das direkt in den Stein geschlagen worden war. Kleine Skulpturen und dort hinten, ganz in der Ecke ein dickes Lager aus Stoffen und Fellen.

Darin lag ein alter Mann mit Haar so weiß wie mein eigenes. Doch das Gesicht dieses Mannes hatte ich so nicht in Erinnerung. Tiefe Ringe lagen unter seinen Augen. Die Wangen waren eingefallen, genau wie der Rest des Körpers. Seine Decke ging ihm nur bis zur Hüfte, so dass ich die Rippen sehen konnte, die unter seiner Haut hervorstachen. Nein, ich erkannte diesen Mann nicht und doch wusste ich genau wer es war. Es war die markante Nase in seinem Gesicht, die mir dieses Wissen vermittelte. „Fafa?“, fragte ich vorsichtig und hoffte – betete – dass ich falsch lag.

Genau in dem Moment schlug er die Augen auf. Er sah mich, die Augen so klar uns scharf wie immer. Und dann begann er zu lächeln. „Nasan“, sagte er leise. Seine Stimme klang viel rauer als ich sie in Erinnerung hatte. „Dann haben die Mächte mich wohl doch noch bekommen.“

Das war der Moment, in dem ich einfach in Tränen ausbrach.

 

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Kapitel Zehn

 

Die Welt, das Leben, alles hat einen bestimmten Sinn. So sagt man. Unglücke geschehen und niemand kann sie verhindern. Und ab einem bestimmten Punkt konnte man nicht mehr tiefer fallen, dann geht es einfach wieder Bergauf.

Weisheiten.

Sprichworte.

Lügen.

Meine Finger krallten sich in den Stoff des Vorhangs. Ein Wort. Es war nur ein Wort das sich wie ein Kreisel in meinem Kopf drehte. Nein. Nein, nein, nein! Ich wollte es nicht wahrhaben. Ich konnte es einfach nicht.

„Warum weinst du Nasan?“

Reflexartig legte ich die Hand an meine Wange und als ich die Tränen spürte, entkam mir ein lautes Schluchzen.

„Sei nicht traurig Nasan. Für jeden kommt einmal die Zeit und jetzt kann ich dich wenigsten wiedersehen.“

Ich war nicht fähig darauf etwas zu erwidern, ich schaffte es gerade mal meinen Kopf zur Seite zu drehen, als Licco neben mich trat. 

„Du bist nicht gestorben“, teilte er meinem Fafa mit einem sehr bitteren Unterton mit und löste meine Verkrampften Finger vorsichtig aus dem Vorhang. „Noch nicht.“

„Licco?“ Seine Augen wurden eine Spur größer. „Aber Lilith, wie …“ Ein schlimmer Hustenkrampf unterbrach seine Worte. Er rollte sich auf die Seite, vergrub das Gesicht in den Kissen und schien und schien dabei die Qualen der Verderbnis zu spüren.

Licco war sofort an seiner Seite um ihm beizustehen, auch wenn es nicht viel war was er tun konnte. Einfach nur beruhigend auf ihn einreden und ihm helfen ein Schluck Wasser zu trinken. Doch wenigstens tat er etwas

Ich konnte nichts tun.

Ich sah diesen gebrochenen Mann, der viel älter wirkte, als er es wirklich war und konnte mich einfach nicht bewegen.

„Das du die Krankheit verheimlicht hast, war töricht.“ Licco stellte den Becher zur Seite und auch wenn aus seinen Worten der Vorwurf herausklang, so sprachen seine Augen von Schmerz. Er würde den Mann verlieren, dem er mehr als nur sein Leben vergolt. „Du hättest es mir sagen müssen.“

Fafa beachtete ihn gar nicht. Seine Augen hingen allein an mir und versuchten das Rätsel meiner Anwesenheit zu lüften.

„Ich fand sie vor vier Tagen im Tempel der Bastet.“

„Du bist zurückgekommen“, flüsterte mein Fafa. „Dafür habe ich zu unserer Göttin gebetet, hunderte Male, aber …“ Und dann geschah etwas, womit ich niemals gerechnet hätte: Seine Augen schwammen plötzlich in Tränen. Er streckte die Hand nach mir aus und so schrecklich es klang, ich musste mich zwingen durch den Raum zu gehen und mich neben ihn zu Knien, um seine Hand zu ergreifen. Ich wollte diesen kraftlosen Händedruck nicht spüren, denn das würde es noch realer machen.

Mein Fafa würde sterben.

Diese Worte … nein, bitte nein. Es war unwahr, es konnte einfach nicht stimmen. Bitte, Bastet, mach dass es nicht stimmt. Ich flehe dich an, nicht er auch noch. Ich drückte die Hand meines Fafas fester. Er war so schwach, dass er es nicht mal erwidern konnte.

„Lilith, sieh mich an.“

Kleine Steinchen bohrten sich in meine Knie. Ich wünschte sie könnten den Scherz betäuben, doch sie waren einfach nur unangenehm – nicht im Vergleich zu den Gefühlen die in mir tobten.

„Lilith, bitte.“

Nur langsam hob ich den Kopf. Seine Augen schwammen noch immer in Tränen, doch er besaß die Selbstbeherrschung sie am Überlaufen zu hindern. Selbst jetzt noch war er ein Krieger, der sich keinem Kampf unterwarf.

„Du siehst noch genauso aus wie an dem Tag, als ich dich für immer verloren glaubte.“

„ich war nur acht Tage fort, Fafa.“ Oh Göttin, meine Stimme. So schwach, so zerbrechlich. Genau wie ich, wie mein ganzen Leben.

Der Druck seiner Hand nahm ein wenig zu. Es sollte wohl trösten wirken, doch es zeigte mir einzig dass es um ihn noch schlechter stand, als ich zu hoffen wagte. Es schmerzte mich in der Seele.

„Acht Tage?“ Er tastete mein Gesicht mit den Augen ab, ließ ihn an mir herunter gleiten, auf der Suche nach den Zeichen der Zeit. „Aber du warst doch nur …“ Und dann entdeckte er das Mal an meinem Bein. Seine Augen weiteten sich ungläubig. Sein Mund öffnete und schloss sich wie bei einem Fisch. Es gab nicht viel was diesen Krieger überraschen konnte, doch ich hatte es geschafft. „Eine Auserwählte.“

Dieses Wort, diese Ehrfurcht darin. Es war fast eine körperliche Pein, denn ich wusste welche Erwartungen dahinter steckten.

„Mein Natis ist eine Auserwählte.“ Sein Blick schnellte zu meinem Gesicht. „Aber … was ist geschehen? Wie …“ Erneut wurde er von einem Hustenkrampf gepackt – schlimmer als zuvor. Es war nicht wie bei Ravic, er spuckte kein Blut, doch die Kraft schien auch ihn mit jedem verstreichenden Moment mehr zu verlassen.

Ihn so zu sehen … Oh Göttin, wann ist die Welt so grausam geworden?

„Du solltest dich ausruhen“, sagte Licco und schob seine Decke zurecht.

„Ich habe nicht mehr die Zeit mich ständig auszuruhen.“

„Aber wenn du dich überanstrengst …“

„Licco, still.“ Die Worte waren leise gesprochen, fast sanft und doch sprach eine Autorität aus ihnen, die meinen Brestern sofort verstummen ließ. Er war eben nicht nur sein Fafa, er war auch sein Mentor. Aber vor allen Dingen war er sein Prinzipal.

Mein Fafa suchte meinen Blick. „Erzähl es mir“, forderte er mich auf. „Erzähl mir was geschehen ist.“

Was geschehen war? Ich war nur wenige Tage gegen meinen Willen fort gewesen und nachdem ich es nach vielen Strapazen zurück geschafft hatte, lag meine Welt in Trümmer.

Ich schluckte angestrengt, senkte den Blick.  Es war einfach kaum zu ertragen diesen gebrechlichen Mann zu sehen und zu wissen, dass es mein Fafa war, der stolze Krieger, der sich nur vor unserer Göttin beugte. Doch gegen diese Krankheit hatte er keine Chance.

Die hatte niemand.

„Es war der Schöpfertag“, begann ich leise und blinzelte hastig die Tränen weg. Ich würde nicht wieder anfangen zu weinen. Ich musste stark sein, genau wie er. „Wir sind nach draußen gegangen um dem Rennen beizuwohnen, da kamen sie aus dem Wald.“ So oft waren mir diese Worte in den letzten Tagen über die Lippen gekommen. Meine ganze Welt drehte sich nur noch um diese Geschichte. Immer und immer wieder wurde mir vor Augen geführt, wie sehr ich versagt hatte. Man ließ mich einfach nicht vergessen, obwohl es das einzig war, was ich mir noch wünschte.

Aber ich konnte meinem Fafa nichts verwehren und so flossen die Worte ohne mein Zutun. Sie zogen eine Linie durch den Tempel und die greifenden Winde. Windete sich durch den Fall in eine fremde Welt und den Seltsamkeiten die sie bot. „Es war eine Platte aus Stein, von der weder der Anfang noch das Ende zu erkennen war. Ich musste viele Schritte darauf gehen um zu erkennen …“

Der Vorhang an der Höhl wurde so geräuschvoll aufgezogen, dass ich vor Schreck zusammen zuckte. Eine knochige Frau mit einem sehr spitzen Kinn und abnormal großen Augen stand im Eingang. Ihre schwarze Robe mit dem aufgestickten Ornament unserer Göttin über dem Herzen zeichnete sie auf den ersten Blick als die aus, die sie war: Eine Priesterin.

Ihr Blick klebte sofort auf mir. Mit diesen seltsamen Augen. Ich bekam eine Gänsehaut.

„Lilith?“

Nur zögernd gestattete ich es mir zu nicken und bereute es sogleich wieder. Sie kreischte in einem so schrillen Ton auf, dass es mich in den Ohren schmerzte. Im nächsten Moment stürmte sie auf ich zu. Sie griff so schnell nach meinen Armen, dass mir gar keine Chance blieb auszuweichen. Ihre Hände zitterten vor Aufregung, als sie mich auf die Beine zerrte. Dass sie mir ihre Nägel dabei in die Haut drückte, schien sie gar nicht zu bemerken. Ihr Blick war gefangen von dem Mal auf meinem Bein.

„Wahrhaftig“, flüsterte sie. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein strahlen aus, dass mich an ein kleines Natis erinnerte. „Naum, sieh nur, Jarons Worte sind wahr!“

Ich blickte zum Eingang und musste feststellen, dass dort noch drei weitere Personen standen. Jaron und zwei weitere Priester.

Nun erhob sich auch Licco, doch er blieb still.

„Hast du geglaubt ich würde euch täuschen?“ In Jarons Augen lag ein Vorwurf, der gegen mich gerichtet war. Es war ihm gar nicht recht, dass ich einfach seiner Obhut entkommen war, um meinen Fafa aufzusuchen, bevor er mich hatte bei den Priestern abgeben können.

„Nein, natürlich nicht.“ Die knochige Frau bückte sich leicht, zog die Linien des Mals mit dem Finger nach.

Ich fand es unangenehm, wollte zurücktreten, doch ihr Griff war unerbittlich. „Nicht bei so etwas Wichtigem. Aber eine Auserwählte … Occino und eine Auserwählte …“

„Neitha“, sagte der ältere der Priester, dem bereits vor langer Zeit die Haare auf dem Kopf ausgegangen waren. „Lass sie los, du ängstigst sie noch.“

Priesterin Neitha schien die Worte gar nicht zu hören. Sie gab wieder ein Kreischen des Entzückens von sich, dass mir in den Ohren schmerzte und strahlte mich wie tausend Sonnen an. „Eine Auserwählte. Unsere Göttin ist wieder bei uns. Bei Bastet, alle müssen es erfahren, das müssen wir feiern. Ein solches Glück … oh Göttin!“ Abrupt ließ sie mich los, wirbelte herum und eilte aus der kleinen Höhle. Dabei murmelte sie unentwegt Worte des Entzückens und dass sie sich schon um alles kümmern würde.

Ich sah ihr etwas unbehaglich nach.

„Vergib Neitha.“ Der jüngere Priester war von ausgesprochener Schönheit, wie sie in jedem Millennium nur einmal vorkam. „Sie ist immer ein wenig …“

„Überdreht“, kam es von dem anderen Priester.

Sie lächelten mir aufmunternd zu, doch ich konnte es nicht erwidern. Hier waren die Priester und weil ich eine Auserwählte war, würden sie Großes von mir erwarten. Und das Wissen dem niemals gerecht werden zu können, ließ mich den Blick senken.

„Ich hätte ein anderes Wort gewählt, aber ja, so könnte man es auch ausdrücken.“

Danach trat eine unangenehme Stille ein. Vielleicht empfand auch nur ich sie so, doch ich wusste einfach nicht was ich tun sollte. Das war etwas Neues für mich. Ich hatte immer einen Weg gehabt, ein Ziel, doch mit dieser Aufgabe war ich überfordert.

„Möchtest du uns nicht etwas sagen?“ Es war die weiche Stimme des Jüngeren.

Ich zuckte etwas hilflos mit den Armen. „Ich wüsste nicht was.“

Das leise lachen ließ mich den Kopf heben. Es kam von dem Älteren.

„Entschuldige meine Unverfrorenheit. Nur wie Neitha bereits sagte, Occino und eine Auserwählte … ich betete jeden Tag zu unserer Göttin, doch hätte ich nicht mehr geglaubt, dass dieser Tag kommen würde.“

Wieder schwieg ich. Was hätte ich auch sagen sollten?

„Vielleicht stellen wir uns erstmal vor“, sagte der jüngere. „Ich bin Priester Seto und das ist Priester Naum.“

„Lilith.“

„Nun Lilith, als Jaron mit dieser Nachricht zu uns kam und Occino brachte, waren wir im ersten Moment höchst erstaunt und noch immer kann ich es nicht ganz verstehen.“ Sein Blick richtete sich auf mein Bein. „Eine Auserwählte hat es seit Jahrhunderten nicht mehr gegeben. Möchtest du uns erzählen was geschehen ist?“

Bevor ich den Mund aufmachen konnte, drehte mein Fafa sich unter einem neuerlichen Hustenkrampf auf die Seite. Er klang trocken uns schmerzhaft und es tat mir weh ihn so zu sehen und ihm nicht helfen zu können.

Licco war sofort wieder mit einem Glas Wasser bei ihm.

„Vielleicht sollten wir dieses Gespräch anderorts fortführen“, schlug Jaron vor. „Das Zimmer eines Kranken ist wohl nicht der richtige Platz.“

Priester Naum nickte. „Du hast Recht. Außerdem erwartet Ausar uns bereits und ihn sollte man nicht warten lassen. Lilith, bitte begleite uns zu …“

„Nein.“ Ich schüttelte vehement den Kopf und wich vor ihnen zurück. Mein Blick glitt zu Fafa und dann wieder zu ihnen. „Ich kann nicht gehen.“ Ich konnte ihn doch nicht einfach im Stich lassen. Und ich hatte nicht die Kraft mich meiner Zukunft zu stellen.

Meine Ablehnung schien die Priester wirklich betroffen zu machen.

„Du kannst nichts für ihn tun“, sagte Jaron leise. „Nicht indem du an seinem Bett wachst.“

Bildete ich es mir ein, oder hörte ich da Schmerz in seiner Stimme? „Aber …“

„Nasan“, unterbrach mein Fafa mich. „Geh mit den Priestern. Tu wozu du auserwählt wurdest. Ich werde hier auf dich warten, schließlich musst du mir die Geschichte noch zu Ende erzählen.“

Ich biss mir auf die Lippe. Das „Nein“ lag mir bereits auf der Zunge, doch ich hatte meinem Fafa noch nie widersprochen. Und die Angst zu gehen und bei meiner Rückkehr nur noch ein leeres Lager vorzufinden zerfraß mich innerlich.

„Geh, Nasan. Ich bin müde.“ Wie um seine Worte zu bestätigen, schloss er die Augen.

„Na komm.“ Priester Seto hob in einer einladenden Geste den Arm. „Stören wir ihn nicht länger.“

Natürlich, er war krank und jede Überanstrengung war schlecht für ihn. „Bliebst du bei ihm?“, fragte ich Licco.

Er nickte stumm und ließ sich neben meinem Fafa in den Schneidersitz fallen.

„Sagst du mir Bescheid, wenn sich etwas ändern.“

„Ja Lilith. Geh mit ihnen.“

Ich wollte nicht. Ich wollte das alles nicht, doch eine Wahl blieb mir nicht. Mein letzter Blick galt meinem Fafa. Wenn ich nur das Tigerauge bei mir hätte, es würde ihn retten können, da war ich mir sicher. Aber ich hatte es verloren. Genau wie ich alles andere verloren hatte. Mir blieb nur noch Licco und wie er so da neben meinem Fafa saß kam ich nicht umhin mich zu fragen, wann sich auch das ändern würde.

Ich wandte mich ab und trat zwischen den Priestern aus der Höhle, bevor jemand die Träne bemerken konnte.

 

°°°

 

„Etwas solches ist mir noch nie zu Ohren gekommen.“ Priesterin Mascia schritt aufgewühlt vor mir durch die Höhle der Priester. „Wärst du nicht durch das Mal der Göttin gezeichnet, ich würde dich für deine Worte bestrafen lassen, da sie nur eine Lüge sein können.“

Ich umklammerte die Kannte des Tisches. „Welchen Grund hätte ich zu lügen? Was würde es mir bringen eine solche Geschichte zu erfinden?“

„Das weiß ich doch nicht!“

Mein Griff wurde fester. „Ich habe mir das sicher nicht ausgedacht. Sie wollten wissen was geschehen ist, und ich habe es ihnen erzählt. Ich kann nichts für die Wahrheit.“

Ein kleines Lächeln huschte über die Lippen von Priester Seto. „Da muss ich ihr zustimmen.“

„Ich bleibe bei meiner Meinung“, zeterte Priesterin Mascia. „Die Geschichte kann nicht wahr sein. Eine Reise in eine andere Welt?“ Sie schnaubte abfällig. „Unglaubwürdig.“

Am liebsten wäre ich einfach aufgestanden und gegangen. Im Moment gab es für mich wichtigeres zu tun als die Priester von der Richtigkeit meiner Geschichte zu überzeugen; meinen Fafa zum Beispiel. Aber er war ein ehrenwerter Mann und er würde es nicht gut finden, wenn ich einfach ginge um bei ihm zu sein. Darum blieb ich sitzen und starrte einfach nur die Tischplatte an.

Ich wusste nicht wie lange ich mich schon in der Tempelhöhle aufhielt. Sie war so viel höher als alles andere was ich hier bisher gesehen hatte. Fresken waren in die Wand geschlagen worden und mit Malereien verziert. Der Boden war aus glatten Stein und Banner unserer Göttin zierten jeden freien flecken.

Ganz hinten an der Wand, unter dem Haupt einer Statur unserer Göttin, stand ein verzierter Sockel aus reinem Marmor. Der Platz darauf war frei, denn der gebührte dem Tigerauge – und das war für die Ailuranthropen unerreichbar geworden.

„Nur weil wir es nicht glauben können“, sagte Priester Naum, „muss es nicht unwahr sein. Durch die Macht der Götter sind bereits ganz andere Dinge möglich geworden.“

„Du glaubst ihr?“

„Es ist nicht von Bedeutung, was ich glaube.“

„Also tust du es nicht“, erwiderte sie selbstzufrieden.

Leider musste ich dieser Xanthippe zustimmen. Ich presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Nachdem sie mich vom Krankenlager meines Fafas weggeholt hatten, wurde ich hier in die Tempelhöhle gebracht. Priesterin Mascia war bereits anwesend gewesen und hatte mir von ihrem Platz an der großen Tafel  in der Mitte misstrauisch entgegen gesehen. Doch sie war nicht die einzige, die hier auf mich gewartet hatte. Da war noch Priester Ausar. Er war der Mann der den Platz des obersten Priesters nach dem Tod von Priesterin Tia eingenommen hatte. Und er war außergewöhnlich schweigsam. Während meiner gesamten Anwesenheit war noch nicht ein einziges Wort über seine Lippen gekommen.

„Die Lykanthropen und die Fremdlinge, die wir in Lilith‘ Begleitung gefunden haben, erzählen ganz genau die gleiche Geschichte“, sagte Jaron. Er hatte darauf bestanden an diesem Gespräch teilzunehmen.

Auch Anima war anwesend, doch die saß still neben mir am Tisch und starrte unentwegt die riesige Skulptur unserer Göttin an.

Priesterin Mascia winkte ungehalten ab. „Das beweist gar nichts.“

„Die Schriften der Firenzia“, kam es da völlig unerwartet von Anima. „Die Texte aus dem Tempel.“

Priester Naum hob leicht seine Augenbraue. „Du meinst die Schriften, sie sich mit der Reise durch die Portale befassen?“

Die Erinnerung kam mit einem Schlag zurück. Anima hatte mir davon erzählt, an dem kleinen Tümpel um Wald.

„Das Portal ist nicht nur ein Objekt, das einen von einem Ort zum anderen zu bringen kann. Mit ihm reist man auch auf dem Steg der Welten in andere Mitwelten.“ Ich blickte zu Priester Naum hinüber. „In einer Schrift wird sogar gesagt, dass man mit ihm durch die Zeit reisen kann.“

„Eine Schrift, deren Herkunft und Verfasser unbekannt ist.“ Priester Naum nickte. „Ich kenne diese Texte, doch sie sind so alt, dass heute niemand mehr über den Wahrheitsgehalt Bescheid weiß.“  

So wandere durch Raum und Zeit. Das waren Animas Worte gewesen.

„Eigentlich“, unterbrach Priester Seto unsere kleine Diskussion, „ist es doch völlig gleich wie die Wahrheit lautet. Wichtig ist doch nur, dass unsere Göttin uns wieder beisteht. Und zum Zeichen hat sie uns eine Auserwählte geschickt.“

Alle Blicke richteten sich auf mich.

„Doch bei all dem was wir bisher gehört haben“, fuhr er fort, „wissen wir noch immer nicht, welche Aufgabe dir zugedacht wurde und wie sie uns helfen kann.“

Da war sie, die Frage auf die sie alle eine Antwort wollten. Doch ich konnte sie ihnen nicht geben. „Ich weiß es nicht“, sagte ich leise. „Ich weiß nicht was ich tun soll.“

Das sorgte erstmal für Schweigen, dass durch das abfällige Schnauben von Priesterin Mascia unterbrochen wurde. „Du wurdest von unserer Göttin auserwählt und weißt nicht einmal wofür? Na bestimmt nichts fürs Kartoffelschälen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wir befinden uns in einer ausgesprochen dringlichen Notlage und du musst sie lösen. Das ist deine Aufgabe.“

„Und wie?“, fragte ich bissig. „Wie soll ich ein ganzes Volk retten? Ich weiß es nicht. Ich kann keine Wunder bewirken, ich bin … nur Lilith.“ Die kleine Lilith. Die Kleinste, die Letzte, die Schwächste.

Jaron schlug leise seine Knöchel auf die Tischplatte. „Ich habe darüber bereits Geistreden gehalten und eigentlich gibt es nur eine Möglichkeit.“

„Nein“, sagte ich sofort, was mir fragende Blicke einbrachte. „Das kann es nicht sein.“

„Was kann es nicht sein?“ Priester Seto schaute neugierig von mir zu Jaron. „Was weist unsere Auserwählte so kategorisch ab?“

„Fruchtbarkeit“, war Jarons Erwiderung. „Die Ailuranthropen sterben aus. Nicht nur Krankheit und Hunger haben uns in diese Höhlen getrieben, auch die Unfruchtbarkeit. Wir können keine Natis mehr bekommen.“

„Das ist uns wohl bekannt.“

Jaron ließ sich von Priester Naums Einwurf nicht aus dem Konzept bringen. „Doch Lilith, sie ist davon nicht betroffen. Sie ist jung, gesund und höchstwahrscheinlich fruchtbar. Sie trägt den Segen unserer Göttin und …“

„Ich werde keine Coa!“, unterbrach ich ihn aufgebracht. Wie konnte er es wagen? Wie konnte er den Priestern nur solche Worte in die Ohren legen.

Priesterin Mascia schnalzte missbilligend. „Niemand hat von einer Coa gesprochen, sondern von neuem Leben.“

„Ich werde nicht bei anderen Männern liegen.“

„Anderen?“ Und wieder ging die Augenbraue von Priester Seto ein Stück nach oben. „Du bist doch noch sehr jung. Hast du denn schon bei einem Mann gelegen?“

Der Kuss von Aman kam mir in den Sinn, der einzige den ich jemals erwidert hatte. Das war die innigste Berührung, die ich zu einem anderen wesen jemals gehabt hatte. „Nein“, sagte ich leise und spürte wie meine Wangen warm wurden. „Nein, aber ich werde es trotzdem nicht tun.“

„Dann sag uns doch einfach welche Aufgabe dir von unserer Göttin zugedacht wurde“, verlangte Jaron. „Bitte, wir warten.“

Ich biss mir fast die Zunge ab bei dem Versuch ihn nicht zu beschimpfen. 

„Es ist so. Lilith war Kriegerlehrling im Tempel, doch sie war in allem was sie tat miserabel. Sie stach nur auf eine Art hervor und das war die, dass bei ihr immer alles schief ging.“

„Sie kann Messer werfen“, kam es da wieder unerwartet von Anima.

Einen Moment schien Jaron aus dem Konzept gebracht, aber er fing sich sehr schnell wieder. „Ja, aber das ist auch das einzige was sie kann. Um ein Krieger zu sein, brauch es viel mehr und diese Fähigkeiten sind ihr einfach nicht zu Eigen. Darum kann sie nur dazu ausgewählt worden sein …“

„Aber du bist ein richtiger Krieger?!“ Ich lachte höhnisch auf. Mit meiner Ruhe war es vorbei. Alles entglitt mir, nichts war wie es sein sollte und jetzt wurde ich auch noch zu etwas Minderwertigem gemacht. Die Wut über diese ganzen Ungerechtigkeiten brandete in mir und wollte einfach nur raus. „Du warst im Tempel nichts weiter als ein kleiner Störenfried der den ganzen Tag Unruhe stiftete um etwas Aufmerksamkeit zu bekommen. Und warum? Wegen Gillette!“

Bei der Erwähnung dieses Namens wurde er etwas blass, aber es war mir egal.

„Gillette war in allem besser als du. Schon bevor du in dem Tempel kamst, hast du in seinem Schatten gestanden und du wirst es immer tun. Dabei ist es völlig egal das er gestorben ist!“

„Hör auf damit, Lilith“, grollte er leise.

„Nein, das werde ich nicht. Gillette ist in der Ausübung seiner Pflicht gestorben. Was hast du gemacht? Du bist wie ein verängstigtes Huhn zum Portal gerannt, um dich in Sicherheit zu wiegen. Nicht er hätte es sein dürfen der stirb, sondern du! Doch leider ist es anders gekommen, aber da ist egal. Du wirst immer in seinem Schatten stehen!“

Er biss sichtbar die Zähne zusammen. „Ich habe es zu etwas gebracht. Ich bin der erste Krieger der Ailuranthropen. Ich habe …“

„Genug“, unterbrach Priester Naum uns und blickte streng von einem zum anderen. „Was in der Vergangenheit geschehen ist, hat heute keine Bedeutung mehr. Es geschah vor dem neuen Zeitalter. Wir müssen uns jetzt auf die Zukunft konzentrieren und wie wir unser Volk retten können.“

„Was uns zur nächsten Frage führt“, übernahm Priesterin Mascia das Wort. Ich Blick legte sich auf Jaron. „Sollte Lilith wirklich dazu auserkoren sein neues Leben zu schenken, dürfen ihr nur ausgewählte Männer als Collusor dienen. Gesunde, kräftige Männer, die …“

„Ich werde es tun“, unterbrach Jaron sie, ohne das Ende ihrer Worte abzuwarten.

Priesterin Mascia musterte ihn kritisch. „Du würdest bei ihr liegen, obwohl du so eine offensichtliche Abneigung gegen sie hegst?“

„Ich diene meinem Volk und dabei hat es keine Bedeutung ob ich sie mag oder nicht. Die nächste Generation muss gesichert …“

„Das werde ich nicht tun!“ Ich war auf den Beinen, ohne es zu merken, doch ich konnte nichts dagegen tun. Es war doch immer noch mein Leben. Wie konnten sie also hier sitzen und es mir wegnehmen wollen. „Ich …“

„Das reicht.“ Bei dem tiefen Basston blieben alle Worte der Beteiligten ungesagt. Es war Priester Ausar gewesen, der zum ersten Mal das Wort ergriffen hatte. Der oberste Priester. „Ich habe mir all eure Augmente nun lange genug angehört und muss feststellen, dass wir so nicht weiterkommen. Ich kenne die Schriften der Firenzia und daher glaube ich Lilith ihre Geschichte. Und wer die Texte der Vergangenheit studiert hat, dem ist sicher auch bewusst, dass nicht alle Auerwählten sofort mit einem Auftrag gesegnet waren.“ Er verstummte einen Moment und sah uns der Reihe nach an. „Manchmal … ja manchmal ist es vorgekommen, dass der Auserwählte noch etwas erledigen musste, bevor er seiner Bestimmung folgen konnte. Erst als diese eine Sache getan war, wurde ihm seine Aufgabe eröffnet. Unsere Göttin ist ein weises Wesen. Sie wird ein Grund für ihr Handeln haben und es bringt uns nicht weiter darüber zu spekulieren und absurde Ideen in die Tat umsetzen zu wollen.“

Sein Blick richtete sich auf Jaron. „Ich vertraue dir, du hast dem Volk immer gute Dienste erwiesen, aber deine Überlegung kann nicht wahr sein. Wie soll eine einzige Frau ein ganzes Volk reproduzieren?“

„Vielleicht sind ihre Nachkommen immun gegen die Krankheit vielleicht sind sie auch in der Lage Natis in die Welt zu setzen. Lilith würde also nur den Grundstein legen. Alles andere würde mit der Zeit kommen.“

„Vielleicht“, sagte Priester Ausar sehr kryptisch und neigte den Kopf leicht zur Seite. Diese Geste hatte etwas sehr Raubtierhaftes. „Aber sehr unwahrscheinlich. Daher verbiete ich Annäherungsversuche in diese Richtung. Eine Auserwählte ist in dieser Hinsicht genauso unantastbar wie Occino. Wenn sie nein sagt, dann heißt es nein.“

Ich konnte beobachten, wie Jarons Gesichtsausdruck mit jedem weiteren Wort verbissener wurde.

„Hast du verstanden, Jaron.“

„Natürlich“, spie er aus. Sein Stuhl rutschte lautstark über den Boden und im nächsten Moment verschwand er aus der Tempelhöhle.

Priester Ausar ließ sich von diesem Abgang nicht sehr beeindrucken. „Lilith“, sagte er sanft und fing mich mit seinem Blick ein. „Wenn ich dir einen Rat geben darf, dann sage ich dir, setzte dich nicht selber unter Druck. Tu was du noch tun musst. Alles andere geschieht, wenn die Zeit dafür gekommen ist.“

Oh Göttin. „Aber ich weiß nicht was ich vorher noch tun muss.“

„Dann finde es heraus. Nimm dir die Zeit die du dafür brauchst.“

Priesterin Mascia schnaubte. „Und in der Zwischenzeit werden wir alle von der Krankheit befallen und sterben daran.“

„Wenn es so kommt“, sagte der oberste Priester, „dann war es so vorherbestimmt und niemand hätte daran jemals etwas ändern können.“

„Aber wozu dann eine Auserwählte? Wir brauchen keine falsche Hoffnung, wir brauchen ein Wunder!“

Der Ausdruck in Priester Ausars Gesicht war sehr Milde. „Vertrau auf unsere Göttin. Sie wird uns nicht im Stich lassen.“

Bevor ein weiteres Wort gesprochen werden konnte, rauschte Priesterin Neitha in heller Freude in den Saal. Für so eine alte Frau konnte sie sich wirklich schnell bewegen. „Die Vorbereitungen sind im Gange“, verkündete sie ohne Umschweife und ließ sich neben Priester Seto auf einen Stuhl plumpsen. „Das Volk ist in heller Aufregung. Alle haben die Neuigkeit erfahren und es ist … oh Göttin, ich kann es kaum in Worte fassen. So viel Glück, so viel Hoffnung. Es ist als würden die Ailuranthropen wie ein Phönix aus ihrer eigenen Asche entstehen. So habe ich sie schon ewig nicht mehr gesehen!“ Sie strahlte in die Runde.

„Welche Vorbereitungen?“, wollte Priester Naum wissen, ohne auf den Rest ihrer Worte einzugehen.

„Na das Fest! Occino ist zurückgehet und wir haben eine Auserwählte, das muss doch gefeiert werden!“

Ja, aber ohne das Tigerauge würde niemand gerettet werden können. Sie würden alle Sterben. So wie Sian. So wie mein Fafa, den ich wusste nicht was ich noch tun musste, bevor mir meine Aufgabe übergeben wurde. Und wenn ich es nicht herausfand, würde ich für den Tod eines ganzen Volkes verantwortlich sein.

Und in der Zwischenzeit werden wir alle von der Krankheit befallen und sterben daran.

Ich mochte Priesterin Mascia nicht, aber ich musste mir dennoch eingestehen, dass an ihren Worten viel zu viel wahren dran war.

 

°°°

 

„Dies ist die schönste Höhle die wir haben und ich habe sie extra für euch herrichten lassen.“ Priesterin Neitha strahlte uns mit einer jugendlichen Frische an, die sich kaum mit ihrem Äußeren vereinbaren ließ. „Früher wurde sie von einer sehr angesehenen Familie bewohnt, aber die Zeit und die Krankheit …“ Sie ließ den Satz unbeendet in einem Seufzen ausklingen. Und dann schienen ihr Geistreden ihr zu verraten, was genau sie gerade gesagt hatte. Wir standen in der Höhle von Toten.

Ihr nervöser Blick flackerte von mir zu Anima, die sich mäßig interessiert umsah. Eigentlich ging ihr Blick einfach nur ins Leere. „Aber das ist Vergangenheit“, beeilte sie sich hinzuzufügen. „Heute sind wir frohen Mutes und sehen nur noch in die Zukunft. Doch genug davon. Wie findet ihr die Höhle? Ich hoffe sie genügt euren Ansprüchen.“

Ihr schneller Themenwechsel war mir nicht entgangen, doch ignorierte ich es. Das Gespräch mit den Priestern hing mir immer noch nach. Sie hatten auf Jarons Vorschlag eingehen wollen. Nicht nur Mascia. Auch Seto und Naum hatten es in Betracht gezogen. Wäre Priester Ausar nicht gewesen, hätte ich vielleicht gegen meinem Willen bei fremden Männern liegen müssen. Nicht mehr als eine Stute, die einzig zum Gebären vorhanden war.

Diese Geistrede schmeckte bitter.

War Jaron der einzige, der so über mich geistredete, oder hatte es im Tempel noch mehr davon gegeben? So wie die Dinge standen, wollte ich es gar nicht so genau wissen.

Lilith war Kriegerlehrling im Tempel, doch sie war in allem was sie tat miserabel. Sie stach nur auf eine Art hervor und das war die, dass bei ihr immer alles schief ging.

Ich biss die Zähne zusammen.

Nicht das Können einer Kriegerin, sondern die Verwandtschaft hat dir Einlass zum Tempel verschafft. Nein, du wirst nie eine Kriegerin sein. Du bist nur ein kleines, dickköpfiges Mädchen, das unter allen Umständen ihren Willen durchsetzen will.

Zur Sachmet, warum musste ich mich nun auch noch daran erinnern?

„Ich habe keine Mühen gescheut, um es euch so angenehm wie möglich zu machen“, riss Priesterin Neitha mich aus meinen Geistreden.

Ja, als angenehm und komfortabel war diese Höhle wirklich zu beschreiben. Und groß. Nicht so eine kleine Baracke wie mein Fafa sie hatte. Es erinnerte mich an die Geschichten die meine Mina mir als kleines Kätzchen erzählt hatte, Geschichten von wunderschönen, wohlhabenden Mädchen, bei denen sich jeder Wunsch erfüllte.

Diese Höhle war groß, die Wände geschmückt mit auffälligen Malereien vergangener Zeiten. Die Wände und der Boden waren glatt geschlagen.

Genau in der Mitte hing ein großer Baldachin mit aufwendigen Stickereien unter dem sich drei Diwane mit Seitenbezügen um eine kleine Tafel gruppierten. Sie standen erhöht auf einer kleinen Plattform, deren Rand mit prächtigen Schnitzereien versehen war.

Auch die restliche Einrichtung sprach von Luxus und Annehmlichkeiten. Ich erhaschte einen kurzen Blick in eine kleine, anliegende Höhle, die nur durch einen durchscheinenden Vorhang von dem Hauptraum getrennt war. Darin befand sich das Nachtlager. Es lag in einer künstlichen Bodenmulde und war nicht nur mit dicken Fellen gepolstert, sondern auch mit den feinsten Leinen die mir jemals vor Augen gekommen waren, bedeckt.

Und dann die Pflanzen. In jeder Ecke, auf jeder freien Fläche waren sie zu finden. Es war als hätte jemand versucht den Wald und die Natur in diese Höhlen zu bringen. Und es war ihm oder ihr gelungen.

Es war erstaunlich, was die Ailuranthropen in den wenigen Jahren in den Höhlen errichtet hatten, aber wahrscheinlich wollten sie sich einfach nur eine Heimat schaffen, denn auch wenn die Sicherheit sie hergelockt hatte und es hier wenigstens Magie gab, es war nicht Ailuran.

Doch so schön all dieser Wohlstand war, er berührte mich nicht. Es wäre mir auch gleich gewesen, wenn sie mir einfach nur ein Lager auf den Korridoren bereitet hätten. Trotzdem rang ich mir ein kleines Lächeln an, denn Priesterin Neitha schien auf eine Bestätigung zu hoffen. „Diese Höhle ist wunderschön.“

„Ja, diese Arbeiten sind einmalig.“ Sie strich mit der Hand über das Antlitz unserer Göttin, das mit geschwungenen Linien auf der Wand verewigt war. Das Bild wirkte so echt, so als stammte es aus der Welt der Götter. „Leider weilt der Künstler nicht mehr unter uns.“

Wie wahrscheinlich ein Großteil des Volkes.

Priesterin Neitha seufzte und versuchte dann zu ihrem Lächeln zurück zu finden. „Es gibt hier auch eine öffentliche Badehöhle. Nur den Gang nach rechts runter. Vielleicht wäre es angebracht sie vor den Festlichkeiten noch einmal aufzusuchen. Ach, und bevor ich es vergesse, gleich wird auch noch eine Schneiderin zu euch kommen. Zwar reicht die Zeit nicht mehr aus um euch beiden ein Gewand zu nähen, aber sie sagt, dass sie noch etwas in ihrer Kollektion hat, das angemessen für einen solchen Anlass ist.“ Die Geistreden an das bevorstehende Fest ließen dieses glückliche Lächeln zurückkehren. „Und damit muss ich mich auch leider verabschieden, so ein Fest organisiert sich nämlich nicht von allein.“

Sie lächelte uns an, erwartete offensichtlich eine Reaktion, aber keiner von uns beiden war dazu imstande. „Kann ich bevor ich gehe noch etwas für euch tun?“ Sie sah von einem zum Anderen. „Braucht ihr noch etwas? Vielleicht ein köstliches Mahl? Ihr müsst ja völlig ausgehungert sein. Ja, ich werde noch kurz die Küche aufsuchen und euch etwas bringen lassen. Das …“

„Pascal“, sagte Anima da völlig unerwartet. Ihr leerer Blick schien sich ein wenig zu klären. „Wo ist er?“

„Ähm … wer?“ Priesterin Neitha blickte unsicher von Anima zu mir. Nicht zu wissen wovon Occino sprach schien sie nervös zu machen.

„Sie redet von einem unserer Reisebegleiter, dem jungen Magier“, half ich ihr und musste im gleichen Moment an Aman geistreden. Das letzte was ich gesehen hatte war wie er von den Kriegern in Gewahrsam genommen wurde und jetzt musste ich feststellen, dass ich seitdem nicht mehr darüber Geistreden gehalten hatte, was aus ihm geworden war. Wie denn auch? Erst erfuhr ich dass mein Fafa im Sterben lag und dann musste ich mich gegen übereifrigen Priestern wehren.

„Ach, Sachmets Brut, der junge Mann ohne Runen.“ Sie runzelte die Stirn, weil sie diese Tatsache verwirrte. Schmets Kinder bekamen bereits mit ihrer Geburt ihre ersten Glyphen und jedes Jahr wurden es mehr bis der ganze Körper damit bedeckt war. Einen Magier zu sehen der nicht ein Zeichen auf der Haut trug war etwas sehr sonderbares. „Ich vermute dass er bei seiner Familie in ihrer Unterkunft ist.“

„Unterkunft?“ Das hörte sich nicht an, als seien sie in Gewahrsam.

Priesterin Neitha lächelte milde. „Die Fremdlinge dürfen sich frei bewegen, solange sie die Höhlen nicht verlassen. Sie haben versprochen friedlich zu bleiben. Außerdem sind hier sehr viele Augen, euch kann nichts geschehen.“

„Ich will ihn sehen“, sagte Anima leise. „Ich will Pascal.“

„Du willst …“ Sie verstummte sofort und warf mir einen unsicheren Blick zu. „Ich soll den Magier zu euch schicken?“

„Ich will Pascal“, wiederholte Anima. Dieses Mal war ihre Stimme noch leiser.

Eine kurze Stille entstand. Priesterin Neitha konnte nicht verstehen was Anima von Sachmets Brut wollte. Sie war Occino, sie war die Verbindung zur Göttin ihres Volkes. Warum also sollte sie so einen Wunsch äußern? „In Ordnung. Ich werde ihn suchen lassen und zu euch schicken.“ Sie griff nach dem schweren Vorhang, der den Eingang verdeckte. „Und … ja, wir sehen uns dann nachher auf dem Fest.“ Sie zögerte noch einen Moment und ich hatte den Eindruck, dass sie noch etwas hinzufügen wollte, doch ihr Mund blieb geschlossen und dann war ich mit Anima alleine – das erste Mal seit einer Ewigkeit, wie es mir erschien.

Ich fühlte mich unwohl, etwas dass ich in ihrer Gegenwart noch nie gespürt hatte. Sie war meine Amicus, meine engste Vertraute, doch nach allem was in den letzten Tagen geschehen war, machte mich das Alleinsein mit ihr nervös.

Ich kaute auf meiner Unterlippe. Ihr leerer Blick war auf den schweren Vorhang gerichtet, als erwartete sie dass er jede Sekunde zur Seite geschoben wurde und Pascal hindurch spazierte. Wann war es geschehen, dass sie seine Gegenwart mehr ersehnte als die ihrer Amicus? „Du magst ihn“, kam es mir über die Lippen und ein sehr ungutes Gefühl breitete sich in mir aus. Sie hatte Gillette doch gerade erst verloren. Die Geistreden die durch meinen Kopf wirbelten konnten nicht wahr sein.

„Ja“, war Animas schlichte Erwiderung. Dann drehte sie sich einfach herum und schritt auf leisen Sohlen hinüber in die Schlafhöhle. Es schmerzte mich sie so zu sehen. Sie schien kaum noch mehr als ein Geist zu sein, eine leere Erscheinung, die im Jetzt feststeckte, obwohl sie nicht mehr hier her gehörte.

Oh Göttin, woher kamen nur diese Geistreden? Das durfte nicht sein. „Ich … ich werde mich waschen gehen“, verkündete ich und verließ eilends die Wohnhöhle. Die Geistrede daran sie auch noch zu verlieren schnürte mir beinahe die Luft ab. Sie auch noch gehen zu lassen … das konnte ich einfach nicht. Und wenn die Pascal brauchte – auf welche Art auch immer – um im Hier und Jetzt zu bleiben, dann würde ich kein Ton dagegen sprechen.

Die Badehöhle zu finden war nicht schwer. Nicht nur das mir viele Ailuranthropen mit feuchten Haaren und nassen Handtüchern entgegen kamen, sie war wirklich nur den Gang hinunter. Es war eine große Höhle, mit vielen unterirdischen Wasserbecken, die mit der Zeit von der Natur gebildet wurden. Auch hier hatten die Ailuranthropen ihre eigene Note mit Wandgemälden und Skulpturen hineingebracht und doch alles sehr natürlich gelassen. Meterhohe Stalagmiten säumten die Ränder. So hoch, dass sie die Stalaktiten über dich fast berührten.

Als ich einen komischen Blick von der Seite bekam, stellte ich mich absichtlich so zur Wand, dass die Zeichnung der Bastet zur Wand ging. Ich wollte nicht dass sie sie sahen. Es war … unangenehm. Ich wollte nicht im Mittelpunkt stehen, nicht auf diese Art. Daher sah ich mich nach den Handtüchern um, die fein säuberlich an der Wand in Regalen gestapelt waren. Ich bediente mich einfach unauffällig, wickelte es mir um die Hüfte und stieg dann in ein Vorbecken, um den gröbsten Dreck abzubekommen – genau wie am Fluss, kurz bevor ich Jaron bemerkt hatte, wie er mich beobachtete. Ich hatte ihn zur Rede gestellt und war dann in den Wald gegangen. Zu Sian, der acht Jahre auf mich gewartet hatte und jetzt tot war.

Eine Berührung an der Schulter lief mich erschrocken herumwirbeln. Wasser spritzte zu allen Seiten auf, doch es war nur ein junger Mann, der mich mit ernstem Gesicht musterte. „Bist du in Ordnung?“

„Ja ich …“ Ich presste die Lippen aufeinander.

„Warum weinst du dann?“

Ich griff an meine Wange und wirklich, dort waren schon wieder Tränen. Noch nie in meinem Leben hatte ich so viel geweint wie in den letzten Tagen.

Der junge Mann hockte sich im Wasser vor mich. „Du brauchst nicht mehr weinen. Hast du es denn nicht gehört?“

Ich zögerte, schüttelte dann aber den Kopf, obwohl ich eine Ahnung hatte, worauf er hinaus wollte.

„Die Göttin ist wieder bei uns.“ Sein Gesicht erstrahlte vor Glück. „Occino ist zurückgekehrt und sie hat eine Auserwählte mitgebracht.“

Das Lächeln das ich aufsetzte fühlte sich wie ein Krampf an und so wie er mich ansah, war ich wohl auch nicht sehr überzeugend. Aber ich hatte einfach kein Lächeln mehr übrig. Ich hatte für das alles keine Kraft mehr.

 

°°°

 

Meine Haare waren noch feucht, als ich zu Anima in die Höhle zurückkam. Sie lag in dem kleinen Raum auf dem großen Lager, den Kopf auf Pascals Schoß. Ihre Augen waren geschlossen, aber ich glaubte nicht dass sie schlief, nicht so wie sie sich an Pascals Hosenbein Festklammerte.

Ich hörte das Murmeln seiner Stimme, das verstummte, als ich den durscheinenden Vorhang zur Seite schob. Der Ausdruck in seinem Gesicht war verschlossen. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Er starrte mich einfach nur an, die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengedrückt. In seinen Augen funkelte Wut – Wut auf mich.

„Eben war eine Frau hier“, sagte er bemüht ruhig und senkte den Blick auf Anima. Er strich ihr mit der Hand übers Haar, so behutsam, als glaubte er, sie würde sonst zerbrechen. „Sie hat euch Kleidung gebracht. Für das Fest. Sie liegt da drüben auf dem Stuhl.“

Ich folgte seinem Blick und entdeckte Kleidung aus Voile. Silbern und goldene. Gold war die Farbe des Occino, also musste das andere für mich sein. „Ich … vergelts.“

Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Warum hast du es uns nicht gesagt?“ Seine Lippen verzogen sich unwillig, als er den Blick wieder auf mich richtete. „Du hättest es uns sagen müssen.“

Mein Mund klappte auf und gleich wieder zu. Ich wusste genau was er meinte. Ich hätte ihnen sagen sollen, was ihnen bevorstand, wenn sie bei uns blieben. Aber ich hatte geschweigen.

„Ist das alles? Kein Wort?“

„Ich weiß nicht was du von mir hören willst.“

„Ich will wissen warum du uns nicht gesagt hast, dass wir gefangen genommen werden, wenn wir euch begleiten? Wir haben dir vertraut.“

„Ich kann nicht gegen meine Göttin arbeiten und Jaron und Licco waren der Meinung, dass ihr zu viel wisst.“

„Das ist deine Entschuldigung?“ Er schnaubte verbittert. „Wir haben dir vertraut, Lilith. Wir haben dir geglaubt und jetzt sitzen wir hier fest und kommen nicht mehr weg. Weißt du überhaupt was sie mit meiner Gran gemacht haben? Und mit Luan?“

Ich erinnerte mich daran, dass Luan sich auf die Krieger gestürzt hatte, doch was danach geschehen war lag im Verborgenen, da ich mit Licco mitgegangen war. Ich traute mich kaum den Mund zu öffnen. „Priesterin Neitha hat gesagt ihr wurdet alle in Unterkünfte untergebracht.“

„Unterkünfte?“ In seinem Gesicht stand der Unglaube. „Das ist eine scheiß Höhle mit ein paar Decken auf dem Boden. Luan wurde niedergeschlagen und als meine Gran versucht hat einen von diesen Machos daran zu hindern mir ein Messer an die Kehle zu halten, hat man ihr fast den Arm gebrochen!“

„Nicht schreien“, sagte Anima leise. Ihr Griff wurde noch ein wenig fester.

Um sich zu beruhigen atmete Pascal tief ein, doch die Wut siedete noch immer in seinen Augen. „Wir haben dir echt vertraut, Lilith. Keiner hätte geglaubt dass du zu sowas fähig bist.“

„Ich hatte keine Wahl!“, fauchte ich ihn an. Es war so ungerecht, dass er mir die Schuld geben wollte. Ich hatte versucht Licco davon zu überzeugen sie gehen zu lassen – wenn auch nur einmal – aber ich hatte es versucht. „Meine Loyalität gehört meiner Göttin, meinem Volk, ich konnte nicht anders handeln, sonst hätte ich sie verraten! Was hättest du getan?! Ich habe fast alles verloren, ich kann nicht auch noch das aufgeben, was übrig ist!“ Ohne ihm die Gelegenheit für eine Erwiderung zu geben, schnappte die ich meine Kleidung vom Stuhl und rauschte damit in den großen Hauptraum, wo ich die Kleidung einfach unter dem Baldachin auf dem Boden warf und mich auf einen der Diwane.

Es war so ungerecht. Natürlich verstand ich dass er enttäuscht war, aber ich hatte ihm und auch den anderen Erdlingen oft genug klar gemacht, dass meine Treue einzig und allein meiner Göttin gehörte. Er hatte nicht das Recht sauer auf mich zu sein – niemand von ihnen hatte dieses Recht. Natürlich, es war nicht einfach für sie, aber sie hatten wenigstens noch einander. Ich verlor alles. Meine Welt lag bereits in Trümmern und mit jedem neuen Tag brach ein weiteres Stück von dem mürben Grundgerüst.

Ich hörte Pascals Schritte, bevor ich ihn sah. Er trat unentschlossen an den Baldachin, wagte es aber nicht ihn zu betreten. „Lilith.“

„Lass mich allein.“ Ich wollte keine weiteren Vorwürfe hören. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen.

„Nein, ich …“ Er verstummte kurz. „Ich verstehe deinen Standpunkt ja, Die Situation ist echt scheiße, aber du musst mich auch verstehen. Und du bist nun mal diejenige, auf die wir uns alle verlassen haben. Vielleicht kannst du ja mit irgendjemand reden, damit sie uns gehen lassen. Du bist schließlich die …“

„Ich habe euch nie etwas vorgespielt.“ Ich seufzte tief. „Geh Pascal. Tu was immer du tun musst, aber belästige mich nicht mehr. Ich kann dir nicht helfen und auch niemanden aus deiner Familie.“ Ich konnte ja nicht einmal mir selber helfen.

„Das war es also?“

Ich antwortete nicht und hob auch nicht den Kopf, blieb einfach nur schweigend auf meinem Platz sitzen und verbannte alle Geistreden aus meinem Kopf. Vielleicht gab es eine Lösung für Pascals Problem, doch ich hatte sie nicht.

Er starrte mich lange an, bevor er seufzte und wieder zu Anima in die Schlafhöhle verschwand. Wieder fragte ich mich, was das zwischen den beiden war. Warum er ihr keine Vorwürfe machte, war mir klar. Anima war nicht sie selbst,  nicht seit Gillette zurück in die Mächte gegangen war. Ihr in diesem Zustand etwas vorzuwerfen wäre als wenn man ein Baby dafür verantwortlich machte, dass man selber in einen tiefen Brunnen fiel, aus dem man nicht so leicht entkommen konnte.

Aber seine Wut war auch bei mir falsch. Ich hätte nichts anders machen können.

Lange Zeit blieb ich einfach auf dem Diwan sitzen, doch als Priesterin Mascia in die Höhle gerauscht kam, wusste ich dass es Zeit wurde meinem Schicksal entgegen zu treten.

 

°°°

 

Die Dekoration war Prachtvoll, anders konnte ich es einfach nicht beschreiben. Und nicht nur das, auch die Ailuranthropen hatten sich wie beim Schöpfertag herausgeputzt. Wunderschöne Gewänder, Lachen, fröhliche Gesichter. Sie alle wirkten mit einem Mal so unbeschwert. Das Glück war ihnen wieder holt. Zumindest glaubten sie das.

Ich stand neben Anima auf einem hohen Podest in der Mitte der Eingangshöhle. Ums uns herum drängte sich das Volk. Sie zeigten mit den Fingern auf uns, flüsterten aufgeregt miteinander und freuten sich einfach nur, dass sie diesen Tag noch erleben konnte.

Unbehaglich zupfte ich an der Robe aus der durchscheinenden Voile. Der silberne Stoff glitt wie Wasser über meinen Körper und ließ mich als etwas erscheinen, dass ich gar nicht war: Ihre Auserwählte, die sie aus der Not befreien würde um sie zurück ans Licht zu führen.

Die Robe war an den Seiten bis zur Hüfte geschlitzt, damit die Zeichnung der Bastet für alle sichtbar war. Auch der schlichte weiße Lendenschurz den ich darunter trug, war extra so gewählt, dass er den Blick nicht behinderte.

Anima hatte genau die gleiche Kleidung bekommen, nur in Gold. Eigentlich hätte sie nun neben mir stehen müssen, doch der Platz war leer. Sie hatte sich nicht nur geweigert sich umzuziehen, sie hatte auch angefangen zu schreien, als man sie von Pascal trennen wollte. Deswegen war sie mit dem jungen Magier in der Wohnhöhle geblieben.

Ich wusste nicht was ich davon halten sollte, doch allen war klar gewesen, dass man sie in diesem Zustand nicht dem Volk präsentieren konnte.

Mein Blick schweifte über die vielen Anwesenden und die Festlichkeiten, die in der kurzen Zeit organisiert worden waren. Die Gesichter die mir entgegen strahlten waren mir alle unbekannt. Jeden den ich einmal gekannt hatte, gehörte meiner Vergangenheit an. Es war nichts mehr übrig.

Ich presste die Lippen zusammen und wich den Blicken aus.

Hinter mir standen die Priester und sprachen leise miteinander. Ich wollte nicht hören was sie sagten. Ich wollte nicht einmal hier oben stehen, wo mich alle anstarrten, als sei ich das größte Glück das ihnen zuteilwerden konnte.

Das murmeln der Masse wurde zu einem rauschenden Geräusch im Hintergrund. Hier stand ich, inmitten der Überreste eines ganzen Volkes und ich fühlte mich so allein wie noch nie in meinem Leben.

Und dann spürte ich ihn. Diesen Blick den ich unter tausenden wiedererkannt hätte. Aman.

Er stand mit Vinea und Acco am Rand der Szenerie im Halbdunkeln der Höhle, als wollte er sich vor all dem zurückziehen. Doch er war hier uns starrte mich an, wie all die anderen es auch taten. Und doch war es etwas anders.

Meine Augen musterten ihn. Das letzte Mal hatte ich ihn gesehen, als er in Gewahrsam genommen wurde und auch jetzt schien er unversehrt zu sein. Da waren nur drei leichte Narben auf seiner Wange und die hatte ich ihm beigefügt.

Es schien eine Ewigkeit her zu sein.

Die Ailuranthropen hatten ihm neue Kleidung gegeben. So wie er dort stand, hatte er auch in der Nacht ausgesehen, als ich ihm das erste Mal begegnet war.

„Lasst uns beginnen!“, hallte die laute Stimme von Priesterin Mascia durch die Höhle.

Es dauerte einen Moment bis alles ruhig geworden war, doch dann war es so still, dass es fast unheimlich war.

