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Jenseits der Magie

Buch Zwei

Tag 447

„Ganz ruhig, entspann dich. Wenn du versuchst, es zu erzwingen, dann wird das nichts.“

Zur Antwort bekam ich von der blaugrauen Wölfin ein unwilliges Knurren, ganz nach dem Motto: Steck dir deine blöden Ratschläge sonst wo hin!

Seufz. „Das kannst du dir sparen, du weißt, dass ich Recht habe.“

Noch ein Knurren, dieses Mal nur nicht ganz so nachdrücklich. Eher so: Ja ja, ich weiß – aber ich will es trotzdem nicht hören.

Das war nicht das erste Mal diese Woche, dass Kanin und ich diese doch eher einseitige Konversation führten. Sie war eine von den gestohlenen Lykanern aus dem Rudel der Höhlenwölfe, die der nun tote Magier Erion vor über einem Jahr entführt und versklavt hatte. Mit Hilfe von Magie hatte er nicht nur Kanin, sondern auch fast sechzig andere Werwölfe zu willenlosen Knechten gemacht, die nur noch seinen Befehlen folgten und dabei ihre menschliche Seite völlig verloren hatten.

Den Kampf bei den Drachenfelsen hatten nur knapp dreißig Lykaner überlebt – ganz genau siebenunddreißig – und vierundzwanzig davon hatten sowohl ihre Menschlichkeit, als auch ihre Intelligenz eingebüßt. Sie waren nun nichts weiter als einfache Wölfe – zwar sehr große Wölfe, aber eben nicht außergewöhnlich. Außerdem war ein Teil von ihnen nach Erions Tod ziemlich aggressiv geworden und konnte nicht in die Rudel zurück, da sie in diesem Zustand eine Gefahr für sich und andere darstellten.

Direkt nach dem Kampf war es kurz im Gespräch gewesen, die Verlorenen Wölfe – wie ich sie nannte – einfach zu töten, um sie von ihrem Elend zu erlösen. Und bei den Einzelläufern, die den größten Teil von Erions Wölfen ausgemacht hatten, hätte wohl auch niemand Einspruch erhoben – keiner außer mir. Zum Glück war ein kleiner Teil dieser Lykaner Rudelwölfe und deren Angehörigen waren von der Idee, ihre Kinder, Gefährten und Geschwister einfach abzumurksen, verständlicherweise nicht sonderlich angetan gewesen.

Die Lösung für das Problem hatte ich geliefert und deswegen – und, weil ich mich nicht hatte beherrschen können – trug ich nun auch die Konsequenzen. Die Verlorenen Wölfe waren in ein abgeriegeltes Gebiet gebracht worden, in der Hoffnung, dass die Zeit dort sie genesen lassen würde und sie wieder zu sich selber fanden. Ich hatte mich zu einer Trotzreaktion hinreißen lassen und war deswegen jetzt sozusagen die Hüterin der Verlorenen Wölfe. Ein echter Fulltimejob.

Das war der Grund, warum ich nun hier mitten im Dschungel saß – nun ja, eigentlich war es ja ein sehr eigentümlicher Park mitten in Sternheim, der durch eine magische Barriere vom Rest der Stadt abgeschnitten war, damit kein Unbefugter das Gebiet von ein paar revierfixierten, ziemlich großen und durchaus aggressiven Wölfen betreten konnte – und versuchte Kanin durch ihre erste Wandlung zu helfen, seit Erion ihre naturgegebene Magie durcheinandergebracht hatte.

In den vergangenen Monaten hatten sechs Lykaner zu sich selber zurückgefunden und konnten wieder dorthin zurückkehren, woher sie gekommen waren – damit waren wir nur noch achtzehn. Das war doch gar kein schlechter Schnitt, oder?

Neben mir stöhnte Kanin in den Qualen ihrer Verwandlung.

Seit nun schon fast zwei Wochen versuchte sie immer und immer wieder in ihre menschliche Gestalt zurück zu finden. Ihr Zustand hatte sich schon einige Zeit vorher gebessert. Sie konnte wieder denken und begann, sich normal zu verhalten. Nur sprechen war ihr weiterhin verwehrt – ja, Lykaner konnten sich in ihrer Wolfsgestalt ganz normal mit mir unterhalten – und auch die Verwandlung wollte ihr noch nicht so recht gelingen. Aber das würde schon noch funktionieren, da war ich ganz zuversichtlich.

Es war nicht das erste Mal, dass ich dieses Spielchen mitmachte. Sechs Mal hatte ich bereits diese Erfahrung sammeln können und auch hier würde es mit ein bisschen Geduld gelingen. Nur leider hatte Kanin nicht viel Ausdauer. Sie wollte, dass es auf der Stelle funktionierte, wollte zurück in ihr Rudel und das nach Möglichkeit schon gestern. Deswegen war sie auch jetzt wieder mit ihren Kräften am Ende. Sie hechelte wild und krampfte sich unter ihren Anstrengungen zusammen, weil sie die Metamorphose erzwingen wollte – nur leider funktionierte das so nicht.

„Kanin, hör auf damit. Lass dir Zeit.“

Wieder knurrte sie mich an.

Oh Mann. „Saphir, willst du nicht auch mal etwas sagen?“

Ein Stück weiter, im Schatten der Farne, hob eine weiße Wölfin ihren wunderschönen Kopf. Sie war einer der Einzelläufer gewesen, die Erion unter seiner Fuchtel gehabt hatte, aber im Gegensatz zu den Verlorenen Wölfen, hatte die Magie sie mit Erions Tod freigegeben und sie war wieder sie selber geworden. Nicht so ihre Tochter Junina – eines meiner zwei größten Problemkinder.

„Was soll ich denn tun?“, wollte sie wissen.

„Ich weiß nicht, ihr vielleicht etwas über den Schädel ziehen, damit sie mit diesem Blödsinn aufhört.“

Mit dem folgenden Knurren von Kanin hatte ich gerechnet.

Saphir lachte leise. Sie hatte nicht nur strahlend weißes Fell, sondern auch blaue Augen, von der Farbe des Ozeans, was für Lykaner außergewöhnlich war. Normalerweise hatten sie alle gelbe Wolfsaugen. „Das würde ihr sicher nicht helfen, Talita. Wir können nur abwarten. Die Zeit ist die einzige Macht, die ihr und auch den anderen, helfen kann.“

Das hatte ich nicht hören wollen. „Das heißt, ich soll sie einfach sich selbst überlassen?“

„Was willst du sonst tun?“ Saphir neigte ihren schmalen Kopf auf eine sehr hündische Art zur Seite. „Ihre Magie muss sich von allein regenerieren. Weder wir, noch sie, können da irgendetwas beschleunigen.“

„Hmpf“, machte ich und ließ mich auf meinen Hintern plumpsen. Natürlich wusste ich all das bereits selber, aber es war für mich halt genauso eine Qual bei ihrem Leid zuzusehen, ohne etwas machen zu können, wie für Kanin, es zu durchleben.

Um mich ein wenig abzulenken, ließ ich meinen Blick über die kleine, moosbedeckte Lichtung mit der tiefen Steinhöhle der Wölfe schweifen. Eine Würgefeige erstreckte ihr Haupt darüber und krallte ihr wirres Wurzelwerk in den Fels. Epiphyten überwucherten sie und auch jeden anderen Baum in diesem Park. Mangroven, Zypressen, Scheinbuchen und riesige Lebensbäume besetzten jeden Fleck um die kleine Lichtung, wo keine Monstera, Orchideen, Hibiskus, Kannenpflanzen, Hanf, Farne, Bromeliengewächse, Alocasia oder Elfenblumen wuchsen. Trichterwinden, Lianen, Efeu und Peilwinden hingen von jedem Ast, den sie erreichen konnten.

Dieser Ort war ein Dschungel. Pflanzenbärte, die von den Ästen hingen, Farne und kleine Pflanzen, die aus jeder Ritze sprossen und überall dazwischen Brettwurzeln und moosbewachsene Steine. Ich hatte hier sogar schon Venusfliegenfallen entdeckt und am Teich hinter den Höhlen wucherte Zuckerrohr wie Unkraut. Der Boden dieses Urwalds war mit Wurzeln, Laub, Ästen und Zweigen übersät, zwischen denen es immer wieder einen bunten Farbtupfer zu entdecken gab. Wie das hier allerdings alles so gut gedeihen konnte, obwohl der strahlende Sonnenschein und der wolkenlose Himmel seit Wochen für Temperaturen um die dreißig Grad sorgten, war mir schleierhaft.

Dieser Ort war ein Platz voller Leben, der nicht nur von den Verlorenen Wölfen als Zuhause bezeichnet wurde. In dem Unterholz und den Bäumen lebte allerlei Getier. Von kleinen Nagern, über exotische Vögel und Echsen, bis hin zu seltsamen Affen, war hier eine große Brandbreite dieser Lebewesen zu finden.

Kanin keuchte vor mir, aber ich zwang mich, sie zu ignorieren. Wenn sie nicht hören wollte, konnte ich doch auch nichts tun, das hatte Saphir gesagt. Trotzdem fiel es mir schwer.

Ich versuchte, meine Aufmerksamkeit auf den nackten Mann neben der großen Monstera zu richten – ja, nackt. Für mich kein ungewohnter Anblick mehr. Lykaner hatten einen sehr bescheidenen Kleidungsstil. Er lag im Schatten und kuschelte sich an einen grauen Wolf. Bei unserem ersten Aufeinandertreffen hatte ich ihn auf den Namen Simyo getauft, weil niemand wusste, wer dieser Einzelgänger war. Bereits kurz nach seiner Ankunft hier, hatte er sich zurück in einen Menschen verwandelt – oder wie man hierzulande sagte, Mortatia –, war aber ansonsten ein Wolf geblieben. Er sprach nicht und verhielt sich genau wie seine pelzigen Kollegen – und ja, er biss auch um sich, wenn er es für nötig hielt. Das hatte am Anfang zu reichlichen Problemen geführt. Er war der einzige Wolf, den ich keinen Maulkorb hatte anlegen können und ihn zu knebeln, erschien mir dann doch ein wenig zu hart.

Zum Glück war er einer der ruhigeren Wölfe. Im Gegensatz zu meinem Sorgenkind Nummer eins – Grey –, gab es mit Simyo nie Probleme.

Ein Stück weiter, neben der Höhle, lag eine weiße Wölfin – Junina, Sorgenkind Nummer zwei –, die sich gerade von einem braunen Rüden eine Katzenwäsche verpassen ließ. Die beiden bereiteten mir zurzeit am meisten Kopfzerbrechen. Das zwischen Junina und Lokos war Liebe auf dem ersten Blick gewesen und leider hatten sie auch das getan, was Liebende halt so taten, wenn sie sich ungestört fühlten: sie hatten sich geliebt. Das war nicht weiter verwerflich, nur leider hatte ich den beiden nicht erklären können, wie das mit der Verhütung funktionierte und nun war Nachwuchs unterwegs. Das Problem dabei war, dass niemand wusste, was dabei herauskam. Lykaner brachten ihre Welpen in einer menschlichen Gestalt zur Welt. Würde das hier auch so sein, oder würde es ein Wolfswelpe werden? Würde das Kleine zu einem normaler Lykaner heranwachsen, oder wie seine Eltern zurzeit ein einfacher Wolf werden? Aber andererseits gab es in dieser Welt keine richtigen Wölfe, die Verlorenen waren im Moment das, was diesem Wort am nächsten kam, alle anderen konnten sich in Menschen … äh, ich meinte natürlich Mortatia, verwandeln. Nur die Zeit würde diese Fragen beantworten können.

Junina war auch der Grund dafür, warum Saphir hier sowas wie meine Helferin spielte, obwohl sie völlig gesund war und als Einzelgänger die Gesellschaft anderer nicht sonderlich schätzte. Junina war ihre Tochter und Saphir würde nicht gehen, ehe sie wieder genesen war. Auch wenn es verwerflich erscheinen mochte, war ich über diesen Zustand ganz glücklich, weil ich so nicht auf mich allein gestellt war. Die Rudel nämlich … wie sollte ich das jetzt ausdrücken, ohne das es beleidigend klang? Hm … oh, ganz einfach: Die Rudel waren selbstsüchtige Kleinhirne! Okay, das hatte sich jetzt wohl doch nicht so nett angehört.

Was ich damit meinte, sie halfen nur ihren eigenen Angehörigen. Einen Lykaner aus einem fremden Rudel würden sie höchstens den Kopf abreißen, aber da die Verlorenen Wölfe zum Teil aus verschiedenen Rudeln stammten und sie nicht nach Hause durften, ehe es ihnen wieder gut ging, musste jemand gefunden werden, der sich um sie alle kümmerte und das war die Stelle, an der ich ins Spiel kam. Ich konnte mir heute noch in den Hintern treten, wenn ich daran dachte, wie ich an diesen Job gekommen war.

„Hörst du das?“, fragte Saphir plötzlich und spitzte die Ohren. Ihr Blick ging in Richtung Norden

„Was?“

Ein lauter Schrei schallte durch den Dschungelpark und ließ die Natur und all seine Bewohner für einen kurzen Moment verstummen.

Okay, das hatte ich gehört. Auf meinen Armen stellten sich die einzelnen Härchen auf. „Bleib bei Kanin!“, wies ich Saphir an, während ich schon halb über die Lichtung schoss.

Die Wölfe erhoben sich unruhig und leises Knurren begleitete meinen Weg durch Farne, Bäume und Pflanzenbürsten, die von den Ästen hingen. Drei der Verlorenen Wölfe schlossen sich meinem Lauf an. Ich beachtete sie gar nicht.

Als ein weiterer, panischer Schrei durch den Dschungel schallte, gab ich noch mal alles. Verdammt, was war da los? Hier hatte noch nie jemand geschrien, das konnte nichts Gutes bedeuten.

Ein Monsterawedel peitschte mir ins Gesicht, als ich zwischen den Bäumen hervorschoss und raubte mir so einen Moment die Sicht, sodass ich abbremsen musste. Doch dieser Zustand hielt nicht an – leider. Das, was ich da sah, konnte nicht real sein. Meine Fantasie musste mir einen üblen Streich Richtung Ich-werde-verrückt, spielen. Wie sonst sollte ich mir erklären, dass da ein schreiender Mann auf dem Boden lag, der unter dem gefährlichsten meiner Wölfe begraben war. Ohne mich konnte niemand das Schutzschild, das den ganzen Park begrenzte, durchdringen. Das war einfach nicht möglich und bisher auch noch nie geschehen!

Mit Händen und Füßen versuchte der junge Mann, Grey von sich runter zu stoßen und gleichzeitig die scharfen Zähne von seinem Hals fernzuhalten. Dabei schrie er um sein Leben, aber er war nicht stark genug. Der rauchgraue Wolf schnappte nach der Kehle des Mannes, um den Eindringling in seinem Revier zu töten und nur der Stahlmaulkorb verhinderte das Schlimmste.

Dieser Anblick war so surreal, dass mir mein Hirn einen bitterbösen Streich spielen musste. Niemand – wirklich niemand – konnte ohne mich den Schild durchtreten. Gerade dafür war er ja da, um Unbefugte fernzuhalten.

Das alles nahm ich in Bruchteilen von Sekunden wahr und konnte mich trotzdem nicht bewegen, weil eine Erinnerung mit aller Kraft nach oben drängte. Ich sah mich selber dort auf dem Boden liegen, sah Wulf, den Vater von Isla, wie er versuchte, mir die Kehle rauszureißen, weil er glaubte, dass ich seine Tochter entführt hatte und durchlebte die Angst ein weiteres Mal.

Ein Rempler in die Beine ließ mich aus meiner Erstarrung erwachen. Saphir stürzte an mir vorbei, direkt auf den Rücken von Grey und riss ihn von dem jungen Mann herunter. Sie landeten in einem beißenden, knurrenden und geifernden Knäuel auf dem Boden, rammten das Schutzschild, das kurz aufflimmerte und prallten daran ab.

Der junge Mann kroch rückwärts wimmernd aus der Reichweite der Beiden, ließ sie aber nicht einen Moment aus dem Blick. Seine Augen waren in Panik geweitet, sein Brustkorb hob und senkte sich hektisch und seine Hautfarbe war ungewöhnlich käsig.

Grey war gut eine Handbreit größer als Saphir und doppelt so schwer – nicht dick, reine Muskelmasse – weswegen die Wölfin nicht versuchte, den Rüden zu unterwerfen, sondern nur aus seiner Reichweite zu kommen. Als das nicht gelang, tat sie das Einzige, was ein dominanteres Tier besänftigen konnte, sie unterwarf sich ihm und erkannte damit seiner Überlegenheit an. Grey versuchte nach Saphirs Kehle zu schnappen, um ihr seine Dominanz zu demonstrieren und knurrte verärgert durch den Maulkorb. Er mochte dieses Teil nicht sonderlich.

Saphir fiepte ergeben und dass riss mich endlich aus meiner Starre. „Grey!“, rief ich nach dem hitzigen Wolf und lief entschlossen auf ihn zu. Dabei war ich nicht so dumm, ihn in die Augen zu gucken. Er akzeptierte mich, aber nur, solange ich seine Vorherrschaft anerkannte. „Komm schon, Grey.“ Langsam streckte ich meine Pfote nach ihm aus und zuckte auch nicht zurück, als er mich warnend anknurrte, auch wenn ich am liebsten schreiend in die andere Richtung gelaufen wäre. Nur keine Angst zeigen. Ja, das war einfacher gesagt, als getan. „Ganz ruhig, Großer. Komm schon, geh von ihr runter.“ Vorsichtig übte ich Druck auf seine Schulter aus, um ihn dazu zu bewegen, sich einen anderen Zeitvertreib zu suchen und redete dabei ruhig und leise auf ihn ein.

Er war nicht sehr kooperativ und schnappte sogar einmal nach mir. Davon ließ ich mich nicht mehr beeindrucken, dafür hatte er es einfach schon zu oft getan und außerdem trug er ja immer noch den Maulkorb. Damit konnte er einen zwar rammen und ordentliche  Blutergüsse verursachen – wie ich bereits mehr als einmal am eigenen Leib erfahren hatte –, aber  ernsthafte Verletzungen blieben zum Glück aus.

Vom Rand der Bäume aus beobachteten uns die Verlorenen Wölfe. Ein paar von ihnen streiften unruhig hin und her und ließen den Eindringling nicht aus den Augen. Andere fiepten nervös, die neue Situation verunsicherte sie.

Ich beachtete keinen von ihnen, war nur darauf konzentriert, Grey von Saphir runter und in den Wald reinzubekommen, bevor ich mich dem eigentlichen Problem zuwenden konnte. Wie hatte der Kerl es nur in den Dschungel geschafft? Das wollte mir einfach nicht in den Kopf. Mal von der Frage abgesehen, was er hier überhaupt zu suchen hatte. Das hier war schließlich ein gesperrtes Gebiet und kein Freizeitpark, in dem man seine Zeit totschlagen konnte.

Es bedurfte einer Menge Geduld und noch mehr Überredungskunst, um Grey davon zu überzeugen, sich zu verziehen. Leider nur bis zum Waldrand, wo er sich neben einem Strauch Alocasia niederlegte, um die ganze Situation mit Argusaugen weiter zu verfolgen. Dabei hielt er sich von den anderen Wölfen fern. Grey war Einzelgänger aus Überzeugung und auch, wenn er mittlerweile mehr oder weniger akzeptierte, dass da noch andere Wölfe in seinem Territorium hausten, so musste er sich noch lange nicht mit ihnen abgeben.

„Alles okay?“, fragte ich Saphir, die sich auf die Beine rappelte und das tote Laub aus dem weißen Fell schüttelte.

„Mir geht es gut.“ Sie fixierte einen Punkt hinter mir und das war mein Stichwort, dem Eindringling einmal die Leviten zu lesen.

„Bist du total bescheuert?!“, brauste ich auf und ging wütend auf den Kerl zu. Meine Wölfe brauchten Ruhe, um sich zu erholen und so eine Störung, die sie in Verwirrung versetzte, konnte ich gar nicht leiden. Davon mal abgesehen, dass mir der Schrecken noch immer in den Gliedern saß. Wäre der Maulkorb nicht dazwischen gewesen, hätte ich hier jetzt eine Leiche! „Was hast du hier zu suchen? Wie bist du durch den Schild gekommen?!“

„Ich …“ Er schluckte. Sein Blick ging hektisch zwischen mir, Grey und den Verlorenen Wölfen hin und her. Er war jünger, als ich vermutet hatte, ein elfischer Teenager. Schmal gebaut, spitze Ohren, scharfes Kinn, blonde Haare und immer noch vor Angst geweitete Augen.

„Was ich?“ Ich baute mich vor ihm auf und schaute drohend auf ihn herunter. „Das hier ist doch kein Streichelzoo!“, donnerte ich. „Wie bist du hier reingekommen?“

„Der Schild … ich … meine Freunde … er hat einfach nachgegeben.“

Freunde? Waren hier etwa noch mehr von diesen Idioten? Fix ließ ich meinen Blick über das kleine Areal gleiten, das ich von hier aus überschauen konnte, aber da war alles wie es sein sollte, oder?

„Vor dem Schild“, sagte Saphir und trat an meine Seite.

Tatsächlich. Da draußen standen zwei weitere Elfenjünglinge und drückten sich an dem durchsichtigen Schild was die Nasen platt. Ich fauchte die beiden an, die sofort einen erschrockenen Satz zurück machten. Wir waren hier doch nicht bei Big Brother, wo jeder mal einen Blick riskieren durfte.

„Was meinst du mit einfach nachgegeben?“, fragte Saphir in meine Gedanken hinein.

Ja, das würde mich aber auch mal ganz stark interessieren. Klar gab es immer mal wieder Schaulustige, die es witzig fanden, die Verlorenen Wölfe, denen so viel Leid angetan worden war, zu beobachten, besonders in den ersten Wochen hatte ich diese Leute regelmäßig vom Schild verscheuchen müssen – teilweise unter Androhung die Wächter zu rufen, wenn ich sie hier noch einmal antreffen würde –, aber das war schon Monate her und nie hatte es einer geschafft durch den Schutzschild zu kommen, nicht ohne mich.

Der Elf zuckte zusammen, als vom Waldrand ein leises Knurren zu uns rüber drang. Nervös leckte er sich über die Lippen und rutschte weiter Richtung Schild.

„Also?“ Langsam wurde ich ungeduldig und wenn er nicht endlich den Mund aufmachte, müsste ich handgreiflich werden.

„Wir sind … es … also bei … ich …“ Sein Gesicht wurde flammenrot und er drückte die Lippen aufeinander.

„Okay“, sagte ich und hockte mich vor ihn. Auf dieses Gezaudere hatte ich gerade mal gar keinen Bock und das würde ich ihm jetzt klar machen. „Du hast jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder, du erzählst mir, was ich wissen will, holst dir eine Standpauke ab und kannst dich mit deinen Freunden verziehen, oder ich werde die Wächter rufen. Dann werden sie dich vor deinen Freunden wegen Hausfriedensbruch und Grenzüberschreitung abführen und mit aufs Revier nehmen, wo sie dich befragen und deine Eltern über deine Freizeitaktivitäten informieren werden, damit du doch noch zu einem anständigen Bürger heranwachsen kannst. So oder so, ich werde erfahren, was hier los ist, es ist nun deine Entscheidung, wie wir die Sache handhaben. Also?“

Aus dem Hintergrund hörte ich Grey knurren, als wollte er mir zustimmen, aber ich glaube eher, dass er auf meinen aggressiven Ton reagierte.

Bei der Erwähnung seiner Eltern, war der Junge noch eine Spur bleicher geworden, soweit das überhaupt möglich war. Tja, Elfeneltern waren sehr streng und mochten es überhaupt nicht, wenn der Nachwuchs aus der Reihe tanzte und sie vor anderen blamierte – jup, ich hatte im letzten Jahr seit meiner unfreiwilligen Ankunft hier so einiges über diese magische Welt, jenseits meiner Heimat, gelernt.

Auf die Stirn des Kleinen trat ein feiner Schweißfilm. Sein Blick huschte kurz zu seinen Freunden, bevor er ergeben seufzte. „Es ist ein Spiel“, sagte er leise.

„Ein Spiel?“ Ich runzelte die Stirn. „Was für ein Spiel?“

Wieder ein Zungenschlag über die trocknenden Lippen, aber dann sah er wohl ein, dass weiteres Rumdrucksen nichts brachte. „Bei uns in der Schule haben wir dieses Spiel, wer die … wer …“

So viel zum Thema Rumdrucksen. Langsam wurde ich echt ungeduldig. „Wer was?“

„Wer trifft die meisten Wölfe.“

Das verstand ich nicht, aber es gefiel mir nicht, in welche Richtung sich das Gespräch entwickelte. „Treffen? Womit?“

„Steinen“, gab er kleinlaut von sich. „Wir kommen nicht durch den Schild, aber … Steine schon.“

„Bitte was?!“ Das war doch wohl nicht sein ernst. „Ihr kommt hier her und werft Steine nach meinen Wölfen? Seit ihr völlig bescheuert?!“

Unter meinen Ton schrumpfte der Elf merklich zusammen. „Es ist nur … ein Spiel.“

„Das ist Tierquälerei!“ Er gab ein überraschtes Quieken von sich, als ich ihn am Kragen packte und ganz nahe vor mein Gesicht zog. Meine Krallen waren von allein ausgefahren, so wütend war ich und bohrten sich in sein Hemd. Ich konnte einfach nicht glauben, was ich hier hörte. „Sollte ich dich oder einen deiner kleinen Freunde noch einmal dabei erwischen, wie ihr meine Wölfe belästigt, werden euch nicht einmal die Wächter vor mir beschützen können“, drohte ich und meinte jedes Wort todernst. Ich war hier die Hüterin und es war meine Aufgabe, die Wölfe zu beschützen, da würde ich mir doch nicht von so einem kleinen Hosenscheißer ins Handwerk pfuschen lassen.

Ich wollte den Kleinen schon durch den Schild befördern, als Saphirs Stimme mich noch einmal innehalten ließ.

„Wie bist du durch den Schild gekommen?“

Ach ja, da war ja noch was.

„Ich … ich …“, stotterte der Kleine merklich nervös.

„Was ich?“, fauchte ich. Der Typ ging mir von Sekunde von Sekunde mehr auf die Nerven und wenn er nicht langsam die Zähne auseinander bekam, sollte ich Grey vielleicht doch noch einmal eine Runde mit ihm spielen lassen. Verdient hätte er es. Kam hierher, um Steine nach den Wölfen zu werfen, ich konnte es immer noch nicht fassen!

„Ich bin durchgefallen“, schaffte der Kleine endlich mal einen ganzen Satz zustande zu bringe. „Ich habe mich dagegen gelehnt und bin einfach … durchgefallen und dann war dieses  … dieses …“

„Durchgefallen?“ Ich runzelte die Stirn. Das war nicht möglich. Man fiel nicht durch den Schild, prallte höchstens bei dem Versuch ab, hindurch zukommen. „Einfach so?“

„Ja. Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, ich sage die Wahrheit!“, erzählte er panisch, als hätte er Angst, dass ich ihm gleich den Kopf abriss – so sauer wie ich gerade war, lag das auch durchaus im Bereich des Möglichen, obwohl ich ja eigentlich eher ein friedliebender Mensch war. „Fragen Sie doch meine Freunde!“, fügte er noch eilig hinzu, „die können es bestätigen.“

Ich sah zu den anderen beiden Taugenichtsen, die bei meinem Blick vorsichtig einen weiteren Schritt Abstand zu mir nahmen. Dann zog ich den Kleinen noch einmal ganz nahe vor mein Gesicht. „Ich hoffe für dich, dass du die Wahrheit sagst und sollte ich dich noch einmal hier erwischen, werde ich dir so den Hintern versämmeln, dass du darauf die nächsten Jahre nicht mehr sitzen kannst. Haben wir uns verstanden?“

Keine Ahnung, was er gerade in meiner Mimik las, aber es brachte ihn dazu, ganz eilig mit dem Kopf zu nicken.

„Gut.“ Ich packte ihm am Handgelenk und zerrte ihn mit mir durch den Schild. Ich musste Hautkontakt mit den Leuten haben, die ich hindurchführte. Ein Gefühl wie kaltes Wasser durchdrang mich, als ich die Barriere durchtrat. Dann gab ich dem Kleinen einen kräftigen Stoß, der ihn in die Arme seine Freunde warf. „Und lass dich hier nie wieder blicken!“, knurrte ich ihm noch hinterher, als er und seine Freunde schon eilig die Beine in die Hand nahmen und hastig davon stolperten. Ich fauchte noch einmal in ihre Richtung – einfach nur zur Sicherheit – und ging dann zurück an Saphirs Seite. Auch sie konnte den Schild nur mit meiner Hilfe durchschreiten. Wie also war es möglich, dass dieser Hosenscheißer hier reingekommen war? Genau das fragte ich auch die weiße Wölfin.

„Das kann ich dir leider nicht beantworten, ich bin kein Magier.“

Verdammt. „Glaubst du, dass Anwar den Schild manipuliert hat?“ Anwar war nicht nur der Magier, der den Schild erschaffen hatte, er war außerdem der Vater von Erion, dem Kerl, der uns das alles hier eingebrockt hatte. Der Hohe Rat hatte ihn dazu verdonnert, uns einen Platz zur Verfügung zu stellen, an dem die Verlorenen Wölfe heilen konnten und für deren Sicherheit zu sorgen.

„Ich weiß nicht“, sagte Saphir nachdenklich. „Warum sollte er das tun? Damit würde er sich doch nur noch mehr Ärger einhandeln und seine Anstellung als Wesensmeister dieser Stadt steht sowieso schon auf Messers Schneide, genau wie sein Platz als Parlamentär des Hohen Rates. Das würde er doch nicht riskieren.“

Da hatte sie wahrscheinlich recht, denn auch wenn er einen unbändigen Hass auf die Lykaner hatte, weil er sich allein bei ihrem Anblick fast in die Hose schiss, war ihm sein Ansehen doch so wichtig, dass er es niemals riskieren würde.

Nicht mal um Rache an den Lykanern für seinem toten Sohn Erion zu nehmen, oder?

Oh Mann, diese Gedanken waren müßig und brachten mich kein Stück weiter. Ich rieb mir über die Schläfen und dachte über meine nächsten Schritte nach. „Am besten gehe ich morgen zum Hohen Rat und lasse sie das Schild überprüfen, nicht dass da wirklich noch etwas passiert.“

Saphir neigte zustimmend den Kopf. „Das wäre vermutlich das Beste.“

Aber zuerst musste ich zurück zu Kanin, um zu sehen, wie es ihr ging.

Saphir trappte voran und die Verlorenen Wölfe folgten ihr zurück zur Lichtung. Sie waren immer noch leicht unruhig und dafür könnte ich diesen drei kleinen … ahrrr!, gleich nochmal in den Hintern treten.

Ich blieb noch einem Moment am Schild stehen und sah zu Grey hinüber, der meinen Blick ganz ruhig erwiderte. Das hier hätte ganz schön in die Hose gehen können und ich war wieder einmal froh, dass ich mich dazu entschieden hatte, dem Rüden als einzigem der Wölfe den Maulkorb umzulassen. Doch die Sache mit dem Schild ließ mir keine Ruhe. Nicht einmal hatte es einen Zwischenfall mit ihm gegeben, warum also jetzt? „Ich werde mich morgen mit dem Hohen Rat in Verbindung setzten, die sollen den Schild überprüfen“, wiederholte ich leise für mich. Wenn Anwar daran herumgepfuscht hatte, dann würden die das schon merken.

 

°°°

 

Es war schon Nachmittag, als ich völlig geschafft die Tür zu meiner Wohnung – nur drei Blocks vom Park entfernt lag – aufschloss. Kanin hatte ihre Verwandlung natürlich nicht mehr zu Ende gebracht. Ganz im Gegenteil, sie war irgendwann einfach vor Erschöpfung weggepennt und hatte immer noch geschlafen, als ich gegangen war. Den Rest der Zeit bei den Wölfen hatte ich dazu gebraucht, um sie zu beruhigen. Das Eindringen von diesem kleinen Elfenscheißer hatte sie doch mehr aufgewühlt, als ich zu Anfang geglaubt hatte.

Ich hängte meinen Beutel in die Garderobe neben der Tür und ging dann ins angrenzende, lichtdurchflutete Wohnzimmer, mit der integrierten Küchenzeile, die nur durch einen Tresen vom Rest des Raumes abgetrennt war. Am ihm saß Kaj, meine Mitbewohnerin. Schlank, straßenköterblondes Haar und gelbe Augen zeichneten sie aus. Sie war nicht schön im eigentlichen Sinne, dafür war ihr Gesicht zu lang und dennoch war sie durchaus nicht zu verachten. Sie war eine Lykanerin und obwohl sie vor einem Jahr noch Erion geholfen hatte, die ganzen Werwölfe einzufangen, damit die dann für ihn Jagd auf einen Drachen machten, war sie heute meine beste Freundin. Ja, ich wusste, wie sich das anhörte. Unsere ganze Beziehung war eben ein wenig kompliziert, um es mal vorsichtig auszudrücken.

Als ich den Raum betrat, sah sie von ihrem Teller auf. Der ganze Raum war erfüllt mit dem Geruch nach Spagetti Bolognese, aber der Tag lag mir immer noch schwer im Magen, sodass ich das Essen auf dem Herd ignorierte und stattdessen den magiebetriebenen Kühlschrank ansteuerte, um mir eine Flasche Wasser zu genehmigen.

„Du siehst echt scheiße aus“, kommentierte Kaj meinen Auftritt und wickelte ein paar lange Nudeln auf ihre Gabel.

Ihre blöde Anspielung überhörte ich einfach. „Wo ist Raissa?“

„Noch bei einer Schulfreundin, aber ich hole sie gleich ab.“ Sie steckte sich ihre Gabel in den Mund und musterte mich dann auffällig. Als ich sie kennengelernt hatte, war sie wie alle anderen Lykaner gekleidet, was bedeutete, dass außer einem Lendenschurz kein Stück Stoff ihren Körper berührte. In der Zwischenzeit hatte ich sie aber von den Vorteilen eines Oberteils überzeugt. Naja, eigentlich hatte ich sie eher davon überzeugt, dass ich mich wohler fühlen würde, wenn sie eines trug. Nicht, dass ihre Oberweite nicht ganz nett wäre, aber ich hatte wirklich kein Interesse daran, dass sie mir damit die ganze Zeit vor der Nase rumwackelte.

Seufzend ließ ich mich ihr gegenüber auf einem der Hocker am Tresen nieder.

„Ist was passiert?“

„So könnte man es auch sagen, aber ich habe gerade keine Lust, darüber zu quatschen.“ Ich schraubte den Deckel von meiner Flasche und ließ ihn auf den Tresen fallen. „Und, was gibt’s bei dir Neues?“

„Dein Onkel Doktor hat angerufen. Die wollen noch eine Blutprobe von dir haben.“

Na toll, das hatte mir gerade noch gefehlt. „Ich versteh nicht, was Gaare sich davon verspricht.“

Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Sowas wie dich hat er eben noch nie gesehen. Du bist ein interessantes Forschungsobjekt, einmalig eben.“

„Juhu, was ich doch für ein Glück habe.“ Sarkasmus ließ grüßen.

Gaare war ein guter Bekannter von mir, der seit meinem Erwachen in dieser Welt versuchte, für mich einen Weg nach Hause zu finden. Da meine eigene Magie aber so anders war als alles, was er kannte, war ich wie Kaj es so nett ausgedrückt hatte, ein überaus interessantes Anschauungsobjekt für ihn.

„Und heute war schon wieder jemand im Haus, sich die freie Wohnung über uns anzusehen.“ Sie verzog das Gesicht. „Ein junges Paar, Minotaurus. Ich hoffe sie nehmen die Wohnung nicht.“

„Warum?“

„Hast du eine Ahnung, wie die Hufe donnern, wenn sie sich über uns bewegen? Da bekommt man ja Angst, dass sie gleich durch die Decke krachen.“

Als ich mir das bildlich vorstellte, musste ich schmunzeln. „Na dann können wir wohl nur noch hoffen.“ Mit einem kräftigen Schluck, befeuchtete ich meine Kehle. Ah, das tat gut.

Kaj grinste breit. „Das müssen wir nicht, ich denke ich habe ihnen die Wohnung schon vermiest.“

Das ließ mich aufhorchen. „Warum, was hast du gesagt?“

„Ich habe …“

Es klingelte an der Tür. Na toll, jetzt wo es gerade spannend wurde. „Merk dir was du sagen wolltest, ich bin gleich wieder da.“ Ich rutschte vom Hocker und eilte in den Flur. Da ich niemanden erwartete, rechnete ich schon halb damit, irgendein Werbefutzi ins Haus zu lassen, als ich den Summer drücke – ja, diese lästigen Zeitgenossen gab es hier auch – und war etwas überrascht, als ich Schritte hörte, die zu mir hinauf in die zweite Etage kamen. Was – oder besser wen – ich dann sah, hätte ich niemals erwartet. Zwei gelbe Augen unter einem roten Schopf. Der Kerl war riesig, fast zwei Meter. Er überragte mich bestimmt um einen ganzen Kopf, was bei meiner Größe gar kein so leichtes Unterfangen war. Ein waschechter Lykaner. Früher war sein Gesicht mal makellos gewesen, fein geschnitten und immer ein kleines Lächeln auf den Lippen, doch seit den Ereignissen mit Erion am Drachengebirge, war seine linke Gesichtshälfte von einer hässlichen Brandnarbe entstellt, die er der feuerspeienden Echse zu verdanken hatte. Die Haut dort sah aus wie geschmolzen, der Mundwinkel war verzerrt und auf dem linken Auge konnte seine Sehkraft nicht erhalten werden, dafür war es einfach zu sehr geschädigt gewesen.

Noch heute fragte ich mich, wie er mit mir, direkt nach dem Erhalten dieser Wunde, hatte schäkern können, die Schmerzen mussten doch höllisch gewesen sein.

Vor mir, mit seinem typischen, halben Lächeln, stand mein bester Freund Pal und strahlte mich an.

„Woher weißt du, wo ich wohne?“, war das Erste, was bei seinem Anblick aus meinem Mund kam. Nicht „was machst du hier“, oder „hey, wie geht es dir“, nein, ich knallte ihm ein „Woher weißt du, wo ich wohne“ vor den Latz. Das war doch wahre Freundschaft.

„Viel wichtiger ist doch, seit wann wohnst du nicht mehr bei Gaare?“

Seit einem guten Jahr, aber das würde ich ihm jetzt nicht unter die Nase reiben. Seit den Geschehnissen damals, hatte ich Pal zwar regelmäßig getroffen, aber immer außerhalb meiner Räumlichkeiten und das hatte seinen Grund.

Pal steckte die Nase in die Luft und witterte. „Hey, gehst du mir fremd? Hier riecht es überall nach … Wolf.“

Und genau das war der Grund.

Da ich jetzt wohl nicht länger Drumherum kam, bat ich ihn mit einer Handbewegung an mir vorbei in die Wohnung. Ihm die Tür schnell vor der Nase zuzuschlagen, um mein kleines Geheimnis zu bewahren, wäre dann wohl doch ein klein wenig auffällig gewesen – aber nur ein ganz klein wenig.

„Ich mag Wölfe eben“, antwortete ich ausweichend und führte ihn in die Wohnung. Wir hatten den Wohnraum mit der offenen Küche kaum erreicht, da entdeckte Pal natürlich als erstes die Wölfin, die an meine Tresen saß und selenruhig ihre Spagetti mit Fleischklößchen aß. Nicht etwa die tollen neuen Vorhänge, die ich mir geleistet hatte, oder das nette Blumenarrangement mit meinem Seidenband als Hauptattraktion an den bodenlangen Fenstern, nein, das Einzige, was er sah, war die Wölfin – die angebliche und berüchtigte Welpenfresserin Kaj.

„Was macht die denn hier?“ Seine Stimme war gefährlich tief geworden, sein Körper bis zum Zerreißen gespannt.

Die kann dich hören“, sagte Kaj gelangweilt, „und sie isst gerade. Welpenhirn und Kinderinnereien. Möchtest du auch etwas?“, bot sie freundlich an. Nur das Lächeln auf ihren Lippen war zum Fürchten.

„Nicht hilfreich, Kaj“, teilte ich ihr mit.

„Keine Sorge“, sprach sie einfach weiter, als hätte ich nichts gesagt. „Er hat nur Angst, dass ich von kleinen Kindern auf junge Frauen umsteige und du demnächst auf meiner Speisekarte landest. Aber mal ganz unter uns, ich knabbere lieber an jungen Kerlen herum. Nichts gegen dich, Talita, aber Frauen sind einfach nicht mein Ding.“

„Immer noch nicht sehr hilfreich.“

Sie grinste nur.

Oh bitte, konnte sich nicht einfach der Boden auftun und mich verschlucken? Für Werwolfspielchen hatte ich jetzt einfach keinen Nerv. Warum hatte Pal nur hier auftauchen müssen? Ein freundschaftlicher Anruf hätte es doch auch getan.

„Ich frage noch einmal: Was macht sie hier?“

Sie kann …“

Hastig schloss ich die Tür zum Wohnraum, ganz nach dem Motto, aus den Augen, aus dem Sinn. Kaj im Wohnraum, wir im Flur, das sollte fürs Erste doch wohl reichen.

Ich lächelte Pal an, er erwiderte es nicht. Na gut, reichte wohl doch nicht aus. Seufzend lehnte ich mich gegen die Wand. Ich hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde,  nur hatte ich gehofft, dass mir bis dahin noch ein bisschen Zeit blieb – so ungefähr zehn bis fünfzehn Jahre, vielleicht auch zwanzig. Leider war meine Hoffnung vergebens.

Okay, spuck es schon aus, dann hast du es hinter dir. Juhu, welch Freude – Ironie lässt grüßen. „Sie wohnt hier.“

„Sie tut WAS?!“

Uh, vielleicht sollte ich noch schnell einen Knochen besorgen. Mit dem könnte ich ihn ablenken, während ich die Flucht ergriff. „Sie wohnt hier“, wiederholte ich. „Sie ist meine Mitbewohnerin und du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Sie wohnt hier schon über ein Jahr und sie hat nicht mal angefangen zu sabbern, als ich mich das eine Mal mit Soße vollgekleckert hatte. Schon irgendwie enttäuschend, so unappetitlich sehe ich doch gar nicht aus, oder?“ Der Witz fruchtete nicht. Schade eigentlich, dabei zog ich sein Lächeln dieser bedrohlichen Mine allemal vor.

„Sie wohnt seit einem Jahr hier?“

Oh verdammt, ich und meine große Klappe.

„Und du hast es bei deinen vielen Besuchen nie für nötig gehalten, es auch nur mit einem Wort zu erwähnen?“

„Ich … äh … nein.“ Hatte ich nicht, weil ich eine solche Situation vermeiden wollte.

Kein Wort, keine Regung. Er starrte mich einfach solange an, bis ich zappelig wurde und mich gezwungen sah, mich zu verteidigen.

„Hör zu, du kennst sie nicht, du hast keine Ahnung, wie sie so ist, also sei nicht sauer, okay?“

„Aber du kennst sie?“, fragte er ungläubig.

„Ja, das tue ich.“ Mehr brauchte er nicht zu wissen. Was zwischen mir und Kaj war, ging ihn einfach mal nichts an und da konnten wir noch so gute Freunde sein. „Genau das ist der Grund, warum ich nichts gesagt habe“, verteidigte ich mich, „ich wusste, du würdest es nicht verstehen und an die Decke gehen.“

„So, wusstest du das?“

Von seiner bedrohlichen Haltung ließ ich mich nicht einschüchtern. Naja, äußerlich nicht. „Kaj tut mir nichts, sie ist meine Freundin.“

Pal packte mich am Arm und sah mir eindringlich in die Augen. „Sie ist gefährlich, Talita. Vielleicht ist bis jetzt noch nichts passiert, aber früher oder später wird es das. Sie hat schon ein paar Mal die Kontrolle verloren und es wird wieder geschehen. Hast du vergessen, was sie getan hat? Das sie Erion geholfen hat? Das sie dich in seine Zelle gesperrt hat?“

„Natürlich nicht, aber das wird nicht mehr vorkommen.“

„Und was macht dich da bitte so sicher? Sie ist unberechenbar!“

„Ich kenne die Wahrheit. Ich weiß Dinge von ihr, von denen du – und auch keine anderer – nur den Hauch einer Ahnung habt. Sie wird mir nichts tun und auch niemand anderen, diese Zeiten sind vorbei.“ Meine Stimme war so nachdrücklich, dass ich nur hoffen konnte, er verstand. Wie die anderen, kannte er nur die Gerüchte über Kaj, dass die eine Mörderin war, die die Welpen der Lykaner fraß. Niemand hatte sich je die Mühe gemacht, hinter die Fassade zu gucken, keiner aus mir und Kovu – wenn auch nicht ganz freiwillig.

„Schön“, sagte er dann, ließ mich los und trat einen Schritt zurück. „Wenn du unbedingt dein Leben aufs Spiel setzen willst, bitte, aber ohne mich. Ich werde da sicher nicht zusehen.“ Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verließ meine Wohnung mit knallender Tür. Nur war die Wucht so groß, dass die Tür einfach wieder aufsprang.

Es dauerte keine fünf Sekunden, da stand Kaj völlig entspannt mit einem Saftglas in der Hand neben mir. „Das nenne ich mal einen gekonnten Abgang, sogar mit Knall.“

„Pssst“, machte ich und zählte im Geist von zwanzig rückwärts. Ich war bei drei, als Pal wieder in meine Wohnung stürmte. Das ging ja schneller, als gedacht.

„Okay, erkläre es mir, ich verstehe es nämlich nicht.“

„Ich bin dann mal weg.“ Kaj schnappte sich ihren Beutel und drückte dem überraschten Pal das halbvolle Glas in die Hand. „Ich will noch zum Spielplatz um die Ecke, das neuste Angebot ausspähen. Zum Abendbrot habe ich Lust auf etwas Rothaariges. Wie steht es mit dir, Talita?“

Pal knurrte, als Kaj sich lachend an ihm vorbei aus der Wohnung schob. Warum musste ihr das auch solchen Spaß machen? Gott, ich war sowas von am Arsch.

„Ich hoffe wirklich, dass deine Erklärung gut ist“, grollte Pal.

„Ist sie, aber du musst mir eines versprechen, erzähl es nicht Veith.“

„Warum? Glaubst du er ist so rücksichtsvoll wie ich?“

„Pal, bitte.“ Ich hatte nämlich keine Lust auf einen tollwütigen, großen, bösen Wolf, der in meine Wohnung stürmte und bei dem Versuch, die Welpenfresserin zu erlegen, die mich bedrohen könnte, meine ganze Einrichtung in Schutt und Asche legte.

Er musterte mich lange Sekunden und seufzte dann ergeben. Ich konnte richtig sehen, wie seine erste Wut verflog und einen geschlagenen Wolf zurück ließ. „Erzähl es mir erst mal, ich verspreche noch nichts.“

„Danke.“ Ich wusste, dass ich damit schon einen halben Sieg errungen hatte.

 

°°°

 

„Möchtest du etwas trinken?“

„Ich möchte, dass du es mir endlich erklärst.“

Man war der verärgert, das konnte ja nur noch besser werden.

Ich deutet Pal sich an den Tresen zu setzen und nahm dann ihm gegenüber Platz. Wo sollte ich nur anfangen? Am besten am Anfang. Das war doch schon mal ein Plan. „Kaj hatte Familie, wusstest du das?“ Ich drehte meine Flasche in den Händen hin und her und fixierte Pal, wollte seine Reaktion mitkriegen, aber außer, dass er leicht die Stirn runzelte, passierte gar nichts. Er starrte weiter seine verschränkten Hände auf dem Tresen an und murmelte nur ein „Nein.“  

„Sie redet nicht gerne darüber, aber bevor das Ganze passiert ist, da hatte sie einen Gefährten und ein Baby.“ Ein kleiner Junge, wie ich heute wusste.

Pal schwieg sich aus.

Seufzend ließ ich meine Flasche los und legte die Hände in den Schoss. „Ihr Gefährte ist kurz nach der Geburt ihres Babys gestorben, ein Zusammenstoß mit einem Einzelgänger.“ Wieder keine Reaktion. Ob ich ihm irgendwie ein wenig Mitgefühl für Kaj entlocken konnte, damit er aufhörte sie als das teuflische Wesen zu sehen, als dass sie immer dargestellt wurde? Schwer, musste ich mir eingestehen. „Es war nicht leicht für Kaj, aber sie lernte damit zu leben. Damals war sie kaum älter als ich heute.“ Zweiundzwanzig Jahre. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie schlimm das für sie gewesen war, doch leider hörte die Tragödie damit nicht auf. „Sie hatte zwar noch ihre Eltern und ihre große Schwester, doch Kaj war schon immer eher ein Außenseiter gewesen.“

„Böses Blut“, murmelte Pal.

„Nein, anders, abseits, aber deswegen noch lange nicht böse.“ Kaj war einfach nur leichtgläubig und naiv gewesen. „Wie dem auch sei. Etwa zwei Jahre nach diesem Unglück, war sie im Wald jagen und da kamen …“ Die folgenden Worte wollten mir nicht so einfach über die Lippen kommen. Zum einen wusste ich nicht, ob ich das überhaupt erzählen durfte und zum anderen war es schwer in Worte zu fassen.

„Wer kam?“, fragte Pal, als ich einfach nicht weiter redete.

„Das ist … ich … es steht mir eigentlich nicht zu, darüber zu sprechen.“ Ich selber würde auch nicht wollen, dass Kaj diese Sache aus meiner Vergangenheit erzählte, etwas an das ich mich eigentlich nicht erinnerte, aber es dennoch fühlen konnte. „Verdammt. Pal, es tut mir leid, aber ich kann es dir nicht erzählen, nicht diese Sache, aber eines kann ich dir sagen. Diese Welpen die sie getötet hat, hatten schon so gut wie die Mannesreife erreicht und … und sie hatten verdient, was sie bekommen haben.“

„Verdient? Verflucht noch mal Talita, sie hat Welpen gefressen!“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, hat sie nicht, sie hat sie nur getötet.“

„Nur!“, höhnte er. „Nur! Hör dich doch mal an. Kaj tötet und für dich ist das völlig okay!“

„Ja, nachdem, was sie getan haben, ist es für mich sogar mehr als nur okay“, erwiderte ich mit ernster Stimme und sah ihm fest in die Augen. „Was Kaj getan hat, war richtig.“

Pal machte den Mund auf, nur um ihn bei meinem Blick gleich wieder zu verschließen. Letztendlich konnte er es sich aber doch nicht verkneifen, etwas zu erwidern. „Gut, in Ordnung, ich weiß zwar nicht, was dich dazu bringt, die Taten dieser Welpenfresserin gutzuheißen, aber es war ja wohl nicht das Einzige, was sie sich hat zuschulden kommen lassen, oder?“

„Nein.“

„Und das andere ist für dich auch okay, oder was?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht, aber bitte lass mich zu Ende erzählen, dann wirst du es wenigstens verstehen.“

Zwar schnaubte er auf diese Aussage hin, aber er blieb still.

„Als … nachdem sie diese Kerle umgebracht hat, wurde sie von ihrem Rudel verstoßen. Sie haben ihr ihren Sohn weggenommen und sie von ihrem Territorium gejagt und überall das Gerücht verbreitet, sie wäre eine Welpenfresserin, damit auch kein anderes Rudel sie aufnimmt. Aber Kaj ist keine Einzelgängerin, sie braucht die Gemeinschaft für ihr Seelenheil. So jedoch ging sie – um es mal deutlich zu sagen – langsam vor die Hunde.“

Bei dieser Redewendung runzelte Pal leicht die Stirn. Die kannte er nicht.

„Irgendwann hat Erion sie dann aufgegabelt und er war der Einzige, der sie nicht nur aufgenommen hat, sondern ihr auch hat die Zuneigung zukommen lassen, die sie brauchte. Ja, er war ein Magier, aber wen hatte Kaj den sonst?“ Ich sah Pal eindringlich in die Augen. „Er war der Einzige, der sie nicht davonjagte und ihr das gab, was sie brauchte, ein Rudel.“

„Erion war ein Magier“, knurrte Pal. „Und ein Verbrecher noch dazu.“

„Ja“, sagte ich schlicht, weil wir beide das wussten. Bestreiten wäre völlig widersinnig. „Doch als Kaj zu ihm kam, wusste sie davon noch nichts.“

„Und du glaubst, dass, wenn sie es gewusst hätte, sie nicht bei ihm geblieben wäre?“

Darauf konnte ich nur die Schultern zucken, denn davon hatte ich mal gar keine Ahnung. „Gewundert hätte es mich jedenfalls nicht, so wie ihr Lykaner sie behandelt habt.“

Dafür bekam ich einen bösen Blick.

Ich ignorierte es einfach. „Wie dem auch sei. Etwa vier Jahre später begann Erion seinen Plan zu schmieden, um an das Drachenherz zu gelangen. Er wollte die Macht, wollte etwas, dass ihn mächtiger als die Hexen machte und zwang Kaj ihm dabei zu helfen.“

„Zwang?“

„Ja zwang, Kaj hat das nicht freiwillig gemacht und das, obwohl sie von den Lykanern so abscheulich behandelt wurde.“

„Ach und das glaubst du ihr?“

„Das hat nicht sie, sondern Erion mir erzählt, damals, als ich mit Kovu in dieser Zelle saß. Du kannst ihn gerne fragen, er war dabei.“ Hätte Kaj mir das erzählt, hätte ich es wahrscheinlich auch nicht so ohne weiteres geglaubt, aber als Erion mir von seinem perfiden Plan erzählt hatte, war sie nicht mal zugegen gewesen.

Darauf sagte Pal gar nicht, deutete mir nur, weiter zu sprechen.

„Isla war der erste Rudelwolf, den die beiden sich geholt hatten.“

Bei der Erwähnung seiner Cousine, kräuselten sich Pals Lippen und ein Knurren vibrierte in seiner Kehle. Kein Wunder, war sie doch bis heute nicht wieder in Ordnung und zählte dank Erion noch immer zu einer meiner Verlorenen Wölfe.

„Kaj hat die Wölfe aufgespürt, manchmal auch mit einen Zauber, den Erion ihr auf die Haut gelegt hatte, gelähmt, damit sie nicht fort konnten und Erion hat sie dann in seine Scheune gebracht, wo er sie … zu Sklaven gemacht hat.“

„Zu hirntoten Marionetten meinst du wohl.“ Seine Worte klangen schroff, aber nicht weil er die Verlorenen Wölfe abstoßend fand, sondern weil er kurze Zeit selber zu ihnen gehört hatte.

Ich griff über den Tresen und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Fäuste. Auch wenn er es mir gegenüber noch nie zugegeben hatte, so wusste ich, dass ihn die Sache belastete. Wie auch nicht? „Wahrscheinlich hätten Erion und Kaj ewig so weiter gemacht, aber dann tauchte ich auf.“

Das ließ seinen Mundwinkel zucken. „Aus dem Nichts.“

„Aus einem Spiegel“, korrigierte ich.

„Aus einem Spiegel von meinem Onkel, auf seinem Dachboden, den du hinterher auch noch kaputt gemacht hast.“

Oh ja, das war eine Aktion gewesen. Ich war heute einundzwanzig Jahre alt, aber mein Leben hatte erst vor vierhundertsiebenundvierzig Tagen begonnen und das auf dem Dachboden von Pals Onkel Fang. Dort war ich aufgewacht, mit mörderischen Kopfschmerzen, ohne Erinnerung und den Hauch einer Ahnung, wer ich war, wie ich dorthin kam, oder woher ich eigentlich stammte. Bis heute wusste ich nur wenig mehr. Das Einzige, was ich in Erfahrung hatte bringen können, war mein Name – der stand nämlich in meinem Ausweis – und eine vage Ahnung, woher ich kam, nämlich aus einer anderen Welt. Für mich war es heute noch schwer zu akzeptieren, dass ich eine Reise durch einen Spiegel in eine magische Welt gemacht hatte, wo Werwölfe, Vampire und Drachen keine Sagengestalten waren, sondern die Realität, die auf der Straße herumlief. Genau wie hundert andere Fabelwesen, von denen ich nur aus Legenden, Büchern und Fernsehen gehört hatte. Hier waren sie so real, wie die Kleidung, die ich am Leib trug.

Mit der Hilfe von dem Magier Gaare, wusste ich in der Zwischenzeit auch, wie ich wieder in die Welt der Menschen zurückkehren konnte, nur gestaltete sich dieser Weg schwieriger, als zu Anfang angenommen, weswegen ich immer noch hier war – deswegen und wegen den Verlorenen Wölfen.

Du hast Veith vergessen.

Ich kniff die Lippen zusammen. Ja, Veith war da auch noch, obwohl er genauso gut nicht existent sein könnte, so wie er mich in den letzten Monaten links liegen gelassen hatte.

Mit den Worten „Boa trauert dem Ding noch immer hinterher“, riss Pal mich aus meinen düsteren Gedanken. „Aber was hat deine Ankunft hier mit Kaj und der Tatsache, dass die hier wohnt, zu tun?“

„Ganz einfach, ich war ein Faktor, den Erion bei seinem Plan nicht hatte mit einkalkulieren können.“ Als er mich nur fragend ansah, ging ich genauer darauf ein. „Als ihr mich damals zu Erions Papá Anwar gebracht habt, weil ihr nicht wusstet, was ihr mit mir anfangen solltet, glaubte Erion sich noch in Sicherheit, aber nachdem das Steinbachrudel zu Besuch war, ich euch erzählt habe, dass auch in den anderen Rudeln Lykaner verschwunden waren und ich euch dann auch noch in sein Haus gebracht habe, musste er vorsichtiger vorgehen. Zwar haben wir damals noch geglaubt, dass Anwar hinter diesen Taten steckt, weil er so einen Hass auf die Werwölfe hat und nichts lieber täte, als sie alle abzuknallen, aber er wusste auch, dass ihr nicht da wart, um – wie wir ihm erzählt haben – ein paar Sachen in der Stadt zu erledigen.“ In Wirklichkeit hatten wir Anwar hinterher spioniert, waren sogar in sein Büro eingebrochen, um Hinweise auf seine Taten zu finden, doch das Einzige, was wir entdeckt hatten, war eine magisch verschlossene Tür, von der ich bis heute nicht wusste, was dahinter lag.

Ich atmete einmal tief ein und strich gedankenverloren über Pals Fäuste, die sich unter meiner Hand ein wenig gelockert hatten. Wie dumm ich damals doch gewesen war. Hätte ich die Hinweise nur von Anfang an richtig gedeutet, würden heute noch ein junger Drache und eine Menge Wölfe mehr leben. „Dadurch, dass wir in sein Haus gekommen waren, wusste Erion, dass ihm nicht mehr viel Zeit bliebe und hat sich beeilen müssen. Von Kaj weiß ich, dass er ursprünglich geplant hatte, nicht nur dich, sondern auch Tyge, Veith, Kovu und Julica zu seinen Wölfen zu machen, aber die Rudelversammlung ist dazwischen gekommen und die Zeit wurde immer knapper. Und dann bin ich auch noch Kaj gefolgt. Das war der Auslöser dafür, dass Erion sich entschlossen hat, sofort zu handeln und keinen Tag länger zu warten. Ihm war klar gewesen, dass so sehr viele von den Lykanern sterben würden, aber das war ihm egal, Hauptsache, er würde das Drachenherz in Händen halten.“

„Zum Glück ist ihm das nicht gelungen.“

 Aber das war nicht mein Verdienst gewesen. Ich hatte mich gefangen nehmen lassen und nur durch Zufall, weil Kaj unvorsichtig gewesen war, hatte Veith herausgefunden, wo ich steckte und mich befreit, damit wir uns auf den Weg machen konnten, Erions Plan zu vereiteln. „Er hat Kaj erpresst. Er hat ihr gesagt, entweder sie hilft ihm, oder er würde sie davonjagen, wie ihr Rudel es einst gemacht hat.“

„Und sie hat sich entschieden“, sagte Pal unnachgiebig, der einfach nicht einsehen wollte, dass Kaj zwar Fehler gemacht hatte – natürlich hatte sie das –, aber das ganze Bild dabei außen vor ließ.

„Er war ihr Alpha!“, fauchte ich ein wenig zu aggressiv. „Er hat ihre Zuneigung gegen sie verwendet. Sag doch selber, wenn Prisca dich vor die Wahl stellen würde …“

„Ich würde es nicht tun.“

„Natürlich würdest du das. Sie ist dein Alpha, du folgst ihr, so tickt ihr Lykaner eben.“

„Nein, würde ich nicht. Natürlich ist Prisca mein Alpha und ich folge ihrem Wort, aber nicht in so einer Angelegenheit, weil ich weiß, dass es falsch wäre.“

„Das kannst du auch nur sagen, weil du niemals in so einer prekären Situation gewesen bist. Du musstest dich nie zwischen deiner Loyalität und dem Richtigen entscheiden.“

„Verdammt, Talita, warum nimmst du sie eigentlich so in Schutz?! Kaj hat nicht nur ein paar kleine Fehler begangen, sie ist eine richtige Verbrecherin, eine Mörderin! Hast du vielleicht vergessen, was sie mir angetan hat? Soll ich deinem Gedächtnis vielleicht ein bisschen auf die Sprünge helfen? Sie hat  mich entführt! Sie hat mich in der Küche einfach mit diesem komischen Zauber von Erion gelähmt und dann in ihren Kofferraum geschmissen, damit Erion aus mir dieses Ding machen konnte!“ Pal wurde mit jedem Wort lauter, bis er mich beinahe anbrüllte. Ich kannte die Geschichte schon, er hatte sie mir bereits erzählte, aber ich traute mich nicht, ihn zu unterbrechen, wenn er so wütend war. „Weißt du, was das für ein Gefühl ist, wenn man in seine tierische Gestalt gegen seinen Willen gezwungen wird? Kannst du dir vorstellen, was für Schmerzen das sind? Welche Angst man empfindet, wenn dein Geist einfach erlischt und in der Dunkelheit umherwandert, aus der es kein Entrinnen gibt?!“

Ich schluckte. So genau hatte er es mir damals nicht erzählt und ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie das sein musste.

„Natürlich weißt du nicht, wie das ist, aber ich weiß es.“ Ein schwerer Seufzer stieg in ihm auf, als er sich mit beiden Händen durch das Gesicht rieb. „Und ich weiß auch, dass Kaj daran schuld ist.“

Ich öffnete den Mund, nur um ihn gleich wieder zu schließen. Was sollte ich auch sagen? Er würde mir nicht zuhören, würde es nicht verstehen. Ja, Kaj hatte viele Fehler gemacht, sie hatte Dinge getan, die einfach nicht zu verzeihen waren und doch war sie nicht böse. Sie war gerade mal neunundzwanzig Jahre alt und hatte in ihrem Leben schon viel zu viel mitgemacht und schlussendlich war sie an den Falschen geraten. „Denk einfach noch mal darüber nach. Wahrscheinlich wirst du ihr nie verzeihen können, aber vielleicht wirst du dann verstehen, warum ich in ihr etwas sehe, dass dir verborgen bleibt.“ Denn im Grunde war Kaj ein lustiger, herzensguter Mensch … äh, Lykaner meinte ich natürlich.

„Das kann nicht dein Ernst sein.“

„Pal, was erwartest du jetzt eigentlich von mir?“, fragte ich ihn ganz direkt. „Soll ich sie vor die Tür setzen, nur weil dir ihre Nase nicht passt? Soll ich sie davonjagen, so wie ihr Rudel es getan hat, obwohl sie nichts gemacht hat?“

„Ihr Rudel hat sie nicht ohne Grund davongejagt und das weißt du genau.“

Ich kniff die Lippen so fest zusammen, dass sie nichts weiter als ein dünner weißer Strich waren. Natürlich dachte er das, weil er genau wie all die anderen den Gerüchten glaubte. „Frag dich mal, was eine gutherzige Frau dazu bringen könnte, aus heiterem Himmel drei Kerle umzubringen. Wenn du auf diese Frage eine Antwort gefunden hast, dann können wir uns weiter über dieses Thema unterhalten. Bis dahin möchte ich dazu nichts mehr von dir hören, Kaj bleibt hier und da kannst du dich kopfstellen.“ Damit rutschte ich von meinem Hocker und marschierte mit erhobenem Kopf aus dem Wohnzimmer.

Ich konnte Pal ja verstehen und auch, wenn meine Entscheidungen mich mehr als einmal in Schwierigkeiten gebracht hatten, sollte er mir doch so viel gesunden Menschenverstand zutrauen, dass ich wusste, was ich tat. Glaubte er wirklich, dass ich so selbstzerstörerisch war, dass ich  offenen Auges in mein Verderben lief, nur um eine gute Tat zu vollbringen? Er sollte  mich in der Zwischenzeit wirklich besser kennen.

Kopfschüttelnd trat ich ins Bad – oder wie es hierzulande genannt wurde, Feuchtraum – und kippte mir am Waschbecken klares Wasser ins Gesicht. Kaj in mein Leben zu lassen, war zwar aus einem Impuls heraus geschehen, aber trotzdem hatte ich vorher darüber nachgedacht. Wie Pal schon gesagt hatte, sie war eine Verbrecherin und ihre Taten waren unter den Lykanern aufgeflogen. Ich hatte rechtlichen Beistand gebraucht, um Kaj zu mir zu holen. Das war die Stelle, an der Gaare ins Spiel gekommen war. Er war nicht nur der älteste Magier, den ich kannte – älter als die Pyramiden in Ägypten und weitaus vertrockneter –, er war auch der intelligenteste Magier, nein Mortatia, den ich kannte. Bis heute wusste ich nicht genau, wie er es gedreht hatte, aber Kaj wurde nur zu etwas verdonnert, dass man mit Sozialstunden vergleichen konnte, aber auch diese hatte sie bereits fast abgeleistet.

Trotz ihrer Vergangenheit war Kaj heute das, was man unter einem anständigen Bürger verstand. Also sollte Pal aufhören sich so aufzupumpen und lieber anfangen mir zu vertrauen.

Als ich hinter mir Schritte hörte, richtete ich meinen Blick auf den Spiegel vor mir. Weißblondes Haar, das zu einer modernen Kurzhaarfrisur geschnitten war, helle Haut, ein herzförmiges Gesicht mit großen grünen Augen, die leicht schräg standen, schauten zurück. Das war ich. Schmal, kaum Oberweite und einen flachen Hintern. Rundungen suchte man vergeblich.

Durch den Spiegel sah ich Pal, der mit verschränkten Armen am Türrahmen lehnte und mich beobachtete. Irgendwie erinnerte mich diese Situation an das erste Mal, als ich ihm begegnet war, auch das hatte in einem Badezimmer stattgefunden. Nur war er es da gewesen, der mit einer Zahnbürste und nichts als einem Handtuch um die Hüfte, vor dem Spiegel gestanden hatte. An den überraschten Gesichtsausdruck von ihm, als ich einfach ohne anzuklopfen ins Bad marschiert war, erinnerte ich mich heute noch. Nur der Anblick im Spiegel hatte sich geändert. Das hübsche, symmetrische Gesicht wurde nun von dieser hässlichen Brandnarbe verzerrt und nicht einmal sein halbes Lächeln wirkte noch so wie damals. Es war nur noch ein kläglicher Abklatsch von dem, was einmal gewesen war.

So viel war seit dem passiert, so viel, was ich nicht rückgängig machen konnte, auch Pals Verletzungen nicht. „Sei nicht böse, ich weiß schon was ich tue.“

Pal ließ die Arme sinken und seufzte schwer. „Ich bin nicht böse, ich mache mir einfach nur Sorgen um dich. Kaj ist nicht ungefährlich.“

„Vertrau mir doch einfach“, bat ich.

„Ich vertraue dir.“ Er löste sich vom Türrahmen und zog mich in eine Umarmung, in die ich mich nur zu gerne schmiegte. Pal war ein rothaariger Riese – trotzdem war er gegen meinen Freund und Mentor Djenan fast ein Zwerg –, bei dem ich mir leicht zerbrechlich vorkommen konnte. Und er war das erste Wesen in dieser verrückten Welt gewesen, das mich nicht für meine Existenz verdammt hatte. Er war der beste Freund, denn ich mir nur vorstellen konnte.

„Dir vertraue ich“, wiederholte er und drückte mich noch ein wenig fester an sich. „Aber ihr nicht.“

 

°°°

 

„Aber sei nicht enttäuscht, okay?“

„Schlimmer wird es kaum geworden sein“, erwiderte Pal schlicht und lehnte sich auf meinen beigen Polstern zurück.

„Das nicht, aber viel besser leider auch nicht.“ Ich ließ mich neben Pal aufs Sofa fallen und nahm die Azalee vom Tisch. Das war ein etwa handgroßes, schwarzes Holzstück in einer ovalen Form, mit einem Muster aus silbernem Metall an der Kuppe, auf die man seine Finger legen musste. Damit konnte man die Bilder in seinen Gedanken direkt auf die schwarze Glasscheibe an der Wand, auf der anderen Seite des Raumes projizieren – auf das Flimmerglas. Das war in dieser Welt das, was man in meiner Heimat Fernsehen nannte – naja, sowas in der Art zumindest.

Pal legte den Arm um mich und zog mich an seine Schulter. So an ihn gekuschelt, platzierte ich die Azalee auf meinem angezogenen Bein und wollte gerade meine Finger an dem Muster drapieren, als Pal fragte: „Was machst du eigentlich morgen?“

„Das Gleiche wie jeden Tag, ich gehe zu meinen Schützlingen. Wir haben eine Wölfin, Kanin, die kurz vor ihrer kompletten Wandlung steht. Da will ich dabei sein. Die Wölfe sind nach ihrer ersten kompletten Verwandlung meist ein wenig desorientiert und da will ich sie nicht allein lassen. Außerdem bin ich morgen früh zu einer weiteren Hypnosesitzung mit Gaare verabredet.“ Ich legte den Kopf in den Nacken, um ihm ins Gesicht zu schauen, „Warum fragst du?“

„Weil ich eigentlich hergekommen bin, um dich morgen Abend auf ein Fest zu entführen.“

„Bei den Lykanern?“

Er schmunzelte. „Bei wem den sonst? Und bevor du jetzt irgendwelche Einwände erheben kannst, dass ganze ist mit Prisca abgesprochen und auch sie würde sich freuen, wenn du erscheinen würdest.“

Was? Hatte ich irgendwas an den Ohren? Ich glaubte doch wirklich verstanden zu haben, dass mir der Alpha des Wolfsbaumrudels eine Einladung zu einem der ihren Feste ausgesprochen hatte. Einer jener Lykaner, der mich am liebsten zum Teufel gewünscht hätte, weil ich so viel Unruhe in ihr Rudel gebracht hatte. „Und du verdrehst hier nicht wieder Tatsachen, weil du mich dabei haben möchtest?“

Bestimmte Feiern waren für die Lykaner etwas sehr Privates, eigentlich war ihr ganzes Leben für sie etwas sehr Privates und sie hassten Eindringlinge. Klar, sie kannten mich, aber das hieß noch lange nicht, dass ich auch bei ihnen willkommen war – jedenfalls nicht mehr, als die Pest.

„Ich habe noch nie etwas verdreht.“ Er schwieg einen Moment und neigte den Kopf zur Seite. „Veith möchte auch, dass du kommst.“

Bei diesen Worten richtete ich mich auf und schaute ihn ungläubig an. Veith wollte, dass ich an diesem Fest teilnahm und … Moment. „Ist er auch da?“

Sein Mundwinkel zuckte in die Höhe, zu dem vertrauten, halben Lächeln, mit dem ich ihn kennengelernt hatte, nur war es heute durch die große Brandnarbe leicht verzerrt und auch das Funkeln in seinen Augen erschien nur im Rechten. Das Linke zeigte schon sehr lange nicht mehr, als dieses trübe Weiß, von dem nicht einmal die Magie ihn befreien konnte. „Natürlich ist er auch da. Genaugenommen dreht sich das ganze Fest um ihn.“

„Warum, hat er Geburtstag?“ In dem gleichen Moment, in dem ich diese Frage stellte, hätte ich mir am liebsten selber gegen die Stirn geklatscht. Veith hatte vor drei Monaten Geburtstag gehabt. Er war fünfundzwanzig geworden und hatte mich nicht eingeladen. Ohne Pal wüsste ich wahrscheinlich noch immer nicht, dass er jetzt ein weiteres Jahr auf dem Kasten hatte. Auf meine Party vor fünf Monaten war er allerdings erschienen, hatte mir mein Geschenk – ein Lederarmband mit bunten Holzperlen, dass ich seit diesem Tag nicht mehr abgelegt hatte – gegeben und sich für seine Verhältnisse auch ziemlich offen benommen. Hin und wieder hatten zwei Worte seinen Mund verlassen und das, obwohl wir in Gesellschaft waren. Nur leider war seit diesem Tag mehr oder weniger Funkstille zwischen uns beiden. Seufz.

„Streich das“, sagte ich, bevor Pal etwas darauf erwidern konnte. „Sag mir einfach, warum sich das Fest um Veith dreht.“ Und warum er möchte, dass ich daran teilnahm, obwohl er mich nicht mal zu seinem Geburtstag eingeladen hatte.

„Nein.“

„Nein?“

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Wenn du wissen willst, worum es geht, dann musst du es dir schon selber ansehen.“

Gerissen, dass musste ich schon sagen. Wenn er so ein Geheimnis daraus machte, war doch klar, dass ich neugierig wurde. „Du hinterhältiger Fuchs.“ Ich boxte ihm gegen die Schulter.

„Wolf, nicht Fuchs und … warte, da war doch noch was.“ Er überlegte übertrieben gespielt, sagte dann: „Ach ja, au!“ und rieb sich überzogen die Stelle an der Schulter, die ich getroffen hatte.

„Nun tu mal nicht so, das hat doch kaum gekitzelt.“

Er zuckte nur mit den Schultern und zog mich wieder an sich. „Und, kommst du nun?“

„Ich weiß nicht so recht.“ Ich kuschelte mich wieder an ihn und kaute nachdenklich auf meiner Unterlippe herum. „Kanin steht kurz vor der Wandlung, eigentlich sollte ich bei ihr bleiben.“

„Und du weißt, dass es morgen soweit ist?“

So wie sie sich heute gegeben hatte? „Nein.“

„Na dann kannst du dir doch auch mal einen Tag frei nehmen, meinst du nicht?“

Im Prinzip sprach nichts dagegen, auch wenn es mir nicht ganz geheuer war, die Wölfe allein zu lassen. Andererseits war das ein Fest, bei dem es um Veith ging und er wollte mich dabei haben. „Aber ich muss morgen trotzdem kurz zu den Verlorenen Wölfen und mit Gaare bin ich auch verabredet.“

„Das Fest ist abends auf der Sonnenlichtung. Wenn du dich also nicht mit in dem Tempo einer Schnecke bewegst, sollten wir es schaffen können.“

Kleiner – naja, eigentlich großer – Klugscheißer. „Pass lieber auf, was du sagst, du wirst nichts weiter als eine Staubwolke von  mir sehen.“ Ich besann mich auf das, was wir eigentlich geplant hatten und legte meine Hand auf die Azalee. Konzentriert dachte ich an die Momente, die ich in der letzten Zeit mit der cremefarbenen, schlanken Wölfin verbracht hatte. Die schwarze Oberfläche des Flimmerglases begann zu schimmern. Farben stiegen aus dem Innersten auf, verbanden sich zu einem Bild und dann erschien ein Bild, von Isla, Pals Cousine, wie sie in der Mittagsonne, auf einem Felsen lag und sich das Fell wärmte. Zu den Rändern hin wurde das Bild leicht verschwommen, nur der Kern blieb scharf.

Das war eine Erinnerung an die Wölfin, wie ich sie vor zwei Tagen gesehen hatte. Im Hintergrund waren Junina und Lokos und balgten sich spielerisch miteinander. Isla hob den Kopf, um ihnen bei ihrem Schauspiel zuzusehen und dann tat sie etwas, dass für einen Wolf kein normales Verhalten war. Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie sagen: „Diese Kindsköpfe“, wandte sich ab und trottete davon.

Pal neben mir versteifte sich leicht. „Sie hat reagiert.“

Ich nickte. „Das macht sie in der letzten Zeit immer mal wieder, in allen möglichen Situationen, aber es sind leider nur Sekunden.“

„Als tauchte sie für kurze Zeit ans Licht, nur um wieder in die Dunkelheit zu versinken.“

„Aber sie ist ruhig dabei, das ist das Seltsame. Die Anderen sind bei ihren kurzen Rückläufen immer verwirrt und hektisch, sie nicht.“ Ich ließ eine neue Erinnerung anlaufen, einen Moment, in dem ich sie nur zufällig am Teich entdeckt hatte. Im ersten Moment konnte man glauben, dass sie einfach nur dasaß und mit der Pfote in Erdreich rumwühlte, aber die leicht gerunzelte Stirn und der konzentrierte Ausdruck in ihren Augen passte nicht dazu.

Als sie mich kommen hörte, hob sie den Kopf und blinzelte in meine Richtung, als wüsste sie nichts mit mir anzufangen.

„Na Süße, was machst du da?“, hörte ich mich selber aus dem Flimmerglas fragen.

Isla gähnte, stand auf und ging einfach weg. Zurück ließ sie eine Reihe aus kleinen Kieselsteinen, die exakt angeordnet in einer Linie lagen.

„Siehst du?“ Ich ließ meine Hand von der Azalee gleiten und sah zu Pal. Das Bild mit den Steinen blieb auf dem Glas hängen. „So etwas haben die anderen nie getan.“

Pal runzelte die Stirn und sah nachdenklich auf die Steine. „Isla hat früher gerne gebastelt. Sie war schon immer ein sehr kreativer Lykaner gewesen und hat aus Steinen, Stöcken und Sand, ja aus so ziemlich allem, dessen sie habhaft werden konnte, ganze Gemälde gefertigt.“ Er senkte den Blick auf  mich. „Sowas wie da hat sie schon gemacht, als sie noch ein kleiner Welpe war.“

Dann sollte ich ihr Verhalten wohl als positiv werten.

„Was meinst du? Könnte das ein Zeichen sein, dass sie bald wieder gesund ist?“

Der flehende Ausdruck in seinen Augen entging mir nicht, aber eine feste Zusage zu machen, kam mir gar nicht erst in den Sinn. Der Zustand der Verlorenen Wölfe war so unstet, dass ich nie etwas mit Bestimmtheit sagen konnte. Zum Beispiel Kanin: klar, im Moment sah es alles bestens für sie aus, also auf in eine rosige Zukunft, oder? Falsch. Ihr Befinden konnte sich von heute auf morgen wieder verschlechtern und Isla war noch schlechter dran als sie. Bei ihr waren es immer nur kleine Momente, in denen sie wieder klar denken konnte – zumindest schien es so. Daher gab es auf diese Frage nur eine Antwort: „Ich weiß es nicht.“ Ich konnte nicht mal sagen, ob Islas Zustand sich irgendwann wieder normalisieren würde, oder ob sie für immer eine Gefangene dieser Ebne sein würde. 

Pal wollte etwas erwidern, doch gerade als er den Mund öffnete, ging die Wohnungstür geräuschvoll auf und ein kleines Mädchen von acht Jahren mit schneeweißen Haaren, stürmte in die Wohnung. „Tante Talita, guck mal was ich …“ Als sie Pal neben mir auf der Couch entdeckte, stoppte sie abrupt, nur um gleich wieder loszustürzen und direkt vor Pal zum Stehen zu kommen. Mit großen, gelben Augen sah sie ihn an. „Dich hab ich schon Mal gesehen.“

„Äh …“, machte Pal, sah von dem kleinen Mädchen zu mir, dann wieder zu ihr und weiter zu Kaj, die gerade die Wohnungstür schloss und zu uns ins Wohnzimmer kam.

Mit den Worten: „Tut mir leid, habe leider nichts Rothaariges auftreiben können, jetzt müssen wir etwas weißes in die Pfanne hauen“, begrüßte sie uns und wandte sich dann an ihre Ziehtochter. „Raissa, geh schon mal und reib dich ordentlich mit Bratfett ein, ich stelle in der Zeit den Ofen an.“ Sie wuselte in die Küche und entzündete mit übertriebener Gestik den Herd. Dabei wurde Pals Knurren von ihr völlig ignoriert.

Raissa runzelte die Stirn. „Ich soll mich mit Bratfett einschmieren? Aber eben hast du noch gesagt, dass ich mir die Hände waschen soll.“

Zeit einzuschreiten, bevor Kaj meinen Pal weiter auf die Palme bringen konnte. „Deine Mamá hat einen Witz gemacht. Geh jetzt in den Feuchtraum und wenn du fertig bist, kannst du mir erzählen, was du bei deiner Freundin gemacht hast.“

„Darf ich es auf dem Flimmerglas zeigen?“ Sie schielte zu dem Bild, dass noch immer die Linie aus Steinen von Isla zeihte.

„Aber nicht so lange, du musst vor dem Abendessen noch in die Wanne“, kam es von Kaj.

„O-kaaay!“ Auf dem Absatz machte sie kehrt und stürmte sehr laut ins Bad. Als die Tür gegen die Wand knallte, zuckte ich zusammen. Irgendwann würden wir dank Raissa ein Guckloch in der Wand haben.

„Das ist das Mädchen aus dem Wald, die Kleine, deren Großpapá du umgebracht hast!“, grollte Pal der blonden Wölfin zu, kaum dass Raissa den Raum verlassen hatte.

Kaj blieb ganz ruhig, stellte den Herd ab und stützte sich dann mit den Unterarmen auf den Tresen. „Ja, das ist sie.“ Ganz ruhig und direkt sah sie ihm dabei in die Augen.

„Das ist … wie … Talita!“, fuhr er mich an. „Wie kannst du … was macht die Kleine verdammt noch mal hier?!“

„Keine Schimpfworte, wenn Raissa in der Nähe ist“, kam es prompt von Kaj.

Pal beachtete sie nicht mal mit dem Arsch. In diesem Augenblick schien er mich für all die Fehler verantwortlich zu machen, die existierten. Sein Blick … so hatte er mich noch nie angesehen, so voller Enttäuschung. Das tat echt weh. Und auch wenn ich versuchte, mir das nicht anmerken zu lassen, setzte mir dieser Blick doch arg zu.

„Kaj hat sie aufgenommen. Du erinnerst dich daran, dass Kovu und Julica sie damals hatten mit zum Rudel nehmen wollen? Nun ja, Erion hatte ihnen dazwischengefunkt und Kaj hatte sie in Sicherheit gebracht, bevor er auf die Idee kommen konnte, sich auch an ihr zu vergreifen.“

„In Sicherheit? Sie ist eine verdammte Welpenfresserin!“

„Sie ist Raissas Mamá, ihr gesetzlicher Vormund. Sie ist …“

„Verdammt noch mal, was ist hier eigentlich los?!“ Pal sprang von der Couch und wusste scheinbar nicht so genau, ob er auf etwas einschlagen sollte, oder es besser wäre, dem Ganzen einfach den Rücken zu kehren, weswegen er einfach stehen blieb. „Gibt es sonst noch etwas, dass du mir verheimlicht hast? Sag es mir besser gleich, weil ich keine Lust auf weitere Überraschungen habe!“

„Wir dürfen nicht schreien“, kam es da sehr ernst von der Tür. Raissa hatte die Arme in die Hüften gestemmt und sah tadelnd zu Pal. „Wenn wir etwas miteinander zu klären haben, müssen wir das in einem angemessenen Ton tun. Man kann über alles reden.“

Von einer Achtjährigen eine Standpauke zu bekommen, ließ Pal für den Moment verstummen.

Raissa unterdessen, hüpfte zur Couch, schnappte sich die Azalee und pflanzte sich neben mich. „Komm schon, Mamá, du musst auch sehen, was ich bei Ginger gemacht habe.“

Kaj seufzte und blickte wieder zu Pal. „Was auch immer du von mir halten magst, ich bitte dich nur darum, es nicht vor ihr auszutragen.“

Pal kniff die Augen zusammen. „Weiß sie es? Weiß sie was du getan hast?“

„Nein.“

Seine Lippen drückten sich fest aufeinander, als Raissa ihren Blick neugierig zwischen ihrer Mamá und dem Fremden hin und her gleiten ließ. Dann beugte sie sich zu mir und murmelte in einem perfekten Bühnenflüstern: „Ich glaube, die beiden mögen sich nicht.“ 

Ähm … ja. Was sagte man in einer solchen Situation? „Die beiden kennen sich nicht gut genug, um sich zu mögen.“ Da, das war doch der perfekte Mittelweg. Er verriet im Grunde gar nichts und doch alles.

Raissa nickte verstehend, nahm Pal bei der Hand und zog ihn neben sich auf das Sofa. „Dann muss er bleiben und mit uns Erinnerungen gucken, dann wird er sie schon mögen.“ Sie richtete ihre großen, unschuldigen Augen auf den roten Riesen. „Mamá ist eine ganz Liebe, weißt du? Sie passt jetzt auf mich auf.“

Wieder schnellte Pals Blick zu Kaj, nur um anschließend auf mir hängen zu bleiben. Der Ausdruck in seinen Augen sagte mehr als deutlich, dass das Thema damit noch nicht abgeschlossen war.

 

°°°

 

„Komm, Raissa, Zeit ins Bett zu verschwinden.“

„Aber ich bin noch gar nicht müde!“, protestierte die Kleine und wie um ihre Worte Lügen zu strafen, gähnte sie gleich darauf.

„Das sehe ich“, schmunzelte Kaj, nahm die Kleine an die Hand und brachte sie ins Bett. Zurück blieb ich mit Pal, der in den letzten Stunden ungewöhnlich schweigsam gewesen war. Er hatte kaum einen Ton von sich gegeben. Weder beim Erinnerungen gucken, noch beim Abendessen, oder dem Spiel, dass wir hinterher noch gespielt hatten.

„Pal, ich …“

„Du bist zu naiv, Talita“, sagte er gerade heraus. „Das warst du schon immer. Viel zu gutgläubig.“ Er schüttelte den Kopf, als könnte er es immer noch nicht glauben. Dann richtete er seine Augen eindringlich auf mich. „Wie hattest du mir das verheimlichen können? Nicht nur die Tatsache, dass Kaj bei dir wohnt, nein, auch noch, dass sie das vermisste Mädchen bei sich hat. Ich habe dich einmal gefragt, wo die Kleine ist und du hast gesagt, dass du es nicht wüstest.“ Er kniff kurz die Lippen zusammen. „Ich dachte, wir wären Freunde, aber da habe ich mich wohl getäuscht, denn Freunde belügen sich nicht.“

Jup, das zu hören tat so richtig weh. „Ich habe nicht gelogen.“ Ich griff nach seiner Hand und war erleichtert, als er sie nicht wegzog. Er erwiderte die Berührung zwar nicht, aber er stieß mich auch nicht von sich. Das war doch für den Anfang schon mal ganz gut, oder? „Ja, ich habe dir verheimlicht, dass Kaj und ich zusammenwohnen, das bestreite ich nicht, aber, als du mich damals nach Raissa gefragt hast, da wusste ich noch nicht, was mit ihr geschehen war, das habe ich erst später erfahren.“

„Und dann hast du auch das vor mir verheimlicht“, warf er mir vor.

„Pal, bitte, ich weiß, dass es nicht einfach zu verstehen ist, aber du musst mir glauben, wenn ich dir sage, dass alles anders ist, als es scheint. Kaj ist nicht so, wie ihr alle glaubt.“

Diese Worte überzeugten ihn nicht. „Und was macht dich da so sicher?“

„Weil sie die Wahrheit kennt“, sagte Kaj, als sie den Raum betrat. „Weil Talita weiß, dass diese Welpen sich an mir vergangen haben und damit ihr eigenes Todesurteil unterschrieben hatten. Weil sie weiß, dass der Tod von Raissas Großpapá ein Unfall war. Und weil sie weiß, dass dies meine letzte Chance ist, eine Chance auf ein neues Leben, dass ich mir nicht nehmen lassen will.“ Sie schritt durch den Raum und stellte sich genau vor Pal. Nur der flache Tisch trennte die beiden noch. „Mir ist egal was du von mir denkst. Ich will kein Mitgefühl, oder Verständnis, weil ich so ein schweres Leben hatte, aber eines möchte ich, dass du dir merkst: Ich lasse mir Raissa nicht wegnehmen. Also egal, was du da in deinem hübschen Köpfchen zusammenspinnst, merke dir bei alledem gut, dass ich bereits ein Kind verloren habe. Ein zweites Mal wird mir das nicht passieren. Ich werde um sie kämpfen, wenn es sein muss auch mit Zähnen und Krallen.“ Nach einem letzten, abschätzenden Blick auf ihn, wandte sie sich an mich. „Raissa möchte, dass ihre Tante ihr noch gute Nacht sagt.“ Sie spießte Pal noch einmal mit einem Blick auf und verschwand dann aus dem Raum.

Oh Backe, ob das jetzt der richtige Weg gewesen war, Pal auf ihre Seite zu ziehen? Bei der Gewittermine die er zog, war ich mir nicht so sicher. „Vielleicht solltest du die ganze Angelegenheit einmal überschlafen?“

Er sagte nichts, als ich ihm noch einmal die Hand drückte und dann aufstand, sah nur in seinen Schoss und was er dabei dachte, konnte ich beim besten Willen nicht sagen. Zum ersten Mal in meinem Leben war Pal für mich wie ein Buch mit sieben Siegeln.

Das ging mir voll gegen den Strich.  

 

°°°°°

Tag 448

Schwerelos schwebte ich im schwarzen Nichts und konzentrierte mich auf den stecknadelgroßen Punkt aus Licht in der Ferne. Nicht mal einen Wimpernschlag später glitt ich ihm bereits entgegen – oder er mir? Bei meinen vielen Besuchen hier hatte ich es nie herausgefunden. Das Licht wuchs heran, wurde größer und einen weiteren Wimpernschlag später war in dem unendlichen Nichts aus dem Lichtpunkt ein Türrahmen geworden, so gleißend hell im Inneren, dass es mich im ersten Moment blendete.

Erst, als sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, trat ich durch den Rahmen in einen einfachen weißen Raum, in dem es nichts gab, außer einer verschlossenen Tür, ohne sichtbaren Öffnungsmechanismus. Es war nicht das erste Mal, dass ich zwischen diesen kahlen Wänden stand. Im letzten Jahr hatte ich das so oft getan, dass ich es gar nicht mehr zählen konnte, denn hinter dieser Tür lag mein größtes Geheimnis: Meine Erinnerung.

Keiner wusste warum, aber als ich damals in dieser Welt aufgetaucht war, hatten sich alle meine Erinnerungen auf  Nimmerwiedersehen verabschiedet. Hin und wieder kamen kleine Bruchstücke davon an die Oberfläche, aber meistens ergaben sie für mich keinen Sinn. Manchmal kam ich in der realen Welt auch an Gebäuden vorbei, bei denen ich das starke Gefühl hatte, sie kennen zu müssen. Sie waren mir auf eine Art vertraut, die ich mir nicht erklären konnte und doch hatte ich bis heute noch nicht herausgefunden, was es bedeutete. Diese Orte waren mir fremd, genau wie diese Welt. Ja ich wusste, dass das alles ziemlich widersprüchlich klang, aber so war es nun mal.

„Bist du schon im Korridor?“

Die kratzige Stimme schien von überall und nirgendwo zu kommen. Sie war mir genauso vertraut, wie dieser Ort. Gaare hieß ihr Besitzer und er war auf dieser Reise, die ich immer wieder antrat, um den Geheimnissen meiner Vergangenheit auf die Spur zu kommen, mein ständiger Begleiter.

Gaare war Magier und ich befand mich gerade durch seine Hypnose auf einer Bewusstseinsreise, die mich in die entlegensten Winkel meines Verstandes führte. Auch, wenn dies hier viel mehr einem Traum glich, war ich mir dessen wohl bewusst. Es war real und gleichzeitig nur eine Illusion, die ich mir in meinem Kopf erfand, um meinem früheren Ich auf die Schliche zu kommen.

„Talita?“

„Bin gleich da.“ Warum ich nie direkt in diesem Raum landete, oder gar im Korridor meiner Erinnerungen, verstand ich nicht, konnte es aber auch nicht durch bewusstes Handeln ändern. Ich musste immer erst durchs schwarze Nichts um in diesen Raum zu gelangen, anders erreichte ich nie  mein Ziel.

Die schlichte Tür, die mich von meinem Ziel trennte, war so in die Wand eingelassen, dass sie nur bei genauer Betrachtung auffiel. Keine Klinke, kein Schloss, kein sichtbarer Öffnungsmechanismus, welcher Art auch immer. Aber ich wusste, wie ich sie aufbekam. Nicht durch Zauberparolen, wie Sesam öffne dich, das hatte ich bei meinem ersten Besuch hier bereits probiert und war mir damals dabei ziemlich dumm vorgekommen. Es war viel einfacher. Ich legte meine Hand an die Stelle, an der eigentlich die Klinke sitzen müsste und drückte. Die Oberfläche gab an dieser Stelle nach, ließ sich eindrücken, wie ein Ballon. Ein leises Klicken folgte und dann schwang die Tür nach innen auf und ich stand vor einer weiteren, undurchdringlichen Finsternis. Alles schwarz.

Ich wusste, dass ich nur einen Fuß durch den Rahmen setzten müsste, um unter einem Sternenmeer zustehen, aber jedes Mal aufs Neue, zögerte ich an dieser Stelle. Egal wie oft ich es tat, jedes Mal packte mich eine irrationale Angst, dass ich auf der anderen Seite in einen dunklen Abgrund stürzen würde. Es war einfach unheimlich.

Nun hab dich mal nicht so. Du hast das schon hundert Mal gemacht, sei keine Memme!

Ich war keine Memme. Trotzdem hielt ich mich links am Türrahmen fest, als ich vorsichtig einen Schritt in die Dunkelheit tat. Mein Fuß berührte den inzwischen vertrauten Teppich, der jedes Geräusch wie ein Schwamm schluckte. Hier war es immer unheimlich ruhig, doch gleichzeitig auch irgendwie beruhigend – ja, ich wusste, dass das irgendwie paradox klang. Vorsichtig stellte ich den zweiten Fuß dazu, verrenkte mich dabei halb, um den Türrahmen nicht loslassen zu müssen und war wie immer froh, dass mich keiner sehen konnte – das wäre echt mal peinlich.