Oberpriester Ausar trat an den Rand des hohen Podestes und ließ seinen Blick über die erwartungsvollen Gesichter der Ailuranthropen gleiten. „Acht Jahre. Hunger, Krankheit, Leid, dass ist es was wir ertragen mussten, während das Leben langsam aus uns hinaus sickerte. Jeder von uns hat erleben müssen was Kummer heißt, jeder von uns hat Verluste erlitten und vieles hinter sich gelassen. Wir mussten aus unserem eigenen Land fliehen um einen Neuanfang zu machen, doch auch hier haben wir nicht gefunden was wir suchten, denn unsere Göttin war nicht mehr bei uns – zumindest haben wir das geglaubt.“

Er atmete tief aus, hob den Blick um eine übergroße Zeichnung von Bastet an der Wand zu bewundern. „Doch vor wenigen Tagen wurden unsere Gebete endlich erhört. Das Wunder auf das keiner von uns mehr zu hoffen gewagt hatte ist eingetreten. Bastet hat uns eine Nachricht geschickt. Ein junges Mädchen. Und nicht nur sie. Auch Occino ist zu uns zurückgekehrt.“ Er lächelte milde. „Aber ich habe leider nicht nur gute Nachrichten für euch.“

Die Ailuranthropen begannen leise zu tuscheln und tauschten unruhige Blicke aus.

„Mir wurde geraten es für mich zu behalten, doch ich bin der Meinung, dass ihr es erfahren müsst. Occino ist gebrochen.“

Das Tuscheln wurde lauter und einer rief laut was das zu bedeuten hatte.

„Wir wissen es nicht. Sie ist zu uns zurückgekehrt, aber sie ist nicht mehr die, als die sie uns verlassen hat. Es ist ihre Seele. Sie ist umhüllt von Trauer.“ Er wartete einen Moment, bis die aufkommenden Gespräche wieder etwas leiser wurden. „Und es ist nicht das einzige was ich euch mitteilen wollte.“ Er wartete darauf dass alle wieder ruhig wurden uns aufmerksam der tiefen Stimme folgten. „Vor acht Jahren haben wir etwas sehr wichtiges verloren, das Tigerauge. Wir alle haben angenommen dass Sachmets Natis es gewesen waren, die es in ihrer Gier an sich gerissen haben, doch mit der Rückkehr von Occino ist die Wahrheit ans Licht gekommen. Nicht das Volk der Magier du Hexen ist an diesem Unglück schuld, sondern ein grausames Schicksal, wie es nur das Leben schreiben kann.“

Er seufzte. „Als Occino uns entrissen wurde, befand sich das Tigerauge in ihrer Obhut um es vor den Feinden zu schützen. Sie war gezwungen es mit an den Ort zu nehmen, an dem böse Magie sie gebracht hat. Natürlich hat sie alles daran gesetzt es uns wieder zu bringen, doch auch dort gab es gierige Hände, die es für sich beanspruchten. Occino hat es zu uns zurück geschafft, doch das Tigerauge ist für immer verloren.“

Ich hatte erwartet, dass die Ailuranthropen nach dieser Nachricht in Panik gerieten, doch die letzten Jahre hatten sie auf eine Art geprägt, die viel schlimmer war. Sie blieben unheimlich ruhig.

„Aber unsere Göttin hat uns nicht im Stich gelassen. Sie hat nicht nur Occino zu uns zurückgeschickt, sie hat uns auch ein Geschenk von unschätzbarem Wert gemacht: Hoffnung.“ Sein ruhiger Blick legte sich auf mich. „Sie hat uns eine Auserwählte geschickt.“

Als sich alle Blicke in der riesigen Höhle auf mich richteten, wäre ich fast einen Schritt zurück gewichen. Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht dass sie mich so ansahen. Ich war nicht das für das sie mich hielten, aber das konnte ich ihnen nicht sagen. Sie brauchten einen Retter, einen hellen Stern, doch sie hatten nur mich bekommen. Doch das Schlimmste an allem war die Hoffnung die ich in ihren Augen sah, den ich wusste nicht wie ich ihr gerecht werden sollte.

„Lilith ist die dreizehnte Auserwählte in unserem Volk und sie wird heller strahlen als alle vor ihnen, denn ihr wurde eine Aufgabe zuteil, die sie kein anderer vor ihr bewältigen konnte.“ Er streckte mir die Hand entgegen, eine Einladung an seine Seite zu treten, doch ich wäre am liebsten davongelaufen. Ich konnte das hier nicht. Ich war nicht die für die sie mich hielten. Aber ich konnte die Hoffnung in ihren Gesichtern genauso wenig ignorieren.

Oh Bastet, womit nur habe ich diese Bürde verdient?

Ich schluckte und nahm all meinen Mut zusammen um mich neben Priester Ausar zu begeben. Mein Blick huschte dabei hilflos über die Menge. Ich sah Alter und Krankheit, sah die Reste einer ganzen Zivilisation. Ich sah den Untergang.

In meiner Kehle bildete sich ein riesiger Kloß. Ich konnte sie nicht retten. Ich konnte niemanden retten. In den letzten Tagen wurde mir diese Aufgabe so oft überstellt und ich hatte sie nicht einmal bewältigen können, also wie sollte ich das hier vollbringen?

Wieder spürte ich diesen eindringlichen Blick. Aman beobachte mich. Er ließ sich seine Geistreden nicht anmerken, aber er war hier. Er wollte hier sein. Das hatte er mir selber gesagt.

Priesterin Mascia stach mir ungeduldig in den Rücken. „Sprich zu ihnen“, zischte sie leise.

Ich kniff die Lippen zusammen. Was sollte ich ihnen den sagen? Ich wollte nichts versprechen was ich nicht halten konnte.

Sprich aus deinem Herzen.

Mir stellten sich die Nackenhärchen auf. Diese lautlose Stimme … ich kannte sie. Aber …

Und plötzlich waren die Worte da. „Ich werde alles tun was in meiner Macht steht, um euch zu helfen.“ Mehr konnte ich nicht versprechen, denn alles andere wäre eine Lüge gewesen.

Priester Ausar lächelte mich an, doch seine nächsten Worte bekam ich nicht mehr mit. Meine Augen hatten jemanden entdeckt, denn ich kannte. Luan. Er stand dort unten zwischen den ganzen Ailuranthropen neben Destina. Seine Stirn war gerunzelt, doch sein Blick war deutlich. Er wollte mit mir sprechen – jetzt.

Das konnte ich nicht. Ich wusste war er von mir wollte, doch ich hatte keine Antworten für ihn.

Ich wusste nicht ob es nur einen Moment gedauert hatte, oder vielleicht auch ein ganzes Leben, aber ich konnte hier nicht länger stehen bleiben. Ohne auf die Priester zu achten drehte ich mich herum und verschwand von dem Podest, während die Ailuranthropen zu den aufgebauten Tafeln und Tischen eilten, um dieses freudige Erlebnis zu feiern.

Es war feige von mir, aber ich konnte keinen von ihnen gegenübertreten. Nicht meinem Volk und auch nicht den Erdlingen.

Ich konnte das alles einfach nicht. Ich war nicht die Retterin für die sie mich alle hielten.

Mehr als ein Ruf begleitete mich, als ich eilig die Höhle verließ und in den nächsten Gang flüchtete, wo ich sofort wie angewurzelt stehen blieb. Dort an der Wand lehnte Jaron und er bedachte mich mit einem so bitteren Blick, dass ich schlucken musste.

„Na, wie fühlt es sich an von allen bewundert und angehimmelt zu werden?“ Er musterte mich und meine Roe abschätzig. „Das war doch schon früher dein größter Wunsch gewesen. Wer hätte geglaubt, dass er wirklich mal in Erfüllung geht?“

Neben ihm erhob sich Mochica. Ihr vernarbter Schädel wirkte in dem diffusen Licht der Höhle fast wie eine Fratze des Todes.

Ich wandte den Blick ab, um es nicht sehen zu müssen. „Du hast doch eine Ahnung. So hatte ich das nie gewollt.“

„Ach nein? Wie denn dann? Sollen sie dich auch noch auf Händen tragen? Frag sie nur, es würde mich nicht wundern wenn sie es wirklich machen.“ Er neigte den Kopf zur Seite und lauschte auf das ausgelassene Lachen und die Freude, die aus der Vorhöhle zu uns drang. „Ach, jetzt bist du dir auch noch zu fein mit mir zu sprechen.“

„Nein, bin ich nicht. Und wenn du es wissen willst: Ja, ich wollte immer Ruhm, aber nicht auf diese Art. Ich wollte etwas leisten, ich wollte für meine Taten anerkannt werden und nicht für ein Zeichen, das mich zu einer Aufgabe verdammt, die ich nicht mal kenne.“ Ich presste die Lippen zusammen. Warum rechtfertigte ich mich vor ihm eigentlich?

„Ich habe dir deine Aufgabe genannt“, sagt er leise. „Du hast abgelehnt.“

„Das ist nicht meine Aufgabe!“

Jaron drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.

„Sag es ihr“, forderte Mochica sie auf.

Er lachte abgehackt und legte den Kopf in den Nacken. „Was soll das bringen? Sie ist nur ein egoistisches Natis.“

Wie er das sagte, so abfällig. „Und das von einem selbstverliebten Steinkopf!“, fauchte ich ihn an und wirbelte herum. Zwei Schritte weit kam ich, dann sprang Mochica mit gesträubtem Fell vor mir.

„Sich etwas Glück zu wünschen bedeutet nicht dass er selbstverliebt ist“, zischte sie mich an.

„Was?“

„Du bist wirklich nur ein dummes Natis, denn du verstehst es einfach nicht“, spie sie mir entgegen. „Jaron ist nichts mehr geblieben. Er hat alles verloren. Seine Familie, seine Heimat, sein Herz.“

Was? Jaron hatte eine Gefährtin gehabt?

„Und auch das Natis, das sie in sich trug.“

Oh Göttin.

„Er tut alles für das Volk. Er hat sein ganzes Leben aufgegeben, alles verdrängt was ihn ausgemacht hat, doch dieses Sehnen lässt sich einfach nicht verleugnen. Es kommt immer wieder.“

Ich schüttelte den Kopf, weil ich es nicht hören wollte. Ich hatte mit meinem eigenen Leid zu kämpfen.

„Eine Familie“, flüsterte sie. „Alles was er sich wünscht ist eine Familie, doch es gibt keine Frau mehr die ihm ein Natis schenken könnte; nicht in diesem Volk.“

Bei Bastet. Ich wirbelte zu Jaron herum, doch der Platz an dem er gestanden hatte war leer. Er war gegangen, ohne dass ich es bemerkt hatte.

„Und dann bist du gekommen und er hat seine Chance auf seinen einzigen und sehnlichsten Wunsch gesehen. Ein eigenes Natis.“

Ich schluckte hart. Jaron hatte das alles getan weil er sich eine Familie wünschte, weil er etwas Glück in seinem Leben wollte. Es waren keine bösen Absichten dahinter gewesen. Das war … irreal. „Er hat versucht mich zu zwingen“, verteidigte ich mich und wusste nicht einmal warum. Ich hatte nichts Falsches getan.

„Weil du so kategorisch abgelehnt hast, vom ersten Moment an.“

Ich schüttelte den Kopf, wollte dieses Gefühl nicht zulassen. „Weil ich nicht bei ihm liegen kann.“

„Du willst es nicht!“, fauchte sie mich an und trat einen Schritt auf mich zu. Das Fell in ihrem Nacken war gesträubt. „Er hat so viel aufgegeben. Er hat Licco geschützt, unzählige Male und du bist nicht einmal bereit ihm diesen kleinen Wunsch zu erfüllen!“ Mit einem aggressiven Fauchen wandte sie sich von mir ab und rannte hinter Jaron her.

Ich blieb alleine zurück und versuchte mir dieses Schuldgefühl nicht einreden zu lassen. Es tat mir Leid für ihn, aber deswegen konnte ich doch nicht einfach meinen Willen untergraben. Er war nicht nur den falschen Weg gegangen, um sein Ziel zu erreichen, er hat auch versucht mich zu entmündigen. Und egal wie sehr sein Schicksal mich berührte, egal ob wir bis vor kurzem noch Amicus gewesen waren, diese eine Sache konnte ich einfach nicht tun.

Alles was er sich wünscht ist eine Familie.

Ich stand noch lange da und schaute in die Richtung, in die sie verschwunden waren. Erst als ich Schritte hörte die in meine Richtung kamen, setzte ich mich in Bewegung. Ich musste hier weg, musste Geistreden und dass konnte ich hier einfach nicht.

 

°°°

 

Langsam ließ ich den Vorhang zu der Höhle meines Fafas zufallen und lehnte mich außen an die Wand. Er sah noch schlechter aus als vor ein paar Stunden. Es tat mir weh ihn so zu sehen, doch gegangen war ich nur, wie Licco darauf bestanden hatte. Fafa brauchte Ruhe und ich auch.

Das leise Plätschern des unterirdischen Flusses war das einzige Geräusch in dieser Höhle.

Wie hatte alles nur so schlimm werden können? Warum nur hatte das Schicksal den Ailuranthropen so schrecklich mitgespielt?

Ich spürte schon wieder die Tränen in meinen Augen sieden, als meine Kraft mich einfach verließ. Ohne dass ich etwas dagegen unternehmen konnte, sackte ich an der rauen Felswand zusammen.

Mein Fafa würde sterben.

Und ich konnte nichts dagegen tun. Und das obwohl ich die Auserwählte war und es in meiner Macht lag.

Manchmal ist es vorgekommen, dass der Auserwählte noch etwas erledigen musste, bevor er seiner Bestimmung folgen konnte.

Aber was war diese eine Sache? Was musste ich tun, bevor ich mein Schicksal erfüllen durfte? Ich wusste es nicht und das machte mich wahrsinnig. Es lag in meinen Händen meinen Fafa zu retten, doch ich konnte es einfach nicht, weil ich dieses Hindernis auf meinem Weg nicht fand.

Bastet, bitte, hilf mir. Erlass mir diese eine Aufgabe, damit ich ihn retten kann. Ich wollte nicht noch jemanden verlieren. Das würde ich nicht ertragen. Dich meine Göttin blieb stumm. Ich bekam kein Zeichen und langsam aber sicher begann die Verzweiflung mich aufzufressen.

Ich musste hier weg, so schnell wie möglich. Ich musste … ich musste … ich wusste es einfach nicht. Ich sprang auf die Füße und rannte los. Einfach nur weg.

 

°°°

 

Ich sah nicht auf, hörte nur die Schritte und dennoch wusste ich sofort, dass es Aman war, der mich in diesem verlassenen Teil der Höhlen gefunden hatte. Es war wie eine Vibration in der Luft, die nur ich spüren konnte. Sie ging von ihm aus – immer.

Seine Füße waren alles, was in meinem Sichtfeld erschien, dann war da nur noch das entfernte Tropfen in der Höhle zu vernehmen.

Ich hatte mich hier her zurückgezogen, um allein zu sein, mich auf den Boden gesetzt und die Arme fest um meine Beine geschlungen, um an dem ganzen Grauen nicht zu zerbrechen, doch mit meinem Reden im Kopf allein zu sein war fast schlimmer als meinen Fafa so schwach auf seinem Lager zu sehen. „Mein Fafa, er ist … er hat die Krankheit“, kam es mir leise über die Lippen. „Er wird sterben. Alle sind tot, und jetzt wird auch er noch sterben. Und das nur weil ich nicht weiß was ich tun muss.“

Es laut auszusprechen machte es viel realer, doch im Moment spürte ich nicht die Trauer die mich erfüllen sollte. Da war nur eine unbändige Wut. Wut über meine Machtlosigkeit, Wut über meine Unfähigkeit. Ich spürte nichts als Wut und ungeweinte Tränen, die in meinen Augen siedeten. Hätten wir doch nur das Tigerauge mitgebracht, dann könnte ich ihm helfen. Aber so war ich wie immer nutzlos. Unwichtig, unbedeutend, klein.

„Ich kann nichts dagegen tun“, flüsterte ich. Als ich zu ihm aufsah, flehte mein Blick um Hilfe. Er war ein Krieger, er war dazu da dem Volk zu dienen und zu helfen – wenn auch nicht meinem Volk. „Was soll ich tun, Aman? Ich kann ihn doch nicht einfach sterben lassen.“

Aman schüttelte den Kopf. „Es gibt nichts was du tun kannst. Manchmal sind selbst die Götter machtlos“, gab er ohne Umschweife schwach zurück.

Machtlos, dass ich nicht lachte. Die Macht der Götter existierte noch, natürlich, nur war sie für unser Volk verloren, entrissen von gierigen Händen, ohne zu wissen was das für uns bedeutete.

„Manchmal muss man das Unausweichliche akzeptieren, Lilith.“

Als ich auf seine Worte nicht reagierte, ließ er sich neben mir auf dem kalten, felsigen Boden sinken. Selbst in einer solchen Situation nahm ich wahr, wie nah wir uns plötzlich waren. Ich spürte seine Wärme, seine Nähe, seine Schulter, die leicht an meiner lehnte und bildete mir sogar ein seinen Herzschlag in der Stille hören zu können.

„Ich kann dir keine Worte des Trosts geben, so sehr ich mir das auch wünsche, es gibt keine.“

Da sprach er wahr. Er selber kannte das Gefühl nur zu gut, auch er hatte seine Familie verloren.

„Dir bleibt wenigstens noch die Zeit dich zu verabschieden.“ Zeit die ihm und seiner Sicuti nicht geblieben war.

Ich zog die Beine dichter an meinen Körper. „Das ist ungerecht.“

„Es ist nie gerecht.“ Vorsichtig, fast zögernd griff er nach meiner Hand und verschränkte seine Finger damit. Als ich sie nicht wegzog, drückte er sie leicht. „Niemals“, fügte er noch leise hinzu.

Die folgende Stille umgab uns wie ein unsichtbarer Kokon. Da war nur seine Wärme. Ich versuchte mich darauf zu konzentrieren, um die Geistreden in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen und musste mich daran erinnern, was das letzte Mal geschehen war, als wir alleine so dicht beieinander saßen.

Finis.

Wie schon in dieser einen Nacht geisterte dieses Wort plötzlich durch meinen Kopf. Ich erinnerte mich daran welchen Frieden er mir in diesem kurzen Moment geschenkt hatte und wollte es wieder spüren. Ich wollte Frieden. „Lass mich vergessen, Aman“, flüsterte ich und sah zu ihm auf. „Wie im Wald.“ Dort wo alles andere plötzlich unbedeutend geworden war, nur weil er bei mir war. „Hol mich aus diesem Abgrund. Bitte.“ Eine Träne löste sich und rollte über meine Wange.

Aman sagte nichts. Er hob seine freie Hand und wischte mir die Träne weg. Doch er küsste mich nicht.

„Bitte“, flehte ich erneut. Ich konnte das alles nicht mehr ertragen.

„Du bist so stark, kleine Kriegerin.“ Seine Hand lag warm auf meiner Wange. „Es gibt nur wenige die nicht unter deiner Last zerbrechen würden.“

Ich senke die Augen. Ich war nicht stark. Ich war ein Nichts. All diese Verantwortung in meinen Händen und ich wusste nicht wie ich damit umgehen sollte. „Bastet hat einen Fehler gemacht.“ Es war wohl das erste Mal, dass ich diese Worte laut aussprach. Und es tat noch mehr weh als sie nur leise geistzureden. „Ich kann das nicht.“

„Warum behauptest du das?“

„Weil es so ist“, gab ich bitter wieder und drehte mich von ihm weg. Seine Berührungen verschwanden und die Kälte die nichts mit der Temperatur der Höhle zu tun hatte, kehrte zu mir zurück. „Ich bin ein niemand.“

„Du bist Lilith“, sagte er leise. „Du bist die Tochter vom großen Zaho und die Brestern von Licco. Du bist der größte Dickschädel, der mir jemals über den Weg gelaufen ist und du bist eine Kriegerin.“

Ich schnaubte. „Ich bin keine Kriegerin.“

„Nein, keine Kriegerin der Bastet. Ich spreche von deinem Wesen, von deiner Natur. Natürlich, du bist ungestüm und handelst oft ohne über die Folgen nachzudenken, doch wie sagtest du einmal zu mir? Du hast das was eine Kriegerin braucht, den Willen und das Herz.“ Er rutschte näher an mich heran, beugte sich leicht vor um mir ins Gesicht sehen zu können. „Und ich verbiete dir deinen Willen brechen zu lassen.“

Seine Worte waren wie eine Liebkosung. Ich spürte sie und auch wenn ich sie glauben wollte – so sehr – so konnte ich es nicht. Mein ganzes Leben lang hatte ich nur eines werden wollen, doch das Schicksal schien es mir nicht zu gestatten.

„Ich weiß nicht wie ich meinem Volk helfen soll. Sie Priester sagen, dass ich noch etwas tun muss, bevor mir meine Aufgabe eröffnet wir, aber ich weiß nicht was.“

„Dann geistrede darüber.“

„Das habe ich schon getan“, gab ich schwach zurück. „Ich weiß es einfach nicht.“

„Lilith.“ Er nahm mein Kinn zwischen die Finger und wandte es ihm zu, bis ich seinem Blick nicht mehr ausweichen konnte. „Du bist nicht dumm. Auch wenn du es jetzt noch nicht weißt, du wirst eine Lösung finden. Das weiß ich.“

„Woher?“ Woher nahm er diese Sicherheit? Woher wollte er wissen, dass das alles keine riesengroße Farce war und ich gar nichts ausrichten konnte?

„Weil ich dich kenne.“ Seine Worte waren nur ein leises Flüstern. „Weil ich dich sehe.“

Bei diesen gehauchten Worten überlief mich eine Gänsehaut. Und als er sich dann vorbeugte, wiedersetzte ich mich seinem Tun nicht.

Weich. Seine Lippen waren so weich und ich nahm diese Gabe nur zu gerne an. Seinen Geschmack, seinen Geruch. Nein, es war nicht nur das Vergessen, was mich zu ihm lockte, es war Aman, so wie er war, mit all seinen Ecken und Kanten. Und auch mit seinen Fehlern – denn die hatte jeder.

Der Kuss war sanft, lockte mich ihm in eine Welt zu folgen, die für mich noch so unerforscht war und ich konnte nicht wiederstehen. Er gab mir nicht nur ein wenig Frieden, da war noch so viel mehr. Und in diesem einen Moment gab ich endlich all dem nach, was ich die ganze Zeit zu verdrängen versucht hatte. Ich gab meiner Sehnsucht nach.

Meine Hände fanden einen Weg an seine Brust, strichen hinauf zu seinen Schultern und den Nacken, bis sie sich tief in seine Haare vergraben konnten. Und das Geräusch das er dabei von sich gab … heiße Schauer überliefen meinen Rücken und ganz ohne mein Zutun schwang ich ein Bein über seinen Schoß und setzte mich rittlings auf ihn. Ich konnte gar nichts dagegen tun. Ich wurde von ihm magisch angezogen.

Ein Bann, ein Zauber, er verführt dich.

Ich ignorierte diese kleine Stimme in meinem Kopf. Selbst wenn es so war, in diesem Moment war es mir gleich. Ich wollte ihn bei mir spüren, brauchte diesen Kuss so dringend.

„Bei Seth“, raute Aman an meinen Lippen. Er schlang die Arme um meinen Rücken, zog mich noch dichter an sich und hielt mich so in einem Käfig, den ich nicht entkommen konnte, selbst wenn ich es wollte.

Meine Berührungen wurden drängender. Es war das Sehnen, dass mich dazu trieb, seine Wäre und dieses Kribbeln, dass mit jedem verstreichenden Moment stärker wurde.

Die Gefühle drohten mich zu überwältigen. Ich hatte sowas noch nie gespürt und es war wie ein Rauch. Dieser Sucht konnte ich einfach nicht wiederstehen.

Langsam wurde sein Griff gieriger. Eine Hand löste sich von meinem Rücken, strich über mein Bein, meinen Bauch, bis hinauf zu meiner Brust. Der dünne Stoff der Robe war dabei kein Hindernis für ihn. Und dann berührte er diese eine kleine Stelle. Ich gab ein Geräusch von mir, wie es noch nie über meine Lippen gekommen war, ein Geräusch wie ich es nie mehr vergessen würde, besonders als ich seine Reaktion darauf bemerkte. Seine Muskeln spannten sich an, so als müsste er sich beherrschen. Doch ich wollte nicht dass er sich beherrschte. Ich wollte dass er losließ, so wie ich es gerade tat, ich wollte dass dieser Kuss ihn zu verschlingen drohte, so wie es mir erging.

Ich war nicht geübt, ich hatte keine Ahnung was ich da tat. Und trotzdem lösten meine Lippen sich von seinem Mund und begannen eine Wanderung über sein Kinn.

Die leichten Stoppeln kratzten und waren gleichzeitig eine weitere Berührung, die er mir schenke. Ich hörte ein leichtes Grollen aus seiner Brust, einen Ton der einen Bereich in meinem Körper weckte, von dem ich gar nicht wusste, dass er schlief. Es war nur ein leichtes Ziehen in meinem Unterleib, etwas das die Begierde in mir, die so stark nach vorne drängte, noch stärker wurde.

Ich wollte das hier, ich wollte das alles.

Ich wollte Aman.

Mein Herzschlag beschleunigte sich. Er griff wieder nach meinem Gesicht, hielt es fest und nahm meine Lippen ein weiteres Mal gefangen.

Finis, flüsterte mein Geist. Mein Herz, meine Seele, mein ganzes Sein. Der Teil der mich zu einem Ganzen machte.

Amans Hand strich über meinen Körper, berührte jedes Stück Haut dessen er habhaft werden konnte, während seine geschickte Zunge sich einen Weg in meinen Mund bahnte und dort ein weiteres Gefühl auslöste, dass durch meinen Magen direkt in meinen Unterleib schoss.

Ich spürte seine raue Hand an meinem Bein. Seine Nägel kratzten über die weiche Haut, immer höher. Ich war so in unseren Kuss versunken, dass ich erst verstand was er da tat, als sein Finger über die Stelle strich, die noch kein Mann vor ihm berührt hatte.

Von der plötzlichen Empfindung und der Dreistheit dieses Handels überrascht, drückte ich ihn hastig von mir weg und starrte ihn aus großen Augen an. Es war nicht so dass es unangenehm war, aber … da war es wieder, dieses Aber.

Aman blieb ganz ruhig. Sein Atem ging heftiger und ich spürte seinen heftigen Herzschlag unter meinen Händen. „Hab keine Angst. Es ist in Ordnung.“

„Nein, ich …“ Der Finger lag nicht mehr an dieser Stelle und doch konnte ich ihn dort noch fühlen. Ich konnte spüren wie ich dort erblühte und verging beinahe vor Sehnsucht es noch einmal zu spüren. War das was andere fühlen, wenn sie bei einem Mann lagen? War es richtig, oder war es … weil er ein Lykanthrop war?

Diese Frage ernüchterte mich derart, dass ich von ihm aufstehen wollte, doch er packte mich sofort und hielt mich fest.

„Nicht“, flüsterte er. „Verschwinde jetzt nicht.“

Was sollte ich denn dann tun? Ich konnte nicht bleiben, ich konnte … das nicht tun. Er war ein Lykanthrop. „Aman, ich …“

„Schhh.“

Ich presste die Lippen aufeinander, schüttelte dann aber den Kopf. Ich musste ihn irgendwie klar kriegen, aber solange er mir so nahe war, war das einfach nicht möglich. Ich starrte ihn an, wollte bleiben, wollte das hier fortführen und wollte gleichzeitig schnell weglaufen um den zu entgehen.

Aman schluckte schwer als wüsste er, dass ich kurz davor stand die Flucht zu ergreifen. Sein Griff verstärkte sich, aber er wich meinem Blick nicht aus. „Ich werde dich nicht zwingen, es ist deine Entscheidung.“

Meine Entscheidung? Da gab es nichts zu entscheiden. Das hier … es durfte nicht sein. Ich sollte es nicht tun. Ich sollte es nicht wollten. Nein ich … ich wollte es gar nicht. Ich hatte den Kuss gewollt. Nicht mehr.

„Außer …“ Er verstummte, forschte mit seinen Augen in meinem Gesicht ohne zu wissen was gerade in meinem Kopf vor sich ging. „Willst du es?“, fragte er sehr leise. „Soll ich dich zwingen?“

Ich wusste warum er das wissen wollte. Er gab mir die Möglichkeit alle Verantwortung für mein Handeln von mir zu schieben. So wie beim ersten mal.

Hör nicht auf, mach weiter. Das war es, was du gesagt hast.

Auch da hatte er mich nicht gezwungen. Er hatte mir die Wahl gelassen, auch wenn er im ersten Moment versucht hatte mich zu unterwerfen. Aber … nein. Nein, das war nicht richtig. „Nein, kein Zwang.“

Er stieß die Luft so erleichtert aus, dass ich fast lächeln musste. Doch als er seine Hand dann wieder über mein Bein streichen ließ, griff ich blitzschnell zu und hielt sie fest.

„Ich kann nicht“, sagte ich auf seinen fragenden Blick. „Ich darf das nicht.“

Er drückte die Lippen aufeinander, wich meinem Blick aus und packte mich etwas fester, als wolle er mich nie wieder gehen lassen. Enttäuschung, das war es was ich hier vor mir sah. Aman war enttäuscht. „Willst du es denn?“

Was?

 

°°°°°

Kapitel Elf

 

Willst du es denn?

Eine einfache Frage, dessen Antwort alles verändern konnte.

Ich blickte in diese dunkeln Augen, spürte noch immer seine Lippen, die mich einen Augenblick alles um mich herum hatten vergessen lassen. Alles was geschehen war, das ganze Leid. Aber … „Wie kannst du mich das fragen? Das ist unpassend!“ Ich sprang so schnell von seinem Schoß auf, dass er dieses Mal gar nicht die Möglichkeit bekam mich festzuhalten.

Aman runzelte die Stirn. „Unpassend?“

„Ja. Ja, unpassend.“ Hastigen Schritts entfernte ich mich von ihm und versuchte das Gefühl des Verlusts zu verdrängen. Nur ein Kuss, das war alles was ich gewollt hatte. Mehr als das durfte nicht sein und selbst der war eigentlich schon zu viel. Er wusste das doch, er war den gleichen Regeln unterworfen. Sie zu brechen wäre Verrat.

„Lilith.“

Ich schüttelte den Kopf und wandte ihm den Rücken zu.

„Lilith, sieh mich an.“

Nein. Nein, nein , nein. Ich schlang die Arme um meinen Körper. Der Verlust seiner Wärme war wie ein Schmerz. Mein Herz zog sich krampfhaft zusammen, aber ich durfte nicht nachgeben.

Willst du es denn?

Es war völlig egal was ich wollte, ich durfte es einfach nicht. Und er wusste es.

Aber das hatte er ja auch gar nicht gefragt.

Zögernd blickte ich über die Schulter. Aman saß noch immer an der Wand. Er hielt sich mit den Fingern die Nasenwurzel, als müsste er im Geist eine schwere Frage klären. Seine Wangen waren leicht gerötet, seine Lippen von unseren Küssen geschwollen und ich bildete mir sogar ein einen Hauch der Hitze die von seinem Körper ausging bis hier her zu spüren.

Allein sein Anblick und die frischen Erinnerungen an seine Berührungen zogen mich sofort wieder in seinen Bann. Ich wollte nichts anderes als zu ihm gehen und sehen wohin das ganze führte.

Willst du es denn?

Genau das war seine Frage gewesen. Er hatte nicht wissen wollen ob wir das durften, sondern ob ich das wollte.

„Ja“, sagte ich sehr leise. Ein übermächtiger Teil in mir bettete sofort darum, dass er es nicht gehört hatte, aber da war auch dieser andere,  viel viel kleine Teil, der neugierig die Ohren spitze. Er wollte gehört werden, er wollte so viel mehr als das was wir getan hatten.

Sehr langsam ließ Aman seine Hand sinken und starrte mich an, als würde er mich zum ersten Mal wirklich sehen. „Was hast du gesagt?“ Unglaube, das war es was mit seiner Stimme mitklang.

Mein Mund öffnete sich einen Spalt, aber kein Ton kam heraus.

„Sag es noch mal“, forderte er mich heraus, doch ich wagte es nicht. Aman sprang auf die Beine und stürmte auf mich zu, als wollte er mich einfach umwalzen. Er packte mein Gesicht zwischen den Händen und zwang mich dazu ihm in die Augen zu sehen. „Sag es noch mal.“ Es war nur ein Flüstern, doch der Befehl hätte nicht deutlicher sein können.

Ich schluckte. Mein Herz raste wie wild und mein Mund war plötzlich sehr. Und doch geschah es wie von selbst. „Ja“, hauchte ich. Es waren seine Augen, der mich dazu brachte, dieser Blick. Es war Aman selber. Ich konnte ihm alles sagen, er würde mich nicht verurteilen. „Ja, ich will es, aber …“

Jedes weitere Wort blieb mir in der Kehle stecken. Ich vergaß sogar was ich hatte sagen wollen, den sein Mund lag plötzlich auf meinem; so drängend, als müsste er sich versichern, dass ich wirklich real war. es lag so viel Sehnsucht in diesem Kuss, dass ich zum ersten Mal erahnen konnte, wie sehr er sich die ganze Zeit zurückgehalten hatte. Doch genauso plötzlich wie der Kuss begonnen hatte, endete er auch wieder.

Als Aman sich abrupt zurückzog, stolperte ich sogar einen Schritt nach vorne.

Sofort tat sich mir die Erinnerung auf, als Aman sich mir das erste Mal auf diese Art genährt hatte. Auch da hatte er verlangt dass ich ihm sagte, dass ich es wollte und hatte sich dann ganz plötzlich vor mir zurückgezogen.

Die Kränkung begann in mir zu brodeln, doch bevor meine Geistreden unschön werden konnten, packte er meine Hand und zog mich hinter sich aus unserem kleinen Versteck in die Gänge der Höhlen.

Ich hatte keine Ahnung wohin es gehen sollte, doch wenn ich doch wenn ich nicht fallen wollte, dann musste ich mich beeilen.

Sein warmer Griff war mir nur allzu bewusst, genau wie die Tatsache, dass wir hier in den Gängen jederzeit gesehen werden konnten. Die meisten Ailuranthropen waren zwar noch auf dem Fest, aber die Meisten waren eben nicht alle.

Als wir dann auf einen Quergang zusteuerten und ich das ausgelassene Lachen einer Frau vernahm, riss ich so plötzlich an meiner Hand, dass ich nach jeder Regel des Seins aus seinem Griff hätte rutschen müssen. Doch es war als hätte er vorausgesehen was ich tun würde. Er packte im gleichen Moment fester zu, wirbelte zu mir herum und presste mich mit seinem ganzen Körper gegen die raue Felswand. Und dann waren seine Lippen wieder auf meinen. So drängend, als wollte er mich mit dem Kuss bestrafen. Doch das einzige was er damit erreichte, war, dass sich meine Geistreden einfach verflüchtigten und mich benebelt zurückließen, als er den Kuss wieder löste.

In seinen Augen glommen Blitze und etwas das mir völlig fremd war. Aber es ängstigte mich nicht. Dieser Blick … wie er mich ansah … ich wollte mehr davon.

„Tu das nie wieder“, flüsterte er mit rauer Stimme, die keinen Wiederspruch zuließ.

Ich nickte nur. Es war alles was ich noch konnte, da meine Stimme mir einfach nicht mehr gehorchen wollte. Aber bitte, wenn er unbedingt meine Hand halten wollte, dann war das in Ordnung.

Oder?

Ich bekam keine Gelegenheit mehr weiter im Geist darüber zu sprechen, denn Aman stieß sich von der Wand ab und riss mich gleich mit sich. Dann zog er mich auch schon wieder durch die unterirdischen Gänge.

Wir liefen so lange, dass ich mich mehr als einmal fragte, ob er sich vielleicht verlaufen hatte.

Und wir ich befürchtet hatte, begegneten wir den Bewohnern der Höhle. So oft dass ich mich einfach fragen musste, woher die alle kamen. Aber keine von ihnen beachtete uns. Viele waren ausgelassen und trunken vom Wein. Sie erkannten mich nicht, mein Gesicht war ihnen noch zu fremd und Aman verdecke das Zeichen auf meinem Bein allein dadurch dass er neben mir lief. Wahrscheinlich hielten sie uns einfach nur für ein …

An diesem Punkt stoppten meine Geistreden. Ich wollte gar nicht wissen, für was genau sie uns hielten. Ich wollte alles außen vor lassen – wenigstens für den Augenblick.

Die Zeit schien sich zu einer Ewigkeit zu dehnen, doch gleichzeitig hatte ich auch das Gefühl, dass nur Sekunden vergangen waren, als Aman mich in eine kleine, düstere Vorhöhle führte.

Der Aufbau glich dem bei meinem Fafa, nur gab es hier keinen Fluss und die einzige Bepflanzung bestand aus grauem Moss und vertrocknetem Farn.

Aman steuerte direkt der Vorhang in der Mitte an und schob mich in die kleine Höhle dahinter.

Das Wort schäbig war für das was ich sah noch zu milde.

Ein zerfleddertes Lager aus alten Tierfellen, die notgedrungen mit einem dicken Lacken abgedeckt waren. Ein Stuhl. Und sonst? Nichts.

Die Luft war leicht modrig, so als hätte die Höhle lange Zeit leer gestanden. Doch jetzt konnte ich mehrere Witterungen aufnehmen. Vinea, Acco und Aman. Das musste die Höhle sein, die Seths Natis zugewiesen worden war. Weit weg von den Ailuranthropen und von der Zeit fast vergessen. Doch jetzt waren Vinea und Acco nicht hier. Wahrscheinlich befanden sie sich noch auf dem Fest. Ich war mit Aman völlig alleine.

Sehr langsam drehte ich mich zu ihm um. Er beobachtete mich, doch als er einen Schritt auf mich zumachte, wich ich sofort vor ihm zurück. Es war einfach en Reflex, ich konnte gar nichts dagegen tun.

Seine Mundwinkel sanken ein Stück herab, doch dann trat etwas Entschlossenes in sein Gesicht. Er kam die drei Schritte zu mir, ließ mich nicht aus den Augen, berührte mich aber nur mit Blicken. Es war nur ein kleines Stück was uns trennte, vielleicht eine Handbreite, doch es erschien mir wie eine unüberwindbare Schlucht. 

„Gib mir deine Hand“, flüsterte und hielt mir seine offene Handfläche hin. So nahe, nur einen Hauch von mir entfernt. Ich konnte die Wäre spüren, die davon ausging, doch berühren tat er mich noch immer nicht. „Bitte“; fügte er hinzu, da ich nichts weiter tat als sie anzustarren.

Nur zögernd hob ich meine Hand und legte sie in seine. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, weil ich nicht wusste was er vorhatte. Ich war ihm schon so viel näher gewesen, doch das hier wirkte so viel … intimer.

Als seine Finger meine umschlossen, konnte ich den Blick nicht abwenden. Seine Haut war dunkler als meine. Ein Teint wie von der Sonne geküsst. Ich war ein Schneeleopard. Ich konnte mich den ganzen Tag in der Sonne aufhalten, meine Haut würde immer blas wie Alabaster bleiben.

Sehr langsam hob Aman meine Hand an seine Lippen und hauchte einen Kuss auf meine Knöchel, bevor er sie sich flach auf die Brust legte und seine darüber.

Die Härchen in meinem Nacken stellten sich auf. Ein warmer Schauer rann mir über den Rücken direkt auf dieses Ziehen im Unterleib zu.

Es gab so viel mehr als nur die Hautfarbe, die uns unterschied. So viel mehr als nur die Tatsache, dass er ein Lykanthrop und ich ein Ailuranthrop war. So viel mehr als das was bei unserer Geburt festgelegt wurde. Mehr als nur Mann und Frau.

„Spürst du es?“, fragte er leise und drückte meine Hand ein wenig fester. „Es schlägt nur für dich.“

Sein Herz. Stark und kräftig schlug es unter meinen Fingern. Ein wenig zu schnell. Genau wie bei mir.

Ich spürte das gleichmäßige Hämmern und mir wurde klar, dass es nicht nur Unterschiede gab. Da waren auch Gemeinsamkeiten und auf die kam es an.

Wie von selbst legte meine zweite Hand auch auf die Brust. Ich spürte die Wärme und hörte sein leises seufzen. So nahe. Wenn ich mich nur ein wenig vorbeugte, dann konnte ich die glatte kräftige Brust küssen. Und genau das tat ich auch. Kein Zögern, kein Zaudern. Ich tat einfach wonach mir beliebte und spürte im nächsten Moment, wie Aman meinen Kopf anhob und meine Lippen wieder gefangen nahm. Vorsichtiger als zuvor, so als wolle er mich nicht verschrecken.

Seine Finger strichen über meine Arme, hinauf zu meinen Schultern und dann spürte ich wie die Robe sanft von meinem Körper glitt. Aber es waren seine Lippen die mich gefangen hielten. Dieses Gefühl, diese Weichheit. Ich hätte ewig so stehen bleiben können, um dieses Gefühl zu genießen. Es war wie ein Rausch, ein kleiner Kokon in den kein anderer eindringen konnte, in dem die Probleme meines Lebens keinen Zutritt hatten. Ich schwelgte in diesen Gefühlen, ließ mich darauf ein und bekam deswegen nicht sofort mit, wie Aman langsam rückwärts ging. Eine Hand immer noch auf meiner. Ich folgte ihm ohne mein Zutun. Unter keinen Umständen wollte ich diesen Kontakt abbrechen lassen, der mir nicht nur unter die Haut, sondern bis in den Geist fuhr.

Aman.

Alles was gerade zählte war Aman.

Erst als Aman sich langsam hinsetzte wurde mir klar, wie weit wir uns vom Eingang entfernt hatten. Wir waren bei dem Bettlager. Er löste sich einen Moment von meinen Lippen, ließ sich auf die alten Felle sinken und zog mich an der Hand vorsichtig hinterher. Dabei ließ er mich keinen Moment aus den Augen – ich ihn auch nicht. Das war wohl auch der Grund, warum ich über die Kante der Felle stolperte und in seine Arme fiel. Ich konnte spüren wie mein Gesicht hochrot wurde, aber es verblasste sofort, als ich die leichte Vibration unter meiner Wange spürte. Seine Brust bebte. Aman lachte leise. Davon war ich so fasziniert, dass sich die Peinlichkeit des Moments einfach in Luft auflöste. Ich hatte Aman noch nie lachen gesehen.

Noch nie!

Seine Mundwinkel waren zu einem schelmischen Lächeln verzogen und seine Augen. Oh Göttin, sie strahlten ihr ganz eigenes Licht ab. Wenn er lachte – auch wenn es nur leise war – strahlte sein ganzes Gesicht.

Mein Herz begann mir bis zum Hals zu schlagen.

So herrlich.

Aman beugte sich langsam vor, sprich mit seiner Nase über meine, küsste mich auf den Wangenknochen, zog mit den Lippen die Lilie meiner Kinnpartie nach und dann war sein Mund wieder auf meinem.

Tief aus meiner Brust erhob sich ein leises Schnurren, das ihn einen Moment zu erstaunen schien, aber es brachte ihn nicht von seinem Weg ab. Eine Hand wanderte in meinen Rücken, dann beugte er sich vor. Immer weiter, sodass ich gezwungen war mich zurückzulehnen, bis ich unter ihm auf dem Lager lag und sein Gewicht auf mir spüren konnte. Es war … seltsam. Nicht unangenehm, nur … ungewohnt.

Er lag nur halb auf mir, hielt mich gefangen, aber in einem so hauchdünnen Käfig, dass ich ihn jederzeit durchbrechen konnte.

Seine Hände fuhren die Täler und Berge meines Körpers nach und auch ich konnte nicht wiederstehen alles zu berühren, was ich erreichen konnte. Umso erstaunter war ich, als er plötzlich seine Lippen von mir löste und auf mich herunter sah. Nicht in mein Gesicht, nein, er beobachtete seine eigene Hand, verfolgte jede Bewegung und das Fleisch das er berührte. Sein Blick war so intensiv, dass ich erschauderte, was wieder ein kleines Lächeln auf seine Lippen zauberte.

Ich konnte seinen Atem hören, viel schneller als es für ihn üblich war und seine Augen … so einen Ausdruck hatte ich noch nie gesehen. Sehnsucht, Leidenschaft, Gier. Und je länger dieser Blick dauerte, desto unwohler begann ich mich darunter zu fühlen. Wenn ihm nun nicht gefiel was er sah?

Diese Geistrede war so ernüchternd, dass ich unsicher die Arme vor der Brust verschränkte.

„Nein“, kam es sofort gehaucht. Sein Blick suchte meinen, während er meine Arme löste und sie über meinen Kopf legte. Ausgeliefert. „Lass mich dich ansehen.“ Es waren einfache Berührungen, nur ein Streicheln seiner Finger, die die Hitze sofort wieder entfachten. „Ich habe zu lange darauf warten müssen das tun zu dürfen.“

Quälendlangsam glitten seine Finger über die empfindlichen Innenseiten meines Arms, über meinen Brustkorb bis hinunter zu meinem Bauchnabel. „Wunderschön.“

Er flüsterte dieses Wort mit so viel Ehrfurcht, dass sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen schlich. Wunderschön. So hatte mich noch nie jemand genannt. Dieses Wort, sie berührte etwas tief in mir.

Er lehnte sich vor, nahm meinen Mund mit einer Gier gefangen, die mich das Atmen vergessen ließ und auch alles andere was in meinem Leben von Bedeutung war.

Jede Geistrede verschwand. Nur noch Berührungen und der Körper des anderen zählten. Sein Atem auf meiner Haut. Wärme, Nähe. Verbundenheit. Die Welt um uns herum verblasste, während Gefühle erwachten, die es eigentlich nicht geben durfte. Doch es war egal. Alles war egal, nur das hier zählte.

Doch als seine Hände dann tiefer wanderten und begannen den Verschluss von meinem Lendenschurz zu lösen, war plötzlich eine nie gekannte Nervosität da.

„Hab keine Angst, kleine Kriegerin“, flüsterte er und versuchte mich mit einem Kuss abzulenken. Es funktionierte nur teilweise. Meine Sinne waren viel zu sehr auf den Moment ausgerichtet, wenn der Stoff sich von meiner Haut lösen würde und mich auf eine Art entblößte, wie es noch nie vor einem Mann geschehen war. Doch ich wusste auch nicht was diese Nervosität hervorrief. War es meine Erziehung? Die Regeln des Anstands? Oder lag es einzig daran, dass es Aman war?

Ich vergrub meine Hände in seinen Haaren und ließ mich von dem Kuss mitreißen um mich selber abzulenken. Trotzdem spürte ich genau als der Stoff von meiner Haut glitt und mich schutzlos zurück ließ.

Aman unterbrach den Kuss nicht, er wurde sogar noch drängender. Seine Hand glitt tiefer, schob den Lendenschurz einfach zur Seite, bis er ihn achtlos neben das Lager werfen konnte.

Kam es mir nur so vor, oder wurde die Wärme seines Körpers intensiver? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich nicht zu genau Geistreden darüber halten durfte, weil ich sonst vielleicht vor ihm zurück geschreckt wäre. Doch als seine Hand mein Bein entlang strich, genau auf die Stelle des köstlichen Ziehens zu, war es ein einfacher Reflex, der mich dazu brachte den Kuss zu lösen und sein Handgelenk zu packen und ihn dort fernzuhalten.

Mein Atem ging heftig. Ich starrte ihn mit viel zu großen Augen an, begegnete diesem ruhig Blick, der mehr als nur Sicherheit bedeutete. „Ich … ich …“

„Schhh“, machte er und beugte sich vor. Seine Lippen berührten meine Schulter, meine Halsbeuge, mein Schüsselbein. „Lass dich einfach darauf ein.“

„Aber …“

„Es ist in Ordnung.“

Mein Griff wurde etwas fester, bevor ich mich dazu zwang in freizugeben und meine Hand in das Laken krallte.

Aufregung, wurde mir klar, als seine Hand ihren Pfad wieder aufnahm. Es war keine Angst die ich hier spürte, sondern Aufregung. Natürlich hatte ich von diesen Dingen bereits erfahren, doch sie selber zu erleben war etwas ganz anderes.

Meine Sinne folgten jeder seiner Bewegungen und auch wenn die flügelzarten Küsse auf meiner Haut jede Stelle prickeln ließen, so vermachten sie es nicht meine Aufmerksamkeit zu bekommen.

Und dann berührte er mich.

Ich warf den Kopf in den Nacken und gab ein Geräusch von mir, dessen ich mich hätte schämen müssen. Aber das war plötzlich egal. Ich spürte seine Finger, spürte was sie taten und hörte wie auch sein Atem schneller wurde. Und dieses Ziehen, dieses wahnsinnig tolle Ziehen wurde immer stärker.

„Lass dich gehen“, flüsterte er.

Seine Lippen kehrten zurück auf meine. Die Anspannung in mir wuchs. Diese Empfindungen, ich hatte so etwas noch nie gespürt. Und es wurde immer stärker. So stark dass ich glaubte es nicht mehr aushalten zu können.

„Es ist in Ordnung“, hauchte er an meinen Lippen. „Lass es einfach geschehen. Ich bin bei dir.“

Er war bei mir. Oh Göttin, dieses Gefühl. Ich wusste nicht was genau da in mir geschah, doch mit einem Mal wurde es so überwältigend. Selbst wenn ich gewusst hätte wie, hätte ich mich niemals dagegen wehren können. Und dann geschah es. Die Gefühle schäumten, sie überwältigten mich einfach. Mein Körper bäumt sich auf und das einzige was mich auf dem Lager hielt war Aman, der die Arme um mich geschlungen hatte, als wolle er sich nie wieder von mir lösen.

Ich kannte den Namen dessen was mir gerade wiederfahren war, doch konnte es nicht einmal im Ansatz beschreiben, wie ich mich wirklich fühlte. Selbst als die Welle langsam abebbte und nur noch das Echo in mir klang, fanden meine Geistreden keine Worte dafür.

Doch ich schaffte es auch nicht zur Ruhe zu kommen, Aman ließ mich nicht. Er küsste mich unaufhaltsam, berührte mich wo er nur konnte und hielt dieses Spiel mit aller Macht aufrecht.

Ich war nicht fähig ihm zu wiederstehen. Ich konnte nur noch reagieren. Deswegen fühlte ich mich in dem Moment als er sich von mir löste auch völlig schutzlos. Nicht nur seine Lippen verschwanden, er richtete sich neben mir auf, doch bevor ich fragen konnte warum er das tat, verrieten seine Bewegungen es mir.

Er griff nach seinem Lebendschurz.

Oh Göttin!

Ich biss mir auf die Lippe, wusste nicht ob ich ihn dabei beobachten sollte oder es angebracht war den Blick abzuwenden. Ich wusste von Animas Erzählungen wie ein Mann in einem solchen Moment dort unten aussah, aber ich hatte es noch nie gesehen.

Die Verschlüsse waren schnell gelöst, doch ich konnte einfach nicht hinsehen. Es war … ich wusste nicht was es war, aber ich konnte es einfach nicht. Ich kniff die Augen so fest zusammen, als hinge mein Leben davon ab. Gleichzeitig schrie mein ganzer Körper danach ihn wieder bei mir zu spüren. Es war …

„Fürchtest du dich?“

Ich schüttelte den Kopf. Links, rechts.

„Lilith, sieh mich an.“

Links rechts.

Da stieß er ein leises Lachen aus. „Meine mutige, kleine Kriegerin.“ Seine Finger berührten meine Stirn, seine Lippen hauchten einen Kuss auf meine Schläfe.

Die Verlockung die Augen zu öffnen erwachte, doch bevor ich ihr nachkommen konnte, drehte ich ihm hastig den Rücken zu. Was er gerade getan hatte, was er im Begriff war zu tun … ich konnte einfach nicht hinsehen.

„So schüchtern“, sinnierte er.

Ich spürte wie er sich bewegte. Er streckte sich hinter mir aus und zog mich so nahe an seine Brust, dass kein Lüftchen mehr zwischen uns passte. Und auch sonst war nichts mehr zwischen uns. Ich könnte es spüren – alles.

Oh Göttin, was geschieht hier nur?

Hauchzarte Küsse streiften meine Schulter. Seine Hand strich über meinen Oberkörper, berührte jedes Fleckchen Haut dessen er habhaft werden konnte und die Welle die gerade erst abgeflaut war, baute sich von neuem auf.

Aman hatte keine Worte mehr für mich. Da waren nur noch Küsse und Berührungen. Und ein Drängen das ich mir jeder verstreichenden Sekunde stärker spürte. Es begann ein Tanz der älter war als die Zeit. Es gab keine Worte die beschrieben konnten was geschah, kein Ausdruck der stark genug war das zu erklären. Wir waren nur noch zwei Wesen aus Empfindungen die zu einem wurden und damit etwas erschufen, was selbst pures Glück in den Schatten stellte.

Wir waren nur noch Aman und Lilith, wir waren eins während Wogen der Sehnsucht und Leidenschaft uns weit fort trugen, obwohl wir das Lager nicht verließen. Es war immer da. Wir blieben in der kleinen Höhle. Wir blieben zu zweit, wir waren alles was wir brauchten und alles was wir wollten. Und selbst als die Wogen abebbten und ich nur noch still in seinen Armen lag, wollte dieses Gefühl nicht vergehen.

Finis.

Aber wie sollte das funktionieren? Ich wollte dass er mir gehörte. Er gehörte mir. Diese Geistreden waren so plötzlich da, dass mir fast der Atem stockte.

Finis.

Es war das erste Ma in meinem Leben dass ich mich hin und her gerissen fühlte. Es war nicht nur das was wir gerade getan hatten, war auch das Gefühl wie er hinter mir lag und mich einfach nur in den Armen hielt. Ich wollte das nie mehr missen, aber … es würde nicht funktionieren.

„Sprich mit mir, Lilith.“

„Wie … ich …“ Seufzend schloss ich die Augen. Es schmerzte mich tief in der Brust diese Worte auszusprechen, doch sie mussten gesagt werden. „Was wir getan haben … was ich getan habe, ich … ich hätte das nicht …“ Ich biss mir auf die Lippen.

„Tun dürfen“, beendete er meinen Satz. Während er mich fester an seine Brust zog, vergrub er das Gesicht in meinem Nacken und sog meinen Geruch tief in die Lungen.

„So sind nun mal die Regeln.“ Es war ein schwacher Trost, aber es was nun mal die Wahrheit.

„Und wohin haben diese Regeln dich geführt?“ Ein bitterer Unterton schwang in seiner Stimme mit. „Dein ganzes Volk hat diese Regeln befolgt, doch sie haben sie nicht retten können.“

Ich versteifte mich. Wie er das sagte schien er die Ailuranthropen damit persönlich angreifen zu wollen. „Nicht diese Regeln sind an unserem Untergang schuld, sondern Sachmets Brut“, flüsterte ich.

„Nein, es war das Schicksal.“ Er lockerte seinen Griff uns stemmte sich auf die Arme, damit er auf mich herunter sehen konnte. „Ich wollte damit nur sagen, dass Regeln nicht dein ganzes Leben bestimmen können. Manchmal muss man sie dehnen, wenn nicht sogar brechen, damit etwas Wundervolles daraus erwachsen kann.“

Ich drehte mich halb herum, sah zu ihm auf. „Etwas Wundervolles?“

„Ja“, flüsterte er. Sein Gesicht wurde ganz weich, während er mit den Fingern eine verirrte Strähne aus meiner Stirn strich und mich zu mir runter beugte. „Das hier ist etwas Wundervolles.“

Sein Atem kitzelte mich auf den Lippen und ohne lange Geistreden darüber zu halten, hob ich ihm mein Gesicht entgegen, bis unsere Münder sich wieder fanden. Ja, was wir hier taten war ohne Zweifel etwas Verbotenes, doch Aman hatte Recht, es war auch etwas Wundervolles, etwas dass ich nicht mehr missen wollte – trotz aller Regeln.

Ich ließ ich auf den Rücken drehen, schlang die Arme um seinen Nacken und zog ihn noch dichter an mich ran. Aman hatte recht, das hier war wundervoll.

Wir waren so vertieft in den anderen, dass ich die weibliche Stimme draußen erst wahrnahm, als der Vorhang mit einem Ruck aufgerissen wurde.

„Aman, weißt du wo Lilith ist, die Priester …“ Sie verstummte.

Aman und ich fuhren auseinander und starrten mit großen Augen zu Vinea.

„Suchen sie“, beendete sie ihren Satz. Ihr Mundwinkel zuckte, während ich hochrot anlief. Ich wollte gar nicht wissen was wir hier für ein Bild abgaben. Nicht nur dass ich das Lager engumschlungen mit Aman teile, wir trugen auch keinen Fetzen Kleidung am Leib.

„Musst du mitten im Weg stehen bleiben?“ Hinter ihr drängte sich Acco in die kleine Höhle. Er sah uns, drehte sich sofort wieder um und murmelte etwas von kleinen Pasteten auf dem Fest, während er eilig die Flucht ergriff.

Das Lächeln auf Vineas Gesicht wurde immer breiten. Sie schaute uns völlig ungeniert an und konnte ihre Belustigung einfach nicht verbergen. „Ich werde den Priestern sagen, dass sie nicht in deinen Armen nach ihr suchen sollten.“ Ein glockenhelles Lachen entsprang ihrer Kehle, dann drehte sie sich auch schon wieder herum.

In dem Moment schien Aman zu begreifen, was hier gerade geschehen war. „Vinea!“, rief er und sprang so schnell auf, dass er noch beinahe über mich stolperte. Er schnappte sich seinen Lendenschurz und zog ihn beim Hinausrenne an.