Erst, als ich mein Gewicht weiter nach vorn verlagerte, verschwand die Schwärze und wurde von einem Meer aus leuchtenden Sternen abgelöst. Die ganze gewölbte Decke war damit bedeckt und schickte ihr sanftes Licht auf einen Korridor, der kein erkennbares Ende hatte. Ich war ihn bereits stundenlang abgelaufen, aber er schien einfach immer weiter zu gehen. Schwarzer Teppich und dunkel vertäfelte Wand. Alles war voll mit Bildern, von der Decke bis zum Boden. Es gab keinen freien Platz mehr. Kein Rahmen glich dem anderen. Manche Bilder waren groß, andere klein, doch eines hatten fast alle gemeinsam: Sie waren leer. Nur schwarzer Untergrund, der meine Erinnerung verbarg, die ich hier suchte. Nur die wenigsten von ihnen zeigten mir eine Bild, oder gar einen Film. Aus manchen konnte ich Stimmen hören, Bruchstücke aus meiner Vergangenheit, die mir nichts sagten. Nur die jüngsten Erinnerungen, jene, welche ich aus dieser Welt hatte, waren glasklar, alles aus meinen früheren Leben war bestenfalls verschwommen und doch zog es mich immer wieder hier her.

Ich atmete noch einmal tief durch, ließ von dem Türstock ab und machte dann den ersten Schritt, in der Hoffnung, heute dem Vergessen auf die Schliche zu kommen. „Ich bin jetzt unterwegs“, teilte ich Gaare mit.

„Gut. Sag mir Bescheid, wenn du auf etwas Neues triffst.“

Das hieß dann wohl so viel, dass ich ihn eine ganze Weile anschweigen würde.

Das erste Bild an der Wand, war zu meiner Überraschung nicht schwarz, ein Abbild von Pal, wie er gestern geguckt hatte, als er Kaj an meinem Tresen entdeckt hatte. Das war seltsam, denn obwohl man glauben sollte, dass die jüngsten Erinnerungen vorn am Eingang lagen, war dem nicht so. Hier gab es kein logisches System -  und wenn doch, war ich noch nicht dahinter gestiegen –, alles hing kreuz und quer, so hatte ich schon Bilder aus meiner frühsten Kindheit ganz vorn gefunden und Dinge, die gerade erst geschehen waren, blieben in den Tiefen verschwunden.

„Was macht die denn hier?“

Die kann dich hören und sie isst gerade. Welpenhirn und Kinderinnereien. Möchtest du auch etwas?“, wehten mir Pals und Kajs Stimmen aus dem Bilderrahmen entgegen. Ich musste schmunzeln. Kajs Humor war schon ein wenig gewöhnungsbedürftig, aber ich konnte sie auch verstehen. Wenn nicht mit Sarkasmus, wie sollte sie ihre Situation dann nehmen?

Meine Hand wollte sich heben und über das Bild streichen, doch bevor es so weit kommen konnte, zog ich sie zurück. In der Vergangenheit hatte ich Bilder durch eine einzige zarte Berührung beschädigt und das würde ich kein weiteres Mal riskieren.

Ich ließ meine Hand zurück an die Seite sinken und machte mich entschlossenen Schrittes dazu auf, tiefer in meine Erinnerungen vorzudringen. Dabei glitten meine Augen unablässig über die Bilder zu beiden Seiten, damit mir auch nichts entgehen konnte. Schlichte und verschnörkelte Rahmen kreuzten meinen Weg, kleine, große, Gold, Holz, Glas, mit Makkaroni verzierte. Alles was ich mir nur vorstellen konnte, war dabei und auch ein paar Wenige, die so gar nicht existieren konnten. Ein Rahmen zum Beispiel, der aus Wasser zu bestehen schien und unablässig tropfte, nur erreichte keiner dieser Tropfen den Boden, sie lösten sich auf den Weg nach unten ins Nichts auf. Oder der Rahmen ein Stück weiter, der aus einer Art schimmernden Energie zu bestehen schien. Ich hatte ihn bereits ein paar Mal gesehen, ihn aber nie berührt, da ich Angst vor einem Stromschlag hatte. Ich wollte in meinem Kopf schließlich keinen Kurzschluss fabrizieren.

Ein Farbklecks in dieser Eintönigkeit aus schwarzen Leinwänden, erregte meine Aufmerksamkeit – das erste Bild des Tages. Einen Moment glaubte ich, dass es gesplittert war wie Glas, verzerrt durch all die Risse in der Oberfläche, doch als ich näher trat, erkannte ich, dass etwas völlig anderes diese optische Täuschung zustande brachte. Ich stand vor einem Bild eines Spiegelkabinetts. Tausendfach spiegelte sich mein kindliches Antlitz darin wieder. Es kam mir vor, als wäre mehr als eine Person in darin, so oft gab es mich darauf. Einfach die Position der Spiegelungen brachte mich darauf.

„Ich bin hier!“, rief mein kindliches Ich aus dem Bild und lief lachend in die Tiefen dieser optischen Verwirrung.

Es war nicht das erste Mal, dass ich mich hier als Kind auf dem Jahrmarkt fand.

„Tal, nicht so schnell!“

Diese männliche Stimme, versetzte mir einen Stich ins Herz. Er war auf dem Bild nicht zu sehen, doch in der Zwischenzeit vertraut genug, dass ich sie auf Anhieb er kannte. „Taylor“, flüsterte ich. Im nächsten Moment setzte mein Herz vor Schreck beinahe aus. Plötzlich tauchten aus den Tiefen der schwarzen Leinwände um mich herum tausende von Farben auf, wie etwas, das tief unter Wasser lag und langsam an die Oberfläche stieg und aus allen Bildern drang Taylors Stimme. In hundertfacher Ausführung bestürmte sie meine Ohren.

„Worüber denkst du schon wieder nach, Tal? Zieh deinen Kopf aus den Wolken und komm endlich.“

„Schau, da ist ein Schmetterling.“

„Aufstehen, Schlafmütze, sonst isst Tia dir wieder deine Cornflakes weg.“

 „Talita, Tiara, kommt, das müsst ihr euch ansehen!“

„Wenn du jetzt nicht artig bist, dann kommt das Kitzelmonster und kitzelt dich solange, bis du lachen musst!“

„Mann, Tal, raus hier, ich bin beschäftigt.“

„Ich bin zu alt, um mir von dir etwas verbieten zu lassen!“

„Komm schon, Tal, oder bist du neuerdings etwa wasserscheu?“

„Schwesterchen, Tal! Tal.“

Von überall drangen diese Worte auf mich ein und ich konnte nichts tun, als mit schreckensweiten Augen da zustehen. So etwas war hier noch nie passiert. So viele Erinnerungen auf einmal. Ich wusste gar nicht, wohin ich meine Augen zuerst wenden sollte.

„Ach, Tal, nicht weinen, ich komme doch wieder. Und dann gehen wir schwimmen, okay? Ich verspreche es dir.“

„Drunter, drüber, rein und raus, fertig ist die Schleifchenmaus!“

„Heute darf Tal aussuchen, welche Geschichte ich euch Zwergen vorlese.“

„Was ist los, hast du schlecht geschlafen?“

Dem Bild, dem diese letzten Worte entsprangen, näherte ich mich. Es war eine kurze Szene, die sich wie in einer Schleife immer wiederholte. Ein Bett, in einem dunklen Raum, ein junger Kerl saß halb aufgerichtet darin und obwohl es Nacht war und kein Licht leuchtete, wusste ich, wie der Junge darin aussah. Schwarze Haare, grüne Augen und jede Menge Sommerspossen auf der Nase. Ich wusste um sein schüchternes Lächeln, kannte es wie mein eigenes Gesicht, weil ich davon ein Foto besaß, das ich Zuhause in einer kleinen Schatulle aufbewahrte, wo ich es fast täglich hervorholte, um ihn nicht zu vergessen, den Tylor, mein großer Bruder, war tot.

 „Was ist los, hast du schlecht geschlafen?“

„Ja“, antwortete ein dünnes Stimmchen.

Taylor hob einladend die Decke, sodass ich zu ihm ins Bett klettern und mich an ihn kuscheln konnte, damit die bösen Träume mich nicht mehr heimsuchen konnten. Er schlang die Decke um uns beide und drückte mich fest an sich.

Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, was für ein Verhältnis ich zu meinem Bruder gehabt hatte.

Die Szene startete von neuem.

„Was ist los, hast du schlecht geschlafen?“

„Ja.“

„Talita, meine Liebe, ist alles in Ordnung bei dir?“

Die krächzende Stimme von Gaare riss mich aus meiner Grübelei. Hatte er bemerkt, was hier in meinem Kopf vor sich ging? „Ja, es ist nur …“ Ein weiteres Bild erweckte meine Aufmerksamkeit. Ein Weihnachtsbaum in einem festlich geschmückten Raum.

„Talita?“

„Ja, alles bestens.“ Ich trat näher an das Bild mit dem schmucklosen Rahmen, aus dem unbefangenes Kinderlachen wie Nebel strömte und dem Bild etwas Mystisches gab. Ein Tisch mit fünf Gedecken, ein großer, prächtig geschmückter Baum mit vielen Geschenken verteilte sein sanftes Licht auf den Weihnachtsmann, der eifrig in seinem Jutesack nach Geschenken grub. Er zog ein großes heraus und …

„Weihnachtsmann, dein Bart rutscht!“, hörte ich Taylor lachen.

„Das ist Papa!“ Anklagend zeigte mein kindliches Ich auf den dickbäuchigen Mann – das sah aus, als hätte er ein Kissen unter seinem Mantel versteckt – dem langsam aber sicher der falsche Bart aus dem Gesicht rutschte. Auch schnelles zupacken half da nicht mehr. Der Bart machte einen Abgang und der Weihnachtsmann brauchte in nächster Zeit nicht mehr über eine Rasur nachdenken.

Als die Szene von vorn begann, trat ich näher an das Bild heran. Meine Mutter hatte ich ihm Korridor der Erinnerungen bereits mehr als einmal gesehen, genau wie meinen Bruder, oder auch ein paar meiner Freunde aus meiner Heimat, aber mein Vater war bisher nur ein Schatten gewesen. Doch jetzt hatte ich sein Gesicht vor mir und es war meinem so ähnlich, dass ich einen Moment glaubte, eine männliche Version von mir zu sehen. Weißblondes, kurzes Haar, das ihm leicht in die großen, grünen, leicht schräg stehenden Augen fiel. Helle Haut, ein schmaler, eleganter Körper, der deutlich attraktiv war.

„Weihnachtsmann, dein Bart rutscht!“

„Das ist Papa!“

Die vorwurfsvolle Stimme meiner kindlichen Seite ließ mich schmunzeln. Herauszufinden, dass ein Mythos, an den man bis dahin geglaubt hatte, nur ein nett gemeinter Schwindel war, konnte in diesem Alter nicht leicht zu verkraften sein. 

Plötzlich, von einer Sekunde zur anderen, war es um mich herum so still, dass ich vor Schreck zusammenzuckte. Taylors Stimme war verschwunden und an ihrer Stelle nur noch Stille, die durch Mark und Bein ging.  Auch die Bilder waren alle wieder schwarz und einen Moment fragte ich mich, ob ich mir das alles nur eingebildet hatte, weil ich mich so nach der Vergangenheit sehnte, die bei mir nur aus vergessen bestand.

„Es ist nicht egal, es ist wichtig.“

Diese Stimme ließ mich erneut aufhorchen.

Veith.

Ich brauchte mich nur um hundertachtzig Grad zu drehen, um sein Bild vor mir zu haben. Hellbraunes Haar, das ihm in die gelben Augen fiel. Groß, einen ganzen Kopf größer als ich, muskulös, durchtrainiert. Markantes, hartes Gesicht, kantiges Kinn und an der Hüfte hatte er eine lange Narbe. Ich konnte sie auf der leicht gebräunten Haut genau sehen, weil er im Adamskostüm abgebildet war. Völlig nackt! Ich konnte wirklich alles sehen.

„Aber wenn sie euch nur etwas vorspielt, dann erreicht sie damit genau das was sie will.“

Ich erinnerte mich nur zur deutlich an diesem Moment, als ich ihn zum ersten Mal erblickt hatte. Mann, als er sich damals so völlig schamlos vor mir präsentiert hatte, war mir ganz schön heiß unter der Haut geworden, damals, als ich noch nicht wusste, wer er war und wo ich mich befand. Ich hatte geglaubt, dass ich in einer Art Sekte gelandet war, weil sich die Leutchen um mich herum so seltsam benommen hatten. Erst später, als ein Drache über mich hinweg geflogen war, hatte ich kapiert, dass ich mich in einer völlig anderen Welt befand, in einer Welt voller Magie. Na gut, zuerst hatte ich geglaubt im Koma zu liegen und mir das alles nur einzubilden, doch mittlerweile wusste ich, dass es real war.

Eine Sache jedoch ließ mich stutzen, der erste Satz, den ich gehört hatte, passte nicht zu dem Bild, er war in einer völlig anderen Situation entstanden.

„Es ist nicht egal, es ist wichtig.“

Ich drehte mich um die eigene Achse und entdeckte das gesuchte Bild dann neben dem ersten, doppelt so groß. Hä? Das war aber eben noch nicht da gewesen, das wäre mir aufgefallen.

„Es ist nicht egal, es ist wichtig.“

Das hatte Veith damals zu mir gesagt, als mich eine meiner Erinnerungen heimsuchte und sein Onkel Fang diese mit einer Handbewegung als trivial abtun wollte.

Plötzlich geschah das Gleiche wie zuvor mit Taylor. Die Bilder um mich herum erwachten alle zum Leben und überschütteten mich mit Erinnerungen von Veith. Seine Stimme drang hundertfach an meine Ohren und ließen mein Herz schneller schlagen.

„Du gehörst nicht hier her. Durch dich gibt es nur Unruhe im Lager.“

„Sieh mich an. Ich bin es, Veith. Sieh mich an. Talita, hörst du? Talita, hab keine Angst.“

„Du verstehst nicht. Ich habe gesagt, ihr sollt da bleiben. Ich wusste, dass da etwas im Wald war und habe euch trotzdem zurück gelassen. Und dann hörte ich dich schreien und da wusste ich, dass was passiert ist. Und ich wusste, es war meine Schuld, weil ich gesagt habe, ihr sollt warten. Du hast geschrien und ich hatte Angst. Es war meine Schuld, das mit Kovu und das …“

„Es ist unstimmig. Du sagst, dass Anwar sie jagen will und vielleicht tut er das auch, aber was ist mit den toten Einzelläufern? Die beiden, die du gefunden hast, wurden nicht erschossen. Sie haben sich eindeutig gegenseitig getötet.“

„Nein, das hier ist kein Friedhof. Auf einem Friedhof gibt es kein Leben.“

„Zeig ein wenig mehr Respekt. Ohne Talita würde keiner von uns hier stehen. Wir würden immer noch im Dunkeln tappen. Du solltest ihr dankbar sein und sie nicht verhöhnen!“

„Wie kommst du darauf, dass ich deswegen bockig bin?“

„Verdammt, sag mir was mit Kovu ist!“

„Du wolltest ja beim Rudel schlafen.“

„Von dem Zeichen der Hexen, dass deinen Körper ziert, davon spreche ich!“

„Wusstest du, dass dein linkes Auge zuckt, wenn du lügst?“

„Schhh, nicht weinen.“

„Wir haben doch noch unsere Erinnerungen. In unseren Erinnerungen können wir uns sehen.“

„Ich werde mich weder entschuldigen, noch verstellen, nur damit du deine rosarote Brille nicht abnehmen musst. Wir sind Tiere, Talita, begreif das endlich. Du bist nicht anders.“

„Ich versteh dich nicht. In dem einen Moment fällst du fast wie eine aggressive Wölfin über mich her und im nächsten verwandelst du dich in ein kleines, schüchternes Kätzchen.“

„Ich lüge nicht.“

„Es ist das Richtige. Der Testiculus ist mein Weg und daran wird sich auch nichts ändern.“

„Ich mag dich, wirklich, aber nicht so wie …“

„Willst du denn noch nach Hause?“

So viele Erinnerungen von ihm strömten auf mich ein und ließen mein Herz in einen viel zu schnellen Rhythmus schlagen. Aus der anfänglichen Angst vor ihm, hatten sich bei mir sehr schnell andere Gefühle entwickelt und ich war mir fast zu hundert Prozent sicher, dass es ihm nicht anders ging – auch wenn er es bestritt.

Das Bild von unserm ersten und auch einzigen Kuss erregte meine Aufmerksamkeit. Sein verklärter Blick, diese Lippen …

An das Gefühl seiner Lippen auf meiner Haut konnte ich mich nur zu gut erinnern und auch, wenn wir uns seit diesem Tag nicht mehr so nahe gewesen waren, reichte allein die Erinnerung daran aus, mir noch immer ein mehr als angenehmes Kribbeln über die Haut zu jagen.

„Wir haben doch noch unsere Erinnerungen. In unseren Erinnerungen können wir uns sehen.“

Und das war auch der einzige Ort, an dem wir uns so nahe sein konnten. Seit diesem letzten Tag an den Drachenfelsen hatte er alle meine Annäherungsversuche ignoriert und ich hatte das Gefühl, dass er sich mit jedem Treffen weiter von mir entfernte.

Seufzend betrachtete ich das Bild, während Veith Stimme weiter um mich herum erscholl.

„Was, dass du durch einen Spiegel gefallen bist? Cool.“

Diese Stimme gehörte nicht Veith, sondern seinem kleinen Bruder Kovu.

„Ich bin Prisca, die Alphahündin vom Wolfsbaumrudel. Du bist in mein Territorium eingedrungen.“

Verwundert drehte ich mich auf der Suche nach dem Ursprung herum, nur um zu entdecken, dass der Korridor um mich herum sich von einer Minute auf die andere gänzlich veränderte.

„Ich bin hier die Heilerin. Du willst, dass ich ihr helfe, also lass mich meine Arbeit so tun, wie ich es für richtig halte. Ich rede dir in deine auch nicht drein.“

„Nein, das sagt mir genauso wenig wie dieser Batman, oder das seltsame Wort, das du vorhin benutzt hast. Amne … äh.“

Die Sternenlichter über mir wurden so gleißend hell, dass sie mich blendeten.

„Schick sie einfach fort, jag sie aus dem Wald. Es ist nicht an uns, ihre Probleme zu lösen.“

Die Erinnerungen von Veith wurden ersetzt durch alles, was ich in den letzten hundertachtundvierzig Tagen erlebt hatte, immer wieder mit einer Prise von dem Vergangenem, nach dem ich mich so lange gesehnt hatte.

„Du hast sie, Katze, du hast sie geholt und nun bist du zurückgekommen und jetzt sagst du mir, wo sie ist, sonst reiße ich dir die Kehle raus!“

Leider wurde mir nur das gezeigt, was ich bereits kannte.

„Ja, ein Löwin. Ich komme eigentlich aus dem Sommerland, aber … ich bin als Kind hergekommen und aufgewachsen. Ich gehöre jetzt in dieses Rudel, das hier ist mein Zuhause.“

Immer schneller wechselten die Bilder.

Wulf, der Vater von Isla, der mich bei unserer ersten Begegnung fressen wollte.

„Ich frage nur noch einmal, was hast du mit Isla gemacht, wo hast du sie hingebracht?“

Fang, der Vater von meinem besten Freund Pal.

„Freunde dich nicht zu sehr mit Pal an. Du weißt, dass du gehen musst und er nimmt sowas immer sehr schwer.“

Tyge, der Vater von Kovu und Veith.

„Du schnurrst.“

Prisca, die Alphahündin vom Wolfsbaumrudel.

„Ob es nun ein Zeichen des Bösen ist, wie sie es gesagt hat, oder nur eine Hautverzierung, vielleicht sogar wirklich das Zeichen einer Hexe, derer sie hörig ist, es ist egal. Ich glaube ihr, dass sie ihre Erinnerung verloren hat. Es spricht sehr viel dafür. Nicht nur ihre Worte und Beteuerungen, auch ihr Verhalten.“

Die Drillinge Banu, Febe und Naara, bei denen ich immer Kopfschmerzen bekam, wenn sie sich mit mir unterhielten.

„Was nein?“

„Damit meint sie, dass das nicht ihr Name ist.“

„Aber wie heißt sie denn dann?“

„Das hat sie immer noch nicht gesagt. Also Mädchen, sag es uns, wir werden auch nicht jünger.“

Mein Mentor Djenan und seine beiden Angestellten Catlin und Feriin.

„Nicht wenn du mir in der Sonne stehst, also kusch.“

„Ich bin nicht hier, um dir das Köpfchen zu tätscheln, oder dir dein Leben so angenehm wie möglich zu machen, sondern um dich zu lehren, was es heißt, einer von uns zu sein.“

Ich sah so viele. Saphir, Grey, Raissa, Kaj, Anwar, Erion, Rem, Boa, Jago, Gaare, Julica, Isla, Recep, der Gefährte von Djenans Nichte Obaja, Pal, Veith und dazwischen immer wieder Gesichter aus einer Vergangenheit, an die ich mich kaum erinnern konnte. Ich wurde von Erinnerungen geradezu überschüttet.

Verdammt, was war hier eigentlich los?

 

°°°

 

„Du hast also keine Erklärung dafür“, fasste ich Gaares verwirrende Ausführungen zusammen.

Der Magier, der so knochig war, dass es den Anschein hatte, dass sein Skelett einfach nur mit einer Schicht aus Haut überzogen war, damit die Knochen nicht auseinander fielen, beugte sich leicht vor. Dabei rutschte die dicke Brille auf seiner Nase ein Stück herunter. „Das habe ich nicht gesagt, ich habe nur gesagt, dass es ungewöhnlich und unklar ist. Du musst immer daran denken, dass ich mich noch nie mit einem Fall wie deinem befasst habe. Ich kann mir deine Erzählungen nicht erklären.“

„Vielleicht war es einfach an der Zeit“, schaltete sich Pal ein. Er saß neben mir und beobachtete den grauhaarigen Magier mit der schäbigen, grünen Robe leicht angeekelt. Nicht, dass er etwas gegen den Mann an sich hatte, er mochte keine Magier. Lykaner und Magielenker hatten eine lange Geschichte hinter sich und keiner der beiden Seiten war der anderen sonderlich zugetan. Außerdem wusste er in der Zwischenzeit von mir, dass Gaare es gewesen war, der mir geholfen hatte, Kaj vor dem Kittchen zu bewahren und sie wieder zu einem angesehenen Mitglied der Gesellschaft zu machen – naja, so mehr oder weniger. Erst musste Kaj noch ihre Bewährungsstrafe abarbeiten.

Interessiert neigte Gaare den Kopf zur Seite. „Was meinst du damit?“

„Na ja, ist doch ganz klar.“

So klar fand ich das gar nicht. Ich hatte sicher das gleiche Fragezeichen im Gesicht, wie Gaare.

„Talita lebt nun schon so lange bei uns. Vielleicht ist es wie bei den Verlorenen Wölfen und sie – beziehungsweise ihr Kopf – brauchte einfach nur Zeit, um sich zu erholen, regenerieren, wieder zu sich selbst zu finden.“

„Du meinst, dass meine Erinnerungen jetzt nach und nach zurückkehren werden?“, fragte ich hoffnungsvoll.

Er zuckte nur mit den Schultern. „Wer weiß? Alles ist möglich.“

Beide wandten wir uns Gaare zu, dem Fachmann unter uns, den Guru des Wissens, die Antwort auf jede meiner Fragen – na gut, fast jede.

„Natürlich ist das eine Möglichkeit um dein Erlebnis heute im Korridor der Erinnerungen zu erklären. Eine Art Eruption, die diese Flut ausgelöst hat, aber genauso gut könnte es ein einmaliges Erlebnis gewesen sein. Ich will dir deine Hoffnungen nicht nehmen, meine Liebe, aber du solltest dich nicht zu sehr an das Geschehene klammern, es könnte sein, dass es sich nicht wiederholen wird.“

Und da flog er hin, mein Hoffungsschimmer. „Du solltest auf keinen Fall Motivationstrainer werden, darin bist du nämlich ´ne Niete.“ Seufzend lehnte ich mich zurück und rieb mir übers Gesicht.

„Ich sage dir nur die Wahrheit, weil schönreden in diesem Fall nichts bringen würde.“

„Trotzdem hätte man das ein wenig anders formulieren können“, grummelte Pal und legte mir eine Hand aufs Knie.

„Ist schon gut.“ Es war das erste Mal, dass außer Gaare noch jemand anwesend war, als ich hypnotisiert wurde und wahrscheinlich auch das letzte Mal. Als die Erinnerungen für mich zu viel wurden, hatte Gaare die Sitzung abbrechen müssen und mich aus dem Schlaf gerissen. Einen Moment war ich so verwirrt gewesen, dass ich fast nach dem Magier geschlagen hätte. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich ausgesehen hatte, oder was Gaare dazu veranlasste, mich zurück in die reale Welt zu holen, doch Pals Gesicht hatte Bände gesprochen. Egal, was mit mir losgewesen war, es hatte ich beunruhigt.

Ich ließ die Hände auf das Polster der Couch sinken. „Nun gut, so kommen wir nicht weiter. Ich denke, es ist Zeit zum Gehen.“

„Genau“, stimmte Pal mir zu und erhob sich bereits auf die Beine. „Wir sind nämlich noch zu einer Party eingeladen.“

Und auf der wollte ich unter keinen Umständen fehlen, schließlich drehte es sich dabei um Veith.

„Tut das. Wir sehen uns dann … nein, warte, dass hätte ich ja fast vergessen. Ich habe mich an einen weiteren Hexenzirkel gewandt und unsere Chancen stehen recht gut, dass sie dich ihr Portal benutzen lassen.“

Ihr Portal, das mich zurück in meine Welt bringen würde. Nur leider hatte Gaare mir diesen Satz im vergangenen Jahr bereits so oft gesagt, dass ich an seine Worte nicht mehr recht glauben konnte. „Das hört sich gut an“, sagte ich dennoch. „Ich hoffe, du hältst mich auf dem Laufenden.“

„Aber natürlich, meine Liebe, so wie immer.“

Die Verabschiedung die folgte, war kurz und Pal konnte es scheinbar nicht schnell genug gehen, aus der kleinen Wohnung zu entkommen, die so vollgestopft mit Büchern war, dass man sich darin kaum bewegen konnte. Ich wusste wovon ich redete, ich hatte schließlich eine Zeitlang bei dem Magier gewohnt.

„Puh“, machte Pal, als wir draußen auf der Straße standen. „Ich dachte schon, wir kommen da nie mehr raus.“

„Angst eine heiße Sause zu verpassen?“

Pal runzelte verwirrt die Stirn, wie immer, wenn ich etwas sagte, was er nicht verstand. „Sause?“

„Party, Feier, Fest, Fete, gesellschaftliche Zusammenkunft, auf der man richtig die Sau rauslassen kann.“ Ich grinste ihn frech an. „Such dir etwas aus.“

„Sause gefällt mir ganz gut.“

In der magischen Welt gab es nur eine Sprache und auch wenn diese meiner Heimatsprache sehr ähnlich war, gab es Begriffe und Ausdrücke, die hier unbekannt waren. Natürlich auch anders herum. Ich war mir bis heute nicht ganz sicher, ob ich hier wirklich meine Muttersprache sprach, oder ob ich mich irgendwie auf einem magischen Weg angeglichen hatte – also sprachlich meine ich –, ohne es zu bemerken, denn mal ehrlich, das wäre doch wirklich zu viel des Zufalls, wenn die hier ausgerechnet meine Sprache sprechen würden. „Na dann lass uns mal los, damit wir die Sause nicht verpassen.“

Kutschen, die von Glatisants gezogen wurden, fuhren zusammen mit berittenden Greifen an uns vorbei, während wir die Straße herunterliefen. Überall dazwischen glitten riesige, seitlich gelegene Regentropfen an uns vorbei. Nun gut, eigentlich waren das keine Tropfen, es waren Moobs. Das hiesige Moob war das Analog zum Auto. Es sah aus wie … naja, wie ein riesiger Tropfen eben. Es hatte keine Räder, sondern glitt mit Hilfe der Magie über das Glas. Nein, ich war nicht besoffen, ich meinte es genauso, wie ich es sagte. Die ganze Stadt, jedes einzelne Bauwerk bestand hier aus Glas, auch die Straße, über die die Regentropfen flogen.

Gott, ich hörte mich wirklich wie eine Irre an. Höchste Zeit für einen Themawechsel. „Sag mal, verrätst du mir jetzt endlich, was heute gefeiert wird?“ Ich starb hier schließlich mittlerweile vor Neugierde, da wäre eine kleine Information, um dem entgegenzuwirken, doch wohl das Mindeste, aber er blieb eisern und schüttelte nur lächelnd den Kopf.

„Lass dich einfach überraschen.“

„Ich mag keine Überraschungen.“

„Ich muss dir gestehen, dass mich das nicht wirklich stört.“

Ich steuerte ein silbernes Moob am Straßenrand an, öffnete die Tür durch eine einfache Berührung – ja, in der Zwischenzeit war ich stolze Besitzerin eines eigenen Moobs und ich besaß auch den dazu passenden Schein, der bestätigte, dass ich damit fahren durfte – und schwang mich hinters Steuer, was bei diesem Fahrzeug ein Joystick war. „Wenn ich vor Neugierde umkomme, dann bist du daran schuld, das ist dir hoffentlich klar.“

„Ich werde es mir merken.“

Seufz.

Sobald Pal seinen Hintern auf dem Sitz neben mir geparkt hatte, lenkte ich das Moob auf die Straßen und fuhr – oder besser glitt, weil ein Moob ja keine Räder hatte, sondern mithilfe von Magie fuhr – zum Park meiner Schützlinge.

 

°°°

 

Der Besuch bei den Verlorenen Wölfen war nur kurz, um nach dem Rechten zu sehen und Saphir darüber zu informieren, dass ich erst morgen Abend wieder in der Stadt sein würde. Kanin war mit ihrer Verwandlung noch nicht vorangeschritten, nahm sich meinen Ratschlag aber wohl endlich zu Herzen und versuchte, das weitere nicht zu erzwingen – fragte sich nur, wie lange dieser Zustand anhielt.

Nachdem ich Grey noch schnell in den Zwinger gesperrt hatte, um ihn mit seiner täglichen Futterration zu versorgen, war ich auch schon wieder zurück im Wagen und fuhr mit Pal so nahe an den Wolfsbaumwald heran, wie es mir möglich war.

Als wir ausstiegen, war es bereits früher Nachmittag. Die knallende Sonne heizte zwar noch heiß vom strahlendblauen Himmel, aber wenn wir noch vor der Dunkelheit auf dem Festplatz sein wollten, mussten wir uns ein wenig ranhalten. Pal machte das natürlich kurz und bündig, indem er einfach völlig ungeniert seinen Lendenschurz fallen ließ und der Mann zu einem Wolf wurde. Wieder mal schaffte ich es nicht, mich rechtzeitig wegzudrehen und konnte innerlich nur seufzen. Diese Werwölfe besaßen wirklich nicht den Hauch von Schamgefühl – das war echt zum Haareraufen.

Auch ich verwandelte mich. Nein, ich war kein Lykaner, ich war sogar zu einem Großteil ein Mensch und doch hatte ich in dieser Welt die Fähigkeit erlangt, mich in ein anderes Wesen zu wandeln. Genau gesagt, war ich ein halber Therianer, eine Werkatze. Schneeleopard, um ganz genau zu sein.

Wie mein Mentor, Freund und irgendwie Papa es mich gelehrt hatte, schloss ich meine Augen und suchte nach diesem kleinen Punkt tief in mir, der meine eigene Magie beherbergte. Allein durch meinen Willen öffnete ich diese kleine Kapsel, die direkt unter meinem Herzchen saß und konnte spüren, wie der Zauber durch jede Zelle meines Körpers drang und mich wie Wasser überlief. Ich spürte ein angenehmes Kribbeln, fühlte wie meine Hände, meine Füße und mein Gesicht sich leicht verformten.

Als ich die Augen wieder aufschlug, war ich eine perfekte Mischung aus Mensch und Schneeleopard auf zwei Beinen. Ich hatte am ganzen Körper weißes Fell, mit dunklen Rosetten, die nur an den Stellen verdeckt wurden, wo ich meinen grünen Lendenschurz, mit dem passenden Oberteil trug. Eigentlich waren mir Klamotten, die den ganzen Körper bedeckten lieber, aber mit dem Fell juckte das immer unangenehm, weswegen ich mich dem örtlichen Kleidungsstiel angepasst hatte. Dies beinhaltete auch, dass ich keine Schuhe trug – oder nur sehr selten. Und um auch jede weitere Unstimmigkeit auszuschließen, ja, ich besaß auch einen langen Schwanz, der für mein Gleichgewicht sorgte, wenn ich über die Äste der Bäume bilanzierte.

Das Einzige, was meine Kleidung von jedem anderen Bewohner dieser Orts unterschied, war die Schlaufe, die ich über der linken Schulter trug, um das Tattoo eines Pentagramms darunter vor den Augen der Öffentlichkeit zu verbergen. Es war das Zeichen der Hexen, ein machtvolles Emblem, auf das viele mit Vorsicht und Misstrauen reagierten.

„Bist du soweit?“, fragte der große, rote Wolf mit Pals Stimme neben mir. Auch in seiner Wolfsgestalt sah man die Brandnarbe in seinem Gesicht, die verzerrte Haut, auf der kein Haar mehr wuchs. Es sah, gelinde gesagt, grotesk aus, aber keineswegs eklig, nur irgendwie … unvollendet.

Ich streckte die Pfote aus und strich dem roten Riesen durchs Fell hinter den Ohren. Pal war der größte Lykaner, der mir je unter die Augen gekommen war, sowohl in seiner Wolfsgestalt, als auch als Mensch … äh, ich meinte natürlich Mortatia. „Ich warte nur noch auf dich, wie immer.“

Pal schnaubte.

„Mal sehen ob du mich einholen kannst.“ Ohne ein Startzeichen zu geben, rannte ich in den Wald vor uns hinein.

 

°°°

 

Die Nacht war bereits über uns hereingebrochen, als ich aus der Ferne die ersten Stimmen wahrnahm. In den letzten Stunden war mir nichts anderes als die Geräusche des Waldes und Pals Stimme ans Ohr gedrungen und so nahm ich diese Veränderung sofort wahr.

Ich drehte meine Ohren und konnte sogar leise Musik hören. Sie mussten noch ein Stück entfernt sein, doch mit einem kurzen Spurt müsste sich diese Distanz leicht überwinden lassen. Am liebsten würde ich einfach losrennen, hauptsächlich um Veith nach Wochen wieder mal zu sehen, aber ich riss mich zusammen und tat so, als hätte ich es nicht sehr eilig.

Pal lachte leise an einer Seite. Vor kurzem hatte er sich wieder in einen Menschen verwandelt und sogar sein bescheidenes Stück Kleidung übergestreift, damit das Nötigste bedeckt war. „Du kannst es wohl kaum erwarten.“

„Wie kommst du darauf?“

„Deine Körpersprache verrät dich. Deine Pfoten zucken, genau wie dein Schwanz.“

Verräterische Gliedmaßen! Aber so schnell würde ich mir keine Blöße geben. „Ich bin halt neugierig, das ist alles.“

„Aber natürlich.“

Dieser Kommentar wurde schlicht überhört. 

Die Nacht war warm und als ich den Schein von verteilen Feuern durch die Bäume flackern sah, ließ ich meine Magie von mir abfließen, um den Rudel als der Mensch entgegenzutreten, der ich war: Talita Kleiber, eine einundzwanzigjährige Figur, die bis heute nicht so recht wusste, wer genau sie war. Aber was ich wusste, war, dass die Lykaner sehr eigen auf Außenstehende reagierten. Deswegen näherte ich mich dem Festplatz nur langsam, obwohl es mich in den Füßen juckte, einfach die letzten Bäume, die mich noch von den Wölfen trennten, hinter mich zu bringen. Nicht, dass ich Angst hatte, sie würde über mich herfallen, wenn ich mich ihnen nicht wachsam näherte, sie mochten Fremde nur einfach nicht sonderlich und ich hatte keine Lust, von ihnen angeknurrt zu werden.

Lachen, singen, Stimmengewirr. Von irgendwo erklang das heisere Bellen eines Wolfes.

„Na nun komm schon, du bist doch sonst nicht so zögerlich.“ Pal ergriff meine Hand und zog mich auf dem Festplatz …

„Talita!“

Ich konnte gar nicht so schnell schauen, wie Kovu gegen mich donnerte. Es war vergleichbar mit einem Brett, das einem vor dem Kopf geschlagen wurde und nur die Tatsache, dass Pal mich festhielt, verhinderte wohl, dass ich einfach auf meinem Hintern landete – und natürlich Kovus Arme, die sich um mich schlangen.

„Ist das Fest nicht der Wahnsinn? Und ich bin endlich alt genug, um daran teilzuhaben!“, schrie Kovu mir begeistert ins Ohr.

Tja, ob das Fest der Wahnsinn war, konnte ich nicht sagen, da ich ja nicht mal einen kurzen Blick hatte riskieren können, bevor er einfach so über mich hergefallen war.

Ich schob ihn ein Stück von mir, um wieder Luft zu bekommen und erwiderte das Lausbubengrinsen, dass er mir zukommen ließ. Sein hellbraunes Haar, das ihm weit auf den Rücken reichte, hatte er wieder zu dem allzu vertrauten Flechtezopf zusammengebunden und mit bunten Perlen und Schnüren verziert, wie bei jeder Feierlichkeit. Er war schmaler als sein großer Bruder, kleiner und überall dort wo Veith Kanten besaß, war Kovu einfach nur weich. Der Kleine war drahtig gebaut, Veith eher muskulös. Kovu konnte allein mit einem Blick einen unwiderstehlichen Charme versprühen und Veith … naja, der hatte auch seine Vorzüge aber Charme hatte ich an ihm bisher noch nie entdeckt. Die beiden unterschieden sich wie Tag und Nacht. Nur die Farbe der Haare und der Augen hatten sie gemeinsam.

„Seit wann bist du hier?“, wollte Kovu dann wissen und zog mich mit sich auf den Festplatz. Überall standen, saßen und tanzten Lykaner. Mehrere riesige Feuer waren aufgetürmt worden und schlugen ihre Flammen Richtung Himmel. Ich konnte kein Buffet entdecken, aber irgendwo hier musste es so etwas geben. Davon abgesehen, dass hier lauter Werwölfe mit Essen in den Händen rumrannten, war es auch ein Ding der Unmöglichkeit, dass diese Leutchen hier eine Fete veranstalteten, auf der sie sich nicht den Wanst vollhauen konnten. Werwölfe aßen für ihr Leben gerne, auch wenn man ihnen das nicht ansah.

„Talita, hörst du mir überhaupt zu?“ Kovu stieß mir seinen Ellenbogen in die Seite, um meine Aufmerksamkeit zu erlangen.

„Was hast du gefragt?“

„Seit wann du hier bist.“ Er grinste frech. „Suchst du etwas bestimmtes, oder warum guckst du dich so genau um?“

Da er nur auf seinen Bruder anspielen konnte – womit er leider auch noch recht hatte – wurde diese Frage schlichtweg überhört. „Ich bin gerade erst gekommen. Pal hat mich abgeholt.“

„Von dir Zuhause?“, fragte er leicht verunsichert und warf dem roten Riesen einen schnellen Blick zu.

„Na von wo denn sonst? Glaubst du, ich habe ihm die Tür wieder vor den Nase zugeschlagen, oder ihn die Nacht auf einer Parkbank schlafen lassen?“

„Und was ist mit …“ – wieder ein schneller Blick – „… du weißt schon.“

Pal zog eine Augenbraue nach oben. „Meinst du Kaj und Raissa?“

„Äh …“

Pal kniff die Augen zusammen und musterte den Jüngeren auffallend. „Soll das heißen, dass du von den beiden gewusst hast?“

„Naja, dass heißt … oh, habt ihr das gehört? Da hat mich jemand gerufen. Wir sehen uns dann später.“ Und schwupp, schon war der Kleine davon geflitzt – okay, er war eigentlich nicht klein, sogar ein Stück größer als ich, aber er war eben Kovu und Kovu war mein Kleiner.

„Da hat niemand gerufen“, stellte ich fest. Kleiner Feigling.

„Kovu hat von Kaj gewusst“, richtete Pal nun die Anklage direkt an mich.

„Oh, schon so spät.“ Ich sah auf mein Handgelenk, wo natürlich keine Uhr war. „Zeit für mich zu gehen.“ Einen Schritt weit kam ich, bevor seine Hand mich am Arm packte und ich mich resigniert von ihm zurückziehen ließ. Mir blieb heute aber auch gar nichts erspart, seufz. „Ja, Kovu hat es gewusst“, gab ich mich letztendlich geschlagen. Ich drehte mich zu Pal um und konnte leichte Enttäuschung in seinen Augen lesen. Dass ich mich dem Kleinen anvertraut hatte und ihm nicht, traf ihn wohl. „Ich hab es ihm nicht gesagt, er ist … irgendwie ist er da reingerutscht. Er war damals dabei, als Kaj uns in ihrem kleinen Wutausbruch, all ihre dunklen Geheimnisse um die Ohren gehauen hat und naja, ich musste doch dafür sorgen, dass Kovu sie nicht weiter verrät. Nur deswegen weiß er Bescheid.“

„Aber mir hast du nichts gesagt.“

Meine Verschwiegenheit kränkte ihn wohl mehr, als ich angenommen hatte. „Ja aber auch nur, weil ich nicht wollte, dass du dich aufregst. Du hattest genug mit dir selber zu tun.“ Ich legte ihm eine Hand auf den Arm, fühlte die straffe Haut und seine Wärme. Das war mir so vertraut, dass es mich selber immer wunderte, wenn es mir von neuem auffiel. „Komm schon Pal, wir sind doch hier um zu feiern.“ Ich sah ihn flehentlich an und hoffte, dass er das Thema endlich ruhen lassen würde.

Er seufzte schwer, strich sich mit der freien Hand durchs rote Haar und setzte dann sein halbes Lächeln auf. Auch wenn es nicht wirklich echt wirkte, war ich froh es zu sehen. Es sagte mir, dass er es versuchen wollte. „Du hast Recht. Los, komm, schmeißen wir uns ins Getümmel.“

Seinen Worten folgten Taten. Ich begrüßte noch ein paar andere Bekannte, ließ mich von Kovus Vater Tyge in eine feste Umarmung ziehen, die mir die Luft aus den Lungen trieb und gesellte mich sogar einen Moment zu den Drillingen, den Großmüttern von Veith, Pal, Kovu und Isla. Aber lange hielt ich es bei ihnen nicht aus. Es war gar nicht so einfach, ihnen zuzuhören. Sie redeten immer gleichzeitig auf einen ein und aus jedem Gespräch mit ihnen, ging ich mit Kopfschmerzen hervor.

Ich begrüßte Domina und winkte von weitem sogar Wulf, dem Vater von Isla, der bei unserer ersten Begegnung versucht hatte, mich zu fressen. Das Verhältnis zwischen uns war seit dem ersten Treffen etwas entspannter geworden – was wohl damit zusammenhing, dass ich auf seine Tochter aufpasste – aber wirklich herzlich würden wir beide wohl nie miteinander werden.

Pal zog mich um riesige Lagerfeuer herum, an einem Platz mit lauter Schalen vorbei, in denen bunte Farben waren, zu einen kleinen Teil abseits, an dem das Essen versteckt war, nur nicht gut genug für Werwolfsnasen. Mit diesen Riechkolben fanden die wirklich alles. Zwei Dinge fielen mir bei unserer Wanderung auf – naja, eigentlich drei, aber dass ich Veith nicht entdecken konnte, gehörte hier wohl nicht hier her. Erstens: viele Frauen trugen um ihren linken Oberarm, ein rotes Seidenband. Schon bei meinem ersten Blick darauf, kamen mir Pal Worte von meinem ersten Tag auf der magischen Ebene wieder ins Gedächtnis. Die Frauen befestigen es an ihrem Oberarm. Für die Männer. Damit wird uns Männern signalisiert, dass ihr Frauen willig seid. Also wenn du es tragen möchtest, nur zu. Das hatte er zu mir gesagt, als ich ein solches Band in einer Kiste fand. Natürlich hatte ich es nicht angezogen – das wäre ja noch schöner gewesen. Hier allerding trugen drei von vier Frauen dieses Band und langsam bekam ich ein komisches Gefühl. Was war das nur für eine Party?

Das Zweite, das mir auffiel, war, das hier nicht nur Lykaner aus dem Wolfsbaumrudel waren. Ich erkannte Sinssi und Crypos mit ihrem Alpharüden Najat aus dem Steinbachrudel. Genau wie die Alphawölfin Cui aus dem Rudel der Höhlenwölfe. An ihrer Seite, immer in ihrer Nähe entdeckte ich Karan, einen der überlebenden Wölfe von Erion, der zwar nie in meiner Obhut gewesen war, aber seinem Bruder Van wie aus dem Gesicht geschnitten war und an Van konnte ich mich sehr gut erinnern. Van war gestorben und hatte mich dabei – ob nun mit Absicht oder nicht –gerettet, sonst würde ich bereits seit sehr langer Zeit bei den Fischen schlafen.

Langsam aber sicher wurde diese Party immer merkwürdiger. Was hatten zwei andere Rudel hier zu suchen, wo die Lykaner doch sonst alles anknurrten, was nicht zum inneren Kreis gehörte? Und wie passte Veith da ins Bild? „Sag mal Pal, was wird hier denn nun gefeiert?“

Pal stockte kurz, warf mir dann seinen seltsamen Blick zu und schob sich das Piru – das garantiert seine Tante Boa gebacken hatte – in den Mund. „Das wirst du schon noch sehen“, kaute er sehr unappetitlich.

„Mach den Mund doch noch ein bisschen voller, dann kannst du beim Sprechen auch noch ein wenig spucken.“

Pal grinste und lehnte sich mit dem Rücken an den Tisch. „Ein wenig kratzbürstig, wie?“

Ich verkniff es mir, darauf etwas zu erwidern, sondern drehte mich einfach mit den Worten „Ich seh mich mal ein wenig um“ von ihm weg und verschwand in der wogenden Menge. Natürlich sah ich mich nicht einfach nur so um, ich war auf der Suche nach einem ganz bestimmten Wolf. Hier irgendwo musste er doch sein. Laut Pal war das schließlich seine Party und außerdem hatte er mich eingeladen, da war es doch das Mindeste, dass ich wenigsten Hallo-sagen ging. Schade nur, dass hier so viele Wölfe waren. Es war gar nicht so einfach, das Objekt meiner Begierde ausfindig zu machen. Ich drehte bereits die dritte Runde über den Platz und war kurz davor aufzugeben und es später noch einmal zu versuchen, als ich Veith mit Kovu bei den Drillingen entdeckte.

Ein erleichtertes „na endlich“ konnte ich nicht unterdrücken. Genauso wenig wie das Herzrasen, das mit jedem Schritt in seiner Richtung schneller zu werden schien.

Naara, Febe und Banu hatten sich in einem Meer aus Kissen, zwischen ein paar Bäumen, ein wenig abseits von den anderen, ein Plätzchen gesucht. Kovu lag mit dem Kopf in Banus Schoß und ließ sich den Kopf streicheln. Der Kleine war so verschmust, dass er ohne seine tägliche Portion Streicheleinheiten wahrscheinlich eingehen würde. Aber meine eigentliche Aufmerksamkeit galt allein Veith. So lange hatte ich ihn nicht mehr gesehen – naja, eigentlich nur ein paar Wochen, aber für mich war das eindeutig zu lange.

Er saß im Profil zu mir. Sein hellbraunes Haar war seit unserer letzten Begegnung ein wenig länger geworden. Das Gesicht mir den harten Kanten wirkte ruhig, so wie immer, doch irgendwas schien unter der Oberfläche zu lauern – wahrscheinlich seine Gefühle, die er immer und überall versteckte. Seufz.

Genau wie jeder andere auf diesem Fest trug er nur einen Lendenschurz – ja, auch die Weiber waren in dieser Aussage mit eingeschlossen – aber etwas unterschied ihn von den andern. Um beide Arme, vom Handgeleng bis zur Ellenbeuge, trug er Ärmel aus schwarzem Leder, die mit goldenen Symbolen bestickt waren. War dies das Zeichen, dass es hier heute um ihn ging? Und was bedeuteten diese Zeichen? Ich hatte sie noch nie gesehen.

Als ich nur noch wenige Schritte von Veith entfernt war, schien er meine Anwesenheit zu spüren – vielleicht war es auch mein eindringlicher Blick, der auf ihm lag, oder die Tatsache, dass Kovu lautstark auf mich zeigte, so genau ließ sich das nicht ermitteln. Jedenfalls richtete sich Veiths Blick auf mich. Wie immer war er unergründlich, distanziert.

Lächelnd hob ich die Hand. „Hi, du.“

Er brummte etwas, das mit sehr viel Fantasie als ein „Hallo“ interpretiert werden konnte und wandte sich dann wieder Naara zu, die gerade damit beschäftigt war, ihm einen Stuhl an die Backe zu quatschen.

„… natürlich nicht. Es waren die falschen Kräuter, weil sie wie immer nicht zugehört hat. Und dann war sie auch noch beleidigt, als ich sie aufforderte, erneut in den Wald zu gehen.“

„Sie wollte sich doch noch mit Quinn treffen“, warf Banu ein.

„Junge Liebe muss schön sein“, fügte Febe hinzu. „Ich erinnere mich noch genau an meine erste Liebe.“

„Pah!“, machte Naara, mit einer herablassenden Handbewegung. „Dieser Wolf war zu nichts zu gebrauchen gewesen.“

Febe plusterte sich auf. „Untersteh dich, so von meinem Gefährten zu sprechen!“

Ich setzte mich zu den Wölfen, so nah an Veith heran wie es ging, ohne dabei aufdringlich zu wirken. Schade nur, dass er das anders zu sehen schien, denn er versuchte, unbemerkt von mir wegzurutschen. Das tat echt weh. Zwar versuchte ich mir nichts anmerken zu lassen, aber der Stich saß.

„Dein Gefährte war ein Nichtsnutz“, erwiderte Naara herablassend.

„Ach und deiner war so viel besser gewesen?“

„Das habe ich nicht behauptet. Auch Maron war ein Taugenichts. Die Einzige von uns dreien, die es richtig gemacht hat, war Banu. Die hat sich nicht gleich den Erstbesten gegriffen, sondern auf den Richtigen gewartet.“

Banu lächelte selig, strich Kovu dabei sanft über den Kopf, was der Kleine nur zu gerne über sich ergehen ließ. „Seid nicht so streng. Auch eure Gefährten waren gute Männer.“

Naara schnaubte nur.

Die drei glichen sich wie ein Ei dem anderen und ließen sich nur an einer Sache auseinanderhalten, an ihren Frisuren. Naara hatte ihre Haare zu vielen, langen Zöpfen geflochten, Febe trug ihre lang und offen, sodass sie ihr über die Schultern und Brust fielen und Banu hatte ihr silbergraues Haar zu einen komplizieren Zopf an den Kopf geflochten. Nur vorn waren zwei Strähnen, die mit bunten Holzperlen geschmückt waren.

Banu streckte ihre Hand aus und tätschelte Veit den Arm. „Mach dir keine Sorgen, auch du wirst dein Glück finden. Du wirst schon sehen.“

„Bei mir ist alles in Ordnung, Großmamá Banu.“

„Natürlich ist es das“, sagte Naara brüsk.

„Wir sind so stolz auf dich“, fügte Febe hinzu, „weißt du das eigentlich?“

„Stell nicht immer so dumme Fragen, Febe, das verunsichert den Jungen nur. Natürlich weiß er, wie stolz wir auf ihn sind. Das ganze Rudel ist stolz auf ihn.“

Banu horchte bei den Worten ihrer Schwester auf. „Bist du verunsichert, Veith? Möchtest du darüber reden?“

„Jetzt setz dem Jungen doch nicht solchen Unsinn in den Kopf“, tadelte Naara. „Veith geht es gut, nicht wahr, Junge?“

„Bei mir ist alles in Ordnung.“

Zufrieden mit dieser Aussage, nickten die drei sich zu. Keiner von ihnen schien aufzufallen, dass er seine Worte von vorhin einfach wiederholt hatte und irgendwie konnte ich sie ihm nicht glauben. Aber wegen was sollte Veith verunsichert sein? Warum war das ganze Rudel stolz auf ihn? Was war hier nur los? Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass mir hier etwas Entscheidendes entging und langsam verfluchte ich Pal dafür, dass er mir nicht sagen wollte, was hier eigentlich los war.

„Siehst du, hab ich dir doch gesagt“, kam es triumphierend von Naara. Auch sie streckte die Hand aus und tätschelte Veiths Arm – aber nur ganz kurz. „Heute geht es um dich und wir alle freuen uns für dich. Es wird wirklich Zeit. Ein so junger, gutaussehender Mann.“ Sie lächelte ihn an. „Wir sind wirklich verdammt stolz auf dich, Veith.“

Verflucht noch mal, warum war alle Welt stolz auf Veith? Ich wollte das auch wissen, also konnte ich genauso gut an der Quelle nachforschen. Ich berührte Veith leicht am Arm, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen, doch er entzog sich der Berührung so schnell, als hätte ich ihn verbrannt. Die Kränkung in meinen Augen konnte ich nicht so schnell verbergen, wie er mich ansah und als er sich dann einfach wieder von mir abwandte, schien mein Herz in der Brust zu splittern. Langsam bekam ich das Gefühl, dass ich hier nicht erwünscht war.

Ich wandte den Blick ab, der dann auf Kovu fiel. Erst jetzt bemerkte ich, dass der Kleine, völlig untypisch für ihn, ganz ruhig war. Die ganze Zeit war kein Wort von ihm gekommen. Er wirkte irgendwie abwesend und niedergeschlagen. Nachdenklich lag er im Schoss von Banu und wirkte dabei völlig abwesend.

„Ich geh besser Prisca suchen, es ist bald so weit“, ließ Veith dann verlauten und ich konnte mich nicht dem Gefühl erwehren, dass ich ihn verscheucht hatte.

„Tu das, Junge“, kam es von Naara.

„Aber vergiss nicht, noch mal mit deinem Papá zu sprechen“, fügte Febe hinzu.

Banu lächelte mütterlich. „Wir sind wirklich stolz auf dich.“

„Ich weiß“, sagte er leise und erhob sich. Er wollte gehen, zögerte dann aber noch einen Moment und sah zu dem Kleinen herüber. „Kovu?“

„Was? Oh … ja, viel Glück.“ Die Muskeln in seinem Gesicht vollbrachten etwas, das nach einem sehr verkrampften Lächeln aussah.

„Was ist hier eigentlich los?“, entschlüpfte es mir. Ich sah von Kovu zu den Drillingen und blieb am Ende an Veith hängen. So, wie der Kleine sich hier gab, bekam ich ein ganz übles Gefühl, das ich mir nicht erklären konnte. „Veith?“

„Ich gehe meinen Weg“, sagte er völlig unbestimmt und wandte sich ab, um in der Menge zu verschwinden, aber so einfach würde ich ihn nicht entkommen lassen. Ich sprang auf die Beine und eilte ihm hinterher und bevor er mir entwischen konnte, hielt ich ihn am Arm fest. Bei der Berührung, spannte er die Schultern an, als sei es ihm plötzlich unangenehm, von mir angefasst zu werden. Das schmerzte und zwar richtig, weswegen ich meine Hand sofort wieder wegnahm und nur hoffen konnte, dass er nicht einfach wieder abhaute. „Veith?“

„Ich hab jetzt keine Zeit, Talita.“ Er drehte sich nicht mal um, um mir das zu sagen. Sein Rücken blieb vor meiner Nase und auch wenn der genauso wie der Rest von ihm nett anzusehen war, wollte ich ihm ins Gesicht sehen können. „Es ist … ist alles in Ordnung mit dir?“ Denn auch, wenn du das gesagt hast, so kann ich dir nicht glauben, fügte ich im Geheimen hinzu.

„Mir geht es gut.“

Und warum schaust du mich dann nicht an und bist so seltsam zu mir?! „Ähm … Pal hat mich eingeladen, er hat gesagt, dass du wolltest, dass ich bei deinem großen Tag dabei bin.“

„Kovu wollte dich sehen, ich hab nur mit Prisca gesprochen, damit sie es erlaubt.“ Nun wandte er sich mir doch zu und ich wünschte mir, dass er es nicht getan hätte. Seine Augen waren abweisend, kalt. Der Anblick fröstelte mich.

„Oh“, war alles, was ich herausbringen konnte. Warum war er mir gegenüber heute nur so reserviert? So kannte ich ihn gar nicht, jedenfalls nicht mehr, seit unserer Anfangszeit. „Hab ich etwas falsch gemacht?“

Veith seufzte schwer, als hätte ich eine unsagbar dämlich Frage gestellt. „Hör zu, Talita, ich habe den Kopf im Augenblick mit anderen Dingen voll.“

Geistesabwesend spielte ich mit dem Armband, dass er mir zu meinem Geburtstag geschenkt hatte. Die kleinen bunten Perlen klickten leise aneinander. „Dein Fest, ich versteh schon.“

Beim Anblick des Armbandes, wurde sein Gesicht ungewöhnlich hart. „Nein, tust du nicht, aber du wirst es bald verstehen.“

„Ich …“

„Ich hab jetzt wirklich keine Zeit für dich. Geh zurück zu Kovu, wir haben uns nichts mehr zu sagen.“ Damit drehte er sich um und ließ mich einfach stehen.

 

°°°

 

„Ach hier steckst du. Kovu meinte …“ Pal stockte und beugte sich ein wenig zu mir herunter. „Stimmt etwas nicht?“

„Nein, alles bestens“, gab ich etwas bitter von mir und ließ das Blatt, an dem ich meinen Frust ausgelassen hatte, zu Boden fallen. Naja, Blatt konnte man das nun nicht mehr nennen, eher Konfetti. Kleine, grüne Konfettischnipsel. Biologisch abbaubar.

„Und warum guckst du dann, als sei deine Katze unter einen Zentauren geraten?“

Weil ich versuchte, mir darüber klar zu werden, ob Veith nur etwas Falsches zum Frühstück gegessen hatte, das seine abweisende Haltung erklären würde – denn mal ehrlich, Verdauungsprobleme konnten einem echt auf den Magen schlagen –, oder warum er mir sonst die kalte Schulter zeigte. Ich verstand es wirklich nicht. Klar, in den letzten Monaten hatte er sich immer weiter von mir zurückgezogen, aber dabei war er nie so … gemein gewesen. Sein Verhalten ergab einfach kein Sinn.

„Talita?“

„Mit mir ist alles okay.“

Pal seufzte schwer und setzte sich neben mich auf den Baumstamm, am Rande des Festplatzes. Ich konnte die Lykaner feiern sehen. Dort hinten, halb in den Schatten des Waldes, hatte sich ein knutschendes Pärchen verschanzt. Ein Stück weiter blödelten ein paar junge Männer herum und sahen den Frauen mit den roten Bändern am Arm hinterher. Pals Eltern, der stämmige Fang und seine Gefährtin Rem, von der Pal seine Größe und seine Haarfarbe geerbt hatte, tanzten wild durch die Menge. Lachen drang an mein Ohr.

Ich sah so vieles, nur Veith, den sah ich nicht. Und auch keine Kinder. Das fand ich schon seltsam, da die Kleinen bei Feierlichkeiten meist wie die Wilden zwischen den ganzen Erwachsenen herum flitzten. Aber heute war keines von ihnen zu finden.

Pals warme Hand legte sich auf mein Knie und drückte es tröstend. Lykaner spürten es instinktiv, wenn etwas nicht stimmte und Berührungen waren ihre Art die Dinge zu heilen. Am Anfang war das für mich schwer zu ertragen gewesen. Ich hatte geglaubt, Werwölfe seinen Monster und wer wollte sich schon gerne von einem Monster anfassen lassen? Ich jedenfalls nicht. Aber Lykaner berührten sich unentwegt, bei sich jeder nur bietenden Gelegenheit. Das war einfach eine Art ihrer Kommunikation.

„Weißt du, Talita, manchmal …“

„Es geht los!“ Die sehnige Gestalt der blonden Werlöwin Domina eilte an uns vorbei. Mit einem Wink gab sie Pal und mir das Zeichen, ihr zu folgen und dann war sie auch schon in der Menge verschwunden.

„Was geht los?“

Pal machte den Mund auf und verschloss ihn beinahe in der gleichen Sekunde wieder. Dann nahm er meine Hand und zog mich mit sich auf die Beine. „Das wirst du gleich sehen.“

Ich kniff die Augen zusammen, war doch mehr als deutlich, dass er im ersten Moment hatte etwas anderes sagen wollen, ließ mich aber dennoch von ihm mitziehen.

Der Strom der Menge trieb uns auf die Mitte der Lichtung zu, wo ich die drei Alphawölfe Prisca, Najat und Cui entdeckte. Bis ganz nach vorn zog Pal mich. Die drei Oberhäupter der Rudel standen mit fünf Männern in der Mitte der Lichtung. Prisca, der Rudelalpha der Wolfsbaumwölfe, war eine schlanke, durchtrainierte Frau in den Vierzigern. Um ihre Augen und die Mundpartie zeigten sich die ersten Fältchen. Sie hatte tiefschwarzes Haar, das von ein paar weißen Strähnen durchzogen war. Seit dem Tod ihrer Tochter Julica vor einem knappen Jahr, waren es deutlich mehr geworden – als wenn dieser Verlust sie vorzeitig altern ließ. Auch ihre gelben Augen hatten nur noch einen trüben Glanz und diese Aura von Macht, die jeder Alpha ein eigen nennen konnte, schien heute nur noch dumpf vorhanden.

Vor Jahren bereits hatte sie ihren Gefährten an eine Seuche im Lager verloren und nun ihre Tochter an einen geisteskranken Magier. Manchmal fragte ich mich wirklich, wie die Frau es schaffte, nicht zugrunde zu gehen,  trotzdem weiterzumachen. Es konnte nicht einfach sein, soviel stand fest.

Der zweite Alpha in der Truppe, ein kleiner, schmaler Mann, mit olivfarbener Haut und einen Touch vom Thailändischen, war Najat, der erste Wolf vom Steinbachrudel. Er ging mir gerade mal bis zur Schulter und war eher athletisch als kräftig und auch wenn seine Statur nicht gerade einschüchtern wirkte, so sollte man diesen Mann nicht unterschätzen. Er war nicht umsonst Alpha eines der größten Rudel hier in der Gegend.

Cui, die Alphawölfin der Höhlenwölfe besaß ebenso tiefschwarzes Haar wie Prisca, nur war ihres kurz geschnitten und leicht wellig. Sie war schlank, durchtrainiert, von durchschnittlicher Größe. Ihre gelben Augen, genau wie der rote Lendenschurz, den jeder aus ihrem Rudel trug, stachen wie Mahnmale an ihr hervor. Sie sagten nur zu deutlich: „Leg dich besser nicht mit mir an, wenn du alle deine Zähne behalten willst.“

Unter den fünf Männern, die bei ihnen standen, war auch Veith. Sie trugen alle diese Lederärmel, mit den goldenen Schriftzeichen und sahen damit aus, wie ein paar … nun ja, das Wort Sonderangebote kam mir in den Sinn – obwohl Sonderangebot hier wohl der falsche Ausdruck war. Sie waren eher sowas wie teure Luxusartikel, die man nur mit einem sehr großen Geldbeutel erwerben konnte – eine exklusive, limitierte Auflage eben. Aufgereiht standen sie da, zur Schau gestellt, als warteten sie nur darauf, dass man sie einsackte.

Neben Veith war mir noch Jago aus dem Wolfsbaumrudel bekannt. Am roten Lendenschurz erkannte ich, dass der Schwarzhaarige ein Lykaner der Höhlenwölfe sein musste und die thailändischen Züge der anderen beiden, wiesen sie als Wölfe des Steinbachrudels aus.

„Zehn Jahre ist es her“, erhob Cui die Stimme und zog damit aller Aufmerksamkeit auf sich. Gespräche verstummten, Ohren wurden aufgestellt, alles war gespannt auf die folgenden Worte – inklusive mir. Jetzt würde ich vielleicht endlich herausbekommen, was hier eigentlich ablief. „Vor zehn Jahren sind wir das letzte Mal zusammengekommen und nun ist es wieder soweit, das Blut zu teilen, um fortzubestehen.“

Blut? BLUT? Was meinte sie mit Blut? Verdammt, war ich hier in einem satanistischen Ritual gelandet?

„Fünf Lykaner haben sich bereit erklärt zu gehen, damit wir leben können.“

Fünf Lykaner haben sich bereit erklärt zu gehen, damit wir leben können.

Zu gehen, damit wir leben können.

Zu gehen …

Während ich plötzlich bis ins Mark fror, brach um mich herum beifallender Jubel aus, der durch den ganzen Wald schallte. Sollte das hier ´ne Opferzeremonie werden, oder was? Und … und … die Opfer … mein Blick huschte zu Veith und den anderen vier Männern. Drei von ihnen lächelten, einer war auffällig nervös und Veith zeigte sich wie immer unergründlich, als würde ihn nichts berühren. Nur eines hatten die fünf gemeinsam – abgesehen davon, dass sie alle Männer waren und sich hin und wieder einen Pelz wachsen ließen, gegen den keiner Laserbehandlung ankam – eine innere Unruhe, die ich bis hier her spüren konnte.

Das Lächeln in den Gesichtern wirkte falsch und hinter der eisernen Fassade von Veith lag etwas verborgen, dass er niemanden sehen lassen wollte. Unwohlsein? Beklemmung? Angst?

„Sie werden gehen und damit die nächste Generation sichern!“

Ein paar Lykaner warfen ihre Köpfe in den Nacken und jaulten ihre Freude in die Nach hinaus, während vor meinem inneren Auge plötzlich spitze Athamen und Opfertische wie bei den alten Mayas auftauchen sah, die, getränkt vom Blut der Opfer, rot waren. Plötzliche Angst schnürte mir die Kehle zu und erst als Pal mir besorgt die Hand auf den Arm legte, merkte ich, wie ich zitterte. „Hey, was ist denn los? Verdammt, du bist eiskalt und total blass.“

Meine Hand verschwand zwischen seinen, in dem Versuch, sie wieder warm zu reiben, nur war die Kälte in mir nicht so einfach zu verbannen.

Mit einer Geste brachte Cui die Lykaner wieder zum Verstummen. „Heute feiern wir das Fest der Testiculus, damit wir fortbestehen können!“

„Tes-tes …“ Mein Stottern ging in der folgenden Begeisterung unter. Ich schaffte es gar nicht, das Wort zu beenden. Seit es mir das erste Mal zu Ohren gekommen war, hatte ich viel darüber nachgedacht, aber niemals hätte ich damit gerechnet, dass damit eine Art Blutritus verbunden war. Und dafür hatte Veith sich freiwillig gemeldet, damit sein Rudel auf ihn stolz war? Wie konnte er nur? War sein Leben etwa nichts wert? Dieser Idiot! Dieser gehirnamputierte Blödmann, mir war sein Leben etwas wert! – aber das zählte hier wohl nicht.  

„Hey, Talita?“ Pal beugte sich zu mir vor, aber ich hatte nur Augen für Veith. Er hatte mir einmal gesagt, der Testiculus sei sein Weg. Warum? Warum wollte er sterben? Das ergab doch keinen Sinn. „Talita, hey, was ist los?“

„Unsere Testiculus“, rief Cui aus. „Larium, Jago, Veith …“

„Nein!“ Der laute Schrei kam von mir und hatte nicht nur einen Blick zur Folge. Aber das war mir egal. Sollten sie doch alle machen, was sie wollten, aber keiner würde Veith auch nur ein Haar krümmen! „Lass mich!“, zischte ich Pal an, weil er mich zurückhielt, als ich zu Veith wollte.

„Verdammt, Talita, was … au! Hör auf damit, was …“

„Ich lass das nicht …“

„Was ist hier los?!“, donnerte Priscas Stimme zu mir herüber.

„Das könnt ihr nicht machen!“, rief ich über den ganzen Platz und sah zu Veith herüber, dem wie schon bei unserer ersten Begegnung eine steile Falte auf der Stirn stand. Er wirkte nicht ängstlich, eher verdutzt. Warum hatte er keine Angst? Sie wollten sein Blut!

„Was können wir nicht machen?“

„Das mit den Männern, ihr könnt sie doch nicht bluten lassen!“ Das konnten sie nicht, dass würde ich nicht zulassen. „Warum macht ihr sowas?“

„Bluten lassen?“ Nun schien Prisca nicht mehr verärgert, sondern verwirrt und sie war damit nicht die Einzige.

„Oh Mist“, kam es von Pal neben mir, der meine Hand immer noch nicht losgelassen hatte.

„Oh Mist?“ Warum dieser seltsame Ton?

„Würde mir bitte jemand erklären, was diese Störung zu bedeuten hat?“, forderte Cui. Ihre Augen huschten von einem zum anderen.

„Ich … äh …“ Pal kratzte sich verlegen am Kopf. „Ich glaube, Talita hat da etwas in den falschen Hals bekommen.“ Er warf mir einen schnellen Blick zu. „Sie weiß nicht …“

„Was gibt es da in den falschen Hals zu bekommen?“, fragte er erbost. Warum hatte ich plötzlich das Gefühl, auf dem völlig falschen Dampfer zu sein? „Ihr redet von Blut und davon, dass die Männer gehen müssen, damit ihr leben könnt! Sie werden ja wohl nicht in den nächsten Ausverkauf gehen!“

„Nein“, stimmte Pal mir zu. „Sie gehen in ein anders Rudel.“

Das verschlug mir erst mal die Sprache. Hatte ich das richtig verstanden? Veith ging in ein anderes Rudel? Mein Blick schnellte kurz zu ihm. „Warum?“, war das Einzige, was mir dazu einfiel.

„Vielleicht solltet ihr das woanders klären, damit wir hier weitermachen können“, schlug Najat auf seine ruhige und entschiedene Art vor.

„Das würde auch ich begrüßen“, stimmte Prisca ihm zu und spießte mich beinahe mit Blicken auf.

Ein weiterer Augenkontakt mit Veith, der den Blick unergründlich erwiderte, dann zu den drei Alphas und wieder zurück zu ihm. Er ging in ein anderes Rudel? Was hatte das zu bedeuten? Ich verstand gar nichts mehr. Erst redeten sie von Blut und dann davon, umzuziehen.

„Natürlich“, sagte Pal und festigte den Griff um meine Hand. „Ich werde … äh … komm.“ Er nahm mich mit durch die Menge, durch die ich mir nur widerstrebend ziehen ließ. Ich wollte nicht von Veith weg, nicht nachdem was ich eben gehört hatte. Es machte mich nervös, ihn aus den Augen zu lassen, nicht zu wissen, was weiter passieren würde.

Unter den Augen von gut hundert Lykanern, brachte Pal mich an den Waldrand, von wo aus ich das Geschehen nicht weiter verfolgen konnte und das wollte mir so gar nicht gefallen.

„Talita.“

Ich stellte mich auf Zehenspitzen, in der Hoffnung, über die Menge hinweg einen Blick auf Veith werfen zu können – zwecklos. Ich war zwar nicht gerade klein, aber so groß dann auch wieder nicht. Außerdem machte Pal es mir auch nicht gerade einfacher. Er hielt immer noch meine Hand und ließ sie auch nicht los, als ich daran zog.

„Talita!“

„Was?!“, fauchte ich ihn an.

Er kniff die Augen leicht zusammen. Dass ich ihn so anmachte, schien ihm gar nicht zu gefallen. „Hör mir bitte zu, Veith wird nichts passieren.“

Nun war ich an der Reihe, meine Augen leicht zu verengen. „Und warum ist hier dann die Rede von Blut? Und was heißt bitte, er geht in ein anderes Rudel?“

Pal machte den Mund auf, nur um ihn wieder zu schließen.

„Verdammt, Pal, jetzt rede endlich!“ Bevor ich hier noch an einem Herzinfarkt dahinscheide.

„Was weißt du über den Testiculus?“

„Nur das, was mir Kovu erzählt hat. Ein Testiculus entscheidet sich aus eigenem Antrieb, für diesen Weg. Er darf nicht lieben, nicht vögeln und sich keine Gefährtin suchen – nicht vor seinem Fünfundzwanzigsten … Lebensjahr.“ Das letzte Wort war nur noch ein Flüstern, weil mir plötzlich eines klar vor Augen stand. Veit war vor ein paar Monaten fünfundzwanzig geworden. Hieß das jetzt … irgendwie wurde mir bei dem Gedanken schlecht. Er ging in ein anderes Rudel, aus welchen Gründen auch immer. Unerreichbar für mich und jetzt durfte er sich mit Frauen amüsieren.

„Testiculus bedeutet nichts anderes als Manneskraft.“

„Was?“

„Verstehst du nicht? Man entscheidet sich für den Weg des Testiculus, um die Art bestehen zu lassen. Die Rudel sind nicht sehr groß, mit vielen unserer Rudelmitglieder sind wie irgendwie verwandt. Wir brauchen frisches Blut in unseren Reihen, um fortbestehen zu können. Verstehst du jetzt?“

Ja, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Das konnte nicht sein.

„Der Testiculus sorgt für die nächste Generation. Veith geht in ein anderes Rudel, um sich dort eine Gefährtin zu suchen, genau wie alle anderen.“

Der letzte Satz drohte mir den Boden unter den Füßen herzuziehen. Das Jubeln hinter mir nahm ich nur wie durch Watte wahr, dumpf irgendwo da hinten. Veith feierte heute seinen Umzug in ein neues Rudel. Veith würde sich eine Gefährtin suchen. Veith würde Kinder haben. Und ich? Mich würde er einfach vergessen.

„Talita?“

„Du hättest es mir sagen müssen.“

„Ich weiß.“ Er zog mich in die Arme, ganz fest an seine Brust, versuchte Wärme und Geborgenheit zu spenden, aber nicht mal diese Berührung konnte mir helfen. Veith würde ein neues Leben beginnen und ich würde darin nicht vorkommen. Schon in diesem Rudel war ich nur eine Randfigur, die nur von weitem zusehen durfte und gerade mal so akzeptiert wurde. Ein anderes Rudel würde mich nicht so nahe an sich heranlassen. Veith würde unerreichbar für mich werden.

Hatte er sich deswegen in den letzten Monaten immer weiter von mir entfernt? War er deswegen heute so abweisend zu mir gewesen? Er wusste was kommen würde, er wusste, was ich für ihn empfand, oder ahnte es zumindest.

„Du hättest es mir sagen müssen“, wiederholte ich.

„Ich wollte es dir sagen“, murmelte Pal in mein Haar. Er rieb seine Wange darüber. Berührungen heilten, aber ein gebrochenes Herz konnte man nicht heilen, nicht auf diese Art. Das konnte nur die Zeit. „Ich wollte es wirklich, gestern schon, aber dann …“ Er seufzte schwer, als hinter uns eine ohrenbetäubende Beifallswelle ausbrach.

Ich vergrub mein Gesicht tiefer an Pals Brust, sog seinen so vertrauten Geruch ein und hoffte, dass er mich ablenken würde. Ich wollte nicht wissen, was dahinten vor sich ging – nicht mehr.

„Es tut mir leid, Talita.“ Seine Arme drücken mich ein wenig fester an den athletischen Körper, aber trotz der Hitze die er ausstrahlte, wollte mir einfach nicht warm werden. „Ich kam gestern nicht nur zu dir, um dich zum Fest einzuladen, ich wollte dir auch sagen, worum es geht. Aber dann war die Sache mit Kaj und Raissa und es ist in den Hintergrund gerutscht. Und heute dann deine Hypnosesitzung. Ich wollte … ich konnte … Scheiße! Es tut mir leid, dass ich nichts gesagt habe, aber ich habe einfach nicht den richtigen Moment gefunden. Ich weiß wie sehr du an Veith hängst und ich wusste … ich wollte dir nicht wehtun, verstehst du?“

Ich schnaubte. „Und du glaubst, dass das jetzt nicht wehtut?“

„Doch, ja, aber … Mist. Ich geb´s ja zu, ich war feige. Erst wollte ich es dir sagen, aber dann dachte ich, dass du es schon selber rauskriegen wirst. Ich konnte ja nicht ahnen, dass du gleich denkst, wir würden hier irgendein Ritual abhalten, in dem wir unsere Lykaner abschlachten, um ihr Blut zu trinken.“

Das mit dem Trinken hatte ich zwar nie gesagt, trotzdem schafften seine Worte es, dass mein Mundwinkel leicht nach oben zuckte. „Ich hab mich ganz schön zum Affen gemacht, was?“

„Nicht mehr als sonst.“

Na wenn das keine tröstenden Worte waren.

Wieder schwoll um uns herum der Trubel an.

„Was passiert dort hinten?“, traute ich mich zu fragen.

„Sie handeln um die Testiculus. Die Vergabe wird aus der Größe der Rudel und dem aktuellen Nachwuchs heraus gehandelt. Jedes Rudel wird mindestens ein neues Mitglied bekommen, aber da es fünf sind, wird um die beiden übrigen stark gefeilscht. Natürlich zählen auch Alter, Kraft und Charakter.“

Na dann hatte Veith ja wohl zwei von drei Punkten auf seiner Skala erreicht.

„Der Testiculus muss mindestens fünfundzwanzig und darf höchstens dreißig Jahre zählen, das beste Alter um sich Fortzupflanzen.“

Ich biss mir so kräftig in die Wange, dass es mich wunderte, kein Blut zu schmecken. Ich wollte das nicht mehr hören. Die Risse, die Veith vorhin in meinem Herzen hinterlassen hatte, waren in der Zwischenzeit zu einem Grand Canyon der Verzweiflung geworden. Warum heulte ich nicht, wenn mir doch danach zumute war? Keine Tränen, kein Schluchzer. Was war nur mit mir los? Ich würde Veith nie wieder nah sein können.

Scheiße! Warum musste das so wehtun? Warum hatte ich mir keinen anderen Kerl aussuchen können? Warum hatte Veith seinen Weg nicht geändert, nachdem er mich kennengelernt hatte? Ich wusste doch, dass er Gefühle für mich hegte, oder hatte ich mich die ganze Zeit nur selber belogen?

Talita, ein Testiculus zu sein ist sowohl eine Ehre, als auch eine Pflicht. Ich habe mich dafür entschieden …

Eine Pflicht. Das hatte Veith einmal zu mir gesagt. Der Testiculus zu sein, war eine Pflicht, die er eingegangen war und deswegen würde er seinen Weg auch nicht ändern, nicht mal, wenn er mich lieben würde. Sein Rudel war stolz auf ihn, seine Familie war stolz auf ihn und die Berufung dieses Postens abzugeben, würde ihm seiner Ehre berauben.

Verdammt, warum hatte ich mich nur in diesen Kerl vergucken müssen? Es gab hier so viele nette Typen und ich hatte mir ausgerechnet einen aussuchen müssen, der unerreichbar für mich war.

Hinter uns brach erneut Jubel aus und die Menge strömte auseinander. Irgendwer packte mich lachend beim Arm und zog  mich von Pal weg zu einem der wolkenhohen Lagerfeuer. Das Ganze passierte so überraschen, dass ich erst peilte, was hier los war, als ich die sengende Hitze der Flammen in meinem Gesicht spürte.

Unsicher warf ich einen Blick zurück zu Pal, der mich nur aufmunternd anlächelte. Dann wurde mir etwas in die Hand gedrückt. Kräuter. Zerstoßende Kräuter, so fein, dass sie kaum noch als Sand durchgingen. Der Geruch war überwältigend.

Neben mir entdeckte ich Rem, Pals Mutter – sie hatte mich so rüde hierher gezerrt.

„So musst du das machen.“ Sie holte aus und warf dann etwas ins Feuer. Es zischte und knisterte. Die Flammen schlugen höher und sonderten einen bunten Dunst ab, der sich wie Nebel um uns legte. Sie griff in einem Beutel an ihrem Lendenschurz, um eine weitere Ladung Kräuter vom Feuer verzehren zu lassen. „Nun komm schon.“ Sie stieß mich leicht mit dem Ellenbogen an. „Wirf sie rein.“

Ich wog die Kräuter in meiner Hand, sog den betörenden Duft ein.

Um mich herum und an all den anderen Lagerfeuern standen weitere Frauen, die glücklich lachend und rufend ihre Kräutermischungen den Flammen zum Fraß vorwarfen. Überall zischte es. Aus den Feuern wallten bunte Nebel auf, die um uns herum wogten. Sie standen in der Luft und verteilten sich nur, wenn eine der Frauen lachend mit den Händen wedelte.

In meinem Kopf wurde es immer leichter. Ich lächelte und wusste nicht einmal warum.

„Los, wirf sie.“ Rem ließ ihre Hand erneut vorschnellen und drehte sich bereits lachend im Kreis, bevor sie das Feuer erreichten. Die Nebel um sie herum wallten auf. Sie führte die Hände in einer fächernden Geste zum Gesicht und sog den Geruch der bunten Nebel tief in die Lungen.

Um uns herum konnte ich die erwartenden Blicke der Männer sehen, die sich an dem Anblick der Frauen geradezu ergötzten – anders konnte man das nicht ausdrücken.

Plötzlich fühlte ich mich leicht wie eine Feder. Ich schloss meine Finger um die Kräuter, holte aus und sah staunend zu, wie sie von den Flammen in Sekundenbruchteilen verschlungen wurden. Der Geruch um mich herum intensivierte sich. Wie Rem es gemacht hatte, fächerte ich die blasbunten Nebel zu mir und atmete tief ein. Ich wusste nicht, was das sollte und im Augenblick war mir das egal. Im Augenblick war mir so ziemlich alles egal, außer diesen bunten Dunst, der mich herrlich berauschte.

Rem drückte mir ihren Beutel mit dem restlichen Kräuterpulver in die Hand und tanzte dann mit den anderen Frauen lachend über die Lichtung. Dabei wedelte sie die Nebel so sehr auf, dass sie seltsame Formen und Farben bildete. Im ersten Moment verstand ich nicht, was sie dort tat, aber dann merkte ich, dass sie und die anderen Frauen die Nebel auf die Männer zutrieben. Das wollte ich auch machen. Ich wusste nicht genau warum, aber es erschien mir im Moment das Richtige.

Ein Lachen, dass in meiner Kehle heranwuchs, war mein Antrieb. Glücklich in meinem Wahn, tanzte ich um das Lagerfeuer herum, warf die Kräuter in das Feuer und berauschte mich an dem Geruch. Trunken vor Glück, bemerkte ich nicht sofort, dass der Beute leer war und war im ersten Augenblick etwas irritiert, als ich keine Kräuter mehr fand.

Was sollte ich jetzt machen, jetzt wo sie leer waren? Die Nebel auswallen lassen, dies erschien mir eine gute Idee, aber die Frauen hatten damit bereits aufgehört. Sie strömten nun zu einem Fleck am Rand der Lichtung, zu den aufgereihten Schalen mit den bunten Farben. Jede griff sich eine. Mit ihrer Beute, stürmten sie die Reihen der Männer, tauchten ihre Hände in die Farben und bemalten die Körper ihrer Gegenüber.

Eine Erinnerung drängte sich mir auf, etwas das Pal mir einmal auf dem Flimmerglas gezeigt hatte. Überall waren Lykaner. Riesige Lagerfeuer türmten sich über den ganzen Platz. Prisca tanzte zwischen all den anderen Frauen in der Festmitte. Auch Domina war bei ihnen und ein paar andere Frauen, aus dem Lager. Durch die Musik, das Feuer und den Rauch verhüllt, bekam das Ganze eine mystische Note. Ich sah eine handvoll Frauen, die sich von dem Rest trennte, zu einigen Schalen liefen, die am Rand aufgebaut waren und sich damit unter die Männer mischten. Die Schalen enthielten verschiedene Farben. Rot, gelb, grün, blau, violett, orange. Sie benutzen sie, um sich und die Männer mit kunstvollen Zeichnungen zu bemalen. Linien, Schnörkel und Ranken verzierten die Körper …

Wie lange war das her? Wann hatte Pal mir das gezeigt? Ich konnte mich nicht mehr erinnern.

Ich drehte mich um mich selbst, um zu sehen, was sie alles taten, um zu entscheiden, ob ich das auch machen sollte, doch die Ernüchterung folgte sogleich. Ich entdeckte Veith. Unweit von mir lehnte er an einem Baum. Sein Blick war leicht verklärt, ein seltsames Lächeln zierte seinen Mund. Er sagte etwas zu einer Frau, was ich nicht verstand. Er sagte es zu der Frau, die ihn gerade mit roter Farbe bemalte. Sie lachte über seine Worte, warf den Kopf in den Nacken, als hätte sie noch nie etwas so witziges gehört und ließ dabei ihre farbbeschmierten Hände über seine Brust gleiten.

Jeder rote Streifen auf seiner Haut zeugte davon, wo sie ihn angetatscht hatte. An den Armen, an den Händen. Bauch, Brust, Gesicht, Lippen …

Dieser Anblick ließ  innerlich ein Stück von mir sterben. Warum durfte sie ihn anfassen, ich aber nicht? Welches Recht nahm sie sich heraus? Veith gehörte mir! MIR!, hast du das verstanden, Schlampe?! Scheiße, jetzt führte ich schon Selbstgespräche.

In dem Nebel war nicht viel zu erkennen, nur die knalligen Farben stachen heraus. Die gelben Augen der Lykaner, das rote Band um den Oberarm, das die meisten Frauen hier trugen. Die rote Farbe auf Veiths Körper, die eine andere Frau dort aufgebracht hatte. Nicht ich, niemals ich.

Ich war nur die Katze, die zufällig in das Leben der Lykaner gerutscht war. Eine Randfigur, die hier keine Rechte hatte und sich das Geschehen nur von weiten ansehen durfte. Wo war mein Lachen geblieben, das eben noch aus meiner Kehle aufsteigen wollte? Wo war das Glücksgefühl hin, welches ich eben noch gespürt hatte? Ich wollte es wieder, jetzt, sofort! Ich wollte mich nicht fühlen, als hätte man mir ein lebenswichtiges Organ entrissen, ich wollte wieder lächeln, aber es ging nicht, nicht solange ich Veith mit dieser Frau sah, die nicht ich war.

Veith …

Meine Augen brannten, aber es wollten keine Tränen kommen. Plötzlich schien alles so sinnlos. Was machte ich hier eigentlich? Warum wandte ich nicht endlich den Blick ab, wo es doch so weh tat, ihn mit ihr zu sehen? Ich war nicht festgefroren, ich konnte mich bewegen und doch wieder nicht. Ich stand hier, mitten auf dieser Lichtung, in einer Welt, in die ich nicht gehörte und starrte etwas an, während um mich herum das Leben tobte.

Er sah nicht mal in meine Richtung, war voll auf dieses kleine Flittchen konzentriert. Klar, warum auch nicht, jetzt durfte er sie schließlich nageln, ganz offiziell. Es wurde sogar gewünscht.

Scheiße, warum brannten meine Augen so sehr, ohne dass die Tränen kamen, wo ich doch einfach nur heulen wollte? Warum konnte ich nicht heulen? Dann würde er wenigstens sehen, wie sehr es mich verletzte, aber da war nichts. Ich hatte das Gefühl, innerlich leer zu sein, tot. Nichts mehr da. Ich hatte mich in einen Kerl verliebt, der innerhalb eines Wimpernschlags alles genommen hatte, ohne es überhaupt zu merken. Wusste er, wie es in mir drinnen aussah? Was er mir antat, damit, dass er bei dieser Frau war? Sie brachte ihm zum Lächeln. Bei mir hat er nie gelächelt, nicht ein einziges Mal, oder? Ich konnte mich nicht erinnern. Warum lächelte er bei ihr, aber nicht bei mir?

„Talita?“

Vor Schreck zuckte ich zusammen, als sich eine Hand auf meine Schulter legte. Nicht, dass es unangenehm war, ganz im Gegenteil. Diese einfache Berührung war wie ein Blitz durch mich hindurch geschossen. Alle meine Nervenzellen kribbelten in freudiger Erwartung. Was war denn jetzt los?

Pal stand mit seinem halben Lächeln vor mir. Sein rotes Haar stach wie ein Leuchtfeuer durch den Nebel und einem Impuls folgend, strich ich ihm durch die halblange Mähne, die ihm neckisch ums Gesicht fiel. Sie waren länger geworden, fielen ihm leicht in die Augen. Bei meiner Berührung, schauderte er leicht. Fühlte er sich genauso wie ich? Nein, entschied ich, sein Herz war nicht gerade erst gebrochen worden.

In seiner Hand hielt er eine der Schalen. Blaue Farbe. Er gab sie mir.

Ahnungslos hielt ich sie in den Händen und wusste nicht so recht, was ich damit anfangen sollte.

„Komm mit.“ Federleicht berührte seine Hand meinen Arm und wieder rieselte ein Schauder durch meinen Körper, der alle meine Nerven  Tango tanzen ließ. Ich folgte ihm, ohne zu wissen, warum eigentlich, folgte ihm zu dem Baumstamm, auf dem er mich vorhin aufgegabelt hatte. Die Schale blieb in meiner Hand. Was sollte ich damit machen?

Pal platzierte mich auf dem Baumstamm und ging dann vor mir auf die Knie. Auch in seinem Gesicht stand dieser leicht entrückte Ausdruck, den hier irgendwie jeder zu haben schien. „Eigentlich ist es ja Tradition, dass die Frau die Farbe holt und sich einen Mann aussucht, aber du standest so verloren da, dass ich mir dachte, ich komme dir ein wenig entgegen.“

Ich senkte den Blick auf die Farbe in meinem Schoss, wusste immer noch nicht, was ich damit tun sollte.

„Dabei musste ich drei ziemlich hartnäckigen Frauen ausweichen“, lächelte er.

„Was soll ich machen?“ War das meine Stimme, die da so tonlos klang? Was war nur mit mir los?

„Du bemalst mich.“ Er legte seine Hände auf meine Beine und wieder spürte ich diese Berührung bis hinunter in den kleinen Zeh. Eine wohlige Gänsehaut erfasste meinen Körper und ich wünschte mir, dass er seine Hände nie wieder dort wegnahm. Seine Wärme tat mir gut, ich mochte sie, genauso wie seinen Geruch. Pal roch gut. Seltsamer Gedanke.

Ich hob den Blick wieder, neigte den Kopf zur Seite. Pal Gesicht war schön, trotz der Brandnarbe, die seine Züge verzerrte, oder vielleicht auch gerade deswegen. „Warum“, fragte ich und wunderte mich, dass meine Stimme so abwesend klang. „Warum soll ich dich bemalen?“

„So feiern wir das Fest des Testiculus.“

Das Fest des Testiculus. Veith. Die andere Frau. Plötzlich überkam mich unendliche Trauer und wieder brannten meinen Augen. Nicht mal Pals warme Berührung konnte etwas gegen die Kälte tun, die sich in mir festgesetzt hatte.

„Wir feiern unser Fortbestehen und ehren dabei die Magie, die uns leben lässt.“ Mit dem Finger hob er mein Gesicht leicht an, damit ich ihm in die Augen sah. „Wir sind Magie. Die Farbe steht für die Magie, damit geben wir etwas, das keine Kontur, keine Farbe, oder Form hat, ein Antlitz. Mit diesen Farben machen wir die Magie zu etwas Greifbaren.“

Ich sah auf die Farbe in meinem Schoss, tauchte einen Finger hinein, rührte ein wenig darin rum. Das Blau war warm und prickelte auf meiner Haut. War das normale Farbe? Nein, das war keine Farbe, das war Magie. Magie die greifbar gemacht wurde. Wie die Magieadern, derer sich die Magier bedienten. Lykaner hatten auch Magie, nur eben andere, obwohl alles denselben Ursprung hatte.

Den Verlust von Pals Hand an meinem Gesicht spürte ich sofort und er tat fast weh. Er nahm mich am Handgelenk und tunkte meine ganze Hand in die blaue Farbe hinein. Es fühlte sich komisch an, glitschig. „Bemal mich, Talita“, raunte er mit heiserer Stimme.

„Warum?“, fragte ich wieder. Ich verstand das Ganze nicht, hatte irgendwie nicht die Kraft, jetzt darüber nachzudenken.

„Weil ich es möchte.“ Er machte eine kurze Pause. „Weil du mich damit heute Nacht als den Deinen zeichnest.“

Als den Meinen?

Bevor ich mir noch darüber klar werden konnte, was er damit meinte, wurden mir von hinten zwei Arme um die Schultern geschlungen und Kovu lachte mir ins Ohr. Seine Berührungen waren anders als die von Pal, harmloser und trotzdem konnte ich sie bis in die hintersten Winkel meines Körpers spüren. „Was, ihr habt noch nicht einmal angefangen? So geht das.“ Bevor ich reagieren konnte, nahm er meine Hand und drückte sie auf Pals Oberarm.

„Kovu, kommst du?“, rief eine weibliche Stimme.

„Ich muss los.“ Mit Schalk in den Augen, drückte er mir einen Kuss auf die Wange und war dann schon wieder verschwunden. Ich aber konnte meinen Blick nicht von meiner Hand lösen. Es fühlte sich gut an, sie auf Pals Haut zu haben, das Leben darunter zu spüren.

Ich löste sie leicht und zog mit den Fingern eine blaue Spur über seinen Arm. Dieser Anblick faszinierte mich. Das Blau stach deutlich von der hellen Haut ab. Irgendwie entwickelten meine Finger daraufhin ein Eigenleben. Ich sah was ich da tat, konnte es aber nicht steuern. Ich war wie eine Zuschauerin, die dieses Mädchen beobachtete, die auf ihrem besten Freund mit der blauen Farbe Muster zog. Kreise und Schnörkel. Ein Handabdruck hier, ein Stern dort. Pal hatte die Augen geschlossen. Seine Hände lagen wieder auf meinen Beinen, als wollte er den Kontakt zu mir nicht verlieren. Er atmete etwas schneller als normal. Ich spürte, wie er unter meiner Hand erzitterte, als ich eine Feder auf seine Brust zeichnete. Ich versuchte mich an einem Wolf, aber irgendwie konnte man nur mit Mühe und Not einen Hund darin erkennen – einen hässlichen Hund.

Ich war nie gut im Zeichnen gewesen, trotzdem nahm mich diese Aufgabe voll und ganz ein. Alles um mich herum war ausgeblendet. Es zählte nur die blaue Farbe, der nächste Strich, die kleine Rose, das Auge, dass ich auf seinen Bizeps malte, das Messer auf seiner Brust.

Meine Hand verschwand wieder in der Farbe. Irgendwie wurde die nicht weniger. Mir sollte das recht sein, so konnte ich länger malen. Meine ganze Hand war blau. Ich hatte sogar Spritzer auf meinen Armen. Wie waren die da hingekommen? Das war doch egal.

Als nächstes fasste ich sein Gesicht ins Visier. Ich legte meine Hand auf die Brandnarbe, auf die verzerrte Stelle, um dort einen Abdruck zu hinterlassen. Im gleichen Moment schlug er die Augen auf, uns sah mich so intensiv an, dass es mich am ganzen Körper kribbelte. Dieser Blick, was wollte er mir damit sagen?