Das war der Augenblick in dem unser kleiner, schützender Kokon in seine Einzelteile zerbrach. Wir waren entdeckt worden. Und nicht nur das, wir waren dabei entdeckt worden. Ich schlug die Hände vors Gesicht in der Hoffnung die Peinlichkeit des Moments damit ausblenden zu können, aber es funktionierte nicht. Und nicht nur das. Mit seinem Versschwinden schwand auch seine Wärme und plötzlich war dieser Ort nur noch eine kleine schäbige Höhle in der ich mich sehr unwohl fühlte.

Ich blickte zum Vorhang. Was würde geschehen wenn Aman zurück kam? Wie sollte ich mich verhalten? Plötzlich schien alles was ich getan hatte wie ein riesiger Fehler. Ich hatte mich von Worten verlocken lassen, aber … ich biss mir auf die Lippen. Nein, ich würde das hier nicht bereuen. Ich würde es im Herzen tragen. Es war zu wertvoll um es zu verdrängen.

Das Echo dessen was ich getan hatte klang noch immer in meinem Körper nach. Trotzdem war es Zeit wieder dahin zurückzukehren, wohin ich gehörte. Ich hatte mir eine kleine Auszeit genommen, aber die war nun vorbei. Ich stand auf und zog mir meinen Lendenschurz über. Dabei flog mein Blick immer wieder zum Vorhang, aber Aman kam einfach nicht zurück.

Ich brachte meine Haare in Ordnung, legte die silberne Robe an und war gerade dabei den Saum zu richten, als der schwere Stoff vor dem Eingang zur Seite geschoben wurde. Aman trat herein. Sein Gesicht war verschlossen. Als er mich sah drückte er die Lippen fest aufeinander und wich meinem Blick aus. „Vinea wird Stillschweigen bewahren.“

Ich nickte verstehend, aber er sah es nicht. Hatte ich etwas Falsches gemacht?

„Die Priester suchen nach dir.“

„Ja ich …“ Ich biss mir auf die Lippe. Was war geschehen? Warum verhielt er sich so? „Dann sollte ich wohl besser zu ihnen gehen“, sagte ich sehr leise.

Er sagte nichts, drückte die Lippen nur zu einem festen Strich zusammen und trat einen Schritt zur Seite. Er gab mir das Gefühl plötzlich unerwünscht zu sein und ich wusste nicht einmal warum? Was hatte Vinea zu ihm gesagt? Was war mit all den Worten die er zu mir gesagt hatte. Beutete das plötzlich nichts mehr?

„Ich …“ Ich konnte nicht fragen. „Ich sollte jetzt gehen.“ Hastig wandte ich den Blick an und eilte an ihm vorbei. So schnell dass mir fast die Berührung an der Hand entgangen wäre.

Verwundert drehte ich mich herum und sah gerade noch wie er seine Hand zurückzog. Jetzt wich er meinem Blick nicht mehr aus und ich erkannte was vor sich ging. Unsicherheit. Aman war … unsicher. Er wusste nicht wie ich reagieren würde und er wusste auch nicht was er tun sollte. Das war fast eine Offenbarung. Aman und unsicher? Das war … seltsam.

„Die Priester suchen nach mir.“

„Ja, das habe ich dir eben gesagt.“

„Ja, hast du.“ Meine Finger zuckten. Ich wollte nach ihm greifen, aber ich traute mich nicht. Oh Göttin, was war hier nur los? Das war ja mehr als nur peinlich. „Dann sollte ich … ich sollte gehen.“ Ich drehte mich hastig herum und stolperte auch noch über meine eigenen Füße. Wenn es mir nur möglich gewesen wäre, wäre ich im Erdboden versunken. So blieb mir aber nur die Möglichkeit mir mit der Hand übers die Augen zu reiben und zu versuchen geröteten Wangen zu kaschieren.

Doch als ich die Hand sinken ließ stellte ich fest dass Aman neben mir herlief. Ich warf ihm einen unsicheren Blick zu. „Was machst du?“

„Ich begleite dich.“ Er warf mir aus dem Augenwinkel einen kurzen Blick zu, als wollte er meine Reaktion wahrnehmen, doch er schien nicht das zu sehen, was er sich erhofft hatte. Wie auch? Ich wusste ja selber nicht wie ich mich nun verhalten sollte.

Seine Hände ballten sich zu Fäuste, als müsste er sich daran hindern etwas Unüberlegtes zu tun.

Er sah so angespannt aus, unzufrieden, irgendwie bitter.

Wieder zuckten meine Finger in seine Richtung und dieses Mal gab ich dem Impuls nach. Meine Hand schloss sich um seine Fast und nach einem überraschten Blick in meine Richtung verschränkte er seine Finger mit meinen und atmete innerlich auf.

Dann kam das Lächeln, es war nur klein aber ich konnte spüren wie es sich auf meinen Lippen ausbreitete.

Es war ein ganz seltsames Gefühl Amans Hand zu halten. Noch immer konnte ich jede seiner Berührungen spüren. Die Zärtlichkeiten schienen sich bis tief in meinen Geist gebrannt zu haben und jetzt ich konnte einfach nicht aufhören zu lächeln.

Plötzlich war es mir egal dass die anderen Ailuranthropen uns sehen konnten. Ich wollte dass sie uns zusammen sahen. Ich wollte mich nicht verstecken. Durch die Gänge zu laufen und dabei seine Hand zu halten war der erste Schritt in die Richtige Richtung. Das fühlte ich einfach.

Als würde Aman meine Geistreden hören können, drückte er meine Hand leicht. Es war still um uns herum, keiner sagte ein Wort, aber das war im Moment auch nicht nötig. Es reichte einfach neben ihm herzulaufen.

Doch leider schien das Schicksal mir nicht wohlgesonnen zu sein, denn als wir um die Ecke bogen standen wir plötzlich den einzigen beiden Männern gegenüber die ich im Moment auf keinen Fall hatte sehen wollen.

Jaron und Licco.

Ich blieb so abrupt stehen, als sei direkt vor mir eine Wand aus dem Boden gewachsen. Oh Göttin, von all den Ailuranthropen in diesen Höhlen, warum mussten es ausgerechnet die beiden sein.

Licco lächelte mich an, doch noch in der gleichen Sekunde bemerkte er unsere verschränkten Hände. Seine Nasenflügel bebten sich und ich wusste sofort was er riechen würde. Aman. Sein Geruch klebte an meinem ganzen Körper.

„Licco …“, begann ich, da preschte mein Brestern schon vor – direkt in Aman hinein. Es geschah so schnell, dass keiner von uns die Gelegenheit bekam zu reagieren. Aman wurde mir einfach aus der Hand gerissen und von Licco mit ganzer Kraft gegen die Höhlenwand gepinnt. Sein Kopf schlug gegen das Gestein und sein Schmerz war nicht zu verkennen.

„Licco, nein!“

„Was hast du ihr angetan!“, brüllte er und drückte Aman seinen Unterarm so in die Kehle, dass ihm früher oder später die Luft ausgehen würde.

Ich rannte auf die beiden zu, doch noch bevor ich sie erreichen konnte, stieß Aman meinen Brestern mit solcher Stärke fort, dass Licco auf den Rücken krachte.

„Hört auf!“ Bevor noch mehr passieren konnte, baute ich mich mit ausgestreckten Armen zwischen den beiden auf. „Lass ihn in Ruhe!“

Licco riss die Augen auf. Sein Blick ging von Aman zu mir und hätte nicht ungläubiger sein können. „Was hast du getan?“

Ich biss mir auf die Lippe. Auf diese Frage brauchte ich nicht reagieren, die Antwort war offensichtlich.

„Sie konnte ihm nun doch nicht wiederstehen“, sagte Jaron leise. Er lehnte mit verschränkten Armen an der Ecke und funkelte mich böse an. „Sie hat ihn nicht länger abgewehrt.“

„Halt dich da raus!“, fauchte ich ihn an.

„Falls das was du im Wald zu mir gesagt hast überhaupt stimmt“, fuhr er fort, als hätte ich nichts gesagt. „Wer weiß, vielleicht bist du ihm ja doch schon früher erlegen.“

„Das ist nicht wahr!“ Ich schaute zu Licco, der mir vom Boden aus mit gerunzelter Stirn beobachtete. „Es ist … Licco, es ist anders als es aussieht.“

Jaron schnaubte spöttisch. „Na da bin ich aber mal gespannt.“

Oh dieser mistige Steinkopf! Ich versuchte ihn einfach zu ignorieren. „Aman ist … als die greifenden Winde uns gepackt haben ist etwas geschehen.“ Ich atmete tief ein. Irgendwann hätte er es sowieso erfahren. „Finis.“

Licco blinzelte. Sein Mund ging auf, aber kein Ton kam heraus.

„Hat er dir das eingeredet?“ Jaron schüttelte den Kopf, als könnte er diese Naivität einfach nicht glauben. „Und du fällst auch noch darauf rein?“

Hinter mir gab Aman ein leises aber sehr deutliches Grollen von sich.

„Ich habe mir nichts einreden lassen.“

„Lilith.“ Jaron richtete sich auf und warf Aman einen so wütenden Blick zu, wie ich ihn noch nie zuvor an ihm gesehen hatte. „Er ist ein Lykanthrop.“

„Ich weiß es doch. Was glaubst du warum ich mich so lange gegen ihn gewehrt habe, aber …“

„Wie oft hast du es schon erlebt, dass jemand seinen Finis in einem anderen Volk findet?“, warf Jaron von der Seite ein.

Mein Mund ging auf, klappte aber gleich wieder zu. Ich hatte es noch nie erlebt. Seinen Finis fand man immer unter Seinesgleichen.

„Lilith“, sagte Licco sehr eindringlich. „Das ganze Volk sieht zu dir auf, du darfst so etwas nicht tun.“

„Ja, ich weiß, aber …“

„Es geht hier nichts ums Dürfen“, unterbrach Jaron mich. „Sieh sie dir doch nur an, sie glaubt es wirklich.“

„Weil es stimmt!“, verteidigte ich mich. Diese ganzen Gefühle … das konnte ich mir einfach nicht einbilden.

Licco schüttelte leicht den Kopf. „Du hast keine Erfahrung mit Männern. Manche von ihnen würden alles sagen um …“

„Wer versucht jetzt ihr etwas einzureden?“, knurrte Aman. Seine Hand berührte mich am Rücken und wieder durchströmte mich seine ganze Wärme.

Die Blicke der beiden Männer richteten sich auf ihn.

„Du solltest lieber still sein, Lykanthrop“, sagte Jaron sehr leise. „Du hast etwas Unverzeihliches getan. Sie ist unsere Auserwählte.“

„Sie ist viel mehr als das.“

Licco öffnete erneut den Mund, doch bevor er auch nur einen Ton rausbringen konnte, erklangen plötzlich Schritte in Gang. Erst noch sehr entfernt, doch das Geräusch reichte um uns alle verstummen zu lassen.

Ich hätte mit anderen Bewohnern der Höhle gerechnet, vielleicht sogar mit einem Priester, einfach weil es passend gewesen wäre, wenn einer aufgetaucht wäre, aber das was da kam, erstaunte mich so sehr, dass mein Mund sich leicht öffnete.

Anima.

Sie kam fast auf uns zugeschwebt. Und es waren auch nicht ihre Schritte die wir gehört hatten, sondern die von Pascal. Er folgte ihr leicht besorgt. Und ich verstand auch warum. Anima war in Licht getaucht. Sie schien von innen heraus zu leuchten. Der Schatten einer Katze folgte ihr und strich über die Felswände.

Bastet.

Unsere Göttin war in sie gefahren.

Ihre leuchtenden, blicklosen Augen waren auf mich gerichtet, so intensiv dass ich fast vergaß mich hinzuknien. Nur die Bewegung der anderen erinnerte mich daran. Selbst Aman hockte bereits auf dem Boden.

„Nein, Natis, steh auf“, sagte sie leise. „Es ist Zeit deiner Bestimmung nachzukommen, dein Volk brauch dich.“

 

°°°°°

Kapitel Zwölf

 

Ich wagte es kaum das Gesicht zu heben. Diesen Moment hatte ich gefürchtet. „Warum?“, fragte ich leise und biss mir auf die Lippe. „Warum ich?“ Ich würde scheitern. Ich war nicht dazu fähig eine so wichtige Aufgabe zu übernehmen – egal was ich dafür tun musste.

„Doch, das bist du“, sagte sie sanft. „Mir ist wohl bewusst, dass es eine große Last ist die ich dir aufbürde, doch du bist die einzige die dazu fähig ist meine Natis vor ihrem Untergang zu bewahren, denn nur du trägst das nötige Wissen in dir.“ Sie hockte sich vor mich und legte mir die Hand an die Wange.

Diese Berührung, ich spürte wie mich ihre göttliche Aura durchdrang. Es war ein Gefühl des Glücks, es war wie die Berührung einer Mina.

In meinem Geist erschien das Bildnis eines Auges. Es hatte keine Pupille, das Innenleben war von einem Blitz erfüllt und verschmolzen mit dem Schriftzeichen, dass die Gelehrten für Auge nutzten.

„Vergiss es nicht, es ist wichtig“, flüsterte sie und erhob sich wieder. Ich wagte es kaum ihr hinterher zu sehen, als sie zu Jaron schritt und ihm die Hand sanft auf den Hinterkopf legte. Er kniete auf dem Boden, das Gesicht nach unten gerichtet und zuckte bei der Berührung merklich zusammen. „Ich habe dich nicht verlassen“, sagte sie sehr leise. „Es tut mir weh wenn du das glaubst und wenn ich nur könnte, würde ich all das Leid von dir nehmen. Doch leider liegt das nicht in meiner Macht.“

„Ich habe nicht …“

„Du brauchst es nicht zu leugnen.“

Er drückte die Lippen zu einen dünnen Strich zusammen.

„Ich kann in dein Herz sehen, Jaron. Ich weiß wie sehr es schmerzt und vor Kummer zerreißt. Schäme dich nicht deiner Geistreden, ich bin dir nicht böse. Es tut mir nur leid dass ich nichts für dich tun kann.“

Sprach sie von seinen Verlusten? Von dem was ich heute erfahren hatte, oder war da noch mehr?

„Bald wird alles wieder gut werden“, versprach sie ihm. „Lilith hat die Macht dazu.“ Sie lächelte so freundlich auf mich nieder, dass es kaum aushielt.

„Ich habe keine Macht“, sagte ich leise. „Ich weiß nicht mal was ich tun soll.“

„Doch, dass weißt du.“

Nein, ich wusste es nicht, das war doch das Problem – zumindest eines davon.

„Lilith, es gibt nur einen Weg die Ailuranthropen zu retten und du kennst ihn.“

In dem Versuch ihr nicht zu wiedersprechen biss ich mir fast die Zunge ab. Ich wusste es doch wirklich nicht. Es gab einen Weg? Aber welchen? Warum nannte sie ihn mir nicht einfach? Warum ließ sie mich im Dunkeln herumtappen?

„Weil ihr einen freien Willen besitz.“ Etwas Trauriges legte sich auf ihre Erscheinung. „Es steht mir nicht zu euch zu lenken. Manchmal darf ich euch helfen, doch ich darf nicht in euer Schicksal eingreifen. Ihr müsst selber bestimmen was die Zukunft euch bieten soll.“

Ja, das wusste ich alles, aber meines Wissens nach gab es nur eine Möglichkeit uns zu neuer Blüte zu führen und die lag in einer anderen Welt. Von hier aus kann ich nichts ausrichten.

„Nein, von hier aus nicht“, stimmte sie meinen Geistreden zu.

Ungläubig hob ich das Gesicht. Sie konnte doch nicht das meinen, was ich glaubte. Oder? „Das Tigerauge“, flüsterte ich.

Zur Antwort bekam ich nur ein kleines, trauriges Lächeln.

Ich schüttelte den Kopf. Das konnte sie doch nicht wirklich meinen. „Aber es befindet sich fern der Heimat. Wie soll ich an es heran gelangen?“

„Du weißt es, Lilith.“

Nein, das konnte sie nicht wirklich wollen. Das Tigerauge war auf der Erde, es war unerreichbar, sonst hätte ich es doch schon längst an mich gebracht.

„Das Portal“, sagte Aman leise hinter mir. „Nicht nur das Tigerauge, auch ein Portal ist auf der Erde zurück geblieben.“

Oh Göttin, er hatte recht. Wir selber hatten dieses Portal errichtet! Warum nur war ich nicht schon früher auf diese Geistreden gekommen? Die Lösung war so unglaublich wie einfach. Ich musste nur durch ein Portal steigen und das Tigerauge zurückholen. Aber … „Wir haben keine Möglichkeit ein Portal zu nutzen.“ Denn dazu brauchten wir einen Priester und die Macht eines Gottes. Der Augenblick der Euphorie verschwand so schnell wie er gekommen war.

„Nein habt ihr nicht“, stimmte Bastet mir zu. Aber sie lächelte dabei. „Hol das Tigerauge, Lilith, bring es dorthin wo alles begann.“

„In den Tempel der Bastet?“

„Auch.“

Auch? Auch?! Was sollte das nun wieder bedeuten?

„Du wirst es wissen, wenn es soweit ist.“ Sie nahm die Hand von Jarons Kopf und drehte sich zu mir herum. „Finde deinen Weg, Lilith, gib dem Volk ihr Leben zurück und bring die nach Hause, die noch immer an fremden Ufern ausharren.“

Ich spitzte die Ohren. Sollte das heißen … „Sind noch mehr von uns auf die Erde geschleudert worden?“ Nein, oh Göttin, nein, das durfte nicht sein.

Ein trauriges Lächeln umspieltes Animas Lippen, doch ich bekam keine Antwort mehr. Der katzenhafte Schatten der sie umschwebte verflüchtigte sich und das innere Leuchten verblasste, bis nur noch die Leuchtkristalle an den Wänden ihr weiches Licht spendeten.

Anima schaute mich nur an. In ihrem Gesicht lag ein Schmerz den ich nicht verstand.

Als Occino teilte sie zeitweise nicht nur das Bewusstsein mit unserer Göttin. Sie war viel mehr als ein einfacher Avatar, sie konnte auch Bastets Geistreden lauschen, doch sie konnte mit niemanden darüber reden. Es war wie eine innere Sperre, hatte sie mir einmal erklärt. Es war ihr einfach nicht möglich. Deshalb kam ich nicht umhin mich zu fragen, was sie gerade erfahren hatte. Was war es was sie verschwiegen musste und solchen Schmerz auf ihr Gesicht malte?

„Sag es mir“, flüsterte ich.

„Ich kann nicht.“

„Versuch es.“

Sie schüttelte den Kopf. „Geh Lilith, dann wird alles wieder gut.“

Ja, das behaupteten alle. „Warum ich? Was weiß ich denn bitte was die anderen nicht wissen?“

Aman brühte mich leicht am Arm. „Du bist die Einzige die das Land der Menschen kennt.“

Mein Mund öffnete sich einen Spalt. Das war es? Das war der einzige Grund warum ich für diese Aufgabe ausgewählt worden war? Weil kein anderer Ailuranthrop schon einmal da gewesen war?

In meiner Kehle bildete sich ein dicker Kloß. Ich hatte es gewusst. An mir war nichts Besonderes, außer mir stand nur niemand anderes zur Auswahl. Anima konnte nicht gehen, sie war zu wichtig für das Volk. Asokan war zu jung und noch unfähiger als ich. Und alle anderen Ailuranthropen von denen wir wussten waren tot. „Ich bin eine Notlösung.“

„Es ändert nichts an deiner Aufgabe“, kam es ziemlich barsch von Jaron. Er erhob sich vom Boden und wandte sich zum Gehen. „Kommt, wir müssen mit den Priestern reden.“

Anima schüttelte den Kopf. „Ich bin müde.“

Jaron warf ihr über die Schulter einen wirklich bösen Blick zu. „Du musst den Priestern berichten, das ist deine Aufgabe.“

„Nein“, sagte sie ohne auf seine Ärger einzugehen und nahm Pascals Hand. „Ich bin müde.“

Das passte ihm nicht. Und mir ehrlich gesagt auch nicht, aber Anima war Occino und damit für jeden unantastbar; besonders in dem Zustand in dem sie sich momentan befand. Wir konnten nichts weiter tun als ihr zuzusehen, wie sie mit einem etwas verwirrten Pascal in den Gang verschwand.

Licco seufzte. „Mit den Priestern müssen wir auf jeden Fall reden.“

„Ja“, stimmte Jaron ihn zu. Sein Blick war nach innen gerichtet, als würde er gar nicht wirklich zuhören. „Und wir müssen das Problem mit dem Portal lösen.“

Auch Aman erhob sich nun und zog mich gleich mit auf die Beine. Und obwohl er mich  nur an den Armen berührte, war da sofort wieder dieses Prickeln. „Das Portal ist das kleinste Problem dass du haben wirst.“

Ich runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“ Eigentlich war das unser größtes Problem, denn die Ailuranthropen besaßen keines mehr.

„Wir gehen in den Tempel des Seth. Die Lykanthropen sind eure Verbündeten und sie werden dich sicher das Portal benutzen lassen, wenn du …“

In dem Moment traf ein heftiger Schlag von Licco seinen Arm und riss damit seine Hand aus meiner. Gleichzeitig wurde ich zurückgezogen.

„Licco!“

„Fass sie nicht an!“, grollte mein Brestern.

„Licco!“

„Komm ich nicht mehr zu nahe!“

„Göttertod, Licco!“ Ich zerrte an seinem Arm. „Hörst du mir zu?!“

„Nein Lilith“, sagte er leise ohne Aman aus den Augen zu lassen. „Dieses Mal nicht.“

„Es ist meine Sache!“

Jaron schnaubte. „Das glaubst du nur weil du auf die Lügen eines dreckigen Hundes reingefallen bist.“ Seine Augen richteten sich auf Aman. „Und du brauchst gar nicht glauben dass du Lilith einfach mit in deine Heimat nehmen kannst.“

„Das reicht jetzt!“, fauchte ich und funkelte die Männer wütend an. Was erdreisteten sie sich eigentlich über mich zu bestimmen? „Ihr habt mir nichts zu sagen, keiner von euch beiden, das ist meine Sache!“

„Wenn du zu dumm bist einen Schritt vorwärts zu gehen, haben wir …“

„Jaron!“, zischte Licco. „Beherrsch dich.“

„Hör auf sie ständig in Schutz zu nehmen. Du siehst doch wohin das geführt hat.“ Jaron drehte sich herum und marschierte davon.

Schwer seufzend rieb Licco sich übers Gesicht. Ich konnte ihn ja verstehen, aber es ging ihn doch nun wirklich nichts an – trotz aller Regeln. „Lass uns gehen“, sagte er nur und schob mich vor sich her, damit ich nicht auf die Geistrede kam bei Aman zu bleiben.

Aber natürlich ließ dieser Krieger sich nicht einfach abhängen. Er folgte uns. Liccos Blicke wurden schlicht ignoriert.

 

°°°

 

„Das ist interessant“, kam es nachdenklich von Priester Seto. Er saß mit uns und den anderen Priestern zusammen an der runden Tafel in der Tempelhöhle und rieb sich übers Kinn. „Das heißt du hattest die Lösung die ganze Zeit vor Augen, warst nur einfach blind für sie.“

Wie er das sagte. Er schien an meiner Intelligenz zu zweifeln. „Meine Geistreden waren mit andern Dingen beschäftigt. Was ich nach meiner Rückkehr erfahren habe … das alles war so überwältigend.“

„Verständlich“, sagte Priesterin Neitha und nickte mitfühlend.

Ich senke die Augenlider. „Außerdem bin ich nicht auf die Möglichkeit gekommen, das Portal eines anderen Volks zu benutzen.“

„Die Chance ist auch verschwindend gering.“ Priester Naum lehnte sich auf seinem Stuhl nach vorne und verschränkte die Hände auf dem Tisch. Ein leichter Schweißfilm glänzte im Licht der Leuchtkristalle auf seiner Glatze.

„Aber die Göttin hat sie dir genannt, also muss sie vorhanden sein.“ Priesterin Mascia spitzte ihre zu dünnen Lippen. „Doch die Anregung zu dieser Idee kam erst jetzt und nicht schon vor Tagen, so dass sie hätte gleich zum nächsten Temel hätte aufbrechen können. Warum?“

„Vielleicht wollte die Göttin ja dass sie mir eigenen Augen sieht was während ihrer Abwesenheit geschehen ist“, überlegte Priesterin Neitha.

Mein Blick huschte zu Priester Ausar. Wie auch beim letzten Mal war er äußerst wortkarg. Er schien stumm, so konzentriert lauschte er den Worten der anderen Priester. 

„Möglich aber unwahrscheinlich“, verkündete Priestern Mascia. „Es hießt die ganze Zeit, dass sie noch etwas tun müsse, bevor sie ihre Aufgabe erfüllen kann.“

Die ganze Zeit sprach sie über mich als sei ich nichts als Luft und als ihre viel zu großen Augen sich nun auf mich richteten, wünschte ich, ich wäre es. Es ziemte sich nicht über Priester und ihre Arbeit zu urteilen, dafür waren sie viel zu weit von dem normalen Volk entfernt, doch die diese Frau hatte etwas an sich, was Sympathie fast unmöglich machte.

Ich mochte sie nicht.

„Was war es?“, fragte sie. „Was hast du tun müssen?“

Mein Mund öffnete sich, aber es kam nur Luft heraus. Ich hatte noch gar keine Zeit gehabt über den Grund von Bastets Auftauchen Geistreden zu halten. Warum war sie erschien, nachdem ich …

Mein Blick huschte einen kurzen Moment zu Aman. Als einziger im Raum saß er nicht an der großen Tafel, sondern lehnte mit dem Rücken an der Wand. Es war wohl die Aufregung er Priester gewesen die verhindert hatte, dass er sofort wieder nach draußen geschickt wurde. Sie hatten ihn schlicht übersehen.

„Bei allem Respekt“, sagte Licco. „Das ist wohl etwas das nur Lilith allein etwas angeht.“

Priesterin Mascia schenkte Liccos Worten wenig Aufmerksamkeit. Ihr war nicht entgangen wohin mein Blick gewandert war. Sie fixierte Aman mit ungenierter Abscheu. „Was macht der Lykanthrop eigentlich hier?“

„Ich werde Lilith begleiten“, sagte er ohne Umschweife. Sein Blick legte sich auf mich. „Ohne Zweifel besitz sie Talent …“

Talent? Ich? Das hatte er vor ein paar Tagen aber noch anders ausgedrückt.

„… doch sie ist nach wir vor noch ein Lehrling. Es fehlt ihr an der Erfahrung eines Kriegers und ich war bereits auf der Erde. Ich habe dort das gleiche Verständnis wie sie erlangt. Ich werde ihr eine Hilfe sein.“

Eigentlich hätte es mich nicht wundern dürfen, dass Aman mich begleiten würde und doch schlug mein Herz bei dieser Geistrede ein kleinen wenig schneller. Er würde wieder an meiner Seite sein.

Priesterin Mascia verengte die Augen. „Du willst uns helfen? Warum?“

Er wich ihrem stechenden Blick nicht aus und irgendwie musste ich ihn dafür bewundern. „Seit der Zeit der Schöpfung gab es immer achtzehn Völker. Wir haben uns bekriegt und oft Dinge getan, auf die keiner von uns stolz sein sollte, doch bei allem was wir getan haben, haben wir nie daran gezweifelt, dass wir alle gebraucht werden um das Gleichgewicht dieser Welt zu wahren. Sollten die Ailuranthropen aussterben, gibt es niemand der diesen Platz wieder einnehmen kann. Das Gefüge würde zerstört werden und keiner von uns kann sagen, was danach geschehen würde. Vielleicht gar nichts.“ Er schwieg einen Augenblick. „Vielleicht wäre das aber auch nur der Auftakt zum Götterdämmerung.“

Auf seine Worte folgte Stille. Glaubte er wirklich dass das geschehen konnte, oder war es nur seine Entschuldigung dafür mich zu begleiten? Aber was wenn er recht hatte? Konnte der Untergang der Ailuranthropen Auswirkungen auf die andern Völker haben? Ich wollte es mir gar nicht vorstellen.

„Ich stimme deinen Worten zu“, sagte zu meiner Überraschung Jaron. Er fixierte den Tisch um den Lykanthropen nicht ansehen zu müssen. „Diese Aufgabe ist zu wichtig um Lilith allein gehen zu lassen. Sie ist infantil und einfältig, sie wird Hilfe gebrauchen können und deswegen werde ich sie begleiten.“

„Ich bin weder infantil noch einfältig!“, fauchte ich ihn an.

Finis.

Hat er dir das eingeredet? Und du fällst auch noch darauf rein?

Einfältig.

Ich warf Aman einen unauffälligen Blick zu. Hatte ich mir wirklich etwas einreden lassen? Oh Göttin, warum musste ich plötzlich zweifeln? Nein nein nein, ich wusste dass es so richtig war, ich fühlte es doch. Jaron verstand es nur einfach nicht. Keiner verstand es – ich verstand es ja nicht einmal selber.

Jaron ignorierte meine Worte einfach. „Du siehst also, deine Hilfe wird nicht gebraucht. Wir kommen auch sehr gut ohne solche Krieger wie dich aus.“ Wie er es betonte, als wäre Aman etwas Abstoßendes.

„Rede nicht so mit ihm“, sagte ich, bevor mir bewusst war was da meinen Mund verließ.

„Es ist in Ordnung, Lilith“, sagte Aman leise. „Manche Männer sind nicht imstande ihre Eifersucht zu zügeln.“

Das brachte ihm einen mordlüsternden Blick ein.

Priesterin Mascia runzelte die Stirn.

„Ich kann dich nicht gehen lassen, Jaron“, sagte Priester Ausar und ergriff damit zum ersten Mal das Wort.

„Lilith wird mich brauchen. Ich …“

„Lass mich bitte ausreden.“ Er drehte den Kopf so, dass er ihn und mich im Blick hatte. „Erinnerst du dich noch daran was uns über die Zeitverschiebung der beiden Welten berichtet wurde? Ein Tag hier sind nur wenige Minuten dort und ein Tag dort ist ein ganzes Jahr hier. Selbst wenn Lilith es in nur einer halben Stunde schaffen würde dem Tigerauge habhaft zu werden, zögern bei uns Wochen ins Land. Du bist zu wichtig um dich so lange Zeit zu entbehren. Wir brauchen dich hier.“

„Aber wir können sie unmöglich mit diesem Lykanthropen allein ziehen lassen“, entrüstete er sich. „Was wenn er das Tigerauge an sich bringen will um es seinen Priestern zu geben. Nein, das ist zu gefährlich.“

„Dann werde ich sie begleiten.“

Alle Blicke richteten sich auf Licco.

Er öffnete die Hände in einer Geste was-sollen-wir-sonst-tun. „Vielleicht bin ich nicht mehr der der ich einmal war, doch um Lilith zu begleiten reicht es noch.“ Er warf Aman einen undurchschaubaren Blick zu. „Ich werde dafür Sorge tragen, dass der Wille der Götter eingehalten wird.“

Aman kniff die Augen leicht zusammen. „Du bist nicht Occino, du kennst den Willen der Götter nicht.“

„Nein, doch ich weiß was für mein Volk das Beste ist.“

Oder für mich. Ich kniff die Lippen zusammen.

Priester Seto neigte den Kopf leicht zur Seite. „Der Wille unserer Göttin ist es das Tigerauge wohlbehalten zurückzubringen. Dazu wird Lilith durch ein Portal steigen müssen, doch durch welches? Das Land von Seth ist viel zu weit entfernt. Die Reise dorthin würde Wochen dauern.“

„Der Tempel von Ellan“, warf Priesterin Neitha ein. „Sie sind gütig und haben uns schon oft geholfen.

„Und er ist nur etwas mehr als eine Tagesreise von ihr entfernt“, sagte Priester Naum. „Das wäre wohl die Sinnvollste Lösung.“

„Das sei es so“, sagte Priester Ausar. „Lilith wird morgen früh in der Begleitung von Licco und Aman zum Tempel der Elfen reisen und ihnen unsere Geschichte darlegen.“

„Bitte?!“ Priesterin Mascia verzog das Gesicht, als hätte sie auf eine besonders saure Zitrone gebissen. „Ihr wollt den Lykanthropen mitschicken? Bei allem Respekt, aber das halte ich für keine gute Idee.“

„Das tut nichts zur Sache, Mascia. Du weißt ich gebe viel auf deine Meinung, doch dieser junge Krieger hat Recht. Wir schicken unsere Auserwählte in eine fremde Welt von der wir wissen, dass sie sehr gefährlich sein kann und ich werde diese Unterstützung nicht wegen deiner Antipathie ablehnen. Es steht zu viel auf dem Spiel.“

Priesterin Mascia drückte ihre dünnen Lippen so fest zusammen, dass sie ganz weiß wurden.

Aman neigte leicht sein Haupt. „Ich werde das Vertrauen der Ailuranthropen nicht missbrauchen.“  

„Von Vertrauen kann ja nun keine Rede sein“, warf Priester Seto lächelnd ein. „Es ist eher eine … Notwendigkeit. Und Licco wird dich sicher nicht aus den Augen lassen.“

Bevor Aman darauf etwas erwidern konnte, ertönte am Höhleneingang ein leises Klopfen, das die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich zog.

Hoch aufgerichtet, als sei sie jederzeit zu einem Kampf bereit, stand dort Destina und ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen. Ein Stück hinter ihr stand Luan und auch er schien zu allem entschlossen.

„Bei Bastet!“, fauchte Priesterin Mascia. „Ist es neuerdings Gang und Gebe, dass Gefangene …“

„Wir sind keine Gefangenen“, sagte Destina mit fester Stimme. „Zumindest nicht mehr nachdem wir euch geholfen haben.“

„Geholfen?“ Priesterin Neitha runzelte die Stirn. „Warum, was habt ihr getan.“

„Noch nichts und es ist äußerst unhöflich Gäste einfach in der Tür stehen zu lassen, anstatt ihnen einen Stuhl anzubieten – besonders in meinem Alter.“

„Was Destina damit sagen möchte“, sagte Luan etwas freundlicher. „Wir haben einen Vorschlag, denn sie sich zumindest einmal anhören sollten.“

Priester Seto neigt seinen Kopf zur anderen Seite. „So interessant dieser Vorschlag auch sein mag, wir haben im Moment Wichtiges zu besprechen und keine Zeit für …“

„Das wissen wir“, unterbrach Destina ihn einfach. Ihre sonst so gepflegte Hochsteckfrisur war ein wenig auseinander gefallen und die Zeichen der Reise hatten sich tief in ihr Gesicht gegraben. Sie war erschöpf und mitgenommen. Und trotzdem streckte sie nun kämpferisch das Kinn hervor. „Pascal hat uns erzählt was geschehen ist. Bastet schick Lilith zurück zur Erde und ich muss kein Genie sein um zu wissen was geschehen wird.“

Priester Naum zog die Stirn tief in Falten. „Was meinst du damit?“

Sie verlagerte ihr Gewicht leicht. „Wir haben einen Vorschlag. Wir helfen euch mit Informationen die wichtig sein werden, Dingen die Lilith nicht wissen kann, da sie nur wenige Tage auf der Erde gewesen ist und als Gegenleistung dürfen wir gehen.“

Priesterin Mascia öffnete bereits entrüstet den Mund, doch es war Priester Ausar, der als erster Sprach.

„Akzeptiert.“

Seine vier Berater wirbelten die Köpfe herum und starrten ihn an, als würden die ihn zum ersten Mal in ihrem Leben sehen.

„Ich möchte euch ja nicht wiedersprechen“, sagte Priester Seto. „Aber …“

„Dann lass es.“ Priester Ausar beugte sich leicht vor. „Sie gehören nicht zu uns, aber wir brauchen ihre Hilfe. Es ist an der Zeit unseren Stolz herunterzuschlucken und zuzugeben, dass wir mit unseren Kräften am Ende sind. Ich werde das Leben unseres Volkes nicht riskieren, nur damit wir erhobenen Hauptes in unser Verderben laufen können.“ Er machte eine einladende Geste zu den freien Plätzen an der Tafel. „Bitte, setzt euch.“

„Ich bedanke mich.“ Ohne sich weiter um die feindseligen und misstrauischen Blicke zu kümmern, nahmen Destina und Luan neben Priester Naum Platz und begannen ohne Umschweife.

„Wir helfen euch und dann steht es und jederzeit frei zu gehen“, versicherte Destina sich noch einmal.

„Darauf gebe ich euch mein Wort“, sagte Priester Ausar.

„Das reicht mir.“ Destina legte ihre Hände auf den Tisch und verschränkte sie miteinander. „Als erstes wäre da der Zeitunterschied zwischen diesen beiden Welten.“

„Daran haben wir bereits gegeistredet“, kam es ziemlich überheblich von Priesterin Mascia.

„Ich weiß, ich habe es vom Eingang aus gehört. Aber weiß keiner von euch bedacht hat ist General Silvano Winston. Wir sind jetzt seit einer guten Woche hier, doch auf der Erde ist nicht mal eine halbe Stunde vergangen. Das bedeutet dass Winston und seine Männer garantiert noch am Portal sind. Ihr müsst euch also darauf gefasst machen.“

Mein Mund öffnete sich leicht. Natürlich, sie hatte Recht. Warum waren wir nicht selber darauf gekommen?

„Und da wir ihm alle entkommen sind, wir er wahrscheinlich sehr schlechte Laune haben. Außerdem …“ Sie machte eine kurze Pause in der sie tief in ihren Geist einzutauchen schien. „Lilith, erinnerst du dich noch an den Parkplatz vor dem Krankenhaus? An den Zauber den ich über General Winston gesprochen habe?“

Ich runzelte die Stirn, nickte aber.

„Ich bin in seinen Geist eingedrungen um an die Passwörter zu gelangen. Dabei … wie soll ich es ausdrücken. Dieser Zustand, er ist nicht so leicht zu erklären.“ Sie schwieg einen weiteren Moment. „Stell es dir so vor. Mein Geist ist durch seinen gereist. Aber diese Reise hatte keine feste Substanz. Es gab keinen Boden, keine Wände, nichts an dem ich mich festhalten konnte. Es war wie ein Flug durch eine Fata Morgana.“

„Ich … dieser Begriff ist mir nicht gekannt.“

„Illusion“, sagte Luan. „Etwas das da ist und gleichzeitig auch nicht.“

Ich nickte um zu zeigen, dass ich verstanden hatte.

Destina ergriff wieder das Wort: „Auf dieser Reise habe ich mich auf das konzentriert was wichtig für uns ist. Es ist nicht einfach das zu …“ Sie stockte. „Nicht so wichtig. Was ich sagen will, während meiner Reise wurde ich von Bildern gestreift, Dinge die Silvano Winston eine besondere Bedeutung beimisst. Da meine Aufgabe mich zwang anderen Dingen Vorrang zu geben, habe ich sie nicht deutlich erkennen können, aber die Gefühle die diesen Bildern innewohnten waren so stark, dass ich sie nicht ausblenden könnte. Schmerz und Euphorie. Grauen und Glück. Unter dieser glatten Oberfläche ist General Silvano ein kranker Mann.“

Ich erinnerte mich, das hatte Destina ihm auch ins Gesicht gesagt, gleich nachdem ihr Geist in ihren Körper zurückgekehrt war.

„Ich kann dir nicht genau sagen was er in seiner Vergangenheit alles getan hat, doch ich warne dich Lilith. Silvano ist nicht nur ein sehr gefährlicher Mann, er ist auch Krank. Die Dinge die er tut … es macht ich Spaß andere leiden zu lassen. Er kennt keine Skrupel.“

„Ein Psychopath“, fügte Luan noch hinzu.

Das Bild von Gillette tauchte vor meinem inneren Auge auf. Wie er in diesem silbernen Schrank auf der Bahre gelegen hatte. Was nur hatte er vor seinem Tod alles erleiden müssen? „Ich werde auf mich Acht geben.“

„Aber nicht nur von ihm droht dir Gefahr. Auch die Menschen selber und die Polizei können dein Verhalten leicht falsch interpretieren. Es ist wichtig dass du dich unauffällig benimmst. Falls du länger dort bleiben musst, besorge dir angemessene Kleidung.“ Ihr Blick glitt von Aman zu Licco. „Ihr beide auch. Und wenn ihr eure Sermos mitnehmt, verbietet ihnen zu sprechen.“

„Lacota solltet ihr nicht mitnehmen“, warf Luan ein. „Acco geht vielleicht noch als Hund durch, aber Lacota würde zu viel Aufsehen auf sich ziehen.“

„Und wenn du etwas nicht verstehst, Lilith, dann frag nicht nach.“

Ich nickte. „Ich verstehe schon, ich soll keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen.“

„Das heißt auch, dass du niemanden angreifst, solange keine eindeutige Gefahr von ihm ausgeht.“ Luan lächelte leicht. „So wie bei mir.“

„Ich habe die Situation falsch interpretiert.“

„Wir haben die Situation falsch interpretiert“, verbesserte Luan mich.

Mein Blick richtete sich auf ihn. Hatte er gerade wirklich zugegeben einen Fehler begangen zu haben? Oh Göttin, wir waren wirklich am Ende angelangt.

Destina seufzte. „Es gibt eigentlich noch so viel was ich dir sagen müsste, damit du zurechtkommst, aber das würde Wochen dauern.“

„Aber die haben wir nicht“, sagte Licco leise.

„Nein, die habt ihr nicht.“ Destina seufzte. „Und die Hälfte würdet ihr auch gar nicht verstehen.“

„Das wichtigste wissen sie jetzt.“ Luan legte die Hände offen auf dem Tisch. „Denk einfach daran, dass die einzige wirkliche Gefahr vom General ausgeht.“

„Und er hat das Tigerauge.“ Ich kniff die Lippen zusammen. Wie sollte ich es nur an mich bringen? Er würde es mir mit Sicherheit nicht freiwillig geben, also musste ich mich ihm stellen – und das so schnell wie möglich. Viele Leben hingen davon ab. Das Leben meines Fafas hing davon ab. Oh Göttin, wie sollte ich das schaffen? Würde ich es überhaupt rechtzeitig schaffen, um ihn zu retten? Priester Ausar hatte es doch gesagt, selbst wenn ich Bastets Macht schon nach kurzer Zeit erlangte, konnten hier bereits Wochen ins Land gezogen sein. Würde er noch solange durchhalten?

„Ihr solltet euch zur Ruhe betten“, schlug Priester Ausar vor. „Brecht im Morgengrauen zum Tempel der Elfen auf und wisset, dass Bastet ihre schützende Hand immer über euch hält.“

Das tat sie, aber auch sie konnte die Zeit nicht aufhalten. Ich erhob mich von meinem Platz, aber ich würde mich nicht auf mein Lager zurück ziehen. Ich musste meinen Fafa sehen, denn es konnte das letzte Mal sein.  

 

°°°°°

Kapitel Dreizehn

 

Der Wald um uns herum wurde immer dichter. Der Baldachin der Blätter sperrte die Sonne aus und beglückte uns nur hin und wieder mit einem Glitzern der Strahlen, das durch das Dach schimmerte. Dieses Zwielicht der abendlichen Dämmerung gab diesen Wäldern eine unwirkliche Atmosphäre.  Es war ruhig. Kaum ein Tier war zu hören. Es war so ganz anders als der Teil des Waldes, der in Ailuran wuchs – zumindest bevor das alles geschehen war.

Noch nie war ich so tief in den Wald der Elfen eingedrungen. Natürlich, während unserer Ausbildung wurden wir im Wald von Ellan ausgesetzt, doch hatten wir uns nie dem Tempel nähern dürfen. Doch heute war ich im Auftrag meiner Göttin unterwegs.

Unter mir spürte ich die gleichmäßigen Schritte von Lacota. Sie lief so sanft über den laubigen Boden des Waldes, dass es ein dahingleiten durch Licht und Schatten war. Ich spürte wie ihre Muskeln sich bewegten, wie das seidige Fell meine Beine umschmeichelte.

Vor mir spürte ich die Wärme von Licco und erinnerte mich daran, was ich fast verloren hatte. Aber nun war ich auf dem Weg alles wieder in Ordnung zu bringen. Bastet hatte es bestimmt, ich war eine Auserwählte und ich würde das Tigerauge zurück in die Heimat bringen, auf dass der Schrecken verschwand. Das war mein Auftrag.

Oh Göttin, das schaffe ich nicht.

Mein Blick glitt hinüber zu Acco, der Aman auf dem Rücken an unserer Seite trappte.

Aman.

Was war das nur? Warum fühlte ich mich so wenn ich ihn sah? Warum hatte ich zugelassen, dass er mich so berührte? Warum hatte ich es gewollt? Und warum wollte ich es immer noch. Am liebsten würde ich auf Accos Rücken klettern und mich an Amans breiten Rücken kuscheln, während wir gemeinsam durch diese Wälder getragen wurden.

Aber da waren auch plötzlich diese Zweifel.

Finis.

Hat er dir das eingeredet? Und du fällst auch noch darauf rein?

Die ganze Nacht hatte ich mich auf meinem Lager hin und her gewälzt. Hatte Jaron vielleicht Recht? Hatte ich mir wirklich etwas einreden lassen? Schließlich war es gegen alles was ich gelernt hatte. Es war falsch.

Aber es fühlte sich so richtig an.

Ich wusste einfach nicht was ich tun sollte. Wahrheit oder Lüge? Falsch oder richtig? Es war so … verwirrend. Und die Zeit mich damit auseinander zu setzen hatte ich einfach nicht.

Als hätte er meinen Blick gespürt, wandte Aman mir den Kopf zu. In seinen Augen lag ein Funke, den ich so noch nie wahrgenommen hatte. Wie er mich ansah, es war eine Liebkosung die über meine Haut strich. So intensiv.

Hastig vergrub ich mein Gesicht an Liccos Rücken. Nun war keine Zeit für solche Geistreden. Ich musste mich auf das konzentrieren, was Fafa mir vor Stunden gesagt hatte. Ich hatte nicht gehen können, ohne ihn ein letztes Mal zu sehen. So schwach, so verletzlich.

Miranja.

Wie er ihren Namen ausgesprochen hatte. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Ich erinnerte mich an den Ausdruck in seinem Gesicht, an den Ton seiner Worte.

„Miranja“, flüsterte er.

„Miranja? Wer ist das?“

„Sie wird euch helfen.“ Er hustete, krümmte sich dabei leicht zusammen.

Es tat mir weh ihn so zu sehen. Den großen Zaho, den stolzen Krieger, der sich durch viele Schlachten geschlagen hatte. Nun lag er hier und konnte sich nicht einmal alleine von seinem Lager bewegen.

Seine Augen fielen ihm zu und seine Atmung hörte sich so schwer an, dass ich kurz davor war in Panik zu verfallen. „Du musst durchhalten“, flüsterte ich leise und strich über seine Hand. „Bitte, gib nicht auf.“

„Geh zu Miranja, sie wird dir helfen.“

„Miranja? Wer ist Miranja?“

Doch er konnte nicht mehr antworten, die Krankheit hatte ihn schon wieder zurück ins Land der Götter geschickt, der einzige Ort, an dem er im Moment keinen Schmerz leiden musste.

Ich drückte die Lippen zu einem festen Strich zusammen. Ich hatte keine Zeit nach einer Miranja zu suchen, ich musste dem Auftrag meiner Göttin folgen.

Licco stieß einen schweren Seufzer aus und ließ den Kopf hängen. „Fafa hat Recht, wir sollten zu Miranja gehen.“

„Aber wir müssen doch …“

„Vertraust du mir?“ 

„Diese Frage war überflüssig.“

Sein Mundwinkel zuckte ein wenig. „Dann glaub mir einfach wenn ich dir sage, dass sie uns helfen kann. Mit Miranjas Hilfe kommen wir leichter ans Ziel.“

Ich sah Licco an, doch er schien gar nicht wirklich hier zu sein. „Wer ist Miranja?“

„Jemand den Fafa vor vielen Jahren einmal aus dem Moor gezogen hat.“

Mehr hatte Licco dazu nicht gesagt.

Im ersten Moment hatte ich geglaubt, dass diese Miranja meinem Fafa einfach etwas schuldig war und uns deswegen helfen würde, doch mein Gefühl sagte mir, dass mehr dahinter steckte. Ich wusste nur nicht was.

Trotzdem ritten wir nun zum Tempel der Elfen, denn diese Miranja lebte dort.

Ich sah dem treffen mit Unwohlsein entgegen und konnte nicht einmal sagen warum.

 

°°°

 

Auch mit schiefgelegtem Kopf konnte ich die Fresken auf den Säulen nicht deuten. Es ergab einfach keinen Sinn, warum die Elfen darauf alle drei Beine hatten.

„Es geht um Fruchtbarkeit“, erklärte Licco ausdruckslos.

Ich war zu Müde von der Reise um rot zu werden, als mir die Bedeutung klar wurde. Ich fand sie einfach nur übertrieben dargestellt.

Die Nacht war schon lange über uns hereingebrochen. Wir waren den ganzen Tag ohne Pause geritten und standen nun direkt vor der Tempelanlage.

Schon von weiten hatte ich sie gesehen. Eingebettet in einer großen Talsenke, umschlossen und durchwachsen von der wildesten Natur, die dieses Land zu bieten hatte, tauchten immer wieder kleine Nebengebäude und Teile von Dächern und Säulen zwischen der unendlichen Grüne auf.  Doch die Anlage im Ganzen blieb die ganze Zeit im Verborgenen. Der Tempel und der Wald schienen Eins zu sein.

Selbst jetzt, als wir vor dem Säulengang standen, der in das Herz des Tempels führte, erblickten wir nur das, was direkt vor unseren Augen lag.

Es war so ganz anders als der Tempel der Bastet, wo alles offen und weit war und der Wind die Haut streichelte, als wollte er einen verführen ihn in die Weiten der Welt zu folgen.

Ich ließ mich von Lacotas Rücken gleiten und ließ meinen Blick langsam über die Stufen der Führung gleiten. Sie waren vom Moos mit der Zeit so überwuchert worden, dass nur noch wenig vom Stein durchblitzte. Es machte den Anschein, dass dieser Ort schon vor Jahrhunderten der Natur überlassen worden war.

Ich spitzte die Ohren und versuchte die Witterung der Bewohner aufzunehmen, aber der starke Duft der vielen tausend Blüten, die an Ranken, Büschen und Bäumen wuchsen machten es mir unmöglich etwas genaueres wahrzunehmen. „Wo sind die Elfen?“ Eigentlich hatte ich erwartet, dass der Eingang bewacht wurde, aber das einzige Leben das hier herrschte schien die kleine Maus zu sein, die zitternd unter einem Ginsterstrauch aushaarte

„Täusch dich nicht, sie sind hier.“ Licco ließ den Blick hoch in die Kronen der Bäume gleiten. „Und sie wissen von unserer Ankunft.“

Ich folgte seinem Blick, konnte aber noch immer niemanden ausmachen. Elfen waren Wesen des Waldes – noch mehr als wir. Sie schienen sie nicht nur beherrschen zu können und in ihr zu leben, manchmal bekam man den Eindruck, dass sie selber die Natur waren und damit eines der mächtigsten Wesen, die dieses Land beherrschten. „Und warum zeigen sie sich dann nicht?“

„Sie wissen wer ich bin und ich darf das Gelände betreten.“

Ich runzelte die Stirn. „Sie kennen dich?“ Sie kannten ihn so gut, dass er ohne Begleitung der Elfen auf das Tempelgelände durfte?

„Du wirst schon sehen“, sagte er sehr kryptisch und gab Lacota mit leichtem Druck in die Flanken zu verstehen, dass sie weiterlaufen sollte.

Ich drehte mich zu Aman herum. Er schien das kurze Gespräch nur am Rande mitbekommen zu haben. Sein blick war auf einen Punkt links von den Säulen konzentriert.

„Aman?“

Sein Blick legte sich auf mich, so warm und einladend, dass mein Magen ganz komische Sachen machte. Er reichte mir die Hand, um mich hinter sich auf Acco raufzuziehen, doch ein Blick zu meinem Brestern reichte aus, dass ich zurück trat und den Kopf schüttelte.

Finis.

Hat er dir das eingeredet? Und du fällst auch noch darauf rein?

Ich wusste nicht mehr woran ich war und im Augenblick hatte ich auch keine Muße darüber nachzudenken.

Kleine Furchen legten sich auf seine Stirn, doch Aman wäre nicht Aman wenn er meine Zurückweisungen nicht einfach ignorieren würde. Kurzerhand sprang er von Acco und lief neben mir her.

Nun war es Licco die Stirn zu runzeln. Das war aber auch alles was er tat. Missbilligter er es? Oder lag es nur daran, dass ich eine Auserwählte war?

Meine Geistreden wurden unterbrochen, als eine Gruppe von jungen Elfen aus den dichten Wäldern des Tempels trat und uns auf dem Säulengang entgegen kamen. Sie waren etwas jünger als ich und warfen uns im Vorbeigehen neugierige Blicke zu. Dann waren sie auch wieder weg. Dann entdeckte ich zwei Krieger, die weiter vorne bei einer Säule standen uns sich leise unterhielten. Auch sie hielten uns nicht auf.

Je weiter wir liefen, desto mehr Elfen entdeckte ich. Anmutig, schlank, mit lagen spitzen Ohren. Die Meisten von ihnen trugen eine Toga und ähnliche Gewänder.

Niemand sprach uns an. Alles was wir bekamen waren Blicke.

Je tiefer wir auf das Gelände vordrangen, desto mehr musste ich trotz allem was mich belastete, staunen. Dieser Tempel war ein einziger Urwald. So überwuchert und verwachsen schien er wirklich ein Teil der Natur geworden zu sein. Wie eine vergessene Ruine. Dabei waren alle Gebäude die ich entdeckte völlig intakt. Und voller leben.

Immer wieder sah ich Elfen bei ihren täglichen Aufgaben. Alles war so … idyllisch – nicht wie das hektische Treiben, dass ich aus dem Tempel der Bastet gewohnt war.

Wir blieben auf dem ewigen Säulengang und schon bald und schon bald konnte ich in einiger Entfernung das wohl größte Gebäude des Geländes ausmachen. Aber nein, das war kein Gebäude, das war ein Baum, ein Baum von riesiger Größe. Und er war aus Stein. Heller Alabaster, der in der Sonne zu strahlen schien.

Der Stamm war so dick, dass ein kleines Dorf hineingepasst hätte und die Äste ragten so hoch und weitreichend zu alles Seiten, das sie fähig wären die Sonne zu verdecken. Aber die Blätter waren aus Kristall. Leicht bläulich glitzerten sie im Sonnenlicht wie tausend kleiner Diamanten.

Es war nur dem undurchdringlichen Urwald zu verdanken, dass ich seine Präsenz vorher nicht wahrgenommen hatte.

„Der Baum der Ewigkeit“, sagte Aman leise. „Es heißt er sei älter als die Götter selber.“

Ich runzelte die Stirn. „Wie kann er älter als die Götter sein, wo es doch die Götter waren, die diese Welt erschaffen haben?“

„Silthrim wurde nicht von den Göttern erschaffen“, korrigierte Aman mich. „Chnum formte nur die Dinge, die sich darauf befinden.“

Da sprach er wahr, aber … „Wenn dieser Baum nicht von den Göttern geschaffen wurde, woher kommt er?“ Welches Wesen war fähig so etwas zu kreieren?

„Vielleicht findest du es ja eines Tages heraus, dann kannst du …“

„Wir müssen hier lang“, unterbrach Licco ihn sehr ruppig und verließ den Säulengang ruckartig.

Da hatte ich wohl meine Antwort. Nein, es lag nicht daran, dass ich eine Auserwählte war, es lag einzig daran, dass Aman ein Lykanthrop war.

Finis.

Hat er dir das eingeredet? Und du fällst auch noch darauf rein?

Ich drückte die Lippen aufeinander. Nein, ich hatte es mir nicht einreden lassen. Ich spürte doch dass es so war. Warum sonst hätte er sich immer und immer wieder angenähert, obwohl ich ihm mehr als einmal deutlich gemacht hatte, dass er es lassen sollte? Jaron hatte Unrecht. Jaron musste einfach Unrecht haben.

Licco führte uns eine ganze Weile über verschlungene Pfade.

„Es war kurz vor deiner Geburt“, sagte er irgendwann leise. „Sie war mit den Natis im Moor gewesen um ihnen verschiedene Kräuter zu zeigen.“

„Wer?“ Wovon sprach er?

„Miranja“, sagte er.

Lacota ginge ganz ohne sein Zutun an der Abzweigung nach rechts.

„Sie hatten einen Hirsch in einem Moorbett entdeckt. Er war eingesunken und kam nicht mehr alleine heraus. Miranja hat ihn mit einer Liane herausgezogen, aber das Tier war so in Panik, dass es sie bei seiner Fluch umgestoßen hatte und sie selber ins Moor fiel.“

Er sah mich nicht an, während die Worte sehr langsam seinen Mund verließen. Was hatte er nur?

„Fafa war in der Nähe gewesen und hat die rufe der Natis gehört. Er hat Miranja dann aus dem Moor gezogen und dafür eine Schlammkugel von ihr ins Gesicht bekommen.“

„Bitte?“ Sie hatte ihn beworfen, nachdem er sie gerettet hatte?

„Er hatte sie ausgelacht, dafür hat sie sich gerächt.“

Er seufzte. „Miranjas Brestern ist eine Priesterin hier im Tempel. Sie selber kümmert sich um verwaiste Natis, aber sie steht ihrer Brestern sehr nahe.“

„Also gehen wir zu ihr, damit sie uns hilft. Wir fordern eine Schuld ein.“

„Nein, keine Schuld.“

Langsam bekam ich das Gefühl, dass er mir etwas verschwieg. „Was dann?“

Er schüttelte den Kopf. „Du wirst schon sehen.“

Vor uns öffnet sich der Wald zu einer kleinen, blühenden Lichtung. Ein Blumenmeer aus weißen Blüten. Ein halbes Dutzend Natis saßen dort im Halbkreis um eine hochgewachsene Elfe, die ihnen aus einem Buch vorlas und lauschten aufmerksam ihrer Stimme. Sie waren alle noch sehr jung. Das Älteste zählte vielleicht zehn Sommer. Und das war es auch, dass uns am Rand der Lichtung entdeckte. Es rief aufgeregt Liccos Namen, sprang auf die Beine und rannte auf meinen Brestern zu. Die anderen Natis folgten seinem Beispiel.

Licco schaffte es gerade noch von Lacota abzusteigen, bevor sich ein Dutzend dünner Ärmchen um seine Beine schlangen. Das Kleinste wurde von ihm sogar hochgenommen und mit einem lächelnden Kuss auf die Wange begrüßt.

Ich schaute dem Treiben verwundert zu. Scheinbar kannte man Licco hier sehr gut. Der kleine Junge auf seinem Arm schmiegte sich sogar vertrauensselig an seinen Hals.

„Wer ist das?“, fragte ein kleines Mädchen und zeigte auf mich und Aman.

„Fremde“, kam es von dem ältesten Jungen.

„Ich hab sie noch nie gesehen“, sagte ein anderer.

Der kleine Junge auf Liccos Arm kommentierte das Ganze, indem er sich einen Daumen in den Mund steckte.

Die Elfe auf der Wiese legte ihr Buch zur Seite und erhob sich in einer so anmutigen Bewegung, dass ich richtig neidisch wurde. Sie war eine wahre Schönheit. Nicht nur vom Äußeren. Sie strahlte etwas aus, dass nur wenige gegeben war. Blond und lächelnd kam sie auf uns zu, doch ihre Augen huschten suchend umher.

„Welch seltener Besuch.“ Ihre Stimme war angenehm, fast wie ein Streicheln der Seele, doch die leichte Sorge in ihren Augen konnte sie nicht übertünchen.

Licco setzte den kleinen Jungen zurück auf den Boden. Das war aber noch lange kein Grund für diesen seinen Daumen aus dem Mund zu nehmen. „Wir müssen mit dir sprechen“, sagte er ganz direkt.

Eine zierliche Falte erschien auf ihrer Stirn. „Geht es um …“ Ihr Blick huschte zu den Natis, die aufmerksam zu uns aufsahen. Sie lächelte die Kleinen an, strich einem Mädchen liebevoll über den Kopf und zog dem kleinen Jungen den Daumen aus dem Mund. „Ich glaube es ist an der Zeit, dass ihr alle mal in die Küche geht und euch von Natan Kekse holt.“

„Jaaa!“, riefen alle im Chor und rannten sofort los.

„Und lasst euch nicht von ihm abwimmeln“, rief sie ihnen noch hinterher. „Ich weiß dass er welche hat.“ Sie wartete genau bis zu dem Moment als sie alle außer Sichtweite waren, dann wandte sie sich mit sorgenvollem Gesicht Licco zu. „Geht es Zaho gut?“

Kleine Fältchen erschienen auf meiner Stirn. Wie sie den Namen meines Fafas aussprach. Von ihren Lippen klang er so vertraut und das war … seltsam.

„Nein.“ Licco schüttelte den Kopf. „Er hat die Krankheit.“

Ihr Mund ging auf, aber kein Ton kam heraus. Da war nur dieses plötzliche Entsetzen in ihren Augen.

„Er hat es so lange verheimlicht wie es ging. Ich habe es erst gestern erfahren.“

„Nein“, hauchte sie. In ihren Augen sammelten sich Tränen. „Bei Chnum, nein, das darf nicht sein. Bitte nicht.“

„Miranja, hör mir zu. Es gibt vielleicht einen Weg sie zu retten.“ In einer vertrauten Geste legte er ihr die Hand auf den Arm. „Aber dazu brauchen wir deine Hilfe.“

„Hilfe? Aber es gibt keine Heilung. Sie alle sind gestorben, jeder von ihnen und jetzt Zaho … oh Gott, das darf nicht …“ Sie schluchzte auf und schlug sich die Hände vor den Mund. Dicke tränen rollten über ihre Wange. Sie ließen sich durch nichts aufhalten.

Licco zog sie in seine Arme und drückte sie tröstend an seine Brust.

Ich konnte diesen Umstand nur beobachten und einen verwirrten Blick mit Aman tauschen. Was ging hier nur vor sich?

„Die Umstände haben sich geändert“, sagte Licco leise. „Unsere Göttin ist wieder bei uns und sie hat uns einen Weg gezeigt, wie wir wieder Leben können. Dazu brauchen wir aber ein Portal. Deswegen musst du uns helfen.“

„Ein Portal?“ Sie hob ihr tränennasses Gesicht von seiner Brust und sah zu ihr auf. „Wie kann ein Portal helfen eine Krankheit zu heilen?“  

„Es ist eine lange Geschichte.“ Er richtete seinen Blick auf mich. „Und sie wird noch länger werden.“

„Nur wenn ich das Portal benutzen darf“, sagte ich und musterte die Elfe kritisch.

Sie erwiderte meinen Blick durch ihren Tränenschleier. „Wer bist du?“, fragte sie leise.

„Lilith und wer bist du, dass du so vertraut von meinem Fafa sprichst?“

Als sie meinen Namen hörte, wurden ihre Augen ganz groß. „Lilith? Du bist … du bist Zahos kleines Mädchen?“

„Sie ist zu uns zurückgekehrt“, sagte Licco leise. „Als Auserwählte unserer Göttin.“

„Licco!“ Bei Bastet, warum sagte er ihr das?

Wenn es möglich war, wurden ihre Augen sogar noch größer. „Bei Chnum, das ist ein Wunder.“

„Es ist ein Segen“, flüsterte Licco.

 Nein, es war ein Fluch, denn ich wusste noch immer nicht, wie ich die vor mir liegende Aufgabe erfüllen sollte.

Miranja ließ von Licco ab und ergriff meine Hand so fest, dass es wehtat. „Valeo-vir, du wirst ihn retten. Bitte, du musst ihn retten.“

Ich runzelte die Stirn. „hast du mich gerade Valeo-vir genannt?“

„Dich? Nein, ich rede von deinem Fafa.“

Fafa? Warum nannte sie meinen Fafa bei einem solchen Kosenamen?

Meine Verwirrung schien auch Miranja zu befallen. Verwirrt wandte sie Licco das Gesicht zu. „Habt ihr es ihr nicht gesagt?“

„Nein, noch nicht.“

„Mir was gesagt?“

Miranja zögerte einen Moment, dann erschien ein Lächeln auf ihren Lippen, das so traurig aussah, dass es einem das Herz zerreißen konnte. „Zaho ist mein Herz. Er ist mein Finis und ich die seine.“

Mein Mund klappte auf, aber kein Ton kam heraus. Mein Fafa hatte seine Finis gefunden? Ich einen anderen Volk? „Aber … nein, das geht nicht. Du kannst nicht … ich …“ Ich sah hilfesuchend zu Licco. „Warum hast du mir das nicht gesagt? Gestern noch … oh Göttin.“ Mein Blick glitt zu Aman.

„Du bist Fafa ähnlicher, als du glaubst“, sagte Licco leise, denn er wusste genau, worum meine Geistreden sich gerade drehten.

Aman.

Finis.

Noch gestern hatte er mir gesagt, dass ich das nicht tun könnte, weil … oh Göttin. Er meinte nur, es ginge nicht, weil das Volk zu mir aufsieht und es verboten war. Er hatte nicht gesagt, dass es sowas nicht gibt – nicht so wie Jaron.

„Es geschieht öfter als du glaubst“, sagte Licco leise. „Doch …“

„Sag mir jetzt nicht was ich darf und was nicht.“ Ich schüttelte Miranjas Hand ab und verschränkte meine Arme vor der Brust. Warum nur kam ich mir von meinem Brestern plötzlich so verraten vor? Warum hatte mein Fafa es mir nicht gesagt? Er kannte sie schon so lange, Licco hatte es doch erzählt? Wie lange bestand diese Finis schon?

„Und darum geht es auch nicht. Wir sind hier um um ein Gespräch mit den Priestern zu ersuchen.“

Der vorsichtigen Berührung von Aman wich ich aus.

Du bist Fafa ähnlicher, als du glaubst.

War ich das wirklich?

„Ich werde euch helfen“, sagte Miranja und versuchte sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. „Folgt mir und erzählt mir, was geschehen ist. Je mehr ich weiß, desto besser.“

 

°°°

 

„Ich kann nicht versprechen ob sie euch helfen werden.“

„Warum sollten sie uns ihre Hilfe verweigern?“

Als Miranja beharrlich schwieg und nichts als unsere Schritte in den Gängen des Tempels wiederhalten, sah ich zu Licco auf. Was konnte es für einen Grund geben, dass Verbündete uns die Benutzung ihres Portals verweigerten?

Licco schüttelte den Kopf. „Das ist nicht so einfach zu erklären.“

„Versuch es.“

Er öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder.

„Ihr seid keine Bedrohung mehr.“

Das kam von Aman.

„Was sagst du?“

„Der Frieden zwischen den Völkern ist tückisch. Er ist so unsicher, dass der kleinste Auslöser ausreichen könnte um ihn wieder ausbrechen zu lassen.“ Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, wandte er mir das Gesicht zu. „Von achtzehn Völkern hat sich nur eines nie an diesem Krieg beteiligt. Im Moment sind die Ailuranthropen keine Gefahr mehr. Es bedeutet einen Feind weniger. Natürlich, ihr seid Verbündete der Elfen. Sie bieten Euch begrenzten Unterschlupf und auch Schutz. Aber auch nur weil ihr Machtlos seid. Sie dulden euch nur.“

„Willst du damit sagen, dass sie uns nicht helfen werden, weil wir damit wieder zu alter Blüte keimen würden?“

„Es liegt durchaus im Bereich der Möglichkeiten.“

Das konnte nicht wahr sein, schließlich waren wir Verbündete und verbündete halfen einander. „Spricht er wahr?“, fragte ich Miranja ganz direkt. Als sie nicht sofort antwortete, schloss ich an ihre Seite auf. „Antworte mir.“

Sie warf mir einen kurzen Blick zu, schien ihre Worte mit Bedacht zu wählen. „Ihr gehört nicht zu unserem Volk und es gibt immer noch Elfen, die es sehr begrüßen, dass dort draußen eine Gefahr weniger auf uns lauert.“

Wie konnte sie so etwas nur sagen? In der Vergangenheit hatten wir ihrem Volk so oft beigestanden. Bedeutete das den gar nichts? „Geistredest du auch so?“

„Nein“, sagte sie sofort, blickte mich dabei aber nicht an. „Ich möchte dass die Ailuranthropen wieder zurückkehren.“

Bei diesen Worten hatte sie einen so wehmütigen Klang in der Stimme, dass ich sofort verstand. „Wegen meinem Fafa.“

„Ich brauche ihn.“ Ein trauriges Lächeln trat auf ihre Lippen. „Er ist mein Herz.“

Nein, er war viel mehr als das, er und sie waren Finis.

Mein Blick huschte zu Aman. Waren wir das auch? Oh Göttin, warum nur musste ich all diese Zweifel mit mir rumtragen? „Glaubst du, sie werden uns das Portal benutzen lassen?“, fragte ich, um meine Geistreden von diesem Lykanthropen fortzutragen.

„Ich hoffe es“, sagte sie leise. „Nach allem was ich gehört habe, kann ich es nur hoffen.

Da war wieder dieses Wort. Hoffnung. Hoffnung war alles was und noch geblieben war. Ich war die Hoffnung meines Volkes. Doch was geschah, wenn mir die Priester die Benutzung des Portals verweigerten? Wir würden zu einem anderen Tempel reisen müssen; immer wieder. Solange bis sich ein Volk erbarmte.

Es widerstrebte mir zutiefst mich einem andren Volk gegenüber so hilfebedürftig zeigen zu müssen. Doch in dieser Situation blieb mir – blieb den Ailuranthropen – gar nichts anderes übrig.

Schweigend folgten wir Miranja den hell erleuchteten Korridor entlang. Das einzige Geräusch in der Stille waren unsere Schritte und das Klacken von Accos und Lacotas Krallen.

Wir befanden uns im inneren des Baums der Ewigkeit. Es war so ganz anders als ich es mir vorgestellt hatte. Wo Draußen die wilde Natur vorherrschte, gebietet hier glatter Stein. Es sah fast so aus wie im Tempel der Bastet. Selbst die Malereien an den Wänden erzählten ähnliche Geschichten. Eigentlich gab es wirklich nur einen wirklichen Unterschied. Im Tempel der Bastet fand man überall das Bildnis unserer Göttin – eine sitzende Katze. Hier prangte an allen nur erdenklichen Stellen das Abbild eines wilden Widders mit mächtigen Hörnern -  das Mal des Chnum, der Gott der unsere Welt erschaffen hatte.

Miranje hielt gezielt auf eine offene Flügeltür zu, hinter der ich eine große Halle erkannte. Stimmen von Hunderten drangen zu uns auf den Gang. Doch nichts bereitete mich auf das vor, was sich dahinter wirklich verbarg.

„Überlasst mir das Reden“, wies sie uns an. „Sprecht erst wenn ihr dazu aufgefordert werdet.“

„Licco nickte.

„Verstanden“, sagte ich, auch wenn es mir nicht passte Befehle von einer Elfe entgegen zu nehmen – besonders nicht wenn sie scheinbar das größte Geheimnis meines Fafas war. Und wieder musste ich mich fragen, wie das überhaupt möglich war. Und war es das Gleiche, was Aman und mich verband? Ich warf ihm einen vorsichtigen Blick zu, wandte mein Gesicht aber sofort wieder ab, als ich sah wie er mich beobachtete. Jetzt war nun wirklich nicht die Zeit zu solchen Geistreden.

Ich atmete tief durch und konzentrierte mich auf den Weg vor uns. Ein Schritt über die Schwelle, dann befand ich mich in einem Saal, wie ich ihn noch nie gesehen hatte.

„Bei Bastet“, entkam es mir und wurde mit einem kleinen Lächeln von Miranja kommentiert. Dieser Saal war wirklich riesig. Und so hoch, dass ich kaum die Decke sehen konnte. Es machte den Anschein, als sei der komplette Baum hohl, nichts als eine Hülle, die all das hier verbarg.

In der Mitte befand sich eine Art Podest, der mindestens sechs Mann hoch war – sechs sehr große Männer. N den Seiten war eine gewundene Treppe in den Stein gehauen worden, die spiralförmig nach oben führte, und so reich mit Kristalen verziert war, dass sie im ersten Augenblick den Anschein erweckte, nur aus ihren zu bestehen – tausende kleiner Kristalle.

Oben auf dem Podest stand ein Gewirr aus Ranken, die sich s miteinander verflochten hatten, dass sie den Rahmen des Portals der Elfen bildeten. Hunderter kleiner Kristallblätter zierten das helle Holz und ließen mich an eine Nachbildung des Baums der Ewigkeit geistreden. Es war beeindruckend, wie das Licht des Portals sich in den Blättern spiegelte und brach und den Tempel so in das Ebenbild des Sternenhimmels verwandelte.

Doch eine Sache verirrte mich. Die Elfen selber. Der ganze Saal war voll mit ihnen. Stände in den Waren angepriesen wurden, schwatzende Frauen und Männer. Dieser Saal war ein Basar, rund um das Portal aufgebaut. Aber wo kamen sie nur alle her? Der Gang durch den wir geschritten waren, war bis auf uns leer gewesen.

Gerade traten zwei lachende Elfen durch das Portal. Dann erlosch es hinter ihnen einfach.

Ich runzelte die Stirn. Die hatten nicht wie Krieger ausgesehen.

„Wir müssen nach hinten“, sagte Miranja und führte uns seitlich vorbei.

Der Platz rund um den Hügel war nicht leer. Es wirkte wie ein großer Marktplatz. Überall liefen die Bewohner des Tempels herum. An Stände warben die Verkäufer ihre Güter an und die Lautstärke die hier herrschte hatte nichts mit der Ruhe zu tun, die mir aus dem Tigersaal bekannt war.

Doch der Hügel war bis auf einen einzigen jungen Mann verwaist.

„Wo kommen die ganzen Elfen her?“, fragte ich. Der Gang durch den Miranja uns geführt hatte – der Haupteingang – war bis auf uns völlig leer gewesen.

Miranja warf mir einen kurzen Blick zu, schwieg aber.

Ich runzelte die Stirn. Was hatte das zu bedeuten?

 

°°°

 

Es gab einen zweiten Gang. Hier war nicht mehr los als im ersten, doch dieser führte uns an unser Ziel. Nicht zum Portal, nein, zu den Priestern dieses Tempels – zumindest von drei von ihnen. Die weißen Roben wiesen sie aus.

Der Raum in den Miranja uns brachte, war nicht sehr groß. Ein langer flacher Tisch stand in der Mitte. Um ihn herum waren ein Dutzend Kissen verteilt, auf denen zwei Männer und eine Frau knieten und sich leise miteinander unterhielten. Doch sobald wir den Raum betraten, sahen sie zu uns auf.

„Miranja.“ Auf den Lippen der Frau spielte ein zierliches Lächeln. Und ihre Stimme. Sie war so sanft, als wollte sie mit ihr streicheln. Solch eine Stimme hatte ich mein Lebtag noch nicht wahrgenommen. Sie musste ein Geschenk ihres Gottes sein.

„Sei gegrüßt,  Nuri Meen-Soror.“

Ah, dann war diese Nuri wohl ihre Brestern.

„Grandis.“ Miranja nickte dem größeren der beiden Männer zu. Er hatte einen so runden Bauch, dass die Robe darüber spante. „Tenuis.“ Der andere Mann hatte eine auffallend große Nase. Die Schwester dagegen war sehr dünn, ja fast hager. Ihr Hals wurde von einer Kette geziert, mit einem Anhänger ihres Gottes – ein Widder mit mächtigen Hörnern.

Priester Grandis hatte nur einen kurzen Blick für die Elfe übrig. Seine Augen huschten misstrauisch auf mich und meine Begleiter und waren wohl die Ursache für das tiefe Runzeln auf seiner Stirn. „Wen hast du uns da mitgebracht?“

„Ausgesandte der Ailuranthropen.“ Ihr Blick huschte kurz zu Aman. „Und einen ihrer Amicus.“

Amicus würde ich ihn nicht gerade nennen, eher … naja, ich wusste nicht was Aman genau war, jedoch mehr als das, was dieses eine Wort aussagen konnte. Da Miranja uns aber angewiesen hatte zu schweigen, ließ ich den Mund geschlossen und brachte meine Geistreden weg von Aman, um mich auf das vor uns Liegende zu konzentrieren.

„Ausgesandte?“ Nuri neigte den Kopf leicht zur Seite. „Was wünschen sie?“

Miranja strafte die Schulter und richtete ihren Blick allein auf ihre Brestern. „Was ich euch jetzt erzähle, muss in diesem Raum bleiben. Bitte, es ist wichtig.“

Die drei Priester tauschen einen kurzen Blick, dann nickte Priester Tenuis. Er schien in der Rangordnung über den beiden anderen zu stehen.

„Ich danke euch.“ Miranja winkte uns in den Raum und schloss dann die Tür sorgfältig, bevor sie sich wieder den Priestern zuwandte. „Bastet ist zu den Ailuranthropen zurückgekehrt“, sagte sie ohne weitere Umschweife. „Occino ist wieder bei ihnen und ihnen wurde eine Auserwählte gesandt.“

Priester Grandis bekam große Augen. „Eine … eine Auserwählte?“

Auserwählte waren in der Geschichte der Völker schon immer eine Rarität gewesen und standen damit immer für große Macht und Einfluss. Kein Wunder also, dass dieser Priester so reagierte. Es wunderte mich nur, dass die beiden anderen so ruhig blieben.

Miranja nickte. „Sie ist dazu auserkoren worden die Ailuranthropen aus ihrem Leid zu befreien.“

„Bei Chnum.“ Priesterin Nuri berührte den Anhänger ihrer Kette. „Das sind ausgezeichnete Neuigkeiten.“

„In der Tat.“ Grandis misstrauischer Zug vertiefte sich. „Deswegen komme ich auch nicht umhin mich zu fragen, warum diese Nachricht an uns gegeben wird.“

„Weil sie Hilfe brauchen.“

„Hilfe?“ Priester Tenuis zog eine Augenbraue nach oben. „Ich glaube wir haben den Ailuranthropen in der Vergangenheit bereits genug geholfen.“

„Es ist nur eine kleine Bitte“, sagte ich und zog damit sofort die Aufmerksamkeit aller Priester auf mich. Natürlich, ich hatte durchaus verstanden, dass wir schweigen sollten, doch schließlich waren wir es, die uns wegen diesem Anliegen an sie wandten. Es lag mir einfach nicht still daneben zu stehen, während andere meine Aufgabe erfüllten – wenigstens diesen Teil würde ich erfüllen können. Was danach kam wussten nur die Götter.

„Und du bist?“, wollte Priester Tenuis wissen.

Ich zögerte einen Moment, drehte mich dann aber seitlich, damit sie das Mal meiner Göttin sehen konnten. „Ich bin Lilith, die Auserwählte meines Volkes.“ Unsicher wanderte mein Blick zu Licco. Hatte ich alles richtig gemacht? Da er mich nicht ansah, konnte ich es nicht sagen.

„Ein Natis?“ Priester Grandis lachte bellend auf. „Eure Göttin schickt ein junges Ding um ihr Volk zu retten?“

Mein Blick verfinsterte sich. Ich könnte ihre Geistreden in diesem Moment nur zu genau erraten. Und sie gefielen mir gar nicht. Wie schlecht musste es den Ailuranthropen gehen, wenn sie jemanden wie mich schickten? Konnte dieses Mädchen wirklich ein ganzes Volk retten? Sie nahm uns sicher auf den Arm, oder?

Ich biss die Zähne fest zusammen.

Aman verschränkte die Arme vor der Brust. „Lilith ist die einzige in ihrem Volk, die die Fähigkeiten besitzt, die vor ihr liegende Aufgabe zu erfüllen.“

„Sie ist ein kleines Mädchen“, wiedersprach Priester Grandis.

„Es sind oft mal die Jüngsten unter uns, die in ihrer Zukunft großes vollbringen.“ Nuri lächelte mich an.

Priester Tenuis nickte. „Wie du schon sagst, in ihrer Zukunft. Wenn sie älter sind. Nicht in diesen jungen Jahren.“

„Bei allem Respekt“, sagte ich. „Es war eine Göttin die mich auserwählte und kein unerfahrener Dorfknabe. Ich habe Vertrauen in meine Göttin.“ Wenn auch nicht in meine Fähigkeiten.

„Natürlich“, kam es etwas hämisch von Priester Tenuis. „Aber …“

„Vielleicht sollten wir uns ihr Anliegen erst einmal anhören“, unterbrach Nuri und schenkte dem Priester ein hinreißendes Lächeln. „Deswegen sind sie schließlich an uns herangetreten. Wenn ihre Göttin wünscht, dass sie diese Aufgabe erfüllt, dann ist ihr Alter nicht von Bedeutung. Götter sind weise, sie wissen was sie tun.“

Dagegen konnten die beiden Priester nichts einwenden. Doch die Überheblichkeit angesichts meiner Person wich nicht aus ihren Gesichtern.

„Ich stimme dir zu“, sagte Priester Tenuis. „Also, welche kleine Bitte wollt ihr uns vorbringen?“

Ich tauschte einen Blick mit Miranja, in dem sie mir stumm zu verstehen gab, dass sie nun wieder das Reden übernehmen würde.

„Den Ailuranthropen ist nun bekannt, wo sich das Tigerauge befindet. Es ist nicht wie alle vermutet haben in den Händen von Sachmets Nachkommen, sondern in einer fernen Welt, die sie nur betreten kann, wenn sie durch ein Portal geht. Daher wendet sie sich mit der Bitte an uns, das Portal nutzen zu dürfen.“

Was folgte war schweigen und sowohl verwirrte als auch ungläubige Blicke.

„Ich bitte darum, dass ihr sie das Portal nutzen lasst um ihr Volk zu retten“, fügte Miranja noch hinzu.

Und Zaho.

Sie sprach es nicht aus, doch diese Worte lagen in ihren Augen.

Priester Tenuis zog wieder eine Augenbraue nach oben. „Du bittest uns? Haben wir in der Vergangenheit nicht bereits genug für die Ailuraner getan?“

Priester Grandis schnaubte. „Sie will doch nur dass wir helfen, weil sie eine Schwäche für diesen Krieger hat.“

Sie wussten von meinem Fafa? Sie wussten es vor mir? Heillos!

„Jeder von uns hat eine kleine Schwäche“, sagte Nuri mit ihrer samtweichen Stimme. „Bei dem einen ist es die Liebe und bei dem anderen …“ Sie musterte den runden Bauch des Priesters auffallend deutlich. „… sind es die Genüsse des Mahls.“

Das half nicht dabei die Laune des Priesters zu heben. „Eine Liebe die von den Gesetzen verboten ist.“

„Es steht uns nicht zu uns einer Finis in den Weg zu stellen. Sie wurde von den Göttern arrangiert und dient immer einen Zweck. Vielleicht ist es dieser hier. Vielleicht soll Miranja helfen uns zu überzeugen die Auserwählte ziehen zu lassen.“

Das Schnauben von Priester Grandis hallte von den Wänden wieder. „Das ist sehr weit hergeholt.“

„Aber möglich.“ Priesterin Nuri beugte sich nach vorne und legte ihre Hand auf die von Priester Grandis. „Wie können wir uns das Recht heraus nehmen zu entscheiden wer leben darf, und wer sterben muss? Denn genau das wird passieren, wenn wir uns weigern sie ziehen zu lassen. Ihr Volk wird sterben.“ Sie wandte sich Priester Tenuis zu. „Wie können wir uns erdreisten uns einer Auserwählten der Götter in den Weg zu stellen?“

„Dieses Mädchen wurde nicht von meinem Gott auserwählt.“

„Sie ist eine Auserwählte, Tenuis.“  

„Sie ist ein Natis.“

„Und eine Auserwählte.“

Der Priester drückte die Lippen aufeinander und wich ihrem Blick aus.

„Was kann es schon schaden sie ziehen zu lassen?“, drang Nuri weiter in die beiden Priester vor. „Es gibt keinen Grund diese Bitte abzuschlagen. Und vergesst nicht, die Götter stehen hinter dieser Auserwählten, den auch wenn der Frieden auf Silthrim wacklig ist, so hat er bei den Göttern schon lange bestand. Wenn wir ablehnen, können wir damit auch Chnum verstimmen.“

Priester Grandis schnaubte abwertend. „Occino ist nicht an uns herrangetreten.“

„Nein, das nicht, aber du weißt auch dass die Götter uns den freien Willen lassen. Er wird auch nicht kommen und uns befehlen ihnen zu helfen. Es ist ganz allein unsere Entscheidung. Wollen wir bis ans Ende unserer Tage in dem Wissen leben, dass wir ein ganzes Volk haben sterben lassen, nur weil wir ihnen bereits so viel gegeben haben? Also ich möchte das nicht. Meine Erlaubnis haben sie.“

„Du vergisst Nuri“, sagte Priester Tenuis. „Wenn sie wieder das werden was sie einmal waren, könnten sie ganz schnell vergessen, was wir für sie getan haben. Im Moment geht von den Ailuranthropen keine Gefahr aus, aber das könnte sich ganz schnell ändern. Kannst du damit leben, wenn sie kommen und dir alles nehmen, was du liebst?“

Darauf folgte Schweigen.

Ich konnte nicht glauben, dass sie wirklich solche Geistreden hielten. Mein Volk hatte keinen Grund ihnen ein Leid anzutun – nicht wenn sie nicht damit begannen. Ich wollte den Mund öffnen und ihnen genau das sagen, doch Miranja schüttelte den Kopf. Ich sollte still sein. Das passte mir nicht. Schließlich waren wir keine blutrünstigen Monster – nicht so wie andere Völker.

„Was du sagst ist wahr“, begann Nuri langsam. „Und wenn es wirklich dazu kommen sollte, werde ich mich vor Chnum verantworten. Doch ich glaube nicht daran. Die Ailuranthropen waren schon immer ein wildes und kriegerisches Volk gewesen und haben im großen Krieg vielen Völkern Leid gebracht. Doch seit das Abkommen des Friedens geschlossen wurde, haben sie nur noch gekämpft um sich oder andere zu verteidigen. Sie sind ein Volk der Ehre und ich bleibe dabei. Ich erlaube ihnen die Benutzung des Portals. Was ist mit euch?“

„Es wird eine Erleichterung sein wenn wir uns nicht mehr um sie kümmern müssen“, kam es zu meiner Überraschung von Priester Grandis. „Auch meiner Erlaubnis haben sie. Doch du musst entscheiden, Tenuis.“

Das verstand ich nicht. Priester Grandis hatte sich doch am lautesten dagegen ausgesprochen. Warum also stimmte er plötzlich so bereitwillig zu? Nur um sein Gewissen zu erleichtern, falls Priester Tenuis ablehnte? Schließlich hätte er dann eingewilligt und könnte damit immer sagen, dass er nicht Schuld an dem Tod meines Volkes sei.

Ich warf einen fragenden Blick zu Miranja, doch sie konzentrierte sich ganz auf Priester Tenuis. Von ihm hing nun alles ab. Er stand in der Rangordnung über den anderen, er würde letztendlich die Entscheidung treffen.

Doch die Zeit des Wartens wurde lang und mit jeder verstreichenden Minute wurde ich nervöser. Er würde es ablehnen. Ich sah es an der Art wie er die Lippen zusammen kniff. Abweisend. Das war es, was mir zu ihm einfiel.

„Im Moment sind die Ailuranthropen keine Gefahr.“ Er richtete den Blick auf mich. „Ich muss für das Wohl meines Volkes sorgen und daher kann ich eurer Bitte nicht zustimmen.“

„Was!?“

Erschrocken drehte ich mich zu Licco um. Und hätten mich nicht schon die Worte des Priesters sprachlos gemacht, dann spätestens sein Gesichtsausdruck. Er war wütend. Verzweifelt. Und zwar auf eine Art, die ich noch nie an ihm gesehen hatte.

„Sie wollen jeden Ailuranthropen dieser Welt sterben lassen, nur weil die Möglichkeit einer sehr unwahrscheinlichen Zukunft besteht?!“ Als er einen wütenden Schritt nach vorne machte, packte ich ihm am Arm.

„Nicht. Das …“

„Weißt du was diese Ablehnung bedeutet?!“, fuhr er mich an. „Wir haben nicht die Zeit zu einem andern Tempel zu reisen, nicht wenn wir Fafa retten wollen!“

Das war mir sehr wohl bewusst. Doch wusste ich auch, dass wir im Moment auf ihrem Land lebten und dass alles war was das Volk noch hatte. Wenn er nun den Priester angriff, würde allen nur noch schlimmer werden.

„Was ist mit einem Bluteid?“, fragte Miranja da.

Mein Kopf wirbelte so schnell herum, dass mein Nacken unangenehm knackte. „Du meinst …“

„Schwöre es“, sagte sie. „Schwöre dass kein Ailuranthrop meinem Volk ein Leid zufügen wird, wenn wir euch das Portal nuten lassen.“ Es klang wie ein Befehl, doch in ihren Augen sah ich das Flehen.

„Nein!“, kam es sofort von Aman. Sein Blick flog von Miranja zu mir. „Du kannst nicht die Verantwortung für jeden einzelnen Ailuranthropen auf dich laden.“

„Aber es würde Zaho retten“, fauchte Miranja ihn an.

„Und Lilith vielleicht die die Rückkehr in die Mächte verwehren“, knurrte Aman zurück. „Das lasse ich nicht zu.“

Miranja kniff die Augen zusammen. „Du bist nicht mal ein Ailuranthrop, daher liegt die Entscheidung nicht bei dir.“

„Aber ich bin einer“, sagte Licco. „Und ich verbiete es.“

Sie warfen sich wütende und verzweifelte Blick zu. Doch die Entscheidung konnte nur eine Person in diesem Raum treffen. Ich. „Ich mache es“, sagte ich mit erhobenem Kopf und ignorierte Amans wütenden und Liccos fassungslosen Blick. „Wenn die Priester zustimmen, werde ich bei meinem Blut, meinem Geist und meiner Göttin schwören.“

„Ich habe nein gesagt.“ Aman packte mich am Arm und wirbelte mich zu sich herum. „Du wirst das nicht tun.“

„Das hast du nicht zu entscheiden.“

„Doch, das habe ich wenn du dich wieder wie ein kleines Kätzchen aufführst! Du willst dich schon wieder kopflos in etwas hineinstürzen ohne vorher Geistreden gehalten zu haben. Das lasse ich nicht zu!“

„Ob du es zulässt oder nicht, ich werde es tun.“ Ich würde meine Ewigkeit in den Möchten riskieren, denn nur so konnte ich meinem Fafa helfen, nur so konnte ich die Krankheit aufhalten.

Nur so würde ich keinen weiteren Teil meiner Familie verlieren.

Aman presste die Lippen zu einem sehr dünnen Strich zusammen. „Tu es nicht.“

„Ich muss es tun.“ Mir blieb keine andere Wahl.

„Nein musst du nicht“, widersprach Licco. Er warf Miranja einen wütenden Blick zu. „Wir werden einen anderen Tempel aufsuchen. Fafa ist stark, er wird solange durchalten.“

Das würde er nicht, und das wussten wir beide.

Ich ignorierte Licco und Aman und wandte mich direkt an Priester Tenuis. „Wenn sie es wünschen, werde ich den Bluteid leisten, damit wir das Portal nutzen können.“

„Du wärst wirklich bereit dazu?“, fragte er mich ganz direkt. „Du würdest eine Ewigkeit aufgeben und für ein ganzes Volk bürgen, obwohl du nicht wissen kannst, was die Zukunft bringt?“

„Nein“, sagte Aman.

„Wird sie nicht“, fügte Licco hinzu.

„Ja“, sagte ich knapp. „Denn nur so kann ich sie retten.“

Priester Tenuis musterte mich sehr intensiv. Und dann, ganz langsam breitete sich auf seinen Lippen ein Lächeln aus, das ihn Jahre jünger wirken ließ. „Nuri, würdest du mir einen Gefallen tun.“

„Was möchtest du denn?“

„Ich möchte dass du unsere Gäste zum Portal geleitest und sie hindurchschickst, wohin auch immer sie möchten.“

Mein Mund klappte auf, doch kein Ton kam heraus. Sollte das etwa heißen …

„Sie wird den Bluteid nicht machen“, knurrte Aman.

Die Augen des Priesters hefteten sich auf ihn. „Das verlange ich auch nicht“, sagte er scharf. „Denn es ist ausgeschlossen, dass sie jeden Ailuranthropen auf Silthrim kontrollieren kann. Doch sie hat das Herz am rechten Fleck.“ Er lächelte mich an. „Geh und hilf deinem Volk, Auserwählte. Tu was du tun musst und lass mich diese Entscheidung nicht bereuen.“

Ich sah ihn an. Die Geistreden wirbelten in meinem Kopf umher. Wir durften das Portal nutzen. Oh Göttin, ich würde auf die Erde zurückkehren.

An dieser Stelle gab es nur eine Sache die ich sagen konnte. „Vergelts.“

 

°°°

 

Stirnrunzelnd betrachtete ich die filigranen Kristallblätter am Rahmen des Portals. Die achtzehn Zeichen der Götter prangten auf ihnen, als seien sie auf den Blättern gewachsen. Doch da waren noch mehr Zeichen – hunderte und viel kleiner. Wenn ich raten müsste, würde ich vermuten, dass sie jemand mit einem spitzen Gegenstand dort eingeritzt hatte. Und keines von ihnen war mir auch nur im Entferntesten bekannt. Also wozu dienten sie?

Ich sah zu Nuri hinüber, die alle bis auf uns von der Plattform schickte. Eine Frau blähte empört die Backen auf und erzählte etwas davon, dass sie eilig nach Hause müsste, doch so sanft die Stimme der Priesterin auch war, sie war nicht zu erweichen.

Außer ihr waren nur meine Begleiter und Miranja mitgekommen.

Ich stand etwas abseits von den anderen und spürte langsam, wie die Aufregung in mir stieg. Es war komisch, aber auf eine seltsame Art freute ich mich darauf noch einmal die Erde sehen zu können. Andererseits machte sich auch Furcht in mir breit. Nun wurde es ernst. Ich musste durch dieses Portal und den Stein finden, sonst wäre alles verloren.

Auch Fafa.

Wie lange ich wohl brauchen würde? Konnte dieses Unterfangen überhaupt gelingen? Wenn Luan mit seiner Vermutung Recht hatte, hielt sich der Kriegergeneral vielleicht sogar noch am Portal auf. Das hieß ich konnte einfach hinausgehen, ihn den Stein abnehmen und dann sofort wieder zurück kommen.

Wenn er nicht mehr dort war, würde ich ihn suchen müssen und nur die Götter wussten, wie lange das dauern würde. Aber ich hatte keine Zeit zum Suchen. Ich brauchte das Tigerauge – sofort. Ich musste schließlich …

„Ganz ruhig“, sagte Aman leise an meinem Ohr.

Ich hatte gar nicht mitbekommen, wie er hinter mich getreten war, doch seine Stimme erschreckte mich nicht. Ganz im Gegenteil, sie löste ein seltsames Kribbeln aus. „Ich bin ruhig“, sagte ich genauso leise zurück.

Als er seine Hände auf meine Arme legte und langsam bis zu meinen Schultern hinaufstrich, schloss ich die Augen und Gefühle die hier nichts verloren hatten, machten sich in mir breit.

„Du bist so verkrampf, dass ich die Befürchtung habe, du könntest jeden Moment brechen.“

„Niemand bricht mich.“

Er lachte leise in mein Ohr. „Nein, natürlich nicht.“ Ein hauchzarter Kuss landete auf meiner Schulter, ein zweiter in meiner Nackenbeuge. Ich bekam eine Gänsehaut. „Nichts kann dich brechen, kleine Kriegerin. „Und niemand kann dir etwas aufzwingen.“

Verwirrt drehte ich den Kopf über die Schulter. Was sollte das nun wieder bedeuten.

„Und du solltest dir auch von niemanden etwas einreden lassen.“ Seine Stimme war so leise, dass ich ihn kaum verstand. „Bitte.“

Mein Stirnrunzeln wollte gar nicht mehr verschwinden. Er sprach wohl über das war Jaron in den Höhlen zu mir gesagt hatte.

Finis.

Ich wandte den Blick ab und begegnete so dem von Licco, dem es gar nicht gefiel, dass Aman so nah bei mir stand und mich auch noch berührte.

„Wann geht es den endlich los?“, quengelte Acco und schritt unruhig auf der Plattform herum. Ganz im Gegensatz zu ihm lag Lacota völlig entspannt neben Licco, als würde sie das alles nichts angehen.

„Sobald ihr mir sagt, wohin genau es gehen soll“, entgegnete Miranja und nahm den die Macht von Chnum – einen Hämatit der so dunkel war wie die Nacht selber – entgegen. „vergelts Meen-Soror.“

„In die Welt der Menschen, die Erde, außerhalb von Silthrim“, entgegnete Acco ungeduldig. „Aber das haben wir dir bereits gesagt.“

Nuri stockte mitten im Schritt. „Hast du gerade gesagt außerhalb von Silthrim?“ Nuri starrte ihn an, als wäre ihm ein Geweih auf dem Kopf gewachsen. „Aber ich glaubte … ich hab gelaubt, ihr sprecht von einer anderen Ebene von Silthrim.“

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Wir sprechen von einer fernen Welt, einer Welt die ganz anders ist als hier bei uns.“

Ihr Mund ging auch, aber kein Ort kam heraus. Sie schüttelte einfach nur den Kopf.

„Das ist nicht möglich“, sagte Miranja.

Ich widersprach ihnen nicht, denn ihre Geistreden waren mir nur all zu vertraut. Wenn ich mich nur an meine ersten Momente auf der Erde zurück erinnerte, bekam das Wort Unmöglich eine ganz andere Bedeutung.

„Aber wie …“ Miranja blickte von einem zum anderen, als wartete sie nur darauf, dass wir alle in schallendes Gelächter ausbrachen. „Das ist …“ Fahrig schaute sie zu ihrer Brestern. „Aber das Zeichen.“ Ihr Blick huschte wieder zu mir. „Ich brauche das Zeichen.“

Meine Augen richteten sich auf die eingravierten Zeichen auf den Blättern des Portals. Achtzehn Völker, achtzehn Zeichen. Jedes einzelne davon funktionierte wie eine Ortsangabe. Die Magie baute einen Steg zwischen zwei Zeichen, doch wenn es kein zweites gab, führte der Steg ins nichts. Man konnte ihn betreten, aber niemand konnte vorhersehen, wo man landete.

Ich sah panisch zu Aman auf. Wir bauchten das Zeichen für das Portal auf der Erde, aber … wir hatten es nicht. Beim letzten Mal waren wir durch einen verbotenen Zauber auf die Erde geschleudert worden – eine Erfahrung, die keiner Wiederholung bedurfte. Wir hätten auch ganz woanders landen können, da es kein Ziel gab und wir durch die Stege der Welt gefallen waren.

Aber jetzt gab es auf der Erde ein Portal, also musste es auch ein Zeichen dafür geben. Nur woher …

Die Erleuchtung traf mich so plötzlich, als hätte Bastet persönlich mir einen Schubs in die richtige Richtung gegeben. „Das Auge“, flüsterte ich und erinnerte mich an das Bildnis, das Bastet mir in den Höhlen gesannt hatte. Sie hatte mir verboten es zu vergessen, weil es so wichtig war. War das der Schlüssel? War das Auge mit dem Blitz unser Weg zur Erde? „Ich glaube ich kenne das Zeichen“, sagte ich vorsichtig.

Nuri spielte etwas fahrig am Hämatit ihres Gottes herum. „Das ist … gut.“ Sie runzelte die Stirn. „Glaube ich. Aber … ich … dann tritt vor.“ Priesterin Nuri versuchte zu lächeln und hielt mir die Hand entgegen.

Ich zögerte und schaute zum Portal. Musste das Zeichen dort auch verewigt werden, damit wir es nutzen konnten?

„Komm einfach zu mir, Lilith.“

Aman gab mir von hinten einen kleinen Stoß, der ihm einen bösen Blick einbrachte. „Was muss ich tun“, fragte ich Nuri und stellte mich an ihre Seite direkt vor dem Portal.

„Du musst dich konzentrieren.“

Konzentrieren? „Muss das Zeichen nicht auf die Blätter gebracht werden?“

Nuri schüttelte bereits den Kopf, bevor ich geendet hatte. „Nein, die Blätter sind nur eine Hilfe, damit es leichter ist und schneller geht. Aber es funktioniert auch ohne. Du musst dir das Zeichen nur vorstellen. Du musst es klar und deutlich vor deinem inneren Auge sehen. Es darf keine unscharfen stellen geben – das ist wichtig.“

Und das sollte klappen?

„Schließ die Augen und konzentrier dich. Sag mir wenn du soweit bist.“

„In Ordnung.“ Ich schloss die Augen und versuchte das Bild in all seinen Einzelheiten vor mein inneres Auge zu zwingen. Die geschwungenen Enden, den Blitz mit den filigranen Zeichen daran, die so fremd wirkten.

Lange stand ich einfach nur da und überprüfte das Bildnis immer wieder. Hatte ich etwas vergessen? Es wirkte so … perfekt, doch ich hatte Angst etwas falsch gemacht zu haben. Wenn nicht alles stimmte, dann …

„Entspann dich“, sagte Aman leise. „Vertrau auf deine Stärke und dein Wissen.“

Er hatte leicht reden. Wenn wir in einer falschen Welt landeten, dann wäre schließlich ich daran schuld.

„Er hat recht“, sagte Nuri.

Ich kniff die Lippen zusammen. In Ordnung, besser würde es wahrscheinlich nicht werden und je länger ich zögerte, desto wahrscheinlicher war es, dass mir Fehler unterliefen. „Ich bin soweit“, sagte ich daher und flehte zu Bastet, dass ich alles richtig gemacht hatte.

Nuri berührte meine Hand. Eine leichte Vibration ging von ihr aus und übertrug sich auf meine Haut, bis mein ganzer Körper kribbelte.

„Hab keine Angst, das ist normal.“

„Ich hab keine Angst.“ Das hatte ich wirklich nicht. Es fühlte sich nur seltsam an.

„Öffne deinen Geist für Chums Macht und das Portal wird sich öffnen.“

Ich verstand nicht im Geringsten was ganu wie von mir erwartete, aber das Kribbel wurde intensiver. Als wenn etwas jede Zelle meines Körpers durchforsten wollte. Und dieses Gefühl … ich mochte es nicht. Ich wollte davor zurück weichen, aber wenn meine Konzentration nachließ, müsste ich von vorne anfangen.

„Ganz ruhig.“ Ich hörte wie Aman näher trat und vorsichtig den Finger an die Wirbel auf meinem Rücken setzte. Sehr langsam strich er sie hinunter. „Du kannst das, kleine Kriegerin.“

Natürlich konnte ich das. Schließlich hatte Bastet mir die Fähigkeiten dazu gegeben.

„Ja so ist gut“, sagte Nuri.

Die nächsten Sekunden herrschte angespanntes schweigen. Bis Nuri ihre Hand von meiner nahm.

Ich blinzelte in das Portal. Es war offen. Der blaue Schein des wabbelnden Nebels in der Mitte brach sich in den Kristallblättern. „Und das wird und nun zur Erde bringen?“

Nuri zuckte ratlos mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“

Sie … sie wusste es nicht?! „Aber …“

„Ich kann nicht in deinen Kopf sehen, Lilith“, sagte sie mit ihrer sanften Stimme. „Nur du kannst wissen wohin die Reise geht.“

Ich biss die Zähne zusammen. Natürlich, da hatte sie recht. Aber wenn es nur das falsche Zeichen war? wenn das Auge für etwas ganz anderes gedacht war? Ich würde alle in eine fremde Welt bringen und das Tigerauge wäre noch unerreichbarer als in diesem Augenblick.

„Ich gehe zuerst. Acco komm.“

Das ließ sich der Sermo nicht zweimal sagen. Er sprang neben sein Geleit und war im nächsten Augenblick durch das Portal verschwunden.

„Nein!“, schrie ich und versuchte noch ihn zu packen, aber in dem Moment hielt Aman mich am Arm fest, wirbelte mich herum und küsste mich. Einfach so und völlig überraschend. Und als er sich dann von mir trennte, hatte er dieses Lächeln auf den Lippen, das meinen ganzen Magen kribbeln ließ. „Ich vertraute dir.“ Noch ein kurzer Kuss, dann war auch er durch das Portal verschwunden.

Als ich den Blick meines Brestern bemerkte, ließ ich nicht nur rot an.

„Wie werdet ihr wieder zurück kommen?“, wollte Nuri wissen.

„Das Tigerauge“, sagte ich fahrig, während ich darüber geistredete, warum Aman das gerade getan hatte. „Mit seiner Macht können wir das Portal von der anderen Seite öffnen und so zurückgelangen.“ Hoffentlich.

„Dann wünsche ich euch viel Glück“, sagte Miranja mit Worten, doch ihre Augen baten nur um eines. Rettet Zaho.

Ich nickte ihr zu und wandte mich noch einmal an Licco. „Denk daran was Luan gesagt hat.“

„Du meinst wegen der Zeitverschiebung und dem Kriegergeneral.“

Ich nickte.

„Dann … bis gleich.“ Bevor ich noch zögern konnte oder weite Gründe fand den Übergang hinauszuzögern, sprang ich ins Portal hinein und wurde sofort von dem blauen Licht empfangen.

Es war wie ein Schweben, sanftes Gleiten. Ich fühlte mich vollkommen, leer, wie Luft und Wasser. Äonen zogen an mir vorbei und gleichzeitig war es nur der Bruchteil einer Sekunde, in dem ich in dieser alles umfassenden Wärme war.

Das Portal entließ mich aus seinem blauen Schein so plötzlich, dass ich vor Überraschung fast hinauspurzelte. Doch noch bevor ich den Boden der Erde berühren konnte, hörte ich den Knall. Ich riss schützend die Arme nach oben, als kleine Steinkrümel auf mich nieder rieselten.

„Lilith, nein!“

Ich wurde zur Seite gestoßen. Laute Rufe, ein wütendes Knurren. Ich knallte auf die Schulter, rollte mich sofort ab und da ertönte der zweite Schuss. Das Licht im Portal flackerte. Einmal, zweimal, dann erlosch es einfach.

Noch in der Hocke wirbelte ich herum und entdeckte sofort den General Silvano Winston und seiner Krieger. Aber angezogen wurde mein Blick einzig von Aman.

Er stand einfach da und starrte auf seine Brust. Wie in Trance hob er seine Hände zu dem Fleck in der Mitte, der langsam immer größer wurde. Seine Augen waren weit aufgerissen. Auf seiner Brust erblühte eine rote Blüte. Er öffnete den Mund, aber statt Worte kam Blut heraus.

Er war getroffen worden. Als er mich zur Seite gestoßen hatte, wurde er von einer Kugel mitten in die Brust getroffen.

„Nein“, flüsterte ich und schüttelte unwillig den Kopf.

„Kleine … Kriegerin.“ Dann brach er einfach zusammen.

AMAN!“

 

°°°°°

Kapitel Vierzehn

 

Nein.

Es war das einzige Wort das mir geblieben war, als ich wie in Trance auf ihn zu stolperte.

Meine ganze Welt schrumpfte auf diesen einen Punkt zusammen, einen roten Punkt. Die Welt um mich herum rückte in weite Ferne, als meine Beine neben ihm einfach unter mir nachgaben. Ich sank auf die Knie, sah die panisch aufgerissenen Augen und das war der Moment, in dem irgendwas in mir wieder an seinen Platz zurück fand und ich endlich reagieren konnte.

„Nein, nein, nein!“ Ich presste meine Hand auf die ausgefranste Wunde in seiner Brust, strich mit der anderen an seinem Gesicht entlang und wusste nicht was ich tun sollte. Da war so viel Blut.

Seine Haut war in Schweiß gebadet, sein Atem ging nur röchelnd und seine Bst hob uns senke sich viel zu schnell. Unter den Schmerzen krampfte sich sein Körper zusammen und in seiner Panik griff er sich an den Hals. Er bekam nicht genug Luft, das Blut blockierte seine Atemwege.

 „Gib nicht auf. Bitte“, flehte ich ihn an. Er konnte mich nicht verlassen, nicht jetzt wo ich ihn gerade gefunden hatte. „Aman, bitte.“

Fahrig strich ich ihm eine Strähne aus dem Gesicht. Ich wusste nicht was ich tun sollte, mit einer solchen Wunde hatte ich es noch nie zu tun gehabt.

Hinter mir hörte ich Acco aufjaulen. Es folgte ein weiterer Schuss und ein paar Rufe, doch das alles verlor an Bedeutung, solange sich Amans Brust so heftig hob und senkte und das Blut an seinem Körper entlang floss. Unter ihm hatte sich schon eine Lache gebildet.  

Und dann – oh Göttin – flatterten seine Augen. Sie glänzten fiebrig und schienen unstet. Er öffnete den Mund, doch das einzige was rauskam war weiteres Blut. So viel davon. Viel zu viel.

„Aman.“ Meine Stimme zitterte so sehr, dass ich sie selber nicht erkannte.

Aman bewegte die Lippen, doch kein Ton kam heraus. Sein Atem ging nur röchelnd. Zumindest bis zu dem Moment, als sein Brustkorb sich ein letztes Mal hob, bevor er völlig still wurde.

„Nein“, hauchte ich, als mich die Panik überkam. „Nein.“

Der Glanz in seinen Augen verblasste. Trüb blickten sie ins Nichts. Und mit dem Erlöschen des Lichts in seinen Augen, brach etwas tief in mir. Plötzlich, von jetzt auf gleich, lag meine ganze Welt in Trümmern.

Wieder ein lauter Ruf im Hintergrund, den ich gar nicht wahrnahm.

„Aman“, flehte ich und strich ihm mit zitternden Fingern über das Gesicht. Blut, überall Blut. Er war so still. „Nein“, sagte ich wieder und schüttelte ihn an der Schulter. „Nein, bitte, nein.“

„Feuer einstellen hab ich gesagt!“

Diese Stimme erkannte ich. Das war der General. Er war hier, genau wie Luan vermutet hatte, doch das war mir egal.

„Atme wieder“, verlangte ich und schüttelte ihn heftiger, doch sein Kopf rollte nur leblos auf die andere Seite. Meine Brust zog sich so schmerzhaft zusammen, dass mir das Atmen plötzlich schwer viel. „Atme wieder!“, schrie ich ihn an und konnte die Verzweiflung in meiner Stimme nicht verhindern.

„Ergreift sie und keine Waffen!“

„Zur Sachmet, atme wieder, sofort!“ Die Panik brach sich Bahn. Ich schüttelte ihn immer heftiger, aber er bewegte sich einfach nicht. Regungslos. Tot.

Als ich von einer Hand an der Schulter berührt wurde, schalteten meine Geistreden einfach ab. Noch bevor ich wahrnahm was ich da eigentlich tat, hatte ich mich bereits verwandelt und auf den Krieger des Generals gestürzt. Er riss nur überrascht die Augen auf, bevor er mit dem Rücken auf dem Boden schlug. Sein Schrei blieb ihm im Halse stecken, denn ich zog ihm meine Krallen über die Kehle, sodass das Blut mir bis ins Gesicht spritzte.

Es war mir egal. Alles war mir egal. Sie hatten Aman getötet. Sie hatten ihn mir genommen, bevor ich herausfinden konnte, was das zwischen uns genau war. Sie hatten mir etwas genommen, auf das sie kein Recht hatten und dafür würden sie bluten – sie alle.

Ich sah nicht wen ich da als nächstes angriff. Es waren nur Schemen, bedeutungslose Schatten die vor meinem Augen tanzten. Meine Wut machten es mir unmöglich etwas Genaueres zu erkennen, doch das war völlig egal. Aman war gestorben und hatte mir damit das Herz aus der Brust gerissen. Ich wollte Rache. Sie würden büßen. Sie würden sterben – alle.

Ein Schlag traf ich in die Seite, doch ich spürte ihn gar nicht. Ich schlug einfach zurück. Ich spürte wie ein Knochen unter meiner Faust brach, roch das Blut, als meine Krallen wem-auch-immer die Haut zerfetzten und drehte mich dann einfach zu der Hand herum, die von hinten an mir zerrte.

Ich war wie von Sinnen. Nichts war mehr wichtig, nur diese letzte Tat.

Mehr Blut. Ein Schrei. Rufe. Nichts drang wirklich zu mir durch, nichts konnte diesen tiefen Schmerz den Amans Tod in mir verursacht hatte lindern. Ich schlug, kratzte und biss um mich. Jemand stieß mir von hinten so heftig in den Rücken, dass ich mit meinem Opfer zu Boden krachte, doch lange blieb ich nicht dort unten. Ein gezielter Biss, ein Röcheln.

Jemand packte mich an den Handgelenken und riss mich so heftig auf die Beine, das der Schmerz in meinen Schultern durch meine Amre zog. Ich schrie in meiner Wut, brüllte all meine Verzweiflung heraus, als mir meine Arme auf den Rücken gedreht wurden und so hoch gedrückt, dass weiterer Schmerz durch meine Schultern zuckte.

Ich musste mich auf die Spitzen meiner Pfoten stellen, um den Schmerz ein wenig erträglich zu machen, fauchte und versuchte mich von ihm loszureißen, doch der Griff der mich hielt war unnachgiebig. 

„Genug“, sagte die leise und weiche Stimme eines Mannes in mein Ohr.

„Es ist niemals genug!“ Ich fauchte, wollte den Kerl verletzten, wollte den Durst meiner Rache an ihm stillen, doch er ließ nicht locker. Jeder Versuch sich loszureißen sandte weitere Wellen des Scherzes durch mich hindurch. Er drückte meine Arme sogar noch hör und gab mir damit das Gefühl, dass sie jederzeit brechen konnten. Es brachte auch nichts mit unkoordinierten Bewegungen nach hinten auszutreten, oder meinen Kopf in den Nacken zu werfen, in der Hoffnung ihn damit die Nase zu brechen. Es war als wüsste er ganz genau, was ich als nächstes tun würde und wich einfach aus.

„Ich habe gesagt es ist genug.“ Seine Stimme war noch immer ruhig. Nichts deutete darauf hin welche Anstrengung er investieren musste, um mich festzuhalten.

Mein Brustkorb dagegen hob uns senkte sich hektisch. Und es tat so weh. Mein Herz schmerzte, als sei es in der Mitte durchgerissen worden. Und er sagte es sei genug? Sie hatten mir Aman genommen. Sie hatten mir meine Zukunft mit ihm geraubt und … oh Göttin, er war fort. Aman war fort und er würde niemals wieder kommen.