Seine Hand löste sich von meinem Bein, tauchte den Daumen in die blaue Farbe und strich mir damit gedankenverloren über die Unterlippe. Das schlug wie ein Blitz ein. Ich wagte es nicht, den Blick abzuwenden, als er sich zu mir vorbeugte. Ich wusste, was er tun würde, wusste aber nicht, wie ich dazu stand. Er hatte mich schon einmal geküsst, vor einem knappen Jahr, nach den Geschehnissen mit Erion, aber seit diesem Tag war er mir nie wieder so nahe gewesen, jedenfalls nicht auf diese Art.

Alles war wie durch Watte, ich konnte nicht klar denken. Vielleicht war das gut so, was hatte ich schon zu verlieren? Die Berührung seiner Lippen war wie ein Rausch, nur ganz kurz, aber es genügte, um all meine Sinne zu schärfen, auf mehr zu hoffen. Was war nur mit mir los?

Pal zog sich wieder zurück, nur ein klein wenig, aber sofort vermisste ich seine Nähe. An seinen Lippen hing nun auch blaue Farbe, ein Zeichen dafür, wo er eben gewesen war. Der Blick verklärt und leicht glasig. „Komm mit mir.“

„Wohin?“

„Weg von den anderen, um mit mir allein zu sein.“

Dieser Satz brachte mich wieder leicht zur Besinnung. Ich wusste sofort, was er bedeutete, aber was ich nicht wusste war, ob ich das wirklich tun sollte. Mit Pal weggehen, um mit ihm allein zu sein? Sollte ich das machen? Warum nicht? Ich war frei, niemand würde mich daran hindern – niemand.

Ich sah ihm in die Augen, dieses vertraute Gelb, aber plötzlich sah ich nicht mehr ihn vor mir, sondern Veith. Veith, der sich mit einer anderen amüsierte. Veith, dem ich egal war. Veith, der unerreichbar für mich geworden war.

Ich ließ meinen Blick über die anderen schweifen, zurück zu dem Baum, an dem er vorhin gestanden hatte. Er war immer noch da, allein, von oben bis unten mit roter Farbe bemalt. Seine Augen waren auf mich gerichtet, aber ich konnte nicht in ihnen lesen, er war zu weit weg.

Pal war meinem Blick gefolgt. Als er seinen Cousin erblickte, wurden seine Augen kalt. Er richtete sich auf und streckte mir die Hand entgegen. „Komm mit mir“, wiederholte er.

Ich sah von Veith zu ihm und dann auf seine Hand. Sollte ich das wirklich tun?

 

°°°°°

Tag 449

Etwas komisch fühlte ich mich schon, als Pal mich immer weiter vom Festplatz wegzog, tiefer in den Wald, wo wir von den anderen ungestört sein würden. Das erste, was verklang, waren die Stimmen, dann die Musik. Der Nebel verging. Die Luft veränderte sich, der rauchig, würzige Geruch nach Kräutern schwand und nur noch die nächtlichen Geräusche des Waldes umgaben uns. Trotzdem führte er mich noch ein wenig tiefer, in die undurchdringliche Natur des Waldes.

An einem entwurzelten Baumstamm, der wie ein Y gegabelt war, hielt er an und drehte sich mit seinem ganz persönlichen Lächeln zu mir herum. Die blaue Farbe auf seinem Körper war wie ein Mahnmal, so deutlich hob sie sich von seiner Haut ab. Er wirkte damit … anders, irgendwie exotisch und fremd. Plötzlich war ich mir nicht mehr so sicher, ob es wirklich eine so gute Idee war, mit ihm in den Wald zu verschwinden, doch als seine Hand sich von meiner löste und langsam den Arm nach oben strich, bis sie an meiner Wange angekommen war, wich ich nicht zurück.

Es war nicht unangenehm, ganz im Gegenteil. Ein leichtes Kribbeln prickelte auf meiner Haut und ich ließ es nur zu gerne zu, dass sich seine Lippen auf meine senkten. Es war ein warmes, leicht berauschendes Gefühl, das mir die Sinne vernebelte und ich wagte es, nicht nur den Kuss zu erwidern, sondern auch meine Hände forschend über seinen Körper gleiten zu lassen. Über die schmalen Hüften und den flachen Bauch strichen sich nach oben zu seiner gut definierten Brust. Ich war fasziniert davon, wie es sich unter meinen Händen anfühlte und von dem leisen Geräusch, das er machte, als ich nur mit den Fingerspitzen über seine Seiten fuhr. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass ich schon einmal einen Mann so berührt hatte und das machte diesen Augenblick zu etwas besonderem. Dies war mein erstes Mal.

Und was ist mit Veith? Hast du den vergessen?

Für einen Augenblick stockte ich. Natürlich hatte ich das nicht, auch wenn ich ihn mir nur zu gerne aus dem Kopf schlagen würde. Dieser eine Kuss, den wir geteilt hatten, ließ sich einfach nicht aus meiner Erinnerung vertreiben. Nichts, was mit ihm zu tun hatte, ließ sich aus meinem Gedächtnis löschen. Er war immer da, egal wo ich war und was ich tat. Er und diese andere Frau. 

Natürlich bemerkte Pal die plötzliche Veränderung in mir sofort. Er war viel zu feinfühlig, als dass ihm das entgehen könnte. Er löste sich leicht von mir und neigte den Kopf zur Seite. „Was hast du?“

„Ich …“ Ja, jetzt brauchte ich eine Ausrede. Ihm zu verklickern, dass ich gerade an Veith gedacht hatte, während ich mit ihm am Schaffen war, machte sich sicher nicht all zu gut. „Also … ich … ich hab noch nie … ähm … ich kann mich nicht erinnern, dass ich schon mal …“ Verdammt, ich merkte richtig, wie meine Wangen in Flammen aufgingen. Zwar war es nur als Ausrede gedacht, um auf andere Gedanken zu kommen, aber leider entsprach es auch der Wahrheit. Plötzlich war ich nervös wie ein Schulkind, an seinem ersten Tag – jedenfalls glaubte ich, dass ein Schulkind sich so fühlen musste.

Pals Lächeln wurde nachsichtig. „Keine Sorge, ich denke ich schaffe es, dir über die schwierigen Stellen hinwegzuhelfen.“

Egal was er in dem Moment in meinem Gesicht sah, es entlockte ihm ein leises Lachen. Was bitte war an meiner Unsicherheit so witzig? Ich fand das nicht zum Lachen. „Ja, amüsiere du dich nur, du weißt ja wie das geht.“

„Das weiß jeder, auch du.“ Er hauchte mir einen Kuss auf die Lippen, nur ganz zart, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. „Es ist ein Instinkt in uns, der uns leitet. Auch du hast ihn.“

Ach wirklich? Der musste sich aber ziemlich gut versteckt haben, so unbeholfen, wie ich mir plötzlich vorkam.

„Komm.“ Er ging vor mich auf die Knie, zog mich mit herunter, bis ich auf seinem Schoß saß. Das Herz in meiner Brust beschleunigte sich leicht und plötzlich war ich mehr als nur nervös. Was, wenn ich etwas falsch machte? „Bleib einfach ganz entspannt“, murmelte er und ließ seine Hände wieder an meinen Armen herauf wandern. Hoch und runter. Sein Blick folgte ihm dabei. „Dies ist ein Tanz, der so alt ist, wie die Zeit selber. Aus dem Gefühl heraus weißt du, wie er geht und was richtig ist.“

„Und wenn … wenn …“ Gott, warum kam ich mir auf einmal nur so linkisch vor?

Er hob seinen Blick zu dem Meinen. „Wenn was?“

„Wenn …“ Nun komm schon, spuck es einfach aus. „Was, wenn ich etwas falsch mache?“, brachte ich es dann doch noch flüsternd heraus.

Ein nachsichtiges Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Du kannst gar nichts falsch machen.“ Seine Hände glitten an meine Taille, zu meinen Hüften, zogen den Saum meines Lendenschurzes nach. Eine Gänsehaut nach der anderen jagte über meine Haut. Es fühlte sich gut an. „Bei mir kannst nichts falsch machen“, raunte er mit leiser Stimme.

Na, da war ich mir aber nicht so sicher.

Sein Blick bohrte sich in meinen, seine Hände wanderten meinen Rücken hinauf zu meinem Nacken, legten sich auf den Knoten, der mein grünes Oberteil hochhielt. Er unter mir, meine Hände an seiner Brust, der kräftige Herzschlag, sein warmer Atem, der mir ins Gesicht hauchte. Um uns herum war der Wald der nächtlichen Ruhe verfallen. Niemand störte uns in diesem Augenblick, wir waren ganz allein. Nur er, nur ich, nur wir.

Irgendwie kam mir diese Handlung unheimlich intim vor und ihn so … so halb unter mir zu haben, ließ mich wieder peinlich erröten. Ich konnte alles ganz genau spüren. Seine Beine, sein Becken und … noch etwas anders. Doch als seine Lippen sich erneut auf meine legten, rutschten diese Gedanken mit vielen anderen weit in den Hintergrund. Worum machte ich mir eigentlich so ´nen Kopf? War ja nicht so, dass ich hier etwas vorhatte, was andere als anstößig ansahen. Jeder machte es, wo und wann sie wollten, warum also sollte ich es nicht auch tun? Es war etwas ganz normales. Und auch, wenn das hier Pal war …

Er zog mich fester an sich, drücke mich gegen seine Brust und wurde im Kuss drängender. Ich spürte seine Lippen über meine wandern, am Mundwinkel, an der Unterlippe knabbern und wie von selbst fanden meine Hände den Weg in seinen Nacken, wo sie durch die seidigen Strähnen seines Haaren wanderten. Davon bekam er eine Gänsehaut und seufzte leicht an meinem Mund, weswegen ich es noch einmal tat. Es gefiel mir, wie er reagierte.

Sein Kuss wurde impulsiver, drängte tiefer. Seine Hand hielt meinen Kopf, damit ich ihm auch ja nicht ausweichen konnte – nicht, dass ich das in diesem Moment vorgehabt hätte. Seine freie Hand wanderte über meinen Körper, über Beine und Arme, berührte jedes Fleckchen nackter Haut, dessen er habhaft werden konnte. Überall kribbelte es und jagte mir Stromstöße durch die Haut, die alle auf einen Punkt zwischen meinen Beinen zuliefen. Das Gefühl war unbeschreiblich, sowas habe ich noch nie gespürt – jedenfalls nicht, dass ich mich erinnern konnte. Doch mein Körper schien sich zu erinnern. Ich hatte mich in der Zwischenzeit so dicht an Pal gedrängt, dass nicht einmal eine Briefmarke noch Platz zwischen uns gefunden hätte.

Ich fuhr mit meinen Fingern über seine feste, glatte Haut, die Seiten hinunter und zögerte einen Moment, bevor ich sie an seine muskulösen Oberschenkel legte – sehr weit oben. Ich war neugierig, aber auch unsicher. In der Theorie wusste ich, wie das alles funktionieren sollte, doch in der Praxis sah das wieder ganz anders aus. Sollte ich weiter gehen? Sollte ich es wagen?

Pal löste sich von meinen Lippen. Sein Atem ging schneller als normal und sein Blick war berauscht von dem, was wir taten. Die Lippen geschwollen. Hatte ich ihm diese kleine Bisswunde zugefügt? „Was hast du?“, fragte er mich mit heiserer Stimme.

Mein Blick huschte nach unten, zu dieser einen Stelle, nur um gleich wieder nach oben zu schnellen. Mist, er hatte gesehen, wie ich da unten hingeguckt hatte. In diesem Moment konnte ich nur eines tun: rot anlaufen, wie eine Tomate.

Pal lachte leise, legte mir die Hand an die Wange. „Was willst du tun, Talita?“

„Ich will …“ Nein, das konnte ich nicht aussprechen. Ich senkte meinen Blick auf seine Brust. Warum nur musste das alles so schwer sein? Andere schafften es doch auch ohne Probleme, warum nur fühlte ich mich dabei so unwohl?

„Was willst du?“ Ein gehauchter Kuss auf meine Lippen. „Sag es mir.“ Ein weiterer auf mein Kinn. „Du kannst mir alles sagen.“ Sein Mund berührte meine Halsbeuge und ich erschauderte. Wow. Seine Hände wanderten wieder nach oben in meinen Nacken, während er tief meinen Geruch einsog. „Ich liebe diesen Geruch“, raunte er an meiner Haut. „Es war das Erste, was ich wahrgenommen habe, als du damals einfach so ins Bad geplatzt bist, erinnerst du dich?“

Und ob ich mich erinnerte, auch wenn meine Gedanken im Moment ein wenig wirr waren, so konnte ich mir genau den Augenblick ins Gedächtnis rufen, als ich ihn das erste Mal gesehen hatte, damals im Bad, als alles in dieser Welt noch so neu für mich gewesen war. Ich wusste noch genau, wie er an diesem Tag mit nichts als einem Handtuch um die Hüften vor dem Spiegel stand und sich die Zähne geputzt hatte.

Kann ich vielleicht irgendwie helfen? Das waren seine ersten Worte an mich gewesen.

„Seit diesem Moment bekomme ich deinen Geruch nicht mehr aus meinem Kopf. Er ist immer da, egal was ich tue. Immer bist du da.“

Ich spürte, wie sich seine Finger an dem Knoten in meinem Nacken zu schaffen machten, konnte aber nichts anderes tun, als seinen Worten zu lauschen und gleichzeitig die Erinnerung daran zu verdrängen, als ein anderer Mann seine Hände in meinem Nacken hatte, um genau dasselbe zu tun. Nur viel drängender, fast stürmisch.

Warum trägst du dieses Ding?

Schamgefühl?

Ich konnte mich genau an diese Worte zwischen mir und Veith erinnern und dabei lief es mir heiß über den Rücken. Allein die Erinnerung daran löste mehr in mir aus, als Pal das mit seinen Berührungen schaffte. Warum? Warum konnte es nicht anders sein?

„Doch wirklich haben wollte ich dich erst seit dem Geburtstag der Drillinge. Weißt du noch, wie wir nach den Sternen gesprungen sind?“

Ich spürte, wie sich der Knoten in meinem Nacken lockerte und die beiden Seiten lose über meine Schultern fielen. Nur die Enge zu Pal verbarg noch, was bisher nur mir gehörte.

„Du hast gelacht.“ Er löste sich von mir, schaute mir in die Augen. „So frei hast du gelacht, glücklich. Ich habe nie etwas Schöneres gehört.“ Langsam beugte er sich von mir weg. Der Schal, den ich immer um meinen Oberkörper band, rutschte haltlos herunter und fiel um meine Hüfte.

Mit entblößter Brust saß ich da auf Pals Schoß, mitten in der Nacht, in einem dunkeln Wald und wusste nicht recht, wie ich mich verhalten sollte, als sein Blick sich darauf senkte. Ich war zufrieden mit meiner Brust, auch wenn ich nicht viel hatte, aber was, wenn er das nicht so sah, wenn ihm nicht gefiel, was er dort vor Augen hatte?

„Jetzt verstehe ich, was du damit meintest, das nackt etwas Intimes ist“, hauchte er. Ich wusste nicht, ob diese Worte an mich gerichtet waren, oder ob er einfach nur laut dachte, aber der Klang seiner Worte beruhigte mich ein wenig.

Er hob die Hand, legte sie auf mein Schlüsselbein und fuhr mit ihr dann über meine Brust, was ein unbeschreibliches Gefühl in mir auslöste. Scham, Freude, Kribbeln. Es kam alles zusammen. „So wunderschön.“ Langsam hob er den Kopf, sah an mir vorbei über die Schulter auf einen Punkt, denn ich nicht sehen konnte. Der Zug um seinen Mund verhärtete sich leicht und er kniff die Augen zusammen. Aus seiner Kehle kam ein warnendes Knurren, dass mich alarmierte.

Ich wollte den Kopf herumreißen, um zu sehen, was da los war, aber er fing mein Gesicht mit den Händen ein, bevor ich dazu die Gelegenheit bekam. „Was …“

„Mach dir keine Sorgen, da war nur ein elender Streuner, aber er ist wieder weg.“

Streuner? Meinte er damit etwa … „Hat uns jemand gesehen? Wer?“

Er drückte die Lippen aufeinander und antwortete schlussendlich nur mit einem „Niemand.“

Jemand hatte uns gesehen. Ich war gerade dabei mit Pal … und jemand hatte uns gesehen!

„Hey, mach dir darüber keine Gedanken. Er ist weg.“

Scheiße, was machte ich hier überhaupt? Wie kam ich dazu mit Pal in den Wald zu verschwinden, um mit ihm rumzuvögeln? Das war nicht richtig. Pal war mein Freund, mein bester Freund. Ich sollte mit ihm auf die Jagd gehen, oder ins Kino, aber nicht das hier machen.

„Wir können auch woanders hingehen, wenn dir das lieber ist.“ Zärtlich strich er mir eine blonde Haarsträhne hinters Ohr, verfolgte seine Bewegung dabei mit den Augen. „Ganz wie du möchtest.“

„Pal, ich …“

„Schhh“, machte er und legte seine Lippen wieder auf meine, aber es fühlte sich nicht mehr so gut an wie vorher. Auch seine Berührungen waren jetzt anders, nicht mehr so elektrisierend, wie noch auf dem Fest. Jetzt war es … naja, es war einfach nur noch Pal und plötzlich fühlte sich das alles hier ganz falsch an. Seine Lippen auf meinen, seine Hand, die langsam über meine Seite zu meiner Brust fuhr und sie zärtlich liebkoste. Das, was wir hier machten, es war … nicht richtig. Ich konnte das nicht.

Die kleine Störung hatte mich zurück auf den Boden der Tatsachen geholt. Egal warum ich mit ihm gegangen war, egal was ich gefühlt hatte, Pal war nicht der, den ich wollte. Ich sah wieder klar und deswegen gab es nur eine Sache, die ich tun konnte, ich musste das hier beenden – auf der Stelle.

Ich zog meinen Kopf zurück, rutschte von seinem Schoß und griff meinen Schal, den ich mir schnell wieder um den Oberkörper wickelte – um den Rücken, vorn gekreuzt und dann im Nacken zusammen. Dabei wurde ich von Pal mit gerunzelter Augenbraue beobachtet.

„Talita?“

„Ich kann nicht“, sagte ich entschuldigend, wich dabei aber seinem Blick aus. Er tat mir ja irgendwie leid, aber es fühlte sich halt einfach nicht richtig an, auch wenn mein Körper sich danach sehnte, zurück in seine Arme zu gehen.

Als er seine Hand nach mir ausstreckte, um mich zu berühren, oder vielleicht auch zurückzuziehen, wich ich ihm aus. Das konnte ich jetzt nicht.

„Es tut mir leid, Pal, aber es geht nicht, wir … ich … ich kann nicht.“ Ich senkte die Arme und konnte nur hoffen, dass er mich verstand.

Pal ballte die Hände an den Seiten zu Fäusten, hieb damit einmal wütend auf das trocknende Laub und fuhr dann in die Höhe. „Dieser Arsch, immer kommt er dazwischen!“

„Was?“

Er warf mir einen kurzen undefinierbaren Blick zu, wandte sich aber schnell wieder ab, als könnte er mich nicht mehr in die Augen sehen. „Schon gut, vergiss es.“ Mit den Händen fuhr er sich durch das rote Haar, das von meiner Behandlung noch ganz zerwühlt war. „Wir sollten zurückgehen.“

Ja, das wäre vermutlich das Beste. Aber eines musste ich noch wissen. „Bist du sauer?“

„Nein.“ Seine Stimme klang geschlagen, traurig, ernüchtert. Er seufzte schwer, sah mich dabei aber immer noch nicht an. „Nein, Talita, ich bin nicht sauer. Du hast nichts Falsches gemacht.“

Ich glaubte ihm, er war nicht sauer, es war etwas viel schlimmeres, er war enttäuscht. Ich hatte Pal enttäuscht, weil ich ihm nicht das hatte geben können, was er sich so sehnlichst wünschte.

Er hatte gesagt, ich könnte nichts Falsches machen, nicht bei ihm. Er hatte sich geirrt. Damit dass ich ihn zurückgewiesen hatte, wurde das Wort Falsch neu geschrieben. Aber, was hätte ich den sonst tun sollen? Ich konnte das doch nicht machen, wenn es sich für mich so verkehrt anfühlte. Das würde weit über einen Freundschaftsdienst hinausgehen.

Seufz.

 

°°°

 

Die Geräusche des Festes umfingen mich, kaum dass ich zurück auf der Lichtung war. Der bunte Nebel hing nur noch in kleinen Dunstwölkchen über dem Gras, wo er sich langsam aber sicher ins Nichts auflöste. Auch der überwältigende Geruch von Kräutern war verschwunden, ansonsten war alles gleich geblieben. Lachende und tanzenden Lykaner, nur gab es jetzt einige Pärchen mehr, die sich öffentlich zur Schau stellten. Einige viele Mehr.

Meine Stirn schlug Falten, als ich sie zusammenzog. Mein seltsames Verhalten und diese komischen Gefühle hatten eingesetzt, nachdem ich die bunten Gase eingeatmet hatte. War ich etwa unter Drogen gesetzt worden, ohne es zu merken? Das würde auf jeden Fall das berauschende Gefühl erklären und warum ich mich plötzlich leicht wie eine Feder gefühlt hatte. Konnte das wirklich sein?

„Ich werde dann mal … ich … ich bin gleich zurück.“ Ohne mich eines Blickes zu würdigen, verschwand Pal mit hängenden Schultern zwischen den anderen. Ich konnte es ihm schwerlich verdenken, dass er einen Moment Abstand brauchte, trotzdem tat es weh, ihn so davongehen zu sehen. Aber was hatte ich nach diesem Fiasko den erwartet? Alles beim alten und wir taten einfach so, als wäre das alles nicht geschehen?

Träum weiter, Talita, dafür ist Pal zu sensibel.

Scheiße.

Ich lehnte mich an den nächsten Baum, beobachtete die feiernde Meute und fragte mich, warum dieser Tag für mich so beschissen sein musste, wo doch alle anderen so glücklich waren. Ich war her gekommen, um mich zu amüsieren, doch das Einzige, was mir bisher entgegengebracht wurde, war Ablehnung von Veith. Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, hatte ich durch mein törichtes Handeln jetzt wahrscheinlich auch noch meinen besten Freund vergrault.

Das Leben war wirklich scheiße, zumindest zu mir. Reichte es denn noch nicht, was ich bisher hatte durchmachen müssen? Jetzt, wo ich gerade anfing Fuß zu fassen und hoffen konnte, dass alles besser würde, jetzt ging alles den Bach herunter.

War eigentlich nur eine Frage der Zeit gewesen, den so viel Glück schien ich in meinem bisherigen Leben ja auch nicht gehabt zu haben. Das Pal mich nicht gestern nach der Geschichte mit Kaj hatte fallen lassen, war schon ein Wunder. Tja, so war das Unvermeidliche wohl einfach nur einen Tag hinausgezögert worden.

Das Brennen in meinen Augen tat weh, doch wieder floss keine Träne. Was war heute nur los mit mir?

„Du bist die andere Katze.“

„Bitte?“ Ich drehte mich zu der unvertrauten Stimme hinter mir um. Dort stand ein junger Kerl. Schwarze Haare, roter Lendenschurz, Lederärmel mit goldenen Abzeichen auf den Unterarmen. Einer von den Testiculus, genaugenommen der, der vorhin so nervös gewirkt hatte. Nettes Lächeln.

„Katze“, wiederholte er, als sei ich schwer von Begriff. „Domina ist die eine Katze aus dem Wolfsbaumrudel und du die andere.“

Ich schnaubte nur und wandte mich wieder der Menge zu. „Erstens, ist weder Domina, noch ich eine Katze. Sie ist eine Löwin und ich bin ein Schneeleopard, oder würdest du es toll finden, wenn ich dich Hund schimpfe, nur weil du mit dem Schwanz wedeln kannst?“

„Äh … nein.“

„Siehst du. Und zweitens irrst du dich. Ich gehöre nicht zum Rudel, nur Domina. Ich bin nur eine Bekannte.“

Einen Moment war Ruhe, dann sagte er: „Bekannte werden nicht zu Festen der Lykaner eingeladen.“

Besserwisser. „Ich weiß, sie werden überhaupt nicht eingeladen, höchstens aus dem Revier gejagt.“

„Siehst du?“, in seiner Stimme schwang ein Lächeln mit, „das ist der Beweis, dass du viel mehr als eine einfache Bekannte bist.“

Gott ging mir der Kerl auf den Sack! Merkte der denn gar nicht, dass ich allein sein wollte, um mich in meinem Leid zu suhlen? Wahrscheinlich nicht, warum sonst textete der mich zu? So schwer war das doch gar nicht zu verstehen, oder? „Warum interessiert dich das überhaupt“, fragte ich mäßig interessiert.

„Weil ich jetzt zu deinem Rudel gehöre.“

„Nimm es mir nicht übel, aber ich habe gerade kein Interesse daran, hier den Unterhalter zu spielen.“ Wink mit dem Zaunpfahl.

Er überhörte meinen Einspruch einfach. „Ich freu mich richtig darüber.“

Ja, weil du jetzt endlich, nach Jahren der Enthaltsamkeit, das weibliche Geschlecht beglücken darfst. Viel Spaß dabei.

„Und ich finde es höchst interessant, dass ein Rudel Lykaner nicht nur eine Katze, sondern gleich zwei aufnimmt.“

Ja, voll interessant. Gab es niemand anderen, den er nerven konnte? Freunde, Familie, giftige Reptilien? Verflucht noch mal, warum war ich eigentlich plötzlich so aggressiv? Ganz einfach, weil er mir tierisch auf den Keks ging. „Gibt es niemand anderen, den du belästigen kannst?“

Er lachte. Der Kerl lachte tatsächlich los! Dass ich das ernst gemeint hatte, schnallte er ganz offensichtlich nicht. „Du bist witzig.“

„Ja, voll die Lachnummer.“

„Ich bin übrigens Modre.“

„Talita.“ Ja, er nervte mich, aber ein wenig Höflichkeit musste eben doch sein.

„Was machst du hier so allein, Talita?“

„Nachdenken.“ Das sah man doch wohl. War der hohl, oder was?

„Weißt du, ich laufe hier gerade so ein bisschen rum, um die ganzen neuen Leute kennenzulernen. Das Wolfsbaumrudel ist wirklich groß.“

„Na, dann geh mal Gassi, damit du auch noch alle vor dem Morgengrauen zusammen bekommst.“

„Äh …was? Das versteh ich nicht.“

Die Augen in diesem Moment nicht zu verdrehen, war echt schwer. „Vergiss es einfach.“

„Ähm … okay.“ Pause.

Warum ging er nicht einfach? Ich meine, ich drehte ihm den Rücken zu, war abweisend, da musste er doch irgendwann mal schnallen, dass ich mich nicht mit ihm unterhalten wollte, aber der Kerl war hartnäckig und ich wusste nicht einmal warum.

„Dich möchte ich auch kennenlernen“, sagte er dann.

„Ich habe dir doch bereits gesagt, ich gehöre nicht zum …“ Als ich plötzlich die männliche, warme Hand an meiner Taille spürte, erstarrte ich einfach, nur um im nächsten Moment herumzufahren und ihm eine zu klatschen.

„Ahhh!“

Ich stolperte rückwärts weg, blieb mit dem Fuß irgendwo hängen und landete sehr schmerzhaft auf dem Hintern. Kein Mann durfte mich anfassen, das ging nicht, nicht nachdem, was ich glaubte in meiner Vergangenheit erlebt zu haben. Pal ja, auch Tyge, Kovu, Djenan und … Veith. An diese Männer war ich gewöhnt, diese kannte ich, vertraute ihnen, aber kein anderer. Nicht dieser Modre!

Ich saß auf dem Boden, mein Herz schlug mir bis zum Hals und mein Atem ging, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Mit schreckensweiten Augen sah ich das Blut in Modres Gesicht, sah den ungläubigen Blick. „Du darfst mich nicht anfassen“, hauchte ich. Wie konnte er es wagen? Was nahm er sich einfach das Recht dazu heraus? Es stand ihm nicht zu, basta!

„Ich wollte nur …“

„Nicht anfassen!“, schrie ich ihn an. „Niemals! Du darfst mich nicht anfassen!“

Ein paar Lykaner hatten die kleine Auseinandersetzung mitbekommen und eilten zu uns an den Waldrand, aber nicht zu mir, alle gingen zu ihm. Besorgt sahen sie sich die Wunde an, berührten ihn an den Armen, Schultern, Gesicht. Er war einer von ihnen, auch wenn er erst seit einiger Zeit zum Rudel gehörte, er besaß jetzt schon einen Stand bei ihnen, den ich niemals erreichen konnte. Irgendjemand rief, dass Rem, die Heilerin des Rudels, geholt werden müsste und erst jetzt erkannte ich, was passiert war.

Vier lange, blutige Striemen zogen sich über seine Wange und das Kinn. Ich hatte ihn nicht geschlagen, in meiner Panik über das Gefühl seiner Hand hatte ich ihn gekratzt, mit meinen Katzenkrallen. Dabei hatte ich nicht einmal gemerkt, wie ich mich verwandelte. Aus Talita, dem Menschenmädchen war Talita, der halbe Therianer geworden, halb Mensch, halb Schneeleopard, die perfekte Verschmelzung zweier Gattungen, eine Metamorphose, wie sie in dieser Welt gänzlich unbekannt war.

„Was fällt dir eigentlich ein, unseren Testiculus anzugreifen?“, keifte mich eine Frau mit vielen braunen Zöpfen an. Ich kannte sie vom Sehen, wusste, dass sie aus dem Wolfsbaumrudel stammte, aber ihr Name war mir entfallen. „Nur weil wir dich an unserer Seite dulden, kannst du dir noch lange nicht alles rausnehmen, so dringend brauchen wir dich auch nicht!“

Was? Aber ich hatte doch gar nichts gemacht! „Er hat mich angefasst, da ist es wohl mein gutes Recht, mich zu wehren!“, keifte ich zurück.

„Du hättest auch einfach mit ihm reden können, anstatt ihn gleich anzugreifen und jetzt versuch nicht, es zu leugnen, ich habe genau gesehen, was passiert ist!“

„Aber ich …“

„Was ist hier los?!“, donnerte Priscas Stimme an meine Ohren. Kovu war kurz hinter ihr, sah mich am Boden sitzen und drängte sich an ihr vorbei, um zu mir zu gelangen. Seine Hand an meiner Schulter fand ich tröstlich, nicht so fremd und aufdringlich, wie die Berührung von diesem Modre.

„Was ist los, alles okay mit dir?“ Besorgt musterte er mein Gesicht.

„Du fragst ob mit ihr alles okay ist?“, zeterte die braunhaarige Frau wieder los. „Sie hat unseren Testiculus angegriffen, du solltest dich um sein Wohlergehen sorgen und nicht um das dieser Katze!“

Kovus Miene verhärtete sich auf eine Art, wie ich es selten bei ihm sah. „Diese Katze hat einen Namen, Talita und das weißt du, Pirna und außerdem ist sie meine Freundin, da darf ich dann wohl doch nachfragen, ob mit ihr alles in Ordnung ist!“

„Aber sie ist nur …“

„Das reicht“, unterbrach Prisca dieses Gekeife. „Mich interessieren eure Ansichten im Moment reichlich wenig, ich will wissen, was hier passiert ist.“

„Diese Katze hat Modre angegriffen!“, ereiferte diese Furie sich sofort wieder. „Sie hat sich umgedreht und ihm die Krallen durchs Gesicht gezogen!“

„Aber nur, weil er mich angefasst hat!“, verteidigte ich mich. „Ich lass mich von ihm doch nicht befummeln, nur, weil er neu im Rudel ist!“

„In einem Rudel, in das du nicht gehörst!“, schoss Pirna zurück und machte mich damit mundtot.

Ja, ich wusste, dass ich nicht in dieses Rudel gehörte, musste mir das deswegen ständig alle unter die Nase reiben?

Prisca verschränkte die Arme vor der Brust und sah mit einem Blick auf mich hinunter, der mich schlucken ließ. Sie war sauer auf mich und zwar so richtig. Ich wollte nicht, dass sie sauer auf mich war. Nicht das mich das Gefühl an sich störte, es war eher die Tatsache, zu was ein wütender Alpha imstande war. „Talita, wie lange kennen wir uns jetzt?“

War das eine Fangfrage? Ich schluckte. „Etwas mehr als ein Jahr.“

„Und in dieser ganzen Zeit hast du nicht gelernt, wie wir miteinander umgehen?“

„Doch, aber …“

„Kein aber. Vielleicht hat er dich gegen deinen Willen berührt, aber es gibt genug andere Arten, ihm zu zeigen, dass du das nicht möchtest. Du hättest ihm nicht gleich das Gesicht zerkratzen müssen.“

„Das war keine Absicht, ich wollte …“

„Du gehörst nicht zu unserem Rudel und nimmst dir Rechte raus, die dir nicht zustehen. Vielleicht ist es an der Zeit, dass sich unsere Wege trennen.“

„Was?“ War das ihr Ernst? Ich konnte es kaum glauben, der Kerl baggerte mich an und ich sollte dafür jetzt büßen?

„Wir werden unseren Kontakt mit dir ab jetzt nur noch auf das Nötigste beschränken.“

Es war mir sofort klar, was sie damit meinte: Isla.

„Ansonsten bist du in diesem Rudel nicht länger willkommen. Es ist wohl besser, wenn du jetzt …“

„Das kannst du nicht machen!“ Wie ein Tornado stürmte Pal zu unserem kleinen Grüppchen, seine Mutter hatte er im Schlepptau. „Du kannst sie nicht wegschicken, weil dieser Arsch sie angefasst hat. Du weißt genau, wie sie auf Berührungen reagiert!“

„Ich muss das Rudel schützen und wenn sie sich so unzurechnungsfähig benimmt, muss ich sie als Gefahr einstufen. Sie hat hier nichts mehr zu suchen. Das ist meine Entscheidung.“

„Äh … ich wollte nicht …“, begann Modre, wurde aber sofort von einer unwirschen Geste seitens Priscas wieder zum Verstummen gebracht. In der Zwischenzeit hatte sich Rem zu ihm durchgeschlagen und untersuchte die Kratzer in seinem Gesicht. So wie er zusammenzuckte, mussten die ganz schon wehtun. Die bluteten auch wie sau. Wie tief hatte ich ihn nur gekratzt?

„Es ist entschieden, Talita geht jetzt und wird hier nicht mehr erwünscht sein, sollte sie zurückkehren.“

Die letzten Worte waren an mich gerichtet, eine eindeutige Warnung. Ich würde ab sofort wie jeder andere Eindringlich in ihrem Territorium behandelt werden. Warum nur? Was hatte ich denn falsch gemacht? Ich durfte mich doch wohl verteidigen. Wieder brannten meinen Augen. Warum nur heulte ich nicht endlich, warum konnte ich meinem Kummer keinen Ausdruck verleihen?

„Nein!“ Pal schüttelte wie wild den Kopf. „Das darfst du nicht, sie gehört zu uns. Du kannst sie nicht einfach wegschicken!“

Prisca kniff die Augen zusammen und wirkte damit wie ein Raubtier, das gerade seine Beute ausgemacht hatte. „Versuchst du mir etwa gerade Befehle zu geben?“ 

„Nein, natürlich nicht, aber denk doch nur mal daran, was sie alles für uns getan hat, immer noch tut. Sie gehört zu uns.“

„Pal, es tut mir leid für dich, aber ich habe dir bereits vor langer Zeit gesagt, dass du diese Katze nicht so nahe an dich heranlassen sollst. Sie ist keine von uns und sie wird es auch nie …“

„Sie ist nicht einfach nur eine Katze und du bist im Unrecht!“, spie er ihr entgegen.

„Pal“, hauchte Rem, seine Mutter bedrückt. So sprach man nicht mit dem Alpha des Rudels.

„Treib es nicht zu weit, Pal“, drohte Prisca mit leiser Stimme. Die Wut über seine unverfrorene Art, die langsam aber sicher in ihr hochkochte, pulsierte geradezu in Wellen von ihr ab.

„Aber …“ Er sah verzweifelt zischen mir und Prisca hin und her. „Bitte, Prisca, tu das nicht.“

„Es ist bereits entschieden, Talita geht!“

Das war dann wohl mein Stichwort. Bevor hier noch etwas Schlimmeres passieren konnte, nahm ich Kovus Hand von meiner Schulter und versuchte, die Bestürzung in seinem Gesicht nicht zu beachten, als ich mich auf die Beine kämpfte. Ich sah Pal und seine Eltern, Rem und Fang. Kovus Vater Tyge stand mit Domina am Rand. Sogar Wulf, Islas Vater entdeckte ich, genau wie viele andere, die ich wohl nie wiedersehen würde. Nur Veith, den sah ich nicht, obwohl ich gerne noch einen letzten Blick auf ihn erhascht hätte.

Weitere Wörter wären unnütz gewesen, deswegen wandte ich mich einfach schweigend ab.

„Nein.“ Pal packte mich am Arm, um mich am Weggehen zu hindern.

„Pal, nicht, mach es nicht noch schlimmer“, sagte ich schwach. „Bitte.“ Das würde ich nicht aushalten. Heute Abend war schon genug schiefgegangen, ich wollte nicht, dass er wegen mir Ärger bekam.

„Bitte, Prisca“, flehte der große Rote geradezu und diesen Klang in seiner Stimme zu hören, versetzte mir erneut einen Stich. „Ich bitte dich, schick sie nicht weg, bitte.“

Er bekam keine Antwort und ich musste mich nicht umdrehen, um die Endgültigkeit in Priscas Augen zu sehen, ich hatte sie schon in ihrer Stimme gehört. „Lass gut sein, Pal.“ Ich löste seine Hand von meinem Arm und ging, ohne den Blick zurückzuwerfen, in den Wald.

„Das habe ich nicht gewollt“, sagte Modre, als ich an ihm vorbeikam. „Es tut mir leid.“

Ich warf ihm nur einen Blick zu und egal, was er darin sah, es veranlasste ihn dazu, einen Schritt von mir zurückzuweichen.

„Das ist nicht richtig“, hörte ich Pal hinter mir. Schritte, die mir folgten. Ich wollte ihm schon sagen, dass er das nicht tun sollte, als Priscas Stimme ein weiteres Mal erklang.

„Wenn du jetzt gehst, Pal, dann brauchst du nicht mehr wiederkommen.“

Ich ging weiter, ohne auf die Leute in meinem Rücken zu achten, passierte die ersten Bäume.

„Was? Jetzt verbietest du mir auch noch den Umgang mit ihr?“

„Sie ist keine von uns, dass muss dir endlich klar werden.“

Einen Moment herrschte Stille und ich glaubte schon, dass das Gespräch damit beendet war, aber dann sagte Pal ganz ruhig: „Das ist falsch und das weißt du auch. Seit Julica gestorben ist, bist du ein beschissener Alpha.“

Kollektives Luftschnappen war die Antwort.

„Pal!“, kam es entsetzt von seiner Mutter. „Pal, warte, lauf nicht weg!“

Egal wohin er lief, mir folgte er nicht und ich wusste nicht, ob das schlimmer war, als die andere Variante. Aber ich konnte ja wohl schlecht von ihm verlangen, alles aufzugeben, nur weil ich meinen besten Freund nicht verlieren wollte. Pal war ein Lykaner und Lykaner brauchten Ihresgleichen. Er gehörte dort hin, ich nicht.

Niemals ich.

Mit einem tauben, leeren Körper, wanderte ich in der Nacht durch den Wald, achtete gar nicht wohin ich ging. Schritt um Schritt arbeitete ich mich weiter. Immer nur den nächsten Schritt vor Augen. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was gerade passiert war und doch bekam ich meinen Kopf von diesen Gedanken einfach nicht frei. Ich hatte Veith verloren, ich hatte Pal und Kovu verloren, ich hatte das Vertrauen der Lykaner verloren, weil ich einen von ihnen in meiner Panik angegriffen hatte.

Ich war nie ein Teil von ihnen gewesen, stand immer nur am Rand, sosehr ich mir auch gewünscht hätte, dass es anders wäre und jetzt wurde ich selbst von dort verbannt. Sie wollten mich nicht mehr in ihrer Nähe haben, die Katze, die einfach bei ihnen eingedrungen war und es irgendwie geschafft hatte, sich in ihre Reihen zu drängen. Die Zeit war vorbei. Nie mehr würde ich die steile Falte auf Veiths Stirn sehen, wenn er über etwas nachdachte, nie mehr Kovus Lachen hören, oder mich an dem halben Lächeln von Pal erfreuen können. Aus und vorbei.

„Talita?“

Obwohl die Stimme ganz unvermittelt kam, zuckte ich nicht zusammen. Ich drehte mich einfach herum und sah Tyge, der auf mich zukam. Hinter ihm lief Domina. Beide trugen denselben Gesichtsausdruck: Bedauern.

„Ich brauche keine Eskorte“, teilte ich ihnen mit. „Ich werde auf direktem Weg verschwinden und keine Angst, ich habe es kapiert, ich werde nicht zurückkommen.“ Nie mehr. Hier gab es nichts mehr für mich.

„Wir sind nicht hier um dich zu begleiten“, sagte Tyge. „Genaugenommen weiß Prisca nicht mal, dass wir hier sind.“

„Sie würde uns wahrscheinlich den Kopf abreißen, wenn sie es wüsste“, fügte Domina hinzu.

Ich verstand nicht. „Und warum seid ihr dann hier?“ Wollt ihr euch an meinem Leid laben? Nein, so grausam waren sie nicht.

Zur Antwort riss Tyge mich in eine Umarmung und drückte mich an sich. Er war wie eine ältere Version von seinem Sohn Veith. Hellbraunes Haar, gelbe Augen, breite Schultern und genauso groß wie ich. „Es tut mir leid“, sagte er leise. „Ich gebe es nicht gerne zu, aber Pal hat Recht. Seit Julicas Tod hat Prisca sich verändert, leider nicht zum Guten.“

„Ich komm schon klar.“ Was sollte ich auch sonst sagen?

„Nein, es ist nicht richtig.“ Unwirsch schob er mich von sich und rahmte mein Gesicht mit den Händen ein. „Es tut mir so leid und ich will auch nicht, dass du gehst.“

„Ich auch nicht“, warf Domina ein. „Irgendwie kann ich dich ganz gut leiden.“

Was?

„Es ist nicht richtig und ich bedauere es zutiefst.“ Tyges Daumen strich über meine Wange. „Es ist, als würde ich eine Tochter verlieren.“

„Eine Tochter?“

„Natürlich.“

Ich wusste nicht, was es war, seine Worte, seine Nähe, oder einfach seine Wärme, aber plötzlich brach der Damm und der ganze Kummer dieses Abends brach aus mir hervor. Veith, Pal, Prisca …

Meine Augen liefen einfach über. Ich warf mich an Tyges Brust und klammerte mich an ihn, als hinge mein Leben davon ab. Ich wollte ihn nicht verlieren, keinen von ihnen, nicht mal Prisca. Warum nur, warum musste mir das passieren? Das war nicht gerecht. Ich wollte das nicht. Warum konnte für  mich nie etwas gut laufen? War ich so ein schlechter Mensch?

„Schhh, ist ja gut“, versuchte Tyge mich zu trösten, aber gar nichts war gut, das wusste er genauso gut wie ich. „Vielleicht wird Prisca sich ja noch einmal besinnen. Ich werde noch mal mit ihr reden. Du wirst schon sehen, alles kommt wieder in Ordnung.“

Das brachte mich nur noch stärker zum Weinen. Er wusste genauso gut wie ich, dass sich nichts mehr ändern würde. Lykaner waren Sturköpfe und nichts konnte sie von ihrem Starrsinn abbringen.

Tyge versuchte weiter, mich mit Worten und Gesten zu trösten, rieb mir unentwegt über meinen Rücken, doch es dauerte sehr lange, bis ich mich von ihm lösen konnte. „Es tut mir wirklich leid“, waren seine letzten Worte an mich, bevor ich mich abwandte und meinen Weg allein beschritt.

Ich sah nicht mehr, dass auch seine Augen glänzten, oder wie Domina sich unauffällig eine Träne aus dem Gesicht wischte. Ich wusste nicht, welche Folgen mein Rausschmiss im Rudel hatte, was dort gerade los war und es interessierte mich auch nicht, viel zu sehr war ich gefangen in meinem eigenen Kummer.

Dieses Fest war nicht nur ein Reinfall gewesen, sondern ein komplettes Desaster – zumindest für mich. Ich hatte gewusst, dass dieser Zeitpunkt eines Tages kommen würde, dass ich gehen musste, aber ich hatte keinen Ahnung gehabt, wie sehr es mich schmerzen würde.

Meine Zeit bei den Lykanern war abgelaufen und es gab kein Zurück.

 

°°°

 

„Komm schon, trink das, das beruhigt die Nerven.“ Kaj drückte mir einen Becher mit heißem Tee in die Hand und setzte sich wieder neben mich auf die Couch.

Ich war in den frühen Morgenstunden Zuhause angekommen, konnte aber nicht schlafen. Zu sehr drehten sich meine Gedanken um die Geschehnisse. Ich wusste nicht einmal, wie ich es hierher geschafft hatte, oder wie ich auf dem Sofa gelandet war. Das Einzige, was mir noch vor Augen stand, war mein Bett, die Tränen die ich dort vergossen hatte. Dadurch war Kaj auch wach geworden und hatte mich gezwungen, ihr zu erzählen, was geschehen war.

„Warum hast du mir nicht gesagt, das Veith ein Testiculus ist? Ich hätte es dir doch erklärt“, hatte sie gesagt. Die einfache Antwort darauf? Ich hatte nicht daran gedacht.

„Es tut mir leid, Talita.“ Sie legte mir den Arm um die Schultern und drückte mich an sich. „Aber du hast ja noch mich.“

Ich zwang mich zu einem kleinen Lächeln, von dem mein ganzes Gesicht schmerzte. Ich war fertig, hohl, mit den Nerven am Boden. Wie hatten sie mir das nur antun können? Ich hatte doch nichts Falsches getan. Das war es, was mich an der Sache am meisten beschäftigte, ich hatte nichts Falsches getan! Warum also fühlte ich mich wie die Schuldige?

Es war noch sehr früh, kurz nach sieben. Raissa schlief noch, aber sie würde gleich aufstehen müssen, um sich für die Schule fertig zu machen. Vielleicht wäre es besser, wenn ich mich wieder in mein Zimmer verziehen würde. Es war sicher nicht gut, wenn sie mich in diesem Zustand sah.

„Komm schon, Tal, es wird wieder besser werden. Glaub mir, ich weiß, wie du dich fühlst.“

Natürlich wusste sie das. Sie wurde auch aus einem Rudel verbannt, nur musste es für sie noch schlimmer gewesen sein, denn sie hatte wirklich dazugehört. Ich nicht, ich war immer nur eine Randfigur gewesen, die man nur beachtet hatte, wenn sie gebraucht wurde. Und trotzdem, ich hatte mich mit diesem Los wohlgefühlt und jetzt war alles weg. Kein Kovu mehr, kein Pal, oder Tyge. Kein Veith. Nie mehr Veith.

Erneut löste sich eine Träne aus meinem Auge, rollte über meine Wange und fiel in meinen Tee. Das Getränk war heiß, konnte die Kälte in meinem Körper aber nicht verdrängen.

Es ist, als würde ich eine Tochter verlieren.

Eine zweite Träne gesellte sich zu der ersten.

Bitte, Prisca, ich bitte dich, schick sie nicht weg. Bitte.

Eine dritte.

„Hey, nicht weinen.“ Kaj versuchte mir die Tränen von den Wangen zu streichen, die immer mehr zu werden schienen. „Diese Lykaner wissen doch gar nicht was sie an dir haben. Wenn sie dich so behandeln, ist das ihr Verlust. Sie sind es nicht wert, dass du auch nur eine Träne um sie vergießt. Komm schon, Tal, alles wird wieder gut.“ Sie nahm meinen Becher aus der Hand und drückte meine Hände. „Und außerdem musst du auch die guten Seiten an der Sache sehen.“

Da gab es gute Seiten? Die musste sich aber gut versteckt halten. „Und die wären?“, fragte ich schwach.

„Naja, jetzt haben wir eine weitere Sache, die uns miteinander verbindet.“ Sie überlegte kurz. „Wir könnten auch einen Club gründen, den Club der Ausgestoßenen.“

„Das wäre aber ein sehr kleiner Club.“

„Nein, nicht klein, nur sehr exklusiv.“

Das ließ meinen Mundwinkel zucken. Auf solche Ideen konnte auch nur sie kommen.

„Na siehst du, so gefällst du mir gleich viel bessern. Und jetzt …“

Ich sollte nicht mehr erfahren, was und jetzt war, denn genau in dem Moment klingelte es an der Tür. Beide warfen wir gleichzeitig einen Blick zur Uhr und dann zur Tür. Es war noch viel zu früh für Besuch – nicht das wir viel bekämen.

„Wer kann das sein?“

Ich zuckte nur die Schultern, war genauso ratlos wie sie.

Als es erneut klingelte, erhob Kaj sich. „Bleib sitzen, ich gucke mal, wer da stört und wenn es wieder einer von diesen Werbefritzen ist, dann wird mein Frühstück ungewöhnlich kulinarisch ausfallen.“

Sie verschwand in den Flur, während ich einfach blieb wo ich war und meine Hände anstarrte. Lange schlanke Finger, der kleine Finger ein wenig Krumm. Veith meinte einmal zu mir, dass er gebrochen gewesen sein musste.

Veith …

Verdammt, warum musste er nur ständig meine Gedanken beherrschen? Das war ja schon wie eine Sucht.

Die Wohnungstür wurde geöffnet und ich hörte leises Gemurmel. Kurz darauf trat Kaj mit zwei Wächtern an der Seite ins Wohnzimmer.

Sofort war ich alarmiert. Hastig wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht. „Ist etwas passiert?“

„Frau Talita Kleiber München, nehme ich an?“ Das kam von dem kleineren der beiden, einem Zwerg – nein, das war keine Beleidigung, es war wirklich ein Zwerg, nur ohne diese albernen, roten Zipfelmützen.

Ich nickte bestätigend.

„Sie müssen uns begleiten.“

„Was? Warum?“

„Es gab einen Vorfall bei den verzauberten Lykanern, die Sie betreuen und wir brauchen Zugang zu dem Gelände.“

Bitte? „Warum, was ist denn los?“

Kaj zuckte nur mit den Schultern, sie konnte sich darauf auch keinen Reim machen.

„Wir bekamen vor gut einer Stunde einen Hilferuf. Ein Anwohner in der Nähe vom Urwaldpark hat Schreie vernommen.“

„Schreie?“

„Todesschreie“, ergriff der größere von den beiden zum ersten Mal das Wort, ein Incubus, mit einer sehr tiefen Stimme.

Ich konnte richtig spüren, wie mir jegliche Farbe aus dem Gesicht wich. „ Tod-Todesschreie?“

„Frau München“, sagte der Zwerg sehr eindringlich, „auf dem Gelände der verzauberten Lykaner liegt ein Toter und ohne Sie kommen wir nicht durch den Schutzschild.“

 

°°°

 

Es war ein zweites Mal geschehen, jemand war durch den Schild gekommen, nur war dieses Mal niemand da, der dazwischen gehen konnte. Saphir hatte wohl versucht den Eindringlich zu schützen, aber dieses Mal war es nicht Grey gewesen, der sein Revier verteidigt hatte, sondern das ganze Rudel. Ja, Grey war nicht mal beteiligt gewesen, befand er sich doch noch im Zwinger, wo ich ihn bei meiner Abreise eingesperrt hatte, oder wurde er herausgelassen? Von wem?

Die Wächter konnten mir diese Frage nicht beantworten. Sie wussten nur, dass es einen Toten gab und dass sie ohne mich nicht an ihn herankamen. Es waren nur wenige Informationen, die ich von den Wächtern auf dem Weg zum Dschungelpark bekam, einfach, weil sie selber nicht mehr wussten.

Tatsache war, irgendwie war jemand durch das Schild gekommen. Die Wölfe hatten sich auf den Eindringling gestürzt und durch die Schreie waren einige Anwohner darauf aufmerksam geworden. Doch als die Wächter endlich ausmachen konnten, woher die Unruhe kam, waren die Schreie bereits auf ewig verstummt.

 

°°°

 

Ich hatte keine Ahnung, womit ich gerechnet hatte, aber das, was mich erwartete, hätte ich mir nicht mal im Traum ausmalen können – obwohl Alptraum ja besser passte. Schon aus der Ferne erkannte ich, wo das Unglück geschehen sein musste, denn davor war ein riesiger Menschenauflauf und dem musste ich mich nun allein stellen, da Kaj bei Raissa geblieben war. Das Kind hatte hier definitiv nichts zu suchen und allein lassen konnte man die Kleine auch nicht, dafür war sie einfach noch zu jung.

Ich sah Nachrichtenteams, die eifrig Zeugen befragten, um eine Schlagzeile für ihre Zeitung zu bekommen. Wesen in Morgenmantel und Hausschlappen liefen herum und versuchten einen Blick auf das Geschehen zu werfen – das mussten die Anwohner der umliegenden Häuser sein. Kreuz und quer standen Moobs auf der Straße, am Rand waren ein paar Greife an einen Mast befestig und inmitten dieses Chaos, entdeckte ich sogar eine Kutsche mit Glatisants, die unruhig mit den Hufen scharten. Dazwischen liefen überall Wächter in allen möglichen Gestalten herum. Auch wenn das Gebiet um den Schutzschild weitläufig von ihnen abgeriegelt war, so hatten sie noch alle Hände damit zu tun, die drängende Menge in Schach zu halten. Wo kamen die nur alle her? Und das dann auch noch um diese Uhrzeit.

Wie in Trance näherte ich mich diesen Leuten und bemerkte die Protestanten erst, als ihre Rufe an meine Ohren eilten.

„Sie sind nicht wie wir!“

„Der Codex ist nur für Mortatia, nicht für Tiere!“

„Mörder!“

„Tiere!“

„Eins zwei drei vier, wir wollen keine Mörder hier, fünf sechs sieben acht, die haben jemand umgebracht! Eins zwei drei vier …“

Auf den Schildern, die sie zum Himmel streckten, standen ähnlich Parolen. Eines dieser Plakate zeigte ein Bild von toten Lykanern, ein Bild, welches sich in meiner Erinnerung gebrannt hatte, damals am Drachenfelsen. Überall um den Drachen herum lagen tote, aufgerissene und verbrannte Kadaver von Wölfen, die ihre erste Begegnung mit der Riesenechse nicht überlebt hatten. Manche von ihnen waren nur schwer verletzt und diese versuchten alles, um wieder auf die Beine zu kommen und den Drachen erneut zu attackieren. Es war, als sei das ihr einziger Lebensinhalt, ein implizierter Gedanke, gegen den sie sich nicht wehren konnten. Grausamkeit in ihrer reinsten Form.

Quer über dieses Bild war mit roter Farbe nur ein einziges Wort geschrieben: Drachenfutter. Mir wurde eiskalt. Woher hatten sie dieses Bild? Wer waren diese Leute und was fiel ihnen eigentlich ein über Dinge zu urteilen, von denen sie nicht die geringste Ahnung hatten.

„Beachten Sie sie gar nicht, das wollen die doch nur“, sagte der Wächterzwerg, den ich in der Zwischenzeit unter dem Namen Wächter Gobbles kannte. „Gehen sie einfach weiter.“

Nicht beachten? Wie konnte ich diese Leute nicht beachten, wo sie doch für den Tod von etwas plädierten, an das ich mein Herzblut gehangen hatte? Ich hatte so hart für die Verlorenen Wölfe gearbeitet und jetzt waren sie meine letzte Verbindung, zu den Lykanern. Was sollte ich nur machen, wenn sie mir die auch noch nahmen? Was sollte aus meinen Wölfen werden?

Irgendwo schrie jemand: „Das ist sie, das ist ihre Hüterin, sie ist daran schuld!“ Und damit ging es richtig los. Ich kam gar nicht dazu mich zu fragen, woher die Protestanten wussten, dass ich die Hüterin der Verlorenen Wölfe war. Plötzlich wurde ich von allen Seiten bedrängt. Die Leute stürmten auf mich ein und ich wurde von ihnen nur nicht überrannt, weil Wächter Gobbles und Wächter Kleeb – der Incubus – mich schnell weiter drängten und andere Wächter schnell herbeieilten, um die Masse auf Abstand zu halten. Trotzdem hörte ich was sie mir zuschrien.

„Warum schützt du Mörder?“

„Gib uns die Bestien!“

„Du bist der Übeltäter, du hast sie zu dem gemacht, was sie sind!“

„Sie soll mit ihnen hängen!“

Mörder? Bestien? Ich war schuld? Wie konnten diese Leute das nur sagen? Wer waren sie überhaupt, dass sie sich das Recht rausnahmen, über etwas zu urteilen, von dem sie keine Ahnung hatten? Ich wollte es nicht zugeben, aber die Worte trafen mich. Sahen diese Wesen die Verlorenen Wölfe wirklich in so schlechtem Licht? Warum? Was hatten sie hier überhaupt zu suchen? Ich verstand das nicht, es wollte mir einfach nicht in den Kopf.

Die Wächter brachten mich an den Leuten vorbei, hinter das rote Absperrband, direkt an den Schutzschild, wo bereits andere Wächter standen, ein ganzes Team. Spurensicherung, Gerichtsmediziner. Unter ihnen erkannte ich auch den Vampir Recep, der mir in der Vergangenheit einmal geholfen hatte – oder es zumindest auf den Wunsch von meinem Mentor Djenan versucht hatte.  

Nun tat er so, als würde er mich nicht kennen. Nicht mal ein aufmunterndes Nicken in meine Richtung, dabei hätte ich das gerade gut gebrauchen können. Mir graute es vor dem Moment, in dem ich gezwungen war, durch den Schild zu gucken, aber leider kam ich da nicht Drumherum. Ich war die Hüterin, ich war die Einzige, die uneingeschränkten Zugang in dieses Gebiet hatte und auch andere hineinführen konnte.

Drei Mal atmete ich tief durch, bevor ich es wagte, den Blick auf meine kleine Welt, hinter der magischen Barriere zu werfen …

Entgegen meiner Erwartungen entdeckte ich dort keine zerfetzte Leiche, die in ihren Einzelteilen über den ganzen Platz verteilt war, nur die Verlorenen Wölfe, die unruhig und nervös von der ungewohnte Situation, am Rand der Bäume hin und her streiften. Dabei ließen sie die gaffende Menge hinter den Schilden nicht aus den Augen.

In mir reifte ein grauenhaftes Hirngespinst heran. Hatten meine Wölfe den Eindringling gefressen? Allein von dem Gedanken daran wurde mir so schlecht, dass ich die Galle bereits in meinem Mund schmecken konnte.

„Könnten Sie uns jetzt endlich durchlassen?“, wurde ich rüde von der Seite angemacht. Recep.

„Ja, ich …“ Mein Blick schweifte wieder zu den Verlorenen Wölfen. Sie hatten mich bereits entdeckt, vielleicht auch meine Geruch aufgefangen. Mit aufgerichteten Ohren standen sie am Waldrand und warteten auf mich, ich gehörte zu ihnen. Saphir dagegen konnte ich nicht erspähen. Wo war sie? „Ich muss erst die Wölfe wegsperren, ich muss … Sie müssen mir einen Moment Zeit geben.“

„Ich komme gleich mit rein“, sagte Recep sofort.

„Nein, das geht nicht.“

„Und warum nicht?“ Er kniff die Augen zusammen. „Haben Sie etwas zu verbergen, dass Sie schnell verschwinden lassen wollen, bevor wir es sehen können?“

Was? Unterstellte der mir da etwa gerade, dass ich ein Verbrechen plante? Das mit den zusammengekniffenen Augen konnte ich mindestens genauso gut wie er. „Bitte, wie Sie wollen, dann kommen Sie halt gleich mit rein, aber heulen Sie mir nicht die Ohren voll, wenn die Wölfe auf Sie losgehen, weil sie ihr Revier verteidigen wollen.“

„Sind sie gefährlich?“, kam da die Frage von Wächter Gobbles.

Ich wandte mich zu ihm um. „Nicht für mich.“

„Das ist ein eindeutiges Ja“, beschloss Recep.

Verflucht noch mal, was hatte der Kerl plötzlich gegen mich? Hatte ich ihm irgendetwas getan? Ich meine, ich hatte ihn bisher nur zweimal getroffen – einmal um Akten von ihm zu bekommen und einmal, um sie ihm wieder zurückzugeben – und auch wenn er bei diesen Begegnungen nicht gerade herzlich gewesen war, so war er mir wenigstens nicht feindlich gesinnt. „Das bedeutet einfach, dass diese Lykaner zurzeit noch in einer Magieschleife festhängen und nichts weiter als Tiere sind. Sie verhalten sich, wie ihre Instinkte es von ihnen verlangen und Sie alle wären Eindringlinge ins Rudel. Im besten Falle würden sie Sie einfach aus dem Revier jagen, um schlechtesten würden sie das Revier nicht mehr verlassen. Also ja, für Fremde sind sie gefährlich, aber nicht gefährlicher, als jedes andere Raubtier auch. Deswegen ist ja dieses Schutzschild hier, damit kein Unbefugter einfach hineingehen kann!“ So, dass sollte er erst mal schlucken.

Recep sah mich einen Moment völlig ausdruckslos an. In seinem Blick lag eine Kälte, die mich frösteln ließ. Was hatte der Kerl nur plötzlich gegen mich? „Aber es ist ein Unbefugter eingedrungen und deswegen ist er jetzt tot.“

So. ein. Arsch! „Ja und Sie werden sich dazugesellen, wenn sie mich die Wölfe nicht wegsperren lassen, bevor Sie das Gebiet betreten.“

Wir lieferten uns ein stummes Blickduell, das von Wächter Gobbles unterbrochen wurde.

„Lass sie die Wölfe wegsperren, Recep. Mit deinem Verhalten verschwendest du nur Zeit.“

Da hast du es, du Idiot!

„Frau München“, sprach der kleine Mann mich an. „Wenn Sie dann bitte fortfahren würden.“

Ich nickte ihm zu, warf Recep noch einen verärgerten Blick zu und trat dann durch den Schild. Wie Wasser auf der Haut fühlte es sich an. Kühl, fließend und dann war ich durch – komplett trocken – und das Gefühl verschwunden.

Aus den Schatten der Bäume trat Lokos einen Schritt vor und streckte die Nase in die Luft – Simyo gleich hinter ihm. Sie erkannten meinen Geruch, aber meine Aufmachung war ihnen fremd, wurde mir klar. Ich betrat ihr Revier normalerweise nie ohne ein Fell. Zu gefährlich, wie ich bereits am eignen Leib gespürt hatte. ich brauchte selber Krallen und Zähne, um mich bei ihren rauen Spielchen durchsetzen zu können. Ein Fell zum Schutz vor Kratzern war auch nicht zu verachten.

Mit einem tiefen Atemzug ließ ich meiner Magie freien Lauf und konnte spüren, wie mein Körper sich veränderte, wie ich zum Teil zu einer Katze mutierte, zu einem Schneeleoparden. Erst als das geschafft war, wagte ich mich weiter in das Territorium vor. Sieben Schritte weit kam ich, dann stürmten die Wölfe auf mich zu. Lokos rammte mich in die Beine, Junina winselte freudig und von Simyos stürmischer Begrüßung wurde ich fast umgerissen. Isla war ein wenig zurückgeblieben, sie hielt sich immer leicht im Hintergrund, aber auch sie gab heisere Kläfflaute von sich, die ihre Freude über meine Rückkehr ausdrückten. Kanin war an den Bäumen zurückgeblieben und beobachtete, die Menge im Hintergrund. Sie war nicht mehr vollkommen Wolf, verstand, was hier vor sich ging, auch wenn die Rückverwandlung noch nicht funktionierte, oder sie sich verbal nicht verständlich machen konnte.

„Ja, ist ja gut, ich freu mich auch euch zu sehen.“ Von allen Seiten wurde ich bedrängt, streichelte hier ein Ohr und dort ein Stückchen Fell und irgendwer zog mir auch einmal sie Zunge quer übers Gesicht – igitt. Die ganze Zeit spürte ich die Blicke der Wächter in meinem Rücken. So sehr ich sie auch zu verdrängen versuchte, sie machten mich nervös und damit auch die Wölfe. Immer wieder warfen sie Blicke zum Schutzschild. Simyo knurrte sie einmal an und Junina hatte die Ohren angelegt.

Doch bei all den Wölfen um mich herum, konnte ich Saphir nicht entdecken. Wo war sie nur?

Ich warf noch einen Blick zum Schild, dann zum Waldrand und wandte mich dann mit einem Lächeln meinen Wölfen zu – dabei nur nicht die Zähne zeigen, das könnten die Wölfe als Drohgebärde auffangen, Zähne blecken halt. „Kommt“, rief ich laut, „kommt mit mir.“ Ich lief los, langsam, bis zum Waldrand. Lokos stand noch immer auf der offenen Fläche und knurrte die Schaulustigen an. „Lokos!“, rief ich. „Komm!“ Ich stieß noch einen schrillen Pfiff aus, ein Zeichen für die Wölfe, mit mir zu laufen und dann rannte ich los – sie folgten mir, oder besser gesagt, liefen mit mir.

Für die Pelzträger war das nichts weiter als ein Spiel. Sie verstanden nicht, dass hier etwas Schlimmes geschehen war, dass sie einen gravierenden Fehler begangen hatten. Der Eindringlich war erlegt – auch wenn ich ihn nicht finden konnte –, ich war wieder da und tobte nun mit ihnen durch den Wald, wie ich es bereits so oft getan hatte. Nur Kanin, die folgte mir nicht, aber um sie musste ich mir auch weiter keine Sorgen machen. Sie war noch nicht wieder, wer sie war, aber sie konnte klar genug denken, um nichts Falsches zu tun.

Die Zwinger der Wölfe langen nicht weit entfernt auf einer kleinen Freifläche, auf der es nichts weiter gab als Moos und ein paar vereinzelten Mangroven. Insgesamt fünf Zwinger, einer davon war belegt – Grey. Als ich ihn im Schatten der Bäume liegen sah, viel mir ein ganzer Steinbruch vom Herzen. Er war noch genau dort, wo ich ihn hingetan hatte, also konnte er nicht an der Tötung beteiligt gewesen sein – welch schwacher Trost.

Ich sperrte die Wölfe in die Zwinger, immer vier bis sechs in einen, je nachdem, wie gut sie sich miteinander verstanden. Lokos musste ich praktisch reinschieben, weil er die Käfige nicht mochte und Simyo bekam von mir eins auf die Nase, als er versuchte, am Gitter hochzuklettern. Ja, er war wie ein Wolf, aber er besaß Hände und Füße wie ein Mensch und er hatte gelernt, diese zu nutzen. „Seid schön artig, ich lasse euch bald wieder raus“, sagte ich ihnen noch und wandte mich dann ab. Grey trottete zum Tor, in der Erwartung, dass ich ihn nun raus lassen würde und heulte enttäuscht zum Himmel, als ich einfach an seinem Gehege vorbeiging. Die anderen stimmten sofort mit ein. Ein Ruf, der mich zurücklocken sollte, nur war das gerade nicht drinnen. Später, aber nicht jetzt.

Im Eilschritt machte ich mich daran, zurück zum Schild zu kommen und bekam fast einen Herzinfarkt, als Saphir mir plötzlich in den Weg sprang. „Verdammt!“, fluchte ich und legte mir eine Hand aus Herz, das wie wild in meiner Brust schlug. „Musst du mich so erschrecken?“

„Das wollte ich nicht.“ Sie schloss sich mir an, auf meinem Weg zurück.

„Wo warst du?“

„Ich habe die Leiche bewacht, damit die Wölfe sich nicht daran vergreifen konnten.“

Ach so, dass ergab natürlich Sinn. Einen Moment zögerte ich, doch die Frage musste einfach gestellt werden. „Was ist hier passiert?“

„Ich weiß es nicht genau, ich habe geschlafen. Erst die Schreie des Jungen haben mich aufgeweckt, doch als ich dazukam, war er bereits tot. Ich konnte die Wölfe nur noch von der Leiche wegbeißen.“

Scheiße.

„Talita?“

„Ja?“

Wir näherten uns dem Schild, wo ich die Wächter bereits ungeduldig auf mich warten sehen konnte.

„Es ist der Elf, du weißt schon, der Junge, der bereits vor zwei Tagen durch das Schild gekommen ist.“

Das ließ mich wirksamer anhalten, als es eine Mauer aus massivem Stein hätte tun können. „Was?“

„Der Junge, den wir gerade so noch hatten retten können. Er ist zurückgekommen, nur hat er es dieses Mal nicht überlebt.“

Ich konnte es nicht glauben, das konnte einfach nicht wahr sein. Was war hier nur geschehen? Wie war der Junge durch das Schild gekommen? Ohne mich sollte das doch eigentlich unmöglich sein.

 

 

°°°

 

„Das heißt sie kennen den Jungen?“, wollte Wächter Gobbles wissen.

Ich warf einen Blick über die Schulter zu dem Lebensbaum, zu dessen Fuß sich der übel zugerichtete Leichnam des Elfen befand. Bei seinem Anblick hatte mich erst mal ins nächste Gebüsch übergeben müssen. Die Wölfe hatten ihn wirklich zerfetzt. Am Schild gepackt, mit Zähnen ins Gebüsch geschleift und dann getötet. Nur so jedenfalls konnte ich mir seine Fundstelle so tief im Wald erklären.

„Frau München?“

Ob die wohl jemals kapierten, dass mein Nachname Kleiber war? Blöd nur, dass man hierzulande mit dem Ort angesprochen wurde, in dem man geboren wurde. Seufz. „Kennen ist zu viel gesagt, ich habe ihn nur einmal gesehen und ihn dann im hohen Bogen nach draußen befördert.“ Und niemals damit gerechnet, dass er noch einmal einen Fuß hier rein wagen würde, nicht, nachdem er Grey begegnet war und ich ihn so zur Sau gemacht hatte.

„Damit wollen Sie sagen, dass er bereits einmal das Schutzschild ohne ihre Hilfe durchtreten hat?“

Wir standen ein Stück weit vom Tatort entfernt, wo ich alles mitbekam. Saphir wurde ein Stück weiter verhört und Kanin hatte sich unter dem wirren Wurzelwerk einer Würgefeige niedergelassen. Die Wächter hatten auch sie vernehmen wollten und es hatte mich einige Mühe gekostet, ihnen zu verklickern, dass das zu diesem Zeitpunkt nicht möglich war. Sie kann nicht sprechen, bitte fragen Sie in einer Woche noch einmal nach, danke. Sie hatten mir nicht glauben wollen. Erst als sie sich die Bestätigung bei Saphir geholt hatten, ließen sie mich mit diesem Thema in Ruhe – vorläufig.

„Frau von München, bitte beantworten Sie mir die Frage.“

„Warum? Ich habe Ihnen das alles bereits zweimal erzählt. Warum stellen Sie mir diese Fragen immer und immer wieder?“ Dieselben stupiden Fragen, lag mir noch auf der Zunge, aber das verkniff ich mir. 

„Weil es sein kann, dass Sie etwas vergessen haben, nicht mit Absicht, das möchte ich Ihnen nicht unterstellen, aber in der Aufregung ist es gut möglich und durch mehrmaliges Nachfragen bekomme ich vielleicht neue Erkenntnisse.“

Klang logisch, auch wenn ich nicht glaubte, dass es etwas bringen würde. Ich seufzte. „Ja, der Junge ist bereits vor zwei Tagen durch den Schutzschild gekommen. Er sagte, er sei einfach hindurch gefallen. Ich weiß nicht, ob das stimmt, ich war nicht dabei.“

„Was ist dann geschehen?“

„Ich habe ihn zur Sau gemacht und fortgejagt, das hier ist schließlich kein Streichelzoo und Wölfe – besonders diese hier – sind nun mal sehr revierfixiert. Sie mögen keine Fremden.“

Er warf einen Blick zu Kanin, die uns ruhig beobachtete. „Und was ist mit denen, die langsam wieder sie selbst werden?“

Diese Frage war neu. Ich setzte ein schiefes Lächeln auf, nur leider hatte es nicht den Hauch von Fröhlichkeit an sich. „Sie sind Lykaner, die sind mindestens genauso schlimm, nur denken die nach, bevor sie etwas tun. Sie verjagen Eindringe eigentlich nur.“

„Wollen Sie damit sagen, dass diese Wölfin dort ganz bewusst gehandelt hat?“

Ich kniff bei dieser unterschwelligen Verdächtigung die Augen zusammen. „Kanin hat nichts getan. Fragen Sie Saphir, die kann Ihnen das sicher bestätigen.“

„Und was macht Sie da so sicher?“

Ich seufzte wieder. Diese Befragung raubte mir meine letzte Kraft. Nach der misslungenen Nacht hatte ich nicht einmal schlafen können und die Müdigkeit hatte sich bereits bleiern in meinen Knochen festgesetzt. Eigentlich wollte ich nur noch ins Bett. Nichts sehen, nichts hören, nichts denken. Nur friedlicher Schlaf, in dem ich die Welt einen Augenblick ausschließen konnte. „Hören sie, meine Wölfe sind nicht grausam, sie sind instinktgeleitet. Man könnte sie im Moment als nicht zurechnungsfähig betrachten. Kanin steht im Augenblick auf einem völlig anderen Blatt. Sie findet gerade zu sich selber zurück, aber glauben Sie mir, sie hat im Moment keinerlei Ambitionen etwas zu tun, das sie an einer Rückkehr in ihr Rudel hindern könnte. Kanin will nur eines, nach Hause und würde nichts tun, was sie auf diesem Weg behindern könnte.“

Er nickte verstehend und blätterte dann durch seinen Block. „Wir haben einen Zeugen auftreiben können, der behauptet gesehen zu haben, wie das Opfer zielgerade auf dieses Gebiet zugelaufen sei. Unser Zeuge sagt, dass der junge Elf einfach durch den Schild gegangen ist, um dann im Wald zu verschwinden. Die Schreie begannen kurz darauf.“

„Was?“ Hatte ich das richtig verstanden? Der Junge war einfach hier reinspaziert, als handelte es sich um einen ganz gewöhnlichen Sonntagnachmittag, an dem man sich ein bisschen die Beine vertreten wollte? „Das … warum sollte er das tun? Er hat seine erste Begegnung mit den Wölfen ganz knapp mit einem Schrecken überlebt.“

„Ich habe gehofft, dass Sie mir das sagen könnten.“

„Nein, ich weiß nicht …“ Ich schüttelte den Kopf, bekam das alles einfach nicht richtig zu fassen? „Wie ist das möglich? Ich meine, eigentlich sollte keiner außer mir in der Lage sein, den Schild zu durchtreten.“

„Den Schild, den der Magier Anwar von Sternheim errichtet hat, der Mann, der wegen dem Tod seines einzigen Sohnes einen Hass auf die Lykaner hegt.“

„Nein, ich meine Ja, aber was ich meinte, Anwar hat die Lykaner bereits vorher gehasst. Keine Ahnung warum.“

„Danke, das wäre dann erst mal alles.“ Er klappte seinen Block zusammen und ließ ihn in seiner Hosentasche verschwinden. „Ich möchte, dass Sie sich für weitere Befragungen zur Verfügung halten und vor Ort bleiben.“

„Keine Sorge, ich hatte nicht vor die Stadt zu verlassen“, sagte ich geistesabwesend, mir den Gedanken ganz woanders. Der Verdacht, dass Anwar etwas mit dem defekten Schild zu tun hatte, war mir bereits selber gekommen. Warum nur hatte ich diesen Vorfall so auf die leichte Schulter genommen?

So ein verfluchter Dreck, ich hätte mich nicht von der Feier der Lykaner ablenken lassen dürften, hätte bereits gestern zum Hohen Rat gemusst, vielleicht hätte ich diese Tragödie damit verhindern können.

 

°°°°°

Tag 450

„Was soll ich sagen, der Schild ist vollkommen in Ordnung, ein meisterliches Stück Handwerk, an dem es nichts auszusetzen gibt.“ Liebevoll tätschelte der Magier die glatte Oberfläche und sah zu, wie der Schild unter seiner Hand leicht zu schimmern begann.

Was? Wollte der mich verarschen? Und für diese dämliche Aussage stand ich mir hier bereits den ganzen Morgen die Beine in den Bauch? „Nichts auszusetzen? Hier ist gestern ein Junge gestorben, weil er einfach durch den Schild gehen konnte. Irgendwas muss daran kaputt sein!“

Dafür bekam ich nur ein kurzes Heben mit der Augenbraue, von diesem überheblichen A-Popo.

Heute Morgen nach dem Aufstehen hatte ich mich gleich auf dem Weg zum Hohen Rat gemacht, um jemanden zu besorgen, der das Problem in dem Schild finden und reparieren konnte. Ich wäre ja lieber gleich noch gestern gegangen, aber bis die ganzen Wächter und Schaulustigen weg waren, hatte der Abend sich bereits angekündigt und nach sechs Uhr arbeitete kein Beamter mehr im Ratsgebäude, was im Endeffekt hieß, dass ich bis heute warten musste, nur um an diesem Grünschnabel zu geraten, der mir jetzt allen Ernstes erzählen wollte, das mit dem Schild alles in Ordnung war. zu allem Überfluss hatte sich das Wetter rapide verschlechtert. Der Himmel war mit dunkeln Wolken behangen, die davon kündeten, dass es jederzeit zu einem sintflutartigen Regen kommen konnte. „Irgendwas muss kaputt sein“, beharrte ich etwas ruhiger. „Es ist bisher noch nie passiert, dass ohne mich jemand durch den Schild kam. Nicht mal der Magier, der ihn errichtet hat, kann ihn durchschreiten.“ Den auch vor ihm mussten meine Wölfe geschützt sein. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, zu was der Magier Anwar fähig war, wenn er die Chance dazu bekam. Nur einmal hatte ich die Kraft hinter seiner Wut erlebt und die wollte ich niemals am eigenen Leib erfahren.

„Egal, wie der Junge es geschafft hat, mit dem Schild hat das nichts zu tun, der funktioniert einwandfrei.“

„Tut er nicht, sonst würden wir ja jetzt nicht hier stehen!“, fuhr ich ihn an. Ich war den ganzen Tag schon leicht gereizt, heute sollte mir wirklich keiner blöd kommen. Nicht nur, dass diese Protestanten immer noch hier rumlungerten und ihre Parolen jedem zuriefen, der sich auf zehn Metern näherte, nein, auch der Schild war noch abgeriegelt und Wächter bewachten ihn, weil man immer noch nicht herausgefunden hatte, wie der Elf in der Revier der Wölfe gekommen war. Doch die Protestanten waren wirklich das schlimmere Übel. Sie hatten mir bereits zuhause aufgelauert – keine Ahnung, woher die wussten, wo ich wohnte – und mich seit dem auf Schritt und Tritt verfolgt, um mich zu beschimpfen.

Nach dem Fiasko mit dem Fest, war das hier wirklich das Tüpfelchen auf dem I, ich war fertig mit den Nerven und dass mir dieser Idiot jetzt auch noch weißmachen wollte, dass mit der Magie um das Revier der Wölfe alles zum Besten stand, brachte das Fass nun wirklich zum Überlaufen. Ich wusste, dass es nicht so war, dass konnte gar nicht sein, nicht nach dem Tod des Elfen.

„Sehen Sie zu, dass Sie den Fehler finden!“

Der Magier drückte verstimmt die Lippen aufeinander. Er war jung, wahrscheinlich noch ein Praktikant, der sich mit dem lästigen Fußvolk rumärgern musste. „Da ist aber kein Fehler, es ist alles …“

„Da muss ein Fehler sein! Niemand außer mir dürfte das Schild durchtreten können. Vielleicht sind Sie einfach nur zu inkompetent, das Problem zu finden!“

Die Wut über meine Worte blühte in seinem Gesicht auf. Er strafte die Schultern und regte das Kind. „Es liegt kein Fehler vor. Guten Tag.“ Und dann drehte der Kerl sich doch tatsächlich auf dem Absatz herum und machte einen Abgang! Ich konnte es nicht fassen. Okay, wahrscheinlich war ich ein wenig zu schroff gewesen – okay, das Wahrscheinlich konnten wir an dieser Stelle streichen –, aber hier ging es schließlich um Leben. Was, wenn da noch so ein Vollpfosten auftauchte und einfach in sein Unglück marschierte? Eine zweite Überprüfung, um auch wirklich sicher zu gehen, war doch nun wirklich das Mindeste, was er machen konnte. „Na dann gehen Sie eben!“, rief ich ihm hinterher. „Aber wenn wieder jemand stirbt, weil sie ihre Arbeit nicht ordentlich gemacht haben, sind Sie schuld, ich hoffe das ist Ihnen klar!“ Ich bemerkte kaum, wie er sich bei meinen Worten anspannte, als ich mich auch schon umwandte und wütend durch den Schild marschierte. Nichtsnutziger, arroganter Magier! Hielt er das hier für ein Spiel? Ein Junge war gestorben! Ein Elf, der jetzt von Familie und Freunden betrauert wurde, der nie mehr nach Hause kommen würde und für den es keine neuen Sonnenaufgänge gab.

Er war tot und niemand würde daran etwas ändern können.

Langsam wurde aus meiner Wut Verzweiflung. Ich konnte mir einfach nicht erklären, was hier geschehen war. Plötzlich, von heute auf morgen war alles anders und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Veith weg, Pal weg, das Rudel weg und jetzt musste ich auch noch Angst davor haben, dass irgendwelche gehirnamputierten Idioten wegen ihrer eigenen Blödheit in ihre Einzelteile zerrissen wurden.

Was hatte der Elf hier nur gewollt? Unser Zeuge sagt, dass der junge Elf einfach durch den Schild gegangen ist, um dann im Wald zu verschwinden. Warum? Warum ging jemand an einen Ort, von dem er bereits wusste, wie gefährlich er war? Hatte er mich belogen, war er vor drei Tagen aus einem ganz anderen Grund hier gewesen, als dieses seltsame Spiegel, das er vorgeschoben hatte? Aber welcher könnte das gewesen sein? Hier gab es doch nichts!

Wütend trat ich in einen hohen Farn und ließ mich dann schwer atmend an dem nächsten Baum herunterrutschen. Das alles wuchs mir über den Kopf, das war zu viel. Meine Kraft reichte einfach nicht mehr dafür und trotzdem konnte ich meine Gedanken einfach nicht zur Ruhe bewegen. Was konnte der Elf hier gesucht haben, wo er doch genau wusste, dass der Tod hinter dem nächsten Schatten lauerte? Außer Wildnis und Tieren gab es hier doch nichts.

„Scheiße!“ Ich ließ meinen Kopf nach hinten an den Baum fallen und schloss die Augen. Früher war das hier ein ganz normaler Park gewesen – naja, normal für die hiesigen Sitten. War der Kleine vielleicht schon früher einmal hier gewesen und hatte etwas versteckt, was er jetzt wiederhaben wollte? Vielleicht sowas wie einen Schatz? Gott, jetzt wurde ich wirklich verrückt, Schatz! Wenn das nur einer hören würde, wären gleich die netten Männer in den weißen Kitteln, mit der Hab-mich-lieb-Jacke hier.

Ich ließ meinen Kopf erneut gegen den Baum fallen. Einmal, zweimal, dreimal – vielleicht würde das ja zu einem gescheiten Denkanstoß führen. Leider war dem nicht so, ich bekam davon nur Kopfschmerzen. Seufz.

Ein leises Winseln vor mir, ließ mich die Augen öffnen. Isla saß zwischen ein paar Orchideen und beobachtete mich interessiert. Ich konnte nie in ihr lesen, sie war so anders, als die anderen Wölfe. Einerseits genau wie sie, nicht mehr als ein einfaches Tier, aber dann glaubte ich immer, den Funke von Intelligenz in ihren Augen zu finden. Leider verschwand er dann genauso schnell wieder und ich konnte mir nie sicher sein, ob das was ich glaubte gesehen zu haben real war, oder nur wunschgeprägte Einbildung. „Was soll ich nur tun?“, fragte ich. Natürlich rechnete ich nicht mit einer Antwort, auch wenn ich darauf hoffte.

Isla stellte die Ohren auf und neigte den Kopf zur Seite. Sie mochte es, wenn man mit ihr sprach. Ich glaubte immer, dass sie den Klang von meiner Stimme gern hatte – natürlich nur, wenn ich nicht dieses Minnie-Mouse-Quietschen von mir gab.

„Alles geht den Bach runter und ich weiß nicht was ich machen soll. Hast du nicht vielleicht eine Idee?“

Ein Ruck ging durch Isla. Sie stand auf, zögerte einen Moment und kam dann zu mir rüber, um mich mit ihrer nassen Nase in die Wange zu stupsen. Dann machte sie wieder einen Schritt zurück und begann mit der Pfote im laubigen Erdreich zu scharren. Nein, sie schob die Blätter weg, kratzte sie energisch zur Seite, bis nur noch dunkle Erde zu sehen war.

Interessiert beugte ich mich nach vorn, um auch ja nichts zu verpassen. Das war wieder einer von diesen Momenten, wo sie zu verstehen schien, was sie tat, wo sie über ihr Handeln nachdachte. Ein lichter Moment in einem im dunklen Nebel ihres Geistes.

Isla ritzte mit den Krallen auf dem Boden herum. Das machte sie so geschickt, dass dabei Linien entstanden. Ein Sichelmond, darüber zwei kleine Punkte. Sie streckte das Bein und umkreiste das Ganze. Das sah aus wie ein lächelnder Smiley.

„Lächeln.“ Ich runzelte die Stirn. „Ich soll … lächeln? Das ist deine Idee?“

Zur Antwort gähnte sie nur gelangweilt, streckte ihre Vorderbeine aus, womit sie ihr kleines Kunstwerk zerstörte und ließ sich dann einfach darauf fallen. Egal was das gerade gewesen war, es war bereits wieder vorbei.

Ich seufze und lehnte mich zurück an den Baum. Bis gestern noch war es mein größtes Problem gewesen, wie ich den Verlorenen Wölfen helfen konnte. Jetzt war alles anders und auch wenn Isla es gut meinte, mit einem Lächeln wäre das nicht getan.

„Nach … Hause!“

Bei der gutturalen Stimme zucke ich so heftig zusammen, dass ich mich mit der Schulter am Baum stieß. Au-a! Ich wirbelte mit dem Kopf herum und hatte Kanin direkt vor der Nase – und mit direkt, meinte ich wirklich direkt. Erneut zuckte ich, nur das dieses Mal mein Kopf den Baum trat. Ich wiederholte mich wirklich nicht gerne, aber hier musste das einfach sein. Au-a! doppel Aua.

„Ich … nach … Hause“, kam es kehlig von ihr und jetzt konnte ich mir sicher sein, dass sie es war, die hier sprach.

„Du kannst … seit wann sprichst du?“ Ich wusste ja, dass sie gute Vorschritte mir ihrer Genesung machte, aber das sie sprach, hatte ich frühestens in eins zwei Wochen erwartet.

„Seit gestern Abend“, antwortete Saphir und trat aus dem Dickicht zu uns heraus.

Dieses Mal erschreckte ich mich nicht, ich hatte sie vorher bereits im Unterholz rascheln gehört.

„Sie fing gestern Abend an zu sprechen, nur ein paar Worte und es sind immer dieselben.“

„Ich … will … nach … Hause.“

Oh Mann, das war doch wohl nicht ihr ernst. „Du weißt genau, dass du erst gehen kannst, wenn es dir besser geht. Ich kann nicht wissen, ob du nicht vielleicht einen Rückfall erleiden wirst.“ Entschuldigend zuckte ich mir den Schultern. „So wie es jetzt ist, kann ich dich nicht gehen lassen.“

„Ich … will … nach … Hause!“ Mit einem Zähnefletschen unterstützte sie ihre Aussage. Na diese Diskussion hatte mir jetzt noch gefehlt.

Wenn es kam, dann kam alles – aber auch wirklich alles – auf einmal.

 

°°°

 

Geschafft vom Tag – und der Debatte mit Kanin –, machte ich mich daran, die Wölfe zu versorgen. Dreimal die Woche bekam ich eine große Lieferung Rinderhälften, in ein kleines Häuschen, knapp außerhalb des Schildes. Ich verteilte das Fressen, musste dabei wie immer aufpassen, dass ich meine Finger nicht verlor und ließ zu guter Letzt auch noch Grey aus seinem Zwinger – natürlich nicht ohne Maulkorb. Mann, das war jedes Mal von neuem ein Akt, ihm das Ding umzuschnallen. Jedes Mal musste ich gerissener vorgehen, aber heute hatte ich einfach nicht den Nerv dazu gehabt, weswegen ich nur knapp einer Bissverletzung entgangen war.

Ich wusste wirklich nicht mehr, was ich mit diesem Wolf noch tun sollte. Er war gefährlich, das war mir vom ersten Augenblick an klar gewesen, aber irgendwann musste sich doch Besserung einstellen, oder? Im Augenblick hatte ich nicht den Nerv darüber nachzudenken. Außerdem musste ich los. Eigentlich sollte ich ja Raissa von der Schule abholen, weil Kaj heute länger arbeiten musste, aber mit den ganzen Protestanten im Nacken, die sich auch schon wieder an meine Fersen hängten, kaum dass ich aus den Schild getreten war, konnte ich das nicht machen – konnten diese Leute nicht wenigstens bei diesem schlechten Wetter zuhause bleiben? Ich wollte die Kleine nicht verschrecken und konnte mir nicht vorstellen, dass eine wütende Meute im Rücken gut für die kindliche Entwicklung war, deswegen musste eine Lösung her und die hieß Big Daddy.

Er wusste noch nichts von seinem Glück, deswegen versuchte ich die Protestanten, die mir unliebsame Dinge hinterherschrien, zu ignorieren, als ich den Weg nach Hause einschlug und mein Vox, die hiesige Antwort auf das Handy, aus der Tasche zog. Vielleicht hatte ich ja Glück und konnte sie so abhängen, aber ich wollte trotzdem nicht, dass sie mich mit der Kleinen sahen. Wer wusste schon, was in den Köpfen dieser Leute vor sich ging? Ich wollte nicht riskieren, dass der Kleinen etwas geschah.

Djenan – oder wie ich ihn nannte, Big Daddy – dazu zu bekommen, Raissa von der Schule zu holen, bedurfte nur einiger Worte. Es war meiner Stimme wohl anzuhören, wie sehr mich die momentane Situation mitnahm. Natürlich wusste er auch schon, was geschehen war, zumindest den Teil mit dem Toten. Big Daddy las schließlich Zeitung und die waren voll von Berichten über den gestrigen Vorfall. Ich hatte sie nicht gelesen – warum auch, wusste ich doch aus erster Hand, was geschehen war – aber Djenan zufolge, wurde kein gutes Haar an mir gelassen.

Warum?, fragte ich mich. Ich hatte dem Jungen doch nichts getan. Klar, er war gestorben, als die Verlorenen Wölfe in meiner Obhut waren und das machte  mich echt fertig, aber ich hatte ihn doch nicht inmitten des Parks ausgesetzt und ihn dann seinem Schicksal überlassen. Ich wollte die Schuld ja gar nicht von mir schieben, aber genau betrachtet, konnte ich doch nichts für seine Dummheit.

Jedenfalls versprach Djenan Raissa abzuholen und nach Hause zu bringen. Dafür würde er bei mir mit einem Abendessen entlohnt werden. Djenan war Single und lebte allein. Anständige Hausmannskost war etwas Seltenes für ihn, weswegen ich ihn hin und wieder zu uns einlud. Ich freute mich ihn zu sehen und er freute sich über die Verkostung – und natürlich auch, mich zu sehen.

Ich hatte es fast geschafft, mein Haus zu erreichen, als ich noch in eine handfeste Auseinandersetzung mit einer Harpyie von den Protestanten geriet, die der festen Überzeugung war, dass der Tod des Jungen meine Schuld war, weil ich bei meiner Hüteraufgabe nachlässig gearbeitet hätte. Wütend knallte ich ihr die Tür vor der Nase zu, bevor ich ihr an den Hals sprang. Die hatte doch keine Ahnung, ich war nichts schuld!

Oder?

 

°°°

 

Pfannkuchen, das machte ich. Es war leicht, ging schnell und da sowohl Djenan als auch Raissa Schleckermäuler waren, würden sie mir auf ewig dankbar sein – oder wenigstens ein Abendessen lang. Der Teig war  schnell angerührt und die Beschäftigung verhinderte, dass ich zu viel nachdenken konnte. Ich hatte eine Aufgabe und verwendete meine ganze Konzentration darauf. Deswegen erschrak ich auch halb zu Tode, als es plötzlich vor mir am Fenster klopfte. Nicht nur, dass das monotone Geräusch des Nieselregens mich eingelullt hatte, meine Wohnung befand sich zudem auch noch in der zweiten Etage. Wie konnte da jemand an meinem Fenster klopfen?

Die Antwort erhielt ich, als ich mit schreckensweiten Augen durch das Glas sah. Verschwommen durch das Zerrbild der Tropfen am Fenster, erkannte ich vor mir zwei Gesichter. Das eine war hart und maskulin, das andere weich und unschuldig. Katzenaugen und Wolfsaugen. Lohfarbende Haare und weiße Haare. Erwachsen und Kind. Vor meinem Fenster hingen Djenan und Raissa. Genau genommen hing Djenan an meinem Fensterrahmen, hatte die Krallen in das feuchte Holz geschlagen, um nicht abzurutschen und Raissa hing ihm wie ein Klammeräffchen um den Hals und grinste mich breit an.

Ich brauchte einen Moment, um dieses Bild zu verarbeiten, doch dann machte es klick. Djenan hing mit Raissa draußen an der Hausmauer, in der zweiten Etage. Noch dazu bei Nieselregen, der alles glitschig machte. Wenn die beiden nicht abstürzten und sich jeden Knochen im Leib brachen, dann würden sie sich erkälten und an der Seuche elendig zugrunde gehen – okay, das war jetzt leicht übertrieben, aber nur ganz leicht.

Ich riss das Fenster auf. „Scheiße, was macht ihr da?“

„Scheiße darf man nicht sagen“, kam es prompt von Raissa, als ich sie mit leichter Unterstützung von Djenan durchs Fenster zog. Kaj würde mich umbringen, wenn sie jemals davon erfahren würde. Sie konnte mich eigentlich ganz gut leiden, soweit ich das einschätzen konnte und auch Djenan akzeptierte sie, aber wenn es um ihr kleines Mädchen ging, bekam sie messerscharfe Krallen.