„Schhh“, machte der Mann leise. „Du brauchst keine Angst haben.“

Angst? Nein. Das Einzige was ich im Moment spürte, war  diese Leere, angefüllt mit reinem Schmerz. Er wurde immer schlimmer, erdrückte mich, bis ich daran zu ersticken drohte. Meine Rache half nichts, gar nichts half.

Oh Bastst, bitte, erlass ich von dieser Pein.

Meine Beine drohten einfach nachzugeben. Die Kraft verließ mich einfach. Alles wurde taub. Es begann an den Fingerspitzen und breitete sich in Windeseile über meinen ganzen Körper aus. „Tot“, flüsterte ich. „Er ist … tot.“ Ich konnte es nicht glauben. Es klang einfach so falsch, völlig verkehrt.

Ich nahm kaum etwas wahr, selbst der dumpfe Schmerz in meinen Schultern verblasste in diesem tauben Gefühl.

„Welch unerwartete Überraschung.“

Diese Stimme. Sie zu hören war wie ein Blitz, der den Nebel in meinen Kopf zerschnitt.

„Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen.“ Bitterkeit und Verärgerung schwangen in seinen Worten mit.

Sehr langsam hob ich das Gesicht. Und da stand er, eine Schlange im Kostüm eines Menschen.

Ein breitschultriger Mann mit dunklen, angegrauten Haaren stand vor mir. Seine Haltung war gerade und er hatte eine Ausstrahlung, die einem sofort mitteilte, dass er es gewohnt war Autorität zu besitzen. Auf eine herrische, unbeugsame Art. Dieser schein wurde durch sein breites Kinn noch gefördert. Auch der verärgerte Zug um seinen Mund vermittelte diesen Eindruck. Er versteckte sich nicht länger hinter dem listigen Lächeln, sondern zeigte ganz deutlich wer er war.

In diesem Moment vor mir, wirkte er so ganz anders, als ich ihn bisher kennengelernt hatte.

Die wettergegerbte Haut wies Rußflecken auf. Die grüne Kleidung war zerknittert und verdreckt und die Haare standen ihm Wild vom Kopf ab.

Vor mir stand General Silvano Winston.

Ich musste mir in Erinnerung rufen, dass das was für mich bereits seit Wochen Vergangenheit war, für ihn nur wenige Stunden zurück lag, um eine Erklärung für sein äußeres Erscheinungsbild zu haben. Der Überfall auf dem Parkplatz, das Feuer im Krankenhaus, der Kampf am Portal. Das alles hatte seine Spuren auf ihm hinterlassen.

„Du scheinst auf einmal sehr wortkarg.“

Und er war auch daran schuld, dass Gillette in die Mächte eingegangen war und Kaio daran so verzweifelte, dass er einfach eingeschlafen war, ohne jemals wieder aufwachen zu können.

Er war schuld dass Anima nicht mehr die war, die ich kannte.

Er war an so vielen Dingen schuld und nichts davon hatte ich verhindern können.

Wegen ihm war Aman fort.

So viel Leid.

So viel Unrecht.

Alles seine Schuld.

Die Wut auf diesen Mann siedete so heiß in mir, dass ich am ganzen Körper zu zittern anfing. Ich wollte ihn töten, wollte dass er für all seine Schandtaten bezahlte, doch als ich mich mit einem Schrei nach vorne warf, riss der grüne Krieger mich sofort wieder zurück und verstärkte seine Griff sogar noch.

Ich wollte toben, wollte wüten, doch dann entdeckte ich etwas, dass mich auf der Stelle erstarren ließ.

Es gibt nur einen Weg die Ailuranthropen zu retten.

Der Kriegergeneral sagte etwas, doch ich nahm nur seine Stimme war, die Worte verschwammen einfach zu einem undeutlichen Rauschen, das keinerlei Bedeutung hatte.

Es gibt nur einen Weg.

„Gib ihn mir“, unterbrach ich ihn flüsternd und konnte den Blick nicht von dem matt leuchtenden Stein nehmen, den der General in der Hand hielt. In der Dunkelheit des Abends sah ich ihn besonders deutlich. Das Heilmittel für meinen Fafa, das Leben meines Volkes.

Der Kriegergeneral verstummte und senkte den Blick auf seine Hand, die das Tigerauge fast vollständig verdeckte. Ein runzeln legte sich auf seine Stirn. Seine Augen hoben sich, musterten mein Gesicht und plötzlich schlich sich ein kleines Lächeln auf seine Lippen. „Deswegen seid ihr zurückgekommen.“

Dem würde ich nicht zustimmen. „Gib ihn mir“, wiederholte ich nur.

„Warum sollte ich das tun?“

„Weil er nicht in diese Welt gehört.“

Der General hob das Tigerauge leicht an und drehte es in der Hand hin und her. In seinem innen wirbelten leuchtende Nebel, die jede der Bewegungen mitmachten. „Sag mir warum der Stein so wichtig ist, dann gebe ich ihn dir vielleicht.“

Ich drückte die Lippen so fest aufeinander, dass es schon wehtat.

„Wie du meinst.“ In einer gleichgültigen Handbewegung ließ er den Stein in seiner Jackentasche verschwinden und wandte sich einfach von mir ab. „Bringt sie zum Wagen, wir sehen …“

„Nein!“, schrie ich. Er konnte ihn nicht behalten, er dürfte ihn nicht behalten!

Silvano Winston hielt mitten in der Bewegung inne, und drehte sich wieder halb zu mir um. „Hast du es dir anders überlegt?“

Ich wollte es ihm nicht sagen. Mit diesem Mann wollte ich nur eines tun und das war ganz sicher nicht reden. Aber wenn ich schweigen würde, bekäme ich den Stein auf keinen Fall. Vielleicht, wenn er hörte was mit meinem Volk geschehen war, vielleicht würde auch er dann etwas wie Gefühle zeigen. Ich glaubte nicht daran, aber das war das einzige, was ich in diesem Moment tun konnte. Was ich tun musste. Egal was geschehen war, ich hatte einen Auftrag im Namen meiner Göttin.

„Dieser Stein“, sagte ich langsam. „In ihm wohnt die Macht meiner Göttin, die Lebenskraft meines Volkes.“ Ich senkte den Blick, wollte diesen Mann nicht sehen. „Auf Silthrim verläuft die Zeit anders als hier. Deswegen …“ Ich atmete tief ein, als plötzlich das Bild von meinem Fafa vor meinem inneren Auge erschien. So schwach, so verletzlich. „Wir sterben. Die Ailuranthropen sind krank und jeden Tag sterben weitere. Ich brauche den Stein, denn damit kann ich sie heilen.“

„Die Lebenskraft eines ganzen Volkes?“ Der Kriegergeneral wog seinen Kopf nachdenklich hin und her.

„Die Macht meiner Göttin“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch.

„Also ist er wertvoll.“ Er steckte die Hände in die Jackentasche und einen Moment glaubte ich wirklich, er würde mir den Stein aushändigen, doch stattdessen zog er ein Päckchen von diesen Glimmstängeln heraus und das Feuerzeug. „In diesem Fall werde ich ihn wohl besser verwahren.“

„Was?!“ Nein, oh Göttin, bitte nein!

„Bringt sie jetzt in den Wagen. Und den Wildhund auch. Ich will …“

„Das können sie nicht machen!“

„… sie in Belua sehen und …“

„Sie haben kein Anrecht darauf!“, schrie ich ihn an und begann mich wieder gegen meinen Wärter zu wehren, als er mich fortzog. „Der Stein gehört meiner Göttin! Mein Volk brauch ihn! Es stirbt!“

Er lächelte nur. Es war ihm völlig egal. Ihn interessierte das Leben nicht, solange es dabei nicht um seine eigenes ging.

„Das können Sie nicht tun! Nein, Finger weg, nein!“

Unabbringlich zog der Krieger des Generals mich weiter. Ich tobte, wütete und schrie auf dem Weg durch den Wald, aber er ließ nicht locker. Auch die anderen Krieger die ihn begleiteten hatten keinen Blick für mich übrig. Ohne Gewissensbisse folgten sie dem Befehlt und brachten mich immer weiter vom Portal weg.

Und dann wurde mir auf einmal meine Situation bewusst. Nicht nur dass mir das Tigerauge blieb mir verwehrt, nicht nur Aman war für immer verschwunden, ich befand mich auch noch in ihrer Gewalt und wusste nicht was sie mit mir vorhatten.

Sie sollten mich zum Wagen bringen, er wollte mich in Belua sehen? Was war Belua? Oh Göttin, nein, ich wollte das nicht! Ich begann mich heftiger zu wehren, aber das einzige was ich damit erreichte waren weitere Schmerzen.

Der grüne Krieger murmelte mir ununterbrochen zu, dass ich keine Angst haben musste, dass alles gut werden würde, während er mich immer weiter durch den Wald brachte, in dem ich Anima und Vinea gefunden hatte.

Egal was ich tat, er ließ sich einfach nicht aufhalten. Und dann kam die kleine Waldstraße in Sicht. Sie war vorgestellt mit großen schwarzen Autos, wie der von John, nur hatten diese hier hinten keine Fenster. Es waren die gleichen Autos, mit denen sie Gillette weggebracht hatten. So hatten es mir die Bilder in dem Fernseher gezeigt.

Ich zählte mehr als ein Dutzend und auch hier waren überall grüne Krieger.

Plötzlich bekam ich Panik. Sie hatten mich. Sie konnten mit mir machen was sie wollten und ich konnte nichts dagegen unternehmen.

Ich fauchte, schrie und bettelte, dass sie mich gehen lassen sollten, als ich zu einem der Wagen gezogen wurde. Ich zitterte am ganzen Körper. Noch nie in meinem Leben hatte ich solche Angst wie in diesem Moment. Ich war ihnen ausgeliefert und völlig allein.

Die beruhigenden Worte des Kriegers hörte ich gar nicht mehr. Ich sah nur noch dieses Wagen, deren Heckklappe von einem anderen Krieger geöffnet wurde. Der Innenraum war … leer. Da war nichts drin, nur das kalte metallene Gehäuse.

„Alles wird gut.“

„Nein, bitte, nein!“

Als mein Wächter mich nach vorne schob, versuchte ich mich mit den Beinen von dem Wagen wegzudrücken. Ein zweiter Krieger musste ihm zu Hilfe kommen. Und ein dritter. Ich spürte nur noch ihre Hände und dann fiel ich nach vorne, direkt in den Wagen hinein.

Meine Arme waren plötzlich frei, so konnte ich wenigstens meinen Sturz abfangen, doch noch bevor ich mich herumgedreht hatte, knallten die Hecktüren zu und ich saß im Dunkeln. „Nein“, flüsterte ich. Ich sprang auf die Beine, donnerte mit den Fäusten gegen die Türen, bis meine Hände von den Schlägen schmerzten. Die Haut an den Knöcheln platzte auf. Der Geruch meines eigenen Blutes stieg mir in die Nase, aber ich konnte nicht aufhören. „Bitte“, flehte ich unablässig. „lass mich raus, bitte. Bitte!“

Meine Schreie wurden zu Schluchzern. Tränen strömten mir aus den Augen, aber niemand reagierte auf mein Flehen. Niemand interessierte es dass ich vor Angst am ganzen Körper zitterte und das der Schmerz der mich befallen hatte bis in meine Seele hinein reichte.

Meine Beine gaben unter mir nach, als mir die Aussichtlosigkeit meiner Situation bewusst wurde. Ich kniete vor der Hecktür und trommelte noch immer dagegen, aber meine Schläge wurden schwächer. Sie hatten mich und sie würden mit mir tun, was immer ihnen beliebte. So wie mit Gillette.

Hatte Gillette bei seiner Gefangennahme die gleiche Angst verspürt, die mich nun zu lähmen drohte? Hatte er geahnt das jemand da war der ihn retten wollte, oder hatte er geglaubt, dass er ganz alleine war?

Ich war ganz alleine. Da draußen war niemand der mich retten konnte. Licco hatte es nicht mehr durch das Portal geschafft, bevor es sich geschlossen hatte. Er wusste nicht was geschehen war. Und er würde es wahrscheinlich auch niemals erfahren.

Oh Göttin, er würde es niemals erfahren, genau wie alle anderen. Ich hatte versagt, konnte das Tigerauge nicht bergen und niemand würde wissen warum. Niemand würde kommen und mich retten, denn niemand wusste was geschehen war.

Und Aman war nicht mehr da. Er war tot und ich ihnen unwiderruflich ausgeliefert.

In meinem Geist spielten sich die Bilder der letzten Stunde ab, immer und immer wieder. Aman hatte mich gerettet und dafür sein eigenes Leben gegeben. Aman war tot. Egal wie oft mein Geist diese Worte sprach, ich konnte es einfach nicht glauben. Er konnte nicht in die Mächte zurückgegangen sein. Das war einfach nicht möglich.

Das Zittern meines Körpers wurde nur noch von meinen Schluchzen übertroffen. Langsam rutschte ich an der Hecktür hinab, sank in mich zusammen und rollte mich zu einer kleinen Kugel.

Draußen hörte ich Schritte und Stimmen. Auch die weiche Stimme von meinem Wächter war dabei. Mit der Zeit wurden es immer mehr, aber niemand kam um mich rauszulassen. Niemand half mir.

Ich war allein.

Lange Zeit lag ich einfach nur da und weinte. Aman, er war weg. Das Tigerauge, es war verloren. Alles war schiefgelaufen, alles war verloren.

Irgendwo erwachte ein Wagen zum Leben. Das tiefe Brummen und die Vibration konnte ich bis in mein Gefängnis spüren. Nur wenig Zeit später erwachte auch der Wagen in dem ich mich befand. Das Zittern wurde wieder stärker.

Ich will sie in Belua sehen.

Belua.

Was, oh Göttin, war Belua?

Ich hatte gewusst dass ich die Falsche für diese Aufgabe war, warum nur hatte mir niemand geglaubt? Nun würden sie alle Sterben. Mein Fafa würde Sterben. Und auch Licco würde früher oder später von der Krankheit heimgesucht werden.

Ich hatte versagt und alle anderen würden darunter leiden.

Ich würde niemanden von ihnen jäh wiedersehen. Nicht meinen Fafa, nicht Licco, nicht Anima. Und auch Aman nicht.

Ich wollte auch sterben.

In diesem Moment in dem ich eingekugelt in dem Wagen lag, wollte ich einfach nur sterben. Vielleicht würde dieser Schmerz dann verschwinden. Vielleicht war das meine Belohnung für mein Versagen. Gillette war schließlich auch gestorben.

Nach und nach verklang mein Schluchzen. Die Tränen trockneten auf meinen Wagen und dieses leere, taube Gefühl kehrte zurück.

Warum nur musste es so schrecklich wehtun? Warum konnte mein Herz nicht einfach stehen bleiben?

Bastet, vergib mir. Ich schloss die Augen. Seht, vergib mir.

Ich hatte noch nie Abbitte an einen anderen Gott gehalten, aber durch meine Hand war eines seiner Natis von uns gegangen.

Aman.

Bitte, nein, es konnte nicht wahr sein.

Ich schloss die Augen, versuchte das Geschehene auszusperren, aber meine Geistreden zeigten mir immer wieder was geschehen war. Das viele Blut, der gebrochene Blick.

Kleine … Kriegerin.

Oh bitte, nein.

Es mussten Stunden sein, in denen ich in dem Wagen lag und von nichts als meiner Angst begleitet wurde. Dann wurden die Geräusche anders, hohler. Ich merkte es kaum, ignorierte es. Plötzlich war es mir egal was mit mir geschehen würde. Ich hatte das alles verdient, das war die Strafe für mein Versagen und vielleicht würde ich mit dem Tod entlohnt werden.

Der Wagen unter mir ruckelte. Der Klang veränderte sich und dann verstummte er ganz.

Ich hörte Schritte und leise Stimmen.

Jetzt kamen sie mich holen.

Das Zittern setzte wieder ein. Und als die Hecktür plötzlich aufgerissen wurde und mich das grelle Licht blendete, zuckte ich zurück. Ein Wimmern kam über meine Lippen. Ich kroch bis ganz nach hinten, nur weg von den fünf grünen Kriegern, die dort draußen auf mich lauerten.

„Du brauchst keine Angst haben“, versprach mir mein Wächter. „Alles wird gut werden.“

Mit dem Rücken drückte ich mich an die Wand.

„Komm her“, forderte er mich auf.

Meine Krallen kratzten über das Metall, als ich sie zu Fäusten ballte.

Der grüne Krieger mit der weichen Stimme seufzte. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich ihn nicht zum ersten Mal sah. Ich war ihm bereits auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus begegnet, hatte dort sogar mit ihm gekämpft, genau wie im Wald nach unserer Flucht. Es war der Elf, der unter dem Befehl des Kriegergenerals stand. „Ich komm jetzt zu dir rein. Greif mich nicht an, ich tu dir nichts. Versprochen.“

Langsam und ohne mich aus den Augen zu lassen, kletterte er in das Vehikel und nährte sich mir vorsichtig.

Mit jedem Zentimeter den er sich näher an mich heranschob, schlug mein Herz schneller und die Angst kehrte mit ihrer ganzen Kraft zurück. Ich begann so stark zu zittern, dass meine Zähne aufeinander klapperten.

Nein, ich konnte mich ihnen nicht ausliefern, ich konnte nicht kampflos aufgeben.

„Schhh, ganz ruhig. Dir wird nichts passieren.“

Ich konnte es einfach nicht.

Als er sich hinhockte und mir die Hand entgegen streckte, ergriff mich der Mut der Verzweiflung.

„Ich bin Seda und ich …“

Ich stieß mich einfach ab, fuhr die Krallen aus und sprang ihn an. Im nächsten Augenblick spürte ich nur wie er meinen Arm packte und mich auf die andere Seite des Wagens schleuderte. Ich knallte mit dem Kopf gegen die Wand. Benommenheit packte mich und bevor ich wieder auf die Beine kam, hörte ich ein letztes Mal seine Stimme.

„Es tut mir leid, aber du lässt mir keine Wahl.“

Ein Schlag traf mich im Nacken. Der Schmerz explodierte in meinem Kopf und dann wurde ich von der Dunkelheit verschlungen.

 

°°°

 

Vertrocknetes Gras und eine trostlose Weite, bis zum Horizont. Die Sonne siedete heiß und erbarmungslos vom Himmel und trotzdem zitterte ich vor Kälte. Jeder weitere Schritt war eine Qual, aber ich konnte nicht stehen bleiben. Wenn ich verharren würde, würde der Schmerz mich zerreißen. Ich musste weiter, immer weiter, musste vor dem Schmerz davon laufen, doch er verfolgte mich – ich konnte einfach nicht entkommen.

Seit stunden lief ich bereits durch diese unwirkliche Welt, immer weg von dem was geschehen war.

In meinen Augen sammelten sich Tränen. Mit jedem Schritt wurden es mehr.

Ich begann zu rennen. Der Schmerz in meiner Brust raubte mir fast den Atem.

Als ich aufschluchzte begann die Erde unter meinen Füßen zu beben. Der Himmel bekam Risse. Schwarze Wolken, finsterer als die Nacht, quollen daraus hervor. Blitze zuckten über den Himmel und schlugen in die vertrocknete Erde ein.

Ein neuerliches Beben. Die Erde brach auf. Spalten und Risse. Um mich herum brach die Welt auseinander.

Ich versuchte weiter zu rennen, immer weiter, stürzte als ein weiteres Beben die Welt erschütterte, rappelte mich aber sofort wieder auf die Beine und rannte weiter. Ich durfte nicht stehen bleiben, denn dann wäre ich verloren und müsste mich etwas stellen, das ich einfach nur vergessen wollte.

Immer wieder schlugen Blitze um mich herum ein, mehr und mehr. Direkt vor mit brach die Erde auf. Der Riss zog so schnell vorbei, dass innerhalb einer Sekunde aus ihm ein tiefer Graben wurde, den ich nicht überwinden konnte – nicht ohne Flügel. Er zwang mich stehen zu bleiben. Und das war der Moment in dem der Schmerz mich einholte.

Wie eine Welle brach er über mir zusammen und traf mich mit einer solchen Wucht, dass ich unter dem Druck in die Knie ging. Meine zitternden Finger gruben sich in den trockenen Boden. Das Herz in meiner Brust drohte zu zerreißen und jeder weitere Atemzug fiel mir schwerer.

Um mich herum sickerte Blut aus dem Boden. Aus jedem Riss, jeder Spalte und jedem Graben drang er an die Oberfläche.

Panisch wandte ich den Blick auf der Suche nach einem Fluchtweg in alle Richtigen, doch alles was ich sah war Blut. Überall um mich herum. Aus einer kleinen Pfütze wurde ein See, aus dem See ein Meer.

Ich blieb gefangen auf einer kleinen Insel. Mit jedem Atemzug wurde meine Brust enger.

Tränen.

Eine Welt aus Tränen ergoss sich über der kleinen Insel.

Ich schluchzte. Der Boden unter meinen Knien begann zu beben und zu bröckeln. Das Meer aus Blut leckte bereist an dem wenigen Land, das mir meine einzige Sicherheit in den Wellen aus Schmerz bot.

Die Blitze am Himmel waren gleißend hell. Sie zuckten mit einer solchen Kraft vom Himmel, dass sie dort wo sie in dem Meer einschlugen kleine Fontänen in den Himmel beförderten. Immer wieder.

Ich zitterte, mein ganzer Körper bebte. Es gab keinen Ausweg. Und als ich dann die Hände hob, um mir die Tränen aus dem Gesicht zu wischen, entdeckte ich das Blut an ihnen.

Die Bilder strömten in einem unaufhaltsamen Strom an meinem inneren Auge vorbei. Die erste Begegnung mit Aman, der geraubte Kuss, der Abend, an dem ich mir endlich das gestattete, nach dem ich mich schon die ganze Zeit gesehnt hatte. Und dann der Augenblick, als die blutrote Blüte auf seiner Brust erblühte und er einfach in sich zusammen brach.

Ich sah wieder wie das Licht in seinen Augen erlosch und sein Kopf einfach leblos zur Seite rollte. Der Druck in meiner Brust wurde so stark, dass ich den Kopf in den Nacken schmeiß und schrie. Ich schrie so laut, dass es das Gewitter um mich herum übertönte. Ich schrie den Schmerz hinaus, der sich in jede Faser meines Körpers gefressen hatte. Ich schrie bis meine Kehle wehtat, doch es war nichts gegen das, was in meinem Herzen los war.

Warum nur war das alles geschehen? Warum?

Der Druck wurde unerträglich. Ich spürte wie er mein ganzes Sein zu zerreißen drohte. „AMAN!“

Warum?

Warum nur?

Warum jetzt?

„Kleine Kriegerin.“

Ich wirbelte so schnell herum, dass ich auf dem blutigen Matsch unter mir fast ausrutschte. Der Tränenschleier machte es mir nicht ganz einfach etwas in dieser unwirklichen Welt zu erkennen, doch die Stimme … sie war mir so vertraut, dass alles in mir zu ihr hinstrebte. „Aman?“

Unweit von mir wandelte eine Gestalt über das Meer. Wo sie das Blut berührte, wurde es zu kleinen, blühenden Inseln. Die schwarze Wolkendecke darüber brach auf und schickte warmes Sonnenlicht hinunter. Doch es erreichte mich nicht. Ich blieb gefangen in dieser düsteren Welt ohne Licht und Hoffnung.

Doch die Gestalt die in einiger Entfernung vor mir stehen blieb, erkannte ich sofort. Das bunte Haar, das sich so weich unter meinen Händen angefühlt hatte. Das markante Kinn und der strenge Mund, der so weich war, wenn er lächelte. Und dann diese Augen. Nicht starr, nicht kalt, nicht leblos. Sie waren erfüllt von Leben, von dem Glanz der Zukunft.

Ich schlug die Hände vor dem Mund, schluchzte und zitterte. „Aman.“

„Du hast nach mir gerufen.“ Er kam einen Schritt näher, doch war er noch immer unerreichbar für mich.

Warum? Warum blieb er mir fern?

„Bitte“, flehte ich und streckte die Hand nach ihm aus, doch er schien es nicht mal zu bemerken. „Aman.“

Sein Blick senkte sich und seine Lippen wurden zu einer dünnen Linie. „Du hast mich weggestoßen.“

„Ich …“

„Du hast alles getan was du konntest, um mich zu verletzen.“

Meine Hand sank herab.

„Warum hast du mich also jetzt gerufen?“

Mein Mund öffnete sich, aber meine Kehle war so eng, dass kein Wort an ihr vorbei kam.

„Warum ziehst du mich in deinen Schmerz hinein, kleine Kriegerin?“

„Ich …“ Tränen verschleierten meinen Blick. „Es tut so weh.“

Er verlagerte sein Gewicht, kam aber noch immer nicht näher. „Sag es mir“, forderte er mich auf. „Sag mir warum ich hier bin.“

„Ich …“ Was sollte ich sagen? Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht mal wo dieses Hier war, nur dass es so unendlich wehtat.

„Warum hast du mir das angetan?“

Ich riss die Augen auf. Angetan?

„Warum hast du mich immer weggestoßen? Diesen Schmerz …“ Er machte eine weit ausholende Bewegung, die alles um uns herum mit einbeschloss. „Das alles hab ich die ganze Zeit gespürt. Und nun bin ich entkommen und die holst mich wieder zurück. Warum?“

Oh Göttin, nein, das wollte ich nicht. Warum nur? Warum?

„Sag mir warum ich hier bin, kleine Kriegerin. Warum bannst du mich wieder an diesen Ort?“

Meine Lippen zitterten und der Schmerz wuchs zu einem unerträglichen Druck. „Ich wusste es nicht … ich … es tut mir leid.“ Eine Träne folgte der nächsten. „Es tut mir so leid“, flüsterte ich.

„Warum hast du es dann getan?“

„Ich … ich weiß nicht.“

„Sag es mir. Bitte.“

Plötzlich strömten von allen Seiten Gefühle auf mich ein. Sie flüsterten und bedrängten mich. Ihre Stimmen waren lauter als der heulende Wind, der an meinen Haaren zerrte.

Ich drückte die Hände gegen meine Ohren, kniff die Augen zusammen und versuchte die Stimmen fernzuhalten, doch es wurde immer schlimmer.

Schmerz. Dieser Schmerz war so unglaublich, dass ich dafür keine Worte fand. Es tat so weh. Die Gefühle Schmerzten beinahe noch schlimmer als der Verlust. Oh Göttin.

„Lilith.“ Eine warme Hand legte sich auf meine und als ich die Augen aufriss, hockte Aman direkt vor mir. Sein Blick so unergründlich, dass ich ihn nicht lesen konnte. „Sag mir was die Stimmen sagen.“

Ihre Sprache, sie war anders als die Worte die aus meinem Mund kamen, und doch konnte ich jedes ihrer Worte verstehen. Verwirrung, Sehnsucht, Abneigung, davon sprachen sie. Sie sagten all das, was ich gespürt hatte, wenn ich ihn nur ansah. Doch ich hatte ihn mir versagt, hatte Furcht davor gehabt, Furcht vor meinen eigenen Gefühlen, Furcht vor meiner Zukunft, und das hatte mich ferngehalten. „Ich bin vor dir zurückgewichen, hab deinen Blick gemieden und mich vor dir verschlossen.“

„Weil du Angst hattest.“

„Es war alles so verwirrend.“

„Hattest du Angst vor mir, oder vor den Reden der anderen?“

Darauf konnte ich nicht antworten. Bitte, Aman, still meine Not und erlöse mich von meinem Leid. Nimm mich einfach in deine Arme.

„Ich … ich weiß nicht.“

Er schaute mich an, sah direkt in mich hinein und ließ dann ganz langsam seine Hand sinken.

„Nein!“ Ich griff sofort danach und auch wenn er sich nicht wehrte, so erwiderte er den Griff nicht. „Es tut mir leid“, weinte ich. „Es tut mir alles so entsetzlich leid. Ich … ich habe es nicht verstanden. Ich … oh Göttin, es tut mir leid.“

„Danke“, flüsterte er und zog im so plötzlich an seine Brust, dass ich fast das Gleichgewicht verlor. Doch als ich die warme Haut unter meinen Händen spürte, krallte ich mich praktisch an ihr fest. „Es tut mir so leid“, flüsterte ich. „Ich hab dich verloren und … es tut mir leid.“

„Du hast mich nicht verloren“, sagte er leise und strich beruhigend über meinen Rücken.

Das tosende Gewitter um uns herum verblasste langsam zu einem fernen Rauschen. Die Kälte wich aus meinem Körper. Solange ich mich nur an ihn klammerte, würde mir nichts mehr geschehen können.

„Nein, ich hab dich widergefunden.“ Ich drehte mein Gesicht in seine Halsbeuge und atmete seinen Geruch ein. Frisch, wild, Aman. „Ich hab dich nicht verloren, ich hab dich gefunden.“ Und ich würde ihn nie wieder verlassen. Diesen zerreißenden Schmerz würde ich kein weiteres Mal ertragen.

„Nein, dass meinte ich nicht.“ Seine Hand wanderte zum Ansatz meines Haares und strich mir den Fingern vorsichtig über meinen Nacken. „Du hättest mich niemals verloren. Die Zeit ist auf unserer Seite. Wir werden einander niemals verlassen, egal was geschieht.“

„Niemals“, stimmte ich ihm zu. Ich würde alles daran setzten, um diesen Schwur zu halten. Niemals wieder wollte ich von ihm getrennt sein, niemals wieder wollte ich diesen Schmerz spüren.

„Und genau deswegen musst du jetzt gehen.“

„Was?!“ Ich schreckte vor ihm zurück, als hätte er mir eine Ohrfeige verpasst. Er wollte dass ich gehe? „Nein!“

„Kleine Kriegerin, du musst …“

„Nein!“ ich klammerte mich an ihn, aus Angst dass er mich sonst von sich stoßen könnte. „Bitte, schick mich nicht weg.“ Ich vergrub mein Gesicht an seiner Brust. „Bitte, bitte, tu mir das nicht an. Bitte.“

„Lilith.“

„Bitte“, fehlte ich. Es war mir egal, wie weinerlich das klang. Ich wollte ihn kein weiteres Mal verlieren. Diesen Schmerz des Verlustes würde ich kein zweites Mal überleben. „Bitte, es tut mir leid, nur schick mich nicht fort.“

Seufzend legte er die Arme um mich und zog mich so fest an sich, als wollte er mit mir verschmelzen. „Dies ist kein Ort für dich.“

„Ich will bei dir bleiben.“

„Du musst eine Aufgabe erfüllen. Das ist wichtig.“

Nein, im Augenblick gab es für mich nur eines was wichtig war und das war er.

„Du kannst nicht für immer hier bleiben, Lilith.“

Das war mir egal, solange er mich wenigstens für den Augenblick nicht fortschickte.

 

°°°

 

Eine leichte Brise wehte durch mein Haar und trug die vertrauten Gerüche vom Ailurafluss zu mir auf den Hügel. Über mir glitzerten tausende von Sternen und ließen die Nacht erstrahlen. In den Bäumen zwitscherten Vögel und unten am Waldrand konnte ich die Kriegerlehrlinge sehen, die mit Magister Damonda zu einer Jagd aufbrachen.

Alles war so friedlich.

Verträumt strich ich mit den Fingern durch Amans Haar. Er ruhte mit dem Kopf in meinem Schoß und döste. Noch nie hatte ich ihn so … zufrieden, so völlig im Einklang mit sich erlebt.

Ich wusste nicht wie lange wir bereits hier waren – vielleicht Tage, Wochen, oder sogar Monate – oder wie wir hier her gekommen waren – wir waren einfach hier – aber ich wollte nie wieder fort. Hier gehörten wir hin, Aman und ich, und niemand würde uns jemals wieder trennen können.

„Lilith.“

Überrascht drehte ich mich zu der weiblichen Stimme herum, aber da war niemand. Ich runzelte die Stirn. „Hast du das auch …“ Als ich auf Aman niederblickte und nichts als Luft vorfand, verstummte ich. Aber … „Aman?“

Ein Windhauch kroch in meinen Nacken und ließ mich frösteln.

Ich wandte den Blick nach links und rechts, suchte den Hügel mit den Augen ab, fand ihn aber selbst dann nicht, als ich mich auf die Beine erhob um auch die Umgebung wahrnehmen zu können. Er war weg, genau wie alle anderen. Plötzlich war ich ganz allein auf dem Tempelgelände. Selbst die Vögel in den Bäumen waren verschwunden.

Mein Herz setzte einen Schlag aus uns raste dann mit der Geschwindigkeit eines Amentrums weiter. Wo war er, wo war Aman? Er konnte mich nicht wieder verlassen, nicht nachdem ich ihn gerade erst wiedergefunden hatte – das durfte er einfach nicht! „Aman!“

Meine Stimme hallte ungehört über den Hügel. Das einzige was mir antwortete, war mein Echo. „Aman!“ Oh Göttin, nein, er durfte mich nicht noch mal verlassen, bitte, nein.

„Lilith.“

Das war sie wieder, diese samteiche Stimme.

Ich wirbelte so schnell herum, dass meine weißen Haare ins Gesicht schlugen und mir einen Moment meine Sicht nahmen.

Plötzlich verging die Landschaft um mich herum, verblasste und löste sich in ein sanftes Licht auf.

Ich verlor den Boden unter den Füßen und schwebte im Nichts.

Direkt vor mir materialisierte sich eine andere Gestalt und noch bevor ich das Gesicht erkennen konnte, wusste ich, dass es nicht Aman war. Die Konturen waren zu sanft, die Schultern zu schmal und das Gesicht zu weich. Ich wollte mich schon abwenden, mein Herz schrie danach Aman zu finden, bevor es zu spät war, doch da stachen plötzlich die katzenhaften Züge hervor.

Bastet.

„Hast du es vergessen, Natis?“

Vergessen?

„Dies hier ist kein Ort für dich, hier zu verweilen bringt dich nicht weiter.“

Ich wollte den Mund aufmachen und ihr wiedersprechen. Hier war Aman und ich gehörte an seine Seite, das hatte ich jetzt erkannt.

„Nein Lilith, nicht hier.“

„Aber …“

„Weißt du wo wir uns befinden?“, fragte sie, bevor ich meine Geistrede aussprechen konnte.

Ich zögerte, war mir nicht ganz sicher, aber es hatte Ähnlichkeiten mit dem Land der Götter. Hieß das, dass ich nur schlief und das alles gar nicht real war?

„Nein, du schläfst nicht. Du lebst und tust es doch nicht. Dies hier ist die Ewigkeit, ein Ort der nur für die Toten bestimmt ist. Aber du bist nicht tot.“

Die Ewigkeit. Es war also wahr, es gab sie wirklich. „Warum bin ich dann hier?“

„Weil du dich an das einzige klammerst, dass deinen Schmerz lindern kann. Doch das ist falsch. Du darfst nicht hier sein. Du wirst noch gebraucht, Lilith.“

Bilder blitzten vor meinem inneren Auge auf. Der Sockel im Tigersaal, der die Macht meiner Göttin aufbewahrte – leer und verlassen. Mein Fafa auf seinem Lager – krank und schwach, und am Ende seiner Kraft. Der Kriegergeneral, der das Tigerauge in der Hand hielt – Triumpf in den Augen.

Ich senkte den Blick, wollte nicht sehen wie sehr ich meine Göttin enttäuscht hatte. „Ich habe versagt.“

„Wie kannst du versagt haben, wenn du es noch nicht einmal versucht hast?“

Ich hatte es versucht. Ich hatte die Hoffnung gehabt das Herz des Kriegergenerals mit meinen Worten erweichen zu können, doch er hatte mir einfach nur den Rücken gekehrt.

„Nein, Lilith, deine Aufgabe liegt noch vor dir.“

„Dafür ist es zu spät“, widersprach ich leise. Vielleicht wusste ich nicht wie lange ich mich bereits in der Ewigkeit befand, doch ich wusste das es viele Tage gewesen sein mussten, Tage die in meiner Welt zu Jahren geworden waren. Ich hatte meinen Fafa nicht retten können, wurde mir mit einem Schlag klar. In der Zeit die ich hier mit Aman verbracht hatte, war er sicher seiner Krankheit erlegen, oder? Ich wollte fragen, traute mich aber nicht. Ihre Antwort konnte es nur allzu real werden lassen.

Doch Bastet brauchte meine Worte nicht, um zu wissen was in meinem Kopf vor sich ging. „Er ist vor langer Zeit in die Möchte zurückgegangen.“

Ich presste die Lippen zu seinem dünnen Strich zusammen.

„Genau wie viele andere. Es gibt nur noch sehr wenig Ailuranthropen auf Silthrim und sie alle sind ohne deine Hilfe für immer verloren.“

Für immer verloren. Mein Fafa, Sian. Was war mit Licco? Warum nur hatte das alles so kommen müssen? Ich verstand es einfach nicht. „Warum hast du all das zugelassen? Warum hallst du mir die Verantwortung dafür auf? Warum hast du uns nicht gewarnt, bevor so etwas Schreckliches passieren konnte?“

Es war der Ausdruck von Trauer, der in ihren Augen lag. „Ich mag eine Göttin sein, aber ich bin nicht allwissend. Ich wusste nicht was Sachmets Volk vorhatte, bevor es geschah. Aber jetzt weiß ich es und jetzt brauche ich dich, um alles wieder in Ordnung zu bringen.“

„Ich kann das nicht.“ Ich schlang die Arme um mich selbst. „Ich habe es versucht, aber ich kann das nicht.“ Und nun wollte ich einfach nur noch bei Aman sein. Er war das einzige, was mein schmerzendes Herz noch trösten konnte.

„Du kannst nicht bleiben, Lilith.“

„Ich kann nicht gehen.“ Das würde ich nicht verkraften.

„Du wirst gebraucht. Du bist die einzige die noch helfen kann.“

Niemand braucht mich.“ Die Vergangenheit hatte es doch gezeigt. Ich war nutzlos, schwach und versagte bei allem.

„Lilith.“ Sie berührte mich an der Schulter. „Weißt du was mit dem Geist geschieht, nachdem er in die Mächte eingegangen ist?“

„Er existiert in der Ewigkeit.“

„Nein, er bleibt in der Macht gefangen bis ich ihn entlasse.“ Sie drückte ihre Lippen einen Moment aufeinander. „Nicht alle meine Natis sind rein im Herzen. Es gibt immer wieder welche, die von ihrer eigenen Gier getrieben werden, oder Schlimme Dinge erlebt haben, die sie dazu verleiteten, noch schlimmere Dinge zu tun.“ Sie verstummte einen Moment. „Das Tigerauge nimmt die Ailuranthropen nach ihrem Tod auf und hält sie darin gefangen. Es ist kein böser Ort, aber auch kein guter. Es ist das Nichts in dem sie treiben, bis ich sie entlasse. Dort gibt es keine Gefühle, dort gibt es gar nichts.“

Das war … oh Göttin, dieser Ort hörte sich grausam an.

„Ich entlasse meine Natis immer in die Ewigkeit, um sie vor dem Schicksal im Nichts zu schützen. Zu viele von ihnen sind zu unschuldig um dort zu verharren.“

Das verstand ich. Es gab nur wenige Ailuranthropen, die eine solche Strafe verdient hatten, bevor sie in die Ewigkeit entlassen wurden.

Sie nahm die Hand von meiner Schulter und rieb sich über die Arme, als wäre ihr diese Vorstellung auch unangenehm. „In den letzten Jahren sind so viele meiner Natis in die Macht zurückgegangen, doch keiner von ihnen kam jemals in die Ewigkeit.“

„Was? Warum?“

Bastet Blick war so von Schmerz erfüllt, als würde sie selber in der Ewigkeit verweilen. „Weil ich meine Macht nicht berühren kann. Auf der Erde ist sie für mich noch unerreichbarer als auf Silthrim. In der Heimat habe ich eine Verbindung zu ihr, doch dort wo sie im Moment weilt, kann ich sie nicht einmal spüren.“

Jeder Gesichtszug entglitt mir. „Soll das heißen, dass meine ganze Familie im Nichts gefangen ist?“

„Jeder meiner Natis, der in den letzten vierzehn Jahren in die Macht gegangen ist, verharrt noch in ihr.“

Oh Göttin, nein!

„Deswegen musst du aufwachen. Solange du an Amans Seite in der Ewigkeit wandelst, kannst du nicht helfen, aber ich brauche dich.“ Sie sah mich beinahe schon flehend an. „In meinem ganzen Dasein habe ich noch nie eines meiner Natis so sehr gebraucht. Sie alle brauchen dich. Sie leiden, ich kann es spüren, aber ich kann ihnen nicht helfen.“

Weil sie eine machtlose Göttin war – genau wie all die andern Götter.

„Dieser Schmerz, ich fühle ihn schon so lange.“ Sie legte eine Hand auf ihr Herz. „Ich bin unsterblich. Selbst wenn mein ganzes Volk vergeht, der Schmerz wird es nicht tun. Ich kann es spüren.“  

„Aber … was soll ich tun?“ Das Tigerauge war unerreichbar für mich.

„Du bist findig und geschickt, du musst nur etwas mehr Vertrauen in deine Fähigkeiten haben. Es liegt in deiner Macht das was geschehen ist rückgängig zu machen.“

„Aber …“

„Hab Vertrauen in dich, Natis.“

Wie sollte ich? Mein ganzes Leben hatte mir gezeigt, dass ich zu nichts nutze war.

„Doch das bist du – mehr als du weißt. Erfülle deine Aufgabe, bringe das Tigerauge dorthin wo alles begonnen hat, dann wird alles wieder gut.“

Aber dazu müsste ich diesen Ort verlassen. Ich müsste Aman verlassen.

„Du wirst ihn nicht verlieren, er wird immer bei dir sein. Doch jetzt brauch dein Volk dich, deswegen musst du aufwachen.“

„Aber wie? Ich weiß doch nicht mal …“

„Öffne die Augen Lilith, mach sie einfach auf. Und das wichtigste, verstehe meine Worte: Kehre dorthin zurück, wo alles angefangen hat.“

„Was?“

„Rette die Ailuranthropen, befreie deine Familie aus der Gefangenschaft.“

„Aber …“

„So klar dein Weg dir nun auch erscheinen mag, er wird dornenreich sein, doch du wirst es schaffen. Ich vertraue darauf.“

Klar? Im Moment war gar nichts klar.

„Und jetzt erwache.“

„Nein!“ Ich konnte nicht gehen, nicht bevor ich Aman noch einmal gesehen hatte.“

„Erwache.“

Um mich herum kam Wind auf. Er wiebelte um mich herum, streifte meine Haut und begann mich mit sich zu reißen. „Nein! Bitte, nein!“

„Erwache Lilith.“

Der Sog riss mich mit sich fort.

Und dann schlug ich die Augen auf.

 

°°°°°

Kapitel Fünfzehn

Kaltes weißes Licht blendete mich so stark, dass ich die Augen sofort wieder zukneifen musste. Durch die unangenehme Helligkeit bildeten sich Tränen in meinen Augenwinkeln. Ich wollte die Hand zum Gesicht heben, um sie wegzuwischen. Es war nur eine kleine Bewegung, aber meine Muskeln protestierten unter ihr, als wären sie noch nie genutzt worden.

Ein scharfer, beißender Geruch siedete in meiner Nase und ließ sie unangenehm kribbeln. Er erinnerte mich an einen Ort der Menschen, an das das Krankenhaus. Und auch dort hatte diese seltsame Stille geherrscht, die in meinen Ohren zu dröhnen schien. Zumindest bis zu dem Moment, in dem ich so getan hatte, als würde der Anblick von Blut mich Ohnmächtig werden lassen.

Hier war es auch ruhig – unheimlich ruhig. Nur ein stetes Piepen unterbrach rhythmisch diese unangenehme Stille.

Sehr langsam bekam ich das Gefühl für meinen Körper zurück. Ich lag in einem Bett. So zumindest fühlte es sich an. Meine Kehle war so trocken, dass jedes Schlucken wehtat.

Wie war ich nur hier her gekommen? Und wo befand ich mich überhaupt?

Ich zwang mich meine Augen ein weiteres Mal zu öffnen, versuchte mich blinzelnd an das helle Licht zu gewöhnen.

Weiß.

Alles was ich durch meinen verschwommenen Blick wahrnehmen konnte, war weiß. Wie ein riesiges Nichts in der Leere.

Mein Herzschlag beschleunigte sich. Oh Göttin, wo war ich nur? War dies das Ende? War ich zurück in die Mächte gefahren? Aber wie?

Ich wollte mich beruhigen, Panik würde mich der Wahrheit nicht näher bringen, doch je klarer mein Blick wurde, desto schneller schlug mein Herz. Weiße Decke, weiße Wände, weißer Boden. Das war nicht das Nichts. Oder?

Mit jedem Herzschlag wurde das stete Piepen drängender. Es kam von einer … ich glaubte es handelte sich dabei um eine Maschine, so wie der Fernseher von Janina, aber ganz sicher war ich mir da nicht. Auch dieses Ding hatte Schwänze. Aber viel mehr als der Fernseher und auch nicht nur hinten. Ich folgte dem Verlauf mit den Augen.

Oh Göttin!

Diese Schwänze führten zu mir!

Einer hielt sich an meinem Finger fest und der andere steckte in meinem Arm!

Mein Atem wurde hektischer. Ich wollte gar nicht wissen, was das zu bedeuten hatte. Ich riss meinen Arm einfach hoch, weg von den Schwänzen.

Schmerz durchzuckte meinen Arm. Augenblicklich lag der Geruch von Blut in der Luft.

Ich versuchte aus dem Bett zu springen, weg von diesem Ding, weg von den Schwänzen, doch meine Beine konnten mein Gewicht kaum halten. Unter der plötzlichen Last knickten sie einfach weg und meine Arme waren so schwach, dass sie den Aufprall kaum abfangen konnten. Ich landete einfach auf dem Boden und konnte nichts dagegen tun.

Die Maschine gab einen schrillen Alarmton von sich, der mir in den Ohren schmerzte.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals und eine nie gekannte Angst machte sich in mir breit. Aus allen Poren brach mir der Schweiß aus. Ich verstand es einfach nicht. Was war mit meinem Körper los? Was machte ich hier? Was war das für ein Ort? Und wie war ich hier her gekommen? Ich konnte mich nicht erinnern und das machte es umso schlimmer.

Ein plötzliches Summen schreckte mich so sehr auf, dass ich mit dem Kopf gegen das Gestell des Bettes stieß und selbst durch diesen Taumel des Adrenalins konnte ich den Schmerz spüren.

„Hey, keine Panik, ganz ruhig.“

Ich wirbelte herum, doch der Anblick dessen was ich sah, ließ mich sofort wieder erstarren. Nur einen kurzen Moment, dann kroch ich rückwärts – immer weiter, solange bis ich die Wand im Rücken spürte und nicht mehr weiter fort kam.

Ich konnte einfach nicht glauben was ich da vor mir hatte.

Die Wand mir gegenüber war gar keine Wand, wie ich zuerst geglaubt hatte. Es war eine einzige Scheibe aus Glas, in der eine Tür eingelassen war – eine Glastür. Dahinter lag ein leerer, weißer Korridor ohne Fenster. Eigentlich gab es hier überhaupt keine Fenster. Ich konnte nicht mal sagen, welche Tageszeit wie hatten.

Aber was mir das Herz bis zum Hals schlagen ließ war die Frau, die gerade durch die offene Glastür trat. Sie war ganz in weiß gekleidet und roch genauso wie dieser Raum. Das war es aber nicht was mich ängstigte. Es war das was sie war.

Auf dem Kopf trug sie statt Haaren ein einen graublauen Federkamm, der sich in ihrem Nacken verlängerte, als würden sie wie Haare herunterhängen. Ihre Arme endeten genauso wie ihre Beine in schuppigen Klauen mit scharfen Krallen. Lange geschwungene Federn wuchsen ihr aus den Armen und unter der spitzen Nase saß ein kurzer Schnabel.

Vor mir stand eine Tochter des Re, eine Harpyie.

Ein Wimmern kroch aus meiner Kehle. Res Natis waren noch weit gefährlicher als Sachmets Brut und ich befand mich nun in meinem geschwächten Zustand einem von ihnen gegenüber. Eingeschlossen in diesem Raum. Schutzlos. Ausgeliefert.

„Du brauchst keine Angst haben, ich tue dir nichts“, versicherte sie mir, als ich an der Wand entlang in die hinterste Ecke des Raumes kroch. „Wir haben gedacht, dass es leichter für dich ist, wenn einer von uns dich behandelt.“

Ich drückte mich tiefer in die Ecke.

„Das war wohl ein Irrtum gewesen.“ Seufzend schloss sie dir Tür. Es gab ein lautes Klickgeräusch und einen schrillen Signalton, der sogar das Gepiepe der Maschine übertönte.

Allein. Genau das war es was ich fühlte, als sie ihren Blick auf mich richtete. Völlig allein. Das Zittern setzte ein, ohne dass ich es bemerkte. Meine Verwandlung folgte sofort. Es war ein Schutzmechanismus, den mein Körper ohne mein Zutun ausführte. Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich mich nicht dagegen wehren können.

Haare sprossen. Mein Körper reckte sich auf so vertraute weise, formte sich, bis meine zweite Natur über mich gekommen war. Doch das Zittern wollte nicht so einfach wieder verschwinden.

Die Harpyie beobachtete mich dabei etwas unsicher. Sie verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere, schaute zur geschlossenen Tür, dann zur piependen Maschine und dann wieder zu mir. „Ja … ähm … du hast sicher fragen, oder?“ Ihr Blick gilt von meinem Gesicht zu meinem Arm und dann wieder zur Maschine. „Okay, ich stelle das erstmal aus und dann können wir uns unterhalten. Natürlich nur wenn das für dich in Ordnung ist.“ Sie wartete, zögerte noch einen Augenblick und bewegte sich dann vorsichtig durch den Raum, als wollte sie mich nicht verschrecken.

Ich ließ sie nicht einen Moment aus den Augen, beobachtete, wie sie an der Maschine hantierte. Das Piepen verstummte und hinterließ eine fürchterliche Stille. Dann trat sie zurück zur Tür, doch nicht um hinaus zu gehen. Dort klebte ein kleines, weißes Kästchen mit Rillen und Knöpfen an der Glaswand. Ich konnte nicht genau sehen war sie dort machte, aber als sie plötzlich „Ich bin es, gib bitte Noah Bescheid, dass unser Dornröschen wach ist“ sagte und eine blechende Stimme „Verstanden“ antwortete, wusste ich dass es ein Handy sein musste. So hatte Luan es genannt. Kleine Kästchen mit denen man sprach, waren Handys und dieses klebte an der Wand.

Aber was war ein Dornröschen?

So klar dein Weg dir nun auch erscheinen mag, er wird dornenreich sein, doch du wirst es schaffen. Ich vertraue darauf.

Diese Worte erschienen plötzlich in meinem Geist, wie eine Erinnerung.

Du wirst es schaffen. Ich vertraue darauf.

Meine Göttin vertraute mir.

Ich zog die Stirn in Falten. Woher kamen diese Worte? Und noch viel wichtiger, woher kam diese Gewissheit?

Als sie sich wieder zu mir umdrehte, drückte ich mich mit dem Rücken fester in die Ecke. Das Zittern wollte einfach nicht nachlassen.

„Ich hab dir doch gesagt, du brauchst keine Angst haben. Ich will dir helfen und …“ Ihr Blick huschte wieder zu meinem Arm. „Tut mir leid, aber diese Wunde macht mich ganz nervös. Sie blutet ziemlich stark und … würde es dir etwas ausmachen, wenn ich …“

Ich fauchte als sie einen Schritt auf mich zumachte, bleckte die Zähne und ließ die Krallen ausfahren.

„Offensichtlich tut es das.“ Sie stemmte die Hände in die Hüfte und neigte den Kopf auf eine Art, die mich sehr stark an einen Vogel erinnerte. Dabei wisperten die Federn über den weißen Stoff ihrer Kleidung. „Würdest du die Wunde dann selber schließen? Du kannst das doch, oder? So wie die Lykanthropen, meine ich.“

Warum stellte sie so seltsam Fragen?

„Verstehst du überhaupt was ich sage?“

Als ich nichts sagte, kratzte sie sich mit einer Kralle am Hinterkopf.

„Mir wurde gesagt, du sprichst unsere Sprache.“ Sie drehte ihren Kopf zur Tür, als würde sie dort Hilfe erwarten. Aber außer uns gab es hier keinen weiteren Geist. „Was mache ich nur mit dir?“

Die Frage schien nicht an mich gerichtet zu sein, doch als ihr Blick wieder auf meinem Arm landete, befürchtete ich, dass sie bald alle Warnungen ignorieren würde.

Warum nur war es ihr so wichtig, dass die Wunde verschlossen wurde?

„Vielleicht weiß Noah ja einen Rat.“

War Noah eine weitere Harpyie? Einen solchen Namen hatte ich jedenfalls noch nie gehört. Ich wusste nicht mal, ob er männlich oder weiblich war, doch ich wusste ganz sicher, dass ich keinen weiteren Natis von Re begegnen wollte.

Ohne sie aus den Augen zu lassen, oder auch nur zu blinzeln, hob ich meinen Unterarm an die Lippen und verschloss den Riss, den mir der Schwanz der Maschine zugefügt hatte.

Ein freudiges Strahlen breitete sich in ihrem Gesicht aus. „Du verstehst mich also doch!“ Sie Lächelte und schlug sich dann selber gegen den Kopf. „Natürlich. Wie dumm kann man eigentlich sein? Natürlich verstehst du mich, du hast nur wahrscheinlich noch nie mit einer Harpyie gesprochen, oder?“ Sie wartete, aber als ich noch immer nichts sagte, zuckte sie mit den Schultern und schlenderte durch den Raum zu dem Bett. Sie schwang sich so schwungvoll darauf, dass es quietschte.

„Okay, fangen wir doch einfach noch mal ganz von vorne an. Also, ich bin Jaqueline, aber du kannst mich ruhig Jacky nennen, dass tun alle hier. Uuund …“ Sie hob den Finger in die Luft, als wollte sie zur Decke zeigen. „… ich bin deine Ärztin.“

Sie war eine Heilerin. Meine Heilerin. Ich war mir nicht sicher, ob mir diese Tatsache gefallen sollte.

„Und du bist Lilith. Das weiß ich, das musst du mir nicht sagen. Aber es würde mich interessieren wie es dir geht. Hast du irgendwelche Beschwerden? Tut dir etwas weh?“ Wieder wartete sie gespannt, aber wieder blieb ich stumm. „Hm, ein schwerer Fall also.“ Sie überlegte einen Augenblick. „Wie wäre es, wenn wir mit kleinen Fragen anfangen. Ja- und Nein-Fragen. Du musst einfach nur nicken, oder den Kopf schütteln, okay? Versuchen wir es einfach mal. Tu dir etwas weh?“

Schweigen.

„Brauchst du etwas?“

Schweigen.

„Soll ich lieber gehen und später wiederkommen?“

Sie wartete, länger dieses Mal, als wollte sie mir genug Zeit geben, um diese Frage im Geist zu erörtern. Aber eigentlich gab es darauf nur eine Antwort: Ja! Sie sollte gehen. Ich wollte dass sie verschwand. Oder nein, eigentlich wollte ich hier verschwinden. Dabei wusste ich immer noch nicht, wo hier eigentlich war.

Plötzlich sprang sie vom Bett auf. „Ich bin so dumm“, beschimpfte sie sich selber und eilte Quer durch den Raum, ohne mein Zusammenzucken zur Kenntnis zu nehmen. Sie trat an die linke Wand, kaum zwei Meter von mir entfernt und drückte mit der flachen Hand dagegen. Plötzlich öffnete sich wie von Zauberhand ein flacher Schrank, der in die Wand eingebaut war. Ich hatte ihn vorher nicht zur Kenntnis genommen – einfach weil ich im Geit noch immer völlig verwirrt war. Ich verstand einfach nicht, was hier vor sich ging.

Lächelnd nahm sie eine durchsichtige Flasche heraus, die eine klare Flüssigkeit enthielt. Ich hatte solche Flaschen schon bei John und seiner Familie gesehen. Darin befand sich Wasser. „Du hast sicher Durst. Hier.“ Sie hielt sie mir entgegen, wagte es dabei aber nicht sich weiter zu nähren.

Bei dem Anblick der schwappenden Flüssigkeit wurde mein Mund gleich noch trockener und ich hätte am liebsten „Ja!“ gerufen und ihr die Flasche aus der Hand gerissen, aber ich wagte es noch immer nicht mich zu bewegen.

„Sie ist nicht vergiftet oder so was, du kannst sie ruhig nehmen.“

Vergiftet? Auf diese Geistrede war ich gerade gar nicht gekommen. Warum sollte sie mich vergiften wollen, wo ihr doch messerscharfe Klauen zur Verfügung standen, die sie benutze konnte.

„Scheinbar glaubst du mir nicht. Okay, pass auf.“ Sie schraubte den Deckel von der Flasche, setzte ihn an ihren Schnabel und nahm mehrere kräftige Schlucke. Das glucksende Geräusch des Wassers ließ meine Kehle gleich noch mehr ausdörren. Wollte sie mich quälen?