Ich stellte Raissa auf den Boden und sah fassungslos dabei zu, wie Djenan elegant über die Anrichte sprang und geschmeidig vor mir in der Hocke landete. Das Lächeln, das er dabei auf den Lippen trug, konnte man nur als teuflisch beschreiben. „Bist du wahnsinnig geworden?“, fuhr ich ihn an und untersuchte Raissa nach möglichen Verletzungen durch ihr kleines Abenteuer. Gesicht in Ordnung, Arme und Hände in Ordnung, Beine … nicht in Ordnung. Das war ein langer Kratzer. Kam der von ihrer kleinen Klettertour, oder hatte sie sich den in der Schule zugezogen? Ich würde Djenan lynchen müssen, ganz langsam und mit sehr viel Gefühl. Hätte ich gewusst, was dabei rauskam, wäre ich wohl nie auf den Gedanken gekommen, ihn zu bitten, Raissa von der Schule zu holen. „Verdammt, was hast du dir nur dabei gedacht?“, wetterte ich weiter. „Du bist doch nicht Spiderman!“

„Wer ist Spiderman?“, wollte Raissa auch sofort wissen und ließ es mit störrischer Ruhe zu, dass ich ihren Kratzer näher unter die Lupe nahm.  

Ich ignorierte die Kleine und fixierte dafür diesen verblödeten Kater. „Sie hätte runterfallen können!“

Die einzige Regung, die ich von Djenan bekam, war eine gewölbte Augenbraue.

„Guck nicht so!“, fauchte ich ihn an. Das er aber auch nicht verstand, was er da gerade getan hatte. Er war die Hauswand hochgeklettert, mit einem Kind! Ich bekam es immer noch nicht richtig zu fassen.

„Raissa war zu keinem Zeitpunkt in Gefahr und das weißt du auch.“

„Natürlich war sie …“

Djenan legte mir einen Finger auf die Lippen, um mich am Weiterreden zu hindern. „Überlegt dir gut, wessen du mich beschuldigst. Und außerdem kamen wir nicht durch die Vordertür, dort sind zu viele …“ – ein kurzer Blick auf Raissa – „… Wesen.“

Natürlich, die Protestanten. „Dann hättest du den Hintereingang nehmen können.“

„Weil ich ja auch einen Schlüssel für dieses Gebäude habe.“

Ich erhob mich von den Knien, durchwühlte die Schublade im Tresen und zog unseren Ersatzschlüssel heraus, den ich Djenan schwungvoll zuwarf. Wären seine Reflexe nicht so schnell, hätte ich ihn voll am Kopf getroffen – natürlich nur ganz aus Versehen. „Damit du in Zukunft den Hintereingang benutzen kannst.“

Auf das Lächeln, das ich von ihm bekam, wäre selbst ein Haifisch neidisch gewesen.

Ich ignorierte ihn und kniete mich nach unten zu Raissa. „Das ist aber unser kleines Geheimnis, das bedeutet, dass du deiner Mamá nicht erzählen darfst, dass du mit Big Daddy die Hauswand hochgeklettert bist, okay?“  Unter gar keinen Umständen.

Raissa nickte begeistert – Gott sei Dank. Sie liebte Geheimnisse und ich konnte zu fünfzig Prozent darauf vertrauen, dass sie auch wirklich still sein würde.

„Gut, dann geh jetzt deine Hausaufgaben machen. Ich rufe dich, wenn das Essen fertig ist.“

„Was gibt es denn zu essen?“

„Pfannkuchen.“

Sie bekam ganz große Augen. „Mit geschmolzener Schokolade?“

„Nichts anderes würde ich mich wagen dir zu servieren.“

Begeistert fiel sie mir um den Hals, drückte mir einen Kuss auf die Wange und rannte dann mit Speed aus dem Raum. Das Nächte, was ich hörte war die Badezimmertür, die wieder mal gegen die Wand knallte. Oh Gott, das arme Mauerwerk.

Eine große Hand auf meinem Haar ließ mich Aufsehen. Halb neben mir standen mehr als zwei Meter Mann, mit einem gut definierten Körperbau. Wie auch die meisten anderen Gestaltwandler, trug er nur einen Lendenschurz, aber nicht die Wald und Wiesenversion, die den Lykanern zu eigen waren, sondern die Stadtmode. Das bedeutete knalligere Farben und einen etwas anderen Schnitt. Auch Kaj und ich trugen solche Sachen.

„Wie geht es dir?“, wollte er wissen und ich musste gar nicht erst fragen, um zu wissen, auf was er anspielte.

Ich erhob mich auf die Beine, wobei seine Hand von meinem Kopf rutschte – auch im stehenden Zustand war ich kleiner als er, reichte ihm gerade mal bis zur Brust – und machte mich wieder daran, die Pfannkuchen fertig zu bekommen. Schließlich wollte ich ja nicht, dass hier jemand vom Fleisch fiel. „Wie soll es mir schon gehen? Da ist ein Junge gestorben, getötet von den Wölfen in meiner Obhut und seitdem veranstalten irgendwelche Protestanten, die nichts Besseres mit ihrer Freizeit anfangen zu wissen, eine Hetzjagd gegen mich.“

„Und weiter?“

„Was weiter?“

Djenan kam zu mir, stellte den Herd aus und nahm mir wortlos den Kochlöffel aus der Hand. 

„Hey, lass das. Ich muss …“

„Hör auf damit, Talita, dafür kenne ich dich in der Zwischenzeit zu gut.“ Er legte den Löffel zur Seite und wandte sich mir dann zu. „Und jetzt erzählst du mir, was dich wirklich bedrückt?“

Was mich wirklich bedrückte? Woher wusste er …

Die Träne, die auf einmal in meinem Auge brannte und nach Freiheit verlangte, konnte ich nicht verbergen. Plötzlich wollte alles aus den vergangenen Tagen raus und noch bevor ich genau wusste, was ich da tat, hatte ich mich in Djenans Arme geworfen und weinte an seiner Brust bittere Tränen. Ich erzählte ihm alles. Von Veith, von Pal, von Modre und von Prisca. Djenan wusste um meine Gefühle für den großen, bösen Wolf und er wusste auch, wie viel mir die Lykaner bedeuteten. „Sie hat mich einfach fortgejagt und ich darf mich nie wieder bei ihnen blicken lassen.“ Ich krallte mich an Djenan fest, so sehr brauchte ich im Moment seine Nähe. Nicht nur, dass er der einzige andere Therianer war, den ich kannte, er war so viel mehr, wie ein Vater – ein leicht exzentrischer Vater, aber nichtsdestoweniger jemand, an den ich mich immer wenden konnte, wenn ich Hilfe brauchte – und sei es nur für das Gefühl von Geborgenheit. „Sie hat Pal sogar den weiteren Umgang mit mir verboten.“ Nur ein Abend und ich hatte fast alles verloren, was mir wichtig war. Noch immer verstand ich nicht richtig, wie es hatte dazu kommen können.

Djenan drückte mich ein wenig fester an sich. „Du brauchst diese Lykaner nicht. Sie wussten sowieso nie, was sie an dir hatten.“

Und trotzdem vermisste ich sie und wollte sie zurück haben, aber darüber brauchte ich mit Djenan gar nicht erst sprechen. Er hatte eine feste Meinung von den Wölfen und von dieser würde er niemals abrücken. Djenan und die Lykaner waren, wie die sprichwörtlichen Hund und Katze. Sie konnten sich einfach nicht ausstehen und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Das könnte aber auch daran liegen, dass Djenan die Lykaner immer wie Luft behandelte und wenn er doch mal ein Wort für sie übrig hatte, dann war es ganz sicher abwertend.

Noch ein kleines Weilchen gönnte ich mir Big Daddys Umarmung, bevor ich mich daran machte, weiter das Abendessen zuzubereiten. Djenan half mir dabei. Viel sprachen wir nicht, das war nicht nötig, wir verstanden und auch ohne Worte.

Der Stapel Pfannkuchen wuchs noch beachtlich an und als wir gut zwei Dutzend zusammen hatten, rief ich zu Tisch. Raissa schnellte wie ein kleiner Wirbelwind ins Wohnzimmer, an der Wange ein kleiner Tintenfleck vom Hausaufgabenmachen – sie kaute immer auf ihren Stiften herum, wenn sie nachdachte – und schwang sich auf ihren Stuhl. Drei der dünnen Fladen landeten auf ihrem Teller, genau wie ein Stück Schokolade, dass langsam vor sich hin schmolz, während sie uns von ihrem Tag in der Schule berichtete. Kurze Zeit später ging die Tür im Flur und der vertraute Geruch von Kaj wehte zu uns in den Raum.

Sie werkelte draußen noch ein wenig herum, bevor sie zerschlagen in den Wohnraum kam. „Tut mir leid, dass ich so spät komme“, war ihre Begrüßung, „aber auf Arbeit gab es heute so viel zu tun.“ Sie drückte Raissa einen Kuss auf den Scheitel, die sich dabei nicht beim Essen unterbrechen ließ und setzte sich dann neben die Kleine an den Tresen. „Eigentlich wäre ich schon vor einer Stunde hier gewesen, aber dann musste ich noch mal ins Kühlhaus, die Lagerbestände überprüfen, obwohl ich das erst vor zwei Tagen gemacht hatte. Dann sollte ich noch in die Küche wegen dem Fisch und dann wollte mein Chef doch allen Ernstes, dass ich noch den Bräter sauber mache, obwohl ich bereits Feierabend hatte. Reine Schikane, sage ich euch.“ Sie zog sich ihren Teller heran, tat einen Pfannkuchen darauf, uns beschmierte ihn dick mit Marmelade. „Ich wäre fast die Wände hochgegangen, so verärgert war ich.“

Kaj arbeitete in einem Restaurant und so, wie sie immer erzählte, war ihr Chef ein richtiger Sklaventreiber. Natürlich konnte es auch sein, das sie ein wenig übertrieb. Da ich den Mann nicht kannte, wusste ich es nicht.

„Ich bin die Wände hochgegangen“, kam es da sehr unpassend von Raissa.

Ich verschluckte mich an meinem Bissen und erstickte fast daran. Nur Djenan schnelles Handeln, in Form von Wasser reichen, verhinderte meinen sofortigen Erstickungstod.

„Was?“ Kaj blickte verwirrt auf ihre Tochter.

„Es ist ein Geheimnis.“ Raissa nickte, als wollte sie ihrer Aussage noch einmal Nachdruck verleihen. „Ich darf es also nicht verraten, das hab ich Tante Tal versprochen.“

Kaj spießte mich mit einem Blick auf – warum denn mich? Ich hatte doch gar nichts getan! – der besagte, dass wir uns später noch darüber unterhalten würden. Raissa, die davon gar nichts mitbekam, wurde liebevoll über den Kopf gestrichen. „Da hast du recht, mein Schatz, Geheimnisse muss man für sich behalten.“

Djenan lachte leise, konnte es dann aber in ein Hüsteln retten, bevor Kajs Todesblick ihn einfach umfallen ließ. Bei ihrer Tochter verstand sie absolut keinen Spaß.

Danach blieb es am Tisch mehr oder weniger still. Irgendwie fürchtete ich den Moment, in dem Raissa aufstand und den Raum verließ, ein wenig. Mit einer tollwütigen Wölfin wollte ich sicher nicht allein sein, aber eines war sicher, ich würde Djenan als Schutzschild verwenden, schließlich war das ja auch seine Schuld.

Kaj dagegen, warf mir immer wieder unheilvolle Blicke zu, die ich erst nicht mehr mitbekam, als sie sich die Zeitung nahm und ihr Gesicht dahinter verbarg. Puh, erst mal davon gekommen.

„Talita?“

Oder auch nicht. „Ja?“, fragte ich vorsichtig. Sie würde doch nicht … nein, Raissa saß ja noch mit am Tisch.

Langsam ließ sie die Zeitung auf den Tresen sinken und sah mich besorgt an. „Hast du heute schon mal einen Blick hier rein geworfen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Wozu? Ich weiß doch was drinnen steht. Geh nur nach draußen auf die Straße, die Leute dort werden es dir entgegen schreien.“

„Talita, der Hohe Rat wird zusammenkommen.“

Langsam sank meine Hand mit der Gabel zurück auf den Tisch. Ich war mir nicht sicher ob ich die Antwort auf die folgende Frage haben wollte, trotzdem stellte ich sie. „Warum?“

Kaj senkte den Blick auf eine Zeile in dem Bericht vor sich und las laut vor: „Nach dem Vorfall mit den verzauberten Lykanern, wird  nun zum ersten Mal ernstlich in Erwägung gezogen, den Antrag von Anwar von Sternheim, auf Ausschluss der Lykaner aus dem Codex, zu prüfen.“

Mir fiel die Gabel aus der Hand.

 

°°°°°

Tag 451

Stetig prasselte der Regen auf das Blätterdach der Bäume. Dicke Tropfen fielen vor dem Höhleneingang auf den Boden und bildeten kleine Pfützen, wo das Wasser nicht schnell genug versickern konnte. Seit gestern war der Niederschlag immer schlimmer geworden und jetzt schien es sich richtig einzuregnen.

Dicke, dunkle Wolken begleiteten mich schon den ganzen Tag und spiegelten meine Stimmung.  Der Himmel war verhangen und ließ den Tag zur Nacht werden. In der Höhle der Verlorenen Wölfe war es so dunkel, dass man kaum seine Hand vor Augen sehen konnte. Die einzige Ausnahme bot der Eingang.

Dicht an dicht drängten sich die Wölfe hier zusammen – nur nicht Grey, der hatte es trotz des Regens vorgezogen, draußen zu bleiben – und ich lag eingekuschelt in der Wärme irgendwo dazwischen. Der Stress der letzten Tage hatte mich hier her getrieben. Die Sache mit dem Wolfsbaumrudel, der Tote, die Protestanten. Der Zeitungsbericht hatte mir dann den Rest gegeben. Nachdem Kaj diese wenigen Zeilen vorgelesen hatte, hielt mich nichts mehr. Ein schneller Griff über den Tresen und die Zeitung befand sich in meinem Besitz. Mit großen Augen las ich die Schlagzeile, die sich in meine Netzhaut eingebrannt zu haben schien. Der Tod auf zwei Beinen, Untertitel, Lykaner, Mortatia oder Tier. Jedes Wort in dem Artikel hatte sich in mein Gehirn geätzt, ich konnte ihn selbst mit geschlossenen Augen wiedergeben.

Der Tote bei den Verlorenen Wölfen hatte den Ausschlag geben. Anwar versuchte bereits seit Jahren die Lykaner aus dem Codex zu drängen, doch bisher hatte ihm niemand Gehör geschenkt. Jetzt aber, durch diesen Zwischenfall, hatte sich die ganze Grundlage geändert. Zum ersten Mal seit dem Bestehen des Codex, sahen die Wesen dieser Welt die Lykaner als das, was sie waren, Tiere in Menschengestalt, intelligente Räuber, eine Gefahr für jeden, der ihnen zu nahe kam.

Natürlich wurde in dem Bericht maßlos übertrieben, aufgebauscht, damit die Menge in Rage und Panik verfiel. Das tat den Verkaufszahlen gut. Eines jedoch war glasklar, die Lykaner mussten zum ersten Mal seit der Existenz des Codex darum fürchten, ausgeschlossen zu werden, obwohl sie nicht einmal etwas getan hatten.

Klar, die Verlorenen Wölfe gehörten zu ihnen – irgendwie zumindest –, aber die waren im Moment nicht zurechnungsfähig, nicht so wie der Rest ihrer Spezies und ich konnte nur hoffen, dass Anwar mit seinem Antrag nicht durchkam, denn auch wenn ich von den Werwölfen so schäbig behandelt wurde, machte mich die Aussicht auf die Wahrscheinlichkeit des Entfernung mürbe. Ich wollte nicht, dass ihnen etwas passierte. Sie waren nicht die Monster, für die sie in den letzten Tagen dargestellt wurden. Zwar hatte ich am Anfang auch einige Zeit gebraucht, um das zu kapieren, aber die Wesen dieser Welt waren mit ihnen aufgewachsen, sie sollten es eigentlich besser wissen.

Ja, die Lykaner waren sehr eigen und konnten durchaus gefährlich werden, wenn man sie provozierte, aber sie waren keine grausamen Bestien, als die sie in den Medien zurzeit dargestellt wurden. Sie waren eben einfach … anders. Nicht böse, oder unberechenbar, nur anders und ich wollte nicht, dass ihnen ein Leid geschah, nur weil sich ein zynischer Magier von ihnen bedroht fühlte. Das hatten sie nicht verdient.

„Was passiert, wenn die Lykaner aus dem Codex fliegen“, fragte ich leise in die Stille hinein.

Neben mir bewegte sich ein Wolfsfell, dem Geruch nach musste es Lokos sein, der sich da halb auf mir bequem gemacht hatte, was hieß, dass Junina auch nicht weit sein konnte – nicht, dass die Höhle sonderlich groß war. Eigentlich bildeten wir ein einziges Wolfsknäuel, naja, mit Ausnahme von mir, ich war immer noch eine Katze.

„Wir werden verbannt und gemieden“, kam es aus der hintersten Ecke der Höhle von Saphir. „Wir dürfen die Städte und Dörfer nicht mehr betreten. Wir werden gemieden und verjagt, egal wo wir auftauchen. Es wird nicht mehr strafbar sein uns zu töten, da wir ja nur noch Tiere sind. Wir würden keinerlei Rechte mehr haben und als Aussätzige behandelt werden.“

Das war ja fast noch schlimmer, als ich mir das vorgestellt hatte.

Irgendwo in der Höhle knurrte Kanin. „Wir keine … Tiere! Wir … Rechte!“

„Nicht mehr, wenn der Hohe Rat beschließt, dass wir nicht länger als Mortatia gelten“, widersprach Saphir auf ihre sanfte Art.

„Aber man kann euch doch nicht einfach den Status als Mortatia absprechen. Egal ob es nun schwarz auf weiß steht, dass ihr zur Hälfte Menschen seid, oder eben auch nicht, das … was ich meine, ihr werdet doch nicht plötzlich zu Tieren, nur weil man in irgendeinem Buch eure Rasse durchstreicht. So funktioniert die Welt einfach nicht.“

„Nein, natürlich nicht“, stimmte Saphir mir zu. „Wir bleiben was wir sind, aber die Welt wird uns dann anders sehen.“ Sie seufzte so schwer, dass es sogar das ewige Prasseln des Regens übertönte. „Wenn wir nicht mehr im Codex stehen, werden wir zu Gejagten. Es gibt viele Wesen, die es auf unsere Gebiete abgesehen haben. Die Reviere der Lykaner sind groß und bieten reichliche Ressourcen, die nicht wenige an sich bringen möchten. Alle würden versuchen uns unsere Gebiete streitig zu machen. Zwar würden die Lykaner sie nicht einfach so hergeben, aber …“ Sie verstummte.

„Sie können nicht ewig Widerstand leisten“, vollendete ich ihre Worte. Ich konnte mir nur zu gut vorstellen, was sie damit andeuten wollte und das Bild, das sich in meinem Kopf formte, verursachte mir Magenschmerzen. Eine ganze Rasse gejagt, nur weil sie anders war, weil man haben wollte, was ihnen gehörte, weil man glaubte, dass sie weniger wert waren. „Das dürfen wir nicht zulassen“, flüsterte ich. Ich hatte Freunde in den Rudeln und auch wenn ich sie nicht mehr sehen durfte, wollte ich nicht, dass ihnen etwas passierte. Oder was war mit Kaj und Raissa? Sie würden gehen müssen, sich in Sicherheit bringen, sie hätten gar keine andere Wahl. Oder auch Einzelläufer wie Saphir und vielen anderen meiner Wölfe. Was sollte aus ihnen werden, wenn ein paar alte Männer mit dicken Bäuchen aufgrund von Anwars Anliegen beschlossen, dass ein Auschluss unvermeidlich war? „Wir müssen etwas dagegen unternehmen.“

„Wir können nichts unternehmen“, sagte Saphir schwach und geschlagen. „Wir können nur abwarten und hoffen.“

„Rumsitzen und Däumchen drehen?“ Ich richtete mich halb auf, was von Lokos mit einem unwilligen Grummeln kommentiert wurde. „Du willst einfach die Flinte ins Korn werfen?“

Einen Moment blieb es still in der Höhle. „Ich verstehe deine letzten Worte nicht, aber ich glaube, ich weiß was du mit ihnen sagen möchtest und wenn es so ist, dann lautet meine Antwort Ja. Ich kann nichts anderes tun als zu warten.“

„Natürlich kannst du. Die Lykaner müssen sich nur Hilfe suchen und … was weiß ich, eine Unterschriftensammlung starten. Dem Druck der Menge muss sich selbst der Hohe Rat beugen und …“

„Das würde nichts bringen.“

„Natürlich würde es das. Ihr Lykaner seid einfach nur zu stolz zuzugeben, dass ihr Hilfe braucht. Ich …“

„Wir brauchen Hilfe“, sagte Saphir offen. „Ganz dringend sogar, aber wir würden sie nicht bekommen. Die Lykaner leben so zurückgezogen, dass wir mit den Wesen außerhalb unserer Reviere kaum Kontakt haben. Die Mehrzahl der Lykaner sieht nie etwas anderes als ihr Revier und die Wesen, die darin hausen. Wir sind anders als die anderen Völker und das hat die Leute schon immer geängstigt. Uns wird niemand helfen, nicht freiwillig.“

Leider musste ich zugeben, dass Saphir da wohl nicht ganz so Unrecht hatte. Ich erinnerte mich an ein Ähnliches Gespräch mit dem Alpha Najat. Damals hatte er mir dafür gedankt, dass ich den Lykanern half. Ich hatte nur mit den Worten „Das hätte doch jeder getan“ abgewunken. Die einzige Erwiderung war ein „Nein“ gewesen, ein „Außer dir hätte das wohl niemand getan“ und ich wusste, dass er recht hatte. „Ich werde euch helfen.“

„Ich weiß.“

„Und Djenan auch, ich muss ihn nur darum bitten.“

Etwas wie ein kleines Lachen kam aus dem hinteren Teil der Dunkelheit. „Davon abgesehen, dass ich nicht glaube, dass Djenan uns helfen würde, wärt ihr nur zu zweit. Was können zwei Wesen schon gegen eine ganze Welt ausrichten?“

„Sehr viel“, beschloss ich. „Auf jeden Fall mehr, als wenn wir nur untätig Rumzicken würden.“

„Und was willst du tun?“

Mit dieser Frage hatte sie mich kalt erwischt. „Ich weiß nicht.“ Super, gaaanz Klasse. Ich biss mir auf die Lippe. „Ich werde mit Gaare sprechen, der hat sicher eine Idee.“ Das war doch mal ein Plan. Es war nicht viel, aber wenigstens ein Anfang.

Saphirs Seufzen zu urteilen, sah sie das etwas anders.

 

°°°

 

Beständig prasselte der Regen auf den Boden. Ich saß am Höhleneingang, die Arme um die Knie geschlungen und den Kopf darauf gebettet und beobachtete die Tropfen, wie sie unablässig in eine Pfütze fielen. Tropf, tropf, tropf. Der Anblick hatte etwas Beruhigendes, Stetiges. Es war ein Stück Normalität, wie auch jeder andere sie kannte.

Nach Hause wollte ich nicht, noch nicht. Sobald ich den Urwald verließ, würde mich mein Leben wieder haben. Da war es hektisch und stressig, hier drinnen war ruhig und friedlich. Hier wollte ich bleiben, wenigstens noch ein kleines Weilchen.

Neben mir stöhnte Kanin in dem erneuten Versuch einer Verwandlung. Es sah ganz gut aus. Sie versuchte nicht mehr, es zu erzwingen, ließ sich einfach gleiten und langsam aber sicher waren menschliche Züge in ihrer Gestalt zu erkennen. Immer weiter schritt die Metamorphose voran. Nicht so schnell wie bei den normalen Lykanern, aber dieses Mal würde sie es schaffen, da war ich mir sicher.

Als sie wieder stöhnte, zuckte es mir in den Händen sie tröstend zu streicheln, wie ich es bei einem Kind machen würde, das Schmerzen litt, aber sie würde wieder nur versuchen mich zu beißen. Sie war jetzt wieder mehr Lykaner als alles andere und ich besaß in ihren Augen keine Rudelprivilegien, was das Recht ausschloss, sie zu berühren. Sie akzeptierte meine Anwesenheit – so wie die Lykaner es schon immer getan hatten – mehr aber auch nicht.

Noch vor ein paar Wochen war es anders gewesen, als sie nicht mehr als ein Wolf gewesen war, gehörte ich zu ihrem Rudel, doch jetzt war dem nicht mehr so. Ich hatte mich daran gewöhnt und ließ es nicht allzu sehr an mich herankommen. So war das Leben nun mal, beschissen.

Seufz.

Während ich Kanin beobachtete, sah, wie sie immer mehr in ihren menschlichen Teil glitt, dachte ich wieder an das Wolfsbaumrudel, an Veith, Kovu und Pal, an all das, was für mich in unerreichbare Ferne gerückt war. Hatte Veith bereits eine Gefährtin gefunden, oder wenigstens jemanden, der für ihn infrage kam? Wie ging es denn Kovu damit, dass er seinen Bruder verloren hatte? Und Pal. Immer wieder glitten meine Gedanken zu ihm. Ich bekam ihn einfach nicht aus dem Kopf. Das Schlimmste an der Trennung von ihm, war, das wir mehr oder weniger in einem Zwist auseinandergegangen waren. Ich hatte nicht einmal mehr die Gelegenheit gehabt, zwischen uns alles wieder ins Reine zu bringen.

Pal war mein bester Freund gewesen. War er es noch? Konnte ich diese Freundschaft noch kitten? Diese Fragen waren müßig. Ich würde es nie erfahren. Er lebte im Rudel und ich hier. Naja, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, wenn ich zurück in meine Heimat konnte.

Eigentlich war es ja ganz gut, dass alles so gekommen war. Die Bande, die mich hätten hier halten können, waren zerschnitten worden und jetzt musste ich mich nicht mehr zwischen meinen Gefühlen und meinem Verstand entscheiden. Ich musste zurück, das war glasklar. Ohne meine Erinnerungen zu leben ging einfach nicht. Es machte mich verrückt, nicht zu wissen, wer ich war und was ich in meiner Vergangenheit getan hatte. Ich wollte es wissen, alles, denn das machte mich aus. So wie ich jetzt war, fehlte mir ein Stück von mir selbst und auch wenn ich gelernt hatte damit zu leben, fühlte ich mich so … unvollständig. Es gab einen riesigen Krater in mir, der nur gefüllt werden konnten, wenn ich den Weg durch das Portal nahm.

Es ist das Richtige. Der Testiculus ist mein Weg und daran wird sich auch nicht ändern.

Ja, das hatte Veith zu mir gesagt und mein Weg führte mich durch ein Portal in eine andere Welt. Das war das Richtige für mich und auch daran würde sich nichts ändern.

Als Kanin einen unartikulierten Laut von sich gab, ließ ich die Pfütze, Pfütze sein und richtete meinen Blick wieder auf sie. Neben mir lag jetzt eine zierliche, nackte Frau auf der Seite, deren Brustkorb sich unter ihrer schweren Atmung hastig hob und senkte. Das lange, graublaue Haar war verfilzt und hing ihr strähnig über Rücken und Schulter. Die gelben Augen waren geschlossen, aber auf den weichen Lippen lag ein kleines Lächeln.

„Ich hab … geschafft.“

Kanins Stimme war noch immer leicht guttural, aber doch deutlicher, als gestern noch. Wenn sie so weitermachte, konnte ich sie schon in ein bis zwei Wochen zurück zu ihrem Rudel bringen, zurück zu den Lykanern. Ich schob meine plötzliche Eifersucht auf sie zur Seite und versuchte mich an einem Lächeln, schließlich konnte sie nichts dafür, dass sie im Gegensatz zu mir bei den Rudeln willkommen war – wenigstens bei ihrem eigenen. „Ja, das hast du.“

Sie schlug die Augen auf und in dem Moment, in dem sie mich erblickte, geschah es. Die Magie zerrte an ihr und riss sie zurück in die Gestalt ihres Wolfes. Es ging so schnell, das gerade mal ein Wimpernschlag dazwischen lag. Ich wusste nicht was Kanin in diesem Moment empfand, aber sie sprang so hastig auf die Beine, dass sie beinahe zur anderen Seite wieder umgekippt wäre.

„Ganz ruhig“, redete ich besänftigend auf sie ein und streckte die Hand nach ihr aus, aber sie schien mich nicht zu hören.

Hektisch ging ihr Blick über die Umgebung und über sich selber. „Nein.“ Sie war wieder ein Wolf. Gerade mal ein paar Sekunden Mortatia und dann wieder Wolf. „NEIN!“ Ihre Stimme überschlug sich halb und schallte von den Höhlenwänden wider. Ein paar der Wölfe wurden unruhig, entfernten sich von Kanin, knurrten leise, oder sahen einfach nur nervös auf.

„Reg dich nicht auf.“ Sehr langsam, um sie nicht zu verschrecken, richtete ich mich auf. „Das ist völlig normal, du musst nur …“

„Nein, nein, nein!“ Hektisch warf sie den Kopf von einer Seite auf die andere, startete dann durch und rannte dann einfach blind aus der Höhle in den Regen hinein. Einen Moment war ihr graublaues Fell noch zu sehen, dann war sie auch schon in dem dichten Urwald verschwunden.

Traurig sah ich ihr hinterher. Meine Hand sank zurück auf den Boden und wurde von einem schweren Seufzen begleitet. Es war nicht das erste Mal, dass ich dies erlebte, all die anderen, die ich bereits in ihre Rudel zurückgebracht hatte, waren mit demselben Problem gestraft gewesen und ich konnte nichts weiter tun, als daneben zu stehen und sie bemitleiden. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie schrecklich ein solcher Moment für sie sein musste, ich wusste nur, dass er alles andere als angenehm war. Man kämpfte für etwas und plötzlich sah man sich vor dem Versagen. Oh ja, ich wusste ganz genau, wie sie sich fühlte.

„Ich werde ihr nachgehen“, kam es von Saphir.

„Nein, das ist meine Aufgabe. Ich mach das schon, ich …“

„Du hast gerade genug andere Dinge im Kopf. Lass mich einfach mit ihr reden.“

Eigentlich hatte sie ja rechte, aber ich war doch die Hüterin, ich musste mich um die Verlorenen Wölfe kümmern, nicht Saphir. „Aber ich …“

„Lass dir einfach einmal helfen.“ Ein paar der Wölfe grummelten unzufrieden, als sie aufstand und einfach über sie rüber trampelte, um zum Ausgang zu kommen, aber davon ließ sie sich nicht weiter beeindrucken. „Du musst nicht immer alles allein schaffen, andere können auch ein paar Aufgaben übernehmen. Du bist nicht allein, Talita, versuch nicht immer alle Last auf deine Schultern zu laden.“ Neben mir angekommen, stupste sie mit der Nase in meine Seite und trappte dann an mir vorbei hinaus in den Regen.

Einen Moment wollte ich ihr nachgehen, schließlich musste ich mich doch um Kanin kümmern. Wenn ich selbst dafür nicht mehr gut genug war, was hatte ich dann noch? Die Antwort darauf wollte mir nicht so recht gefallen.

Abgespannt ließ ich mich zurück auf meinem Platz sinken. Saphir hatte ja recht und dennoch gefiel es mir nicht sonderlich, sie das erledigen zu lassen.

„Talita?“

Bei der plötzlichen, sanften Stimme machte ich beinahe einen Satz aus der Höhle heraus. Was war das denn gerade gewesen? Perplex starrte ich in die Dunkelheit mit den Schemen der Wölfe. Mein Name war eindeutig daraus erklungen, aber wer bitte hatte da gesprochen? Hatte ich mir das nur eingebildet? Verlor ich nun doch meinen Verstand? Okay, Herz, ganz ruhig, dafür gab es sicher eine ganz logische Erklärung. Schade nur, dass mir die gerade nicht einfallen wollte. „Ja?“

„Die Lykaner sind stolz, aber bitte lass sie nicht im Stich, auch wenn sie es verdient hätten.“

Da! Da war die Stimme schon wieder gewesen. Ich bildete mir das doch nicht ein, oder? Nein, da sprach jemand mit mir. „Wer ist da?“

Keine Antwort.

Ich kniff die Augen zusammen, konnte hier drinnen aber selbst mit meiner verbesserten Sicht nichts erkennen.

Wer hatte da gesprochen?

 

°°°°°

Tag 455

Noch mit der Zahnbürste im Mund, eilte ich an die Tür, um auf das Klopfen zu reagieren. Kaj und Raissa hatten die Wohnung bereits vor Stunden verlassen, aber da ich erst irgendwann am Morgen eingeschlafen war, hatte ich umso länger im Bett gelegen. Es war schon fast Mittag und der Himmel noch immer dunkel verhangen. Man konnte es mir also nicht zum Vorwurf machen, dass ich so lange geschlafen hatte, wenn es draußen beinahe noch Nacht war – wenn auch nicht von der Zeit her. 

Beim zweiten Klopfen war hatte ich gerade die Hand an die Klinke gelegt. „Ist ja gut, nicht so ungeduldig“, nuschelte ich mit der Zahnbürste im Mund, riss die Tür auf – schlug sie mir bei der Aktion fast noch selber an den Kopf – und stand erst mal sprachlos da. Vor mir, mit einem dicken Beutel über der Schulter und einer zusammengerollten Decke unter dem Arm, stand Pal. Er wirkte etwas zerzaust um den Kopf, noch nass vom Regen und hatte ein verlegendes Lächeln auf den Lippen.

Ich klappte den Mund auf, nur um ihn gleich wieder zu schließen – irgendwie schaffte ich es dabei, die Zahnbürste im Mund zu behalten – das fand ich eine gute Leistung meinerseits. Dies war ein Anblick, mit dem ich nicht gerechnet hätte, nicht in den nächsten hundert Jahren.

Beim zweiten Versuch bekam ich meine Stimme wieder. Natürlich half es auch, dass ich die Zahnbürste aus dem Mund nahm. „Was machst du denn hier?“

Verlegen kratzte er sich am Kopf. „Oh, ähm, eigentlich ist das ja gar nicht meine Art, aber ich bin neu in der Stadt, habe noch keine Wohnung und suche einen Platz zum Schlafen, da dachte ich mir, schau doch mal bei deiner alten Freundin Talita vorbei, die wird dir sicher aushelfen können. Ich besitze bis jetzt nämlich nur … äh, einen Reisebeutel … und eine Decke.“ Wie um sie mir zu präsentieren, hielt er sie hoch.

Ich verstand nur Bahnhof. „Was?“

„Damit meine ich, dass ich noch keine Möbel habe. Oder Essen.“

Okay, das musste ich mir einen Moment durch den Kopf gehen lassen. Pal stand vor meiner Tür und bat auf sehr unkonventionelle Art bei mir um Unterschlupf, Pal, der eigentlich beim Rudel bleiben sollte, weil …

Wenn du jetzt gehst, Pal, dann brauchst du nicht mehr wiederkommen.

Das hatte Prisca zu ihm gesagt, ich hatte es genau gehört. „Hat Prisca … darf ich … bin ich im Rudel wieder willkommen?“ Das musste es sein, anders ging es gar nicht.

Das verlegene Lächeln fiel in sich zusammen, er zögerte, schaute sich einmal über die Schulter, als hoffte er, dass sich da irgendwer im Hausflur versteckte, der ihm hilfreich an die Seite springen würde. Da dem nicht so war, musste er doch allein antworten. „Nein.“

Wenn du jetzt gehst, Pal, dann brauchst du nicht mehr wiederkommen

„Oh, Pal, was hast du getan?“ Wenn er hier war, ohne das Prisca ihre Meinung geändert hatte, dann konnte das nur eines bedeuten: Pal hatte das Rudel verlassen. Und ich war daran schuld! Das konnte er nicht machen, Lykaner brauchten ihre Rudel, lebten für sie. Er konnte nicht einfach hier auftauchen, das durfte er nicht. „Geh zurück, vielleicht ist es noch nicht zu spät … vielleicht kannst du noch …“ Ich verstummte bei seinem Gesichtsausdruck. „Es ist bereits zu spät“, fasste ich zusammen.

„Ich kann nicht mehr zurück.“ Seine Worte klangen hohl und ich hätte ihn für seine Dummheit am liebsten geschlagen.

„Warum tust du sowas?“

Ein langer, stummer Blick, dann ein müdes Seufzen. „Ich habe es dir einmal gesagt. Ich habe dir gesagt, dass Prisca mein Alpha ist und dass ich ihr folge, ja, aber nicht, wenn ich weiß, dass es falsch ist, was sie tut.“

„Sie meint es doch nur gut.“ Warum rechtfertigte ich ihre Handlung eigentlich noch? War ich völlig meschugge? Ich sollte wirklich mal einen Kopfdocktor aufsuchen.

„Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass sie sich nicht richtig verhalten …“

Schritte im Hausflur ließen uns verstummen. Diese Situation war privat, ging keinen Außenstehenden etwas an. Meine Nachbarin, eine Windin – ein Elementarwesen, das ausschließlich aus seinem Element bestand –, schwebte auf leisen Sohlen an uns vorbei. Ein feindlicher Blick in unsere Richtung, ein paar gemurmelte Worte, dann huschte sie auch schon eilig an uns vorbei.

„Wie war das bitte?“, knurrte Pal ihr hinterher.

Erschrocken sah sie zurück, wandelte sich dann in den Lufthauch, aus dem sie bestand und verschwand schnell durch das offene Fenster im Hausflur. Tja, mit den guten Ohren eines Lykaners hatte sie wohl nicht gerechnet. Auch ich hatte ihre gemurmelten Worte vernommen und meine Ohren waren nicht annähernd so gut wie seine.

„Komm.“ Ich nahm Pal an der Hand und zog ihn in die Wohnung. Diese Feindlichkeit meiner Nachbarin war ich durch die letzten Tage gewohnt. Als Hüterin wurden mir – insbesondere von den Protestanten – viele, unliebsame Dinge um die Ohren gehauen, die ich nach bestem Wissen und Gewissen zu ignorieren versuchte, aber darüber dass es den Lykanern gleich ergehen könnte, hatte ich gar nicht nachgedacht. Kaj und Raissa hatten jedenfalls nichts dergleichen verlauten lassen. Gut, sie kleideten sich auch nicht wie Lykaner, sondern wie Therianer – weil ich sie darum gebeten hatte –, aber ihr direktes Umfeld müsste eigentlich wissen, was sie waren.

Ich schob die Gedanken beiseite, schloss die Tür und wandte mich dann zu Pal um. Wie er da so mit Sack und Pack stand, sah er ein wenig verloren aus. Mit meiner Zahnbürste in der Hand, fühlte ich mich auch nicht gerade besser, irgendwie verunsichert. „Was mach ich jetzt bloß mit dir?“

„Zu Anfang könntest du mich ja mal in den Arm nehmen.“

Das tat ich dann auch. Seine Decke und meine Zahnbürste fielen Zeitgleich zu Boden und dann lagen wir uns in den Armen, als hätten wir uns seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen. Ich drückte ihn so fest an mich, dass es fast wehtat. Seit dem Fest hatte ich nicht mehr damit gerechnet, ihn je wieder zu sehen, geschweige denn, ihn noch einmal in den Armen halten zu dürfen. Nicht nur, das Prisca mich aus dem Rudel verbannt hatte, nach meinem letzten Zusammensein mit Pal, wusste ich auch nicht mehr so recht, wie ich mich ihm gegenüber geben sollte und je länger diese Umarmung dauerte, desto … naja, sie wurde nicht unbedingt unangenehm, aber so wie er mich festhielt und sein Gesicht an meiner Halsbeuge vergrub, fühlte ich mich nicht mehr so wohl wie sonst.

„Du bist so dumm“, teilte ich ihm unverblümt mit und löste mich aus der Umarmung. Ich konnte mich noch so freuen ihn zu sehen, Tatsache war einfach mal, dass ich in meine Welt zurückkehren würde, sobald ich die Gelegenheit dazu hätte und dann wäre er allein. Sich von seinem Rudel zu trennen – dazu noch wegen einer Katze wie mir –, war einfach nur saudämlich von ihm gewesen. „Du hättest nicht herkommen sollen.“

Einen Moment mahlte Pal mit den Zähnen. „Soll ich wieder gehen?“

„Du weißt genau, dass ich das nicht so gemeint habe, aber …“ Hilflos zuckte ich mit den Schultern, weil mir einfach nicht die richtigen Worte einfallen wollten. „Du bist ein Lykaner, du gehörst in ein Rudel, in dein Rudel.“ Auch wenn ich dort nicht mehr willkommen war.

„Ich bin ein eigenständiges Wesen, ein erwachsener Mann, der seine eigenen Entscheidungen trifft.“

Als wenn ich das jemals bezweifelt hätte. „Wie lange hast du gebraucht, um diese kleine Rede einzustudieren?“

Um seinen Mundwinkel zuckte dieses halbe Lächeln, das genauso zu ihm gehörte, wie seine rote Haarfarbe. „Ich habe sie den ganzen Weg hier her geübt. Und wenn das nicht reichen sollte, habe ich sogar noch mehr Argumente vorbereitet, die dich davon überzeugen sollten, mich bei dir zu behalten.“

„Ach ja?“ Bevor er sehen konnte, wie meine Mundwinkel zu einem leisen Lächeln hinaufkletterten, bückte ich mich nach meiner Zahnbürste, damit er es nicht sehen konnte und verschwand ins Bad. „Na dann lass mal hören.“

„Was?“

„Überzeuge mich davon, dich hierzubehalten.“ Um ihn nicht komplett zu verunsichern, warf ich einen Blick über die Schulter, damit er den Schalk in meinen Augen tanzen sehen konnte.

Mit gespielt ernster Miene stieg er in unsere kleine Scharade ein. „Naja, ohne deine mitfühlende Ader wäre ich obdachlos.“ Er folgte mir ins Bad, wo ich noch einmal von neuem begann, meine Zähne zu schrubben. Sein Blick ging zum Fenster hinaus. „Und draußen regnet es.“

„Ja, so ein richtiges Hundewetter“, stimmte ich ihm zu, schrubbte ein wenig hier und noch ein bissen dort, bevor ich die Zahnpasta ins Waschbecken spuckte und mich wieder an ihn wandte. „Was hast du noch?“

„Du würdest mich bei dem Wetter wirklich vor die Tür setzen?“, fragte er beinahe fassungslos – aber nur beinahe.

„Klar, warum denn nicht? Spart man wenigstens die Dusche.“

Zweifelnd kniff er die Augen zusammen. „Na gut, aber wir sind Freunde und Freunde helfen sich in Zeiten der Not.“

„Ja, das tun sie.“ Daran gab es gar keinen Zweifel und Pal war nun mal mein bester Freund, auch wenn mir gerade danach war, ihn wegen seiner Ignoranz ein wenig zu foppen.

Pal seufzte erleichtert auf, ließ seinen Beutel auf den Boden gleiten und dann war seine Hand auf meiner Schulter. Unsere Augen trafen sich nicht zum ersten Mal im Spiegel. Hatten sie schon immer so gequält gewirkt? „Priscas Entscheidung war falsch gewesen, du gehörst schon lange zu uns, irgendwann wird die das auch einsehen.“

„Vielleicht“, lenkte ich ein, weil ich dieses Thema nicht unbedingt vertiefen wollte. Ich glaubte nicht an Pals Worte und selbst, wenn sie irgendwann doch wahr werden sollten, wäre ich dann vermutlich bereits zurück in meiner eigenen Welt. Lykaner waren viel zu stur, um ihre eigenen Fehler einzusehen. Es musste schon etwas wirklich weltbewegendendes geschehen, damit sie ihren Kurs änderten. Man nehme nur mal Veith als Beispiel. Scheiße, jetzt war er wieder in meinem Kopf. Das war gar nicht gut. „Was sagen eigentlich deine Eltern dazu, dass du gegangen bist?“, fragte ich, um auf andere Gedanken zu kommen. Helfen tat es leider nicht sehr viel. Sein Bild blieb in meinem inneren Auge haften und der Schmerz in meinem Herzen wollte sich nicht so einfach ohne Gegenwehr verziehen. Schade eigentlich, das wäre mir sehr gelegen gekommen.

Bei dem, was in meinem Kopf vorging, verpasste ich fast Pals Blick. Ganz kurz blitzte Wut darin auf, eine Regung, die ich so noch nie an ihm gesehen hatte – hatte ich ihn überhaupt schon mal wütend erlebt? Ich konnte mich jedenfalls an keine Situation erinnern –, doch bevor ich sie genauer entschlüsseln konnte, wandte er sich ab und verließ mit strammen Schritten das Bad. Trotzdem, ich hatte sie gesehen, die Wut und auch die Enttäuschung. Irgendwas war geschehen, das war mir sofort klar.

Hastig spülte ich mir noch den Mund aus, führte eine schnelle Katzenwäsche an mir durch und machte mich dann auf die Suche nach ihm, so wollte ich ihn nicht allein lassen. Im Wohnzimmer wurde ich fündig.

Er stand vor meiner offenen Regalwand, ein gerahmtes Foto vom Ausflug vor zwei Monaten in der Hand. Raissa auf Kajs Schultern lachte aus vollem Halse, in der Hand ein Luftballon in Baumform. Neben den beiden stand Djenan, der mich von hinten im Arm hielt und mit mir zusammen in die Kamera lächelte – naja, eigentlich war es ja keine Kamera, sondern ein Magier, der mithilfe von Magie das Bild in seinen Gedanken auf ein Stück Papier brachte. Und schwupp, schon besaß man ein magisches Foto. Trotz Djenans Sticheleien gegenüber Kaj war es ein schöner Tag gewesen. Er konnte Lykaner einfach nicht leiden – Raissa war da die einzige Ausnahme.

„Da haben wir die sprechenden Bäume in Fallensburg besucht.“ Ich tippte auf ein graubraunes Gebilde im Hintergrund des Fotos, das eher an einen Felsbrocken, als an einen Baum erinnerte. „Du hast noch nicht alles in deinem Leben erlebt, bevor du kein Gespräch mit einem Baum über die dynamischen Verhältnisse eines Vogels beim Flug erläutert hast.“

Pal lächelte nicht.

Das hatte ich befürchtet. „Möchtest du darüber reden? Über deine Eltern, meine ich?“

Seufzend stellt Pal das Bild weg und ließ sich nach einem Gang durch mein Wohnzimmer schwer auf die Couch fallen.

Ich folgte ihm etwas langsamer und konnte gar nicht anders, als ihn am Bein zu berühren. Berührungen trösteten. So machten das die Lykaner nun mal.

„Ich bin nicht länger sein Sohn, nicht wenn ich zu dieser Katze gehe“, murmelte er leise, ohne den gekränkten Ton darin verbergen zu können. „Das hat er mir ins Gesicht gesagt.“

Oh nein. „Fang? Du meinst …“

„In den Augen meines Vaters bin ich tot, da ich mich gegen das Wort meines Alphas gestellt habe.“ Er rieb sich mit einer Hand über die Stirn. „Onkel Tyge hat versucht mit ihm zu reden, aber …“ Er schüttelte den Kopf, als wolle er die Erinnerung daran schnellstens loswerden.

Du saudämlicher Werwolf! Das wollte ich ihm ins Gesicht schreien. Er war dumm, so dumm. Jetzt hatte er nicht nur sein Rudel, sondern auch noch seine Familie verloren und das alles nur wegen mir. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Ich hatte ihm doch klipp und klar verklickert, dass zwischen uns nichts laufen würde, oder? Er handelte doch sonst nicht so … so hirnlos! Pal war nicht dumm, er musste einfach wissen, dass er für mich nichts weiter als ein Freund war und auch bleiben würde.  „Du musst zurückgehen, vielleicht kannst du noch …“

„Nein, es ist zu spät. Meine Mutter, sie würde mich noch akzeptieren, aber ich bin nicht länger ein Lykaner des Wolfsbaumrudels, ich bin jetzt ein Einzelgänger und damit darf ich das Territorium nicht mehr betreten.“

„Deine Mutter?“

„Sie hat geweint, als ich wegging, aber … es ging nicht.“ Wieder in Kopfschüttelt. Wollte er mich mit seinen Worten überzeugen, oder sich selber? „Seit Julica gestorben ist, hat Prisca sich deutlich verändert. Vorher war sie streng, aber gerecht. Jetzt ist sie nur noch streng, wenn sie überhaupt mal für uns da ist und sich nicht in ihrem Haus versteckt. Eigentlich führt Onkel Tyge zurzeit das Rudel, er hat alle ihre Pflichten übernommen.“

„Prisca trauert um ihre Tochter.“

„Nein, Prisca vergräbt sich in ihrem Schmerz und lässt keinen mehr an sich heran.“ Er seufzte und lehnte sich zurück ins Polster. „Du hast keine Ahnung, was bei uns im Rudel momentan los ist. Wenn Prisca sich nicht bald zusammenreißt, dann wird ein anderer Lykaner ihr ihren Posten streitig machen. Bisher hat Onkel Tyge das verhindern können, aber lange wird er das nicht mehr schaffen.“

„Was?“ War das sein Ernst?

Pal sah mir in die Augen. „Es ist nur noch eine Frage der Zeit, dann hat das Wolfsbaumrudel einen neuen Alpha.“

„Wen?“

„Den, der sich durchsetzen kann. Viele hoffen auf Onkel Tyge. Er hat Kraft und auch die Erfahrung, aber er ist zu alt, er würde die jungen Anwärter nicht lange abwehren können. Sollte er es dennoch versuchen …“

Er ließ das Ende offen, aber ich konnte mir schon denken, was er damit sagen wollte. Warum hatte ich die ganzen Monate nie mitbekommen, wie schlimm es um das Wolfsbaumrudel stand? Klar, natürlich hatte ich bemerkt, dass Prisca sich sehr zurückgezogen hatte, aber dass es sooo schlimm war, nein, das hatte ich bei keinem meiner Besuche bemerkt.

„Vielleicht kommt Prisca ja bald wieder zu sich.“

Pal schnaubte grimmig, er glaubte nicht daran. „Das bleibt wirklich zu hoffen.“

 

°°°

 

Kaum dass ich mit nassen Haaren und tropfender Kleidung durch die Wohnungstür trat, hörte ich das Knurren aus dem Wohnzimmer. Was war denn jetzt schon wieder los? Bewaffnet mit meinen Einkaufstüten, die ich auf dem Rückweg von den Verlorenen Wölfen besorgt hatte – unser Kühlschrank war nämlich so gut wie leer und jetzt hatte ich drei hungrige Wölfe zuhause, die gefüttert werden wollten – spazierte ich ins Wohnzimmer. Kaj stand breit grinsend am Tresen und tunkte einen Teebeutel in ihre Tasse. Sie knurrte also schon mal nicht. Raissa auch nicht, die war nicht mal im Raum, wahrscheinlich kümmerte sie sich gerade um ihre Hausaufgaben. Es war Pal, der da ziemlich angriffslustig auf der Couch saß und Kaj nicht aus den Augen ließ.

„Was ist denn hier los?“ Ich stellte die Einkaufstüten auf den Tresen und schob sie Kaj zu. Anstatt blöd zu grinsen, konnte sie sich auch ein wenig nützlich machen.

„Dein kleiner Wolf da drüben hat keinerlei Sinn für Humor.“

Na ganz große klasse, dass hatte mir gerade noch gefehlt. „Wenn ihr beiden euch nicht vertragen könnt, dann sehe ich mich gezwungen, Maulkörbe mitzubringen.“

Pal kniff die Augen zusammen. „Sag ihr das, ich will einfach nur, dass sie mich in Frieden lässt.“

Oh Mann, was für ein Kindskopf. „Kaj, sei lieb zu Pal und Pal, hör auf Kaj anzuknurren. Wenn du hierbleiben willst, dann musst du dich auch mit ihr arrangieren.“ Als ich mich den Tüten zuwandte, um Kaj die Lebensmittel zu reichen, sah ich ihr bissiges Lächeln. „Und du hör auf zu stänkern.“

„Ich hab gar nichts gemacht.“

Nein natürlich nicht, wie war ich nur auf den Gedanken gekommen? Reine Einbildung, schon klar.

„Sag mal, warum hat er eigentlich so schlechte Laune, hat ihm seine Mamá gestern vor dem Schlafengehen nicht mehr in den Arm genommen?“

Sofort kam von hinten wieder das Knurren. Ich ignorierte es einfach. „Warum fragst du mich das? Pal sitz dahinten und soweit ich weiß, funktionieren sowohl seine Ohren, als auch sein Mund.“

Kaj nahm von mir zwei Flaschen mit Glusglusaft entgegen – Raissa liebte dieses Zeug und vernichtete täglich mehrere Liter davon, wenn wir sie ließen –, die sie in den Kühlschrank stellte. „Ich habe ihn ja schon gefragt, aber das Einzige was ich zur Antwort bekommen habe, war ein Grrr.“ Wow, wie schaffte diese Frau es nur, dass ihre Zähne auch in Menschengestalt so rasiermesserscharf wirkten? Werwölfe konnten selbst nach dieser langen Zeit noch ganz schön unheimlich wirken.

„Pal?“, fragte ich meinen neuen Mitbewohner.

„Es geht sie nichts an!“

„Siehst du, so redet er die ganze Zeit mit mir.“ Kaj räumte zwei Konserven in den Schrank, bevor sie sich von mir die Spagetti reichen ließ, die im Hängeschrank verschwanden. „Wie lange bleibt unser Sonnenschein eigentlich dieses Mal?“

Als Pal wieder anfing zu knurren, war ich kurzeitig wirklich am überlegen, die Zeitung zusammenzurollen und ihm auf die Schnauze zu klopfen. Das ging nun wirklich nicht. „Ich denke, solange bis er eine eigene Bude gefunden hat.“

Das ließ Kaj einen Moment innehalten. „Eine eigene Bude? Du meinst, er ist …“ Sie sah zu Pal, der ihren Blick grimmig erwiderte. „Oh, dass tut …“

„Steck dir dein Mitleid sonst wo hin“, fuhr er sie sofort an, „das brauchte ich nicht, besonders nicht von einer …“

„Umwerfenden Wölfin wie mir?“, quatschte Kaj dazwischen, bevor er ihr seine Beleidigung um die Ohren hauen konnte. „Das hast du doch sicher gemeint, nicht wahr, Sonnenscheinchen?“

Pal schnaubte nur sehr abwertend.

Na super und mit den beiden sollte ich unter einem Dach wohnen? Das konnte ja noch heiter werden. Wenn ich mich in einer Woche noch nicht erhängt hätte, dann wüsste ich eines mit Sicherheit, ich besaß Nerven aus Stahl! „Okay Leute, so klappt das nicht. Kommt mal her, genau hier hin.“ Ich zeigte links und rechts neben mich. Kaj folgte ohne Kommentar, nur Pal brauchte eine zweite Aufforderung und ging an die Wölfin wirklich nur so dicht heran, wie es nötig war. „So und nun will ich, dass ihr beide euch die Hand reicht.“

Pal kniff die Augen zusammen. „Wozu?“

„Keine Ahnung“, sagte ich ganz ehrlich. „Das habe ich bei Raissa in der Schule gesehen, als sich zwei der Kids gestritten haben. Die Lehrerin hat sie gezwungen, sich die Hand zu schütteln und hinterher sind die Kinder dann wieder friedlich spielen gegangen.“

Pal dachte wohl, dass ich ihn verarschen wollte, so jedenfalls schaute er mich an. Dagegen fand Kaj das äußerst amüsant und grinste breit.

„Na wenn das so ist.“ Noch bevor Pal reagieren konnte, hatte Kaj sich seine Hand geschnappt und sie einmal kräftig geschüttelt. Sie ließ auch nicht mehr so einfach los, Pal musste schon kräftig ziehen und funkelte Kaj wütend an, die seinen Blick nur liebenswürdig erwiderte. „Gehst du jetzt mit mir spielen?“, fragte sie ganz in kindlicher Unschuld.

„Träum weiter!“

Er klingelte an der Tür.

„ICH GEH SCHON!“, schrie da ein hohes Stimmchen aus dem Nebenraum. Im nächsten Moment knallte wieder einer meine Türen gegen die Wände und ein Wirbelwind mit weißen Haaren jagte an die Tür.

„Irgendwann sind alle meine Wände voller Löcher“, grummelte ich und gesellte mich zu der Kleinen, gerade als sie die Klinke runter drückte. Die beiden Streithähne in der Küche würden sicher einen Moment allein auskommen, ohne sich an die Kehle zu springen – hoffte ich zumindest. Naja, vielleicht sollte ich mich doch ein wenig beeilen. Blutflecken gingen ja so schwer aus einem hellen Teppich heraus. Und, als wenn das dann noch nicht genug wäre, müsste ich diese Schweinerei dann wahrscheinlich auch noch beseitigen. Außerdem, wie sollte ich den Wächtern zwei tote Lykaner in meinem Wohnzimmer erklären, das wäre wirklich zu viel des … oh Gott, worum machte ich mir hier eigentlich schon wieder Gedanken? Das kam sicher vom Stress. Manchmal glaubte ich wirklich, dass es besser wäre, mich eine Zeitlang wegzusperren.

„Da kommt jemand!“, rief Raissa aufgeregt und hüpfte vor der offenen Tür auf und ab. Jup, dieses Kind hatte eindeutig Hummeln im A-Popo – nicht das mir diese Tatsache erst jetzt klar wurde, es sollte einfach nur mal erwähnt werden.

Neben Raissa lauschte ich auf die Schritte nach oben und erkannte bald den Postboten, der mit seiner nassen Uniform den ganzen Hausflur volltropfte. War auch wirklich ein scheußliches Wetter draußen. Ich musste es wissen, meine Haare trieften noch immer.

„Frau von München?“

Ob es etwas bringen würde, ihm zu erklären, dass mein Nachname Kleiber war? Ne, das hatte sicher keinen Zweck. „Höchstpersönlich.“

„Ich habe hier ein Einschreiben für Sie, wenn Sie hier bitte unterschreiben könnten?“ Er hielt mir ein Klemmbrett hin, das an der Außenseite eine kleine Nadel hatte. Ich hasste diese Dinger. Am liebsten hätte ich den Typen samt dem Einschreiben wieder weggeschickt, aber ich war neugierig. Also pickte ich mir den Finger an der kleinen Nadel und drückte den Blutstropfen dann hinter meine Daten auf das Papier. Das war die Art, wie man hierzulande unterschrieb. Ziemlich makaber, ich wusste das, aber wie hieß es so schön? Andere Länder, andere Sitten, obwohl das hier ja nicht gerade ein anderes Land, sondern eine ganz andere Welt war. Galt das Sprichwort dann auch?

Das ist doch jetzt völlig egal, schnapp dir den Brief, damit wir erfahren, was drinnen steht!

Ob andere Leute auch eine innere Stimme hatten, die sich als eigene Persönlichkeit zählte? Wenn nicht, dann sollte ich wohl niemanden davon erzählen, das könnte unerfreuliche Konsequenzen haben, wie Spritzen – ich hasste Spritzen. Da musste man freiwillig still halten, damit da irgendein Typ, einem eine Nadel unter die Haut jagen konnte. Nein danke, darauf konnte ich nun wirklich verzichten.

Der Brief!

Ja ja, ist ja schon gut. „Danke“, sagte ich und nahm dem Mann den Brief ab. Jetzt hatte ich bereits mein Blut dafür gegeben, jetzt wollte ich auch das Papier haben.

Die Tür ging bereits mit einem lauten Rums zu, da hatte ich noch nicht mal den Kopf wieder ganz in der Wohnung. Tja, Raissa war halt eine von der schnelleren Sorte.

„Was steht da drin?“ Wie ein Flummi hüpfte sie neben mir auf und ab, um einen Blick auf den Umschlag zu erhaschen.

„Das werde ich wohl erst erfahren, wenn ich ihn aufmache, meinst du nicht?“

„Ich hole ein Messer!“ Und weg war sie.

Kopfschüttelnd – und in einem angemessenen Tempo – lief ich ihr hinterher. Dabei nahm ich den Umschlag zum ersten Mal genauer unter die Lupe. Oben in der Ecke prangte in kleines Emblem. Drei ineinander verhakte Kreise, mit einem schwarzen Obelisk im Vordergrund. Scheiße, das war das Zeichen des Hohen Rats!

Als ich das Wohnzimmer betrat, machte sich ein ganz komisches Gefühl in mir breit. Was bitte wollte der Hohe Rat von mir und war so wichtig, dass sie es mir per Einschreiben zukommen ließen? Sicher war es keine Einladung zu einem Grillfest. Das konnte einfach nichts Gutes bedeuten.

„Alles okay?“, wollte Pal wissen, als er mein Gesichtsausdruck sah.

„Das werde ich gleich wissen.“ Ich nahm von Raissa das Messer entgegen, das Kaj ihr aus der Schublade gegeben hatte und ritzte den Umschlag auf. Pal schaute mir über die Schulter, als ich den Brief herauszog und ihn entfaltete.

Adresse, Name, Aktennummer, bla bla bla … ah da, Betreff:

 

Zur Anhörung des Ausschlussverfahrens der Lykaner aus dem Codex.

 

Vor Schreck fiel mir beinahe der Zettel aus der Hand. Was? Das konnten die doch wohl nicht ernst meinen!

Als Kaj mein bleiches Gesicht sah, rückte auch sie näher, um auf die wenigen Zeilen zu spähen.

 

Sehr geehrte Frau Talita Kleiber von München,

 

hiermit werden Sie vorgeladen, in der Sache des Ausschlussverfahrens der Lykaner aus dem Codex, unter dem Hohen Rat auszusagen. Erscheinen sie hierzu bitte am neunzehnten Tag des siebenten Monats zur vollen Stunde des Mittags im Raum 1 07 B im Ratsgebäude der Stadt Sternheim.

 

Anwesenheit ist Pflicht, Nichtauftauchen wird bei Strafe geahndet.

 

Für Fragen und Auskünfte ihrerseits wenden Sie sich bitte an die Aufklärung  des Hohen Rats, dort wird man Ihnen gerne helfen.

 

Mit freundlichen Grüßen

 

Jolinda von Seenberg, erste Stenotypistin des Hohen Rats

 

Sehr langsam ließ ich den Zettel sinken. Ich sollte gegen die Lykaner aussagen? Ich?

„Das ist in vier Tagen“, kam es da von Kaj.

Aussagen? Bei Strafe geahndet? „Ich kann das nicht.“ Hilfesuchend sah ich von einem zum anderen. „Ich kann nicht gegen euch aussagen, wie soll ich das machen? Ich will nicht, dass ihr aus dem Codex fliegt.“

„Da steht nirgends, dass du gegen uns aussagen sollst, nur das du aussagen sollst“, korrigierte Kaj mich.

„Und was soll ich sagen? Die wollen sicher nicht hören, was für liebe nette Leutchen ihr doch seid, die wollen euch aus dem Codex kicken.“

„Nein.“ Vehement schüttelte Kaj den Kopf. „Anwar will uns aus dem Codex, der Hohe Rat will die Sache nur klären. Nach dem Vorfall bei deinen Wölfen sind die Leute verunsichert und dass müssen sie bereinigen.“

„Und was soll ich dann bitte sagen?“

„Die Wahrheit“, kam es prompt von ihr. „Am besten rufst du Gaare an, der wird dir dabei sicher helfen können.“

Gaare anrufen, ja, das hörte sich gut an. Gaare war schlau, der wusste sicher, was ich jetzt tun sollte.

„Was ist denn los?“, wollte Raissa wissen. So sehr sie sich auch streckte, sie schaffte es nicht, einen Blick auf den Zettel zu werfen, dafür war sie einfach noch zu kurz.

„Das würde ich auch mal gerne wissen“, warf Pal ein.

Ich sah zu Pal, dann zu Kaj und wieder zurück.

„Komm, Raissa.“ Kaj nahm die Hand ihrer Tochter. „Wir gehen jetzt ein Eis kaufen, was hältst du davon?“

Vor Freude hüpfte die Kleine fast bis an die Decke. „Und Tante Tal, bekommt die auch eines?“

„Wir bringen ihr eines mit.“

Sie nickte eifrig. „Und Pal auch, ich mag Pal, er ist nett.“

„Ja, dass ist er“, stimmte sie ihrer Tochter zu.

Ich lauschte dem Gespräch der beiden und wartete, bis die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, erst dann machte ich meinen Mund wieder auf. „Weißt du schon, dass die Verlorenen Wölfe einen Elfen getötet haben?“

„Ja, ich habe da etwas klingeln gehört.“

„Ich denke, dass es damit zusammenhängt.“ Schwer ließ ich mich auf den Hocker am Tresen nieder und begann zu erzählen, was hier in den letzten Tagen so los war.

 

°°°°°

Tag 457

Mit noch halb geschlossenen Augen stolperte ich ins Wohnzimmer. Die letzten Tage waren lang gewesen und jetzt brauchte ich erst mal einen schönen, starken Tee, um einen klaren Kopf zu bekommen, bevor all meine Probleme wieder über mir zusammenbrachen.

Das Werkeln in der Küche, weckte meinen Hausgast auf der Couch auf. Zwei Tage war es nun her, dass Pal vor meiner Tür gestanden hatte und ich hatte ihn nett aber deutlich darauf hingewiesen, dass es vielleicht keine so tolle Idee war, wenn wir in nächster Zeit das Bett teilen würden. Nicht, weil ich glaubte, dass irgendwas passieren würde, sondern weil … weil … naja, es war einfach so. Ich fühlte mich besser, wenn eine Wand zwischen uns war, sobald ich unter die Kissen schlüpfte.

Von der Couch blinzelte mich ein sehr verschlafendes Auge an. 

Ich lehnte mich an meinen Tresen nach vorn und nahm den ersten Schluck meines Wachmachers. Hmmm, so ließ es sich leben. „Morgen, Dornröschen, soll ich dir auch einen Tee machen?“

Ein weiteres Blinzeln.

„Das nehme ich mal als Ja.“ Ich kramte eine weitere Tasse aus dem Hängeschrank, hängte ein Beutelchen des sogenannten Kofftees dazu und übergoss alles mit heißem Wasser. In der Zwischenzeit schaffte Pal es, sich aufzusetzen und mit der Hand durch sein verstrubeltes Haar zu fahren, was es nur noch mehr abstehen ließ. Der Anblick war echt niedlich.

Gerade, als ich ihm den Tee bringen wollte, erhob er sich und ließ sich bei mir am Tresen nieder. Dabei sah er aus, als wenn er jeden Moment einfach wieder einschlafen würde.

Schmunzelnd schob ich ihm die Tasse zu. „Vielleicht solltest du heute mal früher schlafen gehen und nicht bis in die Nacht hinein mit Kaj streiten.“ Das würde mir und meinen Nerven auch gut tun. Ehrlich, in den letzten beiden Tagen glaubte ich in einem Irrenhaus zu leben. Kaj ärgerte Pal, Pal knurrte Kaj an, dann das Geschreie und die ganzen Streiche. Dagegen war ein Kindergarten auf Koffein ein ruhiges Plätzchen. Dabei hatte ich im Moment doch eigentlich genug um die Ohren, als dass ich mich auch noch mit diesen beiden Kindsköpfen rumzuschlagen musste.

Pal nahm ein Schluck von seinem Tee und grunzte, was ich sowohl als „Ja“, wie auch als „Nein“, oder als „Geh mir nicht auf den Sack, ich bin noch müde“ auffassen konnte.

Männer, mehr gab es dazu wirklich nicht zu sagen. Aber wo wir schon mal beim Thema waren, gab es da noch eine dringendere Frage, die unbedingter Klärung bedurfte. „Sag mal, wie sieht es jetzt eigentlich mit einer eigenen Wohnung aus?“

Die halb geschlossenen Augen kniffen sich ein Stück zusammen. „Willst du mich etwa loswerden?“

„Ich will den Stress zwischen dir und Kaj loswerden“, sagte ich ganz ehrlich. Warum sollte ich auch um den heißen Brei herumreden? „Und da die beste Lösung eine räumliche Trennung zwischen dir und ihr ist, ist meine eindeutige Antwort ja, ja ich will dich loswerden. Außer natürlich, ihr schafft es in den nächsten vierundzwanzig Stunden eure Differenzen beizulegen und euch wie zwei zivilisierte Erwachsene zu benehmen.“ Noch ein leichtes Lächeln um die Lippen, damit das Ganze nicht so böse rüberkam.

Wieder ein unbestimmtes Grunzen.

Seufz. „Also, bekomm ich jetzt eine Antwort?“

Mit beiden Händen umfasste Pal seine Tasse, als wolle er sich daran aufwärmen. „Gleich am Morgen ein Thema, das für schlechte Laune sorgt?“

„Willst du dich lieber über deine nassen Handtücher im Bad unterhalten, die ich hinter dir herräumen musste?“, stellte ich die Gegenfrage.

Dafür bekam ich wenigstens ein kleines Lächeln. „Also doch lieber die Wohnung.“ Er seufzte und schob seine Tasse ein wenig von sich. „Ich hab mich bei eurem Vermieter für die leer stehende Wohnung über euch beworben, aber er will sie mir nicht geben.“

„Was vielleicht daran liegen könnte, dass du kein Einkommen hast und die Miete nicht bezahlen könntest“, überlegte ich. Schade eigentlich, Pal als Nachbar wäre bestimmt ganz witzig, aber schnorren geht ja mal gar nicht.  

„Nein, mit meinem Einkommen – oder dessen nichtvorhandensein –, hat es nichts zu tun, es lieg ausschließlich daran, dass ich ein Lykaner bin und damit zurzeit überall unerwünscht“, kam es etwas bitter von ihm und leider musste ich ihm da zustimmen. Die Lykaner standen beim restlichen, magischen Volk zurzeit auf einem stetig abstürzenden Kurs. Es war zu vergleichen mit dem Börsencrash. Überall waren sie unerwünscht und wurden feindlich angemacht.

Wenn ich mit Pal die letzten Tage außer Haus war, wurde ich noch mehr angefeindete, als sonst und die Presse streute fleißig weiter Salz in die Wunde, damit der Tote bei den Verlorenen Lykanern auch nicht in Vergessenheit geriet. Die Anhörung in zwei Tagen machte es natürlich auch nicht besser. Und da waren sie wieder, meine Probleme – willkommen zurück, ich hatte mich schon gewundert, wo sie waren.

„Würde ich bei dem Kerl in einer Magierrobe auftauchen, würde ich den Zuschlag für die Wohnung sofort bekommen“, grummelte Pal noch hinterher.

„Dann mach das doch“, sagte ich leichthin.

„Was?“, fragte er entgeistert.

„Na das mit der Robe.“

Er sah mich an, als hätte ich plötzlich ein Geweih auf dem Kopf, an dem ich meine Wäsche zum Trocknen aufhängte. „Auf keinen Fall, eher würde ich in der Gosse unter der Brücke hausen.“

Aber sicher doch. Ich lehnte mich auf die Unterarme vor und grinste ihm frech ins Gesicht. „Das sagst du jetzt aber nur, weil du genau weißt, dass ich dich niemals vor die Tür setzen würde.“

„Niemals?“

Mein Grinsen wurde breiter. „Du kannst es ja mal darauf ankommen lassen.“

„Ich glaube ich verzichte.“ Er nippte an seinem Tee, um zu testen, ob er schon abgekühlt war. War er wohl nicht, denn er verzog das Gesicht und stellte die Tasse wieder zurück. „Was hast du heute noch vor?“

„Duschen, anziehen, frühstücken und dann muss ich zu den Verlorenen Wölfen.“ Gott sei Dank. Wenn ich da war, würde ich meinen Problemen aus dem Weg gehen können – wenigstens für eine Weile –, denn die kamen nicht durch den Schutzschild.

„Dann hast du den Nachmittag ja frei.“

„Das kommt darauf an.“

„Ich müsste in der Stadt ein paar Sachen besorgen und wollte fragen, ob du mich begleiten möchtest.“

„Eine Shoppingtour?“ Ja, auch in dieser Welt gab es eine Menge Frauen – und auch Männer – die darauf standen, aber ich gehörte nicht dazu. Das Gedränge, die Gerüche, der Lärm. Ne, das war wirklich nicht so meins. Da war ein langer Spaziergang durch den Wald doch eher etwas für mich. Oder einfach ein fauler Tag auf der Couch.

„So würde ich es nicht ausdrücken, aber im Endeffekt, ja.“

Ich gab ein Geräusch von mir, welches meine Qualen ausdrücken sollte.

„Ach nun komm schon.“ Er lehnte sich leicht vor. „Du darfst dir auch etwas aussuchen, ich bezahle.“

Meine Augenbraue wanderte ohne mein Zutun ein Stück weit nach oben. „Ach ja? Von welchem Geld? Soweit ich weiß, hast du dir noch keinen Job gesucht.“

Pal kniff die Augen leicht zusammen. „Ganz mittellos bin ich auch nicht, ich habe Geld von Zuhause …“ Er stockte einen Moment.  „Ich meine, vom Rudel mitgenommen.“  

Mist, in diese Spirale wollte ich ihn nicht wieder sinken lassen, da ging es nur bergab. „Okay“, sagte ich und hoffte seine Gedanke so wieder vom Wolfsbaumrudel wegzubekommen. „Ich gehe mit dir shoppen, aber ich erwarte ein extravagantes Geschenk, mit viel Glitzer und Klimbim, nur damit du schon mal Bescheid weißt.“

„Du stehst auf so ´nen Mädchenkram?“, zog er mich auf.

„Ich bin ein Mädchen, also …“

„Aaah!“, jaulte es in dem Moment durch die Wohnung, gefolgt von einem Haufen nicht jugendfreier Flüche, bei denen einem die Ohren abfallen konnten. Vom Ton her konnte das nur Kaj sein. Ein Glück, dass Raissa noch schlief. Was sie wohl sagen würde, wenn sie ihre Mutter solche Worte in den Mund nehmen hörte? Ich konnte es mir ganz genau vorstellen. Die dünnen Ärmchen in die Taille gestemmt, der tadelnde Ausdruck in ihrem Gesicht und ihr kleines Stimmchen, das darüber aufklärte, dass man sowas nicht sagte und lieber andere Mittel und Wege finden sollte, seinen Unmut zu verdeutlichen. Alles Kajs Erziehung.

Mit zusammengekniffenen Augen fixierte ich Pal. „Was hast du jetzt wieder angestellt?“ Nein, das waren keine falschen Verdächtigungen. Wenn Kaj in den letzten beiden Tagen geschrien hatte, war Pal immer daran beteiligt gewesen. Man erinnere sich nur an gestern Abend, wo Pal der Wölfin ganz selbstlos einen Tee gebracht hatte und sie anschließend rotgefärbte Zähne hatte – Lebensmittelfarbe. Mann, war das ein Akt gewesen, Kaj fand das nämlich nicht so witzig wie Pal.

Statt zu antworten, schmunzelte er nur in seine Teetasse. „Sieh es dir selbst an.“

Nichts anderes tat ich und … oh Mann, das war echt …

„Wenn du jetzt lachst, dann beiße ich dich!“, knurrte Kaj mich an, als ich vor ihr im Flur stand und, oh Mann, es war wirklich schwer, nicht loszulachen. Keine Ahnung wie Pal das geschafft hatte, aber es erklärte eindeutig seinen Schlafmangel. Kaj war an ihrer Matratze festgeklebt – Wortwörtlich. Ihr Nachthemd klebte an der weichen Polsterung und ihr Bein auch. Das sah echt albern aus, da sie mit dem Oberkörper halb über den Bettrand hing und nur nicht mit dem Gesicht voran auf den Boden klatschte, weil sie sich mit den Händen abstützte.

In den letzten Tagen war hier ja so einiges los gewesen. Eigentlich hatte es damit angefangen, dass Kaj Pal beim Abendessen vor zwei Tagen über die Schulter gestrichen hatte, eine ganz normale Geste unter Lykanern, aber Kaj hatte es nur gemacht, weil sie genau wusste, dass sie den Wolf damit reizen konnte. Ihr Plan war aufgegangen, aber nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatte. Aus Rache hatte Pal ihr am nächsten Morgen Salz in den Tee gekippt – eine Menge Salz. Daraufhin hatte Kaj seinen Teebeutel mit Chili versetzt – Mann, hatte der Junge gejault. Leider war das noch nicht das Ende des Liedes gewesen. Rache war süß und der ganze Quatsch. Als Kaj nach dem Frühstück unter der Dusche stand, hatte Pal kurzerhand das warme Wasser abgestellt. Mann, von dem folgenden Schrei klingelten mir immer noch die Ohren. Tja, als Pal dann nach einem kleinen Schläfchen am  Mittag aufgewacht war, hatte er pink lackierte Fußnägel gehabt. Ich hatte zugesehen, wie Kaj sie ihm bemalt hatte, mich aber nicht eingemischt. Was ging es mich schließlich an, wenn sie sich so kindisch verhalten mussten? Solange dabei keiner ernsthaft zu Schaden kam, sollten die beiden ruhig machen, Hauptsache sie zogen mich nicht in ihren Kleinkrieg hinein.

Des lieben Friedens willen, hatte Pal Kaj am Abend dann einen Tee gebracht – so zumindest hatte er behauptet. Natürlich war Kaj misstrauisch gewesen, aber da er nicht seltsam schmeckte, hatte sie ihn getrunken. Das war die Sache mit den roten Zähnen gewesen. Die Retourkutsche kam prompt. Als Pal gestern Abend aus dem Bad kam, lagen vor dem Bad ein Haufen Eier, in die er frisch fröhlich rein gelatscht war. Er hatte geflucht und getobt, was ich durchaus nachvollziehen konnte. So ´nen Glibber würde ich auch nicht gerne zwischen den Zehen zu kleben haben.

„Hör auf da blöd rumzustehen und hilf mir lieber!“, fauchte Kaj mich an und versuchte sich wieder zurück ins Bett zu stemmen. Das Einzige, was sie damit erreichte, war, dass sie samt Matratze auf dem Boden klatschte. Okay, jetzt konnte ich nicht mehr an mich halten, ich lachte einfach los. Sollte sie ruhig sauer auf mich sein, es sah einfach zu komisch aus, wie sie da unter der Matratze einen auf Schildkröte machte.

Sie knurrte, schaffte es aber auch mit viel Anstrengung nicht, sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien, sodass ich mich gezwungen sah, mich ihrer zu erbarmen.

„Oh, was spielen wir?“ Ein Wirbelwind mit weißen Haaren rannte an mir vorbei – wo kam Raissa plötzlich her? – und sprang auf die Matratze und damit auf Kajs Rücken. Uhhh, das tat sicher weh. Und so wie Kaj ächzte, half das ihrer Atmung auch nicht gerade auf die Sprünge.

„Raissa, nicht, komm da runter, deine Mutter klebt an der Matratze fest.“ Ich eilte Kaj zu Hilfe und nahm ihr die Kleine vom Rücken.

„Warum?“, fragte sie dann allen Ernstes.

Mein Mund klappte auf und gleich wieder zu. Was sollte man auf so eine Frage in dieser Situation auch antworten?

„Weil deine Mutter im Bett mit Kleber rumgespielt hat“, kam es da aus dem Türrahmen von Pal. Seelenruhig stand er da, nippte an seinem Tee und beobachte Kajs Bemühungen sich zu befreien. Na super. Ich wollte gar nicht wissen, was dieses kleine Schauspiel nach sich ziehen würde.

Seufzend setzte ich Raissa ab und half Kaj aus ihrer misslichen Lage. Das Bein bekam ich mit heißem Wasser von der Matratze gelöst, aus dem Nachthemd schlüpfte sie einfach heraus. Wie sie das alles wieder in Ordnung brachte, interessierte mich im Augenblick nicht. Ich hatte noch nicht geduscht und wie ich aus dem Mund roch, wollte ich auch nicht wissen. „Schafft ihr es, euch eine halbe Stunde wie zwei zivilisierte Wesen aufzuführen, damit ich in Ruhe duschen gehen kann, ohne Angst zu haben, danach ein Schlachtfeld zu betreten?“

„Ich weiß mich zu benehmen“, grinste Pal und verzog sich wieder ins Wohnzimmer.

Kaj knurrte ihm missmutig hinterher und pflückte Raissa von der Matratze am Boden, die sie gerade als Trampolin nutzte. „Das bekommt er doppelt zurück.“

„Solange ihr meine Einrichtung dabei in Frieden lasst, mische ich mich da nicht ein.“ Ich verzog mich in den Feuchtraum und stellte mich unter die Dusche. Einseifen, Haare waschen. Hm, das Shampoo roch irgendwie seltsam. Egal. Ich spülte mich ab, wickelte mich dann in ein Handtuch und stellte mich zum Haare trocknen vor den Spiegel. Jeglicher Gesichtsmuskel entglitt mir, als ich meinen Kopf sah. „Ahhh! Pal, Kaj, ich bring euch um!“

Meine Haare, um Himmels Willen, sie waren grün!

 

°°°

 

„Ich will nach Hause!“ Das waren Kanins Begrüßungsworte, kaum dass ich durch den Schild getreten war. Meine grünen Haare – ich hatte das Zeug auch nach mehrmaligem Waschen nicht rausbekommen – wurden von ihr völlig ignoriert.

Pal war es gewesen. Er hatte beim Frühstück mit einer Gegenattacke von Kaj gerechnet und wollte schon einmal vorsorgen. Dass ich den gleichen Feuchtraum nutzte, hatte der dabei leider nicht bedacht. Wenigstens hatte er sich reuig gezeigt. Im Gegenteil zu Kaj, die sich bei meinem Anblick vor Lachen auf dem Boden gekugelt hatte. und Raissa hatte aufgeregt gefragt, ob sie auch grüne Haare haben dürfte.

„Ja, ich freue mich auch, dich zu sehen“, grüßte ich sie. Mit fünf Kilo Fleisch in handgroßen Brocken in einer Schüssel unter meinem Arm und Kanin an meiner Seite, tauchte ich im verregneten Urwald unter und befand mich sofort in einer gänzlich anderen Welt – natürlich klitschnass. Der kurze Weg vom Moob bis zum Schild hatte bereits ausgereicht, mich bis auf die Knochen durchzuweichen. Das hieß, dass nicht nur meine Klamotten an mir klebten, sondern auch mein Fell – ekliges Gefühl. Regen war echt widerlich.

„Ich kann die Verwandlung jetzt halten.“ Kanin lief ein Stück vor und dann rückwärts vor mir. Dass sie bei der Aktion nicht auf dem Hintern landete, verlangte ihr mein Respekt ab. „Ich denke wieder klar und kann auch in Wolfsgestalt wieder sprechen, was willst du denn noch, bevor du mich durch diesen Schild lässt?!“

Alles ausgezeichnete Argumente, das musste ich zugeben, sogar Kleidung trug sie seit gestern wieder – naja, nur einen Lendenschurz, aber immerhin. Simyo hatte ich bis heute nicht dazu bringen können, sich etwas überzuziehen – aber ihre Genesung war mit einem Schlag so schnell gegangen, dass ich dem Braten nicht traute. Monatelang kein Anzeichen einer Besserung und dann, praktisch von heute auf morgen, alles wieder beim Alten. Da war es doch verständlich, dass ich jeden Moment mit einem Rückfall rechnete und sie nicht so schnell ziehen lassen wollte. „Lass uns einfach noch ein paar Tage warten, um zu sehen, ob dein Zustand stabil ist, dann bringe ich dich zu deinem …“

„Uns!“, höhnte sie. „Was heißt hier uns? Du spazierst doch nach Belieben durch dieses Schild, aber ich bin hier gefangen!“

Oh Mann, Dramaqueen. „Pass auf, Kanin, es ist wirklich das Beste, wenn wir noch ein paar Tage warten. Dann … ah!“ Mein Fuß rutschte auf dem nassen Untergrund weg und im nächsten Moment fand ich mich auf allen Vieren im Matsch wieder. Die Verlorenen Wölfe, die uns schon eine ganze Weile im Unterholz umschlichen, nutzten die Gunst der Stunde sofort aus. Einige kamen zu mir gerannt, um mir einmal gezielt durchs Gesicht zu lecken – super, jetzt hatte ich Schlamm und Sabber im Gesicht –, aber die meisten stürzten sich auf die Fleischbrocken, die nun rund um mich verteilt lagen. Das bisschen Dreck, das ihnen anhaftete, störte sie dabei nicht.

Kanin ließ sich von meiner Lappalie nicht weiter beeindrucken und hatte auch kein Mitgefühl mit mir, sie wetterte einfach weiter. „Wer gibt dir das Recht dazu zu entscheiden, was das Beste für  mich oder die anderen ist? Ja, gut, du bist unsere Hüterin, aber nur, bis wir gesund sind und das bin ich jetzt! Du bist nur eine Katze und noch nicht mal eine richtige. Du gehörst nicht mal in diese Welt und trotzdem nimmst du dir das Recht heraus, über andere zu bestimmen.“

Das zu hören tat weh, besonders, da sie mit ihren Worten genau ins Schwarze traf. Ich gehörte nicht hierher, war nicht wie die anderen. Trotzdem, ich hatte die Verantwortung für die Verlorenen Wölfe, was sie mit einschloss und allein das gab mir das Recht dazu, zu bestimmen, wann sie wieder zurück zu ihrem Rudel durfte. „Kanin, ich weiß dass du …“

„Einen Dreck weißt du, Katze! Ich bin so weit und dass du mich nicht gehen lassen willst, hängt mit deinen eigenen Unsicherheiten zusammen. Du kommst mit deinem Leben nicht klar und versuchst deswegen, andere zu lenken. Wenn du jemanden bevormunden willst, dann fang bei dir selber an, ich brauche dich nicht länger!“ Wütend stürmte sie ins nasse Dickicht und ließ nichts als ein paar zitternde Äste zurück.

Zwischen dem schmatzenden Haufen Wölfe ließ ich den Kopf hängen. Das war ja fabelhaft gelaufen.

„Sie hat Recht.“

Durch den Regenschleier, der von den Blättern der Bäume tropfte, entdeckte ich Saphir zwischen ein paar Farnen. Sie warf einen kurzen Blick auf meine Haarfarbe, enthielt sich aber – Gott sei Dank – jeglichen Kommentars in dieser Richtung.

„Es ist noch zu früh“, verteidigte ich meine Ansicht. „Bei den anderen hat es immer länger gedauert. Was ist, wenn ich sie jetzt zurück zu ihrem Rudel bringe und sie in ein paar Tagen einen Rückfall erleidet? Wenn sie nicht klar denkt, könnte sie sonst was anrichten.“ Da gab es schließlich auch Kinder und die waren einer ausgewachsenen Wölfin nicht gewachsen.

„Und was ist, wenn die bereits geheilten Lykaner nach Monaten einen Rückfall erleiden? Niemand weiß etwas über Langzeitfolgen, oder was die Zukunft bringt. Die einzige Möglichkeit dieser Gefahr aus dem Weg zu gehen, wäre, die Verlorenen Wölfe für den Rest ihres Lebens in Gefangenschaft zu halten und wenn du versuchst, ihnen ihre Freiheit zu nehmen, dann kannst du sie genauso gut gleich töten. Lykaner brauchen ihre Freiheit und die brauchen ihr Rudel, dort können sie am besten heilen. Denk mal darüber nach.“ Sie stand auf und verschwand hinter ein paar Scheinbuchen. Die Wölfe folgten ihr – warum sollten sie bei dem Sauwetter auch länger als nötig bleiben?

Ich blieb mit meinen Gedanken und einer leeren Schüssel zurück – diese gierigen Wölfe hatten alles aufgefressen. Natürlich hatte sie recht. Jeder dieser Lykaner konnte jederzeit durchdrehen, weil er nur den Anschein hatte, dass er wieder genesen war, aber genauso gut konnte uns jederzeit der Himmel auf den Kopf fallen – ganz ehrlich, in dieser Welt hatte ich bereits weitaus seltsamere Dinge gesehen –, aber das war noch lange kein Grund, sie alle einzusperren. Dann hätten die Lykaner sie auch gleich nach ihrer Befreiung umbringen können, denn ein Leben in Gefangenschaft war gar kein Leben, oder zumindest kein lebenswertes.

Seufz.

Ja, klar, ich wusste worauf Saphir hinaus wollte und leider musste ich gestehen, dass sie nicht ganz unrecht hatte. Natürlich konnte ich Kanin jetzt noch weitere Tage im Schild behalten, doch was hatte das für einen Sinn? Sie konnte sich wieder verwandeln und in beiden Gestalten sprechen. Sie verhielt sich völlig normal, also gab es eigentlich keinen Grund, sie weiter einzusperren.

Und wenn sie doch einen Rückfall erleidet?

Das war wieder die Sache mit dem Himmel und dem Kopf. Mann, warum musste sie es mir nur so schwer machen? Ich wollte ihr doch helfen. Energielos setzte ich mich auf meinen Hosenboden. Ich war sowieso schon völlig durchgeweicht, da würde dieses bisschen Nässe nicht mehr schaden.

Kanin hatte recht, mit allem, das  musste ich leider einsehen. Sie war geheilt, es gab keinen Grund, sie länger hier zu behalten, also, warum sträubte sich alles in mir, sie wieder nach Hause zu bringen? Klar, ich hatte sie in den letzten Monaten liebgewonnen und wenn sie ging, würde damit ein weiteres Verbindungsglied zu den Lykanern zerstört. War es das? Hatte ich Angst davor, allein da zustehen? Es stimmte schon, mit jeden Verlorenen Wolf den ich nach Hause brachte, würde meine Verbindung zu den Lykanern dünner werden.

Verdammt, das machte mich echt fertig. So, wie es aussah, blieb mir gar keine andere Wahl, ich musste Kanin zurück zu ihrem Rudel bringen, heute noch, alles andere wäre falsch. Ich wusste doch schließlich am besten wie es war, etwas zu wollen, auf das man keinen Einfluss hatte. vielleicht konnte ich mir im Moment nicht selber helfen, aber ihr konnte ich eine Freude machen und das würde ich auch tun. Zumindest gleich, nachdem ich einen Rundgang durch den Park gemacht hatte, um nach den Rechten zu sehen. Und natürlich musste ich sie erst finden, um ihr die frohe Botschaft zu überbringen.

Auf dem Weg zur Lichtung mit der Höhle lief mir Grey über den Weg und ich entschloss mich, erst mal ihn in  den Zwinger zu bringen, um ihn zu füttern. Danach guckte ich, ob alle meine Wölfe heil und wohlauf waren und zum Schluss warf ich einen vorsichtigen Blick in die Höhle. Bangend hoffte ich darauf, wieder diese Stimme zu hören und herauszufinden, woher sie kam. Nur an diesem einen Tag war sie mir an die Ohren gedrungen, nur dieser eine Satz, aber der ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Die Lykaner sind stolz, aber bitte lass sie nicht im Stich, auch wenn sie es verdient hätten. Ich hatte sogar schon von ihm geträumt und das war fast noch unheimlicher, als die Stimme selbst zu hören.

Doch hier war alles ruhig und wie es ein sollte. Wieder entdeckte ich nichts ungewöhnliches, keine körperlosen Stimmen und langsam glaubte ich, dass ich mir das Ganze nur eingebildet hatte. Super, jetzt bildete ich mir auch schon Stimmen ein, dass konnte dann ja auch nur noch besser werden.

Kopfschüttelnd machte ich mich auf um Kanin zu suchen. Das war gar nicht so einfach bei dem Regen, aber mit ein bisschen Hilfe von Saphir klappte das auch. Nein, Kanin fiel mir zum Dank nicht um den Hals, als sie die tolle Botschaft hörte, ich bekam nur an den Kopf geworfen: „Na, hat sich dein Gewissen gemeldet?“ und dann verschwand sie auch schon Richtung Schild. War ein nettes Wort wirklich zu viel verlangt? Von grimmigen Lykanern auf jeden Fall.

Nach einem letzten Rundgang sammelte ich Kanin am Schild ein. Aber nicht da, wo ich sonst immer hindurchtrat. In den letzten Tagen hatte ich mir angewöhnt eine andere Stelle zu nutzen, weil ich keine Lust hatte, mich mit den Protestanten auseinander zu setzen.

Ein schneller Blick nach links und rechts und ab ins Moob war alles eins. Die Wächter waren bereits gestern abgezogen, was mir so gar nicht passte, die hatten die Protestanten und anderen Idioten immerhin in Schach gehalten. Wenigstens war der Regen an dieser Stelle zu etwas nütze. Ich war zwar immer noch klitschnass, doch die dunklen Wolken, die den Tag fast zur Nacht machten, boten uns einen gewissen Sichtschutz, sodass wir von den Leuten, die hier draußen rumlungerten, nicht so leicht zu entdecken waren. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was geschah, wenn sie mich mit einem der Verlorenen Wölfen hier draußen rumliefen sehen.

Nach dem Einsteigen in mein Moob beobachtete ich Kanin ganz genau. Still schloss sie ihren Gurt und sah dann stur geradeaus. Kein Wort, keine Regung. Also, entweder war sie nervös und versuchte das mit ihrem Verhalten zu kaschieren, oder ich beging gerade einen riesigen Fehler, weil sie doch noch nicht so weit war, wie sie mir weismachte.

Seufz.

„Ich muss nur noch mal kurz telefonieren, dann können wir los“, teilte ich ihr mit.

Die einzige Reaktion ihrerseits war ein gleichgültiges Schulterzucken, doch ihre angespannte Haltung strafte dieses Verhalten Lügen.

Aus meinem Leinenbeutel auf dem Rücksitz kramte ich mein Vox heraus, ein schwarzes, mattes Glas, das einen magisch mit dem gewünschten Gesprächspartner verband, dessen Namen man sagte. Und, naja, denken sollte man ihn auch, sonst konnte es passieren, dass man an eine wütende Harpyie geriet, die einem ins Ohr kreischte, weil sie sich gestört fühlte – Erfahrungsache. Daher sagte ich laut und deutlich Pals Namen. Schade nur, dass er kein eigenes Vox besaß, so konnte ich ihn nicht erreichen. Gut, dann eben anders. Mit der Haus und Wohnungsangabe klappte das im Allgemeinen auch. Zwei Mal klingelte es.

„Städtischer Friedhof, sie killen, wir grillen. Von München am Apparat, was kann ich für sie tun?“, tönte Kajs Stimme fröhlich an mein Ohr.

„Von München?“ Der ging es doch wohl zu gut!

„Oh, hey, Tal, was gibt es?“

„Als erstes, wenn du schon so ´nen Käse am Vox abziehen musst, dann benutz wenigstens deine eigene Herkunft!“

„Geht nicht, offiziell bin ich heimatlos und ich kann ja wohl schlecht Tals Wohnung sagen.“

„Lass mich ganz aus deinen Sprüchen heraus. Keinen Namen, keinen Wohnort, tu einfach so, als würdest du mich nicht kennen.“

„Okay, große Unbekannte, was kann ich für dich tun?“

Gott, diese Frau trieb mich noch mal in den Wahnsinn. „Ist Pal in der Nähe?“

„Unter der Dusche, soll ich ihm das Vox bringen?“, fragte sie ganz unschuldig.

„Nein!“ Gott, das hätte mir noch gefehlt, dass sie einfach zu Pal ins Bad marschierte und da was weiß ich was machte. Nicht das die Lykaner mit ihrer Nacktheit Probleme hatten, aber ich musste mich nur an meine grünen Haare erinnern, um dieses Vorhaben noch im Keim zu ersticken.