Zufrieden setzte sie die Flasche wieder ab und wischte sich strahlend über den Schnabel. Die Flasche war nun zu einem Drittel geleert. „Siehst du, alles in Ordnung. Du kannst das Wasser gefahrenlos trinken.“ Wieder hielt sie es mir hin und auch wenn meine Finger zuckten und ich am liebsten einfach danach gegriffen hätte, wagte ich es nicht den trügerischen Schutz meiner Ecke zu verlassen. Ich wollte ihr einfach nicht zu nahe kommen.

„Ähm … okay. Dann eben anders.“ Sie stellte die Flasche vor sich auf den Boden, trat rückwärts von ihr weg und ließ sich dann mir gegenüber an der Wand zu Boden rutschen, von wo aus sie mir zulächelte. Der einzige Unterschied zwischen uns war nur noch ihre lockere Haltung. „So, jetzt kannst du sie dir gefahrenlos nehmen.“

Ich zögerte noch immer. Was wenn das ein Trick war? In meinem momentanen Zustand würde ich mich gegen sie auf keinen Fall zur Wehr setzten können.

„Nun nimm sie schon. Ich sehe doch dass du Durst hast.“

Wieder zuckten meine Finger.

Sie hatte die Flasche offen gelassen und der Geruch des Wassers stieg mir verführerisch in die Nase. Alle meine Sinne schrien danach.

Ich zögerte noch immer, aber dann sagte ich mir, je länger ich wartete, desto schwächer würde ich werden. Wenn sie mir etwas tun wollte, dann würde ich das im Moment absolut nicht verhindern können. Und ich hatte solchen Durst.

Nur sehr langsam bewegte ich mich ein kleines Stück nach vorne, streckte meinen Arm soweit es ging von mich, um an das Wasser zu kommen. Dabei ließ ich diese Jacqueline nicht aus den Augen.

Erst berührten meine Fingerspitzen nur den oberen Rand der Falsche. Dann griffen sie fest um den Hals. Im nächsten Moment hockte ich wieder in  meiner Ecke und stürzte das Wasser in hastigen Schlucken meine Kehle hinunter.

„Nicht so hastig, es ist genug da.“

Ich ignorierte sie und trank weiter, solange bis die Flasche leer war und mir der Magen schmerzte. Doch der Durst war wenigstens gelindert und die Übelkeit die mich durch das hastige Trinken ergriff, versuchte ich so gut es ging zur Seite zu schieben.

Als Jacqueline sich dann plötzlich vom Boden erhob und wieder zum Schrank trat, wich ich hastig an meine Wand zurück. Doch sie nahm nur zwei weitre Flaschen heraus und stellte sie wieder auf den Boden, bevor sie sich auf ihren Platz zurücksetzte. „In dem Schrank sind noch mehr, wenn du welche möchtest. Nachher gibt es noch etwas zu essen, doch jetzt sollte sich dein Magen von dem kleinen Überfall erstmal ein wenig erholen, meinst du nicht auch?“

Ich antwortete nicht, schnappte mir stattdessen die anderen beiden Flaschen und setzte die erste sofort an meinen Mund. Es kam mir so vor, als hätte ich plötzlich mehr Durst als vorher und das obwohl mein Magen sich schon schmerzhaft zusammenkrampfte.

„Das alles ist bestimmt ziemlich seltsam für sich.“

Ich hielt einen Moment inne, musterte sie und fragte mich, worauf sie hinaus wollte. Was sie eigentlich hier machte. Sie schien sich im Moment nämlich auch nicht besonders wohl in ihrer Haut zu fühlen. Das ständige herumrutschen auf dem Boden verriet sie.

„Also Lilith, ähm …“ Sie lächelte ein wenig schief. „Als ich das erste Mal deinen Namen gehört habe, musste ich an einen Dämon denken. Nicht das ich glaube das du böse bist, aber die Menschen haben da so eine Geschichte – über Adams erste Frau und so. Und du … äh … okay, lassen wir das. Du weißt wahrscheinlich sowieso nicht, wovon ich hier schwafle.“

Ich runzelte die Stirn. Ihre Worte gaben mir Rätsel auf. Doch nicht genug, als das ich meine Geistreden darauf lenken würde. Ich nippte lieber weiter an meiner Flasche. Jetzt langsamer und ein wenig gesittet.

„Hm. Wie wäre es mit einem Spitznamen, damit ich nicht immer an den Dämon denken muss. Hast du einen Spitznamen?“

Sie wartete, hoffte wohl dass ich mein Schweigen brechen würde, doch das wollte ich nicht.

„Okay, dann gebe ich dir einen. Wie wäre es mir … hm …“ Sie tippte sich mit der Kralle gegens Kinn und musterte mich. Dann begann ihr ganzes Gesicht plötzlich zu strahlen. „Ah, ich weiß. Ich nenne dich Tiger-Lili. Das passt do, findest du nicht auch?“

Bei dem Wort Tiger machte etwas in meinem Kopf klick. Das Tigerauge. Wage Bilder erschienen vor meinem inneren Auge. Das Gesicht einer Elfe tauchte auf, ein riesiger Baum und Aman der versuchte mich auf seinem Raum zu zerren. Das Wort Bluteid spuckte in meinen Geistreden umher. Doch alles war irgendwie verschwommen und ergab keinen richtigen Sinn. Was war nur mit mir geschehen?

„Wahrscheinlich ist das nicht der richtige Moment um über Spitznamen zu sprechen. Dich interessiert sicher viel mehr was hier los ist.“ Sie seufzte. „Kannst du mir sagen, woran du dich noch erinnerst?“

Warum sollte ich? Es kam mir gar nicht in den Sinn das Wort in irgendeiner Weise an sie zu richten.

„Okay, dann sagte ich dir halt einfach mal, was ich alles weiß.“ Sie machte eine kurze Pause, als müsste sie im Geist reden, wo sie beginnen sollte. „Ich weiß nichts genaues, schließlich gehöre ich nur zum Pflegepersonal. Mir sagt also keiner was. Aber … also das war so. Ich war gerade im Schwesternzimmer, als davor auf dem Korridor Schritte laut wurden und im nächsten Moment stand Noah vor mir und trug dich im Arm. Du warst bewusstlos, blutverschmiert und hattest überall Blessuren. Warum wollte er mir nicht sagen.“ Sie schnaubte. „Alles streng geheim. Manchmal nervt es mich wirklich, wie wenig er mir erzählt.“

Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wovon sie da sprach.

„Ist ja auch egal.“ Sie winkte ab, aber ihre Augen sagten, dass es ihr nicht so egal war, wie sie behauptete. „Auf jeden Fall haben wir dich erstmal auf eine Trage verfrachtet und die Erstversorgung gestartet. Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass du bis auf ein paar Beulen und oberflächlichen Blessuren und Hämatomen völlig in Ordnung warst. Keine Krankheiten oder körperlichen Mängel, aber du bist einfach nicht aufgewacht.

Etwas blitzte in meiner Erinnerung auf. „Es tut mir leid, aber du lässt mir keine Wahl.“ Die Stelle in meinem Nacken begann zu pochen, doch ich konnte mir keinen Reim darauf machen.

„Anfangs dachte ich, dass du vielleicht eine Gehirnerschütterung hattest, dass die Ergebnisse der Test vielleicht falsch seien. Dann habe ich schon befürchtet, dass du an HR leidest. Ihr Blick verdüsterte sich. Was auch immer HR war, es schein nichts Gutes zu sein. „Aber die Test waren negativ. Trotzdem wolltest du einfach nicht aufwachen. Da blieb nur noch ein Diagnose: Koma.“

Sie machte eine Pause, als wartete sie auf eine Reaktion. Doch genauso gut hätte sie darauf waren können, dass die Götter vom Himmel herab stiegen.

Ein weiterer ihrer Seufzer erfüllte die Luft. „Seit neunzehn Tagen bangen wir um dich.“

Neunzehn Tage? Ich lang seit neunzehn Tagen in diesem Raum? Warum breitete sich bei diesem Geistreden ein so panisches Gefühl in meinem Inneren aus?

Sie zog eine Grimasse, als sei ihr die Erinnerung daran unangenehm. „Das ganze Team hat aus der oberen Etage ganz schön Druck bekommen, um dich wieder auf die Beine zu kriegen. Ich weiß nicht warum, aber der Boss hat ein ziemlich großes Interesse an dir. Das finde ich irgendwie seltsam. Klar, wenn neue nach Belua bekommen, will er immer so einiges über sie wissen, aber bei dir ist das noch ´nen Zacken schärfer und …“

Ihre Restlichen Worte gingen in einem Nebel der Erinnerung unter.

Belua.

Ich will sie in Belua sehen.

Oh Göttin, plötzlich war alles wieder da. Der Fall auf die Erde, die Suche nach Gillette und die Flucht vor dem General. Unsere Rückkehr, die Krankheit, meine Familie und der Entschluss noch einmal auf die Erde zurück zu kehren, um Das Tigerauge zu holen. Doch das alles wurde von einer Tatsache überschattet.

Aman.

Die rote Blüte auf seiner Brust, sein ungläubiger Blick, seine letzten Atemzüge, als das Leben rasselnd aus seinem Körper schwand.

Doch das Schlimmste war die Erinnerung daran, wie sein Kopf leblos zur Seite gerollt war.

Aman war zurück in die Mächte gegangen.

Tot.

Er würde niemals zu mir zurückkehren.

„Aman“, flüsterte ich und spürte wie mir Tränen über die Wangen rollten. Die Wasserfalsche fiel mir kraftlos aus der Hand und ergoss sich mit einem gleichmäßigen gluck gluck gluck auf den glatten Boden.

Jacqueline unterbrach sich, sobald sie es bemerkte. Ihr aufmerksamer Blick musterte mich, aber sie schien sich keinen Reim auf meinen plötzlichen Gemütsumschwung machen zu können. „Hey, was hast du denn?“

„Aman“, flüsterte ich wieder und richtete den Blick auf sie. „Er ist tot.“

Sie machte den Schnabel auf, aber kein Ton kam heraus.

Mein Herz krampfte sich zusammen. „Er ist tot!“, schrie ich sie an. „Er ist …“ Und dann sah ich ihn. Jedes weitere Wort blieb mir im Halse stecken.

Sein Blick richtete sich auf mich, als er an der Glaswand vorbei auf die Tür zutrat.

Es tut mir leid, aber du lässt mir keine Wahl.

Er hantierte an der Tür. Es summte und dann trat er ein. Genauso geschniegelt, wie bei unserem ersten Treffen auf dem Parkplatz des Krankenhauses.

„Seda“, zischte ich.

„Noah Seda um genau zu sein“, erwiderte er auf seine ruhige Art und schloss die Glastür hinter sich. Es piepte wieder laut, dann war auch er bei  mir im Raum eingeschlossen. Doch wo Jacqueline nervös gewirkt hatte, war er völlig entspannt. Sein ruhiger Blick begegnete meinen. Genau wie in dem Wagen, bevor er mich niedergeschlagen hatte.

„Du hast uns ganz schön Kopfzerbrechen bereitet“, sagte er leise. „Wir haben schon befürchtet, du würdest gar nicht mehr aufwachen.“

Ich hörte seine Orte, verstand sie aber nicht. Ich sah nur Aman, das viele Blut und die vielen grünen Krieger um uns herum. Noah war einer von ihnen. Noah war in grüner Krieger. „Ihr habt ihn getötet“, flüsterte ich und konnte spüren, wie die Verzweiflung erneut von mir besitz ergriff. „Ihr habt ihn getötet!“, schrie ich ihn an. Ich unternahm nicht mal den Versuch meine Tränen zu verbergen. Er war ein grüner Krieger. Die grünen Krieger hatten Aman getötet.

Während Jacquelines plötzlich blassen Gesicht zwischen uns hin und her blicke, blieb Noah völlig ruhig. „Das war ein unglücklicher Unfall, der uns allen wirklich leid tut. Es war nie unsere Absicht gewesen einen von euch zu verletzten.“

Sollte dies eine Entschuldigung sein? Glaubte er wirklich, dass eine Entschuldigung reichen würde? „Aman ist nicht verletzt worden, er ist tot!“, schrie ich ihm entgegen und sprang auf die Beine. Er war weg und er würde niemals wieder an meiner Seite sein.

Wut und Angst. Trauer, Panik und Verzweiflung. Das alles siedete in mir und war kurz vor dem überkochen.

Meine Finger krümmten sich zu Klauen. „Er kommt nie mehr wieder zu mir zurück.“

Noah schaute mich nur an. Er wusste dass es dafür keine Worte gab. Er wusste dass ich Recht hatte.

„Wovon spricht sie?“, wollte Jacqueline wissen. Sie hatte sich an der Wand hinauf geschoben und starrte uns unsicher an. „Ich dachte es war nur ein Routineeinsatz gewesen, eine Rettung.“

„Das habe ich nie behauptet“, erwiderte er leise.

Jacquelines Federkamm richtete sich ein wenig auf. „Du hast aber auch nichts Gegenteiliges gesagt.“

„Es ist mir verboten über diese Angelegenheit zu sprechen.“

„Natürlich.“ Sie ward die Hände in einer merkwürdigen Geste über den Kopf. „Was auch sonst. Ist ja nichts Neues.“

Er warf ihr einen kurzen Blick zu. „Können wir das bitte später besprechen? Im Augenblick gibt es Wichtigere Dinge.“

„Pah“, machte sie nur und trat zu dem kleinen Schrank in der Wand. Sie kramte darin herum, bis sie einen Lappen fand. „Für dich gibt es immer etwas Wichtigeres.“

„Jacky, du weist genau dass …“

„Ach sein still.“

Der grüne Krieger verstummte wirklich und runzelte die Stirn, als sein Blick sich wieder auf mich richtete. „Das solltest du nicht tun. Ich will dich nicht verletzten.“

Nicht noch einmal, meinte er wohl. Aber das war mir egal. Meine Krallen waren ausgefahren und selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich mich nicht daran hindern können, weiter auf ihn zuzugehen. Er und seine Leute hatten mir alles genommen. Ich hatte nichts mehr zu verlieren. Für mich gab es keinen Grund auf ihn zu hören.

Ich gab kein weiteres Wort von mir, als ich mich abstieß und mit einem Fauchen auf ihn zusprang. Meine Krallen zerschnitten die Luft, doch Noah hatte diesen Angriff kommen sehen und war einfach blitzschnell ausgewichen – so dass er nun schützend zwischen mir und der erschrockenen Jacqueline stand. „Jacky, raus hier.“

Ich fauchte, peitschte mit dem Schwanz und griff ein weiteres Mal an. Aber auch dieses Mal wich er aus. Zweimal, dreimal. Immer wieder. Ich erwischte ihn an seiner Uniform, riss den Stoff auf und roch sein Blut. Ich hatte ihn erwischt, aber das gab mir keine Befriedigung. Ich wollte ihn tot sehen, wollte sie alle tot sehen. Vielleicht konnte das den Schmerz der mein Herz jede Sekunde erneut in zwei Zerriss endlich stoppen.

Noah gab keinen Mucks von sich. Er beachtete die Wunde an seinem Arm nicht einmal. „Genug jetzt.“

Genug. Es war nicht das erste Mal, dass er das zu mir sagte, wurde mir klar.

„Es ist niemals genug!“ ich sprang ein weiteres Mal und dieses Mal würde ich ihn kriegen. Ich würde ihn töten und alle anderen auch. Oder bei dem Versuch sterben. Die Geistrede daran kam mir nicht einmal erschreckend vor. Dann würde dieser reißende Schmerz jedenfalls enden. Für mich gab es sowieso keine Zukunft mehr.

Ich segelte durch die Luft, ruderte mit dem Schwanz, als er wieder versuchte auszuweichen und änderte damit ganz leicht meine Flugrichtung. Damit hatte er nicht gerechnet. Ich sah es an dem kurzen Ausdruck der Überraschung in seinem Gesicht. Doch der wich schnell der Entschlossenheit. Und bevor ich ihn packen konnte, um meine Krallen in sein Fleisch zu bohren, griff er blitzschnell nach meinem Arm, nutzte meinen eigenen Schwung und schleuderte mich gegen die nächste Wand.

„Noah!“, schrie Jacqueline.

Der Aufprall war hart. Ich prallte von der Wand ab, knallte auf den Boden und schlug mir dabei den Kopf heftig an, dass ich einen Moment ganz benommen wurde.

„Scheiße!“, zischte Jacqueline und eilte an meine Seite, als ich versuchte wieder auf die Beine zu kommen. Doch das war gar nicht so einfach. Der Sturz war schlimmer, als es im ersten Moment den Anschein hatte.

Bevor Jacqueline mich erreichen konnte, packte Noah sie am Arm und zog sie von mir weg.

„Was zum … lass das! Sie ist verletzt, siehst du das nicht?“

„Sie ist gefährlich“, sagte er leise und blickte ihr dabei tief in die Augen. „Sie ist verwirrt, verunsichert und verängstigt. Keine gute Mischung.“

„Und sie ist meine Patientin!“

„Nicht mehr lange, wenn du nicht endlich diesen Raum verletzt.“

Jacqueline machte den Mund auf, aber kein Ton kam heraus. Sie sah zu mir, beobachtete wie ich mühsam auf Hände und Knie kam und richtete den Blick dann wieder auf ihn. „Das würdest du nicht tun.“

„Wenn du nicht gehorchst, dann werde ich das tun. Nur ein Ort von mir und du wirst abgezogen. Das weißt du.“

Sie drückte die Lippen zusammen. Ihr wütender Blick hätte Felsen zerschneiden können. „Manchmal verstehe ich dich einfach nicht.“

„Das ist nicht schlimm.“

„Gott, du bist so ein Idiot“, schimpfte sie, ging an das Handy an der Wand und tippte dort auf den Tasten herum. Im nächsten Moment begann die Tür zu summen und Jacqueline stürmte wütend hinaus, ohne sie hinter sich wieder zu schließen.

Das wäre meine Chance gewesen zu entkommen. Noah war noch abgelenkt, da er ihr hinter sah, aber in meiner körperlichen Verfassung würde ich nicht weit kommen.

Ich gab einfach auf.

Egal was geschehen würde, ich hatte es verdient, denn ich hatte versagt – auf ganzer Linie.

„Bitte zwing mich nicht das noch einmal tun zu müssen“, bat er mich. „Ich mag keine Gewalt.“

Ich schluchzte auf, gab mir gar keine Mühe meine Verzweiflung zu verstecken.

Es war sowieso alles egal.

„Es tut mir wirklich sehr leid“, sagte er noch einmal und wandte sich dann ab. An der Tür jedoch machte er noch einmal halt und wandte mir das Gesicht zu. „Übrigens, der Mann der auf Aman geschossen hat, wurde zwei Minuten später von dir getötet – genau wieder drei andere. Und einer wird sich von seinen Verletzungen nie wieder richtig erholen.“

Damit ließ er mich allein in dem Raum zurück. Doch seine Worte linderten meinen Schmerz nicht. Vielleicht stimmte es und ich hatte Amans Mörder umgebracht, aber das brachte ihn mir nicht zurück.

Aman war fort.

Für immer.

Und ich war verloren.

 

°°°

 

Zeit.

Ein einfaches Wort, dem keine Bedeutung beigemessen wurde – bis auf wenige Augenblicke. Wenn die Zeit für ein geliebtes Wesen ablief, war sie plötzlich von Belang. In den schreckliches Moment des Lebens wünschte man sich, sie zurückdrehen zu können, um alles wieder gut zu machen. Doch das war einfach nicht möglich – ganz egal wie sehr man von diesem Wunsch besessen war.

Und dann gab es noch die Zeit, die sich wie zähflüssiger Sirup in unendliche Längen zog. Sekunden wurden zu Minuten, Minuten zu Stunden. Sie schien einfach kein Ende nehmen zu wollen. Zeit war unendlich und doch hatte niemand genug davon. Es war wie ein Strudel, dem niemand entkommen konnte. Auch ich nicht, als ich in diesem stillen Raum lag und nichts anderes als meine Geistreden hatte.

Vielleicht waren es Minuten, seit Jacqueline und Noah mich allein gelassen hatten, vielleicht auch Stunden oder Tage. Ich wusste es nicht. Es gab nichts an dem ich mich orientieren konnte – außer vielleicht meinem Körper, der nach der langen Zeit des Liegens mittlerweile wehtat.

Ich hatte geweint und geschluchzt, sehr lange, doch dann hatte ich keine Tränen mehr und es war nur ein Gefühl der absoluten Leere geblieben. Kurze Zeit war ich auch eingeschlafen – unter dem weißen Holzbett, der sicherste Ort in diesem Raum. Vielleicht war es auch lange Zeit gewesen. Ich wusste es einfach nicht.

Und dort lag ich noch immer und starrte die Glaswand an.

Niemand war mehr aufgetaucht. Es war als wenn die Welt mich vergessen hätte. Vielleicht war es besser so.

Ich blinzelte. Meine Augen taten weh. Ich spürte wie geschwollen sie waren und versuchte mich an diese Geistrede zu klammern. Es war immer noch besser, als immer und immer wieder zu den vergangenen Erlebnissen abzurutschen. Doch es geschah. Ich konnte es einfach nicht verhindern.

Ich wusste nicht mehr wie oft Aman vor meinem inneren Auge gestorben war. Die Geräusche und Gerüche dieses Augenblicks waren in den letzten Stunden zu mir zurückgekehrt. Die Schüsse. Das verzweifelte Jaulen.

Acco.

Bei allem was geschehen war, hatte ich ihn völlig vergessen. Ich wusste nicht was aus ihm geworden war. Ich wusste so vieles nicht.

Ich blinzelte wieder. Trotz der vielen Tränen die ich geweint hatte, waren meine Augen ganz trocken.

Vielleicht verdiente ich das alles hier. Vielleicht war es mein Schicksal.

Du darfst nicht aufgeben. Die Ailuranthropen brauchen dich. Ich brauche dich.

Es war die Stimme meiner Göttin. Ich wusste nicht warum, aber seit ich aufgewacht war, hörte ich sie immer wieder.

Kehre dorthin zurück wo alles angefangen hat.

Aber es war nicht als würde sie zu mir sprechen, es war wie eine Erinnerung. Ich war ihr im Land der Götter begegnet.

Sie sind Gefangene meiner Macht, sie können nicht in die Ewigkeit entkommen.

Nicht nur einmal. Immer wenn ich die Augen schloss und in das Heilige Land abdrifte, dann stand sie plötzlich vor mir – glaubte ich. Alles war so verschwommen.

 Du wirst gebraucht. Du bist die einzige die noch helfen kann.

Und jedes Mal sagte sie mir das gleiche.

Erfülle deine Aufgabe, bringe das Tigerauge dorthin wo alles begonnen hat, dann wird alles wieder gut.

Immer und immer wieder.

Kehre dorthin zurück wo alles angefangen hat.

Wieder schloss ich die Augen einen kurzen Moment, um sie dann gleich wieder zu öffnen.

Ich konnte nicht helfen. Ich konnte gar nichts tun, außer zu akzeptieren, wie die Dinge waren. Ich war schon immer unnütz gewesen und würde es auch immer bleiben.

So lag ich da, unter dem weißen Holzbett in dem weißen Raum ohne Fenster. Meine Geistreden drehten sich immer weiter im diese Themen. Aman, Acco, meine Unzulänglichkeiten. Und dabei tat ich nichts anderes durch die Glaswand zu starren, ohne dass das Bild sich auch nur einen Augenblick geändert hätte.

Sie können nicht in die Ewigkeit entkommen.

Mein Fafa.

Meine Mina.

Meine Brestern.

Sie sind Gefangene meiner Macht.

Sian.

Bringe das Tigerauge dorthin wo alles begonnen hat, dann wird alles wieder gut.

Nichts würde jemals wieder gut werden.

Niemals.

Das wusste ich so gut wie die Tatsache, dass jeder den ich liebte auf ewig verloren war.

Kehre dorthin zurück wo alles angefangen hat.

Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen. Warum nur musste die Stimme meiner Göttin mich so quälen? Sie war ein allwissendes Wesen – zumindest was die Vergangenheit betraf – und hatte miterlebt, wie sehr ich versagt hatte.

Als Füße in mein Sichtfeld kamen, wusste ich nicht wie viel Zeit vergangen war, oder was es zu bedeuten hatte. Es war mir auch egal. Nichts hatte für mich noch eine Bedeutung.

Es waren kleine Füße in weißen Schlappen, die sich zielstrebig zur Tür bewegten. Sie verharrten einen Moment davor. Dann summte es und die Tür schwang auf, nur um mit einem lauten Signalton wieder geschlossen zu werden, als sie sich im Raum befanden.

Zwei Schritte. Ein Tablett wurde auf den Boden gestellt. Einen kurzen Moment sah ich Hände, dann waren sie wieder weg. Der Geruch von Essen wehte mir in die Nase und mein Magen begann sofort an zu knurren. Suppe. Es roch eindeutig nach Suppe.

„Möchtest du vielleicht unter dem Bett hervorkommen? Obendrauf ist es doch viel bequemer.“

Jacqueline. Ich erkannte ihre Stimme, doch ihre Worte konnten mich nicht dazu bewegen meinen sicheren Platz zu verlassen. Nichts würde das können. Nicht einmal meine Göttin konnte dieses Wunder vollbringen.

„Du musst doch schon am Verhungern sein.“ Sie wartete, hoffte wohl auf eine Reaktion, doch ich blieb wo ich war.

„Ich weiß wie schwer das für sich sein muss“, sagte sie plötzlich ganz leise. „Auch ich habe geliebte Menschen verloren.“ Einen Augenblick schweig sie. „Obwohl Mensch für uns wohl das falsche Wort ist, was?“

Konnte sie nicht einfach wieder gehen? Ich wollte ihre Worte nicht hören. Sie hatte doch keine Ahnung von was sie da sprach.

„Weißt du, schon meine Mutter wurde hier in Belua geboren und auch ich bin hier zur Welt gekommen, doch …“ Sie schwieg. Sie blieb so lange still, dass ich schon glaubte – hoffte – sie würde es einfach dabei belassen. Doch dann setzte sie sich im Schneidersitzt vors Bett. „Weißt du, dieser Ort ist wundervoll, geschaffen für Wesen wie uns, damit auch wir in Frieden leben können, ohne die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzten.“ Sie schnaubte. „Dabei sind sie es doch die erst schießen und dann Fragen stellen. Aber hier … in Belua sind wir sicher.“

Sie sagte das so traurig, dass ich es nicht glauben konnte. Sie machte eher den Eindruck, als wollte sie sich selber davon überzeugen.

„Hier sind wir sicher, aber auch Gefangene – irgendwie.“ Wieder ein Seufzen. „Weißt du, ich liebe es zu fliegen. Es ist einfach traumhaft den Wind in seinen Federn zu spüren und die endlose Weiten unter sich zu sehen, doch hier … ist immer alles gleich und …“ Sie stocke, als würde ihr langsam klar, mit wem sie hier eigentlich stand. „Ist auch nicht so wichtig. Was ich sagen wollte, weil ich meine Freiheit wollte musste jemand der mir sehr nahe stand sterben.“ Mit den letzten Worten wurde sie immer leiser. „Ich weiß also wie du dich fühlst.“

Wie ich mich fühlte. Ihre Schuld. Meine Schuld. Plötzlich stand es mir messerscharf vor Augen. Das alles ist meine Schuld. Durch mein Versagen mussten so viele Unschuldige leiden. Alles wegen mir.

Eine Verzweifelte Wut brach sich in mir bahn. Meine Schuld, alles meine Schuld. „Du hast doch von Schuld überhaupt keine Ahnung“, flüsterte ich so leise, dass sie es nicht verstehen konnte.

„Was hast du gesagt?“ Sie beugte sich leicht vor, um mich unter dem Bett sehen zu können.

„Du weißt nicht was das Wort Schuld bedeutet!“, schrie ich sie an. „Wie kannst du es wagen da zu sitzen und mir zu erklären was schuld ist?!“

„Aber ich …“

„Ich hätte ihn aufhalten können!“, schrie ich ihr entgegen und erst als die Worte draußen waren, erkannte ich die Wahrheit darin. Aman war tot, weil ich ihn nicht aufgehalten hatte. Er war mit mir gegangen und ich hatte nichts dagegen unternommen. Deswegen konnte ihn der Schuss beißen, deswegen war er tot. Niemals hätte ich zulassen dürfen, dass er mit mir ging. Er hätte in Silthrim bleiben müssen.

Jacqueline saß betreten da und hatte die Augenlider leicht gesenkt. „Dein Verlust tut mir wirklich leid. Ich weiß wie weh es tut, wenn es noch so frisch ist und …“

Ich fuhr mit einem Zorn hoch, dass das Bett umkippte und krachend zu Boden ging. Mein ganzer Körper zitterte vor Zorn und Verzweiflung, als ich über ihr aufragte und in das erschrockene Gesicht blickte. „Du weißt gar nichts über mich“, zischte ich. „Du weißt nicht wer ich bin, du weißt nicht was geschehen ist und du weißt auch nicht das mein ganzes Volk sterben wird, weil ich versagt habe.“ Tränen rollten mir über die Wange. „Du weißt nicht dass er gestorben ist, weil er mich retten wollte.“

Sie saß einfach da uns starrte mich aus weit aufgerissenen Augen an. Ihre Zunge huschte nervös über ihre Lippen, aber sie wagte es nicht den Blick von mir zu wenden. „Ich …“

„Verschwinde!“, schrie ich und fauchte. Meine Krallen zerschnitten die Luft neben ihrem Gesicht.

Als sie vor Schreck aufsprang, jaulte ich vor Wut. Mit jeder verstreichenden Sekunde wurde mir meine Hoffnungslosigkeit deutlich bewusster. Ich war eine Gefangene. Sie waren alle tot und ich konnte nichts dagegen tun.

Ich packte das Tablett und schleuderte es mit einem lauten Krachen gegen die Wand, während Jacqueline zur Tür eilte. Suppe spritzte wie Blut in alle Richtungen und die Tonschüssel zersprang wie mein Herz bei Amans Einzug in die Mächte.

Ein lautes Signal verkündete mir, das Jacqueline den Raum verlassen hatte. Das machte mich noch wütenden. Ich randalierte mit alles was der Raum zu bieten hatte, riss die Schranktüren aus der Wand, zerfetzte das Bett, zerstörte die Maschine mit den vielen Schwänzen. Ich schrie und weinte und doch wollte der Schmerz einfach nicht nachlassen.

Nicht konnte das erträglicher machen, nichts konnte mir helfen und letztendlich tat ich nichts weiter als weinend auf dem Boden zusammen zu brechen.

Nichts konnte diese Pein die in mir tobte besänftigen.

Bringe das Tigerauge dorthin wo alles begonnen hat, dann wird alles enden.

Oh bitte, es sollte einfach nur noch aufhören.

Draußen vor der Scheibe stand Jacqueline. Ihre Hand ruhte auf dem Glas, während ihr still und heimlich Tränen über die Wangen liefen.

 

°°°

 

Sie kam nicht allein. Das war das erste was ich bemerkte, als Jaqueline Stunden später mit einem Strahlen auf meine Tür zutrat. In der Hand balancierte sie ein Tablet das gefährlich schwankte, als sie nach der Tür griff.

Doch nicht sie war es, auf dem meine Augen ruhten, sondern die drei Grünen Krieger, die ihr still im Schatten folgten.

Wie lange war es her, seit sie aus diesem Raum geflohen war? Es musste der nächste Tag sein – vielleicht auch länger.

Als die Tür summte, richtete ich mich auf meinem Lager langsam auf. Ich hatte mir die Decken, Laken und Kissen zu einem Nest in der Ecke zusammengeschoben. Es war nicht wirklich sicher, aber das war es unter dem Bett auch nicht gewesen.

Jacqueline drückte die Tür auf und warf dabei fast den Teller auf dem Tablett auf den Boden. Nur das schnelle zugreifen des einen Kriegers verhinderte ein Schlammassel. „Oh danke.“ Sie lächelte ihn an. „Den Rest schaffe ich alleine.“ Sie drückte sich in den Raum und wollte die Tür schließen, doch die Krieger wollten auch mit hinein. „Damit meinte ich ganz alleine. Sie bleiben draußen.“ Ihre Stimme hatte etwas an Schärfe gewonnen.

Ich drückte mich mit dem Rücken fester an die Wand und musste ein Zittern unterdrücken. Die Grünen Krieger waren es die Gillette gefangen genommen hatten. Sie waren es gewesen, die Aman getötet hatten. Und sie waren es auch gewesen, die mich in den Wagen gesteckt hatten. Jetzt waren sie hier, was bedeutete, dass der Kriegergeneral auch nicht weit sein konnte.

„Wir haben den ausdrücklichen Befehl erhalten zu Ihrer eigenen Sicherheit bei Ihnen zu bleiben, wenn Sie die Patientin aufsuchen.“

Der Kriegergeneral. Warum war ich nicht eher auf die Geistrede gekommen, dass er hier sein musste. Die Grünen Krieger waren hier, Noah war hier.

Ich will sie in Belua sehen.

Oh Göttin.

Jacqueline lächelte zuckersüß. „Das ist sehr nobel von Ihnen, aber es reicht wenn Sie alle draußen vor der Tür bleiben. Es ist Glas, sie können alles sehen und …“

„Bei allem Respekt, wir haben …“

Und …“, übertönte sie ihn laut, um sich Gehör zu verschaffen. „… Sie ängstigen meine Tiger-Lili. Das ist nicht gut für ihre Genesung. Und das ist es was der General möchte. Sie soll gesund werden. Und Sie stören dabei.“ Ohne ihn weiter zu beachten, schob sie ihn hinaus und schloss die Tür. Dabei konnte sie gerade noch das Tablett retten, das wieder in gefährliche Schräglage geraten war.

Der Grüne Krieger starrte finster durchs Glas, wiedersetzte sich ihrer Anweisung jedoch nicht.

Jacqueline drehte ihm den Rücken zu und lächelte mich vorsichtig an. „Na, gut geschlafen?“

Misstrauisch sah ich dabei zu, wie sie das Tablett auf den Boden stellte und sich daneben setzte. Sie zögerte, schob das Tablett dann etwas in meine Richtung und versuchte sich an einem weiteren Lächeln. Es misslang ihr. Vielleicht hatte ich aber auch nur den Eindruck, weil ich den Hauch von Angst an ihr riechen konnte. „Du hast sicher Hunger. Das hier ist alles für dich.“

Ich beachtete das Essen nicht weiter. Das Hungergefühl hatte schon vor Stunden nachgelassen. Und außerdem war ich mir den Blicken der grünen Krieger nur allzu bewusst.

„Ignorier sie einfach“, sagte Jacqueline leicht hin.

Mein Blick richtete sich auf sie. Das schien ihr unangenehm zu sein. Sie wich ihm aus und spielte nervös an ihren Fingern herum.

„Ich hab überlegt, dass wir noch mal von vorne anfangen sollten. Was hältst du davon?“

Was ich davon hielt? Ich kniff die Augen leicht zusammen. Die Grünen Krieger waren hier, das konnte nur eines bedeuten. „Sie gehören zum Kriegergeneral.“ Das Sprechen tat weh. Meine Kehle fühlte sich rau und kratzig an, obwohl ich die ganzen Wasserfalschen aus dem Wandschrank bereits geleert hatte.

„Der Kriegergeneral?“ Einen Augenblick runzelte sie nachdenklich die Stirn. „Ach, du meinst General Winston. Ja, ich arbeite für ihn. Er ist hier der Chef, der Hüter von Belua, wenn du so willst.“

Der Hüter dieses Ortes? Ich verstand es nicht. Was hatte das nur alles zu bedeuten?

„Wenn du nichts essen willst, kann ich dann vielleicht etwas anders für dich tun? Möchtest du etwas wissen?“

Warum nur kam sie immer wieder und versuchte mich in Gespräche zu verwickeln?

Ich rutschte unruhig auf meinem Platz hin und her. Die Anwesenheit der Grünen Krieger machte mich nervös und außerdem wollte das ganze Wasser wieder aus meinem Körper heraus.

„Du hast bestimmt Fragen.“

Ja, die hatte ich. Tausende. Doch eine stach ganz deutlich hervor. „Acco“ flüsterte ich. „Wo ist er?“ Die Geistrede an ihn hatte mich die letzten Stunden nicht mehr in Ruhe gelassen. Er war auch durch das Portal gegangen – noch vor mir.

„Acco?“ Wieder zog sie die Stirn in Falten, bevor sie sich im klaren Geist wieder glättete. „Ach du meinst den Wildhund. Er ist hier, er … möchtest du ihn sehen? Ich kann das veranlassen.“ Sie warf einen kurzen Blick auf das Band an ihrem Handgelenk. „Kurz nach acht. Er müsste also gerade auf den Weg zu seinen Untersuchungen sein.“

Untersuchungen? War er krank?

„Soll ich ihn holen lassen?“ Erwartungsvoll, das war es was der Ausdruck in ihren Augen bedeutete.

Ich zögerte, nickte dann aber. Ja, ich wollte Acco sehen – besonders in diesem Moment. Ich brauchte etwas aus meiner Welt.

„Dann werde ich es sofort veranlassen.“ Sie sprang federleicht auf die Beine und eilte zu dem Handy an der Wand. „Würde einer der Herren bitte so freundlich sein den Wildhund zu holen, der vor sechs Tagen mit der Patientin hier eingetroffen ist?“ sie ließ es wie eine Frage klingen, doch in ihrer Stimme klang auch ein Unterton von Befehl mit.

Wenn es möglich war, schaute der Grüne Krieger sogar noch finsterer drein. „Ich fürchte das wird nicht gehen“, hörte ich seine blecherne Stimme durch das Handy. „Wir wurden dazu abgestellt für Ihre Sicherheit zu sorgen.“

„Ja ja.“ Sie winkte ab. „Aber zwei Leute werden doch wohl reichen. Und das hier ist wichtig. Also bitte.“ Sie wartete gar nicht auf eine Antwort, sondern wandte sich von ihnen ab und versuchte es mit einem Lächeln in meine Richtung. „Verdammte Befehlsgewallt.“

Ich blickte durch das Glas. Der Mann mit dem sie gesprochen hatte, wirkte nicht glücklich, aber ich sah wie er mit einem der anderen Krieger sprach und dann den Korridor hinunter verschwand – hinaus aus meinem Blickfeld.

„So“, zog Jacqueline meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Und während wir warten … wie wäre es wenn du einen Happen zu dir nimmst, hm?“

Ich wollte nichts essen, ich wollte etwas ganz anderes, ich wollte etwas wissen. „Ist Acco krank?“

„Ob er krank ist?“, fragte sie erstaunt. „Wie kommst du darauf?“ Bevor ich überhaupt die Chance bekam zu antworten, gab sie sich die Antwort selber. „Du meinst wegen den Untersuchungen?“ Sie lachte ein glockenhelles Lachen –es passte zu ihr. „Nein, keine Sorge, mit ihm ist alles in Ordnung. Die Leute hier sind nur neugierig auf ihn. Sowas wie Acco haben sie noch nie gesehen und jetzt versuchen sie alles über ihn herauszufinden. Aber keine Angst, ihm geht es gut.“

Es sollte ihm gut gehen? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Er war in einer fremden Welt, gefangen von den Feinden und hatte gerade seinen Leiter verloren.

„Möchtest du sonst noch etwas wissen?“

Ich war unschlüssig, haderte mit mir, aber so sehr es mir auch wiederstrebte, es gab etwas dass ich unbedingt erledigen musste. „Ich müsste mal zum … Abort“, sagte ich leise.

„Oh“, machte sie, als sie meine Worte verstand. „Oh, das tut mir leid. Eigentlich hätte ich auch selber darauf kommen müssen. Hier gibt es keine Klos, weil die Zimmer ja eigentlich für die HR-Patienten sind und die …“ Sie verstummte. Während sich über ihre Augen ein trauriger Schimmer legte. Einen Moment schien sie in ihre Geistreden versunken, aber dann fasste sie sich wieder. „Nun gut, dann steh mal auf. Ich bring dich ins Bad.“ Sie drehte sich herum und tippte auf dem Handy an der Wand herum. „Wenn du möchtest, dann kannst du da auch duschen. Ein paar frische Klamotten werden sich sicher auch auftreiben lassen.“

Die Tür summte und ging mit einem Klicken auf. Sofort waren die beiden verbliebenen Grünen Krieger achtsamer.

„Ich werde zusehen, dass du in ein anderes Zimmer verlegt wirst. Jetzt wissen wir ja dass du nicht an HR leidest.“ Sie riss die Tür mit Schwung auf und lächelte mich dann wieder an. Dieses Lächeln … es schien zu ihr zu gehören, wie ihre Federn. Er wirkte nie gekünstelt. „Wenn du gehen willst, dann wirst du wohl aufstehen müssen“, sagte sie, als ich keine Anstalten machte mich zu bewegen.

Ich konnte einfach nicht. Ich sah die Grünen Krieger, sah die Schüsse die sie an ihren Hüften trugen und konnte mich einfach nicht bewegen. Ich fürchtete mich vor ihnen.

„Hab keine Angst“, sagte sie sanft. „Die beiden Männer werden dir nichts tun. Mein Wort drauf.“

Was war das Wort einer Harpyie wert? War das überhaupt von Bedeutung? Ich wusste es nicht. Ich wusste gar nichts mehr, außer dass ich bald einen kleinen Unfall haben würde, wenn ich kein Abort aufsuchte. Und trotzdem wollten meine Muskeln versagen, als ich mich vom Boden erhob. Ich wusste nicht, ob ich jemals so viel Willenskraft aufbringen musste, um einen Schritt nach vorne zu machen. Mich willentlich in die Hände des Feines zu geben war wohl das Schwerste, dass ich seit meiner Ankunft hier hatte tun müssen.

Sie gehörten zum Kriegergeneral – sie alle. Auch Jacqueline mit ihrem Lächeln, das immer so aufrichtig wirkte. Und trotzdem schaffte ich es zögernd auf sie zuzugehen und sogar an ihr vorbei, als sie mit einer einladenden Geste den Weg frei machte.

Doch nun stand ich direkt vor den Grünen Kriegern und die wirkten gar nicht erfreut, dass ich mich außerhalb meiner Zelle aufhielt.

„Beachte sie einfach gar nicht“, sagte Jacqueline und trat an mir vorbei den langen weißen Korridor hinunter. „Sie sind nur stille Teilnehmer.“

Nicht beachten? Wie sollte ich sie nicht beachten? Sie waren es die mir Aman genommen hatten. Sie gehorchten dem Kriegergeneral.

„Du brauchst wirklich keine Angst vor ihnen haben“, sagte Jacqueline mit sanfter Stimme. Sie wartete ein Stück weiter auf mich. Und auch wenn ich weder ihr noch den Grünen Kriegern traute, so lief ich wachsamen Schritts an ihre Seite, blieb aber sofort stehen, als ich den Raum neben meinem entdeckte. Es war eine exakte Kopie meiner Zelle und auch diese war besetzt. Doch etwas ließ mich glauben, dass die Wesen dort drinnen keine Gefangenen waren.

Es waren Selkies.

Ohne ihr graues Fell konnte man sie leicht mit Magiern oder ähnlichen Spezies verwechseln, doch ihre Augen, sie verrieten, wer sie waren – zumindest drei von den Anwesenden. Der Vierte war ein Mensch. Eine Familie.

Ich trat näher an die Wand aus Glas. Meine Finger berührten die Scheibe wie von selbst.

In dem Bett lag ein junges Mädchen. Sie schlief – vielleicht. Verschiedene Geräte und Apparaturen waren durch Schwänze mit ihr Verbunden.

Daneben auf einem Stuhl saß ein weiteres Mädchen. Sie war nur wenig älter als jenes im Bett. Ihre Hand drückte die der Schlafenden und in ihren Augen glitzerten Tränen.

Hinter dem Stuhl hielt ein Mann eine Frau im Arm und versuchte sie zu trösten, doch er schien selber mit seinen Gefühlen zu kämpfen. Schmerz, Angst und eine unsagbare Trauer lagen in seinen Augen.

„Das ist Xea.“ Jacqueline trat neben mich, was mich vorsichtig einen Schritt zur Seite weichen ließ. „Sie ist erst elf Jahre alt und wird ihren nächsten Geburtstag nicht mehr erleben.“ Ihre Hände waren zu Fäuste geballt und in ihren Augen zeigte sich eine Hoffnungslosigkeit, die ich nicht verstand. „Sie ist krank. Hereditas Relicta, oder kurz, HR. Es ist nicht heilbar.“

Nicht heilbar. Ich sah mir Xea genauer an. Sie sah so schwach aus, ausgemergelt, fahl. In meiner Erinnerung kitzelte etwas. Ich blinzelte und plötzlich – nur einen kurzen Augenblick – sah ich meinen Fafa in diesem Bett liegen. Gebrochen, kraftlos, fragil.

„Und ihre Schwester wird es auch bekommen. So ist es immer. Tritt es in einer Generation auf, so haben alle Nachfolgenden es auch.“

Eine Erbkrankheit.

„Wir können nur noch versuchen ihnen den Rest ihres Lebens so angenehm wie möglich zu gestallten.“

Ich trat von der Scheibe zurück, als mich die verzweifelte Wut der Nutzlosigkeit packte. Warum wollten sie diesen Wesen helfen? Der Kriegergeneral herrschte über diesen Ort, doch die Wesen darin waren wie ich. Warum ließ er ihnen Hilfe zukommen, während es ihm völlig gleich war, dass mein ganzes Volk starb.

Vielleicht waren sogar schon alle in die Mächte der Göttin eingegangen.

Sechs Tage befand ich mich an diesem Ort, vielleicht auch länger, ich wusste es nicht genau. Sechs Tage hier warn sechs Jahr dort. In Sechs Jahren konnte viel passieren.

Licco.

In meinen Augen sammelten sich Tränen, doch ich verbot mir meine Schwäch vor dem Feind offenzulegen – nicht noch einmal.

„Es ist immer das gleiche“, sagte Jacqueline traurig und wandte sich von der Familie ab, um den Weg fortzusetzen.

Ich folgte ihr, langsamer, denn ich konnte den Blick einfach nicht von Xea und ihrer Schwester wenden. Daher war ich nicht darauf gefasst, was ich im nächsten Raum sah. Wieder war die Frontseite eine einzige Glasscheibe. Jeder Raum in diesem Korridor glich dem anderen. Nur die Leute darin unterschieden sich.

Im nächsten Raum war ein Mann. Ein Hustenkrampf schüttelte ihn. Sein Bett und seine Kleidung waren blutig und mit jedem Huster kam ein weiterer Schwall aus ihm heraus.

Neben ihm stand eine Pflegerin die beruhigend auf ihn einredete und versuchte ihm zu helfen.

Und das war nicht das letzte Bild dieser Art. Dieser Korridor beherbergte weit über zwanzig Räume und in allen war es das gleiche Bild, ein Bild, das sich nach meiner Rückkehr auf Silthrim auf ewig in mein Gedächtnis verankert hatte. Die Wesen in diesen Räumen, sie litten an der gleichen Krankheit, die auch mein Volk dahinraffte.

Ich hatte es bei Ravic gesehen, bei meinem Fafa und bei vielen anderen auch.

Die Wesen hier starben auf die gleiche Weise wie meine Familie. Leider gab mir diese Geistreden keine Genugtuung. Vielleicht hatten sie es verdient, aber das brachte das Leben der Ailuranthropen auch nicht zurück.

„Da ist es auch schon“, ließ Jacqueline verlauten und trat am Ende des weißen Korridors an eine genauso weiße Tür. Der Flur machte hier einen Knick nach links, doch die Tür war gerade zu.

Ich wagte einen Blick um die Ecke. Leise Stimmen erfüllten den Gang. Ich sah andere Wesen die wie Jacqueline gekleidet waren – Menschen und Wesen die eigentlich nach Silthrim gehörten. Zwischen ihren liefen Kranke und Verletzte herum. Links und rechts gingen viele Räume von diesem Korridor ab. Sie waren nicht wie meiner, es waren ganz normale Räume und aus einem hörte ich einen Mann stöhnen.

„Das ist das Hospital von Belua“, erklärte Jacqueline lächelnd. „Es ist nicht groß, aber für uns reicht es.“

Ein Hospital. War das sowas wie ein Krankenhaus? Der Geruch in der Luft erinnerte mich jedenfalls daran. Plötzlich fühlte ich mich noch viel unwohler. Ich wusste was in Krankenhäusern passierte. Gillette war in einem gestorben. Und nun befand ich mich auch in einem. 

„Na komm, hier geht es rein.“ Sie machte eine einladende Geste, ließ die Hand aber sofort wieder sinken, als ich davor zurück schreckte. „Nun gut, hier ist das Bad.“ Sie öffnete die weiße Tür, tastete innen an der Wand entlang und schaltete das Licht ein. „Es ist zwar ziemlich klein, aber es wird reichen. In dem Schrank dort wirst du Kleidung zum Wechseln finden. Deinen … Lendenschurz können wir waschen lassen, wenn du möchtest.“

Ich sollte wieder Kleidung der Menschen tragen? Plötzlich fühlte ich mich als sei ich in einer fremden Realität. Dieser Ort, diese Leute, alle wirkte so unwirklich, so als sei ich nur ein Zuschauer, der das alles von weit her beobachtete, ohne eingreifen zu können.

Ich wünschte es wäre wirklich so gewesen. Aber ich stand hier. Das alles war real und mir blieb im Augenblick gar nichts anderes übrig, als in das kleine Bad zu gehen und die Tür hinter mir zu schließen.

Ich nutzte den Abort der Menschen, stellte mich vor dem Spiegel über dem Waschbecken und starrte mich selber an.

Unter meinen Augen lagen tiefe Ringe. Meine Haut war fahl und mein Äußeres ungepflegt. Ich erkannte mich selber nicht wieder. Ich starrte mich einfach nur an. Und dann wusste ich nicht was ich hier eigentlich sollte. Ich meine, natürlich wusste ich wozu dieser Ort gedacht war, doch es machte alles keinen Sinn. Ich sollte duschen und mir andere Kleidung anziehen, doch wozu? Wozu war es gut auch nur noch einen Schritt zu machen? Ich wollte das alles nicht. Es gab nur eine Sache die ich wollte. Es gab nur noch eines was ich fühlte. Und das war mein Sehnen nach Aman.

Ich wollte bei ihm sein.

Für immer.

Doch er wanderte auf ewig im Land der Götter und ich war hier und konnte nicht zu ihm gelangen. Zumindest nicht solange mein Herz noch schlug.

Diese Geistreden verwirrten mich und doch ließen sie mich seit langem klarer sehen, als es in der letzten Zeit der Fall gewesen war. Wenn mein Herz nur aufhören würde zu schlagen, dann wäre endlich alles zu ende, dann könnte ich auf ewig bei ihm sein.

Nur ein Schritt trennte mich von ihm. Ich musste nur die Hand bewegen, dann wäre diese ganze Farce endlich vorbei.

Ich handelte bevor ich mich dafür entschieden hatte. Meine Faust schnellte einfach nach vorne und im nächsten Moment klirrten die Scherben des Spiegels ins Waschbecken.

Ich hielt die Luft an, horchte auf die Geräusche vom Korridor. Dort waren laute Stimmen, dich sie schienen sich nicht mit mir zu befassen. Sie stritten. Es war mir gleich worum es ging, wichtig war nur das die Tür geschlossen blieb.

Mein Herz schlug wie wild in meiner Brust, als ich langsam nach einer langen Spiegelscherbe griff. Nie war mir bewusster gewesen, dass ich lebte. Ich spürte alles. Das Pumpen meines Herzen, die Luft in meinen Lungen, das Blut das durch meine Adern floss. Und doch blieb ich ganz ruhig, als ich die scharfen Kanten der Spiegelscherbe begutachtete. Ein Schnitt, vielleicht auch zwei, dann wäre alles zu Ende, dann wäre ich endlich bei Aman.

Langsam hob ich sie Scherbe an. Zeitgleich ließ ich meine Magie versiegen. Die Katze floss von mir ab, bis nichts als ein einfaches, unscheinbares Mädchen zurück blieb. Ein Mädchen mit einer Scherbe in der Hand.

Ich drehte meinen linken Arm. Die Spitze der Scherbe zeigte auf meine Pulsadern.

Draußen wurden die Stimmen immer lauter, aber ich ignorierte sie.

Noch einmal einatmen, noch einmal ausatmen.

Sie sind Gefangene meiner Macht, sie können nicht in die Ewigkeit entkommen.

In dem Moment als der erste Tropfen But unter meiner Haut hervorkehrte, ließen mich diese Worte aus meiner Erinnerung stoppen.

Die Stimme meiner Göttin.

Die nächtlichen Wanderungen durch das Land der Götter.

Sie können nicht in die Ewigkeit entkommen.

Tränen sammelten sich in meinen Augenwinkeln. Selbst wenn ich diesen Schritt wagen würde, er würde mich Aman kein Schritt näher bringen. Ich konnte nicht zu ihm gelangen – niemals.

Mit der Scherbe in der Hand sackte ich in mich zusammen. Immer mehr Tränen liefen mir über die Wangen. Aman war unerreichbar für mich – auf ewig.

Was sollte ich nun tun?

Die Stimmen auf dem Flur diskutierten noch immer. Eine von ihnen war Jacqueline und sie hörte sich sehr verärgert an. Sie gehörte zu den Leuten die mir meine Zukunft genommen hatte. Sie und die Grünen Krieger. Sie alle hatten mir nicht nur meine Zukunft genommen, sondern auf die Ewigkeit.

Alles voran der Kriegergeneral.

Mein Griff um die Scherbe wurde fester. Ich bekam kaum mit wie ich mich von Boden erhob. Meine Sinne waren wie in Trance, als ich mich auf die Tür zubewegte. Dahinter warteten sie – nichtsahnend.

„… kein kleines Schmusekätzchen, sie ist gefährlich!“ Die Stimme dieses Mannes war fast ein knurren. Und doch so sanft, dass man sich bei ihrem Klang wohlfühlen wollte, auch wenn sie nur gedämpft durch die Tür klang.

„Sie ist verängstig und trauert. Sie hat alles verloren was ihr etwas bedeutet hat“, schoss Jacqueline zurück. „Was sie brauch ist Zeit und Zuwendung und keine Gorillas, die sie noch mehr ängstigen.“

Einen Moment herrschte ruhe.

Meine Hand legte sich auf die Klinke, während die Tränen meinen Blick verschwimmen ließen.

„Was du sagst ist alles richtig“, räumte die männliche Stimme ein. „Aber das macht sie noch viel gefährlicher. Sie hat nichts mehr zu verlieren, und …

„Sie musste doch nur aufs …“

„Lass mich ausreden. Ich habe dir die Wachen nicht ohne Grund zur Seite gestellt. Sie sind nicht für Botengänge gemacht, sondern sollen dich …“

Meine Hand war hoch erhoben, als ich die Tür aufriss. Die Stimmen verstummten sofort und auch ohne dass ich sie gesehen hatte, wusste ich, dass die Grünen Krieger ihre Schüsse gezogen hatten.

Der Griff um die Scherbe wurde stärker. Ich spürte sie sie mir in die Hand schnitt, fühlte das warme Blut, dass mir über die Haut lief, doch bevor ich auch nur eine Bewegung machen konnte, sah ich ihn.

Acco.

Er trug einen Korb aus Metall um die Schnauze. Um Hals und Brust hatte er dicke Stahlreifen, die eng an seinem Körper lagen. Und diese drei Teile waren durch Ketten miteinander verbunden. Oh Göttin, sie verhinderten, dass er sich verwandeln konnte. Würde er es versuchen, würden die Reifen ihn nicht nur den Brustkorb zerquetschen, sondern ihm auch noch die Luftzufuhr abschneiden.

„Lass die Scherbe fallen“, sagte Noah leise. Er war der Mann mit dem Jacqueline diskutiert hatte. „Ganz langsam.“

Und der Korb hinderte ihn sogar daran zubeißen. Sie hatten ihn praktisch verstümmelt.

„Lilith, lass die Scherbe fallen“, wiederholte Noah.

„Acco“, sagte ich leise. Seine Augen spiegelten all das wieder, was ich fühlte. Diesen unsagbaren Schmerz, die Trauer und die Sehnsucht. Angst.

Ich spürte kaum wie mein Griff um die Scherbe sich löste, hörte nicht wie sie auf dem Boden aufschlug. Ich sank einfach zu Boden und öffnete die Arme. Noch in der gleichen Sekunde schloss ich sie um Acco, der seinen Kopf an meinem Hals vergrub.

Meine Finger klammerten sich in das warme Fell. Der vertraute Geruch drang mir in die Nase. Und dann konnte ich nichts mehr anderes zu als zu weinen und mich dabei an ihn zu klammern.

Ich war nicht länger alleine.

 

°°°°°

 

Kapitel Sechzehn

 

„Aman!“

„Lilith.“

„Aman!“

Der Sturm riss meine Stimme einfach mit sich. Regen peitschte in mein Gesicht. Es war so dunkel, dass ich kaum etwas erkennen konnte.

„Aaamaaan!“

„Lilith, Natis, hör mir zu.“

„Aman!“ Ich rannte los, stolperte und landete auf Händen und Knien. Der Schlamm spritzte mir bis ins Gesicht.

In der Ferne zuckte ein Blitz über den Himmel und erleuchtete die Szenerie einen Augenblick. Dann war alles wieder dunkel.

„Lilith, er ist nicht hier.“

„Er muss hier sein!“ Er musste einfach.