„Spielverderber.“ Es raschelte in der Leitung. „Soll ich ihm dann etwas ausrichten?“

„Das wäre nett. Er wollte heute Nachmittag mit mir shoppen gehen, aber das werde ich nicht schaffen, weil ich mich entschlossen habe, Kanin nach Hause zu bringen.“

Neben mir schnaubte es. Ja, aus ihrer Sicht war es wohl eher Nötigung meinerseits gewesen.

Das wurde von mir schlichtweg ignoriert. „Kannst du Pal ausrichten, dass ich es nicht schaffe?“ Am anderen Ende wurde es still, selbst das Atemgeräusch schien zu verstummen. „Hallo, bist du noch dran?“

„Ja, ich …“ Pause. „Redest du von der Kanin aus dem Rudel der Höhlenwölfe?“

Warum hörte sie sich denn plötzlich so komisch an? „Ja“, sagte ich vorsichtig.

„Würdest du … kannst du noch mal nach Hause kommen, bevor du hinfährst?“

Ich warf einen Blick zu der wartenden Kanin neben mir. „Also eigentlich wollte ich …“

„Bitte.“

Oh Mann. „Na gut, aber nur kurz. Bin in fünf Minuten da.“

„Danke.“

„Bis gleich“, sagte ich noch, aber da hatte sie bereits aufgelegt. Grüblerisch sah ich auf das Vox, bevor ich es kopfschüttelnd zurück in meinen Beutel steckte. „Wir müssen noch einen kleinen Umweg machen, bevor ich dich zum Rudel bringen kann.“

„Ich hab´s gehört.“

Ja, ja, das Supergehör der Lykaner. Das konnte manchmal eine richtige Plage sein. Privatsphäre war fast unmöglich.

Ich startete den Motor mit einfachem Handauflegen auf den Joystick und lenkte uns durch den wenigen Verkehr zu mir nach Hause. Zwei Minuten, länger dauerte die Fahrt nicht und vor dem Aussteigen graute es mir ein wenig. Nicht, weil mich Kajs seltsames Verhalten verunsicherte, nein, es schüttete draußen immer noch wie in Kübeln. Elendes Wetter. Aber, wenn ich schon mal hier war, dann konnte ich mich wenigstens noch in trockene Klamotten schwingen, dann würde diese eklige Gänsehaut vielleicht auch endlich weggehen.

„Bin gleich wieder da.“ Gesagt, getan. Ich schwang mich aus dem Moob und rannte im Eilschritt zur Haustür. Rein, hoch, ab in mein Zimmer. Aus dem Bad hörte ich noch die Dusche, als ich mir ein Handtuch und trockene Klamotten aus dem Schrank zog.

„Kann ich reinkommen?“, fragte Kaj seltsam schüchtern, als ich gerade mein Oberteil auszog, um mich ordentlich abreiben zu können.

„Klar.“

Langsam ging sie zu meinem Bett, setzte sich dort hin. In ihrer Hand hielt sie eine längliche Holzkiste mit hübschen Waldschnitzereien. Tiere, Pflanzen, Mortatia in Lendenschurz.

„Die ist hübsch.“

„Danke, hab sie selber gemacht.“

Das ließ mich einen Augenblick in der Bewegung halten. Ich warf das Handtuch zur Seite, zog ein kurzes Top mit Fransen an – das hatte Djenan mir zu meinem Geburtstag geschenkt – und ließ mich neben sie aufs Bett sinken. „Hab ich das richtig verstanden, dass hast du gemacht? Also ganz allein?“

„Ja.“

„Wow.“ Ich strich über die Verzierung eines kleinen Wolfes, der sich an einen seltsamen Vogel anpirschte. „Du hast echt Talent.“

„Danke.“ Sie sah mich nicht an, Ihre Augen waren gedankenverloren auf die Holzkiste gerichtet, doch ihr Blick schien in weit entfernteren Gegenden zu geistern.

„Möchtest du mir vielleicht sagen, warum ich unbedingt nach Hause kommen sollte?“

Sie machte den Mund auf, aber kein Ton kam heraus.

„Kaj?“ Ich legte ihr eine Hand auf den Arm. Berührungen beruhigten.

Tief atmete sie ein. „Cree.“

„Was?“

Sie drehte ihren Kopf zu mir. Ihre Augen waren traurig und geschlagen. Gebrochen. „Das Rudel der Höhlenwölfe war mein Rudel, bevor sie mich verbannt haben“, sagte sie leise. „Cree, meine Sohn, er ist noch bei ihnen.“

Oh Mist.

„Kannst du … würdest du ihm ein Geschenk von mir mitbringen?“

„Natürlich.“ Das war doch eine mehr als dämliche Frage. Als wenn ich nein sagen könnte, besonders wenn sie mich mit diesem leidigen und sehnsuchtsvollen Blick ansah. Ich wusste, wieviel ihr Sohn ihr bedeutete und eine solche Bitte hätte ich unter keinen Umständen ausschlagen können.

Ihre Hände zitterten leicht, als sie mir die Kiste in den Schoss legte.

Meine Finger strichen über die detaillierte Verzierung. Mann, sowas würde ich nicht mal hinbekommen, wenn mein Leben davon abhinge. „Darf ich reingucken?“

Sie nickte.

Vorsichtig klappte ich den Deckel zurück und legte den Blick auf drei Dutzend selbstgeschnitzte Holzfiguren frei. Alles Wölfe. Liegend, stehen, schlafend, spielend, heulend. Welpen und erwachsene Tiere und alle waren so genau gestaltet, dass sie fast echt wirkten. Keine Kerbe war an der falschen Stelle, kein ungewollter Splitter ragte heraus. Eigentlich musste man diesen Figuren nur ein wenig Magie einhauchen, damit sie lebendig durch die Gegend springen konnten. Ich hatte noch nie eine so gute Arbeit gesehen – naja, zumindest nicht, dass ich mich daran erinnern konnte, was bei mir ja nicht viel bedeutetet. „Die sind wirklich toll.“

Darauf ging Kaj nicht ein. „Gib sie ihm, aber sag ihm nicht, von wem sie kommen, sonst würden sie ihm die gleich wieder wegnehmen.“

Leider hatte sie da wahrscheinlich recht.

„Und … und sag ihm … sag ihm, dass ich die für ihn gemacht habe. Jede einzelne Figur.“

Ich schloss die Kiste und stand auf. „Ich verspreche es dir.“

 

°°°

 

Langsam ließ ich mein Moob in die unterirdische Höhle in den Ausläufern des Drachengebirges gleiten. Neben mir zappelte Kanin vor Aufregung und Erwartung wie ein kleines Kind auf ihrem Sitz herum. Sie konnte es kaum noch erwarten endlich anzukommen und beklagte sich bereits seit einiger Zeit, dass ich langsamer als ihre Großmamá sei und die konnte schon kaum mit der Geschwindigkeit einer Schnecke mithalten.

Ich ignorierte ihr Genörgel einfach, was sie wohl dazu trieb, mir weiter auf den Senkel zu gehen. Seufz.

Der Sitz der Höhlenwölfe lag Sternheim geographisch am nächsten von allen Rudeln der Umgebung, weswegen die Dämmerung noch ein Weilchen auf sich warten ließ und obwohl ich mit dem Moob fast bis zu ihnen durchfahren konnte, waren sie doch das am schwersten zu erreichende Rudel, das ich kannte. Das lag einzig und allein an dem Labyrinth, das man überwinden musste, um zu ihnen zu gelangen. Ein steinerner Irrgarten unter dem Gebirge in totaler Dunkelheit. Wer sich hier nicht auskannte musste darauf hoffen, gefunden und geführt zu werden, oder auf seine feine Nase vertrauen.

Hier unten gab es genau zwei Ein- und Ausgänge, dafür aber hundert verschiedene Möglichkeiten sich zu verlaufen. Bei meinem ersten und bisher einzigen Besuch hier, hatte man mich im Eingangsbereich der Höhle abgeholt und geführt und das war schon unheimlich gewesen. Heute musste ich meinen Weg allein finden – Gänsehaut. Naja, nicht ganz allein, Kanin war ja noch bei mir und die kannte sich hier aus – hoffte ich zumindest. Ich würde sie nur nicht loslassen dürfen, sobald ich mein Moob verlassen hatte, sonst konnte es sein, dass sie sich einfach aus dem Staub machte und ich Stunden damit zubrachte einen Ausweg aus diesem Irrgarten zu finden, bevor einer der Lykaner überhaut auf die Idee kam, mir zu Hilfe zu eilen.

Gott, warum dachte ich mir eigentlich immer solche Horrorszenarien aus? War ja nicht so, dass ich nicht bereits genug Probleme mit mir rumschleppte. Eines davon saß ungeduldig neben mir und warf mir sehr deutliche Blicke zu, die mir sagten, was sie von meinem langsamen Fahrstil – Schwebestil? – hielt, mit dem ich mein Moob durch die riesige, unterirdische Eingangshöhle gleiten ließ, um nirgendwo anzuecken. Ein weiteres meiner Probleme lag auf dem Rücksitz, das Geschenk von Kaj an ihren Sohn. Hoffentlich rissen mir die Lykaner nicht den Kopf ab, weil ich mich erdreistete, es dem Jungen übergeben zu wollen.

Seufz.

Langsam ließ ich das Moob an der hinteren Wand der Höhle gleiten, an der ein schmaler, dunkler Schacht weiter in das Innere des Berges führte und mit der richtigen Orientierung, auch wieder hinaus auf eine Lichtung inmitten der Berge, eingeschlossen von hohen, massiven Felswänden. Nur die Scheinwerfer durchschnitten diese absolute Finsternis und ließen mich die grauen, nackten Steinwände  mit ihrer rauen, feuchten Oberfläche erkennen.

Ich hielt, aber bevor ich den Motor abstellte, griff ich im Handschuhfach noch nach der magischen Lichtkugel aus Glas, die einen matten Schein abgeben würde, sobald ich mit den Händen über die rieb. Das war das hiesige Adäquat zu einer Taschenlampe. „Na dann wollen wir mal.“ Der Motor schlief ein und mit dem Verstummen des Moobs erlosch auch das Licht der Scheinwerfer. Zurück blieb gänzliche Schwärze. „Wage es ja nicht vorzurennen und mich in dieser Dunkelheit allein zu lassen“, grummelte ich in Kanins Richtung und rieb die Kugel in meinen Händen, bis ein ausreichender Schein vorhanden war, der zumindest die nähere Umgebung ausleuchtete. Ich griff nach hinten zum Rücksitz, schnappte mir die Kiste und hörte dabei schon, wie Kanin das Gefährt verließ. „Renn ja nicht ohne mich los!“ Das hätte mir noch gefehlt. Hier wollte ich nun wirklich nicht allein herumirren, aber einfach wieder nach Hause fahren ging auch nicht. Von dem Geschenk einmal abgesehen, musste ich noch mit Cui sprechen.

Ich stieg aus, warf die Kugel in die Luft und sah genau zu, wie sie frei schwebend über meinem Kopf hängen blieb. Daran würde ich mich wohl nie gewöhnen. Ich hatte jedes Mal Bammel, dass die mir einfach auf den Schädel knallte und ich mir dann leuchtende Glassplitter aus den Haaren pflücken durfte. War bisher aber noch nicht geschehen und ich hoffte einfach mal darauf, dass es das auch nie tun würde. Das würde sicher Kopfschmerzen der übelsten Sorte hervorrufen.

Kanin wartete vor dem Spalt in der Felswand, der so gut getarnt war, dass man nur wusste wo man danach suchen sollte, wenn … naja, wenn man halt wusste, wonach man suchen sollte. Ungeduldig wippte sie mit dem Fuß, sagte aber keinen Ton. Im allgemein war sie die ganze Moobfahrt über sehr still gewesen – wenn man von der letzten halben Stunde einmal absah. Entweder war es jetzt unter ihrer Würde, sich mit mir zu unterhalten, oder sie war einfach zu aufgeregt, um etwas Gescheites zu sagen. Ich tippte auf ein bisschen von beidem.

Noch ein letztes Mal tief durchatmen, dann gab ich ihr das Zeichen zum Vorgehen und schon war sie in dem schmalen Schacht untergetaucht. Ich folgte etwas zögernder. Wie schon bei meinem ersten Besuch behagte es mir gar nicht, in eine praktisch gähnende Finsternis einzutauchen, bei der ich nicht wusste, wie und wo sie enden würde. Naja, wo wusste ich schon, natürlich nur, wenn ich auch den richtigen Weg fand. Die massiven Felswände um mich herum machten es auch nicht viel besser und obwohl ich nicht glaubte, dass ich klaustrophobisch veranlagt war, konnte dieses ganze Gestein schon erdrückend wirken.

Schweigend bahnten wir uns einen Weg durch diese unübersichtlichen Windungen der Gänge, die mal höher, mal tiefer waren, mal schmaler und mal breiter. Links, rechts, recht, geradeaus, rechts, links, rechts, halb links, links, geradeaus. Und das waren nur die Abzweigungen, die wir nahmen. Von den vielen hundert, die man sonst noch beschreiten konnte, wollte ich gar nicht erst anfangen. Ohne Kanin wäre ich hier wirklich himmelhoch verloren gewesen, aber sie schien genau zu wissen, wo wir lang mussten. Gott sei Dank.

Die einzigen Geräusche, die uns begleiteten, waren unser Atem und die fast lautlosen Schritte. Überall hing der Geruch nach Wolf in der Luft, mal frischer, mal abgestandener und immer unterlegt mit einem kalten, erdigen Duft und abgestandenem Wasser. Muffig, das war das richtige Wort.

Hier unten war es kalt, eine Gänsehaut überzog mich und ich war wirklich kurz am überlegen, ob ich mir mein Fell wachsen lassen sollte, um mich wenigstens ein bisschen zu wärmen, aber so lange konnte es ja nicht mehr dauern, an unser Ziel zu gelangen.

Unter meinen nackten Füßen pickte es mich unablässig und auch wenn ich es in der Zwischenzeit gewohnt war, barfuß rumzulaufen, störte es mich doch und ich humpelte mehr als einmal auf einem Fuß durch die Gegend, um mir die eingetretenen Steinchen von der Fußsohle zu wischen. Kanin hatte dafür kein Blick, sie war einzig und allein auf ihr Ziel ausgerichtet und mit jedem Meter, den wir zurücklegten, wurde sie schneller. Und noch schneller.

Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir hier unten schon rumirrten. Es war wie in einer anderen Welt und man vergaß jedes Zeitgefühl. Es konnten Minuten, Stunden, oder sogar schon Tage vergangen sein und ich wüsste nicht, wie viele Meter ich bereits hinter mich gebracht hatte.

Vor mir wurde Kanin immer kleiner, der Abstand nahm zu. Sie konnte es kaum noch erwarten, endlich wieder in der Heimat anzukommen, zurück in die Obhut ihres Rudels, in den Schutz ihrer Familie. Ich konnte sie ja verstehen, aber es ärgerte mich trotzdem. „Hey, nicht so schnell.“ Ich beschleunigte meinen Schritt auch, aber da war Kanin bereits um die nächste Ecke verschwunden. „Verdammt.“

Schnell eilte ich ihr hinterher, wollte den Anhang nicht verlieren, aber als ich um die Ecke bog, war sie weg und ich stand vor drei Gängen, die ich nun zur Auswahl hatte. Das schrie geradezu nach einer Wiederholung. „Verdammt!“

Okay, ganz ruhig, weit konnte es ja nicht mehr sein.

Ach ja? Und wenn sie dich einfach inmitten des Labyrinths ausgesetzt hat, um sich an dir zu rächen, weil du sie so lange nicht hattest gehen lassen wollen?

Nun male mal nicht den Teufel an die Wand. Das würde sie sicher nicht tun. Hoffentlich. Wenigstens hatte ich noch meine Lichtkugel und stand nicht im Dunkeln. Ich atmete einmal tief ein und horchte dann auf Geräusche aus diesen drei Gängen. Nichts, alles war ruhig. Okay, dann musste eben meine Nase herhalten. In jeden einzelnen Gang steckte ich sie hinein und sog die Luft tief in die Lunge, aber erst im dritten Gang nahm ich Kanins Witterung auf. War ja klar, immer der Letzte.

Ich drückte die Kiste mit den Holzfiguren an meine Brust und machte mich langsam auf den Weg. Schritt für Schritt ging ich weiter. Die erste Veränderung die ihr Wahrnahm, lag in der Luft – Wortwörtlich. Sie veränderte sich, wurde frischer und trug Gerüche der Natur an meine Nase. Dann konnte ich in der Entfernung auch leise Stimmen vernehmen und nach weiteren, gefühlten hundert Stunden, entdeckte ich in der Entfernung den gräulichen Lichtschimmer des Tages, der von einem leichten Nieselregen getrübt wurde. Na wenigstens goss es nicht mehr wie aus Eimern, von vorhin war ich immer noch halb durchgeweicht.

Ich griff nach dem Licht über meinem Kopf, dass bei der Berührung sofort verlosch und ließ die Glaskugel in die hintere Tasche meines Lendenschurzes verschwinden. Sofort wurde die Dunkelheit um mich herum wieder drückend, doch das trübe Licht vor mir blieb. Die Kiste fester packend und mich darauf zubewegen, war alles eins. Ich wollte unbedingt aus diesem Irrgarten heraus. Das war wohl auch der Grund, warum ich am runden Ausgang den runterhängenden Stalaktiten übersah und erst mal mit der Birne gegenklatschte. „Ah, verflucht!“ Gott, tat das weh, ich sah eindeutig Sternchen und dass mir die Kiste nicht in den Dreck fiel, war wohl mehr Glück als alles andere. Vorsichtig tastete ich nach meiner rechten Stirnseite und … schmerz. Toll, einfach super. Jetzt hatte ich nicht nur grüne Haare, jetzt würde ich auch noch ein Teufelshörnchen bekommen. Schlimmer konnte es heute wirklich nicht mehr werden.

Stirnreibend trat ich aus dem Labyrinth genau in den Felsenkessel der Höhlenwölfe. Dieses Rudel hatte seinen Namen nicht von irgendwo her, sondern spiegelte genau das, was sie waren, Wölfe die in Höhlen hausten. Die Lichtung, auf die ich trat, war riesig, bestimmt an die zehn Hektar Land, auf der hunderte von Höhlen in die Tiefe, beziehungsweise, in die umliegenden Felswände führten – okay, so viele waren es dann vielleicht doch nicht. Nur vereinzelt wuchsen hier und da ein paar Bäume und im hinteren Teil gab es sogar einen Bergquell mit kristallklarem Wasser. Ansonsten war die Vegetation hier eher karg. Oder übersichtlich, das konnte man sehen, wie man wollte.

Bis auf einen leichten Sprühfilm hatte der Regen nachgelassen, doch der war fast noch ekliger, als die Kübel, die vorher vom Himmel gekommen waren. Gott, wann schien eigentlich endlich wieder die Sonne? Ich kam mir ja schon wie in einer Regenzeit vor.

Um Kanin auszumachen, musste ich meinen Blick nur einmal schweifen lassen. Sie stand bei einer der wenigen Höhlen, die überirdisch gelegen waren und umarmte gerade eine rundliche Frau, die nach der Haarfarbe eine Verwandte sein konnte. Zwei Jungen und ein älterer Mann kamen auch dazu und sie war umringt von den Ihren, die sie ohne Wenn und Aber sofort wieder in ihrer Mitte aufnahmen.

Einem Stich des Neides konnte ich mich nicht erwehren. Ich hatte keine Familie mehr, oder besser gesagt, konnte mich nicht an sie erinnern. Nur ein paar Lykaner kamen nahe an diese heran, aber die würden mich niemals so bei sich aufnehmen, ich war halt nur eine Katze.

Immer mehr Wölfe wurden durch die Unruhe ins Freie gelockt. Die meisten von ihnen waren dunkelhäutig wie Cui, die Alphawölfin, oder hatten zumindest schwarzes Haar. Daher wurden diese Lykaner auch die Schwarzen Wölfe genannt. In keinem anderen Rudel waren sie so stark vertreten, wie in diesem. Kanin und ihre Familie stachen mit ihrer blaugrauen Haarfarbe schon ziemlich heraus. Wenige graue und braune Haarschöpfe waren auch zu erkennen und sogar ein blonder, aber das Schwarz überwog bei weitem.

Immer mehr Wölfe strömten zu Kanin, das ganze Rudel. Ich hielt mich im Abseits. Davon abgesehen, dass ich sowieso nicht willkommen war, trieb mich auch nichts zu diesen Leuten. Sie waren Fremde.

Viele Wölfe hatte dieses Rudel nicht, nur einen Bruchteil von dem, was ich aus dem Wolfsbaumrudel gewohnt war, was so viel bedeutetet, wie, dass die meisten der Höhlen leer standen, oder als etwas anderes als Wohnräume genutzt wurden.

Ich entdeckte Cui aus einer der größeren Höhlen im Felsmassiv kommen, hinter ihr ein Mann, der vom Hauttyp noch dunkler war, als sie selber. Er wirkte fast schwarz.

Cui bemerkte mich, nickte mir zu und ging dann zu Kanin. Das hieß dann wohl so viel wie, dass ich mich gedulden sollte. Warum auch nicht, ich hatte ja Zeit und konnte mich nach ihnen richten. Das ich noch ein eigenes Leben besaß, interessierte hier keinen. Andererseits hatte ich auch nicht unbedingt Lust nach Hause zu gehen und mich wieder in diesen Kleinkrieg ziehen zu lassen. Das mit den grünen Haaren hatte für einen Tag nun wirklich gereicht. Da ich aber auch keine Lust hatte, blöd in der Gegend rumzustehen und mich vollregnen zu lassen, setzte ich mich unweit vom Höhleneingang auf einen Felsen unter einen Baum. Die Kiste im Schoß, überlegte ich, wie ich hier Cree ausmachen sollte. Viele Kinder gab es hier nicht, zumindest sah ich kaum welche. Auch keinen Zehnjährigen mit straßenköterblondem Haar. Hatte der Kleine überhaupt Kajs Haarfarbe? Mist, bei der ganzen Aufregung hatte ich vergessen mir eine Beschreibung von dem Kleinen geben zu lassen. Wie also sollte ich ihn jetzt finden? Fragen wäre für den Anfang wahrscheinlich keine schlechte Option und meine erste Gelegenheit in Form eines kleinen Mädchens, das an mir vorbeiflitzte, ergriff ich auch gleich beim Schopfe. „Hey, du, warte mal.“

Sie blieb so schnell stehen, dass sie von ihrem Schwung beinahe vorn überkippte, bevor sie sich zu mir umdrehte und mich mit neugierigem Blick inspizierte. Acht Jahre, so alt würde ich sie schätzen. Dunkle Haut, schwarze Löckchen und gelbe, wissbegierige Augen. „Meinst du mich?“

„Ja, ähm, ich suche jemanden, Cree, kannst du mir vielleicht sagen, wo ich ihn finden kann?“ Vielleicht war es am besten, wenn ich den Kurzen aufsuchen würde und dass nicht alle mitbekämen, wie ich ihm das Geschenk seiner Mutter überreichte, dann würden mir wenigstens unliebsame Fragen erspart bleiben, die ich nicht beantworten konnte.

Das Mädchen kniff leicht die Augen zusammen. „Du willst zu Cree?“

„Ja, ich hab hier etwas für ihn.“ Wie zum Beweis hielt ich die Kiste ein wenig höher. „Ein Geschenk.“

Sie sah mich noch einen Moment abschätzend an, dann wandte sie sich ohne ein weiteres Wort um und rannte zu ihrem eigentlichen Ziel. So viel zum Thema Hilfe.  Jetzt musste ich wohl doch bei Cui nach dem Jungen fragen, was mir so gar nicht passte. Dass ich den Namen Kaj nicht erwähnen durfte, war mir klar, aber wie sollte ich sonst erklären, dass ich für einen eigentlich fremden Jungen ein Geschenk bei mir hatte? Warum musste in meinem Leben eigentlich immer alles so kompliziert sein? Wahrscheinlich, weil Einfach zu einfach wäre. Seufz.

Ich ließ den Blick zu Cui schweifen, die mit dem schwarzhäutigen Kerl ein wenig abseits stand und mit Kanin und zwei weiteren Frauen redete. Der Kerl hatte von hinten einen Hand besitzergreifend auf ihren Bauch gelegt und … hui, sah ich da etwa eine kleine Kugel? Na so was, wenn da mal nicht bald der Klapperstorch ans Fenster klopfte. Das war mir bei unserem letzten Treffen auf dem Fest gar nicht aufgefallen, was wohl daran lag, dass ich nur Augen für … okay, das sollte ich lieber lassen, hier war nicht der richtige Platz für trübsinnige Gedanken.

„Du hast was für mich?“

Bei der Stimme zuckte ich leicht zusammen. Neben mir stand das kleine Mädchen, an ihrer Seite ein dunkelhäutiger Junge mit leichten Segelohren. Das Haar fiel ihm etwas länger ins Gesicht und sein Körper war mehr als schlaksig. Er würde wohl noch einige Jahre brauchen, um da hineinzuwachsen. Nichts wies auf eine Verwandtschaft mit Kaj hin, außer den Augen. Sie hatten die gleiche Form, die gleiche Farbe und den gleichen Ausdruck, dieses leicht überhebliche, wenn sie sich unsicher war. „Du bist Cree.“ Keine Frage, eine Feststellung.

„Ja und Mirim hat mir gesagt, du hast ein Geschenk für mich.“ Sein Blick huschte auf den Holzkasten in meinen Händen.

„Eigentlich ist es nicht von mir, sondern von …“ Mist. „Es ist von einer Bekannten, die dich als Baby einmal kennenlernen durfte. Sie hat es selber gemacht, für dich und mich gebeten, es dir mitzubringen, als sie heute gehört hat, dass ich heute herkomme.“

„Heute?“

Ich strich die Verzierungen nach und gab ihn dann ohne auf die Frage einzugehen die Kiste, beobachtete, wie Cree sich mit dem Kasten im Schneidersitz auf den Boden setzte und den Deckel neugierig öffnete.

Mirim hockte sich auf alle viere neben ihm und blickte ihm über die Schulter. „Oh, die sind aber schön.“ Begeistert griff die Kleine an Cree vorbei und beförderte damit ein halbes Dutzend Figuren nach draußen. Cree dagegen konzentrierte sich erst auf den Inhalt, bevor er fast zögernd nach einem stehenden Wolf griff und ihn sich vor die Nase hielt. Gedankenverloren zog er einige der Einkerbungen mit dem Finger nach, drehte die Figur zwischen den Fingern hin und her und sah sich jede Einzelheit so genau an, als vermutete er ein Geheimnis dahinter, das es zu lüften galt. „Woher hast du die?“

„Meine Freundin hat sie gemacht.“ Das nur für dich verschluckte ich an dieser Stelle schnell, das würde dann doch zu viele Fragen aufwirbeln, obwohl ja auch in seinen Augen klar sein musste, dass die für ihn gemacht wurden. Andererseits konnten sie ja auch gekauft sein.

Langsam ließ er die Figur sinken und sah mir mit einem so stechenden Blick in die Augen, dass ich mich zusammenreißen musste, nicht unruhig auf meinem Felsen herumzurutschen.

Verdammt noch mal, das ist ein kleines Kind, reiß dich mal ein bisschen zusammen!

Ja aber, der guckt mich so böse an.

„Wie heißt deine Freundin?“, wollte er dann wissen.

Ich klappte den Mund auf, nur um ihn gleich wieder zu schließen. Beim zweiten Versuch klappte es schon besser. „Das ist egal, wichtig ist nur …“

„Mirim! Cree! Geht von der Katze weg.“

Bei der harschen Stimme zuckte ich wieder zusammen – Mann, das war ja wie Frühsport aufm Nachmittag – aber zu meiner Verteidigung musste ich sagen, dass ich nicht die einzige war. Auch Cree zuckte und Mirim fiel sogar einer der Holzwölfe vor Schreck aus der Hand. Schnell ließ sie auch die anderen fallen und machte sich dann aus dem Staub, während ein dunkelhäutiger Mann mit fast weißem Haar und energischen Schritten auf uns zukam. Dabei ließ er mich keine Sekunde aus den Augen. „Komm unseren Kindern nicht zu nahe, Katze, sonst …“ Sein Blick fiel auf den Kasten und die Farbe wich deutlich aus seinem Gesicht. „Geh da weg!“, schrie er Cree an, sammelte unter unseren verwirrten Blicken die heruntergefallenen Holzwölfe auf und warf sie mir samt Kiste in den Schoß. Das ging so schnell, dass ich gar nicht erst die Zeit bekam, irgendwie zu reagieren. Ich konnte hastig zugreifen, oder mir die Kiste vor die Brust knallen lassen. Die Entscheidung fiel da wirklich nicht schwer.

„Nimm deinen Schund und verschwinde, Katze!“, brüllte er nun mich an und ich musste mich stark zusammenreißen, um nicht einfach aufzuspringen und das Weite zu suchen. So ein wütender Werwolf war schon ein beängstigender Anblick. „Und wage es ja nie wieder hier aufzutauchen!“ Er machte einen drohenden Schritt auf mich zu, der mich fast vom Fels fallen ließ.

Schluck. Hilfesuchend schaute ich mich um und entdeckte Cui, die bereits mit zusammengezogenen Augenbrauen auf uns zukam.

„Großpapá“, begann Cree, „sie hat doch nur …“

„Nein! Es ist egal was sie hat, du hältst dich von ihr fern und jetzt verschwinde in die Höhle, bevor ich dir Beine machen muss!“

Er bekam diesen störrischen Zug um den Mund, den ich von Kaj so gut kannte, stand aber auf und stampfte davon. Ich war wohl die Einzige, die bemerkte, dass er immer noch den stehenden Holzwolf in den Händen hielt und ihn fast unbemerkt in seinen Lendenschurz verschwinden ließ. Na wenigsten hatte ich ihm einen geben können, das war besser als gar nichts.

„Und wenn du noch mal …“

„Waran, das reicht“, schritt Cui ein und stellte sich an seine Seite. Abschätzend sah sie von ihm zu mir und richtete das Wort dann an ihn. „Was ist hier los?“

„Sie hat Cree ein Geschenk gemacht, von dieser Welpenfresserin, das ist los!“

Verstehen machte sich im Gesicht der Alphawölfin breit. Sie warf mir einen wütenden Blick zu, bevor sie Waran mitfühlend die Hand auf den Arm legte. „Ich verstehe deinen Schmerz, aber Talita wird das Geschenk wieder mitnehmen und nach dem heutigen Tag nie mehr hierher zurückkehren.“

Das war eindeutig und es tat weh, waren es doch fast die gleichen Worte, die Prisca bei unserer letzten Begegnung benutzt hatte.

„Reg dich also nicht auf, geh zu deinem Enkel, ich regle den Rest.“

Ein letzter Blick in meine Richtung, der mich wohl tot umfallen lassen sollte, dann stampfte er wütend davon.

Unter Cuis Musterung sah ich mich gezwungen, meine Augen zu senken. Die Aura eines Alphawolfs war wirklich zum Fürchten. Um mich mit etwas zu beschäftigen, räumte ich die Holzwölfe zurück in den Kasten. „Ich wollte nur …“

„Es ist mir gleich was du wolltest. Ich habe dir den Zutritt zu meinem Territorium nur aus einem Grund gestattet und der war nicht, dass du wissentlich Unruhe in mein Rudel bringst. Und jetzt versuche nicht, dich ahnungslos zu stellen, du musst einfach wissen, wer diese Holzfiguren geschnitzt hat, wenn du sie an Cree weitegibst.“

„Ich wollte nicht …“

Mit einer einfachen Handbewegung schnitt sie mir erneut das Wort ab. „Die Welpenfresserin ist aus gutem Grund verbannt worden, auch um Cree vor ihr zu schützen, dass solltest du verstehen.“

Ich kniff die Lippen zusammen. Eine Diskussion über Kajs Leben würde mich jetzt sicher nicht weiter bringen.

„Ich werde dich jetzt nicht fragen, wie du mit der Aussätzigen in Kontakt gekommen bist. Es interessiert mich nicht und wir haben jetzt wichtigeres zu tun.“ Sie neigte leicht den Kopf, was ich schon als seltsam empfand, aber die folgenden Worte hauten mich fast um. „Ich möchte dir danken.“

Kopf: Leere.

„Du hast mir meine beiden Lykaner gesund wiedergebracht und nun kann endlich wieder Frieden in mein Rudel einkehren.“

„Das ist … äh … bitte.“ Was sagte man in einem solchen Fall den sonst?

Ein leicht belustigtes Lächeln huschte über Cuis Lippen. „Muss ich noch etwas wissen?“

„Äh … ja.“ Ich räusperte mich und erzählte Cui dann von Kanins schneller Genesung und meiner Bedenken, dass sie deswegen einen Rückfall erleiden konnte. Auch wenn sie jetzt gesund schien, sollten die Höhlenwölfe sie noch eine Weile gut im Auge behalten, um notfalls Veränderungen sofort feststellen zu können.

„Das wird kein Problem sein. Muss ich sonst noch über etwas aufgeklärt werden?“

Ich schüttelte nur den Kopf.

„Gut, dann bitte ich dich, am Schacht zu warten, ich werde gleich einen meiner Wölfe bitten, dich zum Ausgang zu begleiten.“

„Natürlich“, nickte ich und erhob mich von meinem Platz, den Kasten klemmte ich mir dabei unter den Arm. Das ich entlassen war, war mehr als offensichtlich.

„Ach und Talita?“

„Ja?“

„Dir ist klar, dass du von nun an nicht mehr willkommen bist?“

„Natürlich“, quetschte ich bitter hervor. „Wie sollte es auch anders sein.“

Cuis Gesicht wurde ein wenig weicher. „Du bist keine von uns.“

„Wie könnte ich das vergessen, ich werde ja regelmäßig daran erinnert“, pflaumte ich sie an und verschwand Richtung Bergschacht. Vielleicht war es nicht das Klügste, einer Alphawölfin gegenüber so angriffslustig zu sein, aber ich hatte es langsam wirklich satt, dass jeder glaubte, mich daran erinnern zu müssen, wo mein Platz war. So schlecht war mein Gedächtnis ja nun auch wieder nicht – naja, zumindest nicht mehr, seit ich in dieser Welt erwacht war. Vielleicht waren die Lykaner mir dankbar, aber diese Dankbarkeit hielt sich stark in Grenzen.

Am liebsten wäre ich einfach selber verschwunden, doch durch dieses Labyrinth würde ich es niemals allein schaffen. Blöder Irrgarten. Aber sich jetzt darüber zu ärgern, brachte auch nichts, da hieß es einfach Kopf hoch und …

Ich blieb so abrupt stehen, als hätte mir jemand eine Wand vor die Nase gestellt. Mein Gesichtsausdruck dürfte in diesem Moment wohl auch dazu passen. Ich blinzelte, einmal, zweimal, drehte den Kopf in beide Richtungen, in der Hoffnung, dass diese Täuschung, die da vor mir an der Felswand lehnte und mich so grimmig anstarrte, verschwinden würde, doch als ich meinen Kopf zurückdrehte, war sie immer noch da. Auch erneutes Blinzeln brachte nichts.

Es war eindeutig, vor mir stand Veith! Und er schien über dieses Treffen nicht besonders erfreut.

„Wie … was …“ Meine Gedanken überschlugen sich, was wohl auch der Grund dafür war, dass ich keinen anständigen Satz rausbekam. Veith war hier. Warum zum Teufel noch mal war Veith hier? Scheiße, natürlich, er war der Testiculus und die Höhlenwölfe waren auch auf dem Fest gewesen. Das hier war sein neues Rudel, das Rudel in dem er … Mist, warum nur hatte ich nicht früher daran gedacht, dass ich ihn hier treffen könnte? Vielleicht hing es ja mit den kleinen Problemchen zusammen, die mir auf Schritt und Tritt folgten, oder das ich seit genau neun Tagen versuchte, ihn aus meinen Gedanken und meinen Erinnerungen zu löschen. Aus meinem Leben hatte er sich ja bereits allein gelöscht.

Sag was und steh nicht blöde in der Gegend und starr ihn mit offenem Mund an!

Mein Mund war nicht offen, nur um das mal klarzustellen, dafür gingen gerade viel zu viel andere Dinge in mir vor. Unser erster und einziger Kuss, unsere aufblühende Freundschaft, in der ich so viel mehr gesehen hatte und wie sie genauso schnell wieder verdorrt war. Der Schmerz in meinem Herzen, das bei seinem Anblick erneut in tausend Teile zu zerspringen drohte. Wenigstens schaffte ich es nicht einfach in Tränen auszubrechen und mich an seinen Hals zu werfen – obwohl mir das sehr schwer fiel –, denn ein wenig Stolz besaß ich auch noch.

Trotzdem sog ich seinen Anblick wie ein Schwamm in mich auf. Die kräftige Statur, die lange Narbe ein seiner Hüfte, die muskulösen Arme, die er vor der Brust verschränkt hatte, der verkniffene Mund, die braunen Haare, die steile Falte zwischen seinen Augen, die mich so böse ansahen – ja, auch auf meine grünen Haare.

„Das muss aufhören, auf der Stelle“, ergriff er als erster das Wort.

Sein Klang ging mir durch und durch und erst als ich über seine Worte nachdachte, runzelte ich verwirrt die Stirn – Zeitverzögertes handeln, aber mal ehrlich, wem würde das bei diesem Anblick anders gehen? „Was?“ Ja, schon klar, das war nicht besonders gescheit und würde sicher nicht dazu verhelfen, eine ausgeglichene Konversation mit ihm zu führen, aber ich verstand wirklich nicht, was er mit damit sagen wollte. Was musste aufhören?

Veith stieß sich von der Wand ab und stellte sich direkt vor mich. Ich schluckte. Ihn so nahe vor mir zu haben, seinen Eigengeruch einatmen zu können, das war …

„Das du hier auftauchst, mit diesem Geschenk. Willst du dich jetzt ins nächste Rudel einkaufen, um mich weiter zu stalken?“  

… wie ein Schlag ins Gesicht. „Was?“

„Tu doch nicht so, Talita, wir wissen doch beide warum du hier bist.“ Sein Bick war starr auf mich gerichtet. „Glaubst du etwa ich weiß nicht, wie es um dich bestellt ist, dass du dich in mich verknallt hast? Du läufst mir doch schon seit dem ersten Tag wie ein liebeshungriger Hund hinterher.“

Das … das … das schlug dem Fass doch echt den Boden aus! Hatte er das eben wirklich gesagt? Ich glaubte wirklich, mich verhört zu haben, anders konnte es gar nicht sein. „Wie bitte?“

„Ich habe es dir bereits gesagt, aber für dich wiederhole ich mich auch, damit du es endlich in deinen Kopf hineinbekommst. Ich habe jetzt ein Leben, in dem für eine Katze kein Platz mehr ist und in diesem Rudel werden sie dich ganz sicher nicht akzeptieren, also kannst du dir die Mühe auch gleich sparen.“

Katze? KATZE?! Mit jedem seiner Worte wurde ich wütender. „Als wenn ich in einem anderen Rudel Akzeptanz gefunden hätte. Außerdem stalke ich dich ganz sicher nicht, ich bin nur hier, weil ich Kanin zurückbringen musste, das hat absolut nichts mit dir zu tun. Bis vor fünf Minuten wusste ich nicht mal, dass ich dich hier treffen würde.“

Ein abfälliges Schnauben war seine Antwort.

Das machte mich echt sauer. „Hörst du dir beim Reden eigentlich auch mal selber zu? Merkst du gar nicht, wie hirnrissig deine Anschuldigungen sind? Verdammt, Veith, ich habe vom ersten Tag an gewusst, dass zwischen uns nichts laufen wird, aber spätestens an dem Morgen nach dem Kuss hattest du mir meine letzten Hoffnungen geraubt, also komm mal von deinem hohen Ross runter, die Welt dreht sich nämlich nicht nur allein um dich und ob du es glaubst oder nicht, ich habe momentan so viel um die Ohren, dass da für dich sowieso kein Platz mehr ist!“

Etwas Ungewöhnliches geschah, seine Stirn glättete sich, die Falte verschwand. Egal welche absurden Gedanken sich da in seinem Kopf rumtrieben, er war sich seiner Sache absolut sicher. „Und dass soll ich dir glauben?“

„Tu es, oder lass es, aber es ist die Wahrheit.“ Ich sah ihm fest in die Augen, in diese schönen Augen, denen ich noch nie hatte ein Lächeln abringen können. In diesem Blick verpuffte meine Wut genauso schnell, wie sie gekommen war. Ich wollte mich doch gar nicht mit ihm streiten, dafür hatte ich im Moment sowieso nicht die Kraft. „Hör zu, dass ich hier heute aufgetaucht bin, war einfach ein blöder Streich des Schicksals. Ich werde auch nicht mehr wiederkommen, da ich unter den Verlorenen Wölfen keinen der Höhlenwölfe mehr habe und ich dieses Revier sowieso nicht mehr betreten darf, also lass uns die Sache doch bitte einfach vergessen, okay?“ Hoffnungsvoll sah ich ihn an. Er war ein kleines Stück größer als ich, sodass ich leicht hochschauen musste, doch egal wie nahe wir uns in diesem Moment waren, er schien so fern wie noch nie. „Freunde?“, fragte ich, als er nichts erwiderte.

Eine weitere Minute blieb es still und was er dann raushaute, war wie ein Brett vorm Kopf. „Ich habe dich mit Pal gesehen.“

Langsam glaubte ich wirklich, im falschen Film gelandet zu sein, aber mir Vorwürfe machen, ich würde ihn stalken. Davon abgesehen stand es ihm gar nicht zu, an mir rumzumäkeln, schließlich hatte er sich in ein anderes Rudel verpfiffen, um dort frischfröhlich ein paar Kinder in die Welt zu setzten. Meine eben erst abgeflaute Wut war mit einem Schlag zurück. Am liebsten würde ich ihm die Kiste an den Kopf werfen, das würde ihn vielleicht mal aufwecken! „Wenn du schon einen auf Spanner machen musst, dann hättest du vielleicht bis zum Schluss bleiben sollen, dann hätte du gesehen, dass zwischen Pal und mir nichts weiter geschehen ist, Arschloch!“

„Nichts geschehen? Dafür saht ihr aber sehr beschäftigt aus. Außerdem, warum bist du denn sonst mit ihm in den Wald verschwunden, wenn nicht, um mit ihm …“

„Was hätte mich denn noch auf dem Fest halten sollen, du … du dummer Wolf?! Du hättest mir gleich sagen sollen, was es bedeutet, ein Testiculus zu sein und … und das ich in den Wald verschwunden bin … du bist für mich doch sowieso …“ Scheiße, jetzt liefen die Tränen doch. Wie konnte er auch vor mir stehen und mir all diese Dinge an den Kopf werfen? Wann war er so kalt zu mir geworden? Das … ich … „Verdammt!“ Auf dem Absatz machte ich kehrt und rannte in das unterirdische Labyrinth hinein. Es war mir egal, ob ich mich verlief und niemals irgendwo landen würde, ich wollte einfach nur von ihm weg und das so schnell wie möglich. Seine Worte zu hören, diese kalten Augen zu sehen, es tat einfach nur weh. Was hatte ich nur getan, dass ich das verdiente?

„Talita, warte!“

Hinter mir ertönten eilige Schritte, Veith lief mir hinterher, aber ich wurde nicht langsamer, wollte nur weg von ihm. Blind rannte ich in der Dunkelheit umher. Mehr als einmal stieß ich mich an den Steinwänden der schmalen Gänge Arme und Beine an, aber ich wollte nicht anhalten, um mein Kugellicht leuchten zu lassen, dann würde er mich einholen und ihn zu sehen war im Augenblick das Letzte, was ich wollte.

„Verdammt, Talita, du weißt doch gar …“

„Geh weg!“, schluchzte ich und kollidierte mit etwas sehr hartem. Ich prallte daran ab, knallte auf den Hintern und schaffte es dabei trotzdem irgendwie, die Kiste festzuhalten. Das war dann wohl eine Wand gewesen. Scheiße! Jetzt wusste ich wirklich, wie sich des anfühlte.

„Talita!“              

„Lass … lass mich.“ Ich versuchte ihn wegzustoßen, als seine Hände mich berührten, wollte seine Nähe nicht mehr riechen, die Wärme fühlen, das Prickeln, das bei seinen Berührungen über meine Haut jagte. Er war für mich doch sowieso unerreichbar, warum verstand mein dummer Körper das einfach nicht?

„Jetzt sei doch vernünftig, ich will doch nur …“

„Du willst gar nichts von mir!“, schrie ich ihn an und wischte mir wütend die Tränen aus dem Gesicht. „Das hast du selber gesagt, also verzieh dich zurück zu deinem tollen neuen Rudel und bums ein bisschen durch die Gegend, das ist es doch was du willst!“

Er knurrte gefährlich. Seine Hand umklammerte meinen Arm und ich war mich nicht sicher, ob er mich näher ziehen, oder wegstoßen wollte. „Das ist mein Weg!“

„Na dann geh doch deinen tollen Weg und lass mich in Ruhe, ich habe nämlich auch einen Weg zu beschreiten und der beinhaltet keinen überheblichen Testiculus, der glaubt, dass sich die ganze Welt nur ihn dreht!“

„Das habe ich nie behauptet!“

„Nein, aber du tust immer so!“ Ich zog und zerrte an meinem Arm, aber der Griff blieb bestehen. Er wollte mich nicht loslassen. Warum ließ er nicht einfach los und verpisste sich in sein tolles,  neues Rudel? „Und jetzt nimm deine Pfoten von mir, ich muss nach Hause, Pal wartet auf mich!“

Schwupp und die Hand war weg. Stille. Er war nicht zu hören und in dieser undurchdringlichen Dunkelheit, konnte ich ihn auch nicht ausmachen. „Pal?“, fragte er dann mit gefährlich kalter Stimme.

Mist, ich und meine große Klappe. Aber bitte, er hatte mich mit seinen scheiß Worten so verletzt, dass ich es ihm im Augenblick nur heimzahlen wollte. „Ja, Pal. Er wohnt jetzt bei mir, denn im Gegensatz zu dir trägt er keine Scheuklappen und geht mit offenen Augen durchs Leben.“ Sollte er doch denken, was er wollte. „Und jetzt geh weg, ich will dich nicht mehr sehen!“

Er knurrte bösartig. Nein, Moment, das war nicht sein Knurren, es war zu hoch, falsche Tonlage. Das konnte nur eines heißen, wir waren nicht mehr allein.

„Lass sie in Ruhe.“

War das … Kanin?

„Geh wieder zum Rudel“, grummelte Veith, „ich bringe sie zum Ausgang.“

„Davon abgesehen, das Cui mich geschickt hat, sie zurück zu ihrem Moob zu bringen, hatte ich auch nicht den Eindruck, dass Talita sich von dir irgendwohin begleiten lassen möchte.“

Kanin schützte mich? Was lief denn jetzt falsch?

Neben mir raschelte es, Veith bewegte sich. „Das ist eine Sache zwischen uns, die geht dich nichts an und jetzt …“

„Es war ein Befehl von Cui“, kam es kalt von Kanin.

Stille, keiner bewegte sich, nur unser Atem war zu hören. Als Veith dann plötzlich knurrte, zuckte ich vor Schreck regelrecht zusammen. Ich hörte, wie er aufstand und sich seine Schritte leise entfernten, wütende Schritte, die von den Wänden wiederhalten. Und jeder weitere brach ein kleines Stück aus meinem Herzen heraus.

Was war hier eigentlich gerade geschehen? Ich hatte doch nur Kanin nach Hause bringen wollten und jetzt klaffte ein so großes Loch zwischen mir und Veith, dass es mit dem Grand Canyon mithalten konnte. Vorher hatte ich bereits gewusst, dass zwischen ihm und mir niemals etwas sein würde, aber mit dem Verklingen seiner Schritte entfernte sich auch ein Stück von mir immer weiter und ich wusste, dass ich es niemals zurückbekommen würde. Dabei war ich doch so schon nicht vollständig. Ich wollte dieses Stück nicht verlieren, ich wollte ihn nicht verlieren.

Erneut bahnte sich ein Schluchzer seinen Weg ins Freie und ich konnte ihn einfach nicht aufhalten. Ich konnte gar nichts tun, außer zu akzeptieren, dass es für uns niemals ein glückliches Ende in trauter Zweisamkeit geben würde.

Vor mir leuchtete ein sanftes Licht auf. Kanin hatte eine Lichtkugel zwischen ihren Händen gerieben und warf sie in die Luft, wo sie über ihrem Kopf freischwebend hängen blieb. Dann sah sie auf das Häufchen Elend vor sich, das meinen Namen trug und kniete sich  zu mir. Ihre Hand auf meiner Schulter war fast zu viel. Ich wollte keine Berührungen, ich wollte nur, dass mich alle in Ruhe ließen. Und ich wollte nach Hause, um mich dort zu verstecken und in meinem Leid zu ersaufen.

„Alles in Ordnung mit dir?“

„Geht schon“, schniefte ich und versuchte den Tränenfluss in meinem Gesicht mit den Händen zu stoppen, doch irgendwie wollte mir das einfach nicht gelingen. Es kamen immer mehr, unaufhaltsam und schon bald war die Höhle von meinen Schluchzern erfüllt.

„Hey, nicht weinen.“ Kanin versuchte mir die Tränen von den Wangen zu wischen, hatte damit aber nicht wesentlich mehr Erfolg, als ich. „Kein Mann ist es wert, dass man ihm eine Träne nachweint.“

Sie hatte gut reden, es war ja nicht ihre Brust, in der ein glühender Schürharken herumstocherte.

„Komm, steh auf, ich bring dich zu deinem Moob. Vergiss ihn einfach.“

Doch so schnell klappte es dann doch nicht. Ich brauchte Zeit. Zeit um mich zu beruhigen, Zeit um meine Gedanken zu ordnen, Zeit um alles zu verarbeiten, nur leider war hier nicht der richtige Ort dafür. Irgendwann schaffte ich es aber doch auf die Beine, ließ mich von Kanin leise weinend durch die dunklen Gänge führen, die mal breiter und mal schmaler, höher oder tiefer waren. Sie brachte mich bis fast in die Eingangshalle, ließ mich aber die letzten Meter allein gehen, nur geradeaus, das schaffte ich gerade mal so.

Mit aufgequollenen Augen und verstopfter Nase ließ ich mich hinter den Joystick in den Sitz fallen. Dort schmiss ich die Kiste auf den Beifahrersitz, machte fast noch die Glaskugel in meinem Lendenschurz kaputt und saß noch sehr lange Zeit einfach da und heulte.

Wie war das gewesen? Schlimmer konnte es heute nicht mehr werden? Man sollte den Tag nie vor den Abend loben.

 

°°°

 

Die Nacht war schon lange über mich hereingebrochen, als ich mein Moob vor meinem Wohnhaus in eine Parklücke lenkte. Es hatte wieder stärker zu regnen begonnen. Dicke Tropfen klatschten schon seit Stunden auf meine Moobfenster. Ich dagegen hatte keine Tränen mehr. Warum auch, dass übernahm doch der Regen für mich. Teamwork sozusagen.

Ich seufzte still vor mich hin. Eigentlich war mir gar nicht nach Aussteigen, nicht, wo ich auf Pal und Kaj treffen würde, sie würden sofort sehen, dass etwas passiert war, aber ich konnte ja auch nicht die ganze Nacht in meinem Moob sitzen bleiben. Ein Blick in den Rückspiegel zweigte es mir zu deutlich. Meine Augen waren noch immer aufgequollen und blutunterlaufen, meine Nase war rot und die Tränenspuren in meinem Gesicht sprachen Bände. Es half alles nichts, ich musste …

Eine Bewegung auf dem Rücksitz ließ mich stutzen. Wann bitte hatte ich da eine Decke ausgebreitet und … wem gehörte diese Decke? Zögerlich, ganz langsam drehte ich mich um und … eindeutig, da lag eine fremde, grüne Decke, die sehr intensiv nach Werwolf roch. Darunter war eine leichte Erhebung, die nicht zur Form meiner Sitze passte.

Ich schluckte in dem plötzlichen Gefühl, nicht mehr allein im Moob zu sitzen. Aber wie … wer …

Wieder eine Bewegung. Okay, jetzt war ich mir sicher, ich war nicht mehr allein. Nur keine Panik jetzt, logisch denken, vorbereiten. Aus meinem inneren Punkt entließ ich meine Magie und fühlte mich gleich etwas sicherer, als ich merkte, wie sie meine Haut überfloss und meinen Körper veränderte. Mit dem Schwanz auf dem Sitz war das zwar ein wenig unbequem, aber auszuhalten.

Ich drehte mich halb auf meinem Sitz, fuhr die Krallen aus und atmete noch einmal tief durch. Mit all dem Mut den ich aufbringen konnte – was nicht gerade viel war – riss ich die Decke weg und … „Cree?“

Von der Rückbank, halb eingerollt auf einen der Sitze, blinzelten mich seine Augen an und … ja, das war eindeutig Kajs Sohn Cree.

„Verdammt noch mal, was machst du hier? Ich wäre gerade fast an einem Herzinfarkt gestorben!“

Langsam, fast in Zeitlupe, richtete er sich auf, einen trotzigen Ausdruck im Gesicht. Er sah mich einfach nur an und nach einer endlosen Minute öffnete er seine Hand und präsentierte mir den kleinen Holzwolf, den er vor seinem Großpapá hatte in Sicherheit bringen können. „Ich weiß genau, wer den gemacht hat, also versuch nicht, mich zu belügen.“

Verdammt, bei seinen Worten blieb mir fast das Herz in der Brust stehen.

Er senkte den Blick, drehte den kleinen Wolf wieder in den Händen und fuhr wie am Nachmittag die eingeschnitzten Kerben entlang. „Feliz, meine Tante hat ein paar von denen. Sie hat oft von dem Talent meiner Mamá geschwärmt, meinte, dass sie nie ein größeres Talent gesehen hat.“ Er stockte kurz und ich bemerkte, wie er versuchte, ein Schluchzen zu unterdrücken. „Sie hat … sie hat gesagt, dass wir sie in Ehren halten müssen, weil meine Mamá … weil sie tot ist, aber … aber …“ Er biss sich auf die Unterlippe. „Du hast gesagt, dass deine Bekannte sie für mich gemacht hat und dass sie dir die Kiste heute gegeben hat, das heißt … das heißt …“ Jetzt schluchzte er eindeutig. War heute Tag der Tränen? Dann konnten wir beide uns ja zusammentun.

Mist. „Ach Cree.“

„Ich wollte sie doch nur kennenlernen,  und … und wissen, warum sie mich … mich verlassen hat.“

Und noch einmal Mist. Bei den ganzen Problemen, die sich bereits über meinem Kopf türmten und jederzeit einbrechen konnten, um mich unter einer Lawine zu begraben, aus der ich mich nicht allein befreien konnte, hatte mir der blinde Passagier auf meinem Rücksitz gerade noch gefehlt. Aber zurückbringen konnte ich ihn auch nicht, heute zumindest nicht mehr. Davon abgesehen, dass es schon reichlich spät war, glaubte ich auch nicht, dass ich heute noch die Kraft aufbringen könnte, mich dem Rudel der Höhlenwölfe noch einmal zu stellen. Aber oben in meiner Wohnung saß Kaj. Was würde sie sagen, wenn ich ihr ihren Sohn vor die Nase setzte, den Jungen, den sie zuletzt als Kleinkind gesehen hatte? Verdammt war das kompliziert. „Was mache ich denn jetzt nur mit dir?“

„Schick mich noch nicht nach Hause, ich will erst …“ Er verstummte kurz. „Bitte.“

„Dir ist schon klar, dass du uns beide damit in ziemlich große Schwierigkeiten bringst?“

„Aber sie ist doch meine Mamá“, kam es nur kleinlaut von ihm. Ihm musste klar sein, was für Käse er hier gerade verzapfte, aber ich konnte auch seinen Wunsch nach Antworten nachvollziehen. Es war die gleiche Sehnsucht, die in mir brannte, nach meinen Eltern, nach Erinnerungen, nach dem Wissen, dass einem verwehrt war.

„Ich muss aber bei Cui anrufen und ihr mitteilen wo du bist.“

„Ich weiß.“

„Und dir ist hoffentlich auch klar, dass diese Sache eine Menge Ärger nach sich ziehen wird?“

„Ja.“

Na wenn das so war. „Dann steig mal aus.“ Ich griff mir die Kiste und meinen Beutel und tat das eben gesagte selber. Zum Glück brauchte man ein Moob nicht abschießen, da es sich auf die Magie des Besitzers einstellte und sich nur von ihm öffnen ließ. So schaffte ich es halbwegs trocken unter das Vordach meines Hauses. Cree war direkt hinter mir. Kurzentschlossen drückte ich ihm die Kiste in die Hand, um die Hände für die Haustür frei zu haben. Sie war sowieso sein Geschenk und da Waran gerade nicht in der Nähe war, konnte er auch nicht meckern.

Nachdem ich aufgeschlossen hatte, trat er hinter mir in den Hausflur. Seine Nervosität war ihm anzusehen. Auch wenn er tapfer den Rücken durchstreckte, das Kinn erhob und die verräterischen Spuren auf seinen Wangen beseitigte, war er sich in seinem Vorhaben doch nicht so ganz sicher. Abe er war halt ein Lykaner und denen war der Sturkopf mit in die Wiege gelegt worden.

„Keine Sorge, hier wird dir niemand den Kopf abreißen und deine … sie wird sich freuen, dich zu sehen“, sagte ich, als wir die Treppen erklommen.

„Du gibst also zu, dass du meine Mamá kennst?“

„Hätte es jetzt noch einen Sinn es zu bestreiten?“, stellte ich die Gegenfrage.

Dafür bekam ich ein kleines Lächeln, das über sein Gesicht huschte. „Warum sind deine Haare eigentlich grün?“

Na super, das fiel ihm natürlich auf. „Das ist eine lange Geschichte.“ An der Wohnungstür angekommen, atmete ich noch einmal tief durch, bevor ich den Schlüssel ins Schloss steckte. „Bereit?“

Zögern, nicken.

„Na dann mal los.“ Das Schloss klickte, die Tür schwang und …

… etwas klatschte in mein Gesicht, bevor ich auch nur einen Schritt machen konnte. Völlig entgeistert stand ich da, lauschte dem Lachen aus dem Wohnraum und wischte mir dabei die Grütze aus dem Gesicht. Irgendwas Rotes, mit Kernen. Eine matschige Tomate?

„Ist das hier normal“, fragte der Kurze mich doch allen Ernst.

Ich grummelte nur etwas in meinen nicht vorhandenen Bart und stampfte ins Wohnzimmer, wo ich die beiden Werwölfe doch tatsächlich am Tresen vorfand, wie sie sich gegenseitig mit Essen bewarfen. Sie waren so mit sich selber beschäftigt, dass sie meine Anwesenheit erst bemerkten, als ich nach zwei Broten griff und diese beiden dick mit Marmelade beschmierte. Keiner der beiden verlor einen Ton darüber, dass ich Tomatenreste in meinem Gesicht zu kleben hatte.

Ganz ruhig legte ich das Messer zur Seite, nahm beide Brote in die Hand und klatschte sie den beiden gleichzeitig in die Gesichter. „Ist mir egal, wer von euch beiden angefangen hat, diese Sauerei wird auf der Stelle beseitigt und wenn ihr mit diesem Schwachsinn nicht bald aufhört, dann sitzt ihr beide auf der Straße, haben wir uns verstanden?“

Pal guckte leicht entgeistert aus der Wäsche. Sah irgendwie süß aus, wie ihm da die Marmelade von der Nasenspitze tropfte. Kaj dagegen prustete einfach los, strich sich mit dem Finger durchs Gesicht und kostete den Brotaufstrich genussvoll mit geschlossenen Augen. „Hmmm, lecker.“

Oh Mann. Ich pustete mir genervt eine grüne Strähne aus dem Gesicht, während Kaj kichernd nach einer Serviette griff und sich den schlimmsten Schmadder aus dem Gesicht wischte. „So, wo wir das nun geklärt haben, gibt es da ein anderes Problem, dem wir uns dringend widmen sollten.“ Ich trat einen Schritt zur Seite, sodass ich halb zur Tür stand. „Cree, kommst du mal her?“

Zögernd und leicht unsicher, trat der kleine Junge einen Schritt in den Raum hinein. Die Kiste drückte er dabei so stark an seine Brust, dass ich schon fürchtete, das Holz knacken zu hören. Sein Blick fiel zielgerade auf Kaj, der kurzerhand die Serviette aus der Hand fiel. Ihr Gesicht hatte die Farbe eines Gespenstes angenommen und der Ausdruck in ihrem Gesicht ließ darauf schließen, dass ihr gerade eines über den Weg gelaufen war. „Cree?“

Der Kurze warf einen schnellen Blick in meine Richtung und nickte Kaj dann zu.

Langsam stand Kaj auf, brauchte für die drei Schritte, die sie von Cree trennten fast eine Ewigkeit und fiel vor ihm dann einfach auf die Knie.

Hinter mir erhob sich Pal und wollte schon zu ihr gehen – hä, was war denn jetzt los? – doch ich schüttelte den Kopf. Das war eine Sache zwischen den beiden, in die wir uns nicht einmischen sollten.

Kaj kniete vor Cree und sog jedes noch so kleine Detail von ihrem Sohn in sich auf. Dabei entging ihr natürlich auch nicht die Kiste, die er schützend an seine magere Brust drückte. Sie streckte die Hand aus, als wollte sie ihn berühren, hielt aber kurz vor seinem Gesicht inne. Hatte sie überhaupt noch das Recht dazu, ihn zu berühren? Die ersten Zweifel keimten bei ihr auf.

„Wer ist der Junge?“, wollte Pal im Flüsterton wissen.

Super, warum blieben solche Erklärungen immer an mir hängen? „Das ist Cree, ihr zehnjähriger Sohn. Sie hat ihn nicht mehr gesehen, seit ihr Rudel sie damals verjagt hat.“

Da Kaj nicht näher kam, löste Cree zögernd einen Arm von seiner Kiste und berührte dann Kajs Hand. Das war der Moment, in dem bei ihr die Tränen anfingen zu liefen. Jup, heute war definitiv der Tag der Tränen.

„Warum hast du den Jungen mitgebracht?“

„Das ist eine lange Geschichte“, seufzte ich und strich mir eine grüne Strähne hinters Ohr. Haben meine Haare mich früher schon so gestört, oder hing dieses ständige Gefummel darin damit zusammen, dass ich unfreiwillig die Farbe gewechselt hatte? „Und jetzt muss ich mal ganz dringend telefonieren.“ Auch wenn es mich vor diesem Gespräch bereits schauderte, es ging nicht anders. Ich musste im Rudel wenigstens Bescheid sagen, wo Cree war, sonst machten sie sich nur unnötig Sorgen.

Um die Zusammenkunft nicht zu stören und in Ruhe sprechen zu können, zog ich mich in mein Zimmer zurück. Laut und deutlich sprach ich den Namen Cui ins Vox. Als mir eine nette Stimme verklickerte, dass unter diesem Namen niemand in der Magie bekannt sei, probierte ich es einfach mit den Worten: „Höhlenwölfe.“

Es klingelte und klingelte und zur Abwechslung klingelte es noch ein bisschen. Ich gab schon fast auf, als ich dann doch endlich eine Stimme hörte.

„Ja?“ Männlich, tief, unfreundlich.

„Ähm, ja, könnte ich mal bitte mit Cui sprechen?“

„Sie hat gerade keine Zeit.“ Und schwupp, aufgelegt.

Diese Lykaner waren doch echt … grrr! Aber so leicht gab sich eine Talita Kleiber von München nicht geschlagen. Ich rief ein weiteres Mal an und als dieses Mal jemand ranging, fackelte ich nicht lange. „Cree ist bei mir“, sagte ich, bevor der am anderen Ende der Leitung – wer auch immer da dran war – ein Wort sagen konnte, oder gar auf die Idee kam, einfach wieder aufzulegen.

„Moment“, brummte es durch das Vox. Dann hieß es für mich erst mal warten. Und warten. Und noch ein bisschen warten. Seufz. Eigentlich sollte man doch meinen, dass, wenn ein Kind verschwunden war, die Leute neben dem Telefon – oder in diesem Fall, Vox – lauerten, um zu erfahren, wo das Kind abgeblieben war. So zumindest machten die Leute es immer in den Filmen, an die ich mich erinnern konnte. Naja, hier war sowieso alles anders und Lykaner waren ein so eigenes Völkchen, dass sie eigentlich in eine andere Welt gehörten.

Andere Welt?

Okay, das war jetzt ein Eigentor gewesen.

In der Leitung knackte es. „Wer ist da?“, fragte eine sehr wütende Frauenstimme durch den Hörer und ich wusste sofort, dass ich Cui am Apparat hatte.

„Talita“, gab ich zaghaft zurück und war echt froh, dass ich mich gerade hunderte von Kilometern außerhalb ihrer Reichweite befand. Ich wollte gar nicht wissen, was sie in diesem Moment mit mir gemacht hätte, wenn ich neben ihr gestanden hätte.

Stille. „Du hast Cree mitgenommen?“

„Jein.“ Okay, erklär es ihr einfach ganz ruhig, dann wird sie es schon verstehen und du kommst noch mal mit heiler Haut davon. Auf mehr konnte ich nicht hoffen. „Cree ist als blinder Passagier bei mir mitgefahren. Ich habe es erst gemerkt, als ich vor meiner Haustür war.“

„Und wo ist er jetzt?“

„Im Wohnzimmer.“ Tief durchatmen. Diese Stille am anderen Ende konnte ganz schön erdrückend sein. „Pass auf. Als ich Cree die Kiste gegeben habe …“

„Wir kommen ihn holen.“ Und wieder war die Leitung tot. Also wirklich, Höflich war auch anders. Wenigstens hatte ich das Telefonat überlebt, war doch schon mal positiv zu bewerten.

Seufzend rappelte ich mich auf die Füße und ging zurück ins Wohnzimmer. Pal war gerade dabei die Schweinerei von der Essensschlacht zu beseitigen. Kaj hatte sich mit Cree auf die Couch gesetzt und redete leise auf ihn ein. Was sie ihm erzählte, konnte ich nicht hören, aber die Wahrheit mit Sicherheit nicht, dafür war der Kurze einfach noch zu jung. Mehrmals musste sie sich die Tränen aus dem Gesicht wischen.

Zu meiner Überraschung stand Raissa bei den beiden und warf Cree einen bösen Blick zu, während sie die Hand ihrer Mamá drückte. Was die Kleine wohl dachte? Für sie war das sicher auch nicht so leicht. Ihre Mamá, ein fremder Junge …

Verdammt, das war ein richtiges Familiendrama und ein Happy End war weit und breit nicht in Sicht. Wenn ich nur wüsste, was ich tun könnte, um ihnen zu helfen, aber ich war völlig ratlos. Aber dafür konnte ich mich einem anderen Problem widmen. Ich gesellte mich zu Pal und half ihm die Essensreste vom Boden und dem Tresen zu sammeln. Selbst von den Wänden musste ich sie kratzen – was hatten die beiden hier nur gemacht? Danach würde ich unter eine heiße Dusche springen, der Tomatensaft auf der Haut juckte nämlich allmählich. Aber dieses Mal würde ich genau darauf achten, was für ein Shampoo ich benutzte.

 

°°°°°

Tag 458

Ich liebte meine Wohnung, ganz ehrlich, sie war ein Traum für mich, doch dass mein Zimmer direkt neben der Wohnungstür lag, verfluchte ich an diesem Morgen. Es schrillte so laut an der Tür, dass ich glaubte, die verdammte Klingel in meinem Kopf zu haben. Dass es erst halb fünf in der Früh war, machte es auch nicht gerade besser.

Einen Moment blieb ich noch liegen und hoffte einfach mal darauf, dass einer von den anderen Bewohnern dieser Hütte, mit dem feinen Supergehör sich von dem Klingeln so gestört fühlte, dass er an meiner zur Tür gehen würde, um diesem Störenfried zu fressen, damit ich noch einmal selig in meinen Träumen versinken konnte. Pustekuchen. Niemand stand auf und wer auch immer da draußen war, hatte wohl Kleber an der Fingerkuppe. Anders war es nicht zu erklären, dass er ihn nicht von der Klingel bekam.

Seufzend und mit halb verquollenen Augen schlug ich die Decke zurück und schlürfte aus meinem Zimmer. Auf dem Weg zur Tür überlegte ich noch, ob ich mir nicht mein Nudelholz aus der Küche holen sollte, um meinen Besucher gebührlich zu empfangen, entschloss mich dann aber zu einem einfachen, mörderischen Blick, der ihn einfach tot umfallen lassen sollte, damit ich anschließend seelenruhig zurück unter meine Decke schlüpfen konnte.

Naja, wie das mit Plänen immer so war, nichts lief so, wie man sich das vorgestellt hatte. Das mit dem Öffnen der Tür bekam ich noch hin, auch der mörderische Blick war für einen Moment in mein Gesicht gebrannt, doch als ich den Mund öffnen wollte, erstarb jedes Wort auf meiner Zunge. Das glaubte ich jetzt nicht.

Zwei Männer, zwei Blicke und ein armes, verängstigtes Mädchen, dass sich am liebsten irgendwo verkrochen hätte – damit meinte ich mich. Vor mir stand Waran, Crees Großpapá, der aussah, als wolle er mich zum Frühstück verspeisen. Doch mein Blick haftete an dem Mann neben ihm.

Veith.

Ich schloss einen Moment die Augen und fragte den lieben Herrgott, was ich ihm getan habe, dass er mir ständig Arschtritte verpasste. So ein schlimmes Mädchen war ich doch wirklich nicht.

„Talita?“, fragte Veith mich sanft.

Misstrauisch öffnete ich wieder die Augen. Gestern noch hatte er mich angeschnauzt und mich praktisch beschuldigt, im Wald eine wilde Orgie mit Pal veranstaltet zu haben und jetzt stand er vor mir, das genaue Gegenteil von dem Arschloch gestern. „Hast du Stimmungsschwankungen, oder was? Ich meine, du änderst deine Launen so schnell, dass andere davon ein Schleudertrauma bekommen würden.“

Wieder erschien diese Falte auf seiner Stirn. Warum nur konnte er nie lächeln? „Wir sind hier um Cree abzuholen.“

„Und da ist Cui nichts Besseres eingefallen, als dich zu schicken?“ Vielleicht hatte er sich aber auch freiwillig für diese Aufgabe gemeldet, weil er mich sehen wollte, weil er sich für sein Verhalten bei mir entschuldigen wollte. Ich konnte nicht verhindern, dass diese Gedanken durch meinen Kopf rasten und hätte mir für diesen kleinen Hoffnungsschimmer am liebsten selber in den Hintern getreten.

„Sie war der Ansicht, wenn jemand dabei ist, den du kennst, dass du eher kooperieren würdest.“

Ich kniff die Lippen zusammen und wich seinem Blick aus. Wusste ich es doch, alles andere wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr sein zu können. „Wartet einen Moment, ich hole den Kurzen.“ Langsam wollte ich die Tür schließen, mit meinem Schmerz einen Augenblick allein sein, da wurde ich am Arm gepackt und halb auf den Flur gezerrt. Ich stolperte halb über meine Füße und gab ein überraschtes Geräusch von mir, als ich mich direkt vor Waran wiederfand.

„Wir holen ihn, du hast bereits genug angerichtet, wofür ich dich am liebsten …“

Eine weitere Hand schoss vor. Veith umklammerte Warans Handgelenk und drückte fest zu. So wie die Knöchel hervorstachen, musste das höllisch wehtun, aber Waran ließ sich nichts anmerken. „Du lässt sie jetzt los und du wirst sie auch nie wieder anfassen. Niemals.“

Für einen Augenblick bestritten die beiden ein Blickduell, dem niemand ausweichen wollte und ich konnte praktisch spüren, wie die Luft um mich herum immer dicker wurde. Dann, ganz langsam löste sich der Griff an meinem Arm, im gleichen Moment, in dem hinter mir ein wütendes Knurren zu hören war. Ich riss mich los und stolperte hastig ein paar Schritte zurück, bis ich gegen einen großen, starken Körper stieß. Pal war aufgewacht und auch wenn er noch sehr verschlafen aussah, wirkten seine Augen doch wach.

Doch mich beschäftigte für einen Moment ein anderer Gedanke. Hatte Veith mich gerade beschützt? Den Blick von Waran nach, ja! Aber warum? Gedankenverloren strich ich über die schmerzende Stelle an meinem Arm. Das würde garantiert blau werden. Naja, würde zu meinen grünen Haaren und dem Hörnchen auf der Stirn passen.

„Pal“, knurrte Veith.

„Veith“, knurrte Pal.

Uh, wo kam nur plötzlich das ganze Testosteron her? Da erstickte man ja fast. „Ähm …“, schritt ich nicht sehr einfallsreich ein, bevor hier noch Blut fließen konnte. Die Blicke der drei Männer richteten sich auf mich. Okay, ich wünschte mir zwar immer die Aufmerksamkeit der Lykaner, aber im Moment wünschte ich noch mehr, ich wäre ganz weit weg. „Die beiden sind gekommen, um Cree zu holen.“

Pal Blick lag nachdenklich auf mir, bevor er langsam den Kopf zu Kajs Zimmertür wanderte, hinter der der Kurze bei seiner Mutter schlief. Er schloss kurz die Augen und stieß die Luft aus. „Ich gehe ihn holen.“ Noch ein letzter Blick auf die beiden Eindringlinge. „Bin gleich wieder da.“ Dann war er weg. Die Drohung hinter den Worten war deutlich und entlockte Veith ein weiteres Knurren.

Ich sah dem roten Riesen hinterher, als er leise an Kajs Zimmertür klopfte und dann eintrat. Dabei versuchte ich die Blicke der beiden Männer zu ignorieren.

„Er wohnt also wirklich hier“, sagte Veith sehr leise.

Verblüfft wandte ich mich ihm zu. „Hast du etwa geglaubt, ich würde das erfinden?“ Wollte er mich jetzt auch noch als Lügnerin abstempeln?

„Ich habe es gehofft“, flüsterte er fast unhörbar.

Das verschlug mir einen Moment die Sprache. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? War er eifersüchtig?

„Er hat sich gegen Prisca gestellt“, sagte er weiter.

Da machte es bei mir Klick. Er war nicht eifersüchtig oder so – natürlich nicht – er machte sich Sorgen um seinen Cousin. „Ja, er hat das Rudel verlassen“, kam es sehr kalt von mir. Das war die einzige Möglichkeit meinen inneren Aufruhr zu verbergen.

Ein wütendes Knurren von Kaj und ein lauter Fluch von Pal erregten meine Aufmerksamkeit. Etwas polterte und dann hörte ich Raissa laut und deutlich schreien: „Nein, Mamá!“

Scheiße, was war denn jetzt schon wieder los? „Ihr wartet hier!“, ordnete ich an und eilte zu der halboffenen Tür, hinter der sich mir ein bestürzendes Bild bot. Die Nachtischlampe war auf dem Boden gefallen und spendete von dort aus wenig Licht. Cree und Raissa lagen im Bett und sahen leicht verängstigt zu ihrer Mutter auf, die über ihnen kauerte, als müsse sie sie vor einem Unheil bewahren. Pal stand einen halben Meter vom Bett entfernt, hielt sich einen blutenden Arm und redete leise auf Kaj ein, doch sie wollte ihm nicht zuhören, knurrte nur noch lauter und sah aus, als würde sie jeden umbringen, der versuchte, ihr ihre Kinder wegzunehmen.

„Kaj?“, hörte ich mich sagen und trat einen Schritt in den Raum.

Ihr Knurren erstarb, aber die schützende Haltung über den Kindern gab sie nicht auf. „Ich lasse sie mir nicht wegnehmen, keinen von ihnen!“

„Du willst Cree von seinem Rudel wegholen?“, fragte ich wohl wissend, was ich mit diesen Worten bei ihr auslösen konnte. Das Rudel war das Leben der Lykaner – naja, außer sie waren Einzelgänger, was auf keinen der Wölfe in diesem Raum zutraf. „Kannst du ihm das wirklich antun?“

Wieder wurde geknurrt, dieses Mal hinter mir. Ich wirbelte herum und entdeckte Veith und Waran im Türrahmen.

„Kaj?“ Das war alles was Veith sagte, aber ich sah den Hass in seinen Augen. Sie war schuld, dass Julica gestorben war, sie war schuld, dass Kovu verletzt worden war, sie war schuld, dass Pal unter Erions Fuchtel geraten war und auch daran, dass Isla noch immer zu den Verlorenen Wölfen gehörte. Sie hatte Leid über das Rudel gebracht und auch, wenn er nicht mehr zu ihnen gehörte, war es doch alles, was er liebte.

„Ich hab gesagt, ihr sollt an der Tür warten!“, fauchte ich ihn an.

Sehr langsam richtete sein Blick sich auf mich. „Warum? Damit du sie vor mir verstecken kannst?“

„Es geht dich einen Dreck an und jetzt raus hier!“

„Nicht ohne Cree“, knurrte Waran und fixierte Kaj, als wollte er ihr an die Kehle gehen.

„Du kriegst ihn nicht, Papá!“, schrie sie ihn an.

Papá? Na das wurde ja immer besser!

„Du hast ihn mir schon einmal weggenommen, ein zweites Mal werde ich das nicht zulassen!“

„Du! Du allein bist daran schuld, wie es gekommen ist, du hast Welpen getötet!“, brüllte er zurück.

Das konnte ich mir nicht anhören und noch bevor jemand anderes auf diese Worte reagieren konnte, hatte ich bereits meinen Mund geöffnet. „Diese Welpen haben noch etwas viel Schlimmeres mit ihr getan! Sie haben verdient was ihnen passiert ist und jetzt raus aus meiner Wohnung, bevor ich auf die Idee komme, meine Krallen zu wetzen!“

Waran kniff die Augen zusammen. „Du machst mir keine Angst, Katze“, zischte er mich an.

„Denk dran, was ich dir gesagt habe, Waran“, kam es leise von Veith. Sein Blick fixierte Kaj. Wahrscheinlich hatte er bis zu diesem Moment nicht gewusst, dass sie Crees Mutter war und auch nicht, dass sie mal zu den Höhlenwölfen gehört hatte. Davon abgesehen war es für ihn sicher auch eine Überraschung, sie bei mir zu finden, wo sie doch vor einem knappen Jahr spurlos verschwunden war – Gaare sei Dank.

„Du kriegst ihn nicht“, zischte sie ihren Vater an. „Er bleibt bei mir.“

„Kaj, sei doch vernünftig“, versuchte Pal es erneut, war aber nicht so dumm, sich erneut in ihre Reichweite zu begeben. Ein blutender Arm reichte ihm. „Du kannst nicht …“

„Er ist mein Sohn!“

„Solltest du nicht Cree fragen, was er möchte?“, rutschte es dann über meine Lippen.

Etwas in ihrem Gesicht veränderte sich. Sie drehte ihren Kopf halb, sodass sie die Kinder betrachten konnten, die unter ihr im Bett lagen und alles still verfolgten. Ihre Züge wurden weicher und der Ausdruck, der in ihr Gesicht trat, ließ mich krampfhaft schlucken. Leid. Alles an ihr sprach dieses Wort. Sie wollte ihr Kind nicht verlieren, kein zweites Mal. „Cree?“

Plötzlich im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen, behagte dem Kurzen überhaupt nicht. Sein Blick schnellte von seinem Großpapá zu Veith, über mich und Pal hinweg und hielt dann bei Kaj. „Ich …“ Er kniff die Lippen zusammen. Eine solche Entscheidung einem Kind zu überlassen, war auch grausam. Er sollte sich zwischen seiner Mutter und seinem Rudel entscheiden, das war wirklich alles andere als fair.

Raissas Hand tastete über das Kissen zu seiner Hand und drückte diese fest. „Mamá wird nicht böse sein, egal was du sagst.“

Als die Kleine Kaj als ihre Mutter bezeichnete, kniff Veith wieder sie Augen zusammen. Die kleine Falte auf seiner Stirn wollte gar nicht mehr weichen. Er kannte die Kleine, da war er sich sicher, konnte das Gesicht aber nicht zuordnen, was wohl dran lag, dass er sie vorher nie in Menschengestalt gesehen hatte.

Cree atmete tief ein und drückte die Hand des jüngeren Mädchens zurück. „Du hast … hast du wirklich Welpen getötet?“

Der Schmerz, den diese Frage aus der Erinnerung rief, war Kaj deutlich anzusehen. Trotzdem zwang sie sich zu einer ehrlichen Antwort. „Ich habe getötet, aber es waren keine unschuldigen Welpen.“

„Natürlich waren sie das!“, brüllte Waran. „Sie haben dir nichts getan, sie haben …“

„Sie haben sie vergewaltigt“, sagte Pal kalt in den Raum hinein. Damit sorgte er in dem Raum für einen kurzen Moment für eine Stille, in der man Grillen husten hören konnte. 

„Und ihr glaubt ihr das?“ Waran schnaubte abfällig. „Kaj würde alles sagen, um ihre Haut zu retten, kein Wort das ihren …“

Ich merkte erst, dass ich mich bewegt hatte, als sich plötzlich zwei starke Arme um meinen Bauch schlangen, um mich festzuhalten und meine Krallen nur die Luft zerschnitten, anstatt Warans überhebliche Visage – wann hatte ich mich verwandelt? „Wie können Sie nur so über ihre Tochter reden?!“, schrie ich ihm ins Gesicht und sah mit Genugtuung, dass er einen Schritt vor mir zurückwich.

„Meine Tochter ist tot!“, schrie er zurück. „Dieses Miststück dort kenne ich nicht!“

Oh, in dem Moment wollte ich so viel mehr tun, als diesem miesen Kerl die Krallen durchs Gesicht zu ziehen, aber egal, wie sehr ich mich wehrte, Veiths Griff wollte sich einfach nicht lockern. „Das einzige Miststück hier sind Sie! Drei Kerle haben sich an ihrer Tochter vergangen und Sie stehen da wie ein überhebliches Arschloch, dem das ganze nichts angeht, dabei sind Sie ihr Papá!“

„So kann auch nur eine Katze sprechen“, zischte er.

Oh, OH! Jetzt wurde ich auch noch auf meine Spezies reduziert. „Na warte, du dämliche Töle, ich werde dich … verdammt, Veith, lass mich los, sonst zerkratze ich dir die Arme!“

Natürlich tat er das nicht, stattdessen wurde sein Griff noch kräftiger und dann mischte sich auch noch Pal ein, der knurrend verlangte, das Veith die Pfoten von mir nahm und Waren schimpfte weiter Ausfälligkeiten in Kajs Richtung und ich zappelte, war kurz vor dem Ausflippen. Das Chaos war perfekt. Aber wie konnte dieser hirnverbrannte Idiot auch sowas sagen? Er hatte keine Ahnung was das für ein Gefühl war, gegen seinen Willen berührt zu werden, zu etwas gezwungen zu sein, dass man nicht wollte.

„Hör auf damit, Sven, ich meine es ernst, ich will das nicht!“

„Mann, dass ihr Mädchen immer so rum zicken müsst.“

Es begann als leichtes Pochen in meinem Kopf, sodass ich den Schmerz erst bemerkte, als er plötzlich mit einem radikalen Stich zuschlug, der mir all meine Sinne vernebelte. Vor meinen Augen verschwamm alles und meine Hände fuhren nur noch an meinem Kopf, um zu verhindern, dass er durch den plötzlichen Druck einfach platzte.

Dieses Gefühl seiner Hände, ich liebte es. Jenn hatte doch keine Ahnung, sie war doch nur neidisch. Sven war so toll. Er war lieb, aufmerksam und immer für mich da, wenn ich ihn brauchte. Ja, vielleicht hatte er in der Vergangenheit ein paar Fehler gemacht und mit so manch einem Mädchen nur gespielt, aber hey, wir waren jung, wir wollten rumprobieren und nicht gleich den erstbesten heiraten.

„Talita? Talita, was ist los? Kannst du mich hören?“

Und zwischen uns beiden war es sowieso etwas völlig anderes. Er liebte mich, das hatte er mir gesagt. Die anderen Mädchen waren alles nur dumme Hühner gewesen, die es nicht anders wollten. Sven hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er nicht auf eine Beziehung aus war, wenn sie sich trotzdem mehr vorstellten und dann bitter enttäuscht wurden, war das ihre alleinige Schuld.

„Verdammt, was ist los mit ihr?“

„Eine Erinnerung.“

Ich war die Erste, auf die er sich einlassen wollte und dafür liebe ich ihn, ertrug die Hände, die sich frech einen Weg unter mein Top suchten, während er mich mit seinen Küssen ablenkte. Natürlich wusste ich, was er da trieb, aber sein Gewicht auf mir zu spüren, dieses fantastische Kribbeln zu fühlen, war es allemal wert. Und außerdem musste ich ja nicht gleich mit ihm rumvögeln. Wir probierten halt nur ein bisschen herum, so machte man das eben in unserem Alter, das hatte er mir gesagt.

„Scheiße, sie krampft!“

„Halte sie fest.“

„Lass die Katze doch einfach liegen, wir haben besseres zu tun.“

Knurren.

Und es war ja auch nicht so, dass ich das hier nicht wollte, auch wenn ich mich noch ein wenig unsicher fühlte. Sven war erfahren in sowas, er wusste schon, was er machte und ich hatte ihm schon gesagt, dass ich noch nicht mit ihm schlafen wollte. Sven war einfühlsam und verstand das, er würde mich zu nichts drängen. Daher genoss ich seine Zunge in meinem Mund einfach nur, genoss seine rhythmischen Bewegungen gegen mich, während ich ihm durch die Haare kraulte. Selbst die wandernden Finger, die sich verselbständigten und auf meinen Hosenbund zuhielten, ließ ich gewähren. Es fühlte sich einfach toll an.

„Babe, du bist der Wahnsinn“, raunte er an meinen Lippen und entlockte mir damit ein verliebtes Lächeln. Ja, Sven war toll und das in jeder Hinsicht.

„Wie müssen sie da rauskriegen.“

Selbst noch als ein Finger unter meinen Hosenbund rutschte, tat ich nichts dagegen. „Was machst du da?“, fragte ich gespielt ahnungslos.

„Hol mir ein Glas Wasser.“

„Was …“

„Nun mach schon!“

Seine Finger glitten wieder heraus und stoppten an meinem Hosenknopf.

„Sven?“

„Keine Sorge, es wird dir gefallen.“

„Aber …“

„Schhh, ganz ruhig.“

Der Knopf sprang auf, ritsch, der Reißverschluss. Mein Herz schlug mir plötzlich bis zum Hals. „Sven, ich weiß nicht, wir sollten nicht …“

„Lass es einfach geschehen.“ Er rutschte an mir hoch, drückte sich gegen mich, als seine Hand in meine Hose glitt.

„Sven, bitte.“ Ich legte meine Hand auf seinen Arm, doch er regierte gar nicht, schob seine Hand weiter und dann stöhnte er tief und kehlig.

„Du bist so …“

„Sven.“ Nun zog ich schon energischer an seiner Hand. Ich wollte das nicht. Nicht hier, wo meine Eltern uns jederzeit überraschen konnten, oder Tiara. Nicht heute, so weit war ich noch nicht. Ein andermal, ganz bestimmt, aber nicht jetzt.

„… Gott, Tal.“

„Verdammt, lass das“, wurde ich schon etwas energischer, doch er registrierte es nicht. Seine Hand begann ich zu bewegen und …

„Oh ist das geil.“

„Hör auf damit, Sven, ich meine es ernst, ich will das nicht!“

Er hielt inne, sah mich an und strich sich dann seufzend durchs Haar. „Mann, dass ihr Mädchen immer so rum zicken müsst.“ Er zog seine Hand aus meiner Hose und hockte sich über mich. „Aber ich habe keine Lust mehr zu warten.“

„Was?“

Da traf es mich wie ein Schlag, etwas Kaltes, Nasses. Ich schreckte hoch und prustete, atmete hektisch Luft in meine Lungen und brauchte einen Moment, um mich zu orientieren. Ich war … Zuhause. Hier war Kaj und Pal … und … „Verdammt“, fluchte ich, ich drückte mir die Hand gegen den Kopf. Darin randalierte jemand mit einem Vorschlaghammer.

Pal hockte neben mir, zog mein Gesicht ein wenig an seines, um mir in die Augen sehen zu können. „Bist du wieder bei uns?“

„So gut wie. Gib mir noch einen Moment.“

Jemand anders gab mir ein Handtuch. Veith. Er musste sich bücken und erst jetzt fiel mir auf, dass ich auf dem Boden saß, nass.

„Sowas ist mir schon lange nicht mehr passiert“, murmelte ich nachdenklich und versuchte mich wenigstens halbwegs trocken zu tupfen. Nur nicht zu stark gegen den Kopf, das tat nämlich weh. Auch so intensiv war mir noch keine Erinnerung untergekommen und …

Das Zittern begann in den Fingerspitzen. Noch immer standen mir die Bilder meiner Erinnerung lebhaft vor Augen und mit einem Mal wusste ich wieder alles, was an diesem Tag passiert war. Wie er mich besuchen kam, als meine Eltern noch arbeiten waren, wie wir im Bett gelegen hatten, um miteinander rumzuknutschen und wie er begann mich zu etwas zu drängen, dass ich nicht wollte und auch nicht aufgehört hatte, als ich ihn bereits anflehte von mir abzulassen. Erst als plötzlich mein Vater im Raum stand und ihn aus dem Haus geprügelt hatte, ließ er von mir ab, aber da war es bereits zu spät gewesen. Nichts konnte diese Tat rückgängig machen.

Eine Träne löste sich aus meinem Augenwinkel. „Sie haben doch keine Ahnung wie das ist, zu so etwas gegen seinen Willen gezwungen zu werden“, flüsterte ich in Warans Richtung und schlang die Arme um meinen Körper.

„Nein, hab ich nicht und das tut jetzt auch nichts zur Sache.“

„Nein, natürlich nicht“, sagte ich schwach. „Kein Lykaner interessiert sich für ein anderes Wesen, wenn es nicht zu seinem Rudel gehört.“ Ich wischte mir die Träne von der Wange und wandte mein Gesicht Cree zu, der genau wie die kleine Raissa leicht verstört in Kajs Armen lag. Ja, das war wirklich kein Anblick, den man einem Kind zumuten sollte. „Ich glaubte, es ist das Beste, wenn du jetzt mit deinem Großpapá gehst.“

Kaj knurrte. „Er ist mein Sohn und ich werde nicht …“

„Ich weiß Kaj“, sagte ich müde. „Aber Waran wird nicht gehen, bevor er bekommen hat, weswegen er gekommen ist und ich will einfach nur, dass dieser Mistsack verschwindet. Du kannst Cree nicht hier behalten, das weißt du ganz genau.“

„Aber …“

„Willst du ihn wirklich von seinem Rudel trennen?“, fragte Pal sanft und setzte sich zu ihr auf die Bettkannte. Seine Hand berührte ihren Arm, den sie um den Jungen geschlungen hatte. „Willst du, dass er anfängt dich zu hassen, weil du ihm das Wichtigste im Leben genommen hast, so wie es dein Papá mit dir gemacht hat?“

Waran knurrte, aber bevor er wieder ein Wort der Beleidigung anbringen konnte, brachte Veith ihn mit einem schlichten Blick zum Verstummen. Tja, damit war wohl klar, wer in diesem Raum der Dominanteste war und da half es Waran auch nicht, älter als alle anderen hier zu sein.

Kaj löste den Blick von Pal, senkte ihn auf Cree, der immer noch unsicher war, was er jetzt machen sollte. „Willst du zurück?“

„Ich …“ Ein kurzes Augenzucken zu seinem Großpapá. „Es ist mein Rudel“, sagte er schwach und wich ihrem Blick aus.

„Das ist okay“, flüsterte sie. „Das ist okay.“ Sie drückte ihn noch einmal fest an sich und löste dann widerstrebend den Arm von ihm. Auch wenn es ihr das Herz  zerbrach, sie musste den Jungen gehen lassen. Niemals würde sie etwas tun, was er nicht wollte.

Cree rutschte ein Stück von ihr weg, stand aber nicht auf. „Wirst du … kann ich dich wiedersehen?“

Ein trauriges Lächeln huschte über Kajs Lippen. Wir alle in diesem Raum kannten die Antwort und die war nicht ja. „Wir werden sehen, aber jetzt geh.“

Der Kurze biss sich auf die bebende Unterlippe, rutschte aus dem Bett und nahm sich die Holzkiste mit den geschnitzten Figuren vom Nachttisch. Mit einem letzten Blick auf Kaj drückte er sie sich an die Brust und erwiderte den ärgerlichen Blick seines Großpapás trotzig, als er mit erhobenem Kinn an ihm vorbei aus dem Zimmer ging. Tja, der würde sich sein Geschenk nicht mehr so leicht wegnehmen lassen und da konnte der Großpapá sich kopfstellen.

Waran folgte seinem Enkel wortlos, nur Veith zögerte noch einem Moment.

„Geh einfach“, sagte ich schwach und versuchte zu ignorieren, wie dieser brennende Blick auf mir lag. Ich hatte für dieses Spiel einfach keine Kraft mehr. Er sollte einfach nur noch verschwinden und nie wieder auftauchen. Das wäre für alle Beteiligten vermutlich das Beste.

Schritte entfernten sich und kurz darauf hörte ich, wie sich die Wohnungstür leise schloss.

Ohne auf die anderen und deren Blicke zu achten, ohne mich darum zu kümmern, wie Kaj ihre Tochter fest an sich zog und leise weinte, verließ ich das Zimmer und schlürfte niedergeschlagen in mein eigenes, wo ich mich unter der Decke versteckte.

Momentan wollte ich niemanden sehen, niemanden sprechen. Ich wollte allein sein, ich brauchte Zeit zum Nachdenken.

Zum ersten Mal, seit ich auf Fangs Dachboden aufgewacht war und meine Erinnerungen herbeisehnte, wünschte ich mir, dass die Vergangenheit einfach begraben geblieben wäre.

 

°°°

 

„Talita, Gaare ist am Vox!“, schallte Raissas Stimme durch die ganze Wohnung und hätte mich fast dazu gebracht, vor Schreck an die Decke zu springen. Ich legte die Haarbürste zur Seite und murrte meinem Spiegelbild entgegen, das mir immer noch grüne Haare zeigte und fragte mich, ob ich mir eine Glatze rasieren musste, um nicht mehr wie ein Frosch auf Crack auszusehen.

„Talita!“

„Moment.“ Dieses Kind hatte aber auch keinerlei Geduld. Ich verließ den Feuchtraum in nichts als einem Handtuch und ging zu den anderen in die Wohnstube, wo sie sich um den Tresen zum Frühstück versammelt hatten. Sie lachten, doch reichte es nicht an ihre Augen heran. Sie sprachen, doch die Betonung wirkte aufgesetzt. Alle versuchten nach diesem Morgen gute Miene zum bösen Spiel zu machen – auch ich. Nur Raissa war normal. Was für ein Glück es doch war, Kind zu sein. Die Welt war bunt und Grautöne ließen sich noch leicht verdrängen.