„Lilith.“ Bastet kniete sich an meine Seite und wollte mich berühren, doch ich wich ihrer Hand aus. „Bitte Lilith. Ich weiß das es schwer ist, aber du musst dich zusammenreißen.“

„Wozu?!“, schrie ich sie an. „Wozu soll das alles noch gut sein?!“

Sie überging das einfach. „Dann wird alles wieder gut. Du wirst …“

Meine Faust schlug auf den aufgeweichten Boden, sodass der Matsch in alle Richtungen spritzte. „Nichts wird jemals wieder gut!“, fauchte ich sie an. „Das Tigerauge kann Kranke heilen, aber es bringt die Toten nicht zurück!“

Einen kurzen Moment schwieg Bastet. In ihrer weißen Robe wirkte sie in dieser düsteren Welt so fehl am Platz. „Du hast Recht, es bringt die Toten nicht wieder zurück, aber es kann Unrecht wieder gut machen.“

„Es ist mir egal“, schrie ich ihr entgegen. Es war mir alles egal. Ich wollte nur noch Aman zurück.

„Erledige deine Aufgabe, und alles wird wieder so sein, wie es sein soll.“ Mit jedem weiten Wort wurde ihre Stimme leiser. Die Umgebung begann zu verblassen. Sie löste sich einfach im Nichts auf. „Such das Tigerauge und bring es dorthin wo alles begonnen hat.“

Die Welt um mich herum verging und ich begann zu fallen …

Ich schlug die Augen auf. Einen Moment war ich orientierungslos. Mein Herz begann in der Brust zu hämmern. Weiß, alles war weiß. Meine Hand krampfte sich zusammen. Ich spürte Fell, Wärme, Haut.

Acco.

Seine Augen beobachteten mich ruhig. Sie wirkten viel älter, als noch vor einigen Tagen. Und Sorge sprach aus ihnen.

„Ich war an einem dunklen Ort“, flüsterte ich leise. Langsam wurde ich mir meiner Umgebung wieder bewusst. Es war der Raum der eigentlich für HR-Kranke genutzt wurde. Nachdem ich geduscht und mich umgezogen hatte, waren Acco und ich hierher gebracht worden. Jacqueline hatte darauf bestanden, dass er bei mir blieb.

„Sie braucht etwas dass ihr ihn dieser schweren Zeit Halt geben kann“, hatte sie gesagt. „Und mir ist es ziemlich egal wenn Acco deswegen nicht zu seinen Untersuchungen gehen kann. Sie ist meine Patientin und ich habe dafür Sorge zu tragen, dass es ihr besser geht.“

Es waren noch viel mehr Worte gefallen, doch sie waren alle im Nebel verschollen. Im Moment war mir nur wichtig, dass Acco bei mir war.

„Welche Stunde haben wir“, fragte ich leise.

„Es ist Nacht.“ Acco rückte ein wenig mehr an mich heran und beobachtete mich sehr genau. „Lilith, du sprichst im Schlaf.“

Ich sprach im Schlaf? „Ich habe noch nie im Schlaf gesprochen.“

„Nein, hast du nicht“, stimmte er mir zu. „Es ist auch das erste Mal dass ich es höre.“

Ich wollte nicht darüber reden. Noch allzu lebhaft standen mir die Erlebnisse im Land der Götter vor Augen. Nicht nur die Worte von Bastet, auch der Regen. Es gab auf Silthrim keinen Regen, warum also erschien er plötzlich im Land der Götter? Mein Geist war viel zu wirr, um dieser Frage nachzugehen.

„Such das Tigerauge und bring es dorthin wo alles begonnen hat“, sagte Acco plötzlich. „Das hast du gesagt. Das und … noch viel mehr.“

Ich biss mir auf die Lippe.

„Was bedeutet das?“

Meine Augenlieder senkten sich leicht. „Ich weiß es nicht. Wenn ich schlafe, dann … Bastet spricht zu mir, aber ich weiß nicht ob es real ist, oder nur eine Illusion.“ Doch egal ob ich schlief oder wach war, jedes ihrer Worte hatte sich in meine Erinnerung gefressen und wollte einfach nicht mehr von mir ablassen.

Eine Weile blieb es ruhig. Dann sagte Acco: „Du bist die Auserwählte deines Volkes.“

„Ich kann nichts ausrichten.“

„Ich weiß dass du das glaubst, aber ich bin der Meinung dass du dich täuschst.“ Er seufzte. „Natürlich, du bist jung und oft unbedacht, aber du bist eine Kriegerin. Das hast du mir mehr als einmal bewiesen.“

Ich schwieg. Ich war es leid dieses Thema immer und immer wieder zu diskutieren.

„Du musst nur an dich glauben.“ Als ich darauf nicht reagierte, stupste er mich mit der Nase an. „Vertraust du deiner Göttin nicht mehr?“

Vertraute ich meiner Göttin noch? Sie hatte ich nie enttäuscht, aber was sie jetzt von mir verlangte, ging einfach über meine Fähigkeiten hinaus. „Auch Götter können sich irren.“

„Natürlich. Das ist sicher auch schon einmal vorgekommen. Aber was wenn sie sich nicht irrt und du die Einzige bist die helfen kann?“

„Es wäre vergebens. Wer weiß ob es die Ailuranthropen überhaupt noch gibt.“ Ich spürte wie meine Augen bei den Geistreden daran anfingen zu brennen. „Das einzige was ich noch tun könnte, wäre sie aus dem Nichts zu befreien, um sie in die Ewigkeit zu entlassen, aber auch dazu bräuchte ich das Tigerauge und das liegt außerhalb meiner Reichweite.“

„Wenn du es nicht einmal versuchst, dann muss ich dir zustimmen.“

Ich biss die Zähne so fest zusammen, dass es schmerzte. Glaubte er denn ich hätte es noch nicht versucht? Glaubte er es das Wissen meines Versagens belustigte mich?

„Lilith, wir wissen beide wo sich das Tigerauge befindet, wir müssen nur einen Weg finden ihm habhaft zu werden.“

Natürlich wussten wir das. General Silvano Winston hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass es nun in seinem Besitz war.

„Er wird es mir nicht freiwillig geben, das habe ich bereits versucht.“

„Ich weiß, ich war dabei.“ Aus diesen wenigen Worten sprach eine so tiefe Trauer, dass sich mein Herz schmerzhaft zusammen zog. Natürlich, er war auch am Portal gewesen, er hatte gesehen wie Aman gestorben war – genau wie ich.

„Was ist mit dir passiert?“, fragte ich leise. „Am Portal.“

Er kniff die Augen kurz zusammen, als würden ihn die Erinnerungen überwältigen. „Sie waren da. Als wir durch das Portal traten, haben sie sofort angefangen ihre Schüsse gegen uns zu benutzen. Wir konnten nur noch ausweichen. Aber dann kamst du und … ich weiß nicht, alles ging so schnell.“ Er stockte und schluckte schwer. „Ich sah nur noch wie Aman fiel und wie du dich dann auf die Grünen Krieger gestürzt hast. Ich wollte dir helfen, aber dann … etwas stach mich in die Seite, es wurde plötzlich ganz kalt und dann schlief ich einfach ein. Ich konnte nichts dagegen tun.“

Die gläsernen Pfeile, dass musste es sein. Genauso war es mir damals ergangen.

„Ich bin in einem Käfig aufgewacht und … naja, ich war über die Gesellschaft nicht sehr erfreut.“ Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht, dich er war nicht glücklich. „Sagen wir einfach so, es gibt einen guten Grund, warum die Leute mir dieses Geschirr umgelegt haben.“ Wieder ein Seufzen. „Seit dem machen sie ständig irgendwelche Test mit mir. Wie schnell ich rennen kann, wie lange Schwimmen, oder ob ich lesen kann.“ Er schnaubte. „Als wäre ich nicht schlauer als irgendein Tier.“

„Sie versuchen dich zu enträtseln.“

„Dabei sind sie doch das viel größere Rätsel.“ Er wandte seinen Blick wieder mir zu. „Weißt du, hier gibt es sehr viele Wesen aus Silthrim. Sie alle sind auf die gleiche Art wie wir oder Luan hier her gekommen. Nun ja, zumindest ihre Vorfahren. Ein paar von ihnen haben sich den Grünen Kriegern von General Winston angeschlossen, doch die Meisten hier in Belua gehen ganz normalen Berufen nach.“

„Belua? Was ist Belua?“

„Die Zuflucht der Ailiens.“

Ailiens, so hatte der Kriegergeneral uns bezeichnet.

„Im Prinzip ist es ein kleines, modernes Dorf in einer alten Zeppelinhalle.“

Was zum … „Was ist eine Zeppelinhalle?“

„Das weiß ich nicht. So jedenfalls wurde es mir erklärt. Und noch irgendwas mit der Regierung, aber ich habe es nicht genau versanden.“

Es war auf jeden Fall ein sehr seltsames Wort. Mit Halle konnte ich ja noch etwas anfangen, aber was bei Bastets Namen sollte ein Zeppelin sein?

„Das Leben hier soll gut sein, auch wenn sie Belua nicht verlassen dürfen.“

Natürlich nicht, nicht solange der Kriegergeneral das Sage hatte. „Sie sind Gefangene.“

„Ja, aber sie sind freiwillig hier, weil sie nicht wissen wohin sie sonst gehen sollen. Manche von ihnen unterscheiden sich zu stark von den Menschen, als dass sie unter ihnen leben könnten.“

Das änderte nichts daran, dass sie sich zu Gefangenen machen ließen und sich unter den Befehl eines Unholds stellten.

„Es gibt wohl nur ein Schatten, der das Licht hier trübt: die Kranken.“

„HR“, sagte ich leise.

Er nickte. „Die Wesen hier werden wohl schon seit ihrer Ankunft immer wieder damit krank. Die Heiler wissen nicht was sie dagegen tun sollen. Sie wissen nur eines: Je mehr menschliches Blut im Stammbaum der einzelnen Wesen enthalten ist, desto unwahrscheinlicher wird es von der Krankheit heimgesucht zu werden.“

„Weil die Menschen nicht von den Mächten der Götter abhängig sind“, sagte ich ohne darüber geist zu reden.

Acco hob den Kopf und stellte die Ohren auf. „Was hast du gesagt?“

„Die Kraken, ich habe sie gesehen.“ Vor meinen Augen erschien wieder das Bild der keinen Xea. „Sie leiden an derselben Krankheit wie die Ailuranthropen. Und auch sie sterben daran.“

„Das ist … Lilith, weißt du was das bedeutet? Dieses Wissen?“ Acco wurde ganz aufgeregt. „Wenn wir es richtig nutzen, dann kommen wir damit vielleicht an das Tigerauge.“

Ich verstand nicht, was er wohl an meinem Stirnrunzeln sah.

„Wir kennen die Heilung. Hier gibt es viele Familien. Das könnte unsere Chance sein. Wir müssen nur …“

„Nein“, sagte ich leise und unterbrach seine Euphorie damit.

„Ich kann mir nicht vorstellen dass dem Kriegergeneral diese Wesen etwas bedeuten. Und selbst wenn, wir müssten ihnen das Tigerauge überlassen, damit die Kranken geheilt werden können.“ Es war sinnlos. Ich würde nie an das Tigerauge gelangen. Ich würde niemals wieder bei Aman sein können.

Acco sackte wieder in sich zusammen.

Nichts würde uns in dieser Lage helfen können. Nur der Tod. Und er war mir verwehrt.

 

°°°

 

Auch wenn ich versuchte die Augen offen zu halten, um dem Land der Götter zu entkommen, übermannte mich die Erschöpfung und riss mich einfach mit sich. Erst als ich diesen stechenden Blick auf mir spürte, erwachte ich aus dem Nebel des Schlafs.

Aber es war nicht das angenehme Gefühl, wie ich es von Aman kannte, es war wie die kälteste Nacht. Und genauso waren auch die Augen, die mich durch die Glaswand beobachteten.

Auf dem Korridor stand General Silvano Winston.

Die Härchen in meinem Nacken richteten sich auf.

Jacqueline, die neben ihm stand und sich lächelnd mit ihm unterhielt, bemerkte ich kaum. Da war nur dieser berechnende Blick des Mannes. Warum war er hier? Er hatte mir doch schon alles genommen, was ich hatte?

Meine Hand lag auf Accos Nacken, so bemerkte ich auch seine Anspannung.

Etwas abseits von den beiden standen wieder drei Grüne Krieger. Einer von ihnen balancierte ein Tablett in den Händen.

„Er ist gerade mit ihr gekommen“, sagte der Sermo leise.

Ich blieb still, beobachtete ihn, sah das falsche Lächeln auf seinen Lippen und fragte mich wie Jacqueline es nicht wahrnehmen konnte. Diese Berechnung, sie war einfach nicht zu übersehen. Aber vielleicht war sie genauso wie er. Oder sie war so naiv, dass sie das offensichtliche nicht wahrnehmen konnte.

Dara glaubte ich nicht.  

Minuten verstrichen. Der Kriegergeneral unterhielt sich ausgiebig mit ihr, aber immer wieder wandte er den Blick auf mich.

Sie sprachen über mich, da war ich sicher. Deswegen konnte ich auch nicht aufatmen, als er sich mit einem Händeschütteln von ihr verabschiedete und den Korridor hinab lief – raus aus meinem Sichtfeld.

Das Summen der Tür lenkte meine Aufmerksamkeit zurück auf Jacqueline. In ihrem Gesicht lag wieder ihr strahlendes Lächeln und ich kam nicht umhin mich zu fragen, wie viel Wahrheit in ihm lag. Erlag ich die ganze Zeit vielleicht nur einer Täuschung? War sie gar nicht die für die sie sich ausgab?

„Guten Morgen, Tiger-Lili. Acco.“ Sie nickte dem Sermo zu, schloss die Tür und stellte das Frühstück unweit von mir auf den Boden. „Der General hat zugestimmt dich zu verlegen. Voraussetzung ist natürlich, dass du dich benimmst. Sind das nicht tolle Nachrichten?“ Bei dieser Verkündug strahlte sie richtig. War sie wirklich so naiv?

Silvanos Auftauchen führte mir Amans Tod wieder viel zu genau vor Augen. Es war das letzte Mal gewesen, dass ich ihn gesehen hatte und die Anwesenheit des Kriegergenerals hatte noch nie etwas Gutes zur Folge gehabt. „Wie kannst du nur für so einen Mann arbeiten?“, fragte ich leise und richtete mich auf meinem Lager in der Ecke auf. „Wie kannst du das nur vor dir selber rechtfertigen?“

Ihr Lächeln fiel ein wenig in sich zusammen. „Ich … was meinst du?“

„Der General! Du folgst einem Monster.“

„Der General? Ein Monster?“ Ein perlendes Lachen kam über ihre Lippen, als sie sich mit einigem Abstand zu mir auf den Boden setzte. „Der General ist ein guter Mensch. Er hat mir und vielen anderen von uns sehr geholfen.“

Wie sie es sagte, sie glaubte das wirklich. Jacqueline hielt Silvano Winston für einen herzensguten Menschen.

„Und auch dir wird er helfen“, fügte sie noch hinzu. „Du musst ihn nur lassen.“

Nachdem sie das gesagt hatte, wurde mir mehr als deutlich vor Augen geführt, wie sehr sie unter seinem Befehl stand. „Du weißt nicht wovon du da sprichst.“ Wieder sah ich Gillette in diesem kalten Metallschrank, wieder starb Aman direkt vor meinen Augen.

Eine Träne bahnte sich ihren Weg über meine Wange.

Jacqueline seufzte schwer. „Pass auf. Ich weiß dass das alles dich im Moment ziemlich überfordert. Und nach der Tragödie die dir wiederfahren ist … ich kenne diesen Schmerz und auch ich habe damals versucht einen Schuldigen zu finden, aber …“

„Er ist schuld“, zischte ich. „Er hat meinen Amicus getötet, er hat es zugelassen das Aman stirbt und er nimmt es in Kauf, dass mein ganzes Volk vergeht.“

„Dein Volk?“ Sie runzelte die Stirn. „Du meinst Wesen wie wir?“

„Ich meine die Ailuranthropen. Er könnte so leicht helfen, aber er tut es nicht.“ Eine weitere Träne perlte über meine Haut. „Er tut es nicht“, flüsterte ich.

Ein sehr ernster Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. „Tiger-Lili. Ich weiß dass du es im Moment sehr schwer hast, aber glaub mir, wenn er dir helfen könnte, dann würde er es tun. So ist er nun mal. Er …“

„Er tut es nicht!“, fauchte ich sie an. „Er hält mich gefangen, anstatt mich nach Hause zu lassen, er behält den Schatz meines Volkes, obwohl dadurch tausende von den Meinen sterben. Er tut nichts ohne daraus seinen eigenen Vorteil zu ziehen.“

Nach diesen Worten blieb es eine Weile still. Ich sah wie Jacqueline über meine Worte geistredete, doch ich konnte nicht sagen ob sie mir glaubte oder nur versuchte zu verstehen, wie ich auf all diese Anschuldigungen kam.

„Das muss ein Missverständnis sein“, sagte sie schließlich. „Es ist viel geschehen und du suchst einen Weg das alles zu verarbeiten. Ich verstehe das, aber der General kann nichts dafür. Er ist ein guter Mensch, Lilith.“

Sie ist naiv, geistredete ich. Sie glaubte seinen Worten und ich verstand nicht, warum ich sie vom Gegenteil überzeugen wollte.

Ich setzte mich ein wenig aufrechter hin und vergrub meine Finger in Accos Fell. Es beruhigte mich ihn bei  mir zu haben. „Was weißt du schon“, flüsterte ich. „Was weißt du schon von mir, von dem was ich erlebt habe. Deine Worte sind nichts wert.“

„Es tut mir leid dass du das so siehst, aber …“

„Was weist du von mir?!“, schrie ich sie an. „Sag es mir. Was weist du von mir?!“ Ich spürte wie meine Hände zitterten und all der Schmerz der letzten Tage und Wochen in mir hochbrandete.

„Ich …“ Sie zögerte. „Nicht viel, aber …“

„Du weist gar nichts über mich“, sagte ich und wusste im gleichen Augenblick dass es wahr war. Sie hatte es doch schon einmal gesagt, als ich sie kennen gelernt hatte. Niemand hatte ihr etwas über mich gesagt. „Du kennst nur Lügen und du glaubst sie auch noch.“

Ich sah wie sie sich leicht versteifte, doch sie erwiderte nichts.

„Du bist blind für die Wahrheit.“

„Lilith, ich …“

„Frag ihn doch“, unterbrach ich sie. „Oder geh zu Noah.“ Der Grüne Krieger war immer dabei gewesen. „Frag sie woher ich komme. Frag sie nach dem Tag, an dem sie mich fast umgebracht haben, weil sie mich fangen wollten. Frag sie nach Amans und Gillettes Tod. Erst dann können wir weiter reden.“

Jacqueline senkte den Blick, seufzte dann und erhob sich von ihrem Platz. „Ich sehe schon, im Moment kann man nicht mit dir sprechen, deswegen …“ Sie verstummte, als ihr Blick auf das Tablett fiel. „Iss dein Frühstück, du brauchst die Kraft.“ Damit verschwand sie und mit ihr die Grünen Krieger auf dem Korridor.

Es war eine Flucht. Sie wollte diesem Gespräch entkommen. Aber auch wenn die mir nicht glaubte, meine Worte würden ihr im Gedächtnis bleiben.

„Die Wesen hier sind geblendet von ihm“, sagte Acco leise. „Sie sehen das wahre Gesicht hinter der Maske nicht.“

„Nein, das tun sie nicht.“ Und doch wünschte ich mir, es wäre so. Vielleicht könnte ein Verbündeter mir hier raus helfen. Vielleicht würde ich so an das Tigerauge kommen. Das Tigerauge wäre das einzige was mich aus meiner Lage retten könnte. Ich würde es zurück nach Silthrim bringen und meiner Göttin übergegen. Dann könnte ich sterben.

Es war der einzige Weg zurück in Amans Arme.

Du bist auf dem Richtigen Weg.

Es war nur ein Flüstern in meinem Kopf, doch ich verstand die Worte mehr als deutlich.

Ich brauchte das Tigerauge.

Dann konnte ich sterben und alles wäre endlich vorbei.

 

°°°

 

„Es muss eine Möglichkeit geben.“

Acco zuckte nur mit den Schultern.

„Du bist eine tolle Hilfe.“

„Was erwartest du? Ich kann keine Wunder bewirken“, grummelte er.

Leider musste ich ihm da zustimmen, denn wenn er es doch könnte, wäre sicher vieles anders verlaufen. Vielleicht wäre Aman dann noch …

Nein!

Ich verbot mir die Geistreden an ihn, das würde mich nicht weiterbringen. Ganz im Gegenteil. Ich kämpfte immer noch gegen den Sog des schwarzen Loches, das mich jeden Moment zu verschlingen drohte. Ich hatte eine Aufgabe. Ich brauchte das Tigerauge, dann endlich könnte ich diesem Schmerz entkommen. Ich konnte es mir nicht leisten mich meiner Trauer und der Verzweiflung hinzugeben und mich ein weiteres Mal zu verlieren.

In den letzten Stunden war diese Geistrede immer lauter geworden. Ich brauchte das Tigerauge und musste es meiner Göttin übergegen. Dann konnte ich meinem Leben ein Ende bereiten und endlich in die Ewigkeit und damit zurück in Amans Arme.

„Was genau hat Bastet denn gesagt?“, wollte Acco wissen.

Ich stoppte einen Moment, bevor ich meinen ruhelosen Lauf durch den Raum wieder aufnahm. „Das Tigerauge ist das Heilmittel, deswegen muss es zurück nach Silthrim. Und solange es hier ist …“ Ich stockte mitten im Satz. Es gab mehr als einen guten Grund das Tigerauge zurück zu bekommen, auch wenn ich nicht wusste wie ich das machen sollte. „Es ist für meine Göttin unerreichbar“, flüsterte ich. „Die Geister der Ailuranthropen sind darin gefangen.“ Im Nichts, in Dunkelheit, in der Kälte.

Mina, Fafa, Curver, Unisum, Migin, Anadon. Und vielleicht auch Licco.

„Aber das war nicht alles.“

„Nein. Sie sagt außerdem immer wieder dass ich es dorthin bringen soll, wo alles begonnen hat.“

„In den Tempel der Bastet.“

„Auch.“

Acco runzelte die Stirn. „Auch? Was heißt auch?“

„Keine Ahnung. Das sagt sie nur immer. Auch.“

Sein Stirnrunzeln wurde tiefer. „Das bedeutet dass nicht allein der Tempel unser Ziel ist. Wir müssen noch eine Bedingung erfüllen, um das Ende zu erreichen.“

Ja, aber was war diese Bedingung? Was konnte dieses ominöse auch bedeuten? Einen freien Willen zu haben, konnte frustrierend sein. Wenn Aman hier wäre, er wüsste sicher was damit gemeint war. Er wusste solche Sachen immer, einfach weil er …

Ich schluckte die aufkommenden Tränen herunter. Es brachte mich nicht weiter mit den Geistreden bei ihm zu verweilen. Noch nicht, aber bald. Dann würde alles anders sein.

„So kommen wir nicht weiter.“ Acco seufzte. „Wir müssten einfach …“

Als plötzlich Schritte auf dem Korridor aufkamen, verstummte er. Die Anspannung in seinen Schultern wuchs und auch ich verharrte mitten in der Bewegung und beobachtete die vier Männer, die direkt auf meine Zellentür zuhielten.

Vier Grüne Krieger. Einer davon war Noah. Und er war es auch, der in mein Gefängnis kam.

„Hallo Lilith“, sagte er mit dieser unglaublich sanften Stimme. „Würdest du mich bitte begleiten? General Winston wünsch dich zu sehen.“

 

 

°°°°°

Kapitel Siebzehn

 

Kalte weiße Korridore, das war alles was ich sah.

Noah lief vorne weg, führte mich durch dieses Labyrinth an Gängen, in denen es nichts anderes außer uns zu geben schien – und natürlich die drei Grünen Krieger die uns beide zur Sicherheit begleiteten. Ansonsten begegneten wir nur wenigen anderen Bewohnern dieses Ortes. Doch sie alle schienen zu beschäftigt, um von uns wirklich Notiz zu nehmen.

General Winston wünscht dich zu sehen.

Diese Worte schienen sich in mir festkrallen zu wollen. Ich wusste nicht ob ich Wut oder Angst empfinden sollte. Ich wusste nicht ob es richtig gewesen war ihnen Wort- und Kampflos gefolgt zu sein. Und ich wusste auch nicht was mich erwartete.

„Du brauchst keine Angst haben, er möchte sich nur mit dir unterhalten“, sagte Noah leise, als würde er meine nervöse Unruhe spüren und bog am Ende des Korridors nach rechts ab. Hier gab es nur eine einzige Tür und auf diese hielt er zu.

Aber das war es nicht was mich darauf hinwies, dass dahinter der Kriegergeneral auf mich wartete. Es war der Geruch der in der Luft lag. Alles hier roch nach Silvano Winston, so als hätte er diesen Ort als sein Eigentum gekennzeichnet.

Warum hatte ich Acco nicht mitnehmen dürfen? Warum musste ich diesen Weg alleine beschreiten?

In mir tobte ein Kampf. Wut und Angst rangen miteinander und wurden mit jedem Schritt stärker, doch in dem Moment als wie die Tür erreichten, wurde es ganz ruhig in mir. So ruhig, dass es schon beängstigend war. Und doch schlug mein Herz wie wild in der Brust. Ich verstand mich nicht. Ich verstand dies alles nicht mehr.

„Ihr wartet hier“, wies Noah die Grünen Kriegern an und klopfte an die Tür. Fast Sofort wurden wir mit einem „Herein“ hinein gebeten.

„Alles wird gut“, versicherte Noah mir noch einmal und öffnete die Tür.

Ich wollte ihm glauben – so sehr – aber ich konnte es nicht. Nichts würde jemals wieder gut werden.

Noah deutete mir mit einer Geste, dass ich den Vortritt hatte und auch wenn sich alles in mir sträubte, setzte ich einen Fuß vor den andere. Hinein in den Raum, hinein ins Ungewisse.

Und dann sah ich ihn.

Silvano.

Der Hass brandete in mir du ich musste all meine Selbstbeherrschung aufbringen, um es mir nicht anmerken zu lassen. Wie konnte ein Mann nur für das Leid von so vielen Wesen verantwortlich sein, ohne selber daran zu zerbrechen? Ich konnte es mir nicht erklären.

Er saß hinter einem großen Schreibtisch, der bis auf wenige Papiere und einen Stift völlig leer war. Auch die Wände waren kahl und farblos. Es wirkte … unecht und doch sagte meine Nase mir, dass dies sein Reich war. Das konnte nicht stimmen.

Oder?

Das einzige was hier noch herausstach, war eine weitere Tür. Sie war aus Metall und besaß in der Mitte ein großes Rad, dessen Sinn mir entging.

Doch das alles ging unter, als der Kriegergeneral die Augen von seinen Papieren hob und mich anblickte. Fast sofort erschien auf seinen Lippen wieder dieses falsche Lächeln. „Lilith, es freut mich dich endlich wieder auf den Beinen zu sehen.“ Er erhob sich und reichte mir seine Hand über den Tisch, als erwartete er wirklich, dass ich sie nahm. Als das nicht geschah, verkniffen sich seine Züge leicht, aber er sagte nicht, setzte sich nur wieder zurück auf seinen Stuhl. „Nun gut. Noah, schließ bitte die Tür. Und Lilith, es würde mich freuen, wenn du dich setzten würdest, wir haben einiges zu besprechen.“

Noah schloss die Tür, aber ich bewegte mich nicht von der Stelle.

Der Kriegergeneral wartete, beobachtete mich, als sei er ein majestätischer Adler und ich seine wehrlose Beute. „Weist du Lilith …“ – er zog eine der Schreibtischschubladen auf und holte drei Teile heraus. Ein Feuerzeug, ein Glimmstäbchen und eine Schale – „… mir ist durchaus bewusst, dass wir beide einen sehr schweren Start hatten, doch ein wenig Höflichkeit und Etikette ist doch wirklich nicht zu viel verlangt. Also bitte setzt dich.“ Er steckte sich das Stäbchen in den Mund und entzündete es. Dann lehnte er sich zurück und wartete.

Ich biss die Zähne fest zusammen. Es war vielleicht als Bitte formuliert worden, aber es war eindeutig ein Befehl. Was würde geschehen, wenn ich ihn nicht befolgte? Würde er mich zwingen? Würde Noah mich zwingen? Egal was es sein würde, es würde sicher nicht höfflich sein.

Ich zögerte noch, versuchte meinen Unwillen zu zügeln und ließ mich mit steifen Bewegungen auf dem Stuhl ihm gegenüber nieder. Dabei warf ich einen Blick über die Schulter. Noah hatte sich unbewegt an der Tür aufgebaut, so als wollte er mir den Fluchtweg abschneiden. Dabei gab es für mich doch gar keinen Grund zu fliehen – nicht mehr. Es gab nur  noch eine Sache die ich wollte und um die zu erreichen musste ich hier bleiben. Vorerst.

„So ist schon besser.“ Silvano Winston stieß den Rauch aus seinem Mund und musterte mich auf eine Art, für die ich ihm am Liebsten die Augen ausgekratzt hätte. „Nun Lilith, wie geht es dir?“

War das eine ernsthafte Frage? Erwartete er wirklich eine Antwort? Ich kniff die Augen leicht zusammen, versuchte einen Sinn in diese seltsame Frage zu bringen. Es konnte ihn nicht wirklich interessieren, wie es mir ging.

„Weißt du, bei einem Gespräch ist es üblich dass beide Parteien ihren Anteil dazu beitragen.“ Wieder nahm er das Stäbchen in den Mund, ließ es aufglühen und den Rauch dann aus seinem Mund entweichen. „Als versuchen wir es noch einmal. Und dieses Mal erwarte ich eine Antwort. Wie geht es dir, Lilith?“

Er wollte eine Antwort? Bei meiner Göttin, die würde er bekommen. „Ich bin eine Gefangene“, stieß ich hervor. „Und Sie sind schuld dass ich mein Finis verloren habe, meine Amicus, meine Familie und mein ganzes Volk!“ Und das Tigerauge, dass Einzige was alles wieder in Ordnung bringen könnte.

Von diesen Worten und der Wut darin blieb er völlig unbeeindruckt. Seelenruhig nahm er einen weiteren Atemzug von seinem Stäbchen, bevor er den Rauch entließ. „Ich komme nicht umhin zuzugeben, dass ich Fehler begangen habe, aber auch du bist nicht so frei von Schuld wie du vielleicht glaubst.“

„Fehler?“ Die Wut kam mit all ihrer Macht zurück. „Sie bezeichnen den Tod von Unschuldigen als Fehler?!“

„Bitte setzt dich wieder.“

Ich hatte gar nicht bemerkt dass ich aufgestanden war und es viel mir wirklich schwer nicht über den Tisch zu springen und ihm die Kehle aufzureißen. Nur die Bewegung von Noah im Augenwinkel hinderte mich daran. Wahrscheinlich hielt er schon seinen Schuss in der Hand.

Eigentlich war es mir egal, das Leben hatte für mich ohnehin keinen Sinn mehr, doch das hier war der falsche Weg. Erst musste das Tigerauge zurück nach Silthrim, erst dann durfte meine Leben enden. Sonst wäre mir Aman auf ewig verwehrt. Das war der einzige Grund, warum ich mich zwang, mich zurück auf den Stuhl zu setzten.

„So ist schon besser.“ Wieder entließ er den Rauch aus seinem Mund. „Wo waren wir stehen geblieben?“ Er tat so als müsste er darüber geistreden, doch ich war mir sicher, dass er es noch genau wusste. „Ah ja, Fehler die auf beiden Seiten begannen wurden.“ Er wartete einen Augenblick, als wollte er meine Reaktion abwägen. Als nichts kam, fuhr er fort. „Möchtest du nicht wissen, was deine Fehler gewesen sind?“

„Mein einziger Fehler war es Sie bei unserer ersten Begegnung nicht sofort zu töten.“

„Nein, dein Fehler war es, dass du dich nach deiner Ankunft in dieser Welt nicht sofort in meine Obhut begeben hast. Viele Leben hätten damit gerettet werden können. Und du hast mein Forschungslabor niedergebrannt, das nehme ich dir noch immer übel.“

Er beugte sich vor und drückte das Glimmstäbchen in der Schale aus. „Seit dem du und deine Freunde in der Öffentlichkeit aufgetaucht seid, habe ich ziemlich viele Probleme bekommen.“

„Dann lassen Sie mich doch einfach gehen und Sie werden mich nie wieder sehen.

Er überging das einfach. „Die Öffentlichkeit will natürlich wissen, was es mit euch auf sich hat. Die Regierung sitzt mir im Nacken und verlangt, dass ich dieses Problem beseitige, doch das ist gar nicht so einfach.“ Er faltete die Hände unter dem Kinn und bedachte mich wieder mit diesem eindringlichen Blick. „Und deswegen denke ich, dass eine Entschädigung von deiner Seite angebracht wäre.“

Bitte? „Entschädigung?“ Für was bitte sollte ich ihn entschädigen?

„Ja, eine Wiedergutmachung.“ Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und wartete meine Reaktion ab. Dabei schien ihm keine Regung zu entgehen.

Wie er dort saß, als sei er ein Herrscher. Genau das glaubt er, wurde mir klar. Er war der Herrscher über Belua, über die Wesen die diesen Ort ihr zuhause nannten.

Doch was er da von mir verlangte, wie kam er nur auf eine solche Geistrede? „Dann müssten Sie mich aber auch entschädigen.“

„Das habe ich bereits.“

Bitte was?! Meine Frage musste mir ins Gesicht geschrieben gestanden haben, denn ich brauchte sie nicht laut stellen, um eine Antwort zu erhalten.

„Ich habe dich hier aufgenommen, ärztlich versorgt und ernähre dich nun.“

Bei Bastet, das war doch … „Darum habe ich nie gebeten“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Das ist nicht von Belang.“

So wie er es sagte, er schien es nicht nur so zu meinen, sondern es wirklich zu glauben. Er fühlte sich im Recht.

„Auch deine Ankunft hier in Belua hat viele Fragen aufgeworfen, die ich nicht beantworten kann“, fügte er noch hinzu.

„Sie hätten mich ja nicht herbringen müssen.“

„Natürlich musste ich das. Der einzige andere Ort liegt dank deiner Hilfe nun in Schutt und Asche.“ Er breitete die Hände aus. „Du siehst, du stehst sehr wohl in meiner Schuld.“

Das konnte nicht sein Ernst sein.

Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen beugte er sich vor. „Und ich weiß auch schon ganz genau, wie du diese Schuld begleichen kannst.“

Natürlich wusste er das. Dieser Mann überließ nichts dem Zufall. Aber ich würde mich nicht darauf einlassen. Er hatte Recht, wir alle hatten Fehler begangen, nur waren seine voller Berechnung gewesen und machten ihn zu dem, der er war. „Geben sie mir das Tigerauge“, sagte ich. Das war alles was ich wollte, nichts anderes interessierte mich. Und schon gar nicht seine verdrehte Sicht der Realität.

Silvano strich sich mit dem Daumen über sein Kinn, während er mich wie ein besonders seltenes Exemplar eines Insekts musterte.

„Weißt du wonach es die Menschen schon seit jeher giert?“

Wenn ich mir ihn als Beispiel für die Menschen nahm, sollte ich lieber den Mund halten.

Er schien auch keine Antwort zu erwarten. „Nach Macht“, sagte er gerade heraus. „Das ist es was die Menschen wollen. Macht. Reichtümer. Ruhm. Ich strebe nach weitaus größerem. Natürlich ist von all dem auch etwas dabei, nur werden meine Ziele auch etwas Gutes bewirken.“

Dieser Mensch konnte etwas Gutes bewirken? Hatte er nicht verstanden, was er in der Vergangenheit getan hatte? In ihm wohnte nichts Gutes – gar nichts.

„Ich möchte dir gerne etwas zeigen. Bitte folge mir.“ Er erhob sich von seinem Platz und trat an die Metalltür mit dem Rad.

In der Wand war ein Tastenfeld eingelassen. Als er es nutzte, erinnerte es mich an die menschlichen Sicherheitsvorkehrungen, die er auch schon in dem Labor im Krankenhaus genutzt hatte. Es gab mehre Pieptöne und dann ein durchdringendes Summen und zischen, als die Tür leicht nach innen aufschwang.

Silvano wartete nicht auf mich, sondern trat einfach hindurch, als wäre es für ihn selbstverständlich, dass ich mich seiner Bitte beugen würde. Doch noch saß ich auf meinen Stuhl und war auch nicht gewillt, ihm zu folgen. Ich wollte nur eines, und das war nicht seine perfide Sicht der Realität.

„Komm, Lilith.“ Noah trat an mich heran und legte seine Hand auf die Lehne. „Bring es einfach hinter dich.“ Er sagte das so leise, dass es wohl nur für meine Ohren bestimmt war. Und der Blick dabei. Es war wohl das erste dass ich ihm glauben konnte, dass er mir nichts Böses wollte. Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass er unter dem Befehl des Kriegergenerals stand.

„Na komm.“

Schicksalsfügung, das war alles was ich tun konnte – zumindest für den Moment.

Noah hielt respektvollen Abstand, als er mich durch die metallene Tür führte uns sie sorgsam hinter uns schloss.

Der Raum in dem ich trat, war mit zwei Worten zu beschrieben: Kahl und steril. Eigentlich waren es sogar zwei Räume, die in der Mitte durch eine Glaswand getrennt waren. Ungefähr in der Mitte des vorderen Raums stand eine Hüfthohe Metallsäule mitten im Raum. Oben drauf waren beleuchtete Tasten. Doch das war es nicht, was mich in dem Moment überrascht stehen bleiben ließ. Es war das, was hinter der Glaswand stand und scheinbar von mehreren Leuten untersucht wurde.

Die Hände auf dem Rücken verschränkt, stand General Silvano Winston an der Scheibe und schaute dem geschäftigen Treiben dahinter zu.

Ich konnte nicht anderes als neben ihn zu treten und die Hände ans Glas zu legen, denn mit dem was dahinter war, hätte ich niemals gerechnet.

„Überrascht?“, fragte General Winston.

Ich warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, bevor meine Augen wieder versuchten das zu erfassen, was direkt vor mir lag: Das Portal. „Wie kommt es hier her?“ Wir hatten es doch im Wald errichtet.

„Ich habe es hier her transportieren lassen. Es ist viel zu wertvoll um es dort draußen der Witterung auszusetzen.“ Er machte eine kurze Pause, in der er eine Frau beobachtete, die den Stein des Portals befühlte. „Ich weis was das ist. Ich habe dich und deine Freunde darin verschwinden sehen. Und nur eine halbe Stunde später seid ihr wieder aufgetaucht.“

„Es ist nicht für Sie bestimmt“, sagte ich leise und konnte meine Geistreden kaum im Zaum halten. Wenn das Portal hier war, dann wäre eine Flucht vielleicht doch einfacher, als ich bisher angenommen hatte. Ich musste nur das Tigerauge in die Hände bekommen, dann könnte ich mit Acco verschwinden.

„Es ist der Weg in deine Welt, habe ich Recht?“ Er wartete, aber es kam keine Antwort. „Natürlich habe ich Recht“, sagte er mehr zu sich selbst. „Weist du was es für die Menschheit bedeuten würde einen Weg in eine andere Welt zu finden? Neue Ressourcen auswindig zu machen? Mit der Hilfe dieses … Portals könnte ich ein reicher Mann werden, reich an Geld und Einfluss. Ich könnte Dinge schaffen, von denen die Menschheit bis heute nur träumt und Taten vollbringen, die uns eine angenehme Zukunft erschaffen können. Forschung und Wissenschaft.“ Er seufzte. „Doch leider gelingt es meinen Leuten nicht es in Gang zu bringen. Ich habe gesehen, dass es funktioniert, doch egal welche Energie wir hineinleiten, es passiert gar nichts.“

Diese Tatsache schien ihn ziemlich zu frustrieren.

Und ich wusste auch sofort woran seine Versuche scheiterten. Nicht nur an der falschen Energie, sondern auch an dem Defekt des Portals. Es war beschädigt. Das Zeichen der Lykanthropen war zum Teil weggesprengt. So würde es niemals funktionierten, auch nicht mit der richtigen Energie.

Meine Euphorie beim Anblick des Portals verflog. Wenn es kaputt war, wie sollte ich dann jemals nach Silthrim zurück gelangen?

„Weist du warum es Belua gibt?“

Ich zögerte, aber dieses Mal wartete er so lange, dass er wohl eine Antwort haben wollte. „Eine Zuflucht. Das hat mir Jacqueline erzählt.“

„Ah ja, die aufopfernde Krankenschwester. Und zu dem was du gesagt hast, ja und nein. Im Grunde ist Belua ein Forschungscentrum. Diese Wesen hier sind nichts anderes als Laborratten. Nur die wenigsten von ihnen sind wirklich zu etwas nützlich. Sie sind nur hier weil ich es erlaube. Und während sie ihrem einfachen Alltag nachgehen, nutzen meine Leute die Gelegenheit um sie zu erforschen. Wir haben in den letzten Jahren sogar schon einige Erfolge erzielt, aber das jetzt weiter auszuführen wäre Kontraproduktiv, da du es eh nicht verstehen würdest.“

Diese herablassende Art … am liebsten würde ich ihm die Krallen durchs Gesicht ziehen.

„Und das ist auch nicht der Grund warum ich es dir zeige. Was ich nun möchte, ist deine Schuld einfordern.“

Ich biss die Zähne zusammen. Ihm zu erklären, dass ich ihm nichts schuldete, würde rein gar nichts an meiner Situation ändern.

„Wenn ich reisen in andere Welten machen könnte, würden die Oberen mir die lange verwehrte Anerkennung nicht mehr entziehen können. Sie würden auf Knien zu mir kommen. Eine solche Entdeckung könnte alles verändern. Und du und die anderen Aliens werden mir dabei helfen.“

Oh Göttin, was war das nur für ein Glanz in seinen Augen? Er schien nicht nur fanatisch an seinen Zielen festzuhalten, nein, er schien richtig besessen davon zu sein.

„Und deswegen, meine liebe Lilith, wirst du das Portal wieder funktionstüchtig machen.“ Er drehte sich so ruckartig zu mir um, dass ich einen Schritt zurück stolperte. „Nein, ich …“

„Erzähl mir nicht, dass du nicht weist wie es funktioniert. Ich habe gesehen wie du es genutzt hast. Mehr als einmal.“ Er hatte schon recht, theoretisch wusste ich wie was zu tun war, auch wenn es riskant war, aber ich konnte doch nicht zulassen, dass dieser Mann in meine Heimat einfiel. Denn selbst wenn ich mich in Amans Arme flüchten konnte, würde ich die anderen Völker diesem eiskalten Mann ausliefern.

Andererseits konnte ich es nicht von der Hand weisen, dass ich seinen guten Willen brachte, um das Portal wieder zu reparieren. Nur wenn es repariert war, konnte ich nach Hause.

Eine Idee nahm in meinem Geist Gestalt an. Sie war unausgereift, doch sie konnte funktionieren. „In Ordnung, ich helfe ihnen.“

Seine Augen glitzerten begierig auf.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber dafür bekomme ich das Tigerauge. Und Sie lassen mich und Acco gehen.“ Wenn das Portal erst repariert war und das Tigerauge in meinem Besitz, dann würde er niemals hindurch gelangen – nicht wenn ich es geschickt anstellte.

„Das Tigerauge also.“

Seine ruhige Art gefiel mir gar nicht. Und der Ausdruck in seinem Gesicht … ich konnte ihn nicht lesen.

Wieder wandte er sich der Scheibe zu, um seine Leute zu beobachten. „Erzähl mir noch einmal, warum dieser Stein so wertvoll für dich ist.

Mein Mund öffnete sich, aber kein Ton kam heraus. In den letzten Minuten hatte ich es irgendwie geschafft den ganzen Schmerz der letzten Tage zu verdrängen, doch nun nahm er vor meinem inneren Auge wieder Form und Farbe an und ich konnte spüren, wie mein Herz sich zusammen zog.

„Du willst nicht?“ Er zog eine Augenbraue nach oben. „Dann kann dir der Stein ja doch nicht so wichtig sein.“

Ich biss mir auf die Unterlippe. Die Aussicht das Tigerauge in die Hände zu bekommen, war alles was ich noch hatte. Doch meine Kehle war wie zugeschnürt.

Der Kriegergeneral kehrte der Scheibe dem Rücken zu und schritt zu der kurzen Metallsäule mit den Tasten. Seine Finger huschten zu schnell darüber, um zu sehen, was genau er dort tat. Doch der durchdringende Warnton, der für mehrere Sekunden den Raum beschallte, weckte mich aus meiner Erstarrung und ließ mich mit großen Augen betrachten, was daraufhin geschah.

Direkt vor der Metallsäule öffnete sich im Boden ein kreisrundes Loch, kaum größer als eine Essensglocke. Und genau das war es auch, was sich dort langsam aus dem Boden erhob – zumindest machte es auf den ersten Blick den Anschein.

Eine metallene Glocke auf einer weiteren Säule schob sich langsam in die Höhe. Immer weiter, bis sie die andere Säule ein Stück überragte. Dann schob der Boden sich zurück an seinen Platz und es wirkte, als hätte es die ganze Zeit so ausgesehen.

Was daraufhin folgt war Stille.

Und ich stand nur da und musste mich fragen, was für eine Art von Magie hier herrschte. Dinge die sich einfach aus dem Boden schoben – aus einem Metallboden – die gab es nicht mal auf Silthrim. Aber Luan hatte doch immer wieder betont, dass es hier keine Magie gab. Oder nur sehr wenig – so wenig, dass man sie sammeln musste, um zu überleben.

Der Kriegergeneral berührte die Glasglocke mit der ganzen Handfläche. Daraufhin schob sich vorne ein handgroßes Panel heraus, über das er seine Finger gleiten ließ.

„Guten Tag, General Winston“, erklang plötzlich die blecherne Stimme einer Frau.

Ich blickte um mich, konnte aber niemanden entdecken.

„Bitte geben Sie das Passwort ein.“

Ich runzelte die Stirn. Die Stimme kam aus der Essensglocke.

In einer schnellen Folge tippte der Kriegergeneral auf dem Panel herum.

„Zugangsdaten bestätig. Das Objekt wird in genau fünf Minuten zurück in den Tresor transportiert. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

Plötzlich entstand um die Glocke eine seltsame Aura, bei der sich mir die Nackenhaare aufrichteten. Das Metall der Glocke schien in sich zusammen zu fallen und zurück blieb eine Glocke aus Glas, unter der das Tigerauge lag.

„Metallsplitter und Elektromagnetische Ströme.“ Der Kriegergeneral verschränkte wieder die Arme hinter dem Rücken. „Faszinierend was man mit der modernen Technik alles ausrichten kann, findest du nicht auch?“

Oh Göttin, da war es, direkt vor meinen Augen. Die Macht meiner Göttin. Das Gefängnis meiner Familie.

Mina, Fafa, Unisum. Sie alle waren darin gefangen, sie und noch viele andere. Ich glaubte ihr leid spüren zu können, einen nicht enden wollenden Schmerz und konnte nichts dagegen tun, dass meine Augen zu brennen begannen.

Ich trat näher und streckte die Hand danach aus. Es war wie ein innerer Sog, gegen den ich mich nicht wehren konnte, doch sobald ich das Glas berührte, bekam ich einen Schlag, der durch meinen ganzen Arm zuckte.

Ich schreckte zurück, drückte den schmerzenden Arm an meine Brust und sah ihn mit großen Augen an.

„Dieser Stein scheint dir eine Menge zu bedeuten“, sagte er ohne auf das eben Geschehene einzugehen. „Deswegen bitte ich dich noch einmal mir zu sagen, warum genau das so ist.“

Ich biss die Zähne zusammen, doch eine Sache wurde mir sehr schnell klar: Wenn ich eine Gelegenheit haben wollte an den wertvollsten Schatz der Ailuranthropen zu gelangen, musste ich mit ihm zusammen arbeiten. Oder besser gesagt, ich musste mich unter seinen Befehl begeben – wenigstens vorerst. „Dieser Stein beherbergt die Macht meiner Göttin“, sagte ich leise. „Im alten Zeitalter bekriegten sich die Götter meiner Welt und um den Zwiestreit zischen ihnen zu beenden, gaben sie alle ihre Macht auf und schleuderten sie hinab auf Silthrim.“

Der General wandte seinen Blick nicht von dem Tigerauge ab, doch ich spürte deutlich, wie aufmerksam er meiner Stimme lauschte.

„Als die Mächte der Götter den Boden Silthrims berührten, entsprang ihnen Leben, Wesen wie es sie vorher noch nie gegeben hat. Nymphen, Selkies, Zentauren, Engel. Und natürlich auch die Ailuranthropen.“ Zum Ende hin wurde meine Stimme immer leiser. „Die Völker hatten seit jeher nur eine Aufgabe: Den Schutz der Macht ihrer Gottheit. Bisher hatten wir immer angenommen es liegt daran, dass zwei Mächte in einem Volk für ein Ungleichgewicht sorgen würden. Zu viel Macht an einem Punkt bring nur Verderbnis. Doch nun ist es zum ersten Mal in der Geschichte unserer Welt geschehen, dass eine Macht verloren gegangen ist und daher kennen wir nun die Wahrheit. Der Stein birgt das Leben seines Volkes. Ohne den Stein werden wir Krank und sterben.“

„Krank? Definiere das bitte genauer.“

Ravics Antlitz kam mir in den Sinn, mein Fafa. Und auch an die kleine Xea. „HR“, sagte ich leise. „Die Ailuranthropen leiden an HR und können nur mit der Macht meiner Göttin geheilt werden.“

Als der Kriegergeneral zu mir herumfuhr, zuckte ich vor Schreck zusammen. In seinen Augen lag eine plötzliche Erkenntnis, die mir gar nicht gefallen wollte und erst dann merkte ich, was für eine Information ich ihm gerade in die Hand gegeben hatte.

„Dieser Stein kann Hereditas Relicta heilen, weil … aber natürlich.“ Seine Stirn legte sich leicht in Falten. „Auch diese Aliens haben ihren Ursprung auf Silthrim und sind damit von der Macht abhängig. Nur ihr Blut, dadurch dass sie sich mit Menschen fortpflanzen, ist ihr Blut dünner geworden und damit sind sie nicht mehr so anfällig für diese Krankheit. Doch wenn sie sich wieder mit ihresgleichen paaren, dann wird das Blut wieder dicker und die Verbindung zum Stein wieder notwendiger. Natürlich, es passt alles zusammen. Noah, bitte schicken sie Dr. Dreyer in mein Büro.“

Noah nickte, drehte sich herum und verließ den Raum.

Oh Göttin, was hatte ich getan?

„Aber eine Ungereimtheit gibt es dennoch.“ Der Kriegergeneral zog seine Augenbrauen zusammen und musterte mich. „Ich habe hier mehrere Vampire. Zwei von ihnen stehen seit fast dreihundert Jahren im Dienst der Regierung. Warum sind sie nicht erkrankt?“

Vampir. Dreihundert Jahre. Sie mussten mit Luan auf die Erde gekommen sein.

„Nun?“

„Vampire haben einen anderen Stoffwechsel. Ihr Herz schlägt langsamer. Sie müssen nicht atmen, wenn sie nicht wollen und …“ Warum sagte ich ihm das eigentlich?

„Ein anderer Metabolismus.“ Silvano nickte, als sei es seine eigene Erkenntnis gewesen. „Das könnte es erklären.“ Er richtete seinen Blick wieder auf die schützende Glocke, genau in dem Moment, als das Glas wieder dunkel und undurchsichtig wurde. Der Boden öffnete sich erneut, irgendwo wurde ein Warnton ausgestoßen und ich musste dabei zusehen, wie mein Schatz in den Tiefen verschwand, wo er für mich unerreichbar war.

„Damit das dieser Stein ein Heilmittel ist, ändert sich natürlich alles.“

„Was?!“

„Unter diesen Bedingungen kann ich ihn dir nicht aushändigen. Wie würde …“

„Aber er kann die Wesen hier doch gar nicht heilen!“ Nein, nein, nein, das durfte einfach nicht wahr sein. „Er bringt nur den Ailuranthropen Leben, für alle andern Völker ist er nutzlos.“

„Natürlich sagst du das jetzt. Du …“

„Ich schwöre es bei meiner Göttin.“ Oh nein, ich war so dicht dran gewesen. Und jetzt, durch eine Unbedachtheit hatte ich alles zunichte gemacht.

Der General schwieg und musterte mich eine Zeitlang, als könnte er in meinen Kopf gucken und dort die Wahrheit heraus holen.

„Bitte, Sie müssen mir glauben.“

Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „In Ordnung, nehmen wir einen Moment an du sagst die Wahrheit. Vor kurzem ist einer meiner fähigsten Männer an HR erkrankt und das bedauere ich zutiefst. Er war sehr … nützlich. Was also müsste ich tun, um ihn wieder auf die Beine zu bringen?“

„Ich weiß nicht, das kommt darauf an, welchem Volk er und seine Vorfahren angehört.“

„Magier“, sagte er sofort. „Er stammt von der Göttin Sachmet ab.“

„Der Amethyst, dass ist der Stein der Sachmet.“

„Und wie komme ich daran?“

Mein Mund klappte zu. Das konnte ich nicht. Natürlich, die Natis der Sachmet waren eins der hinterlistigsten Völker die es auf Silthrim gab, aber deswegen konnte ich sie doch nicht diesem Mann ausliefern.

„Du solltest besser antworten, wenn du noch irgendeine Chance haben möchtest, das Tigerauge zu bekommen.“

Ich biss mir auf die Lippe und redete angestrengt im Geist. Wenn ich nicht sofort eine Idee hatte, würde ich wieder ganz am Anfang stehen, ohne einen Schritt vorangekommen zu sein. Aber ich konnte doch kein ganzes Volk opfern.

Oder?

„Nun?“

„Wenn Sie … ich …“ Ich biss mir auf die Lippe. Eigentlich gab es nur eine Möglichkeit und ich konnte nur hoffen dass das Schicksal mir einmal wohlgesonnen war, um das Schlimmste zu vermeiden. „Wenn Sie durch das Portal treten, können Sie direkt in den Tempel der Sachmet gelangen. Dort bewahren sie den Amethyst ihrer Göttin auf.“

„Woher weist du das?“

„Alle Völker bewahren die Mächte ihrer Götter in einem Tempel auf. Doch ich muss Sie warnen, diese Tempel sind geschützt, die sichersten Orte der Völker.“

„Das Bedeutet, wenn ich durch das Portal trete, komme ich direkt in den Tempel.“

Ich zögerte, weil ich nicht wusste worauf er hinaus wollte, nickte dann aber.

„Und diese Gegebenheit trifft auch auf die anderen Tempel zu?“

Bei Bastet, nein.

In dem Moment ging die Tür auf und Noah trat wieder in den Raum. Er nickte dem General zu und positionierte sich dann wieder still an der Wand.

„Antworte mir, Lilith.“

Ich warf ihm einen Blick zu und richtete ihn dann auf den Boden, genau auf die Stelle, an der das Tigerauge verschwunden war. „Ja“, sagte ich leise. „Das trifft zu. Ohne Ausnahme.“

„Das sind vorzügliche Neuigkeiten. Dann musst du uns nur noch zeigen wie wir das Portal nutzen können und …“

„Gar nicht.“

„Bitte?“ Er zog eine Augenbraue nach oben.

„Das Portal ist defekt. Ich weiß nicht wie es geschehen ist, aber das Zeichen von Seth ist beschädigt worden und solange es nicht in seinem ursprünglichen Zustand versetzt wurde, ist es nicht weiter als ein Haufen Steine.“

„Es zu reparieren dürfte kein Problem sein“, wiegelte er ab, als sei diese Tatsache völlig unbedeutend.

„Nein, Sie verstehen nicht. Es muss genauso aussehen, wie im Ursprung.“

„Ich wiederhole, das ist kein Problem.“

Kein Problem? „Aber wie …?“

„Bevor du zurückgekommen bist, wurden Fotos von dem Originalzustand gemacht. Diese befinden sich natürlich in meinem Besitz. Ich werde einen Restaurator kommen lassen und es reparieren lassen.“ Er dreht sich zu mir herum. „Muss ich sonst noch etwas wissen?“

Ich zögerte. Eine entscheidende Information hatte ich bisher zurück gehalten: Die Energiequelle. Das war meine Chance das Blatt zu meinen Gunsten zu wenden – hoffte ich. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und zeigte ich selbstbewusster, als ich mich fühlte. „Sie händigen mir das Tigerauge aus und lassen mich und Acco durch das Portal nach Hause zurückkehren. Dafür werde ich ihnen mit dem Portal helfen.“ Ich streckte ihm die Hand entgegen.

„Und du wirst mir auch helfen an den Amethyst zu gelangen.“

Ich zögerte, aber wie hatte mir mein großer Brestern Migin einmal beigebracht? Manchmal heiligten die Mittel den Zweck. „In Ordnung.“

Der General schlug ein und ich musste eine Gänsehaut unterdrücken. Seine Augen waren in diesem Moment so kalt und gierig, dass es mir einen unangenehmen Schauer über den Rücken jagte.

Ich ließ meine Han wieder sinken. „Um durch die Welten zu reisen, bedarf es drei Dinge. Zum einen ein funktionstüchtiges Portal, dann jemand der über das Wissen verfügt Energie in das Portal zu leiten. Und die Energiequelle.“

Seine Augen blitzten auf. „Und über welche Quelle reden wir hier?“

„Über die Macht einer Gottheit. Um das Portal zu öffnen, brauche ich das Tigerauge.“

Bei diesen Worten schlich sich ein kleines Lächeln auf seine Lippen. „Gut zu wissen.“

Oh Bastet, gib das ich keinen Fehler begangen habe.

 

°°°

 

Die nächsten Tage verliefen, als würden sie einer anderen passieren. Ich tat genau das was von mir verlang wurde. Zwar war mir bewusst, dass ich damit nicht alle täuschen konnten, doch es machte mir mein Leben leichter und gewährte mir einen Einblick in das Leben in Belua.

Zwei Tage dauerte es, dann wurde ich zusammen mit Acco in einen der Wohnblocks umgesiedelt. Das war auch der erste Tag, an dem ich verstand, was eine Zeppelinhalle war. Es war ein Dorf, nach menschlichen Maßstäben wahrscheinlich eines der modernsten was es gab. Und es war von einer riesigen Halle umschlossen. Künstlich angelegte Natur, Geschäfte und ein kleiner Markt.

Nach und nach lernte ich diesen Ort und auch die Wesen die dort lebten kennen. Jacqueline erschien täglich und zeigte mir ihre Welt. Natürlich wurden wir auch von Noah begleitet. Genaugenommen begleitete er mich. Er war dazu abgestellt worden, mir auf Schritt und Tritt zu folgen.

Sechs Tage nach meinem Gespräch mit dem Kriegergeneral wurde mir eine Arbeit zugeteilt. Auf Jacquelines Bitte hin, wurde ich zu ihrer Assistentin und musste mich von da an um die Kranken und verletzten kümmern. Nur die HR-Patienten, die wurden mir erspart.

Doch die Arbeiten mit den Wesen aus Belua machte mir eines sehr deutlich klar. Sie alle hier hielten General Silvano Winston für ihren Retter, einer Art Messias, der sie vor einem Leben in Angst und Schrecken bewahrte, indem er ihnen Zuflucht an einem Ort gab, an dem sie sich nicht vor der Welt verstecken brauchten. Keiner von ihnen hatte den wahren Mann hinter der Maske erkannt.

So vergingen Tage und manchmal haperte ich an der Idee, die mich in diese Lage gebracht hatte. Ich bekam keine Nachrichten über den Stand der Dinge. Noah verweigerte mir jede Aussage und General Silvano Winston ließ mich völlig im Dunkeln tappen. Bis zum elften Tag. Mitten in der Behandlung einer Nymphe erhielt Noah die Nachricht, dass er mich umgehend zum Portal bringen sollte, und so fand ich mich kurz darauf hinter das Glaswand und ließ meine Hand über das Zeichen der Lykanthropen gleiten.

Es sah aus wie neu. Kein Makel erinnerte mehr daran, was geschehen war. Der Schuss, der dagegen geprallt war und das Mal splittern ließ, war nun nur noch eine ferne Erinnerung. Es sah wieder genauso aus, wie das, das von Pascal und Anima erschaffen worden war.

„Perfekt“, flüsterte ich. „Es ist … perfekt.“

Der Kriegergeneral lächelte zufrieden. „Na dann steht einem Übergang ja nun nichts mehr im Wege.“

 

°°°°°

Kapitel Achtzehn

 

„Und beim nächsten Mal lassen Sie sich von ihrer Frau helfen“, wies Jacqueline den Elfen vor ihr auf dem Behandlungstisch an und legte die Schere zur Seite. Er war von einer Leiter gefallen und hatte sich dabei das Handgelenk verstaucht.

Der Elf lächelte etwas gezwungen. „Ich werde es mir für das nächste Mal merken.“

Jacqueline machte ein Gesicht, als würde sie ihm kein Wort glauben, ließ ihn aber Sang- und Klanglos ziehen.

Sobald die Tür hinter ihrem Patienten geschlossen war, ließ sie ein schweres Seufzen verlauten. „Warum nur müssen Männer immer so stur und uneinsichtig sein?“

„Das liegt ihnen im Blut.“ Ich lehnte mich an die Anrichte und ließ meinen Blick zu Noah schweifen, doch er tat so, als würde er kein Wort von unserem Gespräch hören.

Jacqueline lächelte mich an. „Da sagst du mal ein wahres Wort.“

Wir befanden uns in einem der Zimmer im Hospital bearbeiteten die Sprechstunde mit den leiten Fällen. Zum Glück war Belua ein so kleiner Ort, dass es kaum etwas zu tun gab. Nicht dass ich mich vor der Arbeit drücken wollte, nur im Moment hatte ich einfach nicht den Kopf dafür. Ich konnte nur noch an den morgigen Tag geistreden. Nach dem Frühstück war die Reise nach Silthrim angesetzt. Das war der Zeitpunkt, in dem sich meine Zukunft entscheiden würde. Entweder mir gelang das Unmögliche, oder ich wäre für immer eine Gefangene in dieser Zuflucht.

„… gesagt hat.“

Als ich ihren erwartungsvollen Blick auf mir spürte, hob ich das Gesicht. „Bitte?“

„Wo bist du nur mit deinen Gedanken?“ Jacqueline ließ ein glockenhelles Lachen erklingen. Es hörte sich wie das Zwitschern von Vögeln an. „Ah, ich weis, bei eurem supergeheimen Auftrag, von dem ich nichts wissen darf. Aber wisst ihr was? Das war einmal. Ich weis bescheid.“ Sie schaute zwischen mir und Noah hin und her. „Ihr glaubt mir nicht? Dann hört mal ganz genau zu. General Silvano Winston ist an mich herangetreten und hat mich zu einem Ausseheinsatz eingeteilt. Er sagte meine Arbeit mit dir hätte ihn so sehr beeindruckt, dass er mir nun solche Aufgaben zumuten könnte. Ich bin in der Geheimhaltungsstufe aufgestiegen!“ Freudig kreischend klatschte sie in die Hand und machte ein paar seltsame kleine Hüpfer.

„Was?!“ Noah entglittenen alle Gesichtszüge.

„Ist das nicht toll? Jetzt können wir endlich in einem Team zusammen arbeiten. Ich werde als Sanitäter mitkommen. Ich wollte es euch schon früher sagen, aber …“

„Auf keinen Fall.“

Jacqueline fiel das Lächeln aus dem Gesicht.

„Es muss sich um einen Fehler handeln.“ Noah griff nach dem Handy in seiner Brusttasche und stürmte aus dem Flur.

Mein Blick folgte ihm gleichgültig. Mir war es egal ob er mit der Entscheidung des Generals einverstanden war oder nicht, denn wenn alles funktionierte, würde keiner von ihnen jemals einen Fuß nach Sithrim setzten.

„Er hätte ja wenigstens so tun können, als würde ihn meine Beförderung freuen“, grummelte Jaqueline und begann damit die Reste von der Behandlung des Elfen wegzuräumen. Doch dabei war sie so fahrig, dass ihr die Enttäuschung leicht anzumerken war. Sie hatte sich gefreut mit Noah zusammen zu arbeiten. Er nicht.

„Er will nicht, dass du in Gefahr gerätst“, sagte ich, weil ich das Gefühl hatte, irgendwas sagen zu müssen. In den letzten Tagen war mir Jacqueline irgendwie ans Herz gewachsen. Sie war keine Amicus und auch keine Vertraute, doch irgendwie mochte ich sie.

„Warum sollte es gefährlich sein? Ich meine das ist doch aufregend. Wir gehen in unsere Heimat!“ Sie strahlte übers ganze Gesicht. „Als mich der General gestern zu sich bestellt hat und mir dann von all dem Berichtete und woher du kommst und das alles … ich konnte es gar nicht glauben. Stell dir nur mal vor, du stammst aus der Heimat unserer Vorfahren, das ist … ich weis nicht, das ist der Wahnsinn.“

Ich glaubte nicht, dass es außer ihr ein anderes Wesen gab, dass so viele Worte ohne Luft zu holen anneinander reihen konnte.

„Und dort werde ich frei sein. Ich werde die Flügel ausbreiten können und fliegen. Nicht so wie hier, wo ich kreise unter einer Decke ziehen muss. Nein, unter freiem Himmel und …“ Sie unterbrach sich und lächelte mich schief an. „Weist du, ich liebe es zu fliegen, aber hier bin ich so eingeschränkt. Dort wird es anders sein.“ In ihren Augen lag eine Sehnsucht, die ich nur zu gut verstand. Freiheit. Unabhängigkeit.

Und auch mir wäre diese Freiheit nach meiner Rückkehr endlich gegeben, die Freiheit zu sterben, um wieder bei Aman sein zu können. Ich brauchte nur das Tigerauge.

„Das Tigerauge?“ Jacqueline runzelte die Stirn.

Oh Göttin, das hatte ich jetzt doch nicht wirklich laut gesagt, oder? Ich drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.

„Tiger-Lili“, sagte sie geduldig, als hätte sie es mit einem kleinen Kind zu tun. „Ich weis das du es nicht glauben kannst, aber General Winston ist wirklich ein guter Mann und egal was du da in deinem kleinen Köpfchen zusammengesponnen hast, es ist falsch.“

Falsch? Falsch?! Ich hatte zusehen müssen, wie Aman starb. Gillette war gestorben und Naaru. Kaio, Anima. Die Krankheit. Mein Fafa. „Und du bist so verblendet von dem äußeren Schein, dass du die Wahrheit nicht sehen kannst“, zischte ich und konnte meine Wut kaum im Zaum halten.

Der Ausdruck in Jacquelines Gesicht wurde traurig. „Du hast so viel Hass im Herzen, dass du das Gute nicht mehr erkennst.“

„Und du bist so Naiv, dass du die Wahrheit nicht einmal erkennen würdest, wenn sie dir ins Gesicht springt. Er hat meinen Amicus sterben lassen. Ich habe ihn tot in einem silbernen Schrank gefunden. Er weis das ich das Tigerauge brauche, um die Krankheit meines Volkes zu heilen, doch er gibt ihn mir nur unter der Bedingung, dass ich meine Welt verrate. Das ist der Mann den du so vehement verteidigst. Er ist ein Monster. Die Gier nach Macht und Reichtum treibt ihn an. Er hat es mir ins Gesicht gesagt!“

Jacqueline schüttelte schon den Kopf, bevor ich geendet hatte. „Nein“, sagte sie. „Das muss ein Missverständnis sein. Der General …“

„Erzähl mir nichts von einem Missverständnis. Aman starb in meinen Armen.“

„Ein Unfall“, beharrte sie, doch die Unsicherheit war ihr anzusehen.

Und dann stellte ich die alles entscheidende Frage. „Warum sollte ich mir das ausdenken, wenn es nicht der Wahrheit entspricht?“

„Ich weiß nicht, ich …“

„Was würde es mir bringen? Was hab ich davon, wenn …“

„Ich weis es nicht!“, rief sie laut. Unsicherheit schwang in ihrer Stimme mit.

Ich setzte dazu an den Mund aufzumachen, wollte weiter in sie drängen, doch in dem Moment öffnete sich die Tür und Noah trat in den Raum.

Jacqueline warf ihm nur einen kurzen Blick zu und stürmte dann an ihm vorbei aus dem Raum. Meine Chance auf eine Verbündete war gescheitert.

Noah sah ihr fragend nach, bevor sein anklagender Blick auf mich fiel. „Was hast du mit ihr gemacht?“

Ich schüttelte nur erschöpft den Kopf und lehnte mich wieder mit verschränken Armen an die Anrichte. Warum nur wünschte ich mir so sehr, dass sie mir glaubte. Ich war wohl einsamer, als ich bisher gegeistredet hatte. „Wie kannst du das nur machen?“, fragte ich ihn leise. „Wie kannst du die Wahrheit vor ihr verbergen, obwohl du um die Grausamkeit des Generals weist? Sie bettet ihn gerade zu an.“ Ich drückte die Lippen aufeinander. „Das ist falsch. Was du machst ist falsch. Ich bin nicht blind. Ich kann doch sehen was du für sie empfindest, also warum lässt du sie mit dieser Lüge leben?“

Als er beharrlich schwieg, sah ich auf.

Sein blick war in sich gekehrt, verschlossen.

„Irgendwann wirst du es bereuen. Schweigen ist niemals richtig, es ist wie eine Lüge.“ Ich stieß mich am Tresen ab und lief an ihm vorbei. Dabei flüsterte er Worte, die ich wohl nur wegen meiner guten Ohren hörte.

„Sie ist eine Harpyie. Für sie gibt es keinen anderen Ort.“

Ja, weil die Menschen alles verabscheuten, was von der Norm abwich. 

 

°°°

 

Meine Geistreden rasten, als ich zurück in das mir zugeteilte Zimmer ging.

Es war Abend und ich kam gerade vor der Besprechung mit dem General. Das ganze Team war anwesend gewesen und ich hatte ihnen so viel über Silthrim erzählen müssen, dass mein Mund nun ganz trocken war. doch für sie war es wohl wichtig gewesen, dass sie jede noch so kleinste Kleinigkeit und unbedeutendste Information erhielten, sie sie bekamen.

Mir war nicht wohl dabei gewesen, und doch hatte ich geredet. Schließlich musste ich noch immer so tun, als würde ich mich an die Abmachung des Generals halten. Morgen würde alles entscheiden.

Doch seit dem ich die Besprechung verlassen hatte, kam ich nicht von der Geistrede fort, dass ich etwas vergessen hatte. Nichts Wichtiges für den General und seine Krieger, sondern für mich und Acco. Es war ein nagendes Gefühl, dass mich einfach nicht loslassen wollte, doch egal wie intensiv ich darüber geistredete, ich bekam die Lösung einfach nicht zu fassen.

Ich war mir sicher ich hatte etwas übersehen, doch ich wusste einfach nicht was.

Als ich die Tür hinter mir schloss, bezog Noah draußen Stellung. Er kam nie mit rein und mir war das sehr recht. Ich mochte es nicht, dass er mir auf Schritt und Tritt folge, besonders nicht da mir klar geworden war, das er einer der Wenigen an diesem Ort war, der mir auch etwas ohne Schuss entgegen zu setzten hatte – besonders jetzt, nachdem ich wieder manierlich aß und zu meiner alten Kondition zurückgefunden hatte.

Ich verabschiedete mich nicht von ihm. Noah redete nie viel mit mir, aber an diesem Abend schien er nur aus Schweigen zu bestehen. Besonders die Anwesenheit von Jacqueline an der Besprechung schien ihm missfallen zu haben. Seine Lippen waren die ganze Zeit nichts weiter als ein dünner Strich gewesen. Er wollte sie nicht dabei haben, doch er konnte nichts dagegen unternehmen.

Auch Jacqueline war anders gewesen. Sie hatte mir ständig seltsame Blicke zugeworfen und den General mit einem Runzeln auf der Stirn betrachtet. Nein, sie glaubte mir immer noch nicht, doch es hatten sich Zweifel eingeschlichen. Die saubere Welt um sie herum bekam erste Risse und sie versuchte es mit sich in Einklang zu bringen.

Vielleicht war sie doch nicht ganz so Naiv, wie ich geglaubt hatte.

Seufzend streifte ich mir die Schuhe ab und hörte das vertraute Kettenklirren, das Accos Geschirr von sich gab, wenn er sich bewegte.

„Du bist heute aber ganz schön spät.“

„Es ist alles vorbereitet“, sagte ich ohne auf ihn einzugehen und setzte mich neben ihn aufs Bett.

Meine Unterkunft bestand aus einem einzigen Raum, der nur mit dem nötigsten ausgestattet war und ich dankte meiner Göttin, dass es die letzte Nacht war, die ich hier verbringen musste.

„Morgen ist die erste Erkundungstour und du wirst uns begleiten.“

Acco hob den Kopf und stellte die Ohren auf. „Du hast es also geschafft?“

„Ich habe darauf bestanden dich mitzunehmen, weil wir in für mich unbekannte Gebiete gehen werden und deine Nase doch feiner und deine Ohren noch besser sind als meine. Ich habe ihnen gesagt, dass es unverantwortlich wäre dich zurückzulassen.“ Mit den Fingern kraulte ich das weiche Fell hinter seinen Ohren, bis er genüsslich seine Augenlider senkte. „Und ich habe damit doch nicht Unrecht, oder?“

„Ich bin unentbehrlich“, sagte er halb im Scherz und bettete seinen Kopf auf meinem Schoss.

Wieder schweiften meine Geistreden zum morgigen Tag ab. Auch Acco würde es gut gehen, wenn ich meine Aufgabe erfüllt hatte. Er konnte zurück zu Vinea gehen.

Vinea musste in der Zwischenzeit eine alte Frau sein. Wie viele Tage war ich in der Zwischenzeit hier? Ich wusste es nicht mehr genau, außer dass es zu viele waren. Auf Silthrim mussten Jahre des Leidens für mein Volk vergangen sein und ich konnte ihnen nur noch auf eine einzige Art helfen, bevor ich ihnen in die Mächte folgte.

Ohne mich von meiner Kleidung des Tages zu entledigen, legte ich mich aufs Bett und zog Acco an mich heran in der Hoffnung, dass seine Wärme die Kälte in mir vertreiben konnte. Doch mit jedem Moment den ich ruhiger wurde, steigerte sich meine Nervosität. Nicht nur dass ich noch immer das drückende Gefühl hatte, eine Wichtigkeit übersehen zu haben, es konnte auch so viel schief gehen.

Was würde der Kriegergeneral tun, wenn er verstand, dass ich ihm nicht helfen würde an seine Ziele zu gelangen? Würde er versuchen mich zu zwingen? Würde ich so enden wie Gillette? Eigentlich war es egal. Der Weg nach Silthrim würde ihm versperrt bleiben – für immer.

Ich seufzte wieder und zwang mich dazu die Augen zu schließen. Doch es dauerte lange bis der Schlaf mich übermannte und ich ins Land der Götter eintrat.

Verwirrende Bilder flossen durch meinen Geist. Die Landschaft die mich umgab änderte sich stätig. Da war der Baumstamm, auf dem ich mit Anima gesessen hatte, als wir geplant hatten das Portal zu erschaffen um zurück nach Hause zu kommen.

Es war kein ruhiger Schlaf. Stimmen der Vergangenheit suchten mich heim und sprachen von Dingen, die mehr zu bedeuten schien, als ich auf den ersten Blick glaubte.

„Wir werden einander niemals verlassen, egal was geschieht“, flüsterte Aman mir ins Ohr, doch als ich mich umdrehte, war er nicht da.

„Aman?“

Ein glockenhelles Lachen streifte mich.

In der Nähe stand eine Schreibstube. Die Türen standen sperrangelweit offen.

Plötzlich kam Wind auf und riss alles mit sich, dessen er habhaft werden konnte. Ich wurde von Papieren der Vergangenheit umweht. Sie knisterten und schienen mich einwickeln zu wollen.

„Höre mir zu, verstehe meine Worte: Erfülle deine Aufgabe, bringe das Tigerauge dorthin wo alles begonnen hat, dann wird alles wieder gut.“

„Bastet?“

Urplötzlich verblasste der Wind und die Papiere flatterten achtlos zu Boden, doch so sehr ich mich anstrengte, ich konnte die Worte darauf nicht lesen. Sie verschwammen immer vor meinen Augen.

Wieder erklang dieses ferne Lachen, dass so vertraut in meinen Ohren klang.

„Lilith“, flüsterte eine Stimme. „Liiiliiithhh.“ Ein Mädchen kicherte.

In der Ferne wurde eine Melodie laut. Es war ein Lied, dass ich als kleines Natis mit meinen Brestern gesungen hatte, während wir uns lachend durchs Unterholz gejagt hatten.

Mein Herz begann zu schmerzen. Wie glücklich wir doch damals gewesen waren. Doch was einmal war, war Vergangenheit.

Und dann, ganz plötzlich erschien aus dem Nichts Aman vor mir. „Lilith.“

Ich schlug die Hand vor dem Mund. Er sah genauso aus wie an dem Tag, als er in den Tempel der Bastet gekommen war.

„Kleine Kriegerin, die Zeit ist auf unserer Seite.“

Ich schreckte so plötzlich aus dem Schlaf, das ich auffuhr und Acco beinahe aus dem Bett schmiss.

„Hey“, beschwerte er sich schläfrig.

Ich beachtete ihn gar nicht. Auf einmal war alles ganz klar. Die Geistreden in meinem Kopf waren von einem einzigen Wort erfüllt, ein Wort das alles verändern konnte.

 Firenzia.

 

°°°°°

Kapitel Neunzehn

 

Der Duft des Essens schmerzte meinen Magen. Allein von seinem Anblick zog er sich krampfhaft zusammen und verbot mir auch nur einen Happen davon zu mit zu nehmen. Es war nicht schlecht oder unappetitlich, es was die Nervosität, die mich bereits nach dem Aufstehen gepackt hatte.

„Iss“, raunte Acco mir zu. „Du brauchst die Kraft.“

Das konnte stimmen, doch ich bekam einfach keinen Bissen herunter.

Seit mich die Erkenntnis mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen hatte, hatte ich kein Auge mehr zugetan. Meine Geistreden drehten sich nur noch darum. Was wenn ich falsch lag? Was wenn ich richtig lag?

Ich schob das Tablett das mir vor einer halben Stunde auf mein Zimmer gebracht wurde von mir und erhob mich von meinem Stuhl. Diese Warterei war kaum zum Aushalten. Ständig malte ich mir aus was alles schiefgehen konnte. Die Liste schien kein Ende nehmen zu wollen.

„Wenn du nicht aufhörst, machst du mich auch noch ganz nervös“, beschwerte sich Acco.

Ich blieb mitten im Raum stehen und schaute ihn auch. Wenn es stimmte was ich glaubte, würde es auch ihn beeinflussen. Doch ich konnte es ihm nicht sagen. Wenn ich falsch lag, wäre er mehr als nur enttäuscht. Und außerdem war die Gefahr viel zu groß, dass uns jemand belauschen konnte.

Nein, so kurz vor dem Ziel würde ich nichts mehr riskieren.

Acco schaute sich mein nervöses Rumgelaufe noch ein paar Minuten an, dann seufzte er und schob auch sein Tablett zurück. „Lilith, es wird alles gut werden.“

Das zumindest konnten wir nur hoffen. Ich biss mir auf die Lippe.

„Wenn wir erst …“

Als es an der Tür klopfte, unterbrach er sich.

Ich blieb einen Moment regungslos im Raum stehen, bevor ich die Schulten straffte und die Tür öffnete.

Draußen stand Noah. „Es ist soweit.“

Oh Bastet, halte deine schützende Hand über uns und gib das ich Recht habe.

 

°°°

 

„Ich bin sehr gespannt.“ Der Kriegergeneral lächelte mich zur Begrüßung auf so eine listige Art an, dass ich am liebsten in die andere Richtung davon gelaufen wäre. „Ich hoffe du enttäuschst mich nicht.“

Und ob ich das tun würde. Ich würde ihn nicht nur enttäuschen, ich würde alles in meiner Macht liegende tun, um ihn zu vernichten.

Wir befanden uns mit dem gesamten Team in dem Raum hinter seinem Büro. Nur eine Glasscheibe trennte ich noch von meinem Ziel.

Mit den drei Dutzend Anwesenden waren diese vier Wände gut gefüllt und eine erwartungsvolle Spannung erfüllte den Raum.

Bis auf drei Gesichter, erkannte ich die anderen nur von den Besprechungen. Da war Noah, der mir nicht von der Seite wich. Und Jacqueline, die langsam von ihrer Nervosität gepackt wurde. Und natürlich der Kriegergeneral.

Wie beim letzten Mal trat er an die Metallsäule in der Mitte des Raums und ließ seien Finger über die Tasten fliegen. „Noah, bitte setzte nun die Sicherheitsvorkehrungen in die Tat um.“

„Guten Tag, General Winston“, erklang wieder die blecherne Stimme einer Frau.

Noch ehe ich wusste wie mir geschah, nahm Noah meine Hand und im nächsten Moment klickten die Handschellen. Ich riss meinen Arm weg, doch weit kam ich nicht, denn nun war ich an Noah gefesselt.

Acco knurrte leise.

„Bitte geben Sie das Passwort ein.“

„Du glaubst doch nicht, dass ich dich einfach ungesichert gehen lassen würde“, lächelte der Kriegergeneral, während er mit dem Panel an der Glocke beschäftigt war.

Doch, genau das hatte ich gehofft. Im gleichen Moment kam ich mir unheimlich dumm vor. Natürlich würde er das nicht machen, dafür stand für ihn viel zu viel auf dem Spiel.

„Zugangsdaten bestätig. Sicherheitsvorkehrungen abgestellt. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

Sehr langsam öffnete sich die Glasglocke, bis das Tigerauge offen vor ihm lag.

Ein paar Leute rückten etwas näher, um besser sehen zu können – auch Jacqueline. Sie hatte heute noch kein Wort mit mir gewechselt und irgendwie tat es mir leid.

Als General Winston seine Hand um den Stein schloss, hätte ich ihm am liebsten zugerufen, dass er seine dreckigen Finger davon lassen sollte. Das war nicht nur die Macht meiner Göttin, es war auch meine Familie. Dieser Stein bedeutete meine Welt.

„Dann wollen wir mal.“ Der General machte auf dem Absatz kehrt und lief an mir vorbei direkt in den Raum hinter die Glasscheibe. Nur ein paar Meter vor dem Portal blieb er stehen.

„Na komm“, sagte Noah leise und zog leicht an den Handschellen.

Was sollte ich nun tun? Ich konnte ihn doch nicht einfach mitnehmen, oder? Würde es mit ihm an meiner Seite überhaupt funktionieren?

Widerstand baute sich in mir auf, doch ich war meinem Ziel so nahe, dass ich ihm folgte und dabei genau darauf achtete, dass Acco an meiner Seite blieb. Seine Ketten rasselten bei jedem Schritt.

Auch die andren folgten uns. Jacqueline war unter den Vordersten und auch wenn sie nicht mit mir sprach, so wirkte allein ihre Anwesenheit beruhigend auf mich.

Noah führte mich an die Seite des Generals, der mich bereits mit einem Lächeln erwartete. „Dann lass uns mal sehen, welche Wunder du bewirken kannst.“ Er reichte mir seine offene Hand. In ihr lag das Tigerauge. Ich musste nur zugreifen, doch etwas ließ mich zögern. Das war zu einfach und ging zu schnell. Ich brauchte doch erst eine Lösung wegen Noah.

„Worauf wartest du?“, wollte der Kriegergeneral wissen.

Mein Blick schnellte einen Moment zu seinem Gesicht, bevor er sich auf den Stein richtete. Und dann sah ich mir selber dabei zu, wie ich ihn in die Hand nahm.

Ein Gefühl der Euphorie durchflutete mich. Ich spürte die Macht des Steins in jeder meiner Zelle, die Verbindung und das Leben. Ich spürte mein Volk und konnte es nicht verhindern, dass sich eine einzelne Träne in meinem Augenwinkel sammelte.

Aber natürlich spürte ich auch die Blicke der Anwesenden, die mich keinen Moment aus den Augen ließen – besonders nicht die des Generals. Seine Erwartung war praktisch mit den Händen zu greifen und gleichzeitig schien er vor Ungeduld zu vibrieren.

„Nun tu es endlich“, befahl er mir.

Mir wurde klar, dass ich Zeit schinden musste um einen Weg aus dieser Misere zu finden. Ich konnte es einfach nicht zulassen, dass außer mir und Acco jemand nach Silthrim gelangte. Ich schloss die Augen und tat so, als würde ich meine Kräfte sammeln um meinen Willen in den Stein in zu lenken, während ich in Wirklichkeit fieberhaft darüber geistredete, wie ich dieses Problem lösen konnte.

Ohne die Handschellen würden ich das Portal öffnen und einfach schnell hindurch springen, doch ich wusste nicht, was es für Auswirkungen hatte, wenn ich Noah mit mir riss. Er existierte nicht im Damals, nur im hier und jetzt.

Sekunden wurden zu Minuten. Die Zeit verstrich ohne dass ich sie aufhalten konnte, doch mir fiel einfach keine Lösung ein.

Die Ungeduld des Generals wurde immer deutlicher. „Warum dauert das denn so lange?“

Ich öffnete wieder die Augen und biss mur auf die Lippe. Dabei schloss ich meine Faust fest um den Stein, als könnte ich so verhindern, dass er mir wieder entrissen wurde.

„Nun?“

Vielleicht sollte ich es verschieben und auf eine bessere Gelegenheit warten. Bei dieser Geistrede wurde mein Herz schwer. Trotzdem sagte ich: „Es lässt sich nicht öffnen.“

Der Unmut stand dem Kriegergeneral ins Gesicht geschrieben. „Und warum nicht?“

„Ich … ich weis nicht.“

„Dann versuch es noch mal!“

Bei diesem harschen Befehl stellten sich mir die Nackenhärchen auf. Trotzdem gehorchte ich und schloss die Augen in der Hoffnung, dass mir in den nächsten Sekunden die rettende Idee kommen würde.

Doch plötzlich packte der General mich am Arm und riss mich ein Stück zu sich heran. Der griff war so schmerzhaft, dass ich zischte und dem wütenden Blick dieses Scheusals begegnete. „Du versuchst doch hoffentlich nicht mich hinters Licht zu führen, oder?“

Von Panik ergriffen, schüttelte ich den Kopf. „Nein.“

„Warum geht es dann nicht.“

Oh Göttin, hilf. „Ich weis nicht.“

„Du hast es schon mal gemacht, ich habe es gesehen.“ Er verengte die Augen zu Schlitzen. „Was war im Wald anderes.“

Von den Umständen abgesehen? „Sachmets Brut“, sagte ich ohne groß darüber nachzudenken.

Er zog die Augenbrauen zusammen. „Bitte?“

Ich leckte mir nervös über die Lippen. „Auf der Erde hat es noch nie ein Portal gegeben, deswegen mussten wir den Steg zwischen den Welten erst errichten und … wir brauchten etwas, dass eine Verbindung nach Silthrim hatte.“

„Eine Verbindung?“

„Ein Magier. Er war mit uns durch das Portal gefallen und die Götter wollten, dass wir ihn opferten, um einen Weg nach Hause finden zu können.“

„Ein Opfer?“

„Ja.“ Ich warf einen hastigen Blick auf das Portal. „Wenn wir sterben, löst sich der Geist von uns und findet seinen Weg zurück in die Mächte um die Ewigkeit im Land der Götter verbringen zu können. Er nimmt den direkten Weg. Es ist wie ein Sog. Der Geist des Magiers wurde durch das Portal in den Amethyst gesogen und hat uns so den Weg geebnet.“

Es dauerte einen Moment, aber dann glättete sich die Stirn des Kriegergenerals wieder und sein Gesicht wurde wieder zu der Maske, die er der Welt zeigte. „Ein Opfer also“, murmelte er wie zu sich selbst und schien angestrengt im Geist zu reden.

Er löste seinen Griff von meinem Arm und trat einen Schritt zurück. „Dieses Problem lässt sich leicht beheben.“ Und dann zog er ohne Umschweife seinen Schuss von der Hüfte, drehte sich herum und schoss auf den ersten Alien, den er zu Gesicht bekam.

Der Knall hallte überlaut in dem kleinen Raum wieder und ich musste voller Entsetzten dabei zusehen, wie die blutrote Blüte erblühte.

Ein Keuchen ging durch die Reihen.

„Nein“, schrie Noah mit weit aufgerissenen Augen, als Jacqueline einfach in sich zusammensackte und regungslos am Boden liegen blieb, während sich um ihren Körper herum eine rote Pfütze ausbreitete.

„Das hätten wir.“ Seelenruhig steckte General Winston seinen Schuss wieder weg. „Und nun öffne das Portal.“

Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich es nicht tun können, denn Noah stürzte nach Vorne zu Jacqueline und riss mich mit sich. „Oh Gott, Jacky. Nein.“ Er ging neben ihr in die Knie und riss den noch warmen Körper an seine Brust.

Die anderen Anwesenden wichen vor dem General zurück, verzogen sich in den Raum hinter der Scheibe, als würde diese ihnen Schutz gewähren. Nur Silvano, Acco, Noah und ich blieben am Portal zurück.

„Soldat, bewahren Sie Haltung“, herrschte der General Noah an. „Und gehen Sie zurück auf ihren Posten.“

In Noahs Augen blitzte ein Hass auf, den ich selber nur zu gut kannte. Und auch wenn ich versuchte diesen Moment einfach auszublenden, kam ich nicht gegen das Entsetzten an, das mich bis tief in mich hinein erschütterte.

Es war wie mit Aman, von einem Moment auf den anderen, war sie einfach weg.

„Soldat!“

Noah biss die Zähne zusammen und legte Jacqueline so behutsam wie möglich zurück auf den Boden. Der Scherz in seine Augen sprach von Quallen, die ich nur zu gut kannte. „Das hätten Sie nicht tun dürfen“, sagte er leise und griff mit blutverschmierten Händen in seine Jackentasche.

Silvano Winston blieb aalglatt. „Ich tue was immer nötig ist und nun zurück auf Ihren Posten.“

„Das hätten Sie nicht tun dürfen“, wiederholte er mit einem seltsamen Unterton in der Stimme.

„Ich will dass das Portal sofort geöffnet wird!“, schrie der General. Speicheltröpfchen flogen ihm dabei von der Lippe. Der General war nicht nur fanatisch, er war geradezu krankhaft besessen.

Noah zog aus seiner Tasche einen kleinen Schlüssel. Im nächsten Moment zog er meinen Arm zu sich heran. Es klickte und dann waren die Handschellen weg.

General Winston runzelte die Stirn. „Was tun Sie da?“

„Ich hatte Ihnen die Treue geschworen“, sagte Noah leise und richtete sich langsam auf. „Ich habe über ihre Grausamkeiten geschwiegen.“

Der General kniff die Augen zusammen. Seine Hand legte sich auf seinen Schuss, als wollte er ihn ein weiteres Mal ziehen, doch da hatte Noah seine Waffe bereits auf den General gerichtet. Er verharrte sofort in der Bewegung.

„Ich habe alles getan was Sie wollten, doch dazu hatten Sie kein Recht!“ Tränen schimmerten in seine Augen und so grausam dieser Moment auch war, es war meine Chance.

„Acco“, flüsterte ich so leise, dass nur er mich hören konnte und achtete dabei darauf, dass meine Lippen sich kaum bewegten. „Auf mein Zeichen schließt du die Tür.“ Denn wenn die Grünen Krieger und das Team erstmal ausgesperrt waren, dann wäre es ein leichtes für mich zu fliegen. Zwei Gegner waren besser als dreidutzend.

„Sie hat Ihnen nichts getan!“, schrie Noah ihn weiter an.

„Soldat, nehmen sie die Waffe runter, sonst wird das Konsequenzen haben.“

„Ich scheiß auf Ihre Konsequenzen!“

„Wie Sie meinen.“ Es geschah so schnell, dass ich nicht sah wie es passierte. Plötzlich war da ein weiterer Knall. Noah brüllte auf, wirbelte herum und fiel auf den Boden. Sein Gesicht war vor Schmerzen verzerrt, als er sich die Hand auf die blutige Schulter drückte.

Sein Schuss rutschte über den Boden und bleib an der Wand liegen – außerhalb meiner Reichweite.

„Jemand wie du hat nicht das Recht sich gegen mich zu stellen“, sagte der General leise und trat auf Noah zu. Den Schuss hielt er noch immer bereit in seiner Hand, der Lauf zeigte auf den Elfen. „Ihr Aliens lebt doch nur weil ich es erlaube.“

Ich wich vor den beiden Männern zurück, bis ich die Wand im Rücken spürte. Nur noch einen kurzen Moment.

„Fahr zur Hölle!“, stieß Noah angestrengt aus.

„Oh nein, das ist kein Ort für mich. Aber du wirst gleich dort laden.“

Meine Hand umklammerter das Tigerauge so fest es nur ging.

„Grüß deine Alienfreunde von …“

„Jetzt!“, schrie ich und sprang auf die Beine, während Acco zur Tür rannte uns sie von innen zustieß.

Ich ließ meiner Magie freien Lauf und rammte den Kriegergeneral. Noch bevor meine Verwandlung abgeschlossen war.

Er stieß einen überraschten Schrei aus, als unter mir auf den Boden aufschlug. Dabei verlor er seinen Schuss.

Ohne lange zu zögern, fuhr ich meine Krallen aus und tat das, was ich schon so lange tun wollte, ich zog sie ihm quer über das Gesicht, bevor er überhaupt wusste, wie ihm geschah.

Sein durchdingender Schrei als er sein Augenlicht verlor, hallte mir in den Ohren wieder, aber ich war noch nicht fertig mit ihm. Er hatte so viel Leid über mich und die meinen gebracht, dass ich ihn für all das büßen lassen wollte.

Meine Krallen zerfetzten ihm seine Haut, rissen an seiner Kleidung. Ich weidete mich geradezu an seine Schreie. Jetzt bezahlte er für alles was er getan hatte, jetzt bezahlte er für Amans Tod.

Alles geschah wie im Nebel. Es war ein Rausch, dominiert Geruch des Blutes. Ich konnte nicht aufhören, auch nicht als ich die Stimme hörte, die versuchte den Nebel in meinem Kopf zu lichten. Ich konnte es einfach nicht. Dieser Mann sollte meinen ganzen Schmerz spüren.

Oh nein, ich wollte nicht das er starb, diese Gnade wäre zu gut für ihn gewesen. Ich wollte dass er litt – für den Rest seines Lebens. Ich wollte …

Ein kräftiger Stoß in die Seite stieß mich von dem Kriegergeneral herunter. Überrascht rollte ich mich herum, gefasst auf jede Gefahr, die da kommen mochte, doch es war nur Acco.

„Es ist Zeit zu gehen“, sagte er nur.

Ich sah zu dem Kriegergeneral, der nichts weiter als ein wimmernder Haufen war, der in seinem eigenen Blut lag und mir wurde klar, dass er Recht hatte. Es war an der Zeit die Dinge wieder so hinzubiegen, wie sie hätten sein sollen.

Ich sprang auf die Beine, stockte jedoch noch einmal, als ich sah, wie Noah zu Jacqueline kroch und sie in seine Arme zog. Dieses Bild, es tat so weh, weil ich zu genau wusste, wie sich dieser Moment anfühlte. „Du bekommst sie wieder zurück“, versprach ich ihm. „Zeit ist ohne Bedeutung.“ Zumindest hoffte ich, dass es auch für diese Welt galt.

Mit einem letzten Blick auf die Beiden stellte ich mich vor das Portal und öffnete es. Es ging so leicht, als hätte ich es schon tausende von Malen getan. In dem einen Moment war es noch ein leerer, steinerner Rahmen und im nächsten war er erfüllt von einem sanften Licht.

Bastet, bitte gib das es funktioniert.

Ich griff nach Acco, atmete noch einmal tief ein, und schloss dann die Augen. Jetzt war der entscheidende Moment gekommen. Wenn ich nur einen Fehler in meinen Überlegungen hatte, konnte alles scheitern. Doch daran wollte ich nicht glauben.

Eine Hand fest in Accos Nacken, die Andere krampfhaft um den Stein geschlungen, trat ins Licht, hinein in mein Schicksal. Nur der Wunsch um die Zukunft meines Volkes beseelte mich, oder besser um die Vergangenheit, um das Leben einer ganzen Rasse. Oh Göttin, hilf mir auf meinem Weg, halte deine Schützende Hand über mich.

Das Licht nahm mich auf, drang in mich hinein, machte mich zu einem Teil von sich. Langsam begann ich mich darin aufzulösen. „Bring mich in die Zeit, an jenen Ort, an dem ich alles Abwenden kann, bring mich zum Schöpfungstag in Bastets Tempel.“ Ich spürte meinen Körper nicht mehr, spürte Acco nicht mehr, und auch nicht das Tigerauge. Ich war nur noch Licht.

Und dann war ich nicht mehr.

 

°°°°°

Kapitel Zwanzig

 

Anima nahm mit ihren gebogenen Essstäbchen ein Lachsstück mit Kräutern vom Teller und fütterte damit Gillette, als gäbe es außer den beiden niemanden anderen auf der Welt.

Ich sah es. Und zwar nicht zum ersten Mal. Langsam senkte ich den Blick auf meine Hand, in der sich ein gefüllter Pilz befand. Daran erinnerte ich mich auch. Ich befand mich im Theatrum, auf einer der untersten Ebenen. Es war laut und voll. Um mich herum wurde unbeschwert gegessen, und geredet. Alle waren guter Dinge. Die Wände waren mit Wandgemälden der Krieger vergangenen Zeiten kunstvoll bemalt. Von der Decke bewachte uns ein Abbild unserer Göttin Bastet.

Jeder Tisch und jedes Kissen war besetzt. Auf sechzehn Ebenen die kreisförmig und stufig zur Bühne ausgerichtet waren, tummelten sich die Anwohner des Tempels. Lehrlinge, Angestellten, Krieger, Magister, und die Priester der Bastet. Priesterin Tia saß hoch oben. Ich sah sie ganz deutlich, und konnte nichts dagegen tun, dass sich vor Glück ein Kloß in meinem Hals bildete. Und überall zwischen ihnen bewegten sich die Sermos. So viel von ihnen.

Wir hatten den Tag der Schöpfung, das Bühnenspiel war gerade zu Ende gegangen und nun wurde bei den feinsten Köstlichkeiten die die Küche zu bieten hatte gefeiert.

„Das ist ja abscheulich. Du siehst aus, als hättest du in deinem Essen gebadet“, ließ Eno angewidert verlauten, als sie beobachtete wie Mochica in ihrem Fressen badete.

„Ach, zur Sachmet!“ Eilig ließ Jaron seine Stäbchen auf den Tisch fallen und hob die Kleine aus ihrer Schüssel. Ein paar Fleischbrocken fielen ihm auf die Beine, aber da er beide Hände voll hatte, konnte er sie nicht wegwischen.

Sian gluckste leise, verstummte aber sofort, als er sich ertappt fühlte, und wandte sich wieder schweigend seinen Napf. Dabei wich er jedem Blick aus.

„Sei nicht so unverschämt“, tadelte Anima ihre Sermo.

„Ja genau“, fügte Kaio ihr Brestern spöttisch hinzu, „du isst heute noch so.“ Zwischen seinen Zähnen hingen Reste seiner Mahlzeit.

Das kannte ich, das war mir vertraut. „Ich bin zurück“, hauchte ich ehrfürchtig. Mochica war noch klein und niedlich und Jaron so Frech wie früher. Diese Kälte aus seinem Blick war verschwunden, das Leben hatte ihn noch nicht gezeichnet. Eno lebte noch, und … Sian.

„Kannst du mir vielleicht mal helfen?“, fragte Jaron mich etwas genervt, aber ich hatte nur Augen für meinen Sian, der mich fragend ansah.

Mein kleiner, hübscher Sermo, er lebte. Tränen stiegen mir in die Augen und ich konnte ein Schluchzen nicht verhindern. Hastig packte ich ihn und drückte ihn an mich, vergrub das Gesicht in seinem weichen Fell und ließ meinen Tränen freien Lauf. Dass dabei seine Schüssel umkippte, beachtete ich gar nicht. Er lebte. Mein Sian lebte und das war das einzige was zählte. Er war kein Biest, er war mein kleiner, hübscher Junge, mein Sermo, mein Sian.

Anima sah mich über den Tisch hinweg erschrocken an. „Oh Göttin, Lilith, was hast du denn?“

Sian lebte. Heute war der Schöpfungstag, ich hatte es geschafft. Sachmets Volk war noch nicht hier, und … oh Göttin! Die Magier und Hexen, sie würden bald kommen!

„Lilith?“, fragte Sian vorsichtig.

Ich blickte auf, sah durch das Theatrum. Alle feierten unbekümmert, alle freuten sich. „Sie kommen“, flüsterte ich. Das konnte ich nicht zulassen, diese Tragödie durfte sich nicht wiederholen und ich war die einzige die sie verhindern konnte.

Jaron beugte sich ein Stück vor, um mir in die Augen sehen zu können. „Lilith?“

„Wir müssen sie aufhalten.“ Mit der freien Hand wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht. „Die Magier und Hexen, sie sind auf dem Weg hier her. Sie nutzen es aus, das heute so viel Krieger zu ihren Familien Heim gegangen sind. Sie wollen das Tigerauge.“

„Was?“ Anima war nicht die einzige, die mich verwirrt ansah.

„Na der Angriff auf den Tempel, in dem du …“ Ich stockte, versuchte ihren Blick zu deuten. „Erinnerst du dich denn nicht? Die Magier? Der Angriff? Die Reise auf die Erde und General Silvano Winston?“

Sehr langsam schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß nicht wovon du sprichst.“

„Aber du musst dich doch erinnern.“ Ich sah zu Gillette und Kaio, zu Jaron und Mochica, auf Sian. „Ihr müsst doch … ihr wisst es nicht mehr.“ Es war keine Frage, es war eine Feststellung. Sie wussten nicht mehr, was geschehen war, sie waren alle ahnungslos, wie an dem Tag, an dem diese Geschichte den Anfang genommen hatte. Ich sah es in ihren Gesichtern, sah es in Sians Augen. Er wusste nicht was die Zukunft für ihn bereit hielt, wenn ich es nicht verhindern konnte. „Ihr wisst nicht mehr, was geschehen wird“, wiederholte ich. Aber ich, ich wusste noch was geschehen würde. Nur warum? Weil ich von unserer Göttin auserwählt war?

Diese Frage war jetzt nicht wichtig, das konnte warten, jetzt zählten andere Dinge und wenn meine Amicus mir nicht helfen konnten, dann musste ich es eben alleine erledigen.

Sian fest an meine Brust gedrückt, erhob ich mich von meinem Platz und blickte hinauf zu Priesterin Tia. „Sachmets Volk kommt und sie wollen das Tigerauge unserer Göttin, sie sind schon auf dem Weg hier her!“, rief ich so laut, dass mein Worte auch in den hintersten Winkel des Theatrums getragen wurden.

Die Gespräche um mich herum verstummten. Ich bekam verwirrte und neugierige Blicke, ein paar tuschelten miteinander, doch meine Aufmerksamkeit galt allein unseren Priestern.

Magister Damonda erhob sich von ihrem Platz. „Was behauptest du?“

„Sachmets Kinder, sie sind auf dem Weg hier her, um das Tigerauge zu stehlen und wenn wir nicht sofort etwas unternehmen, dann wird etwas schreckliches passieren.“

Schweigend wurde ich aus der obersten Reihe beobachtet.

Es war Pristerin Tia, die ihren Kopf neigte und sich an mich wandte. „Woher hast du dieses Wissen?“

„Das zu erklären würde zu lange dauern, so viel Zeit haben wir nicht mehr. Wenn wir nichts unternehmen, werden sie angreifen, wenn der Lauf beginnt. Sie werden ein Portal zu fremden Ufern öffnen und das Tigerauge wird für immer verloren sein. Wir müssen etwas tun!“ Denn die Geschichte durfte sich einfach nicht wiederholen, das konnte ich nicht zulassen.

Nun war Magister Damonda nicht mehr die einzige die Stand. Auch ein paar Priester hatten sich erhoben und die Lehrlinge regten neugierig die Hälse, um mich besser sehen zu können.

In den Gesichtern der Anwesenden spielten sich Verwirrung, Entsetzen, und Neugierde ab und alle wurden nun von einer leichten Nervosität begleitet.

„Lilith“, sagte Jaron. „Wie kannst du wissen, was geschehen wird?“

„Weil ich es bereits durchlebt habe. Die Magier öffnen ein Tor in eine andere Welt und wir werden von ihm eingesogen. Nim, du landest in dieser anderen Welt. Naaru“, ich ließ meinen Blick streifen, bis ich den Schreiberlehrling im Auge hatte, „du wirst sterben durch die gläsernen Pfeile der grünen Krieger, Gillette und Kaio geraten in Gefangenschaft und das Tigerauge wird verloren gehen. Acht Jahre werden wir alle fort sein, bevor wir einen Weg nach Hause finden und bei unserer Rückkehr wird Bastets Volk so gut wie vergangen sein. Wir werden krank, wir können keine Kinder mehr bekommen, wir müssen uns verstecken.“

Die Blicke die auf mir lagen, waren nicht nur skeptisch, sondern ungläubig.

„So glaubt mir doch“, versuchte ich es weiter, doch alle schienen der Meinung, dass mein Geist verwirrt war. Warum nur starrten sie mich an als wäre ich ein zweiköpfiger Zentaur mit Hörnern, anstatt endlich etwas zu unternehmen? „Wir müssen den Stein in Sicherheit bringen und uns vorbereiten, bevor es zu spät ist!“

„Lilith“, begann Priesterin Tia. „Deine Worte sind …“

„Bastet hat mich hier her zurückgeschickt, um es zu verhindern!“, unterbrach ich sie, bevor sie mich für unzurechnungsfähig erklären konnte. „Ihr müsst mir glauben, sonst sind wir verloren.“

„Unsere Göttin?“, fragte Magister Damonda ungläubig. „Sie hat zu dir gesprochen?“

„Ja, und sie hat …“

„Warum zu dir? Du bist nur Lilith. Unsere Göttin spricht durch Occino.“

Diese Worte taten weh. Du bist nur Lilith. Ich kniff die Lippen zusammen. Ihre Worte durfte ich nicht an mich heran lassen, nicht jetzt. „Anima war nicht da, Anima war … wird nicht mehr die sein, die sie heute ist.“

Bei diesen Worten schnappte Anima hörbar nach Luft.

„Keine von euch wird dann noch Leben, ich bin die letzte. Deswegen hat Bastet zu mir gesprochen.“

Das sorgte für einiges Raunen im Saal.

„Sprichst du wahr?“, fragte Anima beinahe flüsternd. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet.

„Warum sollte ich lügen?“, stellte ich die Gegenfrage. „Was würde es mir bringen eine solche Geschichte zu erfinden?“

Sie wussten es nicht, aber sie konnten meinen Worten auch keinen Glauben schenken. Schließlich war ich nur Lilith. Meine Augen flogen wild umher. In den Gesichtern stand der Unglaube. Einigen Sermos hatte sich das Fell gesträubt. Ein junger Lehrling hatte sich halb verwandelt, doch sie alle konnten nicht verstehen woher ich dieses Wissen erlangt haben könnte. Ihre Geistreden sagten ihnen, dass es unmöglich war. Ich brauchte einen Beweis, sonst würde ich zu lange brauchen um sie von der Wahrheit in meinen Worten zu überzeigen. Aber was für ein Beweis? Wie sollte ich etwas aufzeigen, das erst noch geschehen würde?

Meine Augen fanden die von Anima und vertraute Worte der Vergangenheit schwebten durch meinen Geist.

Das Mal, das Mal der Göttin! Du wurdest berührt!

Das war es, das Zeichen der Auserwählten. „Hier, ich kann es beweisen.“ Ohne Sian loszulassen stand ich auch und raffte eilige die Voile die mein Bein verhüllte zusammen und zeigte ihnen allen das verschlingende Zeichen, das Abbild unserer Göttin, der Beweis dass ich nicht einfach nur Lilith war. „Ich wurde berührt“, rief ich.

Im Saal wurde es sehr ruhig. Alle Blicke waren gebannt auf mein Bein gerichtet.

„Oh Göttin.“ Anima schlug die Hände vor den Mund.

„Ich bin eine Auserwählte. Bastet hat mich berührt und auf die Reise geschickt, um diese Tragödie zu verhindern. Wir müssen etwas tun!“

In diesem Moment schlug die Tür zum Theatrum auf und einer der niederen Priester kam in den Saal gehuscht. Als er sich bewusst wurde, dass die gesamte Aufmerksamkeit des Saals auf ihn gerichtet war, blieb einen Moment verwundert stehen, huschte dann aber unter den Blicken aller eilig zu Priesterin Tia hinauf. Etwas war geschehen. Er flüsterte hektisch auf die oberste Priesterin ein, gestikulierte dabei wild mit den Händen und deutete immer wieder zum Ausgang.

Priesterin Tia riss überrascht die Augen auf, richtete ihren Blick dann kurz auf mich und erhob sich entschlossen. „Lilith und Anima, ihr begleitet mich. Damonda, ruf alle verfügbaren Krieger zusammen und wartet vor dem Tempel.“

Ich sollte sie begleiten? Was hatte da nun wieder zu bedeuten? „Aber, Sachmets …“

„Schweig und folge mir“, ordnete sie an.

Anima erhob sich still, warf mir einen seltsamen Blick zu und machte sich auf dem Weg zum Eingang – Gillette, ihr ewiger Begleiter direkt hinter ihr. Er wurde nicht extra aufgefordert mitzukommen, es wurde von ihm erwartet, dass er Anima wie ein Schatten folgte. Ich drückte Sian an meine Brust und erreichte Zeitgleich mit Priesterin Tia und noch ein paar Oberen die Tür. „Priesterin Tia, ich …“

„Anima“, unterbrach sie mich, ohne auf mich zu achten und eilte mit uns aus dem Theatrum hinaus aufs Gelände, in Richtung Tempel. „Hat die Göttin zu dir gesprochen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ihre Stimme ist stumm.“ Sie warf mir einen undefinierbaren Blick zu. „Ich weiß nichts von dem was Lilith gesagt hat.“

„Aber es ist wahr, ihr müsst mir glauben!“

Priesterin Tia drückte kurz die Lippen aufeinander. „Ich weiß nicht was ich glauben soll, doch soeben sind einige Krieger der Lykanthropen durch das Portal gekommen. Sie behaupten, dass sie Informationen bezüglich eines Angriffs von Sachmets Kindern auf uns hätten und gekommen seien, um uns gegen ihnen zu helfen.“

Meine Füße stockten mitten im Schritt. „Lykanthropen?“

„Ja, einer von ihnen hat eine ähnliche Geschichte wie du erzählt und deswegen sind die Krieger ihres Volkes hergekommen, um uns beizustehen.“

Die Lykanthropen waren gekommen um zu helfen. Weil sie wussten was geschehen würde. Weil sie helfen wollten. Einer von ihnen hatte es gesagt. Die Zeit war wieder auf Anfang, was hieß, dass all der Schrecken noch nicht geschehen war. Naaru lebte noch, Gillette lebte und auch Eno und Sian. Oh Göttin.

„Aman“, hauchte ich.

 

°°°°°

Epilog

 

Der Tigersaal war wieder genauso prächtig wie in meiner Erinnerung. Böden und Wände waren aus feinstem, weißem Marmor und auf einem Sockel in der Mitte thronte der wertvollste Schatz unseres Volkes, das Tigerauge unserer Göttin Bastet.

Dahinter stand eine freistehende Wand mit einer kreisrunden Öffnung. Die Leere des Lochs schimmerte bläulich, war luftig, durchlässig wie ein Schleier. Unscheinbar, aber unter den Kenntnissen der Priester Machtvoll. Das Portal meines Volkes.

Doch für all das hatte ich keinen Blick, meine alleinige Aufmerksamkeit galt den Kriegern der Lykanthropen, galt einem einzigen Individuum, das sich in vorderste Reihe von ihnen aufhielt.

Auf dem Rücken ein Bogen, ein spitzes Kinn, und eine leicht krumme Nase, als sei sie einmal gebrochen gewesen. Ein leichter Bartschatten lag auf seinen Wangen und die dunklen, fast schwarzen Augen wurden von dem etwas längeren, bunten Haar eingerahmt. Er hatte einen schlanken, sehnigen Körper, mit dem er mich um eine Handbreit überragte.

Aman …

Bei seinem Anblick hielt mich nichts mehr bei meiner Priesterin, mit der ich neben meinen Amicus den Tigersaal betreten hatte. Ich ließ meinen Sermo Sian einfach auf den Boden gleiten und rannte los.

Er war tot gewesen.

Er war in meinen Armen gestorben.

Kleine Kriegerin.

Und jetzt stand er hier, lebendig vor mir. Und ich würde nicht mehr vor ihm weglaufen. Ganz im Gegenteil, ich lief auf ihn zu, so schnell meine Beine mich trugen. „Aman!“, rief ich, und in dem Moment, als er aufblickte, fiel ich ihm um den Hals. „Aman, ich … es tut mir so leid, und … oh Göttin, du lebst, du lebst, du lebst …“ Immer wieder sagte ich das, immer wieder, nur um mir selber zu versichern, dass es stimmte. Er lebte, ich hielt ihn in meinen Armen, seinen warmen Körper, und merkte in meiner Aufregung gar nicht, wie steif er sich bei meiner Berührung machte. „… du lebst.“

„Wer ist das, Aman?“, fragte eine weitere, vertraute Stimme. Vinea.

„Ich weiß es nicht.“ So abweisend.

Was? Er … wusste es nicht? Nun war ich es, die sich anspannte.

„Sieht aber so aus, als würde sie dich kennen. Und sie weiß deinen Namen.“ In ihrer Stimme schwang ein kleiner Vorwurf mit.

„Aber ich kenne sie nicht. Ich habe sie noch nie in meinem Leben gesehen.“

 

°°°°°

 

Ende Buch Zwei

Imprint

Publication Date: 07-31-2014

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