Wortlos reichte Kaj mir das Hausvox, mit dem ich mich in mein Zimmer verzog, um mich anzuziehen. „Hallo, Gaare.“

„Talita?“, erklang seine Stimme etwas entfernt.

„Ähm … ja.“

„Aber wo … ach natürlich.“ Es knisterte und raschelte kurz, dann war Gaare laut und deutlich zu hören. Ich konnte nur zu deutlich vor mir sehen, dass Gaare sein Vox zur Seite gelegt hatte, als ihm die Wartezeit zu lang wurde, um sich mit einem seiner Bücher zu beschäftigen. Darüber hinaus hatte er mich vermutlich vergessen und dann plötzlich meine geisterhafte Stimme zu hören, musste ihn doch ziemlich verwirren. „Talita, meine Liebe, warum rufst du erst jetzt an?“

Okay, der war ja heute noch mehr neben der Spur als sonst. Das Vox unters Ohr geklemmt, öffnete ich meinen Kleiderschrank und machte mich auf die Suche nach etwas passendem für den Tag. „Gaare, du hast mich angerufen.“ Hm, viel Auswahl hatte ich ja nicht. Ob ich früher mehr Kleidung besessen hatte? Plötzlich drohte die Erinnerung des Morgens wieder über mir zusammenzubrechen.

Denk nicht darüber nach!

Ich atmete tief ein und verdränge es, so gut es ging. Ablenkung, ich musste mich einfach nur ablenken.

„Ich habe … oh, natürlich, natürlich, wie konnte ich das nur vergessen?“

Ja, das war so eine Frage, die ich durchaus in der Lage war zu beantworten, es mir aber verkniff, weil ich nicht unhöflich sein wollte. „Was möchtest du denn, Gaare, wir sehen uns nachher doch sowieso.“ Schließlich brauchte ich eine kleine Vorbereitung auf die morgige Anhörung, damit ich vor Nervosität nicht einfach tot umkippte.

„Ich habe dir einen Termin bei deinem Arzt gemacht, zur Blutabnahme.“

Na toll. „Wann?“ Kurz wollte ich nach dem grünen Lendenschurz mit der schwarzen Stickerei greifen, überlegte es mir aufgrund meiner Haarfarbe aber anders und nahm den Schwarzen mit dem passenden Oberteil dazu.

„In einer halben Stunde und ah, ich habe es endlich geschafft. Ich habe einen Zirkel gefunden, der dich interessant genug findet und dich einlädt, um zu entscheiden, ob sie dich ihr Tor passieren lassen.“

Interessant? Das hörte sich ja an, als sei ich ein seltenes Insekt, das … Moment. „In einer halben Stunde?“

„Ja, meine Liebe. Die bisherigen Tests waren noch nicht ergiebig genug und sie brauchen noch ein paar Proben von dir. Sei so gut und geh zu ihnen. Und vergiss nicht, danach zu mir zu kommen, damit wir über die morgige Anhörung sprechen können.“

„Nein, ich …“ Seufz. „Gaare, was bringt das überhaupt?“

„Die Forschung, meine Liebe. Du bist so einmalig, dass es unabdingbar ist, dich zu erforschen. Wer weiß, wozu das einmal gut ist?“

Und wieder kam ich mir wie etwas extrem Seltenes, Ekliges vor. „Okay, ich gehe gleich los.“

„Sehr gut.“

Bevor ich noch einen Abschiedsgruß sprechen konnte, war die Leitung bereits tot. Wäre am anderen Ende ein Lykaner gewesen, hätte ich es als unhöflich empfunden, aber das hier war Gaare und der war nun mal … naja, einmalig eben. Würde er sich anders verhalten, müsste ich mir Sorgen machen.

Ich ließ mein Handtuch fallen und schlüpfte in die sauberen Klamotten. Dann noch schnell meinen Beutel gepackt, ein Good bye das ich quer durch die Wohnung rief und dann war ich schon auf den Weg nach draußen. Nur nicht anhalten, nur keinen Moment still stehen. Es gab nur einen Grund, warum ich nach diesem Morgen nicht einfach durchdrehte, Verdrängung. Ich musste nur die ganze Zeit beschäftigt sein, durfte keinen Gedanken an die Geschehnisse zulassen, dann konnte ich funktionieren und auch, wenn es schwer war, bisher hatte es geklappt.

Die Treppe runter, zur Tür raus, hinein in den Regen, immer nur über den nächsten Schritt nachdenken und nichts anderes zulassen, doch als ich auf der Straße stand, stockte mir auf einmal der Atem. Ich war allein. Naja, ein paar Fußgänger liefen unter ihren Regenschirmen eilig umher, aber ansonsten? Keine Protestanten. Stirnrunzelnd drehte ich mich zu meiner Haustür um, um festzustellen, ob ich auch vor dem richtigen Haus stand. Alles korrekt, aber wo zum Teufel waren dann die Protestanten, die mich jeden Morgen mit lauten, abgedroschenen Parolen begrüßten?

Vorsichtig riskierte ich nach links und rechts einen Blick durch die Regenschlieren, als würden sie dort irgendwo lauern, um sich gleich auf mich zu stürzen, aber nein, ich war wirklich allein.

Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit und meine Gedanken schweiften wie von selbst zu den Verlorenen Wölfen. Am liebsten wäre ich schnell zu ihnen gefahren, um mich zu versichern, dass dort alles in Ordnung war, aber ich hatte dafür jetzt keine Zeit. Außerdem waren sie durch den Schild geschützt und für den Notfall war Saphir ja auch noch da. Ich musste wohl einfach mal auf sie vertrauen.

Mit einem leicht mulmigen Gefühl im Magen – ich traute diesem Braten einfach nicht – schritt ich zu meinem silbernen Moob, entdeckte ihn aber erst auf den zweiten Blick, weil er auf einmal nicht mehr silbern war. Rote Farbe floss in Rinnsalen über die Lackierung und tropfte wie Blut auf die Straße. Die ganze Karosserie war beschmiert, als hätte jemand mehrere Eimer Farbe darüber ausgegossen. Vielleicht waren die Protestanten heute Morgen nicht hier, aber sie hatten mir ein Geschenk hinterlassen.

Meine Augen fingen an zu brennen und ich musste mehrere Male blinzeln, um die Tränen zurückzuhalten. Das war nicht fair, das hatte ich nicht verdient. Und egal, was für eine Farbe das war, sie ließ sich nicht einfach abwaschen. Der Regen prallte daran ab und rieselte nutzlos zu Boden.

Ich wandte mich ab, bevor ich wirklich noch in aller Öffentlichkeit mit dem Heulen anfing. Jetzt musste ich mich beeilen, um noch pünktlich zu meinem Termin zu kommen – und das bei diesem Sauwetter.

Kurz war ich am überlegen, ob ich eine der Kutschen anhalten sollte – das waren dieser Orts die Taxis der Neuzeit –, um halbwegs trocken beim Arzt zu landen, doch bevor ich eine Entscheidung treffen konnte, nahm der zunehmende Regen mir die Antwort bereits ab. Wenn ich nur noch einen Meter trocken weiter kommen wollte, brauchte ich sofort etwas über den Kopf. So fuhr meine Hand von ganz allein in die Luft, als das nächste leuchtendgrüne Gefährt mit der weißen Aufschrift – nein hier waren die Taxis nicht gelbschwarz – Anstalten machte an mir vorbeizufahren.

Die Kutschte mit den Glatisants als Zugtiere hielt mitten auf der Straße – was den anderen Verkehrsteilnehmern gehörig auf den Sack ging – und lud mich zum Mitfahren ein. „Praxis Auron von Sternheim, Engadinagasse 72“, teilte ich dem Kutscher meinen Zielort mit und lehnte mich in den alten, aber weichen Sitz zurück. Dabei versuchte ich, nicht auf die seltsamen Ausdünstungen zu achten, die hier in der Luft schwebten. Taxis rochen immer seltsam und da war es egal, ob man auf der Erde war, oder in einer magischen Welt, die es laut klarem Menschenverstand gar nicht geben dürfte.

Der Taxifahrer nickte und ließ seine Zügel schnalzend knallen, was die Tiere dazu brachte, sich in Bewegung zu setzten.

Mein Blick aus dem Fenster glitt über die Wesen dieser Welt, über Leute, die eilig durch den Regen liefen, um noch halbwegs trocken an ihr Ziel zu gelangen. Manche hatten mehr Glück, andere weniger. Einer Frau flog bei einem kräftigen Windstoß der Regenschirm aus der Hand. Geistesabwesend verfolgte ich seine Flugbahn, vorbei an Geschäften, einem Mann, der mit seinem Hund spazieren ging, drei Kindern, die vergnügt durch die Pfützen hüpften und einer Gruppe von Männern und Frauen, die nichts weiter als Lendenschurze an ihren Körpern trugen.

Ich kniff die Augen zusammen, um mir den Gedanken noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen, sah mir diese Leute beim Vorbeifahren genauer an und … waren das etwa Lykaner? Aber … Lykaner machten doch normalerweise einen großen Bogen um alle dicht bevölkerten Orte. Erst einmal hatte ich andere Hundewandler in Sternheim gesehen und dass waren die gewesen, die mit mir in die Stadt gekommen waren – die Verlorenen Wölfe zählten nicht, genauso wenig wie Saphir.

Dann waren wir auch schon an ihren vorbeigefahren und die Regenschlieren verbargen die Gestalten so gut, dass ich dem Glauben verfallen konnte, mir das alles nur eingebildet zu haben, denn was bitte, sollten Lykaner in Sternheim machen?

Über mich selber den Kopf schüttelnd, weil ich mir über so einen Unsinn die Gehirnwindungen zerbrach, sah ich nach vorn zum Kutscher, der sein Gefährt gekonnt durch die Straßen lenkte.

Kurz darauf saß ich auch schon beim Arzt. Im Wartezimmer musste ich nicht lange ausharren, da ich gerade der einzige Besucher war. Es wurden mir Unmengen an Blut abgenommen, Speichelproben gemacht und Urintests verlangt. Hätte ich noch weitere Körperflüssigkeiten besessen,  hätten sie die sicher auch eingefordert. So konnte ich mich nach einer guten halben Stunden bereits wieder verabschieden und überlegen, ob ich erst einen Abstecher zu den Verlorenen Wölfen machen sollte, oder direkt zu Gaare ginge. Da Gaares Haus geografisch näher lag, entschloss ich mich, erst mal bei ihm vorbeizusehen.

Als ich auf die Straße hinaustrat, hatte es zwar nicht aufgehört zu regnen, aber deutlich nachgelassen, sodass ich mich entschloss, das Stück zu Gaare zu Fuß zurückzulegen. Zum Glück langen alle meine heutigen Anlaufstellen im gleichen Bezirk, sonst müsste ich mir ja einen Wolf rennen. Über meinen eigenen Wortwitz nicht los zu prusten war gar nicht so einfach.

Warum hieß das eigentlich so? Einen Wolf rennen. Vielleicht, weil Wölfe so gerne rannten und das auch den ganzen Tag tun konnten? Nun ja, nicht so Schumimäßig, aber in einem angebrachten Tempo konnten sie viele Kilometer ohne anhalten zurücklegen. Worüber ich mir nun schon wieder den Kopf zerbrach, war kaum zu glauben, aber es war immer noch besser, als mich mit meinen eigentlichen Problemen auseinander zu setzen. Mit denen musste ich mich sowieso gleich befassen, nun ja, zumindest mit einen von ihnen, da brauchte ich mir nicht jetzt schon den Schädel zu zermartern.

Auf der Suche nach Ablenkung, ließ ich meinen Blick über die Straßen, Häuser und Geschäfte gleiten. Es waren nun deutlich mehr Leute unterwegs, als noch vor einer Stunde. Zum Beispiel der gehetzte Mann, der alle zwei Schritte auf seine Uhr sah und leise vor sich hin fluchte. Oder die drei Frauen mit den beiden Kindern, die halb geschützt unter einem Baum standen, als warteten sie auf etwas. Auf dem Boden vor ihnen lag ein großer, afrikanischer Wildhund, der aufmerksam die Umgebung im Auge behielt und … Moment, Wildhund? Das war doch ein Lykaner!

Abrupt blieb ich stehen. Die drei Frauen und die beiden Kinder, sie trugen grüne Lendenschurze. Die Haare waren in verschiedenen Farben gefleckt. Die schwarze Grundfarbe war mit braunen, rötlichen, gelben und weißen Flecken durchsetzt. Kein Zweifel, das da drüben waren Lykaner. Aber … hatte ich einen an der Waffel? Das war schon das zweite Mal heute, dass ich welche sah. Seit wann trieben sich diese Werwesen in Sternheim herum? Und dann auch noch mit ihren Kindern, die sie unter allen Umständen vor der Außenwelt beschützten? Das war … seltsam.

Stirnrunzelnd setzte ich meinen Weg in den Straßen von Sternheim fort. Irgendwas stimmte hier nicht, ganz und gar nicht. Erst die Sache mit den Protestanten, die wie von Zauberhand verschwunden waren und jetzt lungerten auch noch Lykaner in der Stadt herum. Vielleicht hatten die Wandler meine nervigen Anhängsel ja gefressen. Auch wenn das nicht sonderlich nett war, zauberte dieser Gedanke ein Schmunzeln auf meine Lippen.

Doch das sollte heute nicht die letzte Begegnung dieser Art für mich gewesen sein.

Gut zehn Minuten später bog ich in die Straße von Gaare ein, die zu beiden Seiten von hübschen Einfamilienhäusern mit Gärten gesäumt war – so eine richtige Vorstadtsiedlung mitten in der Stadt –, als ich sie sah. Zwei Männer mit lohfarbenen Haar in Lendenschurz, die, gefolgt von drei großen Dingos, dem Straßenverlauf nachgingen.

Okay, das war das dritte Mal innerhalb von zwei Stunden. Jetzt war ich mir sicher, dass hier etwas nicht stimmte. Das waren einfach zu viele Zufälle auf einmal. Hier war etwas im Busch und meine Neugierde war gepackt.

Ich beeilte mich hinter den Lykanern herzukommen. „Hey, ihr, wartet mal kurz.“

Keine Reaktion.

„Hey!“ Ich überbrückte die letzten Meter zu ihnen hastig und berührte den hintersten am Arm, woraufhin er knurrend herumwirbelte und mich so erschreckte, dass ich eilig zwei Schritte zurückwich. Er zeigte mir die Zähne – nein, es war kein Lächeln – und fixierte mich auf eine Art, die mich ganz weit weg wünschen ließ.

„Hör auf damit, ich will dich doch nur etwas fragen.“ Meine Stimme klang fest und bestimmt, auch wenn alles in mir dazu riet, diese Aktion einfach abzubrechen und ganz schnell das Weite zu suchen.

„Ich habe aber kein Interesse daran, mit dir zu sprechen!“

Ob ich ihm darauf hinweisen sollte, dass er das gerade getan hatte, um sich mir mitzuteilen? Ne, besser nicht, einen Lykaner sollte man nicht unnötig reizen. „Ich wollte doch nur wissen …“

„Ich an deiner Stelle würde das lassen, Jedoin.“

Bei der vertrauten Stimme von Najat, dem Alpha des Steinbachrudels, wirbelte ich herum. Klein und machtvoll schritt er über die Straße auf uns zu, drei seiner Wölfe hinter ihm, von denen ich die blonde Wölfin noch nie gesehen hatte. Aber seine Augen waren nicht auf mich gerichtet, sondern auf einen Punkt hinter mir.

Ich folgte seiner Blickrichtung und entdeckte einen lohfarbenen Dingo, der mich anpeilte, in Angriffsposition auf dem Boden kauern.

„Bei allem Respekt, Najat“, kam es von dem Mann, der mich so angepflaumt hatte, „du bist nicht unser Alpha, also warum sollten wir auf dich hören?“

Eine ausgesprochen gute Frage. Ich hoffte einfach mal, dass Najat darauf eine genauso gute Antwort wusste.

Um die Mundwinkel von dem Alpha spielte ein leicht überlegendes Lächeln – vielleicht auch ein Zähnefletschen –, das die Dingos alle einen Schritt zurücktreten ließ. „Zum einen, weil die Lykaner jeden jagen werden, durch den wir in einer solchen Situation wie im Moment vor den anderen Wesen weiter in Verruf gebracht werden und zum anderen, weil Talita unter dem Schutz verschiedener Alphas steht, unter anderem auch unter meinem.“

Ich stand … bitte was? Das war mir ja völlig neu.

„Ach ja?“, wollte der Knurri wissen. „Warum?“

„Weil sie viel für die Lykaner getan hat und weil sie die Hüterin der Verlorenen Wölfe ist.“

Nun hatte ich die Aufmerksamkeit aller Werwölfe in der Nähe und, naja, es fühlte sich nicht so toll an wie es sollte. Eher so, als säße ich auf einem Silbertablett, mit einem schönen, roten Apfel im Mund.

Mit einem leicht verlegenden Lächeln winkte ich den Dingos zu. „Hi, nett euch kennenzulernen.“

„Sie ist eine Katze“, spie Mister Grummelig aus.

„Oh bitte, immer diese Vorurteile.“

Sein Gesicht verfinsterte sich.

Klasse Talita, reiz ihn nur immer weiter, das wird eure aufblühende Freundschaft sicher fördern. Innerlich gab ich mir einen festen Tritt in den Hintern.

Der Dingo, der auf dem Boden gekauert hatte, dieser Jedoin, setzte sich auf und betrachtete mich mit regem Interesse. „Ich habe von dir gehört und es ist mir eine Ehre, dich einmal persönlich zu treffen.“

Er hatte von mir gehört? Sollte das etwa heißen, dass ich sowas wie eine kleine Berühmtheit unter den Lykanern war? Das eine sanfte Rötung meine Wangen hinaufkroch, konnte ich nicht verhindern und wusste auch nicht so recht, ob ich mich geschmeichelt, oder peinlich berührt fühlen sollte. Er sagte, es sei ihm eine Ehre, mich zu treffen. Ehre, als sei ich etwas Besonderes.

Bevor noch jemand ein Wort verlieren konnte, nahm Najat mich beim Arm und nickte den Dingos zu. „Grüßt Zephyr von mir. Wie sehen uns sicher morgen.“

Auch die Dingos nickten und machten sich dann wieder auf den Weg.

Nein, Moment, ich hatte noch keine Antwort bekommen. Ich wollte gerade den Mund aufmachen, als Najat mich anzischte, still zu sein. O-kay. Also blieb ich stumm und wartete, bis die fünf Lykaner außer Sichtweite waren.

„Es ist nicht klug von dir, dich fremden Lykanern zu näheren“, belehrte Najat mich. „Das solltest du eigentlich wissen.“

„Ich wollte sie doch nur etwas fragen“, verteidigte ich mich sofort.“

Najat ließ meinen Arm los und trat einen Schritt zurück. „Im Moment ist mein Volk sehr leicht reizbar und es ist nicht schlau, sie zu bedrängen. In welche Richtung musst du?“

Etwas verwirrt, über den abrupten Themenwechsel, nickte ich einfach nur die Straße rauf.

Najat setzte sich in Bewegung, seine drei Wölfe hinter ihm her. Als ich mich nicht von der Stelle rührte, deutete er mir, ihn zu begleiten.

Na gut. Vielleicht hatte ich von dieses Dingos keine Antworten bekommen, aber Najat würde sie mir sicher liefer. Ich eilte an seine Seite. „Warum sind sie denn alle so reizbar. Und was macht ihr eigentlich alle in der Stadt?“

„Kannst du dir das denn nicht denken?“, stellte er die Gegenfrage.

„Wenn ich es mir denken könnte, müsste ich ja nicht so blöd nachfragen.“

Das ließ auf Najats Lippen ein kleines Lächeln entstehen. „Die Verhandlung vor dem Hohen Rat zum Verbleib unseres Volkes beginnt morgen.“

Und da machte es bei mir Klick – ja ja, schon klar, lange Leitung und so. „Deswegen bist du auch hier.“

„Ja.“ Er wandte mir den Kopf kurz zu, bevor er gemächlichen Schrittes weiterging. „Verschiedene Alphas, darunter auch ich, wurden von dem Hohen Rat zu einer Aussage vorgeladen.“

Oh scheiße. „Das tut mir leid.“

„Warum? Warst du es, die uns dazu gedrängt hat, unsere Reviere zu verlassen, um zu verhindern, dass wir Aussätzige werden?“

„Nein.“

„Dann braucht es dir nicht leidtun, dich trifft keine Schuld.“

Zwei Schritte. „Welche Alphas wurden den eingeladen?“

„Alle, die vor einem Jahr von den Entführungen betroffen waren.“

Das hatte ich befürchtet.

„Aber bis morgen werden Rudel aus der ganzen Welt eintreffen.“

„Was? Warum?“

„Na, was glaubst du denn? In den nächsten Tagen wird über den Fortbestand einer ganzen Rasse entschieden. Das betrifft auch Lykaner aus anderen Ländern und Kontinenten. Wir werden vor dem Weltrat stehen und um eine Zukunft bangen, die im Moment noch ungewiss ist.“

Oh verdammt, soweit hatte ich die ganze Zeit gar nicht gedacht. Natürlich wusste ich, dass eine solche Entscheidung eine Menge Leute betreffen würden, nur irgendwie war ich da immer nur bei den Rudeln, die ich persönlich kannte. Das noch viele Wesen mehr, die ich gar nicht kannte, davon betroffen sein könnten, daran hatte ich gar nicht gedacht. „Wie viele … wie viele Rudel gibt es denn?“

„Ein paar hundert.“

„Hundert?“, quietschte ich mit der Minnie- Mouse-Version meiner Stimme.  

„Ein paar hundert, so zwei bis dreihundert Rudel.“

Vor uns verließ eine Frau mit ihrem kleinen Sohn das Haus. Sie lachten und wollten durch den Garten gehen, doch als sie Najat in Begleitung drei Wölfe sah, zog sie sich mit einem panischen Blick samt Kind sofort wieder ins Haus zurück.

Najat tat so, als hätte er es nicht bemerkt, doch der Zug um seinen Mund verhärtete sich leicht. Er wollte nicht, dass man ihn als Monster sah, dass die Lykaner als Bestien abgestempelt wurden. „Es gibt sehr kleine Rudel, die gerade mal eine Handvoll Leute Zählen, Familienrudel. Und dann gibt es Rudel, die hundert Seelen ihr Eigen nennen. Das Größte zurzeit existierende Rudel sind die Rajawölfe. Sie vermehren sich wie die Karnickel und sind ziemlich aggressiv gegenüber Fremden.“

„Von denen habe ich noch nie gehört.“

„Sie leben auch nicht hier in Fruxterra, sondern an den Wasserfällen von Gebrim in Cataracta.“

Ich hatte bei Gaare einmal einen Globus dieser magischen Welt gesehen. Sternheim lag so ziemlich in der Mitte von Fruxterra, das auf dem Kontinent Florescere – einer von drei Kontinenten in dieser Welt. Cataracta befand sich auf dem Erdteil Incredibilis, genau auf der anderen Seite. „Und diese Rajawölfe, die werden auch hier auftauchen?“

„Sie sind bereits seit gestern in der Stadt. Ich habe sogar schon mit Opaja, der Alphahündin des Rudels, persönlich gesprochen.“

Schon gestern? „Wie viele Rudel werden denn noch kommen?“

„Du kannst davon ausgehen, dass bis morgen Angehörige aus jedem Rudel der Welt hier auftauchen werden. Einzelgänger werden sicher auch erscheinen.“

Oh. Mein. Gott. Das konnte doch nur nach hinten losgehen. So groß war die Stadt ja nun auch nicht und bei mehreren hundert Rudeln, hieß das … tausende von Lykanern an ein und demselben Ort. Ich erinnerte mich noch sehr gut an die Rudelversammlung im letzten Jahr und da waren nur knapp ein Dutzend Rudel an einem Ort gewesen. Die Stimmung damals war horrormäßig gewesen, um es mal schlicht auszudrücken. Aggression und Feindseligkeit hatte in der Luft gelegen. Alle knurrten sich gegenseitig an und jetzt sollten mehrere tausend Lykaner aus verschiedenen Rudeln aufeinandertreffen? Ich glaube, ich sollte mir dringend einen Schutzbunker suchen, bevor die ganze Sache eskalieren konnte.

Najat musste mir meine Gedanken wohl im Gesicht abgelesen haben, denn er lachte leise. „Mach dir keine Sorgen, wir werden uns benehmen. Es steht zu viel auf dem Spiel, als dass es anders sein könnte. Oder hast du heute bereits von einem Beißfall mit einem Lykaner gehört?“

„Nein, aber ich vermeide es in der letzten Zeit auch akribisch, in irgendwelchen Zeitungen zu lesen.“

„Wegen dem Toten bei den Verlorenen Wölfen.“

„Du weißt davon?“

„Ich kenne die groben Umstände, aber nichts Genaueres.“ Er warf mir einen kurzen Seitenblick zu, bevor der den Kopf wieder nach vorn richtete. „Würdest du mir davon berichten?“

Eigentlich wollte ich nicht darüber sprechen, das müsste ich morgen schon tun, aber Najat war immer freundlich zu mir gewesen und war einer der wenigen Wölfe, die mich noch nie angeknurrt, oder wegen blöder Fragen schief angesehen hatte. So begann ich zu erzählen, jede Einzelheit, an die ich mich erinnern konnte.

Nachdem ich fertig berichtet hatte, schwieg er einen Moment nachdenklich. „Und du weißt nicht, wie der Junge durch den Schild konnte?“

„Nein.“ Ich schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Keine Ahnung. Der Magier vom Hohen Rat hat behauptet, dass alles in Ordnung sei und ich nach wie vor die Einzige sein dürfte, die den Schild allein überwinden kann.“

„Hm“, machte er.

„Hm?“

„Es ist schon sehr … geheimnisvoll. Hast du eine Vorstellung, was passiert sein könnte.“

Ich biss mir auf die Lippen.

„Also ja?“

„Naja, das letzte Mal, als ich jemand beschuldigt habe, lag ich völlig daneben, deswegen würde ich meine Vermutung lieber für mich behalten.“

„Und wenn ich dir verspreche, dass dieses Gespräch unter uns bleiben wird?“

Ich warf einen Blick über die Schulter zu den anderen drei Wölfen.

„Sie haben nichts gehört.“

„Ich bin taub“, sagte der Brauner mit schwarzer Maske.

„Was, habt ihr etwas gesagt?“, kam es von dem Dunkelbraunen.

„Ich muss heute irgendwas in den Ohren haben“, schloss die blonde Hündin und schüttelte den Kopf, als wolle sie sich von, was auch immer in ihren Ohren steckte, befreien. „Echt lästig, sag ich euch.“

Dass meine Mundwinkel zuckten, konnte ich nicht verhindern.

„Siehst du“, sagte Najat, „niemand wird davon erfahren.“

Seufzend gab ich mich geschlagen. „Anwar“, sagte ich. „Er war es, der den Schild errichtet hat, also wenn etwas nicht mit ihm stimmt, dann könnte er etwas damit zu tun haben.“

„Hm“, machte Najat wieder und folgte mit den Augen ein paar Lykanern in Hyänengestalt, die aus einer Seitengasse kamen, den Alpha des Steinbachrudels sahen und gleich wieder umdrehten.

„Hm? Ist das alles?“

Er zog eine Augenbraue hoch. „Was möchtest du denn hören?“

„Naja, deine Meinung. Stimm mir zu, oder mach mich nieder, wenn ich mich hier mit meinen Verschwörungstheorien zum Trottel mache.“

Das zauberte ein richtiges Lächeln auf seine Lippen. „Ich verstehe sehr gut, wie du auf diesen Gedanken kommst, mir ist er auch gleich zum Anfang deiner Erzählung gekommen, aber wie du schon sagtest, wir haben ihn schon einmal zu Unrecht beschuldigt und haben auch dieses Mal keine Beweise, die ihn zum Schuldigen machen könnten.“

Das hieß, ich war genauso weit, wie vor diesem Gespräch.

Als wir uns der Gasse näherten, sah ich, wie eine der Hyänen vorsichtig um die Ecke schielte und gleich wieder den Kopf zurückzog, als sie uns kommen sahen. Komisch.

„Warum verstecken sie sich?“

„Sie verstecken sich nicht, sie wollen nur keine Konfrontation, darum warten sie, bis wir vorbeigelaufen sind.“

„Weil es sich im Moment nicht gut im Lebenslauf eines Lykaners macht, eine Schlägerei auf dem Kerbholz zu haben.“

„Ganz genau.“

Wir gingen an der Gasse vorbei, an dessen Ende die Hyänen ungeduldig warteten. „Wohin wollen sie denn?“

„Nirgendwo hin, sie erkunden nur die Gegenden von Sternheim und sehen, welche anderen Rudel bereits eingetroffen sind.“

„Sowas wie Späher?“

„Ganz genau. Sie machen im Moment das Gleiche wie wir.“

Mit „Wir“ waren wohl er und seine Wölfe gemeint, weil ich hier ganz sicher nicht rumrannte, um andere auszuspionieren. „Wo schlaft ihr eigentlich während der Zeit, die ihr in der Stadt seid?“

„Willst du mir ein Bett anbieten?“

Mein Gesicht sprach wohl Bände, weil er wieder leise anfing zu lachen. Mal ehrlich, Najat war ja nett und ich hatte auch kein Problem damit, ihn und seine Leute für eine paar Tage bei mir unterzubringen, aber da waren noch Pal, Kaj und Raissa und das würde dann vermutlich doch zu Mord und Totschlag führen. Und Blut ging immer so schwer aus dem Teppich raus.

„Mach dir um uns keine Sorgen, wir haben uns ein kleines Lager am Rand von Sternheim aufgebaut, wohin wir uns zurückziehen können.“

In meinem Kopf entstand ein Bild Zelten und Campingausrüstung. Ob Wölfe wohl Campen konnten? „Und die anderen Lykaner? Ich meine, es sind so viele, wo kommen die alle unter?“

„Unser Lager ist nicht das Einzige da draußen.“ Er lächelte mich an. „Solltest du in den nächsten Tagen vorhaben Sternheim zu verlassen, nimm unbedingt einen Lykaner mit.“

Schluck. Damit waren Ausflüge außerhalb von Sternheim in den nächsten Tagen für mich wohl gestorben, obwohl ich ja wenigstens noch halbwegs wusste, wie ich mich zu verhalten hatte. Beine in die Hand nehmen und rennen das es staubte. Wie würden die anderen Bewohner von Sternheim wohl darauf regieren? So völlig eingekesselt von dem angeblichen Feind. Hoffentlich brach keine Massenhysterie aus. Aber ich konnte die Lykaner auch verstehen, dass sie am Ort des Geschehens sein wollten, schließlich ging es hier um ihre Existenz. Ein Ausschluss aus dem Codex … ich konnte mir wahrscheinlich gar nicht vorstellen, was das genau bedeutete. Vielleicht war es aber auch positiv, dass die Lykaner hier waren, so konnten die Leute sich selber davon überzeugen, dass ihre Angst einfacher Paranoia entsprang, für die es gar keinen echten Grund gab. „Was passiert eigentlich, wenn sie euch wirklich aus dem Codex nehmen?“, fragte ich leise. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Lykaner das einfach so ohne Wenn und Aber hinnehmen würden.

„Wir sind ein friedliches Volk, wollen eigentlich nur, dass man uns in Ruhe unser Leben leben lässt.“ Er blieb stehen und sah mir kalt in die Augen. „Außer man versucht uns herauszufordern.“

Ich schluckte. Die Worte hinter dieser Aussage waren klar und deutlich.

Eine Windböe zog über uns hinweg und schüttelte die Blätter der Bäume. Kalte Regentropen klatschten auf meinen Rücken. „Ah! Mist, wann hört nur endlich dieser beschissene Regen auf?!“

„In etwas mehr als zwei Wochen.“

Verwirrt hielt ich in der Bewegung inne. „Bitte?“

„Der Regen, der wird in knapp zwei Wochen nachlassen.“

„Und das weißt du, weil du ein Wetterfrosch bist und sowas fühlst“, kam es etwas herablassend über meine Lippen, woran er sich nicht zu stören schien.

„Das weiß jeder. Die Najaden sind in ihrer Balzzeit und da regnet es immer.“

Das war … diese Welt schaffte es doch immer wieder aufs Neue, mich zu überraschen. „Das heißt, weil die … äh … sich lieben, regnet es bei uns?“

„Du hast es erfasst.“

Das Ende der Straße kam in Sichtweite. Dort ganz hinten stand das kleine Häuschen von Gaare, ich war fast am Ziel. „Wir sind gleich da.“

„Wo willst du denn eigentlich hin?“

„Zu Gaare. Er hat Neuigkeiten für mich, wegen des Portals bei den Hexen und ich habe ihn darum gebeten, mich auf meine Aussage morgen vorzubereiten, damit ich nichts Falsches sagen kann, was euch in Schwierigkeiten bringen könnte.“

Najat bedachte mich mit einem seltsamen Blick, den ich nicht interpretieren konnte.

„Was, hab ich was an der Nase?“ Ich schielte auf meine  Nasenspitze.

Ein Lächeln spiegelte sich auf seinen Zügen. „Nein. Ich finde es nur immer wieder erstaunlich, was für ein großes Herz du für uns hast, obwohl wir nicht immer sehr freundlich zu dir waren.“

„Keine Ahnung, muss wohl an meiner Erziehung liegen.“

„Vielleicht.“

Unsere Schritte verlangsamten sich vor einem heruntergekommenen Einfamilienhaus. Am Zaun blätterte die Farbe großzügig ab, der Garten war verwildert und ungepflegt, die Fassade des Hauses von Wind und Wetter verwittert und das Dach der Veranda leicht eingesunken. Ein echter Krebserreger für das Auge, in dieser gepflegten Gegend. Zum Glück sah das Haus von innen besser aus. Unordentlicher, aber besser.

„Dann wünsche ich dir nun alles Gute und wir werden uns dann sicher morgen im Ratsgebäude sehen.“

„Mir wäre es ehrlich gesagt lieber, wenn ich da nicht hinmüsste. Ich will nicht gegen euch aussagen“, gestand ich ihm.

„Dann sag nicht gegen uns aus, sag für uns aus.“ Mit einem leichten Lächeln neigte er zum Abschied den Kopf und verschwand dann mir seinem Gefolge in die Richtung, aus der wir gerade erst gekommen waren. Ich dagegen bahnte mir einen Weg durch diese Wildnis namens Garten.

 

°°°

 

Als ich mich auf die alte Couch setzte, wirbelte ich dabei so viel Staub auf, dass ich sofort einen herzhaften Niesanfall bekam, bei dem ich aus Versehen auch noch einen von Gaares Bücherstapel umschmiss. Mist. Wenn er das sah, würde er mir den Kopf abreißen. Gaares Bücher waren sein Heiligtum, das niemand außer ihm berühren durfte und schon gar nicht durcheinander bringen. Das hatte ich gelernt, als ich die wenigen Wochen mit Kaj und Raissa hier gewohnt hatte, bevor ich genug Geld zusammen hatte, um mir eine eigene Wohnung zu mieten. In einem Anfall von Ordnungswahn hatten wir beschlossen, etwas auszuräumen. Zwei Minuten waren wir dabei gewesen, als plötzlich Gaare vor uns stand und das ganze eskaliert war. Er hatte nicht rumgeschrien oder so, nein, er war in eine Art Verstörtheit gerutscht, hatte nur noch dummes Zeug gebrabbelt und angefangen alles wieder so herzurichten, wie es gewesen war.

Ihn damals so zu sehen, war mir eine Lehre gewesen. Er war nicht mehr als ein alter, seniler Mann, der sie nicht mehr alle beinander hatte und ich wollte ihn nie wieder in diesem Zustand sehen. Es war beängstigend gewesen.

Mit einem schnellen Blick durch die Tür versicherte ich mich, dass Gaare noch in der Küche mit dem Tee beschäftigt war und hockte mich zu den staubigen Wälzern auf den Boden. Hoffentlich schaffte ich es, sie wieder in der richtigen Reihenfolge zu ordnen. Zum Glück waren sie halbschief an einem anderen Bücherstapel gelandet und so brauchte ich sie einfach nur wieder aufzurichten. Nur die Staubschicht würde ich nicht mehr  zustande bekommen. Naja, musste halt auch ohne gehen.

Ich rückte alles wieder grade und richtete mich auf. Einen großen Unterschied zu vorher stellte ich nicht fest, aber ich war auch nicht Gaare, der für sowas ein Gespür zu haben schien. Wie ich die ganze Sache so betrachtete, fiel mir ein Buch auf, das halb hinter den anderen Stapeln am Regal auf dem Boden lehnte und ich bekam Bammel, das es wegen mir irgendwo rausgerutscht war.

Gaare war zum Glück immer noch beschäftigt, also schnappte ich es mir und wollte es oben auf die anderen Bücher rauflegen, doch als ich es in der Hand hatte, musste ich feststellen, dass es dort wohl schon eine ganze Weile lag. In den drei Minuten konnte es nämlich nicht so einstauben, da war ich mir sicher.

Ich wollte es schon wieder zurückpacken, als ein Foto zwischen den Seiten herausfiel, geradewegs in meine Hand. Nein, das machte man nicht, aber ich war neugierig. Auf dem Bild war ein junges Pärchen abgebildet, nach der Kleidung zu urteilen, zwei Magier, obwohl das längliche Haar des Mannes auf eine Art mit Federn und Perlen durchzogen war, wie ich sie bei noch keinem Magier gesehen hatte. Keine Haarsträhne war mehr lose. Sie standen vor einem kleinen Haus und wirkten glücklich.

Aus der Küche hörte ich das Klappern von Tassen. Schnell schlug ich das Buch auf, um das Bild zurückzulegen und erst da fiel mir auf, dass es ganz anders war, als die Bücher, die sich sonst noch in Gaares Besitz befanden. Das war ein Fotoalbum. Naja, sowas in der Art.

Ein Bild mit einer Gruppe aus verschiedenen Wesen sprang mir ins Auge. Engel, Nymphen, Serpens, Lykaner? Wohl eher Therianer. Ich blätterte eine Seite um zu einem Bild von einer Harpyie, die ein kleines Mädchen im Arm hielt. Irgendwo hatte ich diese Kleine schon mal gesehen. Ach wahrscheinlich bildete ich mir das nur ein. Harpyien sahen doch alle gleich aus und da war es selbst egal, ob sie Männlein, oder Weiblein waren. Manche von ihnen wirkten einfach nur androgyn.

Ein Geräusch im Flur schreckte mich auf. Eilig steckte ich das Bild von dem Pärchen zwischen die Seiten, packte das Buch zurück an seinen Platz und sprang beinahe auf die Couch, damit Gaare nicht bemerken konnte, dass ich in seinen Sachen herumgeschnüffelt hatte.

Als er mit einem Tablett, das mit Tee und Keksen beladen war, in den Wohnraum kam, musste es für ihn aussehen, als hätte ich die ganze Zeit artig hier gesessen und auf ihn gewartet, wie es sich für einen anständigen Gast gehörte.

Unter Klappern stellte er das Geschirr auf den Tisch, servierte mir eine Tasse Tee und schob mir die Kekse zu. Dann riskierte er noch einen misstrauischen Blick zu den Bücherstapeln und ich hielt die Luft an. Hatte er etwas bemerkt? Da er dazu nichts sagte, wohl eher nicht. Erst dann setzte er sich und ergriff das Wort. „So, meine Liebe, was kann ich heute für dich tun?“

Manchmal hatte ich echt Zweifel, ob es so gut war, dass Gaare so allein und fernab von allen lebte. Wenn man sich den ganzen Tag nur mit Büchern und den Geschichten der Vergangenheit beschäftigte, konnte das ja nur mit einem Kopfschaden enden. „Du wolltest mich auf die Verhandlung vorbereiten und du hast mir erzählt, dass du einen Zirkel gefunden hast, der mich ihr Tor in meine Welt passieren lassen möchte.“

„Ah, ja, natürlich.“ Er lehnte sich zurück und schlug die knochigen Beine übereinander. Die dicke Brille rutschte ihm dabei fast von der Nase. „Wir haben in zwei Tagen ein Treffen mit ihnen, in dem sie dich kennenlernen wollen.“

Ich runzelte die Stirn. „Warum wollen sie mich kennenlernen?“

„Weil du an ihrer Macht teilhaben musst, um durch ihr Tor gehen zu können und die behalten sie lieber für sich, wie du sicher weißt.“

Ja, das wusste ich. Hexen waren, was ihre Zauberkraft anging, richtige Egoschweine. Dass sie nicht gerne teilten, war untertrieben. „Muss ich vor dem Treffen noch irgendwas wissen?“

„Nein. Sein einfach nur du selbst und spreche sehr respektvoll mit ihnen, dann kann nichts schiefgehen.“

Das konnte ich. „Okay und wegen morgen, was hast du da für Tipps für mich?“

„Bleib bei der Wahrheit.“

Ich wartete darauf, dass da noch was kam, aber er blieb stumm. „Das ist alles? Bleib bei der Wahrheit?“

„Ja.“

„Aber, da muss noch mehr sein. Das ist doch keine Vorbereitung, das ist …“ Ich fuchteltet mit den Händen in der Luft herum, weil mir kein passendes Wort einfallen wollte. „… zu wenig“, endete ich dann sehr einfallslos.

Gaare seufzte. „Meine Liebe. Ich könnte dir jetzt stundenlang erläutern, dass du souverän auftreten sollst, dich nicht zu Gefühlsausbrüchen hinreißen lassen darfst und immer ehrlich sein musst, aber ich denke, das weißt du auch schon allein. Auch, dass du mit dem Hohen Rat achtungsvoll umgehen musst, ist für dich sicher nichts Neues. Das Einzige, was ich dir sagen kann, ist, lass dich nicht nervös machen und bleibe immer bei der Wahrheit, dann kann dir nichts passieren.“

Grummelnd lehnte ich mich zurück. Das hatte ich mir schon ein wenig anders vorgestellt. „Und wie wird das morgen ablaufen?“

„Das ist eine interessante Frage.“ Er beugte sich vor, griff sich einen Keks und kaute ihn nachdenklich. „Der Hohe Rat, oder auch Weltrat, vor dem du morgen sprechen wirst, besteht aus einem Wesen jeder Gattung des Codex. Sie werden durch einen Vorsitzenden vertreten, Dandil, einem Kitsune. Auch er gehört dem Hohen Rat an.“

„Ein Kitsune?“

„Ein Fuchsgeist mit neun Schwänzen. In der Gestalt der Mortatia hat er zwei Fuchsohren und neun Schweife.“

Aha, hatte ich zwar noch nie gehört, aber gut zu wissen. „Ist auch ein Lykaner unter dem Hohen Rat vertreten?“

„Natürlich, ein Wesen aus jeder Rasse.“

Na dann hatte ich ja wenigstens schon mal eine Stimme auf meiner Seite. Besser als gar nichts. „Okay, weiter.“

Das letzte bisschen von Gaares Keks verschwand in seinem Mund. „Der Hohe Rat wird unterstützt von den Parlamentären.“

„Also von Anwar.“

„Ja, auch Anwar von Sternheim wird unter ihnen sitzen. Die Parlamentäre unterstützen den Hohen Rat und haben auch viel Einfluss auf dessen Meinungen und Entscheidungen.“

„Also sind sie so was wie die Geschworenen bei Gericht“, schlussfolgerte ich.

Gaare zog die faltige Stirn kraus, was ihm leicht das Aussehen eines Shar Pei gab. „Ich kann dir nicht ganz folgen, dieser Begriff ist mir nicht bekannt.“

„Geschworene sind Leute, die unabhängig vom Richter über die Schuld eines Angeklagten bei Gericht entscheiden. Manchmal bestimmen sie auch das Strafmaß.“

„Ja, so könnte man die Aufgabe der Parlamentäre bei diesem Verfahren bezeichnen. Obwohl hier ja niemand bestraft wird.“

„Das kommt darauf an wie man es sieht. Wenn die Lykaner aus dem Codex fliegen, ist das ein Urteil und zwar ein Schlechtes.“

„Du hast Recht“, sagte er nachdenklich und griff sich einen weiteren Keks. Das Gaare nicht mehr wie ein Strich in der Landschaft war, bei den Unmengen, die er manchmal in sich reinstopfte, konnte wirklich nur mit Magie zusammenhängen. „Wie dem auch sei. Du wirst in der Mitte des Auditorium vor dem Konsortium sitzen und die Fragen beantworten, die sie dir stellen.“

„Äh … ja, geht das auch auf Deutsch?“

„Deutsch?“

„In Worten die ich verstehe. Was ist ein Audio Dingsda und dieses Kon was weiß ich.“

„Auditorium und Konsortium.“

„Genau.“

„Das Auditorium ist der Anhörungssaal, in den du morgen sprechen sollst und das Konsortium ist der Hohe Rat und die Parlamentäre zusammen, die über den Verbleib der Lykaner im Codex und ihrer Zukunft entscheiden werden.“

Das hörte sich nach einer ganz schön großen Menge an. „Wie viele Leute werden denn morgen da sein?“

„Dreiundsiebzig eingeschriebene Spezies im Codex und hundertfünfzig Parlamentäre. Dazu kommen noch die Zuschauer.“

„Zuschauer?“

„Natürlich. Dies ist ein großes Anliegen, das nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden kann, da die Entscheidung weitreichende Folgen für die ganze Weltbevölkerung haben wird.“

Oh Mist. Diese ganze Angelegenheit wurde ja immer größer und größer. Wie sollte ich das nur schaffen?

 

°°°

 

Als ich nach dem Besuch bei Gaare bei den Verlorenen Wölfen ankam, hatte es wieder stärker angefangen zu regnen. Blöde Najaden, konnten die ihr Brunftgehabe nicht wann anders abziehen?

Schon von weiten sah ich den Auflauf der Wesen am Schild und nun wusste ich auch, wo meine Protestanten abgeblieben waren. Sie waren hier und taten das, was sie am besten konnten, sie machten mir das Leben schwer. Und sie hatten sich vermehrt. Also nicht so mit Liebe, Sex und Zärtlichkeit, sondern sie waren auf die dreifache Menge angewachsen – mindestens – um ihre Proteste an den Mann zu bringen. Damit lockten sie weitere Schaulustige an, die ihren Worten interessiert lauschten, oder einfach gleich mit einstimmten und ihre Meinung dazu lautstark verkündeten.

Die Anführerin, die Harpyie war auch wieder dabei. Sie stand auf einer Kiste, um die Menge zu überblicken, ein Protestschild mit dem Gesicht des toten Elfenjungen in der Hand. „Werden wir uns das gefallen lassen?“, schrie sie der Menge zu.“

„Nein!“, antwortete der mehrstimmige Chor unison.

„Werden wir Mörder in unserer Mitte dulden?“

„Nein!“

„Werden wir es zulassen, dass der Rat die falsche Entscheidung triff?“

„Nein!“

„Dann folgt meinem Ruf, verbannt das Tier, sie sind nicht wie wir! Verbannt das Tier, sie sind nicht wie wir, verbannt das Tier …“

Oh, heute mal ein neuer Slogan, der alte war aber auch langsam langweilig geworden. Nur an dem Inhalt sollte sie noch ein wenig feilen, der war bereits irgendwie abgedroschen.

Ich versuchte mich unbemerkt an der Menge vorbei zu schmuggeln, doch das Schicksal meinte es heute einfach nicht gut mit mir.

„Seht, die Hüterin dieser Bestien!“, schrie die Harpyie so laut, dass mir ihre Stimme in den Ohren klingelte.

Scheiße, war das Einzige was ich dachte, als diese Masse sich mir geschlossen zuwandte. „Sie mag keine von ihnen sein, aber sie ist auf ihrer Seite. Nur sie kann das Schild durchtreten, sonst niemand und trotzdem wurde Allean im Park gefunden. Was sagt uns das?“, brülle die Harpyie weiter.

Oh Mist, die wollte es heute aber wirklich wissen. Ich wusste, dass es besser wäre, wenn ich sie einfach ignorierte und meiner Wege ging, im Schutzschild käme sie nicht an mich ran, aber ich konnte das einfach nicht auf mir sitzen lassen. „Sie sind keine Bestien“, rief ich in die Menge und sah denen in die Augen, die mir am nächsten standen. „Ja, sie sind anders, deswegen aber noch lange keine Monster und Mörder. Was mit dem Jungen passiert ist war ein schrecklicher Unfall mehr nicht.“

„Das sagst du doch nur, weil du Gefühle für sie hast, weil sie dich zu einem der ihren gemacht haben. Du bist genauso eine Mörderin wie sie. Ohne dich kommt nämlich niemand durch den Schild!“

Woher wusste sie … ah, sie meinte bestimmt freundschaftliche Gefühle. Das hoffte ich zumindest. „Es war ein Unfall wie er jeden Tag passiert, mehr nicht.“

„Ein Unfall!“, höhnte sie und wandte sich wieder den Wesen die sie umringten zu. „Habt ihr das gehört, sie bezeichnet diesen Tod, das Zerreißen von einem unschuldigen Jungen, als einen einfachen Unfall. Wahrscheinlich weiß sie nicht einmal wie er hieß, oder?“

Eiskalt erwischt. Nein ich wusste nicht wie der Junge hieß. Ich hatte mich so gut wie es ging von allem ferngehalten, weil mir das auch so schon genug zusetzte. Und sie wusste es, sie sah es mir an.

„Natürlich weiß sie nicht, dass er Allean von Sternheim hieß. Sie weiß nichts über ihn oder seine Angehörigen, die er zurückgelassen hat, weil es sie einfach nicht interessiert! Wahrscheinlich findet sie es sogar witzig was passiert ist. Das ist krank, sie ist krank!“

„Krank!“, wiederholte die Menge und plötzlich war ich umgeben von feindlichen Blicken. Mir wurden Parolen und wüste Beschimpfungen an den Kopf geworfen. Ein paar Leute der aufgeheizten Menge versuchten sogar an mich ranzukommen, nach mir zu greifen und dann flog etwas haarscharf an meinem Kopf vorbei. Verdammt, wo waren die Wächter, wenn man sie brauchte? Sollten die in so einer heiklen Situation nicht eigentlich hier sein, jetzt so kurz vor der Anhörung?

„Schnappt sie euch!“, rief irgendwer und dann drängte die Menge auf mich zu. Für mich gab es nur einen Ausweg, aus dieser Sache unbeschadet rauszukommen, die Fluch in den Schild.

Ich fackelte nicht lange, sondern gab Fersengeld. Nur drei Meter, der Schild floss wie Wasser um mich herum und ich war im Park, doch ich blieb nicht stehen, da sie Dinge nach mir warfen und die kamen sehr gut durch die Barriere. Erst am Rand der ersten Bäume hielt ich einen Moment an und blickte zurück auf die tobende Menge. Über sie hinweg konnte ich den feindlichen Blick der Harpyie sehen. Für diesen Tag hatte sie erreicht was sie wollte, sie hatte die Menge gegen mich aufgebracht.

 

°°°

 

Die Dämmerung war schon auf dem Vormarsch, als ich am Abend erschöpft nach Hause kam. In der ganzen Wohnung war es dunkel, doch aus dem Wohnraum kamen die Stimmen mehrerer Personen. Darunter auch … meine eigene? Ach klar, das Flimmerglas, da schaute sich jemand Erinnerungen an.

Ich legte meinen Beutel auf den kleinen Schrank unter der Garderobe und folgte den Geräuschen ins Wohnzimmer. In trauter Dreisamkeit saßen sie auf der Couch und folgten den Ereignissen, die Pal mit der Azalee auf das Glas projizierte. Ein Blick genügte, um mir den Moment in Erinnerung zu rufen. Der letzte Geburtstag der Drillinge. Ja, da war die Welt für mich noch in Ordnung gewesen – so mehr oder weniger. Auch Veith war dabei gewesen. Er stand im Hintergrund des Bildes und beobachtete mich. Obwohl, wahrscheinlich war das nur Wunschdenken und er guckte einfach nur zufällig in meine Richtung.

Wie von selbst wanderte meine Hand zu dem Armband. Wo er wohl gerade war? Was er wohl gerade tat?

Du musst echt masochistisch veranlagt sein, warum sonst würdest du dir nach so einem Tag noch solche Gedanken machen?

Seufz.

„Guck mal, mein Knie, das war ganz voller Blut und Mamá hat heute fast die Mamá von Griet gebissen!“

Völlig entgeistert sah ich zu Raissa, die mir stolz ihr aufgeschlagenes Knie präsentierte. Aber der Anblick entsetzte mich weniger, als ihre Worte. „Du hast jemanden gebissen? So richtig als Wolf mit Zähnen?“ Wow, da war es wieder, mein Minnie-Mouse-Quietschen.

Genervt verdrehte Kaj die Augen. „Ich habe niemanden gebissen und du“, – sie piekte Raissa leicht in die Seite, sodass die kicherte, weil es kitzelte – „erzähl nicht immer solche Horrorgeschichten, oder willst du, das Tante Tal einen Herzinfarkt bekommt?“

Den hatte ich heute definitiv schon erlitten. „Okay, du hast also niemanden gebissen, aber was ist dann passiert?“ Ich bewegte mich durch den Raum und ließ mich in meinen Sessel fallen, da sah ich es, Kajs Gesicht. „Oh mein Gott, was ist denn mit dir passiert?“

„Eine kleine Meinungsverschiedenheit.“

„Bitte?“

Pal klatschte einmal in die Hände, was mich zusammenzucken ließ. „Komm, Raissa, machen wir dich fertig fürs Bett und lassen die Frauen einen Moment allein.“ Er erhob sich und reichte der Kleinen die Hand, die von ihr widerwillig betrachtet wurde.

„Jetzt schon?“

„Klar und wenn wir schnell genug sind, dann können wir uns im Bett noch eine Höhle bauen, bevor deine Mamá kommt.“ Schwupp, sie schnappte sich nicht nur die Hand, sondern gleich den ganzen Pal und zerrte ihn mit sich nach draußen. Dabei trieb sie ihn wortreich zur Eile an.

Ich rutschte nach vorn an die Sesselkannte, näher zu Kaj hin. Vorsichtig drehte ich ihr Gesicht am Kinn zu mir. Das sah echt schlimm aus. Das linke Auge war leicht zugeschwollen und blau und an der Stirn prangte eine dicke Platzwunde. „Was ist passiert?“

„Nichts weiter“, winkte sie ab und entzog mir ihr Kinn. „Bin nur mit eine der anderen Mamás zusammengestoßen.“

„Und wie bist du mit ihr zusammengestoßen?“

Sie stöhnte genervt, als wollte sie sagen, dass ich daraus doch nicht so ein Drama machen sollte. „Raissa hat auf dem Schulhof mit ein paar der Jungs aus ihrer Klasse gespielt und hat sich dabei das Knie aufgeschlagen. Der eine Junge, Drian, ein Vampir, hat in die offene Wunde gepiekt. Das hat natürlich wehgetan, also hat Raissa ihn angeknurrt.“

Das konnte ich mir gut vorstellen. Und Vampire und Blut? Keine gute Kombination, nicht in dem Alter, wo sie noch häufig einfach ihren Instinkten folgten. „Und weiter?“

Kaj strich sich die losen Haarsträhnen hinters Ohr. „Die Mutter von Griet – eine Rakshasi – hat das mitbekommen und war wohl der festen Überzeugung, dass Raissa den kleinen Jungen gleich fressen würde, weil sie ja ein Lykaner ist und alle Lykaner Mörder sind, auch schon mit sieben Jahren. Als ich dazukam, hatte sie Raissa gerade am Arm gepackt und schrie ihr Dinge ins Gesicht, die …“ Bei der Erinnerung atmete Kaj tief ein und schaffte es kaum die Wut und den Hass, die sie auf diese Frau empfand, zu unterdrücken. „Ich bin natürlich auf sie zu, habe sie gepackt und von Raissa weggezogen und ihr erklärt, was passieren würde, sollte sie noch einmal Hand an meine Tochter legen.“

Ich konnte mir geradezu vorstellen, wie Kaj ihr ganz ruhig und sachlich erklärt hatte, wie sie sie ganz langsam filetierte und in Streifen schnitt, sollte sie noch einmal versuchen auch nur in Raissas Richtung zu niesen. „Und wie bist du zu deiner Scream-Visage gekommen?“

„Zu was?“ Verwirrt zog sie die Augenbrauen in die Stirn.

„Na zu dem blauen Auge und der Platzwunde.“

„Naja, als ich sie weggezogen habe, hab ich …“ Die folgenden Worte murmelte sie so leise, dass ich nicht verstand.

„Was hast du?“

Ihre Fingernägel schienen plötzlich sehr interessant zu sein, so wie sie die inspizierte.

„Kaj, was hast du getan?“

„Ich hab mich mit ihr gekeilt.“

„Auf dem Schulhof?“

„Na glaubst du, ich habe sie erst höflich vor die Tür gebeten, um ihr da ihren dreckigen Hintern aufzureißen? Natürlich auf dem Schulhof!“

„Oh Kaj.“ Ich ließ mich zurück in den Sessel fallen und war kurz versucht, einfach die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen. Das war nicht gut, das war überhaupt nicht gut. Kaj durfte sich nichts zuschulden kommen lassen, nicht mal Müll auf die Straße schmeißen. Sie war immer noch auf Bewährung und wenn der Hohe Rat davon Wind bekam, dann … „Und jetzt?“

„Ich darf das Schulgelände nicht mehr betreten und Raissa ist vorerst vom Unterricht ausgeschlossen. Der Direktor meinte, es wäre für alle Beteiligen das Beste. Zumindest bis der Hohe Rat entschieden hat, ob Lykaner nun Mortatia, oder wertlose Tiere sind.“

„Das hat er gesagt?“

„Nicht mit diesen Worten, aber die Botschaft ist bei mir angekommen. Lykaner sind nirgends mehr willkommen.“

Und das, wo die Stadt gerade von ihnen überlaufen wurde. Ich nahm Kajs Hand und drückte sie leicht. „Es wird schon alles wieder in Ordnung kommen, du wirst schon sehen.“

 

°°°°°

Tag 459

„Nein, nicht das, gib mir das da.“

„Das?“

„Genau. Du wirst sehen, das schmeckt fantastisch.“

Müde strich ich mir durch die grünen Haare, gähnte einmal herzhaft und schlürfte den Stimmen folgend in den Wohnraum. „Morgen“, nuschelte ich meinen Mitbewohnern zu, die fleißig nebeneinander am Herd fuhrwerkten.

„Morgen“, trällerte Kaj ein wenig zu fröhlich zurück und schaufelte überschwänglich dampfendes Rührei mit einer Kelle aus der Pfanne in die Schüssel, die Pal ihr hinhielt.

Die verführerischen Düfte des Essens schwebten durch die Luft, aber ich wusste jetzt schon, dass ich nichts runterbekommen würde. Heute war der erste Tag der Anhörung und dieses Wissen lag mir schwer im Magen.

Während Kaj die Gewürze zurück in den Schrank räumte, stellte Pal die Schüssel auf den Tisch und reichte mir anschließend meinen morgendlichen Tee. „Hier.“

„Danke.“

Wie eine Einheit funktionierten die beiden und halfen sich gegenseitig das Frühstück vorzubereiten, Teller, Besteck, Brot, Belag – in völligem Einklang. Kaj holte die Sachen aus dem Schrank und Pal stellte sie auf den Tisch.

Seit wann waren die beiden so dicke miteinander? Ich beobachtete das ganze argwöhnisch und fragte mich, wer von den beiden als erstes ein Messer ziehen würde, um es dem anderen in den Rücken zu rammen – wobei ich ja auch Pal tippte –, aber alles blieb seltsam friedlich.

„So.“ Kaj trocknete sich ihre Händen an einem Geschirrtuch ab und warf es dann auf die Anrichte, während Pal sich schon an den Tresen setzte und sich den Teller mit Essen belud. „Ich geh jetzt Raissa wecken und dann können wir frühstücken.“

Meine Antwort war ein sehr undamenhaftes Grunzen in meine Tasse, dass sie mit einem Schmunzeln zur Kenntnis nahm, bevor sie den Raum verließ.

Mein Blick glitt ein weiteres Mal misstrauisch von einem zum anderen und ich erwischte Pal dabei, wie er Kaj hinterher sah. Okay, vielleicht war ich noch nicht ganz wach und hatte Spinnweben im Hirn, aber das war ganz sicher nicht normal. Kaj, die viel zu gut gelaunt war, Pal der seine Augen nicht von ihr ließ und niemand schrie, wegen irgendwelcher blöden Streiche. „Sag mal, was läuft da eigentlich zwischen dir und Kaj?“, fragte ich ganz nebenbei.

Sofort schnellte sein Blick von der Tür zu mir und dann konzentrierte er sich hastig auf seinen Teller. „Was soll da schon laufen?“

„Keine Ahnung, sagt du es mir.“ Vorsichtig nippte ich an meinem Tee und genoss meine Dosis Koffein am Morgen. Vor ein paar Monaten hatte ich festgestellt, dass ich mit dem Zeug wesentlich schneller wach wurde, aber sowas wie Kaffee kannte man hier nicht. Ob ich früher Kaffeetrinker gewesen war?

„Sie ist halt einfach anders, als ich bisher geglaubt habe.“

Mann, so wie er auf sein Brot starrte, musste es ja aufs übelste interessant sein. „So, so, anders.“ Ob ich ihm sagen sollte, dass sein Gesicht gerade genauso rot war, wie seine Haare? Ne, das wäre gemein. Aber das zwischen den beiden sollte ich auf jeden Fall im Auge behalten, das würde sicher noch interessant werden.

„Ja, anders. Auch wenn sie es nicht so zeigt, die Sache mit Cree hat sie ganz schön mitgenommen. Sie braucht das jetzt einfach.“

Mir war das klar, aber dass er das wusste, überraschte mich dann doch ein wenig. Andererseits hatte Pal schon immer ein sehr sensibles Gespür für so etwas gehabt. „Danke“, sagte ich, beugte mir über den Tresen und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Er lächelte still auf seinen Teller.

„Grins nichts so selbstverliebt, das bekommt dir …“ Das Klingeln an der Tür unterbrach mich. Stirnrunzelnd sah ich hinüber zur Uhr an der Wand und verfluchte innerlich den Erfinder der Klingel. Immer wenn es in der letzten Zeit an der Tür geschrillt hatte, waren meine Probleme anschließend größer geworden.

„Ich kann auch gehen“, bot Pal an.

„Nein, bleib mal sitze und iss, ich mach das schon.“ War ja schließlich meine Wohnung, auch wenn ich mich im Augenblick lieber irgendwo versteckt hätte.

Als ich in den Korridor trat, scheuchte Kaj gerade eine halb verschlafende Raissa ins Bad. „Lass die Probleme am besten einfach vor der Tür stehen“, riet sie mir und schloss hinter sich die Tür zum Feuchtraum.

Tja, ich war hier wohl nicht die Einzige, die leicht paranoid war.

Seufzend öffnete ich die Haustür unten mit dem Summer und bereitete mich schon auf das schlimmste vor, als ich beobachtete, wer da mit einem breiten Grinsen die Treppe rauf kam. „Big Daddy?“

Sein Anblick erstaunte mich an diesem Morgen wohl mehr als die Tatsache, dass Pal sich entschlossen hatte, nett zu Kaj zu sein, da es dieser Kater sonst nur äußerst selten schaffte, vor dem Mittag aus dem Bett zu fallen. „Was machst du denn hier?“

„Na ich kann doch nicht zulassen, dass man dich allein den Hunden vorwirft.“ Er trappte die letzten Stufen hinauf und zog mich in eine Umarmung, die mir das Atmen leicht erschwerte. „Ich bin hier um dich tatkräftig zu unterstützen und jedem Hund die Nase zu zerkratzen, der einen falschen Schritt in deine Richtung macht.“

Oh, das war so süß. Für einen Moment war ich so gerührt, das mir Tränen in die Augen schießen wollten, doch dieser Moment verging mit seinen nächsten Worten.

„Süße, aber über deine Haarfarbe müssen wir uns noch einmal dringend unterhalten, du bist so gar nicht der Typ für grün.“

Tja, so sah die tatkräftige Unterstützung einer haarschneidenden Katze aus.

 

°°°

 

„Scheiße, was ist denn hier los?“

Ich war nicht die Einzige, die bei diesem Anblick unter dem verhangenem doch trockenem Himmel große Augen bekam, dem Kutscher ging es nicht anders – ja, wir mussten wieder ein Taxi nehmen, weil mein Moob immer noch beschmiert war. Sofort zog er die Zügel und brachte das Gefährt zum Stehen, die Augen auf die Lykaner gerichtet, die sich hier auf dem Platz, rund um das Ratsgebäude versammelt hatten.

Zu behaupten, das Ratsgebäude wäre von vielen Lykanern besucht, wäre eine maßlose Untertreibung. Alles war voll mit ihnen. Also, hier war ja immer viel los, aber das war der helle Wahnsinn. Najats Worte zu hören und dann sowas zu sehen, waren doch zwei ganz verschiedene Paar Schuhe.

„Ich muss Sie bitten hier auszusteigen, ich werde nicht weiterfahren“, ließ der Kutscher verlauten.

Also noch so ein Schisser. Was glaubte er eigentlich, was passieren würde, wenn er uns wie abgemacht direkt vor das Gebäude fuhr? Dass die Lykaner ihn samt Kuschte zum Frühstück verspeisten? Dummkopf. Aber es half alles nichts. Ich bezahlte den Mann und stieg dann hinter Djenan und Pal aus. Kaj wäre auch gerne mitgefahren, aber da Raissa ja jetzt nicht mehr in die Schule gehen durfte, musste sie ein Auge auf die Kleine haben. vielleicht war das auch ganz gut so. Ich wollte gar nicht so genau wissen, was die Lykaner mit einer vermeidlichen Verräterin machte, die sich unter sie mischte. Kajs Taten waren eben noch nicht vergessen, das hatten mir die Reaktionen von Pal und Veith deutlich gezeigt.

Langsam ließ ich meinen Blick über die Menge gleiten, um mich erst mal zu orientieren. Nicht nur Lykaner waren hier – auch wenn die bei weitem in der Überzahl waren –, auch eine Menge Schaulustige, Befürworter des Ausschlusses hatten sich hier versammelt. Zeitungreporter waren hier und liefen zwischen ihnen herum, befragten die Bevölkerung der Stadt nach ihrer Meinung.  Die Protestanten hatten sich direkt vor dem Gebäude aufgebaut und riefen lauthals ihre Parolen, doch im allgemeinen Trubel gingen die mehr oder weniger unter – zumindest hier hinten am Rand, wo ich stand. Es war ein einziges Tollhaus.

Vor dem Tor zum Ratsgebäude entdeckte ich Anwar von Sternheim persönlich – dieses affektierte Lächeln würde ich überall erkennen – in einer orangenen Robe, wie er einem Engel mit sehr viel Gestik ein Interview gab.

Neben ihm stand ein langer Mann. Zwei spitze, fellige Ohren ragten aus seinem Kopf, Fuchsohren. Sie waren weiß, genauso wie sein Haar, das er zu einem Zopf im Nacken zusammengefasst hatte. Unter der langen, gelben Robe, mit dem Emblem des Hohen Rats über dem Herzen, guckten mehrere buschige Schwänze hervor und das Gesicht war spitz und … naja, irgendwie fuchsartig. Er machte einen gelangweilten, aber äußerst wichtigtuerischen Eindruck.

„Das ist Dandil von Sternheim“, erklärte Djenan, der meinem Blick gefolgt war. „Der Repräsentant der Kitsune im Hohen Rat.“

„Der Vorsitzende, der den Hohen Rat vertritt“, erinnerte ich mich an Gaares Worte von gestern.

„Ja und er ist ein enger Freund von Anwar.“

„Was?“ Das war doch jetzt wohl nicht sein Ernst. Und mit dem sollte ich mich auseinandersetzen?

„Die beiden sind Jagdfreunde“, sagte Djenan. „Ich habe sie schon des Öfteren gemeinsam im Wald gesehen.“

Na ganz toll.

„Mach dir keine Sorgen, du schaffst das schon.“ Pal nahm meine Hand und drückte sie leicht. „Und jetzt beweg dich, sonst kommen wir zu spät.“

Würde mich auch nicht sehr stören. Genaugenommen wollte ich am liebsten in die andere Richtung gehen, doch Pal zog mich einfach hinter sich her. Ich spürte die Blicke der Lykaner auf mir, die wir passierten, hörte das eine oder andere Knurren, das von Djenan, immer mit einem warnenden Fauchen beantwortet wurde und sah sogar einige bekannte Gesichter – keines davon war freundlich. „Ich hab das Gefühl vor einen Scharfrichter geführt zu werden.“

„In gewisser Weise trifft das auch zu“, sagte Djenan und guckte einen Werwildhund solange böse an, bis der sich mit einem leisen Knurren abwandte und sich in die andere Richtung trollte. „Oder was glaubst du, was die Lykaner mit dir machen, wenn du sie verärgerst?“

Ja, auf die Hilfe von Djenan konnte ich mich immer verlassen. Und wenn sie destruktiver Natur war, dann war es halt so.

„Bist du eigentlich hier, um sie fertig zu machen, oder was hat deine Anwesenheit für ein Sinn?“, grollte Pal den Mann an, der ihn trotz seiner Größe noch mal um einen guten Kopf überragte.

„Soll ich sie anlügen und in eine Märchenwelt bringen?“

„In der Märchenwelt bin ich schon“, sagte ich, bevor die beiden sich noch in die Flicken bekamen. Und dann entdeckte ich die roten Haare, in dem gleichen Moment, in dem sie auch uns entdeckte. „Pal, da ist deine Mamá.“

Sein Kopf flog so schnell herum, dass ich einen Moment Angst hatte, er würd sich ganz im Kreis drehen, dann warf Rem sich auch schon um den Hals ihres Sohnes und schluchzte laut auf. Für einen Moment war der große Rote so überrascht, dass er einfach nur regungslos dastand, bis es bei ihm klick machte. Nur langsam ließ er meine Hand los und schlang seine Arme dann um seine Mutter.

Das war der Moment, der mir sehr deutlich vor Augen führte, dass Pal einen riesigen Fehler gemacht hatte, als er zu mir gekommen war. Besonders, da ich Fang, seinen Vater nicht sehen konnte. Dafür aber Prisca und Tyge, die zielgerade auf mich zuhielten.

Eine dumme Freude machte sich in mir breit. Natürlich wusste ich noch genau, wie unser letztes Treffen abgelaufen war, doch die drei zu sehen war traumhaft, sie waren doch immerhin das Rudel, dass mich … hatte fallen lassen. Mein Lächeln fiel in sich zusammen. Es gab keinen Grund, sich über ihr Auftauchen zu freuen. Die angespannten Gesichter der Beiden sprachen Bände und dass sie sie trotz unseres letztens Zusammentreffens auf mich zukamen, konnte nichts Gutes bedeuten. 

Djenan spürte meine wachsende Anspannung und rückte etwas näher an mich heran, aber auch seine Hand auf meinem Unterrücken konnte mir nicht die Ruhe und Ausgeglichenheit geben, die ich mir wünschte. Ich wollte hier weg,  nach Hause, um mich unter meinem Bett zu verstecken, bis die ganze Sache gelaufen war. das war doch mal ein guter Plan.  

„Talita“, begrüßte Prisca mich und ignorierte Pals Anwesenheit, als er sich leicht von seiner Mutter trennte und seine Ex-Alpha ins Auge fasste. „Wir müssen mit dir reden.“

Erst jetzt bemerkte ich, dass da noch andere Leute waren, die auf mich zuhielten. Alles Alphas, von denen ich nicht mal ein Dutzend kannte. Die Macht die von diesen Leuten ausging, war einfach unverkennbar. Ich schluckte und rückte noch ein Stück näher an Djenan heran, dessen Anspannung jetzt auch deutlich wuchs. Jedes Wort das mir über die Lippen wollte, steckte in meinem Hals fest, weswegen ich einfach stumm stehen blieb und darauf wartete, was mir die Alphas zu sagen hatten.

„Wir sind nicht begeistert davon, dass eine Außenstehende vor dem Hohen Rat von uns sprechen soll“, sagte Xyla, die kleine Alphahündin des Lotusrudels zum mir. Ich kannte sie von der Rudelversammlung im letzten Jahr. Sie hatte einen Haufen Wildhunde unter ihrem Kommando. „Auch nicht, wenn sie uns in der vergangenen Zeit geholfen hat.“

„Geholfen?“, höhnte eine Frau mit rötlicher Hautfarbe und schwarzen Haaren, die ich noch nie gesehen hatte. „Nur wegen ihr stehen wir nun hier. Nur, weil ihr sie zu der Hüterin von ein paar durchgeknallten Lykanern gemacht habt. Es hätte euch gleich klar sein müssen, dass eine Katze niemals in der Lage ist, eine solche Aufgabe zu bewältigen.“

„Pass auf, was du sagst, Minestra“, knurrte Rojcan, der Alpha des Nebeltalrudels sie an. „Unter diesen Durchgeknallten ist auch einer meiner Wölfe.“

Sie hatte nur einen abschätzenden Blick für ihn übrig. „Und trotzdem wäre es das Gescheiteste gewesen, wenn ihr das Leid dieser Lykaner sofort beendet hättet. Dann wären wir jetzt nicht hier. Eure Hüterin hat nicht richtig aufgepasst, deswegen gab es einen Toten und nun will uns die gesamte magische Gemeinschaft aus dem Codex haben, weil ihnen klar wird, wie gefährlich und unberechenbar wir sein können.“

„Das war ihnen bereits vorher klar“, schnitt nun Najat ein. Den hatte ich bisher noch gar nicht bemerkt, aber ich war heilfroh, ihn zu sehen. Er erschien mir schon immer als einer der intelligentesten Lykaner, die mir je begegnet waren. „Talita ist nicht schuld an dieser Sache, sondern Anwar von Sternheim. Er ist es, der gegen uns hetzt.“

„Aber Minestra hat nicht ganz unrecht“, warf eine etwas dicklichere, braungebrannte Frau mit wasserstoffblondem Haar in die Runde. Sie erinnerte mich stark an ein Surfergirl mit ein wenig Hüftspeck. Auch die wettergegerbte Haut passte dazu. „Dieser Vorfall hat den Anstoß dazu gegeben, den der Hohe Rat brauchte, um ein solches Verfahren zu rechtfertigen. Ein Mord direkt im Zentrum der Stadt.“

„Nicht der Hohe Rat brauchte diesen Anstoß, sondern Anwar von Sternheim, Opaja“, kam es von einem Mann mit Karamellhaut und weißem Haar, dem das Alter ins Gesicht geschrieben stand.

„Und sie hat ihn geliefert!“, knurrte ein Mann mit grauer Haut – ja, er hatte wirklich graue Haut. Und Tupfen hatte er, auf Haut und Haar, eine Hyäne – und zeigte mir ein paar scharfe Zähne, die mich schlucken ließen.

„Mit Schuldzuweisungen kommen wir nicht weiter“, sagte Opaja und richtete ihren Blick genau auf mich. Und, naja, freundlich war auch anders. „Geschehen ist geschehen und wir können jetzt nur noch Schadensbegrenzung betreiben. Und du…“, – sie zeigte mit dem Finger auf mich – „… passt genau auf, was du dem Hohen Rat sagen wirst.“

„Ja, sollten wir den Codex verlassen müssen, nehmen wir dich mit“, sagte Prisca sehr nachdrücklich und ich war mir sicher, dass sie damit keine Fete meinte, auf der sie mich dabei haben wollte.

Ein zustimmendes Grollen lag in der Luft und die Augen die auf mich gerichtet waren gaben mir das Gefühl, gleich vor Ort gefressen zu werden.

„Ihr zu drohen bringt uns auch nicht weiter“, sagte Najat sehr ruhig und sah ein paar der Alphas einbringlich in die Augen. Nicht so lange, als das es als Herausforderung aufgenommen werden konnte, doch schon sehr nachdrücklich. „Talita ist schlau und sie wird nichts tun, dass uns schaden kann.“

„Das hat sie bereits getan“, kam es von Minestra, „deswegen sind wir doch hier und müssen nun um unsere Zukunft bangen.“

„Mag sein“, stimmte er ihr zu, „aber sie würde so etwas niemals vorsätzlich tun.“

„Und warum bist du dir da so sicher?“, fragte Opaja.

„Weil sie mein Vertrauen genießt und du weißt so gut wie jeder andere hier, wie schwer das jemand erlangen kann.“

Das verblüfte nicht nur die Alphas, sondern auch mich. Ich hatte Najat immer als, naja, einen netten Alpha eingestuft, als Bekannten vielleicht, aber dass er mir vertraute, war auch mir neu.

Minestra knurrte wütend und wandte sich dann ab. Ihr folgten ein paar der anderen Alphas, aber nicht, ohne mir noch einen wütenden Blick zuzuwerfen.

Schluck, also den Titel der beliebtesten Katze des Jahres unter den Lykanern konnte ich nun wohl abschreiben.

„Pass nur gut auf, was du sagst“, warnte Opaja mich noch einmal und verschwand dann auch in der Menge. Immer mehr von ihnen gingen, auch Prisca. Rem wollte nicht, doch Tyge nahm sie am Arm und zog sie mit sich. Nicht einmal hatte er in meine Richtung geguckt. Das tat weh, besonders nach seinen letzten Worten an mich. Von wegen, ich war wie eine Tochter für ihn, Veith und Kovu würde er niemals so behandeln, da war ich mir sicher.

Zum Schluss stand ich mit meinen beiden Jungs und Najat allein da – naja, so allein, wie man in einem solchen Auflauf halt sein konnte.

„Danke“, sagte ich leise zu dem Alpha. Mir war sehr wohl bewusst, dass er mir gerade den Arsch gerettet hatte.

„Du brauchst mir nicht danken, doch du solltest in der nächsten Zeit vorsichtig sein. Die Gemüter sind überreizt und selbst der harmloseste Lykaner kann in einer solchen Situation umschlagen und seinen Instinkten freien Lauf lassen.“

„Willst du mir damit etwas sagen, dass du mich fressen würdest, wenn ich einen Fehler mache?“, fragte ich mit einem halben Lächeln, das wohl eher in einer aufgesetzten Grimasse endete.

„Vor mir brauchst du dich nicht zu fürchten. Wie ich bereits sagte, du hast mein Vertrauen und ich stehe zu meinem Wort. Aber es gibt einige andere, die von deiner Beteiligung an diesem Verfahren nicht begeistert sind und vor denen solltest du auf der Hut sein.“

„Ich habe es gehört, sie geben mir die Schuld“, sagte ich bitter und wusste doch, dass diese Leute irgendwo recht hatten.

„Pass einfach nur auf, was du sagst, dann wird schon alles wieder in Ordnung kommen.“

„Und wenn ich etwas Falsches sage? Wenn ich alles nur noch schlimmer mache?“, sprach ich meine größte Furcht in diesem Moment aus. Ja, ich wollte ihnen helfen, aber was, wenn ich nicht konnte? Wenn ich alles noch viel schlimmer machte?

Najat neigte den Kopf in Wolfsmanie leicht zur Seite und musterte mich. Bei den grünen Haaren blieb er einen Moment hängen, sagte aber nichts dazu – Gott, ich musste diese Farbe endlich loswerden. „Wenn du möchtest, kann ich dir während deiner Aussage helfen.“

Möchten? Das war wohl ein Witz! Ich wollte das kaum dass ich es gehört hatte, unbedingt, aber … „Wie denn? Du darfst doch gar nicht neben mir stehen und mir das Händchen halten.“

„Das nicht, aber ich kann mich so hinsetzen, dass du mich sehen kannst. Wenn du Hilfe brauchst, nimm einfach Blickkontakt auf.“

„Und du glaubst, das würde klappen?“

„Was kann es schaden?“

Wahrscheinlich gar nichts.

„Nun komm schon, Kopf hoch, du musst schließlich gleich vor dem Hohen Rat sprechen und da solltest du sicher rüberkommen und nicht, als wärst du gerade von einem Rudel Lykaner bedroht worden.“

Ha ha, ich lach dann später. „Warum muss ich eigentlich als erstes aussagen?“

„Weil du der einzig bekannte Mortatia bist, der guten Kontakt zu den Lykanern hat, ohne eine von ihnen zu sein.“

„Gut? Seit wann habe ich guten Kontakt zu dir und den anderen?“ Gerade eben hatten sie mich mal wieder verflucht und waren kurz davor gewesen, mich zu fressen.

„In den Augen der anderen kommt es so rüber. Wir akzeptieren dich in unserer Gegenwart und knurren dich nur die Hälfte der Zeit an.“

Na, hatte ich mal wieder ein Glück.

Seufz.

 

°°°

 

Mit flatternden Herzen betrat ich zwischen Djenan und Pal das Auditorium der Stadt Sternheim, in dem das Verfahren um die Lykaner stattfinden sollte. Der Saal war kreisrund angelegt. Die Decke war ein einziges, riesiges Oberlicht, durch das die schweren Wolken am Himmel zu sehen waren und direkt am Rand darunter, einmal kreisrund um den Saal, war eine einzige, schwarze Glasscheibe, die sich wie eine Bordüre an der Wand entlang zog. War das ein Flimmerglas? Das war ja fast besser als Kino.

Im Zentrum befand sich ein rundes Podest, mit einem Stuhl und einem Tisch, drumherum ein schmaler Gang, von dem aus die Tribünen hinauf zur Wand führten. Hunderte von Leuten hatten hier Platz, um das Verfahren zu verfolgen und alles war besetzt. Die untere Hälfte wurde von dem Konsortium eingenommen, die vordere Hälfte von den Mitgliedern des Hohen Rats – zu erkennen an den gelben Roben – und die andere Hälfte von den Parlamentären, unter denen ich nach kurzer Suche auch Anwar entdeckte. Der obere Teil der Tribüne war allein für die Zuschauer gedacht und das waren eine Menge. Hatte ich geglaubt, draußen schon viele Lykaner gesehen zu haben, dann waren die hier drinnen fast unzählbar.

Aber nicht nur Lykaner hatten sich hier her verirrt, auch Zeitungsreporter und andere interessierte Wesen waren vor Ort. Der Lärm hier drinnen war gigantisch, ich verstand mich selbst kaum denken. Und vor diesen ganzen Leuten sollte ich sprechen? „Ich will wieder nach Hause.“

„Du schaffst das schon“, versuchte Pal mich zu beruhigen.

„Genau“, stimmte Djenan zu. „Du bist eine Katze. Wenn sie frech werden, zeig ihnen einfach deine Krallen.“

Na ob das helfen würde, bezweifelte ich aber sehr stark.

„Und wenn …“

„Frau von München?“

Ich drehte mich zu der Stimme um und entdeckte diesen Fuchsmann, der vorhin bei Anwar gestanden hatte. „Ja?“

„Ich bin Dandil von Sternheim, der Vorsitzende in diesem Verfahren.“ Er reichte mir die Hand und weil es die Höflichkeit so verlangte, schüttelte ich sie kurz, bevor ich mich wieder an Djenans Seite lehnte. „Bitte begleiten Sie mich doch gleich, ich bringe Sie auf ihren Platz.“

„Jetzt schon?“

„Das Prozedere beginnt gleich“, war seine schlichte Erwiderung.

Ich wollte nicht, absolut nicht. Das war nichts für mich und da auf dem Präsentierteller sitzen zu müssen, machte es auch nicht wirklich besser.

„Du schaffst das schon“, munterte Djenan mich auf – oder versuchte es wenigstens – und gab mir einen kleinen Schubs.

Mehr als widerwillig gesellte ich mich an Dandils Seite und warf auf dem Weg ins Zentrum des Auditoriums immer wieder Blicke über die Schulter, um die beiden nicht aus den Augen zu verlieren. Erst als ich das Podest in der Mitte erreichte, machten die beiden sich auf dem Weg zur Treppe, um sich einen Platz zu suchen.

„Setzen Sie sich hier hin.“ Dandil zog den Stuhl für mich unter dem Tisch vor. „Und Sie brauchen sich keine Sorgen machen, ich werde Ihnen nur ein paar simple Fragen stellen und dann sind Sie auch schon wieder von mir erlöst.“ Er lächelte mich wohlwollend an und verließ dann das Podest, doch so simpel wie er meinte, stellte ich mir das ganze hier nicht vor. Schließlich war es nicht sein Arsch, den die Lykaner haben wollten, wenn ich hier nur Bockmist verzapfte.

Das mulmige Gefühl von heute Morgen in meinem Magen verstärkte sich noch, als ich mich auf meinen Stuhl setzte und das Auditorium zum ersten Mal aus diesem Sichtwinkel sah. Nein, ich saß nicht auf dem Präsentierteller, ich saß vor einem Scharfrichter, der bereits seine Knarre gezückt hatte und den Lauf an meinem Kopf hielt. Der Hahn musste nur noch entsichert werden, dann konnte man mir ein schönes Luftloch in den Kopf blasen.

Aus allen Poren brach mir der Schweiß aus und mein Blick huschte wild über die Zuschauer. Wo war Najat? Er hatte doch gesagt, dass er mir helfen wollte und Hilfe brauchte ich jetzt ganz dringend, wenn ich hier nicht durchdrehen wollte, aber ich fand ihn nicht. Zwei Mal ließ ich meine Augen hektisch über die Zuschauer wandern, drehte mich sogar einmal um, weil er sich vielleicht doch in die Reihen hinter mir gesetzt hatte, aber ich entdeckte ihn nicht. Dafür blieb mein Blick plötzlich an einer anderen Person hängen, die mittig zwischen den Zuschauern vor mir saß. Cui, die Alpha der Höhlenwölfe. Veiths Alpha.

Veith …

War er etwa auch hier? Mit den Augen suchte ich die Plätze rund um Cui ab und da saß er. Das Gesicht ausdruckslos, den Blick starr auf mich gerichtet. Aber er klagte mich nicht an, er war irgendwie … beruhigend. Es war seltsam, aber seine Augen wirkten in diesem Moment tröstlich auf mich. Ja, er war unerreichbar für mich, aber er war hier.

Mist, was dachte ich denn da? Schnell wandte ich den Blick ab. Das Veith hier war und meinen Herzschlag so beschleunigte, war gar nicht gut. Ich sollte diese Gefühle ganz schnell vereisen und in die hinterste Ecke meines Herzens sperren, sonst würde ich mich niemals von ihm lösen können und niemals glücklich werden.

Als es im Saal mit einem Schlag mucksmäuschenstill wurde, war so unheimlich, dass ich erschrocken den Kopf hob und direkt in das Gesicht von Dandil schaute, der vor dem Podest stand und mich mit einem kleinen Lächeln bedachte.

Irgendwas in diesem Blick gefiel mir nicht und ich wusste auch ganz genau, was es war. Ich hatte ihn schon bei Anwar gesehen und er war schließlich der Grund, warum ich hier saß. Dandil und Anwar waren Freunde und plötzlich wusste ich, dass ich mich vor diesem Mann in acht nehmen musste. Er war ein Fuchs und was man Füchsen nachsagte, war wohl jedem bekannt.

Dandil wandte sich von mir ab und begann mit langsamen Schritten das Podest auf dem ich saß zu umkreisen, sodass ihn jeder Anwesende im Auditorium sehen konnte. „Wir sind heute hier zusammengekommen, um den Antrag von unserem allseits geehrten Parlamentär und Wesensmeister der Stadt Sternheim, Anwar von Sternheim, auf Ausschluss der Lykaner aus dem Codex, wegen unmotatiaischen Ansichten und Handlungen zu erörtern.“ Seine Stimme war klar und deutlich und hallte von den Wänden des Auditoriums durch den ganzen Saal. „Im Zuge dieses Verfahrens werde ich verschiedene Zeugen aufrufen, die dem Konsortium unterschiedliche Aspekte der Lykaner aufzeigen werden, um zu einer gerechten Entscheidung über den Verbleib der Lykaner als Rasse im Gesamten im Codex kommen zu können.“

Aus den Reihen der Lykaner klang vereinzeltes Knurren, dass von einem weiblichen „Still!“, sofort wieder zum Verstummen gebracht wurde. Die Verursacherin sah ich nicht, dafür entdeckte ich endlich Najat, der mir praktisch gegenüber in der obersten Reihe saß und mich ganz genau im Auge behielt. Zu wissen, wo er sich befand, beruhigte mich ungemein, so hatte ich wenigstens eine Bezugsperson, an die ich mich wenden konnte, wenn auch nur mit Blicken und Gesten.

„Hiermit eröffne ich das Verfahren“, holte mich Dandil wieder ins Hier und Jetzt zurück. Mit einer schwungvollen Drehung, die die Robe fliegen ließ, wandte er sich zu mir um. „Nennen Sie mir bitte ihren Namen.“

Was, es ging schon los? „Oh, ähm … Talita.“

„Den ganzen Namen, wenn ich bitten darf“, sagte er mit einem ungeduldigen Zug um den Mund.

„Ja, Entschuldigung … Talita Kleiber von München.“ Gott, ging es noch erbärmlicher? Am liebsten hätte ich mir vor die Stirn geschlagen, doch das wäre sicher seltsam angekommen.

„Ihnen ist bewusst, dass sie hier die Wahrheit sagen müssen, da es sonst eine Strafe nach sich zieht?“, fuhr er fort, ohne meinem Zögern Beachtung zu schenken.

„Ja, ist mir klar.“ Na, das klang doch schon besser.

Dandils Mund zuckte, als wüsste er genau, wie nervös es mich machte, hier vor all den Leuten zu sitzen und sprechen zu müssen und als wenn ihn diese Tatsache belustigte. „Sie stehen in vergleichbar unkonventioneller Beziehung zu den Rudeln, ja nennen einige von ihnen sogar ihre Freunde, stimmen Sie mir da zu?“

Freunde? Das ich nicht lachte, war wohl reine Willenskraft, doch das Zucken meines Mundwinkels ließ sich leider nicht so ganz vermeiden. „Nur halb. In den Rudeln habe ich keine Freunde, die meisten betrachten mich eher als ein notwendiges Übel, das sie für einige Zeit brauchen. Die Wölfe, mit denen ich befreundet bin, sind alles Einzelgänger.“ Und konnte ich an einer Hand abzählen, zwei. Pal und Kaj. Naja, wie hieß es so schön, besser ein richtiger Freund, als tausend falsche – und ich hatte sogar zwei.  

Dandil runzelte leicht seine Augenbrauen. Zupfte er die etwa? Von Natur aus, wuchsen die sicher nicht so perfekt. Gott, was ich hier schon wieder dachte.

Konzentrier dich!  schimpfte mein inneres Stimmchen.

„Aber laut meinen Informationen war das mal anders gewesen.“

Woher er diese Informationen hatte, würde mich ja mal brennend interessieren. „Ja, das ist korrekt.“ Ich warf Najat einen kurzen Blick zu und der nickte, was ich einfach mal als Lob auffasste. Also machte ich mich hier vielleicht doch nicht ganz so schlecht, wie ich befürchtet hatte.

Bisher hattest du ja auch noch keine schweren Fragen zu beantworten.

Die kleine, fiese Stimme wurde jetzt einfach mal ignoriert.

„Wie kam es zu dem Bruch mit den Rudeln?“, wollte Dandil wissen.

„Wir haben nicht miteinander gebrochen.“ Jedenfalls nicht so, wie er das auffassen würde.

Das überraschte ihn leicht. Vielleicht war er aber auch einfach ein sehr guter Schauspieler. „Sie stehen also immer noch in engem Kontakt mit den Rudeln?“ Seine Augen blitzen verschlagen. „Vielleicht sogar in so gutem Kontakt, dass Sie für sie Lügen würden, um sie in einem besseren Licht dastehen zu lassen?“

Mein Mund ging auf und klappte gleich wieder zu. Hatte ich ihn gerade richtig verstanden? Dieser kleine … okay, ganz ruhig bleiben, ihn anzuschreien würde jetzt auch nichts bringen. „Ich finde es ganz schön unverschämt von Ihnen, dass Sie mir hier unterstellen, für die Rudel zu lügen. Das haben die Lykaner gar nicht nötig!“ Ha, nimm das du Idiot!

„Ich entschuldige mich für diese unterschwellige Anschuldigung, muss aber darauf hinweisen, dass Sie den ersten Teil meiner Frage nicht beantwortet haben. Stehen Sie noch in gutem Kontakt zu den Rudeln?“

Von wegen unterschwellig, das war volle Absicht gewesen. „Nein“, sagte ich und warf ihm einen sehr bösen Blick zu, „nicht mehr so wie früher, eigentlich gar nicht.“

Dandil verschränkte die Arme auf dem Rücken und begann um mich herum zu laufen. Das war ziemlich gemein, weil ich mich auf dem Stuhl nicht mitdrehen konnte und diesen Kerl nicht im Rücken haben wollte. Höflich war auch anders. „Talita Kleiber von München, Ihnen ist doch bewusst, dass Sie sich selber widersprechen?“ 

„Nein, tue ich nicht. Ich habe nur gesagt, dass es keinen Bruch gegeben hat. Wir haben uns einfach entschieden, dass es das Beste für alle Beteiligten ist, getrennte Wege zu gehen.“

„Und wie kam es zu dieser Entscheidung?“

„Das ist nicht so einfach zu erklären.“

„Versuchen Sie es.“

Als bliebe mir eine andere Wahl. „Naja, die Lykaner sind schon ein ziemlich eigenes Völkchen. Nicht im negativen Sinne, aber sie sind eben … äh … eigen. Ihre Lebensart ist nicht die meine und es gab da halt ein paar Aspekte, mit denen ich nicht klar gekommen bin, weswegen mir empfohlen wurde, einen anderen Weg einzuschlagen.“

„Sie sagen also selber, dass Lykaner anders sind?“

Was für eine blöde Frage, die Antwort war ja wohl offensichtlich. „Natürlich sind sie das, genau wie Hexen mit ihren Zirkeln, aber deswegen sind sie noch lange nicht schlecht. Einfach nur anderes.“

Mit einem letzten Schritt beendete Dandil seine Runde und kam wieder vor mir zum Stehen. „Erzählen Sie uns von den Lykanern, erzählen Sie uns, wie Sie das Zusammenleben mit ihnen empfunden haben. Wie sind sie so privat?“

Bei den Gedanken daran, wie die Lykaner untereinander umgingen, schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen, dass jeder Anwesende im Auditorium sehen konnte. „Sie sind eine Familie, die immer zusammenhält und füreinander da ist. Natürlich gibt es, wie in jeder guten Familie, auch  bei ihnen mal Reibereien, aber sie raufen sich immer wieder zusammen, passen aufeinander auf.“

„So empfinden Sie ihr Verhalten?“

„Das können Sie nur fragen, weil Sie es selber noch nicht erlebt haben. Ich weiß noch, meine erste Feier beim Wolfsbaumrudel, der Geburtstag der Drillinge. Es wurde getanzt und gelacht. Sie können sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, wie es dort zuging.“

„Nein, das kann ich gewiss nicht, aber Sie können es uns ja zeigen.“ Er ging zu seinem Podium und nahm dort eine Azalee von der Ablagefläche runter, die er mir reichte.

Ich zögerte, wusste doch, wie sehr die Lykaner auf ihre Privatsphäre achteten.

„Was ist? Haben Sie uns angelogen, oder warum greifen Sie nicht zu?“

So ein Arsch! Ich suchte Najats Blick in der Menge und erst als er zustimmend nickte, griff ich nach der Azalee und legte sie vor mich auf dem Tisch. „Das, was Sie hier von mir verlangen, ist ein massiver Eingriff in die Privatsphäre und ich möchte, dass Sie wissen, dass ich das nicht freiwillig mache.“

„Wollen Sie damit behaupten, dass ich Sie dazu zwingen würde?“

„Ja, genauso wie Sie behauptet haben, dass ich lügen würde.“ Das Flimmerglas am unteren Rand der Decke lebte auf, kaum, dass ich die Azalee berührt hatte und hauchte meiner Erinnerung Leben ein. Es zeigte den Moment, als wir Pals Großmamá über den Weg gelaufen waren und sie ihn am Ohr gepackt hatte, weil er sie als alt bezeichnet hatte. Dann folgte das verwirrende Gespräch mit den Drillingen, der Tanz am Feuer, der Sprung nach den Sternen. Ich zeigte ihnen alles. Naja, nicht ganz. Das Ende ließ ich aus, weil ich sicher war, dass es nicht gut ankäme, wenn hier alle sahen, wie ich heulend vom Festplatz lief. Außerdem hatte ich keine Lust, mich und meine Gefühlswelt von damals zu erklären.

Als die Erinnerung nach meiner Auffassung beendet war, dachte ich an die Farbe Schwarz und  das Flimmerglas erlosch. „Ich hoffe das reicht Ihnen.“

„Um ehrlich zu sein, nein. Sie haben uns hier gerade eine Feier gezeigt, etwas, das nicht alltäglich ist und das war es eigentlich, um was ich Sie gebeten hatte.“

Oh du mieser kleiner … also langsam begann ich wirklich einen Hass auf den Kerl zu entwickeln. „Und Sie sind nicht auf die Idee gekommen, mir das früher zu sagen? Nein, natürlich nicht. Wahrscheinlich haben Sie gehofft, das auf dieser Feier Blutopfer für die Geburtstagskinder gebracht wurden, nur damit Sie etwas in der Hand haben.“ Ich wusste, dass es nicht klug war, den Kerl so anzumachen, aber er brachte mich einfach nur auf die Palme.

Er kniff leicht die Augen zusammen. „Würden Sie uns dann jetzt bitte etwas Alltägliches zeigen?“

Dieser … grrr! Am liebsten würde ich ihn … ahhh! Erneut griff ich nach der Azalee und zeigte ihm das erstbeste was mir in den Sinn kam, Pal und ich auf dem Dachboden bei unserer Kostümierung. Dann wechselte ich zu Tyge, als er sich nach meinem Sturz aus dem Baum um meinen Rücken gekümmert hatte. Veit am See, wie er sich Sorgen um Kovu gemacht hatte, die Wiedervereinigung von Kanin mit ihrem Rudel. Eine Erinnerung wechselte mit der nächsten. Ich hatte tausende davon und ich würde sie ihnen alle zeigen, wenn das die Lykaner vor einem Ausschluss bewahren würde.

„Das reicht“, unterbrach der Minotaurus aus dem Hohen Rat – keine Ahnung, wie der mit Namen hieß – nach einer Weile meine Vorführung und ich ließ die Hand von der Azalee rutschen. Das Standbild ließ ich wo es war, zeigte es doch gerade eine Wölfin aus dem Wolfsbaumrudel, die ihr Neugeborenes liebevoll in den Armen wiegte. Ja, liebe Bürgerinnen und Bürger, Werwölfe fraßen ihren Nachwuchs nicht, sie zogen ihn voller Fürsorge auf. Manchmal vielleicht sogar ein wenig zu behütet, weswegen der Nachwuchs dann gerne mal auf eigene Faust loszog – man denke nur an Kovu und seinen unerlaubten Ausflug nach Sternheim.

„Das sind die Lykaner“, sagte ich laut und deutlich. „So und nicht anders leben sie und nur, weil sie sich vom Rest der magischen Bevölkerung zurückziehen, heißt das noch lange nicht, dass sie Monster sind. Wollen sie ein wahres Monster sehen, dann gucken sie in ihren eigenen Reihen nach. Dort drüben sitzt eines.“ Mein ausgestreckter Finger zeigte auf Anwar, der erst blass wurde und dann vor Wut rot anlief.

Aus den Reihen der Lykaner hörte ich vereinzeltes Lachen und ein paar der Parlamentäre regten sich gekünstelt auf.

„Soll ich Ihnen allen zeigen, wie dieser Mann in Wirklichkeit ist? Auch zu ihm habe ich die eine oder andere Erinnerung.“ Noch bevor ich eine Antwort erhalten konnte, lag meine Hand wieder auf der Azalee und das Bild von der liebenden Mutter wurde von Anwars wütender Maske ersetzt.

„Diese Köter sind eine Schande für die ganze magische Gesellschaft! Sie sind nicht mehr als eine bessere Jagdbeute!“, schallte Anwars Stimmte durch das Auditorium.

„Papá …“

„Sie sind nichts als unzivilisierte Tiere. Dass sie mit in den Codex aufgenommen wurden, kann ich bis heute nicht verstehen, aber eines Tages, das schwöre ich dir mein Sohn, eines schönen Tages werden sie nichts weiter als meine Beute sein, die ich jagen kann wann immer es mir beliebt. Diesen Tag sehne ich herbei und wenn er kommt, werde ich ihn feiern und sie alle jagen!“

Ich stoppte die Erinnerung und sah nach oben in die Gesichter des Hohen Rat – Dandils verärgertes Aufblitzen in seinen Augen wurde dabei völlig ignoriert. „Das ist der Mann, der die Lykaner aus dem Codex haben möchte und das nur, weil er sich vor ihnen fürchtet.“

„Das ist eine unverfrorene Unterstellung!“, wütete Anwars Stimme durch das Auditorium.

„Ach ja? Und wie ist es dann mit dieser Situation?“ Wieder ließ ich eine Erinnerung anlaufen, dieses Mal seinen Ausflipp, nach dem Besuch vom Steinbachrudel. „Oder wie wäre es mit dieser hier?“ Ich ließ den toten Drachen mit den verbrannten Kadavern der Lykaner auf dem Flimmerglas erscheinen. Der Moment nach dem Kampf gegen Erion. „Das hat der Sohn von Anwar verursacht und warum? Nur weil er gierig nach Macht war. Und jetzt sagen Sie mir doch mal, wer hier das wahre Monster ist.“

Der Kitsune blieb ganz cool und ließ sich nicht anmerken, was er dachte. Oh, dieses Pokerface war wirklich das letzte. „Erion von Sternheim ist durch seine eigenen Taten von uns geschieden und tut hier im Moment nichts zur Sache und was Anwar von Sternheim …

„Wie bitte?“ Ich glaubte mich verhört zu haben. „Sie haben gerade gesehen, was er angerichtet hat und sagen einfach, das tut …“

Mit einer einfachen Handgeste brachte er mich augenblicklich zum Verstummen. „Was Anwar von Sternheim angeht, nun ja, wir alle wissen, dass er ein wenig emotional handelt.“

Emotional? Der Typ war kälter als die Arktis im Winter!

„Und außerdem wird er später noch für eine Befragung zur Verfügung stehen, daher würde ich Sie bitten, Anschuldigungen in dieser Richtung zu unterlassen, das ist im Augenblick irrelevant.“

Das konnte doch nicht sein Ernst sein. War der Kerl echt, oder nur ein Fake? „Aber …“

Ein kurzes Kopfschütteln von Najat brachte mich zum Verstummen. Er hatte recht, mich hier jetzt aufzuplustern würde mich nicht weiterbringen. Trotzdem war ich wütend. Das war ungerecht, wie sollte die Lykaner so eine faire Chance bekommen? „Na gut“, grummelte ich, ließ aber das Bild von der Flachebene vor dem Drachengebirge bestehen. Sollten die Parlamentäre und der Hohe Rat es nur vor Augen haben, das konnte sicher nicht schaden.

Dandil verschränkte die Arme auf dem Rücken und schritt wieder vor mir entlang, dieses Mal hin und her, sodass ich ihn im Auge behalten konnte. „Bei den Lykanern sind Sie auch bekannt unter dem Titel, Hüterin der Verlorenen Wölfe, ist das korrekt?“

Äh … okay. Dann eben ein Themenwechsel. „Ja.“

„Wie haben Sie es geschafft, einen eigen Status unter ihnen zu bekommen, wo sie sich doch sonst von der Außenwelt abschotten leben und niemand Fremden in ihre Reihen lassen, ja nicht mal Lykaner, die nicht ihrem eigenen Rudel angehören.“

Ich zuckte leicht mit den Schultern und versuchte mir ganz schnell etwas einfallen zu lassen, weil ich es selber nicht so genau wusste. Denk, denk, denk … „Ähm … naja, das war nicht weiter schwer, es war … ganz einfach, ich bin ohne Vorurteile auf sie zugegangen und habe ihnen meine Hilfe angeboten.“

„Und die haben sie einfach so angenommen?“

Aber sicher doch. Sie hatten praktisch an meinem Hintern geklebt – aber nur um mich wieder aus ihrem Revier zu verscheuchen. „Am Anfang nein, aber sie haben mir auch einmal geholfen und wie heißt es so schön? Eine Hand wäscht die andere. Sie haben mir geholfen, ich habe ihnen geholfen und, naja…“, – ein  weiteres Schulterzucken – „… irgendwie ist daraus eine Art vorsichtige Freundschaft entstanden.“

„Die Lykaner haben ihnen geholfen?“

„Ja“, grinste ich. „Zwar nicht unbedingt freiwillig und nur aus dem Grund heraus, dass sie mich einfach loswerden wollten, aber sie haben es getan. Sie haben mich zu Anwar von Sternheim gebracht, damit sein Bibliothekar Gaare von Sternheim meine Erinnerungen wiederbeleben kann.“

„Das war … nett von ihnen.“

Wie schwer es ihm wohl gefallen war, das zu sagen? „Ja, das war es. Sie hätten mich genauso gut einfach im Wald aussetzen und mich mir selbst überlassen können, aber das haben sie nicht getan. Und warum nicht? Ganz einfach, weil sie nicht die Monster sind, für die sie im Moment dargestellt werden.“

„Und die Lykaner hatten bei dieser Handlung keine Hintergedanken?“

„Nein, sie wollten mich einfach nur schnell wieder loswerden, das war alles.“

„Aber Sie sind zum Rudel der Wolfsbaumwölfe zurückgehehrt, ist das richtig?“

„Ja.“

„Warum?“

Worauf wollte er denn jetzt hinaus? Ich warf einen schnellen Blick zu Najat, der mir mit einer Handbewegung verdeutlichte, dass ich weiterreden sollte. Okay. „Weil ich Informationen für sie hatte, die der Wesensmeister von Sternheim vor ihnen verborgen hat.“

„Wie haben die Lykaner bei ihrer Rückkehr reagiert?“ In Dandils Augen blitzte es wieder verschlagen, was mich leicht verunsicherte. Was führte dieser Kerl nur im Schilde?

„Naja, im ersten Moment waren sie über mein Auftauchen nicht allzu erfreut gewesen, aber wir haben uns zusammengerauft.“

„Und dann sind Sie aufgebrochen, um den Täter, der ihrer Meinung nach die Entführungen an den Lykanern vorgenommen hatte, zur Strecke zu bringen …“

„Nein.“

„… dabei haben Sie die geltenden Gesetzte und die Wächter völlig übergangen …“

Scheiße, was laberte der denn da? „Nein, so war das nicht!“

„… und an deren Ende war ein angesehenes Mitglied dieser Stadt verstorben.“

„Das ist nicht wahr!“, schrie ich ihn fast an und konnte es nicht glauben, dass ich die Fassung verloren hatte. warum behauptete er nur solche Dinge? Was hatte er gegen die Lykaner?

„Frau Talita Kleiber von München, setzen Sie sich wieder.“

Setzten? Wieso … wann war ich auf die Beine gekommen? „Aber …“

„Setzen.“

Oh, diese kleine Made. Ich würde gleich einen Mord begehen. Wütend funkelte ich ihn an, ließ mich aber wieder in meinen Stuhl sinken, hier auszuticken würde mich nämlich nicht bringen.

Dandil stellte sich vor mir und verschränkte selbstischer die Arme vor der Brust. „Wenn meine Erläuterung nicht der Wahrheit entspricht, wie ist es denn dann gelaufen?“

Oh, das werde ich dir erzählen, du kleiner, mieser … ahhhr! „Ja, wir haben uns auf den Weg gemacht, aber nicht, um uns zu rächen, sondern um Beweise zu sammeln, die unseren Verdächtigen belasten konnten.“

„Aber sie haben keine gefunden.“

„Nein, haben wir nicht, weil es nicht Anwar von Sternheim gewesen ist.“

„Stattdessen haben Sie herausgefunden, dass ein Lykaner der Täter war, das einer der eigenen Leute diese Vermisstenfälle verursacht hat.“

Scheiße, er sprach von Kaj.

„Antworten Sie auf diese Frage.“

„Das war keine Frage.“

Er kniff die Augen leicht zusammen. „Antworten Sie trotzdem darauf.“

Oh ja, der Kerl würde von mir zu Weinachten so was von kein Geschenk bekommen. Nicht das die Leutchen hier Weihnachten feierten. „Das ist nur halb korrekt. Die Wölfin, von der Sie sprechen, wurde zu diesen Taten erpresst.“

„Erpresst?“ Er zog leicht spöttisch seine Augenbraue nach oben. Er glaubte mir kein Wort. Oder wollte einfach nur, dass mir der Hohe Rat kein Wort glaubte. „Wie wurde sie erpresst?“

„Mit Zuneigung“, sagte ich gerade heraus und ließ ihn nicht aus den Augen. Wenn der Kerl glaubte, mich verunsichern zu können … naja, dann hatte er damit schon recht, aber ich würde es mir zumindest nicht anmerken lassen.

„Erklären Sie das genauer“, forderte er mich auf und lief wieder um das Podest herum. Das machte er sicher nur, um mich zu ärgern.  

„Es gibt in den Rudeln eine strukturierte Rangordnung“, begann ich und hoffte jetzt keinen Fehler zu machen. „Der Alpha, der Beta und die Omegawölfe. Omegawölfe sind selten dominat und hängen sehr an ihren Oberhäuptern. Der Versuch, ihnen die Obersten zu entziehen, kommt einer Folter gleich und genau das ist es, was Erion von Sternheim mit dieser Wölfin getan hat. Er hat die Zuneigung zu ihrem Alpha dazu benutzt, um sie gefügig zu machen.“

„Ich habe Sie gebeten, den Verstorbenen vorläufig herauszuhalten“, mahnte Dandil.

„Wie soll das gehen? Er ist in die gesamte Geschichte involviert gewesen“, giftete ich ihn an. Mann, bei diesem Kerl ruhig zu bleiben war echt nicht einfach. 

„Nun gut, lassen wir das für den Augenblick“, lenkte er ein und begab sich wieder in meinem Sichtfeld. „Wie bereits erwähnt, haben Sie unter den Lykanern einen eigenen Status, die Hüterin der Verlorenen Wölfe. Was kann ich mir darunter vorstellen?“

Wenn du das nicht weißt, dann schau in eine Zeitung, es steht dort seit Wochen überall geschrieben!  hätte ich ihm am liebsten angeschnauzt. Zum Glück besann ich mich im letzten Moment auf meine guten Manieren, die im Augenblick irgendwie alle Urlaub machen wollten. „Ich betreue und pflege die Lykaner, die nach den Geschehnissen mit dem Drachenkind im letzten Jahr nicht mehr sie selbst sind.“

„Nicht mehr sie selbst“, sinnierte er und begann damit eine weitere Runde um mich herum zu laufen. „Was kann ich mir unter diesen Worten vorstellen, was bedeutet das?“

„Ihre Magie wurde durch einen Zauber durcheinander gebracht und sie können sich nicht mehr verwandeln. Ihre Sprache ist verschwunden und sie folgen in diesem Zustand nur ihren Instinkten.“

„Wie ein Tier.“

„Ja.“

„Erläutern Sie bitte, wie genau die Verlorenen Wölfe in diesen Zustand gekommen sind, wie sich ihr Verhalten zeigt und was nun mit ihnen passiert.“

„Das kann ich nicht.“

Er stockte. Nur ganz kurz, aber ich hörte es an seinem Schritt. Passte ihm wohl nicht, dass ich seinem Wort nicht einfach folgte. „Warum nicht, Sie sagten doch, Sie seien ihre Hüterin, da sollten Sie so etwas doch wissen.“

„Ich weiß es auch und ich könnte es Ihnen jetzt in allen Einzelheiten erklären, aber Sie haben mich dazu ermahnt, Erion von Sternheim aus meiner Erzählung rauszuhalten und das geht nicht. Ich kann ja wohl schlecht die ganze Zeit nur Mister X sagen, um seinen Namen nicht aussprechen zu müssen.“

Dandil sah mich einen Moment scharf von der Seite an, bevor er seine Wanderung fortsetzte. „Nun gut, dann lassen Sie uns über Erion von Sternheim sprechen. Wer war dieser Magier für Sie persönlich?“

Erion? Der wechselte die Themen ja schneller, als manch einer seiner Unterhosen. Aber okay, wenn er wollte, dann würde ich mitspielen. „Eine Zeitlang glaubte ich, Erion sei ein Freund, aber das war noch, bevor ich herausgefunden habe, was er so in seiner Freizeit trieb.“

„Sie meinen die Entführungen der Lykaner.“

„Ja.“

„Sie scheinen andere Mortatia nicht gut einschätzen zu können.“

Ich kniff die Augen leicht zusammen. Na und? Dann war ich eben ein kleinen wenig naiv, was ging ihn das an. „Ich komme klar“, erwiderte ich kurz angebunden. Was ging es ihn überhaupt an? Der sollte sich um seinen Eigenen Kram kümmern. Idiot.

„Das sehe ich etwas anders.“ Wieder baute er sich direkt vor mir auf. Unter der Robe zuckten die Fuchsschwänze. Was versuchte er mit seinem Verhalten eigentlich zu erreichen? „Erst beschuldigen Sie unseren hochgeschätzten Wesensmeister eines Verbrechens, an dem er nicht beteiligt war, dann nennen Sie einen Mann Freund, der für sehr viel Leid die Ursache war und dann nehmen Sie eine verurteilte Verbrecherin bei sich auf, in der Hoffnung, sie rehabilitieren zu können. Zusammengefasst bedeutet das, dass Sie nicht klar kommen.“

Was? Sprach er von Kaj? Scheiße!

„Stimmen Sie mir da zu?“

„Sie ist keine Verbrecherin, sie wurde erpresst.“ Woher wusste er, dass Kaj bei mir lebte? Das war doch … natürlich, er gehörte dem Hohen Rat an und wusste wo sie war, wurde sie doch vom Konsortium verurteilt.

„Und doch wurde sie verurteilt“, sagte Dandil.

„Sie hat sich nichts mehr zu Schulden kommen lassen und die Bewährung ist fast abgelaufen.“

Für diese Aussage hatte Dandil nur ein abfälliges Lächeln übrig. „Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, Kaj von den Höhlenwölfen bei sich aufzunehmen.“

Als wenn ich ihm das erzählen würde. Was Kaj und mir geschehen war, ging kein Wesen der Welt etwas an, besonders nicht diesem Mistkerl hier. „Ich sah das Gute in ihr und sehe es immer noch.“

Tadelnd schüttelte er den Kopf. Er glaubte mir nicht. Aber das war auch nicht wichtig. Der Hohe Rat musste mir glauben, alles andere würde später kommen. „Ist es nicht eher so, dass Sie den Lykanern völlig verfallen sind und daher alles für sie tun würden?“, fragte er dann geradeheraus, so laut, dass seine Stimme von den Wänden wiederhallte.

„Nein!“

„Sie sind den Lykanern also nicht verfallen?“

„Natürlich nicht.“ Dieses kleine Arschloch! Der drehte die Worte in seinem Mund, wie es ihm gerade passte und ich war immer die angearschte. Wenn ich nur wüsste, worauf er jetzt schon wieder hinauswollte. „Ich bin ein eigenständiges Wesen und treffe meine eigenen Entscheidungen.“

„Dann ist es also nicht wahr, dass Sie ihr Herz an einen von ihnen verloren haben?“

„Was?“

„Ich formuliere meine Frage um. Sind Sie in einen Lykaner verliebt?“

Verdammt, woher wusste er das nur alles? Nervös leckte ich mir über die Lippen und versuchte krampfhaft nicht zu Veith herüberzugucken.

„Beantworten Sie die Frage.“

Ich zögerte, Mist. „Ja“, kam es dann leise über meine Lippen.

„Bitte etwas lauter.“

Hatte ich in meinem Leben schon mal ein Wesen gehasst? Wenn nicht, jetzt tat ich es. Dass er mich zwang meine Gefühle hier in aller Öffentlichkeit bekannt zu machen, war wirklich das Letzte. „Ja, ich liebe einen Lykaner. Und, ist das ein Verbrechen?“

Das überging er einfach. „Ist dieser Lykaner hier im Auditorium?“

Er kannte die Antwort, natürlich kannte er sie. Er fragte mich das doch nur, um mich vor allen Leuten bloßzustellen.

„Antworten Sie auf die Frage.“

„Ja“, quetschte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch und bekämpfte das Bedürfnis, meine Krallen an ihm zu wetzen.

„Würden Sie ihn uns bitte zeigen?“

„Nein.“ Das ging nun wirklich zu weit.

Verdutzt blinzelte er einmal. „Bitte?“

„Ich habe nein gesagt. Ich werde ihn weder Ihnen noch jemand anderes zeigen, oder seinen Namen nennen, weil es Sie einfach nichts angeht. Das ist meine Sache und nicht wichtig für diese Anhörung.“

Echter Ärger blitzte in seinen Augen auf. „Vielleicht sollten Sie es mir überlassen zu entscheiden, was wichtig ist und was nicht.“

Ich kniff nur die Augen zusammen, blieb stumm. Sollten er mich doch irgendwo einsperren, um meine Zunge zu lockern, ich würde hier sicher nicht herum posaunen, was mir allein bei dem Gedanken daran, mein Herz schmerzen ließ.

„Diese Frage ist nicht wichtig“, kam es da von dem Vampir aus den Reihen des Hohen Rats. „Fahren Sie anderweitig fort, Dandil.“

Oh danke, es gab also doch einen Gott.

Dandil warf mir einen giftigen Blick zu. Tja, war wohl nicht so gelaufen, wie er sich das vorgestellt hatte. „Nun gut, dann eben anders.“ Er postierte sich erneut vor mir. „Der Lykaner, den Sie lieben, befindet sich im Augenblick also im Auditorium?“

„Ja“, sagte ich vorsichtig und fragte mich, worauf er nun schon wieder hinaus wollte. Ich warf einen schnellen Blick zu Najat, aber der regte sich nicht, verfolgte nur still meine Vernehmung.

„Was würden Sie alles tun, um ihn für sich zu gewinnen?“, wollte Dandil mit verhältnismäßig leiser Stimme wissen.

„Vieles, aber er liebt mich nicht, das hat er mir gesagt.“ Das und noch ganz andere Sachen. Meine Hand schloss sich um mein Lederarmband, nur leider machte das den Schmerz nicht erträglicher.

„Das heißt, Sie würden versuchen, ihn zu beeindrucken“, fasste Dandil zusammen.

Verdammt, was sollten diese dummen Fragen? Das war peinlich, einfach nur peinlich, besonders, da ich Veiths Blick wie ein Feuer auf mir spürte. Ich wollte all diese Dinge nicht preisgeben, das ging niemanden etwas an. „Bei einem Versuch würde es bleiben, denn er war sehr deutlich gewesen.“

Dandil neigte seinen Kopf leicht zur Seite, was ihm etwas Tückisches gab. „Würden Sie auch für ihn lügen?“

„Was? Nein!“

„Sie würden also nicht versuchen, die Lykaner in einem guten Licht dastehen zu lassen, in der Hoffnung, ihn damit zu beeindrucken und vielleicht doch seine Gunst zu erringen?“

„Nein!“ War der Kerl noch zu retten? Wofür hielt der mich eigentlich?

„Frauen tun sehr viel, um das zu bekommen was sie wollen.“

„So bin ich aber nicht, das habe ich gar nicht nötig!“

Er sah mich einen Moment abschätzend an und begann dann wieder mit seiner Wanderung um mich herum. „Natürlich kann ich nicht wissen, wie genau es in Ihnen aussieht, aber ich bin der Meinung, dass Sie sehr wohl dazu fähig sind, uns allen hier etwas vorzuspielen, um die Gunst des Mannes zu erhalten, in den Sie verliebt sind.“

„Das ist aber nicht wahr!“, regte ich mich auf.

Schwungvoll drehte er sich zu mir herum. „Warum wollen Sie seine Identität dann nicht preisgeben?“

„Weil es Sie einfach mal nichts angeht“, fauchte ich ihn an. „Es gehört nicht hier her, es ist meine private Sache!“

„Sie wollen ihn schützen.“ Seine Lippen bogen sich leicht nach oben. „Bei den Lykanern käme es sicher nicht gut an, wenn auch nur der Verdacht bestünde, dass sich einer der Ihren mit einem Therianer einlässt.“

Nein, das stimmte nicht. Es ging nur einfach niemanden etwas an.

„Nun gut, lassen wir das. Ich möchte noch einmal ein anderes Thema aufgreifen.“ Und wieder trugen seine Beine ihn um mich herum. Konnte dieser Kerl nicht einfach still stehen? Das war ja nervtötend! „Bis vor gut einem Jahr haben Sie praktisch nicht existiert, stimmen Sie mir da zu?“

Misstrauisch verengte ich die Augen. Was führte dieser Mistkerl nun schon wieder im Schilde? „Nein. Ich habe existiert, natürlich, ich bin einundzwanzig Jahre.“

„Aber Sie erinnern sich an nichts mehr, was vor diesem letzten Jahr liegt.“

„Nein, ich habe meine Erinnerung verloren und bis heute leider noch nicht wiedererlangt.“ Warum das so war und woher ich wirklich stammte, das behielt ich lieber für mich. Wer konnte schon sagen, was dieser Arsch mir sonst wieder für einen Strick daraus drehen würde.

„Was ist also des erste, an das sie sich erinnern?“

„Ich bin auf dem Dachboden eines Lykaners aufgewacht.“

„Und wie sind sie dort hingekommen?“

„Ja, das fragen sich die Lykaner vom Wolfsbaumrudel bis heute.“ Das war nicht direkt eine Lüge.

„Sie wissen es also nicht?“

„Da ich meine Erinnerung noch nicht wieder habe, nein.“ Das war keine Lüge, nicht direkt jedenfalls. Ich hatte Vermutungen, Indizien und eine Theorie von Gaare, aber mit Sicherheit wusste ich gar nichts.

„Wie haben die Lykaner reagiert, als sie Sie entdeckten?“ Mit den Händen auf dem Rücken schlenderte er an mir vorbei.

„Sie waren nicht sonderlich erfreut, was ich ihnen nicht verübeln kann, oder wie würden Sie es finden, wenn in ihrem Haus plötzlich eine völlig Fremde läge, die sich an nichts erinnern kann?“

Natürlich wurde das wieder von ihm übergangen. „Wie hat sich dieses nicht erfreut ausgedrückt?“

„Sie haben mich ausgefragt …“ – und mir ein wenig gedroht – „… und wollten mich schnellst möglich wieder loswerden.“

In den Augen von Dandil blitzte es. „Das ist alles?“

„Naja, nein.“ Ich musste mich auf dem Stuhl leicht mitdrehen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. „Sie haben mir einen Aufpasser an die Seite gestellt, der darauf achten sollte, dass ich keinen Mist baue.“

Dandil blieb stehen und fixierte mich. „Es gab also keinen Zwischenfall mit einem der Lykaner, der versucht hat, Sie zu töten?“

Was?

„Fühlen Sie sich nicht gut? Sie sind plötzlich ziemlich blass geworden“, fragte er scheinheilig besorgt.  

Ich konnte Anwars Triumph in der Luft spüren und auch die wachsende Unruhe der Lykaner. „Nein, mir geht’s … hören Sie zu, das war ein Missverständnis, er hat geglaubt dass ich …“

„Also gab es diesen Zwischenfall?“, unterbrach er meine Erklärung.

Darauf musste ich nicht antworten, es war mir im Gesicht abzulesen.

„Nehmen Sie die Azalee und zeigen Sie uns dieses Missverständnis, Talita Kleiber von München.“

Ich riss meine Hand so schnell vom Tisch, dass ich mir die Haut abschürfte. Das konnte er einfach nicht von mir verlangen.

„Verweigern Sie sich? Warum? Ich dachte es handelte sich nur um ein Missverständnis.“

Hilfesuchend warf ich einen Blick zu Najat, aber der erwiderte ihn nur grimmig. Was sollte ich tun?

„Zeigen Sie es uns, ansonsten werden wir einen Magier kommen lassen, der die Erinnerung aus ihrem Kopf holen wird und wer weiß, was er da noch alles finden wird.“

Er ließ mir keine Wahl, ich hatte einfach keine Wahl, ich musste es tun. Ich schloss die Augen, als ich langsam nach der Azalee griff. Am liebsten hätte ich diesem Schweinehund von Dandil die Krallen durchs Gesicht gezogen. Meine Finger zitterten, als sie sich auf die glatte Oberfläche der Azalee legten und ich mir die erste Begegnung mit Wulf in Erinnerung rief.

„Wo ist Isla?“

Ich brauchte nicht auf den Bildschirm sehen, wollte es auch gar nicht, zu gut standen mir die Bilder von damals vor meinem inneren Auge.

„Ähm … wer?“

„Isla, meine Tochter, wo ist sie?! Du hast sie, Katze, du hast sie geholt und nun bist du zurückgekommen und jetzt sagst du mir, wo sie ist, sonst reiße ich dir die Kehle raus!“

Die Verwirrung und Angst von damals kroch mir den Rücken rauf. Ich wollte aufhören, meine Hand von der Azalee reißen, doch dann würde ein Magier in meinem Kopf dringen und da waren Sachen drinnen, die niemanden etwas angingen.

„Ich weiß nicht wo ihre Tochter ist, ich kenne keine Isla … der Name sagt mir nichts“, hörte ich meine eigene Stimme voller Furch sagen.

„Lüge.“

„Bitte, ich weiß wirklich nichts über Isla, ich weiß nicht wer das ist, ich weiß nicht …“

„Ich frage nur noch einmal, was hast du mit Isla gemacht, wo hast du sie hingebracht?“

Ein Wimmern aus der Vergangenheit war von mir zu hören.

„Wulf, ich glaube nicht …“

Und dann war das Auditorium erfüllt von meinen Schreien und dem Knurren eines Wolfes, der versuchte mich zu töten. Allein die Erinnerung daran trieb mir eine Träne über die Wange. Dafür, das Dandil mich zwang, das hier öffentlich zu machen, diese Angst noch einmal zu durchleben, hasste ich ihn aus tiefster Seele. Mit dieser Erinnerung hatte ich den Lykanern einen Todesstoß versetzt, von dem sie sich nicht mehr erholen konnten. Sie waren gefährlich und nun konnte jeder in diesem Raum das auch sehen.

Ich lauschte den Geräuschen und erst, als Julica in den Raum kam, um zu verkünden, dass die Drillinge in Priscas Haus auf die Alphahündin warten, ließ ich das Flimmerglas schwarz werden.

Langsam glitt meine Hand zurück in meinen Schoß. Ich wagte es nicht den Blick zu heben, konnte mir das siegreiche Lächeln dieser Missgeburt vor mir nur zu gut vorstellen und auch die versteinerten Gesichter der Lykaner. Ich hatte sie verraten.

„Er wollte Sie töten.“

„Ja.“ Warum noch lügen? War doch sowieso alles zwecklos.

„Warum?“

„Weil er glaubte, dass ich seine Tochter entführt habe.“

„Weil Sie keine von ihnen sind, nicht in die Gesellschaft der Lykaner gehören. Weil er niemals jemand von außerhalb des Rudels wirklich vertrauen würde, auch nicht der Hüterin der Verlorenen Wölfe.“

„Ja.“

„Danke, das war alles, Sie können gehen.“

Wie in Trance erhob ich mich, als Dandil im Auditorium eine kurze Pause verkündete. Ich war von der Befragung so ausgelaugt, dass ich gar nicht auf mein Umfeld achtete, sondern einfach nur still den Saal verließ. Ich wollte hier weg.

 

°°°

 

„Talita? Talita, warte!“

Ich ignorierte Pal und lief weiter durch die Eingangshalle, vorbei an den Zuschauern, Journalisten und Mitgliedern des Konsortium. Ich wollte hier raus, einfach nur raus, bevor ich ersticken würde.

„Jetzt warte doch mal.“ Er packte mich am Arm und riss mich zu sich herum.

„Nein, lass mich, ich muss …“

„Du musst dich nur beruhigen.“

„Nein, ich … lass mich los!“ Ich zerrte an meinem Arm, aber er ließ nicht locker. Verdammt noch mal, warum mussten diese blöden Lykaner einen nur immer festhalten?! „Scheiße, Pal, lass mich …“

„Nein!“, sagte er so bestimmt, wie ich es noch nie aus seinem Mund gehört hatte und augenblicklich hörte ich auf mich zu wehren. Brachte ja sowieso nichts. Alles war Mist. Ich hatte da drinnen versagt und … verflucht, jetzt stiegen mir auch noch Tränen in die Augen. Das gab es doch einfach nicht. Es waren keine Tränen von Traurigkeit, ich war einfach nur wütend. Wütend auf Anwar, diesem scheinheiligen Mistkerl, wütend auf Dandil, dass er mich gezwungen hatte, diese Szene mit Wulf zu zeigen, wütend auf die Lykaner, weil sie mich so unter Druck gesetzt hatten und wütend auf mich selber, weil ich es nicht geschafft hatte, mich durchzusetzen. „Woher wusste er das nur alles?“, fragte ich leise. „Woher verdammt noch mal hat er dieses Wissen über mich? Das ist doch …“

„Beruhige dich.“

„Ich soll mich beruhigen?“, fuhr ich ihn an. „Hast du da drinnen auch nur einen Moment zugehört? Dieses Arschloch hat alles so gedreht, dass die Leute jetzt denken, ich sei nichts weiter als ein liebeskranker Teeny, der alles dafür tun würde, um bei ihrem Lover zu landen. Sie halten mich sicher für eine Lügnerin!“

Djenan tauchte am Eingang des Auditoriums auf und überblickte die Menge – was ihn mit seiner Größe nicht schwerfiel. Er entdeckte mich in der Nähe des Ausgangs und die Menge bereitete ihm freiwillig einen Weg, als er sich auf den Weg zu mir machte.

„Erst hat er mich unglaubwürdig gemacht und den Lykanern dann den Gnadenstoß versetzt. Woher wusste er das mit Wulf überhaupt?“

„Keine Ahnung, vielleicht von Anwar? Du hast ihm damals doch erzählt, dass Wulf auf dich losgegangen ist.“ Er zuckte mit den Schultern. „Außerdem ist es egal. Wir haben alle gewusst, dass es nicht einfach werden würde das Konsortium davon zu überzeugen, dass wir Mortatia sind.“

„Aber ich habe es schlimmer gemacht.“

„Hast du nicht“, kam es von Najat.

Überrascht drehte ich den Kopf zu dem Alpha um. Woher kam der denn plötzlich?

„Guck mich nicht so an, du hast alles richtig gemacht, also hör mit deinen Selbstvorwürfen auf. Ich selber hätte es sicher nicht besser hinbekommen.“

Diese Worte hätten tröstlich sein können, aber damit, dass ich gezwungen gewesen war, die Begegnung mit Wulf zu zeigen, hatte es für die Lykaner nur noch schwerer gemacht. Ich war daran schuld. „Ohne mich wärt ihr bestimmt besser weggekommen.“

„Wie kannst du das wissen?“, fragte Najat. „Hast du mit einem Orakel gesprochen, das dir die mögliche Zukunft preisgegeben hat?“

Da ich nicht glaubte, dass Najat sich mit mir einen Scherz erlaubte – immerhin befand ich mich hier in einer magischen Welt, also warum sollte es hier kein Orakel geben? – schüttelte ich nur mit dem Kopf.

„Na siehst du. Alles wird gut, du wirst schon sehen.“

„Da muss ausnahmsweise Mal einem Hund recht geben.“ Djenan drängte sich an zwei Lykanern vorbei und kam vor mir zum Stehen. Er schaute böse auf Pals Hand, die mich immer noch festhielt und versuchte, sie mit Blicken von meiner Haut zu brennen. „Und jetzt komm wieder mit in den Saal, es geht gleich weiter.“

Ich sollte nochmal in den Saal? Hatte er sie noch alle? „Ich muss nicht mehr aussagen, ich bin fertig.“

„Das heißt, du willst dir die anderen Anhörungen nicht mehr ansehen?“, fragte er neugierig. „Dabei wird es doch jetzt erst interessant. Mal sehen, was Dandil sonst noch so vorzuweisen hat.“

Bei dem Namen von diesem Kitsune, verfinsterte meine Mimik sich sofort wieder. „Ich kann diesen Kerl nicht leiden, er ist …“

„Listig wie ein Fuchs“, sagte Najat mit einem leichten Lächeln und wandte sich dann einfach ab, um zurück ins Auditorium zu kommen.

„Na los, komm schon“, drängte Pal mich sanft und zog leicht. Er hatte mich, trotz Djenans Blicke, nicht losgelassen. „Wir haben dir auch einen Platz freigehalten.“

„Ich habe ihr einen Platz freigehalten“, stellte Djenan sofort richtig und brachte mich damit zu einem kleinen Schmunzeln.

„Ja, aber auch nur, weil du einen Platz brauchtest, auf dem du deine Beine ausruhen konntest“, konterte Pal sofort.

Die stritten sich hier gerade doch nicht wirklich wegen eines freien Stuhls, oder? „Lass uns gehen“, sagte ich schnell, bevor mein Big Daddy noch etwas erwidern konnte und zog sie beide mit mir zurück in den Saal. Dieses Mal blieb ich dem Podest in der Mitte fern, ließ mir von den Jungs den Weg zu unseren Plätzen zeigen und ignorierte dabei die Tatsache, dass ich an Veith vorbei musste, der mit einem seltsam abwesenden Blick auf seinem Stuhl saß und nicht zu merken schien, was um ihn herum los war.

Die Scham darüber, dass Dandil mich gezwungen hatte, meine Gefühle für einen Lykaner – für diesen Lykaner – hier offen zu machen, schwemmte wie eine Welle über mich hinweg. Veith musste wissen, wen ich gemeint hatte und vielleicht tat er deswegen einfach so, als würde er mich nicht bemerken.

Vergiss ihn doch endlich einfach! Schlag ihn dir aus dem Kopf und leb dein Leben weiter.

Wenn das nur so einfach wäre.

Unsere Plätze waren ziemlich weit hinten. Von hier aus konnte ich das ganze Auditorium überblicken und es kam mir noch größer vor, als von unten, wo jetzt eine männliche Gestalt das Podest betrat. Nein, es war nicht Dandil, der stand davor und wartete geduldig darauf, dass der Saal sich wieder füllte. Der Platz, auf dem Podest gebührte nun Rojcan, der Typ, der versucht hatte, mich zu fressen, weil er glaubte, ich sei die Katze, die die ganzen Werwölfe verschleppt. Ob Lykaner wohl irgendwann lernten, ihre Differenzen anderweitig beizulegen? So wie die drauf waren, konnte es nur eine Antwort geben: Nein.

Um mich herum brachten die Gespräche abrupt ab. Das war genauso unheimlich, wie vorhin. Wie funktionierte das? Eine so große Menge konnte man doch nicht einfach zum Verstummen bringen, das war unmöglich. Aber hier war es so, vom einen Augenblick zum anderen, war es so still, dass man die Mäuse in den Wänden schnarchen hören konnte.

Dandil lief, wie zuvor bei mir, eine Runde um das Podest. „Das Verfahren um die Existenz der Lykaner im Codex wir nun fortgeführt.“ Elegant drehte er sich zu dem Alpha auf dem Podest herum und nahm ihn ins Visier. „Nennen Sie uns ihren Namen.“

„Mein Name ist Rojcan vom Nebeltalrudel, ich bin der Alpha.“

„Sie wissen, dass Sie hier die Wahrheit sagen müssen, da es ansonsten eine Strafe nach sich zieht?“

„Das ist mir bewusst.“

„Nun gut, dann sagen Sie mir doch bitte, welche Funktion hat ein Alpha?“

„Als Oberhaupt des Rudels ist es meine Pflicht, für die Sicherheit und das Wohlbefinden meiner Leute zu sorgen. Ich regle Abläufe im Tag und kümmere mich um anfallende Probleme. Ich bin die erste Bezugsperson und habe das Sagen.“

Diese Worte wirkten irgendwie gefühlskalt und einstudiert. Hatte nur ich diesen Eindruck, oder fiel das den anderen auch auf? Naja, andererseits konnte Rojcan ja wohl schlecht sagen, dass er seine Leute aufforderte, andere Mortatia zu verspeisen.

„Wollen Sie damit sagen, dass die anderen Lykaner ihrem Wort ohne Widerrede folgen, egal was sie verlangen?“, wollte Dandil wissen.

„Ja und nein“, antwortete Rojcan ausweichend. „Natürlich folgen sie mir, ich bin der Alpha und mein Wort ist Gesetz, aber es ist nicht so, dass sie mir nie Widerworte geben, auch wenn ich das gerne hätte. Wenn sie mit meinen Ansichten nicht übereinstimmen, dann wird darüber geredet. Ich bin kein Diktator, ich bin ein Rudeloberhaupt.“  

„Das heißt, ihre Lykaner hören nur auf Sie, wenn sie es für richtig halten.“

„Nein.“

„Aber das haben Sie gerade gesagt.“

Leichte Ungeduld schlich sich in Rojcans Stimme. „Nein, ich habe gesagt, mein Wort ist Gesetz, aber auch ich bin nicht unfehlbar. Es gibt Wölfe in meinem Rudel, die mich beraten, allen voraus mein Beta. Das ist, wie hier im Konsortium, einer allein reicht manchmal nicht, aber letztendlich habe ich das letzte Wort.“

„Was so viel heißt, wie, das Ihnen ihre Leute doch blind folgen.“

Das veranlasste Rojcan dazu, leise zu knurren.

Dandil ließ sich davon nicht beeindrucken, verschränkte nur wieder die Arme auf dem Rücken – wie er es schon bei mir getan hatte – und begann damit, vor dem Podest auf und ab zu marschieren. „Das bedeutete, dass es in jedem Rudel einen Mann, oder eine Frau gibt, die das Sagen über bis zu hundert und mehr Lykanern haben, die ohne nachzudenken jeden Befehl ihres Alphas folgen würden.“

„Nein.“

„Was denn nun, haben Sie ihre Leute unter Kontrolle, oder machen die, was sie wollen?“

Scheiße, egal wie Rojcan nun antwortete, es würde falsch sein.

„Nur ein guter Alpha hält sich an der Spitze“, sagte der Alpha des Nebeltalrudels vorsichtig. „Würde ich meinem Rudel nicht gut sein und könnte ihre Sicherheit nicht gewährleisten, würden sie mich absetzen.“

„Absetzen?“

„Ein anderer Alpha, der besser für das Rudel wäre, würde mir meinen Platz streitig machen und von meinen Lykanern unterstützt werden.“

„Also eine Art Meuterei“, hakte Dandil genauer nach.

„Wenn Sie so wollen, ja.“

Dandil blieb stehen und baute sich vor dem Werwolf auf. „Wie sieht dieses Absetzen aus?“

Zögern. „Ich werde herausgefordert.“

„Und dann?“

„Wir kämpfen um den Platz des Alphas.“

„Wie die Wilden.“

„Nein, wie es bei uns Brauch ist“, widersprach Rojcan sofort. „Ein schwacher Lykaner kann kein Alpha werden, auch wenn er noch so intelligent ist, er muss stark sein, um das Rudel beschützen zu können.“

Neugierig neigte Dandil den Kopf zur Seite, doch bei ihm sah die Geste irgendwie einstudiert aus. „Das heißt, die Frauen unter den Lykanern sind den Männern kräftemäßig ebenbürtig?“

„Natürlich gibt es solche Frauen, aber es ist nicht die Regel.“

„Und wie schaffen es so verhältnismäßig viele Frauen den Titel des Alphas zu erringen, wenn sie nicht so stark sind, dass sie das Rudel beschützen können?“

Ein echtes Grinsen machte sich auf dem Gesicht des Alphas breit. „Sie sind listig. Was sie nicht an Kraft haben, machen sie mit Köpfchen wieder wett. Aber sie sind deswegen auf keinen Fall schwach.“

„Warum sagen Sie das?“

„Haben Sie eine Ahnung, wie viele Alphahündinnen in diesem Saal sitzen? Ich habe meine Körperteile ganz gerne an den Stellen, an die sie gehören.“

Von den Zuschauern war vereinzeltes Lachen zu hören – nicht nur aus den Reihen der Lykaner. Sogar ein glockenheller Klang von dem Hohen Rat, war zu vernehmen.

„Damit wollen Sie sagen, dass die Lykaner sehr aggressiv sind und zu Gewaltausbrüchen neigen?“

Das Grinsen erstarb genauso schnell, wie es erschien war. „Nein, damit will ich sagen, dass Frauen im Allgemeinen es nicht für gut befinden, sie als schwach zu bezeichnen und ihre Stärke zu untergraben, auch wenn die nicht immer körperlicher Natur ist.“

Gut gerettet. Das machte er echt genial, dass musste ich neidlos zugeben. Ich an seiner Stelle hätte nicht gewusst, was ich sagen sollte.

„Wie würden Sie ihre Kraft einschätzen, wie stark sind Sie?“, wollte der hinterhältige Fuchs dann wissen und begann damit, Rojcan zu umkreisen.

„Ich kann mich nicht beklagen.“

„Wenn ich Sie bitten würde ein Moob anzuheben, würde ihnen das gelingen?“

„Nein, ganz so stark bin ich auch nicht, aber ich kann es allein mit einem Wildschwein aufnehmen und anschließend lächelnd nach Hause spazieren.“

„Das hört sich so an, als hätten sie das bereits getan.“

„Mehr als einmal“, bestätigte er.

„Nun gut. Soweit ich ihren Erläuterungen folgen konnte, sind Sie als Oberhaupt des Rudels dazu verpflichtet, für die Sicherheit ihrer Leute zu sorgen.“ Dandil hielt vor Rojcan an und sah abwartend zu ihm hinauf.

„Ja.“

„Und wenn Sie nicht dafür sorgen könnten, würden Sie durch einen anderen Lykaner nach einem gewalttätigen Kampf ersetzt werden.“

„Ja.“ Nun war seine Stimme ein deutliches Knurren. Ihm war genauso klar wie mir, dass dieser Fuchs etwas im Schilde führte. Er blieb auf der Hut.

„Warum sind Sie dann noch Alpha?“

„Bitte?“

„Soweit mir bekannt ist, wurden im vergangenen Jahr vier ihrer Lykaner aus ihrer Obhut entführt, von denen zwei auf Grund ihrer Todes nie mehr zum Rudel zurückkehren können und einer nach wie vor Teil der Verlorenen Wölfe ist, die von Talita Kleiber von München betreut werden.“ Ein triumphierendes Glitzern erschien in seinen Augen. „Sie haben versagt und die ihren nicht beschützen können, also sagen Sie mir, warum wurden Sie in ihrem Alphaposten noch nicht enthoben?“

„Passen sie auf, was Sie sagen“, knurrte Rojcan. Er stand an der Schwelle zu einem Wutausbruch. Das war eine offene Herausforderung gewesen und kein Alpha würde sich sowas bieten lassen.

Und da wurde mir klar, was Dandil vorhatte. Er wollte Rojcan provozieren, ihn aus der Reserve locken, um allen zu demonstrieren, wie gefährlich Lykaner waren. Zeitbomben, die jederzeit hochgehen konnten und dabei alles mit sich rissen, was sich in ihrer Nähe befand. Dabei war es dem Kitsune völlig egal, das er selber ins Schussfeld geriet, Hauptsache er hatte seinen Beweis.

„Sie sind ein Arschloch!“, schrie ich quer durchs Auditorium. Klar war das nicht besonders gescheit, aber damit, dass ich die Aufmerksamkeit des gesamten Saals einen Augenblick auf mich zog, gab ich Rojcan den Moment, den er brauchte, um sich wieder runter zu regeln.

„Frau von München, ich muss doch sehr bitten“, kam es von dem Serpens aus dem Hohen Rat. Ich beachtete ihn gar nicht, hatte nur Augen für Dandil, der genau wusste, was ich hier tat.

Pal legte mir eine Hand aufs Bein und drückte leicht. Die Botschaft war deutlich: bleib ruhig.

Ich warf dem Serpens einen kurzen Blick zu und senkte dann meinen Kopf. Das nahm die Allgemeinheit wohl als Zeichen dafür, dass ich ab jetzt still sein würde, denn Dandil nahm seinen Faden nach einem letzten, wütenden Blick auf mich wieder auf. „Also, bevor wir unterbrochen wurden, wollte ich von Ihnen wissen, warum Sie ihres Alphapostens nicht enthoben wurden, wo Sie ihr Rudel doch nicht vor den Übergriffen beschützen konnten.“ 

„Weil sich diese Taten meines Machtbereiches entzogen“, grollte er leise und ich wusste, dass er sich noch lange nicht beruhig hatte.

„Ob es so war oder nicht, Sie konnten ihr Rudel nicht schützen“, hielt Dandil sofort dagegen. Er wollte den Lykaner immer noch provozieren, aber zum Glück trugen seine Versuche keine Früchte. Rojcan hatte sich im Griff.

„Nein, konnte ich nicht, aber das wird kein zweites Mal passieren.“

„Oh, das klingt aber sehr finster.“

Darauf schwieg er.

„Nun gut, dann befassen wir uns doch einmal mit einem anderen Thema. Wie stehen Sie zu der Hüterin der Verlorenen Wölfe?“

„Ich kann sie nicht leiden“, kam es sofort wie aus der Pistole geschossen.

Oh vielen Dank auch. Wenn diese Gefühle nicht auf Gegenseitigkeit beruhen würden, könnte ich mir fast gekränkt vorkommen. Zum Glück wusste hier niemand, dass Rojcan auch einmal versucht hatte, mich umzubringen.

„Warum nicht?“, wollte Dandil wissen.

„Sie ist keine von uns, sie versteht uns nicht und bring Unruhe in die Gemeinschaf der Lykaner.“ Er warf mir einen giftigen Blick zu. „Ohne sie wäre vieles anders gelaufen. Ich verstehe auch die Lykaner nicht, die eine Freundschaft zu ihr pflegen. Meiner Meinung nach, sollten wir sie einfach vergessen.“

„Hegen Sie solche Gefühle nur gegenüber von Talita Kleiber von München?“

„Nein.“ Seine Augen wanderten zurück zu dem Vorsitzenden des Hohen Rats. „Ich weiß, Sie verstehen es nicht, aber die Gemeinschaft der Lykaner funktioniert am besten, wenn Außenstehende uns fern bleiben. Wir mögen keine Fremden.“

„Und was tun Sie, wenn sich doch einmal ein Fremder in ihr Territorium verirrt?“ 

Ich sah das Blitzen in seinen Augen und wusste genau, dass er schon wieder etwas plante. Hoffentlich bemerkte der Querkopf von Wolf da unten das auch.

„Wir vertreiben sie aus unserem Revier und machen ihnen verständlich, dass sie sich fernhalten sollen“, erwiderte er schlich.

„Wie läuft das ab, dieses … Verständlich machen“, wollte Dandil wissen.

„Der Eindringling wird aus dem Revier eskortiert und dazu angehalten, nie wieder dort aufzutauchen.“

„Wie wird er dazu angehalten?“

„Wir sagen es ihm.“

„Aber es läuft nicht immer so human ab, nicht wahr?“

Oh, wenn Blicke töten könnten, würde Dandil jetzt in Flammen aufgehen. Rojcan riss sich ganz schön zusammen.

„Nicht wahr?“, bohrte der Kitsune noch einmal nach.

„Nein, nicht immer“, gab Rojcan mit knirschenden Zähnen zu. „Manchmal müssen wir etwas nachdrücklicher werden, aber das ist äußerst selten.“

Dandil machte einen Schritt näher an den Alpha heran. „Und dieses Nachdrücklicher werden, artet dann in Gewalt aus?“

„Nein, Niemals.“

Der Kitsune seufzte, als wäre er die Lügen dieses Lykaners leid und wandte sich dann zum Hohen Rat herum. „Ich möchte Rojcan vom Nebeltalrudel entlassen und Zebrina von Triesnest aufrufen, um diese letzte Aussage zu widerlegen.“ 

Das sorgte für einige Unruhen im Anhörungsaal, hauptsächlich unter den Lykanern. Natürlich wussten sie, dass einige Eskortierungen nicht ganz so human waren, wie sie sein sollten und alles, was sie in einem schlechten Licht dastehen ließ, war ein Steinchen mehr, das die Waage in die falsche Richtung zum Kippen brachte.

„Der Hohe Rat hat keinerlei Einwände“, sagte die Banshee aus den Reihen des Konsortiums. „Zebrina von Triesnest soll vortreten und Rojcan vom Nebeltalrudel ist vorerst entlassen.“

Das passte dem Alpha nicht, ganz und gar nicht. Trotzdem erhob er sich von seinem Platz und schritt über die Treppe zurück zu den Leuten seines Rudels, während sich eine junge Frau von den unteren Reihen der Tribüne löste und zögernd den Weg zum Podest einschlug.

Ich hatte bei der ganzen Sache ein sehr ungutes Gefühl. Was führte dieser hinterhältige Kitsune Dandil jetzt schon wieder im Schilde?

Die Frau, eine Elfe mit engelsgleicher Ausstrahlung und der Figur einer Göttin, betrat leicht nervös das Podest. Um ihre Beine schlug ein langer, weinroter Leinenrock, den sie mit einer hellen Bluse kombiniert hatte. Es machte den Eindruck, als versuchte sie sich vor etwas zu verhüllen, denn Elfen liefen normalerweise nicht so zugeknöpft durch die Gegend. Sie hatte langes, schwarzes Haar und strahlte etwas so Reines und Zerbrechliches aus, das bei einem den Wunsch auslöste, sie beschützen zu müssen. Egal, wer diese Frau war, ich konnte sie jetzt schon nicht leiden.

„Kommen Sie, setzen Sie sich.“ Dandil warf ihr ein wohlwollendes Lächeln zu, das wohl aufmunternd wirken sollte und half ihr, sich auf den Stuhl zu setzten. „Haben Sie keine Angst, hier kann Ihnen nichts passieren, dafür sorge ich schon.“

Zögernd erwiderte sie sein Lächeln, warf dann einen unruhigen Blick in die Zuschauerreihen und senkte den Blick auf die Hände in ihrem Schoß.

„Nun gut.“ Er verließ das Podest wieder und stellte sich an seinen Platz zwischen der Elfe und dem Weltrat. „Nennen Sie uns doch bitte ihren Namen.“

„Zebrina von Triesnest“, sagte sie sehr leise.

„Ihnen ist bekannt, dass Sie hier die Wahrheit sagen müssen, da es sonst eine Strafe nach sich ziehen kann?“

„Ja.“ Die Frau sah nicht nur schwach aus, sie hörte sich auch so an. Egal was mit ihr los war, sie war furchtbar nervös und ich hatte so das ungute Gefühl, dass es etwas mit den Lykanern zu tun hatte.

„Zebrina, würden Sie uns bitte sagen, was Sie beruflich machen?“

„Naja, ich …“ Nervös flitzte ihre Zunge über ihre Lippen. Wieder ein schneller Blick zu den Lykanern. „Hausfrau. Ich bin … Hausfrau.“

„Waren Sie schon immer Hausfrau?“

„Nein.“

„Was haben Sie früher gemacht?“

„Ich hab … ich war Tänzerin.“

„Und eine außergewöhnlich gute, wie ich gehört habe.“ Er lächelte sie an.

„Es war okay.“

„Nun mal nicht so bescheiden. Ich habe mich im Vorfeld ein wenig über Sie kundig gemacht und zu sagen, Sie wären ein aufgehender Stern gewesen, wäre untertrieben.“

„Danke.“

Ich runzelte verwirrt die Stirn. Worauf wollte er mit seinem Gelaber eigentlich hinaus? Ich meine, dass sie mal getanzt hatte, war ja schön und gut, nur was hatte das mit den Lykanern zu tun? Wollte ich das überhaupt wissen?

„Zebrina, sagen Sie uns doch bitte, warum sie mit dem Tanzen aufgehört haben.“

„Ich habe … ich … eine Verletzung am Bein.“

„Wegen einer Verletzung am Bein können sie nicht mehr tanzen?“, hackte er nach.

Zustimmend nickt sie. „Das ist richtig.“

„Warum? Ist sie noch nicht geheilt?“

„Doch, schon, aber …“ Sie rang in ihrem Schoß nervös mit den Händen.

„Aber was?“, drängte dieser Mistkerl. Sah er den nicht, dass die Frau sich unwohl fühlte? Er sollte sie entlassen und nach Hause schicken, damit wäre allen Beteiligten am besten geholfen und wir könnten die ganze Sache zu den Akten legen.

„Die Verletzung bereitet mir chronische Schmerzen, mit denen kann ich nicht tanzen.“

„Waren Sie denn nicht bei einem Heiler?“

„Ich war schon bei vielen Heileren, aber sie können mir nicht helfen.“ Sie seufzte schwer ihr Leid zur Welt hinaus. „Keiner konnte mir helfen, meinen Traum vom Tanzen musste ich schon vor langer Zeit begraben.“

„Das tut mir leid zu hören.“ Er beugte sich ein wenig vor, als wollte er eine vertrauensvolle Basis schaffen, damit sie sich ihm öffnen konnte. „Würden Sie uns bitte sagen, wie es zu dieser Verletzung gekommen ist, die Sie ihren Traum gekostet hat?“

Wie er das sagte, mir stellten sich sämtliche Härchen im Nacken auf und wäre ich gerade eine Katze gewesen, hätte sich mir das Fell gesträubt.

„Es ist schon etwas länger her“, gab sie zu bedenken.  

„Das ist nicht so schlimm, erzählen Sie es bitte trotzdem.“

Sie zögerte, knautschte ihre Hände nervös im Schoss. „Naja, damals war ich gerade von Triesnest nach Sternheim gezogen. Mein heutiger Mann musste aus beruflichen Gründen herkommen, also habe ich ihn begleitet. Und dann, an … ich …“ Sie atmete hektisch ein und ihr Blick flog wieder nach oben zu den Lykanern.

„Ganz ruhig, lassen Sie sich Zeit. Was ist nach dem Umzug geschehen?“

Sie machte einige unruhige Atemzüge, in denen sie sich sammelte. „Ramo, mein Mann, hat damals ein Ausflug mit mir gemacht. Er hatte vor, mir einen Antrag zu machen und hat alles geplant, es sollte eine Überraschung für mich werden. Wir sind in zum Geysiresee gefahren, nahe der Felsformation, die einem Drachen ähnelt.“

Neben mir zog Pal scharf die Luft an.

Ich warf  ihm einen fragenden Blick zu. „Was ist?“, flüsterte ich.

„Das ist das Revier vom Drachenfelsrudel.“

Ich erinnerte mich, auf der Versammlung im letzten Jahr hatte ich den überheblichen Alpha Azat kennengelernt. Der war definitiv ein Werwolf, den ich nicht in dunkeln Gassen begegnen wollte.

„Was ist dort passiert?“, riss Dandils Frage mich aus meinen Gedanken.

„Naja, am Anfang war alles schön. Ramo hatte ein Picknick vorbereitet, dass wir dort zu uns genommen hatten und Blumen mit seinem Gesang für mich wachsen lassen.“ Ein leicht verträumter Ausdruck schlich sich auf ihr Gesicht. „In einem dieser Blütenkelche lag ein Ring und als ich ihn entdeckte, bat Ramo mich die Seine für alle Zeiten zu werden.“ Der leicht entrückte Ausdruck schwand aus ihrem Gesicht. „Und dann tauchten sie auf.“

„Sie?“ Dandil horchte auf. „Wer sind Sie?“

„Lykaner.“ Wieder flog ihr Blick in die Zuschauerreihen und zum ersten Mal bemerkte ich, dass sie die ganze Zeit in eine bestimmte Richtung sah. Nein, nicht Richtung, Reihe. Sie sah zu Azat und seinen Wölfen, die weiter unten links von mir saßen.

„Ihr Mann hat Ihnen also einen Antrag gemacht und dann sind ein paar Lykaner aufgetaucht“, fasste Dandil zusammen. „Was ist weiter passiert?“

„Ich … wir wussten nicht, dass das ihr Revier war, wirklich nicht.“

„Woher sollten Sie das auch wissen? Sie waren ja noch ganz neu in der Stadt“, beruhigte der Kitsune die Elfe sofort.

 „Ja und das haben wir versucht, ihnen zu erklären, aber sie wollten nicht hören. Sie wollten, dass wir gingen, sofort.“

Dandil nickte, als würde er verstehen. „Sind Sie dieser Aufforderung nachgekommen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Soweit kam es gar nicht. Einer von ihnen hat mich am Arm gepackt und dann ging alles so schnell. Ich … ich …“ Wieder fing sie an hektisch einzuatmen.

„Bleiben Sie ruhig, lassen Sie sich Zeit, hier kann ihnen niemand etwas tun.“ Er reichte ihr von seinem Podium ein Glas Wasser, das sie dankend nahm und hastig austrank. „Besser?“

„Ja, danke.“

„Gut.“ Er nahm das Glas zurück. „Dann erzählen Sie uns doch bitte, wie es weiterging.“

„Ich … also, die Frau hat mich am Arm gepackt und wollte mich wegzerren und Ramo wollte mich retten und versuchte die Frau von mir wegzuziehen, da hat der Mann mit der Narbe auf der Wange sich auf ihn gestürzt. Ich wollte ihm helfen und dann fühlte ich diesen Schmerz in meinem Bein.“ Ein paar Tränen sickerten aus ihren Augen und liefen ihr über die Wangen. „Die Frau, sie hat sich verwandelt und mich angegriffen.“

„Ganz ruhig.“

„Sie … sie hat mir mit einem Biss das Bein gebrochen.“

Verdammt, diese dummen Lykaner! Warum konnten die eigentlich nie nachdenken, bevor sie etwas taten? Das war doch echt zum Haareraufen.

„Und das ist der Grund, warum Sie heute nicht mehr tanzen können“, erkannte Dandil mit einem selbstzufriedenen Lächeln.

„Ja“, schniefte sie. „Die Verletzung ist nie richtig geheilt. Die Heiler vermuteten, dass das an dem Speichel der Lykaner lag. Die Frau musste vorher etwas gegessen haben, was die Wunde verunreinigte. Niemand konnte mir helfen.“

„Und wie sind Sie und ihr Mann von dort weggekommen?“

„Nachdem die Frau mir das Bein gebrochen hat, hat sie von mir abgelassen und auch der Lykaner ließ meinen Mann in Frieden. Sie sagten uns, dass wir sofort aus ihrem Revier verschwinden sollten und nie wieder kommen sollten, wenn wir nicht noch einen Denkzettel haben wollten. Sie beobachteten ganz genau, wie mein Mann mich zum Moob trug und liefen auch noch ein Weilchen in Wolfsgestalt neben uns her, als er aus ihrem Revier herausfuhr.“ Mit zitternder Hand wischte sie sich die Tränen von der Wange. „Vermutlich wollten sie sicher gehen, dass wir auch wirklich aus ihrem Territorium verschwanden.“

„Ich danke Ihnen, dass Sie diese Geschichte mit uns geteilt haben.“

„Ich würde alles dafür tun, wenn diese Biester endlich ihre gerechte Strafe erhalten würden.“

Gerechte Strafe? Verdammt, war die Tussi da unten noch ganz dicht? Klar, was ihr widerfahren war, war schrecklich und ich würde diesen beiden Werwölfen, die dafür verantwortlich waren am liebsten selber einen Tritt in den Hintern verpassen, aber hätten sie und ihr Mann sich nicht so saudämlich verhalten, dann wäre es nie so weit gekommen. Was haben die denn geglaubt, wie die Lykaner auf Eindringlinge reagieren, von denen sie auch noch angegriffen wurden? Eine Einladung ins Kino? Das gab es doch nicht. Warum stellte hier eigentlich nie jemand fragen, die die Lykaner in ein besseres Licht rückten? So konnte man doch keine Verhandlung führen und eine so wichtige Entscheidung sollte aufgrund solcher Aussagen auch nicht getroffen werden!

„Bevor ich sie entlasse, hätte ich noch eine Bitte an Sie“, sprach der Kitsune die Elfe erneut an.

„Nennen Sie sie mir.“

„Ich möchte Sie bitten, dem Konsortium ihr Bein vorzuführen, damit alle sehen können, was der Biss eines Lykaners für weitreichende Folgen haben kann. Könnten Sie das für mich tun?“

Oh, dieser Schleimer. Am liebsten würde ich da runtergehen und ihm den hinterhältigen Hals umdrehen.

Zögernd stimmte Zebrina mit einem Nicken zu und erhob sich von ihrem Platz. Sie stellte sich vor ihren Tisch und atmete mehrmals tief ein, bevor sie ihren Rock lüftete und die Sicht auf eine grausame Wunde an ihrem Unterschenkel preisgab.

Das Fleisch dort war zerstört und mit unzähligen Narben übersäht. Das Bein wirkte leicht schief. Allein von dem Anblick würde mir mein Frühstück wieder hochkommen, wenn ich denn eines zu mir genommen hätte. Auch wenn ich es nicht wollte, verstand ich nun, warum sie die Lykaner so verabscheute.

„Ich danke ihnen für ihre Offenheit, Zebrina, Sie können sich nun wieder setzten.“

Sofort fiel der Rock wieder und die Elfe ging zurück auf ihren Platz.

Dandil wandte sich schwungvoll dem Konsortium zu. „Rojcan vom Nebeltalrudel hat behauptet, dass Eindringlinge niemals mit Gewalt aus den Revieren entfernt werden, doch dieser Fall zeigt das genaue Gegenteil auf und es ist auch nicht der erste dieser Art. Ich habe noch weitere Opfer solcher Attacken ausfindig machen können, die ich in den nächsten Tagen nach und nach vorführen werde.“ 

„Damit hättest du dann dein kleines Bühnenstück von vorn bis hinten durchgeplant, nicht wahr, Dandil?“

Das ganze Auditorium wandte sich der glockenhellen Stimme zu, die aus den Reihen des Weltrats durch den Saal hallte. Ich hatte sie schon einmal gehört, ganz zu Anfang, der Anhörung. Sie hatte dafür gesorgt, dass die Lykaner innerhalb von Sekunden verstummten. Und das Lachen vorhin …

Eine junge, blonde Frau mit verspielten gelben Augen und einem zynischen Lächeln auf den Lippen, erhob sich von ihrem Platz und schritt die Treppe nach unten zum Podest. Ihre Haut war stark gebräunt und sie erinnerte mich ein wenig an die Alphahündin des Rajarudels. Noch ein Surfergirl. Vielleicht stammte sie ja von ihnen ab.

„Wer ist das?“, fragte ich Pal leise.

„Obsessantia.“, flüsterte er zurück.

„Wer?“

„Die Lykanerin, die mein Volk im Hohen Rat vertritt.“

Das war … die konnte doch kaum älter als ich sein!

„Weißt du Dandil, wenn du weniger versuchen würdest, meine Leute in einem schlechten Licht dastehen zu lassen und mehr dafür sorgen würdest, das wir Fakten bekommen, die für Entscheidung dieses Verfahrens wichtig wären, dann wären deine ewigen Reden vielleicht noch zu etwas nütze.“ Noch vier Stufen, dann stand sie genau vor dem Kitsune. Sie war einen ganzen Kopf kleiner als Dandil und viel zierlicher. Und sie war umgeben von dieser Macht, die nur ein Alpha ausstrahlte. Bei ihrem Anblick war wohl jedem im Saal klar, was Rojcan vorhin damit gemeint hatte, dass Lykanerinnen, auch wenn sie den Männern karteimäßig zumindest körperlich nicht ebenbürtig waren, niemals schwach rüberkamen.

„Ich versuche niemanden in einem schlechten Licht dastehen zu lassen, ich führe nur Gegebenheiten auf“, verteidigte sich der Vorsitzende sofort.

„Dürfte ich es auch einmal versuchen?“

Dandil machte eine einladende Geste und räumte für Obsessantia das Feld, doch es war ihm anzusehen, dass ihm das ganz und gar nicht passte.

„Danke.“ Sie neigte leicht den Kopf und stellte sich dann vor Zebrina. „Weißt du, wer ich bin?“

„N-nein“, stotterte sie und warf einen hilfesuchenden Blick zu Dandil.

Dummes Mädchen. Wer einen solchen Alpha vor der Nase hatte, sollte niemals seinen Blick abwenden.  

„Ich bin Obsessantia, die Stimme der Lykaner. Mir gebührt die Ehre, einen Platz im Hohen Rat für mein Volk einzunehmen.“

Zebrina schluckte.

„Hab keine Angst, ich werde dir nichts tun, nur ein paar Fragen stellen.“

Ich beugte mich leicht zu Pal rüber und fragte flüsternd: „Darf hier jeder Fragen stellen?“

„Jeder aus dem Hohen Rat“, flüsterte er zurück.

Aha, dann waren die Parlamentäre wohl sowas wie stille Geschworene, die trotzdem tatkräftig bei dem Urteil mitmischen durften.

„Ich hoffe das wird für dich kein Problem sein?“, wollte Obsessantia wissen.

„Nein, es ist … nein.“

Ein Zucken hob die Mundwinkel der Lykanerin. „Ich habe deiner Geschichte sehr aufmerksam gelauscht und möchte dir mein Beileid aussprechen. Was die Lykaner getan haben war keineswegs rechtens und so, wie ich den Alpha des Drachenfelsrudels kenne, hat das Handeln dieser beiden sicher unerfreuliche Folgen für sie gehabt?“ Sie ließ ihre Worte in einer Frage ausklingen und wandte sich Azat im Publikum zu, der zustimmend nickte. „Siehst du, nicht nur du wurdest für deine Unachtsamkeit bestraft.“

„Ich muss doch sehr bitten“, echofierte Dandil sich. „Das diese …“

„Ich habe dich deine Befragung in Ruhe zu Ende führen lassen und ich denke, dass der Respekt es mir gebührt, dass ich auch die meine ohne Einwürfe führen darf.“

Dandil kniff zwar die Augen zusammen, schwieg aber.

„Danke.“ Sie wandte sich wieder Zebrina zu. „Also, du hast gesagt, dass die Frau dich am Arm gepackt hat. Warum?“

Nervös leckte sie sich über die Lippen. „Ich … ich weiß nicht.“

„Was glaubst du, warum sie das getan haben könnte?“

„Weil …“ Hilflos sah sie zu Dandil, doch der war im Moment machtlos.

„Also, ich möchte diese Situation für dich und die anderen in diesem Saal so rekonstruieren, wie sie sich vor mir auftut. Wir wissen alle, das Lykaner sehr revierfixiert sind, auch ich. Einmal hat eine Hexe sich auf meinen Platz in der Kantine gesetzt, danach hat sie sich drei Wochen krank gemeldet, so sehr habe ich sie erschreckt, aber das sind meine Instinkte, dagegen komme ich nicht an. Wir Lykaner verteidigen, was uns gehört, aber wir werden dabei keineswegs immer gewalttätig. Damit es zu so einem Ausbruch kommt, muss schon etwas gravierendes passieren.“ Sie ließ den Blick einmal über die Zuschauer schweifen, bevor sie sich wieder auf Zebrina konzentrierte. „Ich interpretiere deine Erzählungen wie folgt. Du und dein Mann haben sich unwissend in dem Territorium der Drachenfelswölfe niedergelassen. Die Gründe dafür waren egal, ihr wart Eindringlinge und jeder Lykaner fühlt sich in einer solchen Situation dazu verpflichtet, so jemanden aus seinem Revier zu entfernen und wenn sie es nicht können, weil sie zu jung oder zu schwach sind, dann sagen sie jemanden Bescheid, der das kann.“

„Aber wir wollten doch nur …“

Obsessantia hob die Hand, woraufhin sie sofort wieder verstummte. „Als die Frau dich am Arm gepackt hat, wollte sie dich sicher nur aus dem Revier eskortieren, oder vielleicht auch zu deinem Moob, das weiß ich nicht, ohne vorher mit ihr gesprochen zu haben, aber was ich gewiss sagen kann, ist, dass sie niemals vorhatte, dich zu verletzen. Erst als dein Mann sich auf sie gestürzt hat, ist die Situation eskaliert. Er hat sie angegriffen, was den Lykaner, der sie begleitete hat, dazu veranlasste, seine Rudelgefährtin zu beschützen. Natürlich wolltest du das Gleiche für deinen Mann tun, aber dass der Lykaner es plötzlich mit zwei Feinden zutun bekam, konnte die Wölfin natürlich nicht zulassen und hat somit das erstbeste getan, was ihr eingefallen ist, sie hat dich ausgeschaltet und zwar ohne dich zu töten, wie es ihr Instinkt in diesem Moment, zweifels ohne, sicher befohlen hat.“

„Aber … aber … wir waren doch gar keine Feinde, wir wollten nur …“

„Dein Mann hat eine Lykanerin angegriffen“, unterbrach sie Zebrina sofort, ohne sie aussprechen zu lassen. „Warum ist in einer solchen Situation irrelevant, er hat sich am Rudel vergriffen und damit die Lykaner herausgefordert.“

„Er wollte mir doch nur helfen“, verteidigte die Frau ihren Mann schwach.

„Das mag sein und ich werde diese beiden Lykaner sicher nicht in Schutz nehmen. Sie haben ein Fehler gemacht und die Situation falsch eingeschätzt, aber macht nicht jeder einmal Fehler?“

„Doch.“

„Du sagst es, niemand ist unfehlbar. Und auch du und dein Mann haben Fehler begangen, indem ihr sie angegriffen habt. Kannst du mir da zustimmen?“

Sie biss sich verzagt auf die Unterlippe.

„Zebrina von Triesnest, ich muss auf eine Antwort bestehen.“

„Ja“, kam es zögern von ihr.

„Ich danke dir für deine Ehrlichkeit und wenn Dandil jetzt keine weiteren Fragen an dich hat, bist du entlassen.“ Sie wandte sich dem Kitsune zu.

„Nein, ich habe keine Fragen mehr.“

„Dann ist die Anhörung für heute beendet“, schallte die mächtige Stimme des Minotaurus aus dem Hohen Rat durch das Auditorium. „Wir werden uns hier in drei Tagen zum Höchststand der ersten Sonne wieder einfinden, um das Verfahren fortzuführen.“

Mit wehender Robe und einem Lächeln, das um ihren Mund spielte, verließ Obsessantia den Saal.

 

°°°

 

„Also sind wir doch gar nicht so schlecht davongekommen“, fasste Kaj meine Erzählung von der Anhörung am Abend bei mir zu Hause zusammen. Naja, eigentlich war es ja schon Nacht und längst Zeit für mich, ins Bett zu gehen, aber ich konnte genauso wenig schlafen, wie die beiden anderen.  

Ich sah die Wölfin an wie ein Pferd. „Hast du eigentlich zugehört, was ich gerade erzählt habe?“

Völlig entspannt lehnte sie sich neben Pal auf meiner Couch zurück und tat, als müsste sie überlegen. „Um ehrlich zu sein … nein. Ich sitze nur hier rum und spiele Dekoration.“

Für den dummen Spruch bekam sie einen echt bösen Blick von mir.

„Na hör mal, was hast du den geglaubt, was passieren würde?“, wollte sie dann von mir wissen. „Das du uns einmal hoch in den Himmel lobst und die ganze Sache sich damit erledigt hat?“

Das zu glauben wäre wohl äußerst naiv, auch wenn es ein schöner Gedanke war. „Das hätte mir auf jeden Fall gefallen.“

„Aber es ist unrealistisch.“ Pal beugte sich zu meinem Sessel vor und tätschelte mein Knie. „Hör zu, noch ist nicht alles verloren. Die negativen Seiten von uns, die heute aufgeführt wurden, sind für die übrige Bevölkerung nichts Neues und in dem einzigen Moment, in dem es für uns hätte brenzlig werden können, hat Obsessantia für uns das Steuer noch einmal herumgerissen.“

„Pal hat Recht“, stimmte Kaj ihm zu. „Wir stehen zwar nicht besser da wie vorher, aber auch nicht schlechter.“

„Das heißt also nichts anderes, als, dass wir immer noch bei null stehen und meine Vernehmung rein gar nichts gebracht hat“, fasste ich bitter zusammen.

„Nein, das stimmt nicht“, widersprach Pal mir sofort. „Du hast diesen Wesen mit deinen Erinnerungen eine Seite von uns gezeigt, die in der Öffentlichkeit gänzlich unbekannt war.“

Das Klingeln an der Tür unterbracht Pal einen Augenblick. Kaj gab uns ein Zeichen, dass wir ruhig weiterreden sollten und verließ das Wohnzimmer.

„Aber das hätten auch jeder andere Lykaner machen können. Ich bleibe also nach wie vor unnütz in dieser ganzen Sache.“

Mit seinem halbem Lächeln schüttelte Pal den Kopf. „Du verstehst es nicht, oder?“

Um ehrlich zu sein, nein. „Keine Ahnung, worauf du hinaus möchtest.“

„Pass auf, dadurch, dass du keinem Rudel angehörst und wie du es so schön gesagt hast, keinerlei Freundschaften zu den Rudeln pflegst, sondern nur zu Einzelgängern …“

„Das habe nicht ich gesagt, das kam von Dandil.“

Pal sprach einfach weiter, als hätte ich nichts gesagt. „… somit also eine komplett Außenstehende bist, bekommen deine Erinnerungen ein ganz anderes Gewicht, als wenn du ein Lykaner wärst. Du hast denen gezeigt, wie jemand außerhalb der Rudel uns sieht, ohne komplett in das Ganze involviert zu sein.“ Er grinste leicht. „Und das, was du ihnen über Anwar gezeigt hast, war auch nicht schlecht.“

„Vielleicht sollten wir dann auch dafür sorgen, dass Domina eine Aussage macht“, überlegte ich laut.

Schon bevor ich zu Ende gesprochen hatte, schüttelte Pal den Kopf. „Domina mag sich in eine Löwin verwandeln, aber sie ist von Herz und Geist eine Wölfin.“

„Eine Wölfin, die hin und wieder in Bäume klettert.“

„Auch das.“

Aus dem Flur drangen murmelnde Stimmen auf uns zu und kaum eine Sekunde später glaubte ich,  mich in einem Déjà-vu zu befinden. Kaj kam in den Wohnraum, zwei Wächter im Anhang, von denen einer Recep der Vampir war.

Ich schloss die Augen, als er den Mund öffnete und die Worte sprach, vor denen ich mich fürchtete. „Talita Kleiber von München, Sie müssen mit uns kommen, es gab einen weiteren Toten bei den Verlorenen Wölfen.“

In der folgenden Stille war nur das Ticken der Uhr zu hören, die unaufhaltsam Mitternacht entgegenschlug.

 

°°°°°

Tag 460

Die erste Sonne schickte sich bereits an, den Morgen einzuläuten und tauchte die Szenerie vor mir in ein unheimliches Zwielicht. Stumpf saß ich auf dem Baumstumpf am Rand des Waldes und starrte auf das Vox in meiner Hand. Nicht mal den leichten Nieselregen, der auf mich niederprasselte, bemerkte ich. Wie hatte das nur passieren können? Wieso war es wieder geschehen, ausgerechnet jetzt? Das konnte doch kein Zufall sein, das konnte …

Ich rieb mir mit der freien Hand übers Gesicht und versuchte, alles um mich herum zu verdrängen. Die Tränen waren schon vor einer Ewigkeit verschwunden und jetzt fühlte ich mich einfach nur noch leer und ausgebrannt. Eigentlich sollte ich Pal anrufen. Ich hatte ihm versprochen mich bei ihm zu melden, sobald ich genau wusste, was hier los war. Pal hatte mich begleiten wollen, genau wie Kaj, doch die beiden auch noch hier zu haben, würde nicht viel bringen. Sie würden eh nur im Weg stehen – Receps Worte, nicht meine.

Ich hatte die beiden überzeugen können, zuhause zu bleiben, aber nur unter der Bedingung, dass ich sie anrufen würde, wenn ich sie doch bräuchte und mich so schnell wie möglich bei ihnen meldete, um ihnen Bescheid zu sagen, was hier vorgefallen war.

Langsam hob ich das Vox an mein Ohr und flüsterte Kajs Namen. Es klingelte nicht mal, da war sie bereits in der Leitung.

„Tal, was ist los? Geht es dir gut? Sollen wir hinkommen?“

Die musste ja geradezu am Vox gelauert haben. „Nein, bleib mal, wo du bist, mir geht es gut.“

„Tut mir leid dir das sagen zu müssen, Süße, aber so hörst du dich ganz und gar nicht an.“

Das entlockte mir ein unglückliches Lächeln. „Ich komme schon klar.“

„Was ist denn nun … Moment, ich schalte mal auf laut, Pal will auch mithören.“ In der Leitung gab es einen langen Piepton. „So, nun sag schon.“

„Es ist die Harpyie.“

„Harpyie?“, hörte ich Pal fragen.

„Die Tante von den Protestanten.“ Mein Blick schweifte hinüber zu der Spurensicherung, die gerade dabei waren, die verstreuten Einzelteile von der zerfetzten Frau zusammen zu sammeln. Dieses Mal hatte Grey mitgemischt und im Gegensatz zu den Elfenjungen, war sie nicht mehr in einem Stück gewesen, als ich mit den Wächtern eingetroffen war. Er hatte es geschafft sich den Maulkorb abzustreifen und dann ungehindert sein Revier verteidigt. Aber ich trauerte dieser Frau keine Träne nach. Sie hatte bekommen, was sie verdient hatte und das dachte ich nicht nur, weil sie mir und den Lykanern das Leben unnötig schwer machen wollte.

„Du meinst die Tussi, die die ganze Zeit gegen dich gehetzt hat?“, fragte Kaj.

„Ja. Sie ist … tot.“ In blutige Einzelteile zerrissen, die über den ganzen Vorplatz des Urwaldparks und zwischen den Bäumen verteilt waren. Der kupferhaltige Geruch ihres Blutes schwebte über die ganze Lichtung und ließ sich einfach nicht vertreiben.

„Aber das ist nicht alles“, schlussfolgerte Kaj. „Du verschweigst uns noch etwas.“

Wie sie das wohl bemerkt hatte? „Es gab noch einen Toten“, flüsterte ich schwach und das war der, den ich betrauerte. Wegen ihm waren Tränen geflossen, auch wenn die Wächter das nicht verstanden hatten. Wieso sollten sie auch? Ihnen bedeuteten meine Wölfe nichts. Aber mir, sie waren mein Leben, meine Welt. Sie gehörten zu mir.

Am anderen Ende der Leitung wurde von Kaj die Luft scharf durch die Zähne eingesogen. Ich konnte den Unglauben in ihrem Gesicht geradezu vor mir sehen. „Zwei Tote?“

„Zwei“, bestätigte ich.

Vor mir herrschte reges Treiben auf dem Vorplatz. Wächter liefen zwischen der Spurensicherung umher. Draußen vor dem Schild war die Umgebung weiträumig abgesperrt worden, um nicht nur die Protestanten, Schaulustigen und Journalisten fernzuhalten, sondern auch die Lykaner, die hier aufgetaucht waren.

Was sie hier wohl wollten? Vielleicht sich an meinem Versagen weiden, oder Informationen aus erster Hand bekommen. Ich hatte es bisher vermieden, mit ihnen zu sprechen, war nach meiner Ankunft von den Wächtern direkt an ihnen vorbeigeführt worden und den vertrauten Blicken ausgewichen.

Cui war dort draußen, zusammen mit Waran und Veith. Sein Blick hatte sich wie ein Brenneisen in meinen Rücken geätzt. Ich hatte Najat und Sinssi gesehen, Xyla, Minestra, Rojcan, Opaja, Zephyr, Azat und noch so viele andere, die ich nicht kannte. Sie alle waren dort draußen und warteten auf mich. Ich wusste es, auch wenn ich kein Wort mit ihnen gewechselt hatte, ihre Blicke sprachen Bände.

Pal atmete tief durch. „Wer ist der zweite Tote?“

Eine weitere Träne löste sich aus meinem Auge, rollte über meine Wange und fiel beinahe lautlos auf den erdigen Boden zwischen den kleinen Farnen, als mein Blick zu dem kleine, dunklen Leichensack glitt, der am innerhalb des Schildes darauf wartete, abtransportiert zu werden. So reglos, so allein. Das hatte er nicht verdient.

„Talita, wer ist der zweite?“, kam es nun nachdrücklicher von dem großen Roten durch die Leitung.

„Lokos“, sagte ich schwach. „Lokos ist tot.“ Lokos, der Gefährte von Junina, der trächtigen Wölfin, die so kurz vor der Niederkunft stand. Lokos, der irgendwie Schwiegersohn von Saphir. Lokus, der nun niemals die Gelegenheit haben würde, wieder in sein altes Ich zu finden, oder sein Kind kennenzulernen.

Er war gestorben, wegen dem blinden Hass einer Frau, die er nicht einmal gekannt hatte. Für immer weg.

„Oh nein“, kam es mitfühlend von Kaj. „Aber wie … was ist passiert?“

„Die Harpyie war es.“ Meine Stimme war so kalt, dass sich eigentlich Frost auf dem Vox hätte bilden müssen. „Sie hat ihn vergiftet.“

„Vergiftet?“

Hinterrücks und eiskalt. „Die Harpyie. Ich weiß nicht wie sie es durch den Schild geschafft hat, aber sie war aus einem bestimmten Grund hier.“ Und deswegen war mir ihr Tod auch so gleichgültig. „Sie wollte die Verlorenen Wölfe vergiften, alle.“

„Was sagst du da?“ Unglauben sprach aus Pals Stimme.

„Sie ist hier eingedrungen, mit einem Sack voller vergifteter Fleischbrocken, nur ist sie Grey über den Weg gelaufen, bevor sie ihren Plan in die Tat umsetzten konnte.“ Was wohl der einzige Grund war, warum ich hier nicht mehr Leichen gefunden hatte. Grey wusste es vielleicht nicht und verstand es auch nicht, aber er hatte die anderen Wölfe mit seiner Grausamkeit gerettet.

Kaj konnte es noch immer nicht fassen. „Aber wie … warum ist Lokos dann tot?“

„Ich weiß es nicht.“ Ich hob meinen Blick auf den Schutzschild, sah die erzürnte Menge hinter der Absperrung, die laut forderte, dass jemand für dieses Vergehen bestraft werden sollte, dass sie die Lykaner aus dem Codex nehmen sollten, weil sie mörderische Tiere waren. Aber keiner von ihnen – wirklich niemand – forderte Gerechtigkeit für den toten Wolf, der keiner Seele etwas getan hatte. „Er muss an den Sack gegangen sein, oder die Harpyie konnte ihm vor ihrem Tod noch ein Fleischbocken zuwerfen, aber …“ Mir versagte die Stimme, als ich wieder daran dachte, wie ich Lokos vorgefunden hatte. Die verkrampfte Haltung, der Schaum vor dem Mund, das Blut das ihm aus allen Körperöffnungen gelaufen war. Die leeren Augen …

Es muss ein entsetzlicher Todeskampf gewesen sein.

Saphir hatte mir gesagt, dass sie ihm nicht hatte helfen können, sie hatte nur dafür sorgen können, dass die anderen Wölfe nicht an den Sack gingen. Das Gift hatte so schnell gewirkt, dass nichts und niemand ihn hätte retten können.

Lokos Tod war lautlos von statten gegangen, der der Harpyie nicht. Sie hatte geschrien wie am Spieß, solange bis die Anwohner um den Park auf sie aufmerksam geworden waren und die Wächter aufscheuchten. Doch es dauerte nicht lange, bis die Schreie verstummt waren und die Wölfe ihre Überreste in kleine Stücke zerfetzt hatten.

Vielleicht mochte es grausam klingen, aber in meinen Augen hatte sie genau das verdient.

„Sollen wir wirklich nicht kommen?“, fragte Pal sanft.

„Nein ich … ihr könntet hier nichts ausrichten. Aber ich muss noch bleiben. Ich muss die Wächter und die anderen Leute durch den Schild lassen.“ Und solange auch nur einer von denen auf diesem Grund und Boden rumlief, konnte ich hier nicht verschwinden und mich vor der Welt verstecken.

Was würde nun geschehen? Welchen Einfluss hätte dieser Vorfall auf das Verfahren gegen die Lykaner? Es war eine Frau gestorben, aber auch ein unschuldiger Wolf, den alle für ein Monster hielten, nur weil er seinen Instinkten gefolgt war.

„Wo bist du jetzt?“, wollte Kaj wissen.

„Im Park. Ich sitze am Rand der Bäume und warte darauf, dass sie mich wieder brauchen.“

Pal seufzte. „Du solltest jetzt nicht allein sein.“

„Bin ich nicht, Saphir ist hier.“ Das war keine Lüge, sie war die ganze Zeit an meiner Seite gewesen. Nur hin und wieder verschwand sie in den Tiefen des Urwaldes, um nach den Verlorenen Wölfen in den Zwingern zu sehen. Insbesondere um ihre Tochter Junina machte sie sich Sorgen. Wölfe banden sich für ihr Leben und nun hatte sie ihren Gefährten verloren. Ich konnte nur hoffen, dass sie das irgendwie verkraften würde. Aber das Bild, wie ich sie fand, würde sich niemals mehr aus meinem Kopf verbannen lassen, wie die trächtige Wölfin sich an den toten Körper ihres Gefährten geschmiegt hatte und versuchte ihn durch lecken wiederzubeleben. Ich würde nie vergessen, wie sich mich angeknurrt hatte, um den Leib ihres Gefährten gegen mich zu verteidigen. Oder wie sie nach Lokos gejault hatte, als Saphir und ich sie in den Zwinger zerrten.

Nein, diese Harpyie hatte kein Mitleid verdient und auch wenn sich das kaltherzig anhörte, ich war froh, dass sie Grey in die Fänge gelaufen war. Sie hatte Unschuldige töten wollen, nun hatte sie selbst dieses Schicksal ereilt.

Von den Wächtern, die gerade einen Arm, in einem Leichenbeutel verstauten, löste sich der Vampir Recep und ging hinüber zum Schild, wo ihm ein Stück Papier von einem anderen Wächter durch den Schild gereicht wurde.

„Ich sollte bei dir sein“, sagte Pal, „nicht diese Wölfin.“

„Saphir ist in Ordnung.“ Ich beobachtete, wie Recep ein paar Worte mit dem Wächter wechselte und dann auf mich zukam. „Du, ich muss Schluss machen, ich glaube, die brauchen mich gleich.“

„Das gefällt mir nicht“, grummelte Pal.

„Ich komm schon klar.“

Pal seufzte. „In Ordnung, aber falls du doch noch etwas brauchst, melde dich sofort, wir sind für dich da.“

„Mach dir keine Sorgen, mir geht es gut.“

„Nein, tut es nicht.“

Recep kam vor mir zum Stehen.

„Du, ich muss jetzt auflegen.“ Ich gab ihm nicht mehr die Gelegenheit, darauf etwas zu erwidern, sondern hängte ihn direkt ab. „Was muss ich jetzt tun?“, fragte ich, als ich mein Vox wieder im Beutel auf meinem Rücken verstaute, versuchte, dabei so unbeteiligt wie möglich zu wirken. Es würde niemanden helfen, wenn ich mich wieder in Tränen auflöste.

„Du musst ein paar Leute rein lassen, die sich um das Problem kümmern werden.“

Um das Problem kümmern. Na da war ich aber mal gespannt, wie sie das anstellen wollten. Solange keiner herausfand, wie es möglich war, dass sich plötzlich Fremde Zutritt zu diesem Gebiet verschaffen konnten, würden sie für dieses Problem wohl keine Lösung finden und laut dem Magier, den der Hohe Rat heute Morgen geschickt hatte, war wie beim letzten Mal mit dem Schild alles in Ordnung.  

Ich stand auf und folgte Recep zum Schild. Das alles ergab einfach keinen Sinn. Wie konnten Unbefugte durch den Schild kommen, wenn mit ihm alles in Ordnung war. Hier stimmte etwas nicht und ich musste mir nicht das verspritzte Blut auf dem Boden ansehen, um das zu wissen. Die ganze Sache stank zum Himmel.

Vergiss einen Moment, was geschehen ist und konzentrier dich auf das was vor dir liegt.

Ja, das sollte ich wohl tun, bevor ich hier unter dem Druck einfach zusammenklappte, weil ich dann niemanden mehr helfen konnte.

Die Rufe der Menge hinter der Absperrung wurden mit jedem meiner Schritte lauter. Ich sah die wutverzerrten Gesichter, hörte ihre Anklagen, doch nicht einer von ihnen verstand, was hier wirklich passiert war. Sie sahen nur einen toten Mortatia, bei den Verlorenen Wölfen und die Sache war für sie klar, doch so einfach war es nicht. Keiner von ihnen verstand, dass die Harpyie hier der Bösewicht war, dass sie hatte unschuldige Leben nehmen wollen.

Ich schüttelte den Kopf und versuchte diese Gedanken für einen Augenblick loszuwerden. Sie würden mich im Moment nicht weiterbringen und behinderten nur das was vor mir lag, die Leute mit denen Recep gesprochen hatte. aber … was hatte das denn nun wieder zu bedeuten? Mit jedem Schritt den ich dem Schild näher kam, runzelte ich mehr die Stirn. Auf der anderen Seite warteten sieben Männer und Frauen, Wächter und sie alle waren bewaffnet mit Pfeil und Bogen. Etwa zwei Meter vor ihnen blieb ich stehen. „Was sollen die Waffen?“, fragte ich misstrauisch.

Die brauchen sie, um sich um das Problem zu kümmern.

Die wollten doch nicht etwa …

„Sie sind hier, um die Verlorenen Wölfe zu exekutieren.“ Recep drehte sich zu mir herum und hielt mir das Stück Papier entgegen, das er eben erhalten hatte. „Der Befehl kam gerade eben rein.“

„Was?“

Als ich keinerlei Anstalten machte, nach dem Tötungsbefehl zu greifen, ließ Recep ihn in seiner Jacke verschwinden. „Die Verlorenen Wölfe sind eine Gefahr für die Wesen von Sternheim“, erklärte er, „und es wurde entschieden, dass es das Beste sei, sie zu eliminieren, um weitere solcher Vorfälle zu vermeiden.“

„Bitte? Was redest du denn da? Wer hat den Befehl gegeben?“ Mein Blick schnellte von ihm zu den sieben Wächtern und wieder zurück. Das konnte er doch nicht ernst meinen. Die wollten meine Wölfe abschlachten? Warum?

„Der Wesensmeister der Stadt Sternheim.“

„Anwar?“ War das sein Ernst? Er konnte doch keinem Befehl folgen, der von dem größten Gegner der Lykaner unterzeichnet worden war! „Vergiss es, die lasse ich hier nicht rein! Es gibt keinen Grund die Verlorenen Wölfe zu töten. Die Harpyie ist an ihrem Ableben selber schuld, was kommt sie auch in ein gesperrtes Gebiet? Es ist mit Absicht gesperrt. Die Wölfe sind doch keine zahmen Kuscheltiere und das wusste sie, schließlich hetzt sie doch die ganze Zeit gegen mich!“

Recep schenkte meinem kleinen Ausbruch nicht sonderlich viel Interesse. „Es ist ein Befehl, denn wir befolgen müssen.“

„Das ist mir egal. Ich bin die Hüterin und niemand kommt hier rein, wenn ich es ihm nicht gestatte. Nicht du …“ Ich tippte ihm gegen die Brust. „… nicht die anderen und diese Bogenfutzies da draußen schon gar nicht. Und wenn du mich mit diesem Scheiß noch einmal belästigst, dann …“

Ein Pfeil schoss haarscharf an meinem Gesicht vorbei und direkt danach folgte das Jaulen. Vor Schreck hielt ich die Luft an und bewegte mich nicht. Nein, das konnte nicht wahr sein, das konnten die nicht machen. Sie selber kamen nicht durch den Schild, doch leblose Gegenstände waren kein Problem. Der Schild war für einen Pfeil keine Barriere.

Wie in Zeitlupe drehte ich mich herum, um zu sehen, wer von dem Pfeil getroffen wurde. Ich hatte das Jaulen gehört, etwas musste passiert sein, aber gleichzeitig hatte ich auch Angst vor dem Anblick, der sich mir bieten konnte. Hatten sie getroffen? War noch einer meiner Wölfe gestorben?

Nein!

Ich folgte mit den Augen der Flugbahn, an deren Ende ich Saphir entdeckte, die ins Dickicht humpelte. Das weiße Fell war an der Schulter mit Blut getränkt und hinterließ mit jedem Schritt eine Spur auf dem Boden. Der Pfeil lag auf der Erde. Nur ein Streifschuss, er hatte sie nicht getötet, nur verletzt.

Nur!, höhnte das kleine Stimmchen in meinem Kopf. Wieder ein Wolf in meiner Obhut, den ich nicht hatte schützen können, noch mehr unschuldiges Blut, das an meinen Händen klebte. Überall Hetzer und Feinde, die Monster in reinen Wesen suchten, weil ein einzelner Mann Angst vor ihnen hatte. Alles nur wegen Anwar, diesem Feigling!

Unbändige Wut kochte in mir hoch, meine Magie setzte sich ohne mein Zutun frei und ich wurde zur Wildkatze, als ich zu den Bogenschützen herumwirbelte. „GEHT WEG!“, fauchte ich sie an und dann geschah etwas Seltsames. Das Schild um uns herum begann zu vibrieren und dann lösten sich magische Schlieren aus der Beschichtung, bläuliche Bänder, die mit einer Geschwindigkeit auf die Bogenschützen zuhielten, dass sie mit dem bloßen Auge kaum erkannt werden konnten. Alles ging so schnell, die Schlieren krachten in die Männer, schlugen sie von der Barriere weg und katapultierten sie mehrere Meter weiter, wo sie sich mit Schmerzenslauten auf den Boden donnerten.

Erschrocken machte ich mehrere Schritte zurück. „Scheiße, was war das den gewesen?“

Recep blieb ganz ruhig. Er sah den Männern zu, wie sich dich stöhnend und ächzend wieder auf die Beine rappelten und dann nach oben zu dem Schild, bevor sein Blick auf mich wanderte. „Das warst du gewesen.“

„Was? Aber ich habe doch gar nichts gemacht, ich …“ Ja was ich? Ich folgte mit den Augen den durchscheinenden Schlieren, die sich langsam wieder in den Schild zurückzogen. Ich sollte das verursacht haben? Aber wie?

„Doch, du warst das. Du bist die Hüterin, das Schild reagiert auf dich, du bist die Einzige, die es kontrollieren kann und deine Wut hat es dazu veranlasst, in deinem Willen zu handeln.“

„Aber ich wollte doch nicht … willst du damit sagen, dieses Schild kann denken?“

„In gewisser Weise.“ Sein Blick glitt wieder nach draußen. „Wir alle bestehen aus Magie, diese Welt ist Magie, aus ihr wurden wir geformt, aber wer hat es getan, wenn es doch vorher niemanden gab?“

Das war eine wirklich ausgezeichnete Frage. Menschen hatten einen Gott, für die Wesen in dieser Welt dagegen existierte so etwas nicht. Sie hielten sich an etwas, das sie kannten, nutzten, an etwas Greifbareres.

„Die Antwort ist ganz einfach, die Magie selber, sie hat uns geformt und Leben eingehaucht. Sie lässt uns in unserem Ermessen denken und handeln und fordert nur einen Preis dafür, nämlich, dass wir nach unserem Tod zu ihr zurückkehren, um neu geboren zu werden. Ein ewiger Kreis ohne Ende und Anfang. Wir alle sind Magie.“ Er wandte sich ganz von den Bogenschützen ab und trat einen Schritt auf mich zu. „Dieser Schild wurde für dich geschaffen, nur du kannst ihn kontrollieren. Er ist dafür gedacht, deine Wölfe zu schützen und auch die Bevölkerung vor ihnen zu beschützen.“

Ich verstand was er mir damit sagen wollte. Versuchte jemand diesen Schutz zu brechen, hatte ich die Macht etwas dagegen zu tun. In diesem Fall den Schuldigen einen kräftigen Schubs zu verpassen, der dafür sorgte, dass sie nicht noch mal auf dumme Gedanken kamen. „Warum hat mir das keiner gesagt?“

„Ich weiß es nicht.“

Mein Blick schweifte über die Menge hinter dem Absperrband, die mich mit großen Augen beobachtete, huschte über die Schützen, die nun respektvollen Abstand hielten und über die Wächter mit ihrem Team, die sich innerhalb des Schildes aufhielten und ihre Arbeit eingestellt hatten, um mich zu beobachten. „Funktioniert das auch hier drinnen?“

„Ich gehe davon aus.“

Wie zur Antwort vibrierte das Schild erneut und die Männer und Frauen darunter duckten sich leicht. Nur ich nicht, ich war fasziniert von dem Gedanken, hier in diesem Wald die volle Macht zu haben. „Das hat das Schild noch nie getan.“

„Du hast auch noch nie seine Hilfe gebraucht.“

Über diesen Punkt ließe sich streiten. „Okay.“ Ich richtete meinen Blick wieder auf Recep. „Keiner meiner Wölfe wird getötet, nur weil Anwar einen an der Waffel hat. Jeder, der versucht ihnen zu nahe zu kommen, wird es bereuen und solange der Hohe Rat nicht über die Zukunft der Lykaner entschieden hat, darf auch niemand den Verlorenen Wölfen etwas antun.“

„Es gibt Stimmen, die das Gegenteil behaupten.“

„Diese Stimmen interessieren mich nicht. Sollten die Lykaner aus dem Codex fliegen – was ich nicht glaube, einfach weil sie keine Bestien sind – dann darfst du mit einem neuen Befehl wieder kommen, mit einem Schriftstück, auf dem jeder Mann und jede Frau aus dem Hohen Rat unterschrieben hat – jeder. Dann vielleicht lasse ich es zu, dass die Schützen diesen Schild durchschreiten.“ Von wegen. Sollte es wirklich so weit kommen, würde ich meine Wölfe rechtzeitig in Sicherheit bringen. Keiner würde ihnen in meiner Obhut noch einen weiteren Schaden zufügen.

„Ich werde es Anwar ausrichten.“

„Tu das. Und nun seht zu, dass ihr fertig werdet, ich will, dass ihr hier verschwindet.“ Woher plötzlich dieser Mut kam, der mich dazu bewegte, den Wächtern so die Stirn zu bieten, wusste ich nicht. Vielleicht war es Müdigkeit, vielleicht die Anspannung, Beschützerinstinkt, oder einfach die Tatsache, dass ich nun wusste, dass ich die Macht dazu hatte, all diese Leute vor die Tür zu setzten – metaphorisch gesprochen. Es war auch egal, woran es lag, das einzig wichtige war, dass es mein vollster Ernst war.

„Langsam verstehe ich, was Djenan an dir findet“, sagte Recep leise und drehte sich zu seinen Leuten um.

Ich dagegen machte mich auf den Weg in den Wald. Ich musste nach Saphir sehen und dafür sorgen, dass die Wölfe nicht mehr in die Nähe des Schildes kamen. In Zukunft mussten sie in der Höhle bleiben, oder wenigstens in ihrer Nähe. Wenn sie das nicht taten, würde mir nichts anders übrig bleiben, als sie in den Zwingern zu lassen. Die Gefahr, dass jemand sie durch den Schild erschoss, oder ihnen vergiftetes Essen zuwarf, war einfach zu groß.

Die Wesen der Stadt waren aufgewühlt und in diesem Zustand traute ich ihnen alles zu. „Na, das sind doch mal tolle Aussichten“, grummelte ich.  

 

°°°

 

Erschöpft entriegelte ich das letzte Tor der Zwinger und ließ die beiden weißen Wölfe aus dem Eissternrudel hinaus, die sofort freudig an mir hochsprangen und versuchten, mir durch mein katzenartiges Gesicht zu lecken. Die letzten Wächter hatten vor einer halben Stunde den Park verlassen. Normalerweise hätte ich die überschwängliche Freude meiner Wölfe geteilt, doch Lokos Tod lastete schwer auf mir und so schob ich die beiden nur von mir weg.

Er war ein Einzelgänger gewesen und wenn ich nicht um ihn trauerte, dann würde es niemand tun – Junina ausgenommen, die immer noch in der Ecke ihres Zwingers lag und einfach nicht rauskommen wollte. Nicht mal der Nieselregen konnte sie heraustreiben. Ich war für diesen sinnlosen Tod verantwortlich. In meiner Obhut hätte er sicher sein sollen, doch nun würde er niemals wieder eine Sonne aufgehen sehen.

„Hör auf, dir Gedanken darum zu machen, dich trifft keine Schuld.“ Saphir drückte ihren Kopf kurz an mein Bein und ging dann zu ihrer Tochter in den Zwinger, um sie zum Aufstehen zu bewegen. Um ihre Schulter hatte ich trotz ihrer Proteste einen dicken Verband gewickelt.

Die Wunde war nicht tief gewesen, aber ich hatte es einfach gebraucht, ich musste zeigen, dass ich auch mal etwas richtig machen konnte und wenn es nur das verarzten einer Lykanerin war.

Saphir stupste ihre Tochter an und versuchte sie zum Aufstehen zu bewegen, Junina jedoch wollte nicht. Sie lag einfach nur teilnahmslos da und schien gar nicht zu merken, was um sie herum los war. Die Augen leer, starrte sie einfach nur vor sich hin und reagierte auch nicht darauf, als ihre Mutter versuchte, sie mit leichtem Zwicken in den Hintern zum Aufstehen zu bekommen. Unter Lokos Tod litt sie wohl am meisten.

„Wird sie es verkraften?“, fragte ich leise.

Saphir hielt einen Moment inne und seufzte dann schwer. „Ich hoffe es.“

Und wieder einmal war Hoffnung das Letzte, was wir hatten. Warum nur war die Welt so grausam.

Es dauerte Ewigkeiten, bis Junina auf die Beine kam und sich von ihrer Mutter mit hängender Rute und hängendem Kopf aus dem Zwinger führen ließ. Ihr Bauch war bereits kugelrund und obwohl man immer sagte, das Schwangere ein inneres Licht ausstrahlten, sah ich bei ihr nur Trauer. Das weiße Fell war stumpf und klebte ihr vom Regen am Körper. Rostrote Flecken hafteten in ihrem Fell, Lokos Blut. Der Regen hatte es nicht rausspülen können.

Langsam trottete die trächtige Wölfin unter den wachsamen Augen ihrer Mutter aus dem Zwinger. Sie schien nicht zu sehen, wohin sie ging und es war ihr wohl auch egal. Ja, vielleicht war sie im Moment nur ein Tier, aber auch Tiere konnten trauern.

Gedankenverloren schloss ich den Zwinger und … klemmte mir dabei den Finger ein. „Aua! Verflucht noch mal …“ Hastig riss ich ihn zurück und machte es dadurch noch schlimmer. Jetzt blutete er, die Nagelhaut war eingerissen. Konnte den heute gar nichts klappen? Das war so ungerecht, das alles. Die Lykaner, meine Wölfe, diese ganze verkorkste Situation. Wütend schlug ich gegen das Tor und noch mal und noch mal. Immer wieder, bis mir auch dafür die Kraft ausging und ich mich schwer atmend an das Gitter legte. „Wozu eigentlich, warum mach ich das alles noch, es hat doch sowieso keinen Sinn.“ Nichts was ich tat brachte eine Besserung herbei, ganz im Gegenteil, jeden Tag schien es nur noch schlimmer zu werden und weitere Schicksalsschläge auf mich niederzuprasseln. Ich hatte keine Kraft mehr, mich ihnen weiter entgegenzustellen, es brachte doch eh nichts. Ich was ausgebrannt.

„Willst du etwa aufgeben? Willst du, dass die Lykaner zu Gejagten werden?“ Saphir trat einen Schritt an mich ran. „Willst du das?“

„Nein, natürlich nicht, nur …“ Ich biss mir auf die Lippen.

„Du bist nur erschöpft, du solltest dich hinlegen und schlafen, danach wirst du wieder anders denken.“

„Aber ich will nicht da raus.“ Ich lehnte meine Stirn gegen den Zaun und schloss die Augen. „Dort draußen warten sie alle auf mich, die Protestanten, die … Lykaner.“ Ich wollte mich ihnen jetzt nicht stellen, wollte nicht ihre anklagenden Blicke sehen, ihre verletzenden Worte hören. Die hatten doch alle keine Ahnung.

„Dann leg dich zu uns in die Höhle. Die Wölfe wird es beruhigen, wenn du noch ein bisschen bei uns bleibst und auch du kannst dort die Ruhe finden, die du brauchst.“

Ich strich Arktis, dem weißen Wolf aus dem Eissternrudel, der sich an mein Bein lehnte, durchs Nackenfell. „Aber ich kann mich nicht ewig verstecken.“ Auch wenn dieser Gedanke etwas sehr Erfüllendes hatte.

„Nein, das kannst du nicht, aber es spricht nichts dagegen, sich für ein paar Stunden zurückzuziehen, um die Probleme für eine kurze Zeit zu vergessen.“ Sie drehte sich um und stupste Junina an, damit die sich in Bewegung setzte, bevor sie noch mal einen Blick über ihre Schulter zu mir zurück warf. „Komm, der Tag war lang. wir brauchen alle ein wenig Ruhe.“

Da sprach sie ein wahres Wort.

Ich wusste, dass ich meinen Problemen nicht entkommen konnte und dass ich mich der Welt dort draußen früher oder später wieder stellen musste, aber im Augenblick wollte ich das alles nur einen Moment vergessen. Welch eine Ironie. Die ganze Zeit versuchte ich mich zu erinnern und jetzt wollte ich das alles einfach nur hinter mir lassen.

„Na dann komm.“ Ich tätschelte Arktis den Kopf und folgte Saphir dann auf die verregnete Lichtung mit der  trockenen Höhle. Die Verlorenen Wölfe folgten uns. Sie waren noch ein wenig nervös, schlichen vorsichtig durch die Gegend und sahen sich die ganze Zeit um. Sie waren auf der Hut. Auch der Gang in die Höhle lief ruhiger ab als sonst. Kein Gedrängel, kein Spielen. Sie spürten, dass etwas passiert war, auch wenn sie nicht genau wussten was.

Ich duckte mich am Höhleneingang und zögerte einen Moment, als mein Blick in die matte Dunkelheit glitt. „Hast du hier drinnen in der letzten Zeit körperlose Stimmen gehört?“ Gott, hörte ich mich genauso verrückt an, wie ich glaubte?

Ein verwirrter und zugleich besorgter Ausdruck schlich sich auf Saphirs Gesicht. Sie musterte mich, runzelte die Stirn. „Geht es dir gut?“

„Natürlich, ich meine nur … ich habe … vergiss es einfach wieder.“ Ich ließ meinen Beutel am Eingang auf den Boden fallen und kroch dann zwischen die warmen Leiber der Wölfe, um mich anzukuscheln. Die Stimme, die ich vor einigen Tagen hier gehört hatte, konnte ich einfach nicht vergessen. Ich erinnerte mich an Ghost, der Geisterkatze auf Anwars Anwesen. Ob wir hier auch einen Geist hatten? Aber die machten normalerweise keine Geräusche und sprechen konnten sie schon gar nicht. Sie waren nichts weiter als Schatten der Vergangenheit, die sich noch am Leben festhielten und sich einen Spaß daraus machten, die Leute zu ärgern, indem sie ihre Eigentümer stibitzten, oder verschoben.

Gott, noch ein Problem, auf meiner Liste, die einfach kein Ende finden wollte. Meine Augen waren so schwer, dass sie fast von allein zufielen und selbst meine wirren Gedanken konnten der Erschöpfung nicht standhalten.

Einen letzten Blick warf ich hinaus in den verregneten Mittag, begegnete Islas eindringlichen Blick, als sie zu uns in die Höhle kam, dann forderte die Übermüdung bereits ihren Tribut.

 

°°°

 

„Talita.“

Eine feuchte Nase in meiner Wange und ein lästiges Piepen irgendwo in der Höhle, rissen mich aus meinem wohlverdienten Schlaf.

„Talita, bist du wach?“

Ich blinzelte Saphir einmal an und vergrub mein Gesicht dann wieder in dem weichen Fell unter meinem Kopf. Keine Ahnung, wen ich da als Kissen missbrauchte, aber es war weich und warm und alles was ich in diesem Moment wollte.

Der Nieselregen hatte aufgehört, nur noch dicke Wolken hingen am Himmel und ließen den Tag noch dunkler erscheinen, als er sowieso schon war. Es gab keinen Grund für mich aufzustehen, nicht wo da draußen die ganzen Probleme auf mich warteten.

„Talita, dein Vox, piept nun schon zum vieren Mal. Da versucht jemand dringend dich zu erreichen.“

Mein schläfriges Hirn brauchte einen Moment, um die Worte zu verarbeiten. „Was? Vox?“ Ach daher kam dieses lästige Piepen, das mich aus meinem traumlosen Schlaf zurück in die grausame Realität reißen wollte – Schade nur, dass diese kleine Metapher der Wahrheit entsprach.

„Talita!“, wurde Saphir nun schon eindringlicher und bohrte ihre kalte, nasse Nase ein weiteres Mal in meine Wange. Als ich sie weiter ignorierte, schleckte sie mir einmal quer durchs Gesicht.

Schlagartig setzte ich mich auf. Okay, jetzt war ich wach. „I-gitt!“ Das war ja echt widerlich. Mit dem Arm wischte ich mir über die Schnauze. Klar, ich hatte im Moment Fell, das machte die ganze Sache nur leider nicht besser. Aber da ich nun schon mal wach war – wenigstens halbwegs – konnte ich auch etwas gegen das ewige Piepen unternehmen.

Mein Beutel stand noch am Höhleneingang und die Geräusche daran waren bereits verstummt, doch bis ich das Vox heraus gekramt hatte, begrüßte mich bereits ein weiterer schriller Ton. Genervt fuhr ich einmal mit der Hand über die dunkle Oberfläche und hielt es mir dann ans Ohr. „Hallo?“

„Talita? Meine Liebe, wo steckst du? Wir waren schon vor einer halben Stunde mit den Schwestern des Dunklen Mondes verabredet und langsam werden die Damen ungeduldig. Es ist nicht höfflich jemanden warten zu lassen.“

Verabredet? Schwestern des schwarzen Mondes? „Gaare, wovon zum Teufel redest du?“

„Was ist ein Teufel?“

„Das ist … egal, unwichtig. Wer sind die Schwestern des schwarzen Mondes?“

Neben mir fletschte Saphir bei dem Namen die Zähne. Was war denn jetzt wieder los?

„Die Hexen, meine Liebe. Die Schwestern des schwarzen Mondes sind die Hexen, die dich kennenlernen möchten, um zu entscheiden, ob sie dich ihr Tor passieren lassen.“

„Das … oh scheiße.“ Ich sprang auf die Beine, schnappte meinen Beutel und rannte ohne einen Abschiedsgruß aus der Höhle. „Verdammt, das habe ich völlig vergessen, weil …“ Und dann brach alles wieder über mich zusammen. Die tote Harpyie, Lokos, das Schild, der Tötungsbefehl von Anwar.

„Weil?“

„Das ist nicht so wichtig. Ich bin auf dem Weg, bis gleich.“ Und noch bevor Gaare etwas erwidern konnte, hatte ich die Verbindung bereits unterbrochen und jagte durch den Dschungel. Wie hatte ich das nur vergessen können? Blöde Frage eigentlich, wenn man bedachte, was heute schon wieder los gewesen war. Doch jetzt hatte ich keine Zeit über die Wenn’s und Aber’s nachzudenken, ich hatte einen dringenden Termin. Vor einer halben Stunde. Mist.

Fluchend rannte ich dem Schild entgegen, überlegte mir, dass ich eine Kutsche benötigte, um an mein Ziel zu gelangen und verbot mir dabei jeden abgleitenden Gedanken in eine andere Richtung. Jetzt musste ich mich mal ausschließlich um mich und meine Zukunft kümmern. Dieses Treffen war wichtig, der erste Hexenzirkel, der mit mir reden wollte und ausgerechnet heute …

Lass das!

Vor mir tauchte das Schild auf der Rückseite auf. Von hier müsste ich halb um den Park rumrennen, um an die nächste Straße zu gelangen, aber ich wollte auf keinen Fall über den Platz laufen, auf dem ich Lokos gefunden hatte und …

Verdammt, du sollst nicht daran denken!

Wenn das nur so einfach wäre. Ich schüttelte den Kopf in der Hoffnung, diese Gedanken damit abzuschütteln und eilte durch den Schild. Das kühle Gefühl bemerkte ich kaum, doch als plötzlich ein Mann hinter einem Baum vortrat und sich mir in den Weg stellte, war das wie ein Schlag ins Gesicht. Ich lief fast in ihn rein, schaffte es gerade mal, so vor ihm zu stoppen und landete auch nur nicht auf dem Hintern, weil er mich im letzten Moment an den Armen packte und festhielt.

Er hatte hier auf mich gelauert, um mich abfangen zu können. Ein einfacher Blick in seine Augen verriet mir das, so gut kannte ich ihn inzwischen, auch wenn er sich nie gerne in die Karten sehen ließ.

Ich riss meine Arme weg und trat eilig einige Schritte von ihm zurück. Das Kribbeln von seinen Händen auf meinen Armen ignorierte ich dabei. „Egal was du jetzt wieder hast, ich habe keine Zeit dafür, also lass mich in Ruhe.“ Ich wollte an ihm vorbeigehen, doch er griff nach mir und hielt mich fest. Nicht sehr stark, wenn ich gewollt hätte, dann wäre ich ihm locker entkommen, doch ich hatte im Moment einfach nicht mehr die Kraft mich gehen ihn zu wehren. „Bitte, Veith, lass mich einfach los.“

„Ich will nur mit dir reden.“

Reden, das ich nicht lachte. So wie beim letzten Mal, als er mich dann als Schlampe hingestellt hatte? Darauf konnte ich dankend verzichten. „Ich habe aber keine Zeit, ich bin verabredet.“

Er zog mich ein Stück zurück. „Es dauert nicht lange, ich wollte nur wissen …“

Plötzlich war ich echt wütend auf ihn. Was nahm er sich eigentlich heraus? Ständig schubste er mich weg und nun tauchte er hier auf, um mit mir zu reden? Na das konnte er gleich knicken. „Wer jetzt schon wieder unter meiner Obhut abgekratzt ist?“, fuhr ich ihn an. „Die Harpyie von den Protestanten, aber sie hat es verdient, weil sie die Verlorenen Wölfe vergiften wollte. Oder wolltest du wissen, was aus Anwars Tötungsbefehl geworden ist? Ich habe ich abgeschmettert. Du und die anderen Lykaner brauchen sich keine Sorgen um die Wölfe machen, ich passe nun besser auf sie auf, sowas wie heute wird kein zweites Mal passieren, also sag deiner Cui, dass es in Zukunft nicht mehr nötig sein wird, dich vorzuschicken, wenn etwas passiert ist, sie kann auch selber mit mir reden, oder jemand anderen schicken. Ist mir egal, nur lass mich endlich los, ich habe einen dringenden Termin.“

Für einen kurzen Moment sah Veith mich still an. „Ich weiß schon längst, was hier vorgefallen ist.“

„Aber woher … natürlich, deine Lykanerfreunde.“ Die hatten ja den ganzen Tag hier rumgelungert und alles beobachtet. Wahrscheinlich stand auch alles schon in den Sonderausgaben irgendwelcher Zeitungen, damit die Welt erfahren konnte, was für Monster unter meinem Schutz standen. „Wenn du nicht deswegen da bist, warum lauerst du mir dann hier auf?“

„Weil ich …“ Er stockte.

Das ließ mich verwirrt aufsehen. Ein Veith der zögerte? Was lief denn jetzt falsch. „Weil du was?“

„Ich würde gerne mit dir reden.“

Misstrauisch zog ich die Augenbrauen zusammen. „Warum?“

„Weil du die Hüterin bist. Ich möchte mit dir reden. Über Isla“, fügte er hinzu, um auch jede andere Eventualität abzuschmettern, bevor sie aufkommen konnte.

„Über Isla?“ Bildete ich mir das nur ein, oder hatte er ursprünglich etwas anders sagen wollen?

„Sie ist meine Cousine.“

Irgendwas stimmte hier nicht, er benahm sich komisch, irgendwie … hm, ich konnte es nicht richtig beschreiben, nur normal war das hier nicht. Ich musterte ihn von oben bis unten, um ihm auf die Schliche zu kommen, aber wie immer gab er sich undurchschaubar. „Bisher hast du dich aber auch nicht sonderlich darum geschert.“

Er kniff die Lippen zusammen und wich einen Moment meinem Blick aus.

Ich bekam immer mehr das Gefühl, dass hier irgendwas im Argen war. Er war so ganz anders als sonst. War er vielleicht ein Doppelgänger? Gab es sowas in dieser Welt überhaupt? Gott, ich drehte hier wirklich noch durch, aber das musste ich jetzt einfach wissen. „Was habe ich dich an dem Morgen gefragt, als Pal verschwunden ist und ich davon wach geworden bin, dass du an meinem Bett saßt?“

Auf seiner Stirn erschien diese vertraute Falte. „Was?“

„Antworte auf die Frage. Was habe ich da zu dir gesagt, was waren meine ersten Worte an diesem Morgen?“

Er verstand nicht. „Du hast mich gefragt, ob ich ein Traum sei.“

Ja, genau das waren meine Worte gewesen, obwohl er ja mittlerweile eher ein Alptraum für mich wurde. „Gott, ich werde langsam aber sicher verrückt.“ Ich rieb mir mit der freien Hand übers Gesicht und konnte einfach nicht glauben, dass ich ihn für einen Moment für einen Doppelgänger gehalten hatte, der mich, aus was wusste ich schon für Gründen, reinlegen wollte. Ich wurde wirklich paranoid. Daran waren eindeutig seine ständigen Stimmungsschwankungen schuld. Mal so, mal so, da kam doch kein Mensch – und auch kein Mortatia – mehr mit. Erst stößt er mich weg und jetzt taucht er hier auf, um mit mir über Isla zu reden.

„Geht es dir nicht gut?“

„Warum stellst du so dumme Fragen. Gerade heute ist einer meiner Verlorenen Wölfe gestorben, natürlich geht es mir nicht gut!“, fuhr ich ihn an.

Er stand da und schwieg. Was hatte ich auch anderes erwartet, dass er mich tröstend in den Arm nahm? Nein, das würde er nicht tun. Früher vielleicht einmal, aber nicht mehr, seit er seinen Posten als Testiculus angenommen hatte.

„Veith, ich habe jetzt wirklich keine Zeit, ich muss zu einem Treffen mit Gaare, zudem ich schon zu spät dran bin.“ Und solange ich hier stand, würde es immer später werden.

„Es dauert nicht lange.“

Verdammt, warum schaute er mich so an? „Veith …“

„Kann ich sie sehen?“

Eigentlich wäre es an dieser Stelle meine Pflicht, sofort nein zu sagen und ihn zum Teufel zu schicken, doch aus unerfindlichem Grund, zögerte ich. Das musste sein verfluchter Blick sein. Warum guckte er mich so flehentlich an? – ja ja, ich wusste schon, ein Veith, der flehentlich guckte? Das passte einfach nicht zu ihm. Warum konnten diese Gefühle nicht verschwinden, die mich dazu brachten, ihm jeden Wunsch zu erfüllen, auch wenn er mein Verderben war.

„Bitte.“

Verdammt, ich war doch wirklich erbärmlich. „Okay, meinetwegen, aber jetzt habe ich keine Zeit mehr, ich muss wirklich los.“

„Wann dann?“

Gute Frage. „Heute Abend. Sei gegen sieben hier, dann nehme ich dich mit rein.“

 

°°°

 

Das Pentagramm lag im Mond. Überall in diesem Raum war das Zeichen der Hexen. An der Decke, an den Wänden, auf dem Tisch. Boden, Stühle, Schränke, Dekor. Es gab keinen Ort, an dem ich es nicht entdeckte. Selbst die Kleidung der Hexe, die mir und Gaare gegenüber am Tisch saß, zierte das Symbol, das Sinnbild der Schwestern des schwarzen Mondes.

„Wir müssen wegen Ihrer Verspätung leider noch einen Moment auf Boudicca warten. Sie hat noch eine Sitzung, die sie nicht verschieben konnte.“ Die Hexe am Tisch, mit den langen, braunen Locken, war der Inbegriff von adrettem Adel, oder anderes gesagt, sie kam einfach nur hochnäsig herüber. Wenn man sie beobachtete, bekam man echt den Eindruck, ihr klebte etwas sehr unangenehmes über der Oberlippe. Wie sonst sollte es zu erklären sein, dass sie die ganze Zeit so die Nase verzog. „Wären Sie pünktlich gewesen, wären wir schon längst fertig“, musste die Hexe, die sich mir mit Namen Chana vorgestellt hatte, noch hinzufügen.

„Tut mir leid“, sagte ich zum bestimmt hundertsten Mal. Klar, ich mochte es auch nicht, wenn die Leute mich warten ließen, aber das war noch lange kein Grund, so darauf herumzureiten.

Nachdem ich in der Kutsche gesessen hatte und der Fahrer mich nach meinem Ziel fragte, musste ich doch tatsächlich feststellen, dass ich die Adresse gar nicht wusste und hatte mich noch mal umständlich bei Gaare melden müssen. Dabei waren noch weitere Minuten drauf gegangen. Dass die Hexen mich nicht einfach wieder der Tür verwiesen hatten, kam einem Wunder gleich. Obwohl, wenn es nach dieser Chana ging, wäre wohl genau das passiert. Mein Glück war nur, dass die Oberhexe dieses Ladens höchst neugierig auf mich war und mich unbedingt kennenlernen wollte.

Chana machte eine wegwerfende Handbewegung. „Vergessen wir das. Darf ich euch vielleicht etwas anbieten.“ Ihre Augen blitzten auf. Also nicht nur so sprichwörtlich, nein, sie blitzen richtig auf, wie Scheinwerfer. Nur ganz kurz, aber das war echt unheimlich. „Vielleicht ein Getränk, um die Wartezeit zu versüßen?“

„Nein danke“, lehnte Gaare unser Schleckermaul sofort ab.

„Also ich …“

„Nein, du auch nicht“, unterbrach Gaare mich sofort. „Glaub mir, meine Liebe, von dem Hexengebräu möchtest du nichts trinken.“

Ähm, okay, wenn er es so sagte. „Wenn das so ist, möchte ich auch ablehnen.“

„Sind Sie sicher?“ Sie stierte mich so intensiv an, dass ich das Gefühl hatte, das Tattoo auf meiner Schulter würde kribbeln, aber das war sicher nur Einbildung, oder? Sie konnte gar nicht wissen, was ich unter dem übergezogenen Ärmel verbarg. „Ich denke nämlich, dass Sie kein Problem damit hätten, unsere Speisen und Getränke zu sich zu nehmen.“

O-kay, diese Tussi war schon eine echte Gruselnummer. „Nein danke, ich möchte wirklich nichts.“

„Wie sie wünschen und … ach da kommt sie ja.“

Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, klirrte im Nebenraum etwas. Ein gedämpfter Fluch folgte, der mich schmunzeln ließ und dann klickte der Perlenvorhang und eine Flut aus bunten Tüchern, Perlenketten und Armbändern rollte in den Raum. Ehrlich, ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie einen solch bunten Menschen gesehen … Hexe, ach Sie wissen schon, was ich meine. Die Gestalt war leicht gedrungen und etwas rundlich. Unter dem türkisenen Turban, mit den gelben Klimpermünzen, schaute feuerrotes Haar hervor. Sie trug einen graukarierten Rock, über dem sie ein violettes Tuch gebunden hatte, das am Rand von echten Blümchen geziert wurde. Die Bluse mit den Pufferärmeln war giftgrün und mit einer pinken Korsagen versehen, die gelbe Schnüre besaß. Auch jedes Schmuckstück war in einer anderen Farbe gehalten.

„Wie ein Regenbogen“, flutschte es mir über die Lippen. Dann wurde mir erst klar, was ich da gesagt hatte und schaute entschuldigend zu der Frau hoch, doch die lachte nur herzlich.

„Regenbogen. Hast du das gehört, Chana? Sie nennt mich Regenbogen. Ich glaub, ich mag sie jetzt schon.“ Sie ließ den Perlenvorhang klickend zufallen und setzte sich zu uns an den Tisch. „Naga“, sagte sie dabei. „Ich dachte schon, dass ich diese Schlange nie loswerde.“

Ähm … war das jetzt eine Beleidigung, oder redete sie von einer echten Schlange? Und was sollte Naga sein? Mann, ich hatte wirklich noch viel zu lernen.

„Ich bin Boudicca, die erste Hexe der Schwestern des schwarzen Mondes“, stellte sie sich ohne Umschweife vor, „und auch, wenn wir nicht  ganz so zusammengekommen sind, wie wir es geplant haben, so sag mit, Talita, was können wir für dich tun.“

Bildete ich mir das ein, oder glitt ihr Blick für einen Moment auf meine Schulter, bevor sie mich so herzlich wie eine Plätzchen-backende Oma anlächelte – obwohl sie für eine Oma ja noch viel zu jung war, vielleicht Mitte dreißig. „Ich, naja … ich möchte nach Hause und da Gaare glaubt, dass ich aus einer anderen Welt komme, brauche ich ein Portal.“

Boudicca nickte verstehend. „Ja, wenn ich schuld an dem Tod zwei Wesen wäre, würde ich auch weg wollen.“

Wie bitte? Hatte sie gerade behauptet, dass ich Schuld daran hatte, dass irgendwelche Idioten in ein gesperrtes Gebiet liefen und sich dort zerfleischen ließen? Ich wollte schon den Mund aufmachen, als Gaare seine pergamentartige Hand auf meine legte und leicht den Kopf schüttelte.

„Gaare hat uns vom seiner Theorie ja bereits berichtet“, kam es von Chana. „Sind Sie der gleichen Meinung?“

„Nicht doch so förmlich“, sagte Boudicca. „Wir sind hier doch alle unter Freunden, nicht wahr?“

Der letzte Teil war an mich gerichtet und gegen meinen Willen, merkte ich, wie ich nickte. Das musste an der Magie liegen. Also nicht das Nicken, sondern das die Hexen und Magier so verrückt waren. Ich hatte noch nie jemanden dieser beiden Rassen getroffen, der normal im Kopf zu sein schien. Die hatten alle irgendwie einen Knall und diese beiden Hexen konnte man auch nicht gerade als den Durchschnitt beschreiben. Erst beschuldigte sie mich mehr oder weniger des Mordes und dann wollte sie meine beste Freundin sein.

Chana verdrehte auf sehr kultivierte Weise die Augen. Wie lange sie wohl gebraucht hatte, bis sie das konnte?

„Also“, begann Boudicca. „Sag uns, wie du zu der ganzen Sache stehst. Bist du Gaares Meinung? Wie hast du deine Ankunft hier erlebt? Berichte uns alles.“

Nun gut, wenn sie das so wollten. Zögernd öffnete ich den Mund und erzählte meine Geschichte zum gefühlten tausensten Mal. Von dem Dachboden, den Lykanern, meiner fehlenden Erinnerung. Ich erzählte von dem seltsamen Gefühl, das ich manchmal hatte, wenn mir wildfremde Orte und Gebäude plötzlich bekannt vorkamen, den Korridor mit den Bildern in meinem Kopf, oder auch den Erinnerungen, die ganz plötzlich auftauchten, Bruchstücke, die ich nie zu einem Ganzen zusammenfügen konnte. Über eine Stunde saß ich an diesem Tisch, während die anderen still meiner Geschichte lauschten. Und auch als ich geendet hatte, blieb es noch eine Zeitlang ruhig.

„Verstehe“, sagte Boudicca dann irgendwann. „Chana, wir haben es hier mit Sicherheit mit einem Viator zu tun.“

„Natürlich“, kam es da auch sogleich von Gaare. „Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen?“

„Weil Sie keine Hexe sind“, sagte Chana etwas überheblich.

Ich sah fragend von einem zum anderen. „Was ist ein Viator?“ Bisher hatten doch alle gesagt, dass ich ein Therianer war. Sollte sich das jetzt wieder geändert haben?

Boudicca verschränkte die Hände auf dem Tisch und beugte sich leicht vor. „Ein Viator ist ein Wesen, das zwischen den Welten wandert, ob nun aus eigener Kraft, oder durch magische Hilfe, ist dabei unerheblich.“

„Das heißt also, ich bin immer noch ein Therianer.“

„Natürlich. Aber wenn man nicht aus eigener Kraft wandern kann, so benötigt man zwei Hilfsmittel. Den Saft des Lebens und eine starke Energiequelle.“

Okay, das verstand ich nicht. „Heißt das, ihr könnt mich zurückschicken?“

„Darüber muss der Zirkel im ganzen entscheiden.“

„Oh.“ War das jetzt ein Nein? Verdammt, warum bekam ich eigentlich nie klare Antworten? So schwer war das doch gar nicht. Seufz. Okay, aber es gab ja auch noch andere Dinge, die ich wissen wollte. „Und wenn ihr mich passieren lasst, wie würde das dann ablaufen?“

„Wie gesagt, zwei Dinge werden benötigt, um dich durch das Portal zu schicken“, sagte Boudicca.

„Den Saft des Lebens und eine starke Energiequelle“, wiederholte ich ihre Worte, hatte aber keine Ahnung, was genau das alles sein sollte und wie ich das aufreiben konnte.

Boudicca nickte. „Der Saft des Lebens ist nichts anders als Blut. Für den Zauber brauchen wir ein wenig davon, doch nicht irgendwelches Blut, sondern deines. Aber mach dir keine Sorge, wir brauchen nur einen Tropfen.“

„Blut?“ Die wollten mich anzapfen? Waren die noch ganz dicht?

Gaare tätschelte mir beruhigend das Knie. „Keine Sorge, es ist wirklich nur ein einziger Tropfen.“

„Aber … wozu braucht ihr es denn?“ Irgendwie hatte ich meine Körperflüssigkeiten schon ganz gerne da wo sie hingehörten.

„Blut ist Magie“, erklärte Chana „Dein Blut, das bist du. In ihm liegt deine Kraft, deine Seele, dein ganzes Sein.“

Jetzt wollten die auch noch ein Stück von meiner Seele? Das wurde ja immer besser! Langsam aber sicher hatte ich den Verdacht, mich auf einen Kuhhandel mit dem Teufel eingelassen zu haben.

„Schau nicht so, meine Liebe“, tadelte Gaare milde. „Für die Erstellung des Schildes um den Dschungelpark, musstest du doch auch einen Tropfen geben.“

Ja schon, aber da war mir bei dem Gedanken auch nicht ganz wohl zumute gewesen. Was war nur mit diesen Leuten los, dass sie ständig mein Blut haben wollten? Ich kam mir langsam aber sicher schon wie auf einem satanistischen Ritual vor. „Und das andere?“, fragte ich, um von meinem Lebenssaft abzulenken. „Die Energiequelle, was wird das sein?“

„Auch das bringst du bereits mit“, sagte Boudicca mit einem Lächeln.

Dieses Mal war ich mir sicher, dass die Blicke der Hexen zu meiner Schulter gingen. Oh oh. Wollten die mich nun lynchen, weil ich es trug? Ich konnte es mir gerade noch so verkneifen, schützend nach dem Tattoo zu greifen.

„Würdest du es uns zeigen?“, fragte Boudicca.

Okay, jetzt stand es felsenfest, sie wussten, was ich unter dem Ärmel verbarg. „Woher wisst ihr das?“

Chana schnaubte abfällig. „Du magst es unter Kleidung verstecken, doch für uns ist es sichtbar, denn es gehört uns. Glaubst du wirklich, dass du vor uns sitzen kannst und wir nicht spüren, dass sich unser Zeichen auf deiner Haut befindet?“

Ich schluckte und wechselte mit dem Blick zwischen den beiden hin und her. „Nachdem was ich so gehört habe, wie ihr darauf reagiert, wenn jemand euer Zeichen benutzt, habe ich es jedenfalls gehofft.“

Boudicca brach in schallendes Gelächter aus und sogar bei Chana hoben sich die Mundwinkel leicht. Ich wusste zwar nicht, was daran so witzig war, aber diese Reaktion gefiel mir besser, als alle anderen, die mein verrücktes Hirn mir vorspielen wollte. Von Haut abziehen, um das Tattoo von mir zu entfernen, über das Schafott war so ziemlich alles dabei.

„Oh ja, ich mag dieses Mädchen.“ Boudicca zupfte zwischen ihren Tüchern ein Taschentuch hervor und tupfte sich damit die Lachtränen aus den Augenwinkeln. „Das ist wirklich zu köstlich. Gaare, warum nur hast du sie vor uns so lange versteckt?“

Doch Gaare beachtete sie gar nicht. Er hatte nur Augen für mich, die hinter seiner Brille doppelt so groß wirkten. „Habe ich das gerade richtig verstanden, du trägst das Zeichen der Hexen auf deiner Haut?“

Oh, hm, da war ja noch was, er wusste ja gar nichts davon. Irgendwie wollte ich nicht antworten, weil das hieße, dass ich ihm die ganze Zeit nicht genug vertraut hätte, um ihn davon zu berichten. „Ich habe es nicht böse gemeint, nur … naja, die anderen haben mir erzählt, wie die meisten Wesen reagieren, wenn sie das Zeichen der Hexen sehen und da wollte ich es lieber für mich behalten.“

„Die anderen?“

War ja klar, Gaare musste auf den ersten Schlag gleich wieder zum Kernpunkt der Aussage vordringen. Seufz.

„Natürlich, die Lykaner“, gab er sich selber die Antwort und wandte sich von mir ab.

War er jetzt etwa beleidigt? Enttäuscht? Verdammt, ich hatte ihn doch nicht verletzen wollen, es war so nur einfacher gewesen.

„Und?“, fragte Boudicca dann erneut. „Würdest du es uns bitte zeigen? Ich bin sehr neugierig.“

Die schienen ja richtig begierig darauf zu sein, beide. Selbst Gaare schien sich dafür genug zu interessieren, um darüber hinwegzusehen, dass ich ihm gegenüber mit keinem Wort das Pentagramm erwähnt hatte.

Na gut. Zögernd und mit klopfendem Herzen hob ich den rechten Arm, um die Verschnürung zu lösen, die den linken Ärmel auf der Schulter hielt. Langsam zog ich mir den Ärmel vom linken Arm und legte so das handgroße Tattoo auf meiner Schulter frei. Ich musste mich leicht drehen, um es ihnen zeigen zu können und wusste genau, was sie sahen. Ein verschnörkeltes Pentagramm, umrankt von einer Rose, die ihre Dornen blutig in mein Fleisch bohrte. Makellos und schauerlich zugleich. Zwei Zacken nach oben, das Zeichen des Satans.

„Es ist wunderschön“, hörte ich Boudicca hauchen. Gleich darauf legte sie einen Finger auf das Bild und eine Art Energiewelle schlug durch mich hindurch. All meine Glieder versteiften sich kurz und wurden dann butterweich. Ein berauschendes Gefühl jagte durch meine Adern und ein Seufzen flutschte über meine Lippen. Mein ganzer Körper kribbelte auf eine ungekannte Art. Dieses Gefühl war so erschütternd, dass ich es kaum aushalten konnte und doch so wunderbar, dass ich es nie mehr loslassen wollte. Es war, als gehörte dieser Körper nicht mehr mir und auch als Boudicca ihre Hand wieder von mir nahm, brauchte ich eine Weile, um nicht von dieser seltsamen Erfahrung zu erholen.

Mein Körper glühte und ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. „Was …“ Ich schluckte und versuchte die Sehnsucht nach diesem Gefühl zu ignorieren, als es langsam wieder abklang. „Was war das?“ War das meine Stimme, die sich da so kratzig anhörte?

„Magie in ihrer reinsten Form.“ Boudicca seufzte, als hätte sie das Gleiche gespürt. „Dein Zeichen gehört uns und es hat auf meine Anwesenheit reagiert.“

„Ich …“ Wollte sie damit sagen, dass ich ihr auch gehörte?

„Das ist nicht unser Zeichen“; widersprach Chana. „Es ist falschherum.“

„Ist es nicht.“ Boudicca stand auf und umrundete den Tisch, bis sie hinter mir stand. Sie nahm meinen Arm und streckte ihn über meinen Kopf nach oben. „Siehst du?“

Ich war irgendwie nicht in der Lage, mich gegen sie zu wehren, noch konnte ich sehen, was sie meinte, doch Chana sah es.

„Es dreht sich.“

„Genau.“ Boudicca ließ meinen Arm wieder los und setzte sich zurück auf ihren Platz „Durch die Bewegung verzieht sich die Haut und das Zeichen dreht sich.“

Das Zeichen … Moment, sollte das heißen, ich trug doch nicht das Symbol des Satans?

„Und was bedeutet das nun?“, wollte Gaare wissen und ich war ihm dankbar für seine Frage, denn ich war gerade so durch den Wind, dass es bereits an ein Wunder grenzte, wenn ich es schaffte, eins und eins zusammenzuzählen. Der Rausch der Magie war aber auch herrlich.

„Das bedeutet, dass wir das Zeichen nicht mehr auf Talita anbringen müssen, sollten wir es gestatten, dass sie unser Portal benutzt“, antwortete Chana.

„Wie hoch stehen denn ihre Chancen?“

„Ziemlich gut.“ Boudicca beugte sich ein wenig vor. „Mich hat sie bereits für sich eingenommen.“

 

°°°

 

Das Herzflattern in meiner Brust wurde mit jedem Schritt schlimmer und meine schwitzigen Hände hatte ich bereits mehr als einmal an meinen Klamotten abgewischt, aber es half einfach nicht. Was los war? Ganz einfach, hinter der nächsten Ecke wartete Veit auf mich. Ich konnte seine Witterung bis hier her wahrnehmen.

Erst nach dem Treffen mit den Hexen war mir klar geworden, dass ich das erste Mal seit langer Zeit mit Veith allein sein würde. Nicht, dass ich glaubte, es würde etwas bedeuten, er wollte sich schließlich wegen Isla mit mir treffen, aber ich würde halt ganz allein mit ihm sein. Was das Schlimme daran war? Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, wie ich mich ihm gegenüber geben sollte. Er verunsicherte mich und das mochte ich überhaupt nicht. Verdammt, am besten wäre es gewesen, ich hätte ihn gleich zum Teufel gejagt und wäre erhobenen Hauptes an ihm vorbeistolziert. Aber nein, ich musste mich ja von ihm bequatschen lassen und jetzt hatte ich den Salat.

Okay, ran an den Speck. Hier im Nieselregen rumzustehen und das Unausweichliche hinauszuzögern, wäre einfach nur feige und ich war nicht feige. Ich war die Hüterin der Verlorenen Wölfe und die war es, mit der Veith sich treffen wollte. Nicht mit Talita, sondern mit der Hüterin.

Ja, die Hüterin konnte ich sein, so würde ich das schaffen. Ganz professionell.

Und warum gehst du dann nicht endlich zu ihm, du professionelle Hüterin?!

Ich wischte mir ein letztes Mal die feuchten Hände ab und atmete tief ein. Brust raus, Bauch rein, Schultern zurück, Kinn erhoben. Dann konnte es auch schon losgehen.

Ich bog um die Ecke ab und da stand er auch schon.

Ganz entspannt lehnte er an einem Baum und runzelte bei meinem Anblick leicht die Stirn. „Warum läufst du so seltsam?“

Mist. „Ich laufe nicht seltsam, das ist selbstbewusst und jetzt komm her, oder ich gehe wieder nach Hause.“

Als er meiner Anweisung folgte, vertiefte sich das Stirnrunzeln. „Warum bist du so feindselig?“

Weil das besser war, als einfach die Flucht zu ergreifen, um dieser Situation zu entgehen. „Verwandle dich“, wies ich ihn an und führte meine eigene Verwandlung herbei. Keine Minute später stand ich als halbe Katze da und nun war es an mir die Stirn kraus zu ziehen. Veith war immer noch ein Mann. „Was ist? So nehme ich dich da nicht mit rein. Die Wölfe sind für Fremde gefährlich, also tust du entweder was ich sage, oder wir blasen die ganze Angelegenheit einfach ab.“ Was mir im Moment wirklich lieber wäre.

Veith ging auf mich zu, stellte sich direkt vor mich, sodass ich gezwungen war, einen Schritt Abstand zwischen uns zu bringen.

„Rück mir nicht so auf die Pelle.“ Denn ihn so nahe bei mir zu wissen, war nicht sehr förderlich für mein Seelenheil, besonders wenn meine Hände danach zuckten, ihn zu berühren.

Veith beachtete das gar nicht. „Ich werde mich verwandeln, ich werde auf dich hören und ich werde mich an deine Regeln halten, aber zuallererst wirst du mir sagen, warum du dich so seltsam verhältst.“

Hatte er mir gerade einen Befehl gegeben?

Ja, hat er!

„Ich verhalte mich seltsam? Du bist es doch, der ständig irgendwelche merkwürdigen Anwandlungen hat! Mal hü, mal hott und ich will das einfach nicht mehr, also entweder verwandelst du dich jetzt, damit ich deinen haarigen Hintern da reinbringen kann, oder die ganze Sache hat sich erledigt. Wie möchtest du es halten?“

Er sah auf mich herunter und schüttelte dann leicht den Kopf. „Muss es jetzt wirklich so sein? Müssen wir uns so verhalten?“

„Warum fragst du mich das, du hast doch damit angefangen, indem du behauptet hast, ich würde dich stalken.“ Dabei war er es, der mir auflauerte. Was für eine Ironie. Ich ging hinüber zum Schild und blieb genau davor stehen. „Also, was ist nun, kommst du, oder nicht?“

Ich drehte mich nicht um und trotzdem wusste ich, dass er sich verwandelte. Es war wie eine Vibration in der Luft, ein Gefühl. Woher kam das plötzlich? Das war mir doch vorher nie passiert. Bevor ich mir darüber näher Gedanken machen konnte, spürte ich das weiche Fell von Veith unter meiner Pfote und ich widerstand sowohl dem Drang ihm durch den Pelz zu fahren, als auch, meine Pfote einfach wegzureißen. Ich musste ihn berühren, um ihn durch den Schild zu bringen, eine einfache Berührung, mehr nicht.

Okay, einfach mal tief durchatmen, dann würde ich das schon schaffen. „Im Park tust du genau das, was ich dir sage, in Ordnung?“ Noch einen Toten konnte ich nämlich nicht gebrauchen. Hm, vielleicht war es gar keine so gescheite Idee, Veith zu den Verlorenen Wölfen zu bringen. Ich konnte nur hoffen, dass sie ihm nichts taten, solange ich dabei war.

„Ich folge deinem Wort.“

Ach, wenn er doch nur immer so hörig wäre, das würde mir vieles erleichtern. „Dann komm.“

Das Gefühl von Wasser überlief uns beide und kaum, dass wir das Schild durchtreten hatten, nahm ich die Pfote auch schon wieder aus seinem Fell, obwohl ich mich danach sehnte, sie genau dort zu lassen. Mir war wirklich nicht mehr zu helfen, das grenzte mittlerweile ja schon an Masochismus.

Aus dem Dickicht unter den Bäumen, konnte ich bereits die ersten Augen sehen, die uns entgegenblitzen, kaum dass wir ein Stück gegangen waren. Hoffentlich begann ich hier nicht gerade den größten Fehler meines Lebens.

„Geh nicht zu den Wölfen, sie sind ein Rudel und du der Eindringling, sie würden dich …“

„Ich weiß, ich bin ein Lykaner, ich bin wie sie.“

Ich kniff die Lippen zusammen, um zu verhindern, ihn anzufahren, weil er mich nicht ausreden ließ. „Nein, du bist nicht wie sie, genau aus diesem Grund sind sie ja hier und nicht in euren Rudeln.“ Von links kam ein leises Knurren. Simyo. Ich fauchte ihn einmal sehr nachdrücklich an, dann war Ruhe. Ja, ich gehörte zum Rudel – zumindest zu diesem – ich konnte mir das erlauben. „Folge mir.“

Mit Veith im Schlepptau bahnte ich mir einen Weg durch den Urwalddschungel, während die Sonnen langsam am Horizont versanken. Mehr als einmal hörte ich meine Wölfe in unserer Nähe streifen, aber sie hielten sich bis auf kurze Blicke fern. Na das lief doch schon mal nicht schlecht. Jetzt musste ich nur noch Isla finden. In der Höhle hätte ich vielleicht Glück, obwohl sie sich dort nur äußerst selten aufhielt. Viel mehr glaubte ich, sie am Zuckerrohr zu finden. Dort gab es einen Felsen, auf dem sie sich immer gerne sonnte. Zwar regnete es im Moment, aber der Felsen war nun mal ihr Lieblingsplatz.

Während ich meine Augen über das Dickicht um uns herum schweifen ließ, sah ich auch einmal die blauen Augen von Saphir aufblitzen. Sie schien nicht glücklich über den Zustand, dass ich einen Lykaner ins Revier gebracht hatte, hielt sich aber zurück und verschwand auch sogleich wieder. Wahrscheinlich würde sie mir später die Leviten lesen, aber das hier war nun mal Veith und … ach was, das reichte als Erklärung völlig aus. Zumindest in meinen Ohren.

Problematischer wurde es da schon, als ich plötzlich ein Knacken im Gebüsch hörte und sich kurz darauf die massige, graue Gestalt von Grey vor uns schob. „Halt dich von ihm fern, guck ihm nicht in die Augen“, sagte ich sofort und versuchte Veith mit meinem Körper abzuschirmen und an dem ständig missgelaunten Wolf vorbei zu schmuggeln. „Und du, geh.“ Ich machte mit den Händen ein paar Kusch-kusch-Bewegungen, die er nur mit einem ignoranten Blinzeln zur Kenntnis nahm. Wölfe, mehr konnte man dazu wirklich nicht mehr sagen. „Du sollst gehen.“ Ich schubste ihn ein wenig weg, was ihn dazu bewog, mich anzuknurren, doch ich blieb ruhig. „Das kannst du dir sparen und jetzt geh in die Höhle, oder sonst wohin, aber verschwinde.“

Nein, er ging nicht, wir waren es, die sich verabschiedeten. Veith hielt sich an meinen Befehl und versuchte den Wolf nicht zu beachten, auch wenn dieser so aussah, als wollte er unseren Gast jeden Moment verspeisen. Bis hinter die nächsten Bäume behielt ich den Grauen genau im Auge, dann war er aus meinem Sichtfeld verschwunden.

„Er ist gefährlich“, sagte Veith leise.

„Ich komme klar.“ Hier unter den Bäumen war der Regen kaum zu spüren. Die Geräusche der herannahenden Nacht begleiteten uns auf unserem Weg.

„Du bist so still.“

Ich warf einen überraschten Blick auf den großen, bösen Wolf, bevor ich mich wieder auf meinem Weg konzentrierte. Wollte er etwa mit mir reden? „Was soll ich denn sagen?“

Zwei stille Schritte. „Erzähl mir von … Isla.“

Isla, natürlich. Das war ja auch der Grund, warum wir hier waren. Seufz, ich sollte endlich aufhören, insgeheim auf andere Dinge zu hoffen, die sowieso niemals passieren würden. „Sie ist anders als die anderen und damit meine ich nicht nur ihren Charakter, aber das wirst du gleich selber sehen.“

Fünf stille Schritte. „Und du, wohin musstest du vorhin so dringend?“

Warum wollte er das wissen? „Du musst dich nicht verpflichtet fühlen mit mir zu reden, nur weil wir zusammen unterwegs sind.“

„Es interessiert mich aber.“

„Ach ja? Warum?“ Ich kletterte über einen halb verrotteten Baumstamm, der schon so überwuchert war, dass man ihn kaum noch erkannte.

„Wir waren mal Freunde“, sagte er leise und sprang mir hinterher.

„Waren ist hier wohl das richtig Wort“, gab ich etwas bitter von mir. Danach schwieg er, doch jetzt empfand ich die Stille irgendwie erdrückend. Mist, wie machte er das nur? „Ich hatte ein Treffen mit dem Zirkel vom schwarzen Mond.“

Veith legte die Ohren an und kniff die Augen zusammen. „Du hast dich mit Hexen getroffen?“

„Ja und wenn ich Glück habe, dann sind sie mein Weg nach Hause. Dann bist du mich endlich los.“ Den letzten Teil sagte ich sehr leise und ich wusste, dass er ihn gehört hatte, aber er schwieg dazu. Wahrscheinlich hatte ich genau das ausgesprochen, was er sich dachte und das tat so richtig weh. „Hinter der nächsten Biegung ist sie vielleicht.“

Nein, war sie nicht. Ihr Felsen war leer und im Zuckerrohr hatte sie sich auch nicht versteckt. Der ganze Ort war verlassen, nicht mal Frösche waren zu hören. Wir mussten noch eine ganze Strecke tiefer in den Urwald laufen, bevor ich Isla am Rande einiger Zypressen im Wurzelwerk fand, wo sie vor dem Regen Schutz gesucht hatte.

„Bleib hier, ich versuche sie raus zu locken.“ Aus meinem Beutel kramte ich eine Dose, in die ich zu Hause bereits vorsorglich einige Fleischstückchen gepackt hatte und ging dann bis auf ein paar Meter an die Zypresse heran.

Isla hatte mich natürlich schon bemerkt, genauso wie Veith, weswegen sie das erste Fleischstückchen, das ich direkt vor den Baum warf, nicht weiter beachtete. Sie hatte nur Augen für den Eindringling, der sie so neugierig beobachtete. Ihre Nase ging leicht in die Luft, um die Witterung aufzunehmen, ihre Ohren stellten sich nach vorn, aber sie knurrte nicht. Das war doch schon mal ein guter Anfang. „Isla hält sich meist von den anderen fern“, erzählte ich, hauptsächlich um diese drückende Stille zu überbrücken. „Sie bleibt lieber für sich.“

„So war sie schon früher, beobachtet lieber aus der Ferne, als selber im Mittelpunkt zu stehen.“

„So wie du“, rutschte es mir raus. Mist. Ich biss mir auf die Lippe und warf das nächste Stück.

Dieses Mal fand Isla es schon interessanter, rutschte ein Stück unter den Wurzeln hervor, um daran zu schnuppern, aber Hunger hatte sie wohl gerade nicht, denn sie ließ es einfach liegen und fasste stattdessen wieder Veith ins Auge.

„Ihre Handlungen führt sie meist mit Bedacht aus und manchmal tut sie Dinge, die ein Wolf nicht tut.“

„Dinge?“ Veith stand auf und setzte sich neben mich ins feuchte Laub – viel zu nahe, für meinen Geschmack, aber ich ignorierte es einfach. „Was für Dinge meinst du?“

„Naja, einmal hat sie eine Linie aus Steinen gebastelt.“ Ich rutschte unruhig auf meinem Hintern herum, als ich Veiths Atem in meinem Nacken spürte. Musste er so nahe sitzen? „Vor ein paar Tagen hat sie für mich ein Smiley gemalt, bevor sie sich drauf gelegt hat.“

„Was ist ein Smiley?“

„Ein lächelndes Gesicht.“ Ich wagte einen kurzen Blick zu Veith, bevor ich das nächste Fleischbröckchen warf. „Ich war ein bisschen … down und habe ihr etwas erzählt, da hat sie es gemalt.“ Ich konnte spüren, wie er seinen Blick auf mich richtete, ließ es mir aber nicht anmerken.

„Dir ist sicher klar, dass ich nicht weiß, was das bedeutet, dieses down.“

„Es bedeutet …“ Halt, Moment, dieser große, böse Wolf war sicher nicht der Richtige, um mein Herz auszuschütten. „Ist auch egal.“

Veith seufzte. „Warum sagst du es mir nicht?“

„Weil es dich sowieso nicht interessiert, darum.“

„Wie kommst du darauf?“

„Veith, lass einfach gut sein. Du musst nicht plötzlich wieder nett zu mir sein, nur weil wir hier sitzen, wirklich nicht, ich komme schon klar.“

Die nächsten Minuten schwiegen wir und beobachteten, wie Isla langsam aus ihrem Unterschlupf gekrochen kam und an dem Fleischbrocken schnüffelte. Scheinbar entsprach es nicht ihrem Geschmack, denn sie ließ es liegen und kam zu mir getrottet. Veith wurde dabei nicht beachtet. Wahrscheinlich stufte sie ihn nicht als Gefahr für sich ein.

Sie stupste einmal gegen meine Hand und dann gegen die Dose. Aha, das dreckige Fleisch wollte sie nicht, sie nahm lieber das saubere von der Quelle. Schade nur, dass ich nicht so viel mitgebracht hatte, so musste sie sich, nachdem sie die Dose geleert hatte, doch mit den Resten auf dem Boden zufrieden geben. Aber vorher richtete ihr Blick sich noch einmal sehr nachdrücklich auf Veith.

Unter meinen Augen ging sie zu ihm und stupste mit ihrer Nase gegen seine. Sie hatte sich noch nicht einmal richtig von ihm gelöst, da verwandelte er sich plötzlich zurück in einen Mann. Das Fell zog sich unter die Haut, das Gesicht verformte sich, die Ohren wurden kleiner, die Rute verschwand und dann saß er wie Gott ihn geschaffen hatte – oder in diesem Fall die Magie – neben mir.

Ich hielt die Luft an, als er dann auch noch die Hand nach der Wölfin ausstreckte und hätte ihn am liebsten angeschrien, weil er so ignorant war. Hatte ich ihn nicht davor gewarnt, dass diese Wölfe gefährlich waren? Das hier war nicht Isla, das war ein Wolf, auch wenn er wie sie aussah und er riskierte hier seine Hand, weil er sie antatschen wollte. Doch zu meiner Verwunderung ließ sie es sich gefallen, schmiegte ihren Kopf sogar kurz in an ihn, bevor sie sich den Fleischstücken um Dreck widmete.

Kurz war ich noch versucht, ihm eine Standpauke über meine Verhaltensregeln zu halten, aber dann fragte ich mich, warum ich das tun sollte, war doch schließlich alles gut gelaufen. Außerdem waren wir allein und die anderen Wölfe befanden sich bei Saphir. Im Moment war es für ihn auch in dieser Gestalt sicher – vorausgesetzt natürlich, Isla würde nicht plötzlich ihre Meinung ändern. Aber ich war ja auch noch da und ich würde den großen, bösen Wolf schon beschützen, wenn es sein musste. Der Gedanke daran, wie ich mich todesmutig zwischen den schweigsamen Kerl und der kleinen Wölfin Isla warf, ließ  mich schmunzeln. Die Vorstellung allein war nicht nur witzig, sondern auch völlig absurd.

Schweigend saßen wir eine Weile da und beobachten still die Wölfin, die auf dem ganzen Boden herumschnüffelte, um ihr spätabendliches Zwischenmahl zu bekommen.

„Warum hast du dem Hohen Rat nicht gesagt, dass ich der Lykaner bin, in den du verliebt bist?“, fragte er mich plötzlich.

Mein Herz setzte einen Schlag aus, bevor er mit doppelter Geschwindigkeit weiter schlug. Warum wollte er das wissen? Wollte er mich quälen? „Es geht sie nichts an, ist meine Privatsache und ich will jetzt auch nicht darüber reden, schon gar nicht mit dir.“

„Weil ich dich verletzt habe“, sagte er sehr leise.

Diese Worte machten mich echt wütend. Ich fuhr zu ihm herum und funkelte ihn an. „Wie hätten mich deine Worte nicht verletzten sollen? Erst wirfst du mir vor, das meine Gefühle krankhaft seinen und dann stellst du mich als Nutte hin, die für jeden ihre Beine breit macht!“

Bei meinem harschen Ton, stellte Isla kurz die Ohren auf, aber mein Ausbruch schien für sie nicht interessant genug zu sein, um deswegen ihre Futtersuche zu unterbrechen und dem Idioten neben mir in den Hintern zu beißen.

„Es tut mir leid“, sagte er leise. „Ich war nur so überrascht, dich da zu sehen.“

„Das gibt dir aber noch lange nicht das Recht, so mit mir zu reden und jetzt sei einfach still.“

„Talita …“

„Bitte.“ Ich wollte das nicht mehr, hatte im Moment einfach keine Kraft, um mich mit ihm und meine Gefühlen auseinander zu setzten. Schon gar nicht, wenn er mir fast auf dem Schoß hockte.

Isla schlang den Brocken direkt vor dem Baum herunter, leckte sich einmal über die Lefzen und sah dann zu mir herüber, als hoffte sie auf einen Nachschlag.

„Tut mir leid, Kleine, du hast schon alles aufgegessen.“

Ihr Kopf neigte sich zur Seite, fixierte mich einen Moment, dann wanderte ihr Blick zu Veith.

„Nein, er hat auch nichts.“

Diese Antwort schien sie doch sehr zu deprimieren. Sie legte die Ohren an, drehte sich herum und trottete einfach davon. Tja, dann war der Streichelzoo nun wohl geschlossen.

„Es schein ihr besser zu gehen“, sagte Veith. „Sie ist nicht mehr so verwirrt.“ Er sah zu der Stelle, an der sie verschwunden war. „Ruhiger.“

„Ja, sie ist nur ein wenig schüchtern.“ Ich steckte die leere Dose zurück in den Beutel und zog ihn zu.

„Das war sie schon immer gewesen.“

Ein schüchterner Lykaner? Unvorstellbar, aber man lernte halt jeden Tag etwas Neues. „Insgesamt geht es ihr auf jeden Fall besser. Manchmal beobachtet sie ihre Umgebung, als wisse sie ganz genau, was um sie herum vor sich geht. Das ist meist das erste Anzeichen von wiederkehrender Intelligenz.“ Meine Augen folgten Veiths Blick in die Dunkelheit. Islas Duft lag noch immer in der Luft. „Ich denke, wenn sie nur genug Zeit hat, dann wird sie wieder die werden, die sie einmal war.“

„Das hoffte ich.“

Und das war alles, was blieb: Hoffnung. Isla musste eine von den ersten Lykaner gewesen sein, die in Erions Fänge geraten waren, genau wie Grey und Lokos. Doch im Gegensatz zu den beiden Rüden, schien Isla sich nicht komplett verloren zu haben.

Zwischen uns breitet sich eine Stille aus, in der nur das Zirpen der Grillen erklang und das war … unangenehm. Früher hatten wir dieses Problem nicht gehabt. Veith war schon immer eher schweigsam gewesen und ich hatte mich in seiner Gegenwart nie unwohl gefühlt. Aber nach der Sache bei den Höhlenwölfen … es war einfach nicht mehr dasselbe und das würde es wohl auch nie mehr sein, egal wie sehr ich mir das wünschte.

Als hätte er meinen Gedanken folgen können, sagte er plötzlich: „Es tut mir wirklich leid. Das musst du mir glauben.“

Ich schloss die Augen. Bitte nicht, das wollte ich nicht hören. Es würde doch sowieso nichts ändern.

„Wenn ich es nur zurücknehmen könnte …“ Er schloss die Händen zu Fäusten, bevor er sie kraftlos an den Seiten herunterhängen ließ. „Ich wünschte, ich hätte das nicht gesagt.“

„Hast du aber“, sagte ich bitter und die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen – leider. Selbst in einer magischen Welt konnte man die Vergangenheit nicht ändern.

„Würdest du mir eine Frage beantworten?“ Er wandte mir sein Gesicht zu, dieser eindringliche Blick auf mich gerichtet, der mich bis in mein Innerstes durchbohren konnte. „Bitte.“

Das Schlaueste wäre es gewesen, ihm sofort einen Korb zu geben und ihn aus dem Schild zu befördern, um mein Leben friedlich und in Ruhe weiterzuleben, aber wie sollte ich diesem Blick widerstehen? Das war nicht fair.

Seufz. „Frag.“

„Warum bist du mit Pal nicht bis zum Ende gegangen?“

Was? Das war doch wohl nicht sein Ernst! Wie konnte er mich das fragen? Die Antwort wollte er sicher nicht hören. Die Lippen zusammendrücken und stur geradeaus zu gucken war wohl an dieser Stelle das Beste. Einfach die Klappe halten. Und genau das tat ich auch. Nicht mal die folgende, drückende Stille schaffte es, mich aus meinem Schweigen zu reißen.

„Talita, empfindest du etwas für mich?“

Verdammt, was sollte der Quatsch? Warum musste er jetzt damit anfangen, wo ich doch gerade begann, ihn aus meinem Leben zu streichen? Das war nicht fair! Außerdem wusste er die Antwort doch schon, er hatte sie gestern gehört, er und hunderte anderer Leute. Was sollte das also?

„Liebst du mich?“

Um aus dieser Situation rauszukommen, gab es nur einen Weg: schnell weg. Doch das war gar nicht so einfach, denn kaum, dass ich auch nur gezuckt hatte, schloss sich seine Hand fest um meinen Arm und nagelte mich auf meinem Platz fest.

„Bitte, rede mit mir.“

„Lass mich los.“

„Bitte.“

Scheiße, warum konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen?

„Bitte, Talita.“

„Was willst du denn hören?“, fuhr ich ihn an. Scheiße, warum brannten den jetzt auch noch meine Augen? „Es ist doch egal was ich sage, es wird doch eh nichts ändern. Du bist unerreichbar für mich, also hör auf mich zu quälen und geh einfach in dein neues Rudel zurück, wo du dir eine Gefährtin suchen kannst, um ihr tausend Kinder anzubumsen!“ Mist, jetzt lief die Soße. „Und jetzt nimm deine Pfoten von mir!“

Tat er nicht. Er blieb völlig ruhig, ließ sich von meinem kleinen Ausbruch nicht beindrucken. Schloss nur die Augen und atmete tief ein. „Ich kann nicht, ich bin eine Verpflichtung eingegangen.“

„Hör auf, das zu sagen, ich will das nicht mehr hören. Ich weiß das doch alles schon!“

Er schüttelte den Kopf, als führe er ein leises Gespräch in Gedanken mit sich selber. „Ich kann nicht.“ Seine Augen sprangen auf und blickten genau in meine. „Verstehst du, Talita? Ich darf das nicht“, sagte er eindringlich, aber ich wusste nicht, ob er mich damit meine, oder sich selber von irgendwas zu überzeugen versuchte. „Fühlst du das?“ Er legte meine Hand auf seine Brust. Unter der warmen Haut fühlte ich seinen kräftigen Herzschlag. „Er ist zu schnell. Wenn du da bist, dann ist er immer zu schnell, aber ich darf nicht.“

Gott, er meinte doch nicht … er versuchte mir doch nicht gerade zu sagen …

„Ich dachte es wird besser, ich hab geglaubt, wenn ich in meinem neuen Rudel bin, kann ich dich vergessen, aber dann bist du aufgetaucht und …“ Er biss die Zähne so fest zusammen, dass es sogar mich schmerzte. „Ich bekomm dich einfach nicht aus meinem Kopf.“

Oh Gott, er sagte es wirklich!

„Was hast du mit mir gemacht?“, fragte er sehr eindringlich. „Warum gehst du da nicht raus? Ich will das nicht, ich darf das nicht.“

Das machte mich … sprachlos. Ich hatte keine Ahnung was ich sagen oder denken sollte, aber dieses starken Mann da so zu sehen, fast verzweifelt, das tat mir weh. „Die Zeit heilt alle Wunden.“ Das war zwar ein saublöder Spruch, aber das Einzige, an das ich mich die letzte Zeit halten konnte. Mir half es nicht, aber vielleicht ihm.

„Und wenn ich gar nicht will, dass es heilt?“

Er sah so gequält aus, als er das sagte, dass ich gar nicht anders konnte, als meine Arme um ihn zu schlingen und ihn an mich zu ziehen. Auch seine Arme legten sich um mich und drückten so fest zu, dass mir fast die Luft wegblieb. Es störte mich nicht, zeigte es mir doch, wie real dieser Augenblick war, auf den ich schon lange nicht mehr hatte zu hoffen gewagt.

„Ich will nicht, dass es heilt, aber ich darf es nicht.“ Er vergrub sein Gesicht in meiner Halsbeuge. Ich spürte seinen warmen Atem auf meiner Haut.

Die nächsten Worte sprach ich, ohne darüber nachzudenken. „Dieser Moment gehört uns.“ Vielleicht war es selbstzerstörerisch und das Dümmste, was ich in unserer momentanen Situation tun konnte, aber ich löste mich so weit von ihm, dass ich in diese wunderschönen, gelben Augen sehen konnte, ein Blick, der so intensiv war, das er bis auf die Seele vordringen konnte. „Nur uns“, flüsterte ich. Niemand war hier, niemand würde es je erfahren, ein Augenblick, der bereits ein Geheimnis war, bevor er überhaupt beginnen konnte. Ein Moment, in der Dunkelheit, in der Verlassenheit zweier einsamer Seelen.

„Nur uns“, flüsterte Veith zurück und dann lagen seine Lippen auf meinen. Es war …

Etwas rammte mich in die Flanke, sodass ich zur Seite geschleudert wurde und im weichen Dreck landete. Noch bevor ich mich aufgerappelt hatte, hörte ich das Knurren und wusste genau, was hier los war: Grey war los. „Verdammt!“, fluchte ich, rappelte mich auf die Beine und entdeckte den rauchgrauen Wolf zähnefletschend über Veith kauern, der völlig ruhig auf dem Rücken lag. „Scheiße, Grey, sieh zu das du Land gewinnst!“ Obwohl ich mich ihm normalerweise immer nur mit äußerster Vorsicht näherte, stampfte ich jetzt wütend auf ihn zu und schubste ihn einfach von Veith runter. Da hatte sich der große, böse Wolf nun endlich mal geöffnet und dann kam da so ein Nichtsnutz hergelaufen und vermasselte alles! „Verschwinde!“ Ich gab ihm noch einen Stoß, als er einfach nur bedröpelt dastand und mich ansah, als käme ich von einem anderen Planeten – was ja in gewisser Hinsicht auch so war. Naja, eigentlich ja andere Dimension, aber ob nun Planet, oder Dimension, war doch völlig egal. „Geh!“ Ich schubste ihn noch einmal und entgegen aller Regeln und Erwartungen, grummelte er, drehte sich dann um und verschwand hinter ein paar Mangroven im Unterholz.

Ich konnte nur dastehen und mein Gesicht in den Händen verstecken, wagte es nicht, mich zu Veith umzudrehen. Nicht, dass ich mich für den Kuss schämte, der so kurz gewesen war, dass er eigentlich gar nicht zählte, doch ich wusste noch zu gut, wie abweisend und kalt er mich angesehen hatte, als es das erste und letzte Mal passiert war. Das ertrug ich kein zweites Mal. Besser ich sorgte dafür, dass diese Situation sich schnellstens auflöste, bevor es für einen von uns peinlich, oder – noch schlimmer – erniedrigend werden würde – was dann wahrscheinlich mein Part wäre. „Ich denke es ist an der Zeit das du gehst.“

„Talita …“

„Ich bring dich durchs Schutzschild.“ Ohne auf ihn zu warten, machte ich mich auf den Weg. Er würde mir schon folgen.

 

°°°°°

Tag 461

„Wir machen einen Ausflug!“ Vor Aufregung hüpfte Raissa im Flur auf und ab. Sie sah gar nicht ein zu Kaj zu gehen, um sich ihre Schuhe anziehen zu lassen – davon abgesehen, dass sie Schuhe gar nicht gerne trug. „Ich will zu den Hirschen, die schmecken so gut.“

„Ich hab dir schon mal gesagt, die Tiere im Zoo darfst du nicht essen, die sind nur zum Angucken da“, erinnerte Kaj ihre begeisterte Tochter. „Und jetzt komm her, damit ich dir die Schuhe anziehen kann, sonst können wir nicht gehen.“

„Aber …“

„Schluss jetzt.“ Pal stieß sich vom Türstock ab, schnappte sich die Kleine und stellte sie vor Kaj auf den Boden. „Wenn wir nicht bald losgehen, schlafen die Tiere schon, bevor wir da sind.“

„Oh nein.“

Raissa sah so entsetzt aus, dass ich mir ein Schmunzeln nur haarscharf verkneifen konnte, aber Pals Einwand hatte sie wohl nachdenklich gestimmt. Sie quatschte zwar immer noch ohne Punkt und Komma, wie es für sie üblich war, aber sie ließ sich jetzt artig die Schuhe anziehen und die Haare kämmen.

Pal kam unterdessen zu mir in die Küche an den Tresen und lehnte sich dagegen. „Und du willst wirklich nicht mitkommen?“

„Nein, ich habe … äh … zu tun.“ Schnell nahm ich einen Schluck von meinem Saft, um meinen Patzer zu überspielen. Doch so wie Pal mich ansah, brachte das wohl nichts.

„Sagst du mir, was los ist?“

Da ich weder Lust noch Muse hatte, mein kompliziertes Verhältnis zu Veith zu erläutern und zu gestehen, dass ich mich gestern hatte zu etwas hinreißen lassen, was besagter Wolf wahrscheinlich schon in der Minute darauf bereut hatte und ich ihn hinter dem Schild einfach hatte stehen gelassen, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, gab es hier nur eine passende Antwort. „Gar nichts ist los.“ Es war schon schlimm genug gewesen, ihn nach diesem Desaster von einem Kuss noch einmal zu berühren, um ihn aus den Park zu bringen, da musste ich das Ganze nicht noch einmal erläutern, um das ganze Trauerspiel ein weiteres Mal durchleben zu müssen. Ich wollte es einfach nur vergessen.

„Warum nur kann ich dir nicht glauben?“

Es klingelte an der Tür. Da Kaj noch mit Raissa im Flur zugange war, machte ich mir gar nicht erst die Mühe vom Hocker zu rutschen.

„Weil du von Hause aus ein misstrauisches Wesen bist?“, überlegte ich. „Dieses Verhalten wurde dir schon in die Wiege gelegt. Dagegen kannst du gar nichts tun.“

Raissas Geplapper verstummte nicht, als Kaj die Tür öffnete, wurde nur noch lauter, damit ihre Ziehmutter sie auch gar nicht ignorieren konnte.

„Ich denke eher, dass es daran liegt, dass ich dich in der Zwischenzeit zu gut kenne“, erwiderte Pal. „Außerdem zuckt dein Auge wenn du lügst.“

Mist, blödes Auge. „Das hat nicht gezuckt weil ich lüge, sondern weil ich …“

„Talita, kannst du mal an die Tür kommen?“

Ich horchte auf. Kajs Stimme hatte so ernst geklungen, dass ich sofort das Schlimmste befürchtete. „Oh bitte, nicht schon wieder Wächter.“ Würde ich nicht verkraften, das wäre einfach zu viel.

Diese einfachen Worte alarmierten auch Pal und so eilte er an meiner Seite zur Tür. Doch wider Erwarten standen da keine Wächter, es war … „Veith?“

„Kann ich dich mal kurz sprechen?“ Sein Blick huschte kurz zu unseren Zuhörern. „Allein?“

Oh nein, nicht wieder das. Seine Beteuerungen von Freundschaft und den ganzen Mist, wollte ich kein zweites Mal hören. Das hatte mir bereits bei unserem ersten Kuss wehgetan. „Veith, hör zu, das was …“

„Das war keine Bitte gewesen, Talita.“

Ich hatte mich wohl gerade verhört. „Ich denke …“

„Du solltest mich reinbitten, jetzt.“

Etwas in seinem Ton ließ mich aufhorchen und auch, wenn ich ihm am besten einfach die Tür hätte vor der Nase zuschlagen sollen, weil er glaubte, mir Befehle geben zu können, trat ich wortlos zur Seite und ließ ihn an mir vorbei.

„Wohin?“

„Gleich die Tür hier“, sagte ich einfach mal, weil ich davon ausging, dass er wissen wollte, wo er sich ungestört mit mir unterhalten konnte und was wäre da geeigneter als mein Schlafzimmer? Mehr als Reden und Schlafen war in diesem Raum eh noch nie geschehen.

Pal berührte mich am Arm, als ich die Wohnungstür schloss und Veith folgen wollte. „Sollen wir warten?“

Das hatte Veith gehört und kommentierte es mit einem drohenden Knurren, was Pal rigoros ignorierte.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, geht ihr ruhig, wenn ihr so weit seid.“

„Wie du meinst.“

Kopfschüttelnd folgte ich ins Schlafzimmer. Was glaubte Pal denn, was Veith mit mir machen würde? Er war manchmal vielleicht ein Idiot, aber deswegen doch noch lange nicht gewalttätig, oder so.

Die Tür wollte ich langsam schließen, um mir noch eine kleine Gnadenfrist zu verschaffen, doch Veith hatte da ganz andere Pläne. Er zerrte mich am Arm herein, schlug hastig die Tür zu und im nächsten Moment drückte er mich mit seinem ganzen Körper gegen die Wand. Ich hörte das Schloss hinter mir klicken und wusste, dass er uns eingeschlossen hatte. Die Frage, was das sollte, blieb mir im Halse stecken, da seine Lippen so plötzlich auf meinen lagen, dass ich nicht mal mehr Zeit hatte, um überrascht nach Luft zu schnappen.

Verdammt, was war denn jetzt los, hatte ich irgendwas nicht mitbekommen? Aber … oh Gott, Veith küsste mich! Er hatte mich in mein Schlafzimmer gezerrt und jetzt küsste er mich mit einer Intensität, dass mir glatt hören und sehen verging.

Das Blut rauschte mir in den Ohren und als die Hitze mir ins Hirn drang, schaffte ich es endlich, den Kuss zu erwidern. Ich wollte die Arme um seinen Nacken schlingen, um ihn noch näher an mich zu ziehen, aber er hatte mich so eingeklemmt, dass das gar nicht möglich war. Ich konnte mich nicht bewegen und war damit ausgeliefert. Ich konnte mich nicht wehren …

Ganz plötzlich war das Zittern da. Es begann in den Fingerspitzen und breitete sich über den ganzen Körper aus. „Veith, nein.“

Ich wusste nicht, ob es meine gehauchten Worte waren, oder er das Beben meines Körpers spürte, aber seine Lippen wurden von einem starren Blick ersetzt.

Ich öffnete den Mund, aber mehr als heiße Luft kam da nicht raus. Er war zu nahe, das war zu beengend. Ich drückte ihm gegen die Brust und entgegen meiner Erwartung, trat er einen Schritt zurück, der mich endlich wieder atmen ließ. Trotzdem war er noch zu nahe, zu viel von ihm. Ich musste denken und das konnte ich nicht, solange er direkt vor mir stand, also schlüpfte ich an ihm vorbei, marschierte ein paar Mal mein Zimmer hin und her, um letztendlich vor meinem Bett stehen zu bleiben und mich ihm zuzuwenden. „Was soll das, warum jetzt?“ Das war es, was mich wirklich beschäftigte. Über das, was das plötzliche Zittern bedeutete, wollte ich nicht weiter nachdenken, nicht, wenn die Erinnerungen sowieso in den Tiefen meines Geistes verborgen lagen.

„Dieser Moment gehört uns.“ Er ging auf mich zu, blieb direkt vor mir stehen. „Nur uns.“

Meine Augen weiteten sich ein wenig. „Aber … ich … du musst doch zurück zum Rudel und … und …“

Mit einem Finger auf den Lippen brachte er mich zum Verstummen. „Aber noch bin ich in Sternheim.“

„Aber dein Versprechen“, nuschelte ich um seinen Finger herum. „Ich verstehe nicht. Du bist ein Testiculus, du …“

„Und doch gibt es nur eine einzige Frau in meinem Kopf.“ Sein Finger strich über meine Unterlippe, zog prickelnde Spuren, bis seine ganze Hand auf meiner Wange lag. „Nur eine, die ich will.“

Oh Gott, wie konnte er nur sowas sagen? Noch gestern hatte er darauf gepocht, dass er sein Versprechen nicht brechen durfte. Aber was wenn … „Liebst du mich?“

„Dieses Wort beschreibt nicht annähernd, was in mir vor sich geht.“

Das bescherte mir ein kleines Lächeln. Er sollte viel öfter solche Dinge sagen. „Aber wir leben in zwei verschiedenen Welten.“ Und so gerne ich mir auch etwas vormachen wollte, ich wusste, dass er nicht bleiben würde. Mir war klar, dass er zu seinem Rudel zurück musste und auch ich würde früher oder später in meine Welt zurückkehren.

„Doch jetzt sind wir beide hier.“ Er ließ seine Hand sinken. „Es liegt an dir, du musst dich entscheiden, ich habe das bereits.“

Und er war hier, hier bei mir und redete ganz offen mit mir. Naja, das war eigentlich nichts neues, Veith redete immer offen – vorausgesetzt, er hatte überhaupt etwas zu sagen. Aber er würde wieder gehen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Jetzt stellte sich mir die Frage, sollte ich ihn deswegen einfach wegschicken, oder wenigstens das Wenige nehmen, was ich bekommen konnte. Es war ja nicht so, dass ich nicht auch so schon über ein Jahr unter diesem Zustand mehr oder weniger litt, wie schlimm konnte es schon noch werden? Und so würde ich wenigstens etwas von uns beiden haben, eine Erinnerung und Erinnerungen waren das Wertvollste, was ich besaß. „Dieser Moment gehört uns“, flüsterte ich und legte die Hände um sein Gesicht. „Nur uns.“

Ich konnte es praktisch spüren, wie ihn die Erleichterung durchdrang und er sich dann mir entgegen beugte, um meine Lippen zu empfangen. Dieser Kuss war anders als die, die wir bisher geteilt hatten, nicht so wild wie unser erster Kuss, nicht so kurz wie unser zweiter und nicht so abrupt, wie der von eben. Er war vorsichtig, tastend und schickte leichte Stromschläge durch meinen ganzen Körper. Wie kleine Schockwellen rüttelte dieses Gefühl mich wach. Seine Hände legten sich an meine Seiten, zogen mich näher. Langsam, ja fast träge glitten sie auf dem Stück nackter Haut hoch und runter und jagten mir einen warmen Schauer nach dem anderen über den Rücken. Nein, dieser Kuss war wirklich nicht annähernd wie die anderen, nicht so leidenschaftlich, so kurz, oder stürmisch, er war viel intensiver und rührte an so ziemlich allen in mir. Ich hatte das Gefühl aus einem langen Schlaf zu erwachen, auf eine Art, wie ich es nicht zu träumen gewagt hätte.

Langsam, gemächlich bewegten seine Lippen sich auf meinen, erkundeten jeden Winkel, jede Falte, aber das reichte mir nicht mehr. Ich öffnete meinen Mund und tippte mir der Zunge gegen seine Lippen, eine stumme Einladung, der er nur langsam folgte. Wollte der Kerl mich in den Wahnsinn treiben? Dann sollte er nur so weiter machen, ich stand nämlich kurz davor.

Okay, Zeit die Waffen einer Frau einzusetzen. Langsam bewegte ich mich rückwärts zum Bett und konnte mir ein kleines Lächeln nicht verkneifen, als er mir praktisch willenlos folgte. Ich war mir zwar noch nicht ganz sicher, was genau ich dort wollte, aber ich wusste, dass ich ihn ganz für mich haben wollte. Seine Hitze, das Gewicht seines Körpers auf meinem, sein Geruch. Ich wollte alles haben und diesen Augenblick dann in der Ewigkeit gefangen halten.

Als meine Waden gegen mein flaches Bett stießen, ließ ich mich langsam darauf sinken und zog ihm am Gesicht mit mir nach unten. Nur zu bereitwillig folgte er mir, kletterte über mich, als ich weiter rauf rutschte und nicht einmal lösten sich seine Lippen von meinen. Dieser Moment war so perfekt, dass ich am liebsten vor Freude geheult hätte. Niemals sollte er enden. Veith war alles, was ich fühlte, alles was ich wollte und die Welt konnte sich eine Runde ohne uns drehen. Die konnte draußen vor der Tür versauern, wenn dies hier nur nie endete.

Die Laken unter uns raschelten, als ich mich auf den Rücken zurücklegte. Veith beugte sich über mich, das Gewicht auf die Unterarme gestützt, ließ er sich langsam auf mich sinken und …

Es klopfte an der Tür. „Talita? Wir gehen jetzt.“

Pal.

Verdammt, hatte ich nicht eben noch gedacht, dass die Welt draußen vor der Tür bleiben sollte? Die hatte hier drinnen zurzeit Hausverbot!

„Talita? Alles okay da drin?“

Veith knurrte unwillig an meinen Lippen und knurrte ein durchdringendes „Verschwinde!“, bevor er mich wieder gefangen nahm.

„Was zum … Talita?“ Es klopfte erneut an der Tür. Zum Glück war die abgeschlossen. Wenn er jetzt hereinkäme … nicht gut, ich war nämlich nicht gewillt, mich von Veith zu trennen. Leider brauchte ich aber wenigstens meinen Mund zum Sprechen.  Bedauernd unterbrechen zu müssen, wandte ich mich seufzend zu Tür, als er nun schon nachdrücklicher klopfte. „Geh endlich in den Zoo, Pal!“ Hm, das hatte sich vielleicht ein wenig ruppig angehört. „Und habt viel Spaß.“ Na das klang doch gleich viel besser.

„Bist du sicher? Es ist so still bei dir, ich könnte auch …“

Langsam ging mir dieser Kerl auf den Keks. „Ich bin mir sicher und jetzt geh, oder willst du Raissa den Tag versauen?“ Einen Abschiedsgruß bekam er nicht mehr, weil meine Aufmerksamkeit schon wieder auf den unwiderstehlichen Kerl über mir gerichtet war. Ja, in dem Moment, in dem ich den verklärten Blick und die geröteten Lippen sah, war Pal und die kleine Unterbrechung völlig vergessen. Der Typ existierte einfach nicht mehr. Ich legte eine Hand an Veiths Wange, fuhr die Kinnpartie entlang, die kräftigen Sehnen an seinem Hals und den schnellen Puls, auf die breiten Schultern und gab ein zufriedenes Schnurren von mir – ja ich schnurrte wirklich, ich war eine Katze, ich durfte das –, als er unter dieser Berührung erschauerte – ich war hier wohl nicht die Einzige, die unsere kleine Liaison nicht kalt ließ.

Seine Augenlider hingen auf Halbmast, sie hatten sich nie ganz geschlossen. Es war, als hätte er Angst, eine Facette von mir zu verpassen, wenn er auch nur einen Moment nicht hinschaute.

„Wenn ich mich recht erinnere, waren deine Lippen gerade hier“, – ich zeigte auf meinen Mund – „bevor wir so rüde unterbrochen wurden.“ War das wirklich meine Stimme, die sich da so rau anhörte? Okay, ich wusste ja, dass ich ein Minnie-Mouse-Quietschen hinbekam, aber dieser heisere Ton war mir neu.

Seine Daumen strichen an meinem Gesicht entlang, den Blick so intensiv auf mich gerichtet, dass ich mir bereits nackt vorkam, obwohl ich noch alle Klamotten am Leib trug – noch? Was ging denn da schon wieder in meinem Kopf vor sich?

„Ich wusste bereits bei dem ersten Blick auf dich, dass du mir gefährlich werden könntest“, flüsterte Veith.

Sollte das jetzt ein Kompliment gewesen sein? Ich entdeckte jedenfalls keine Anklage in seinen Augen.

„Du bist eine Gefahr für mein Herz“, sagte er leise und dann waren unsere Münder wieder vereint  in einem Spiel, das so alt war, wie die Zeit selbst und doch jedes Mal wieder neu.

 

°°°

 

Schräg durch das Fenster warfen die Nachmittagsonnen ihre wärmenden Strahlen auf uns und zauberten damit unsere eigene, kleine Welt. Ich lag in Veiths Armen, angekuschelt an seine Schulter und zeichnete mit dem Finger Kreise und Schnörkel auf seine Brust. Seine Augen waren geschlossen, aber er schlief nicht, er genoss diese Zeit der stillen Zweisamkeit einfach nur.

Ich hatte ihn noch nie entspannt gesehen, so völlig zufrieden mit sich und der Welt. Eigentlich wäre dieser Moment perfekt, wäre da nicht schon die ganze Zeit diese quälende Frage, die mir auf der Seele brannte und darauf wartete, ausgesprochen zu werden. Mit dieser Frage konnte ich alles kaputt machen, das war mir klar, aber ich musste es einfach wissen. „Veith?“

„Hmh?“

Dieses Geräusch war echt süß, so halb schläfrig und völlig gelöst. Ganz anders, als ich ihn bisher kennenlernen durfte. In den letzten Stunden hatte sich irgendwas zwischen uns geändert, zum Guten hin, wie ich glücklich feststellen konnte. „Wie … ich würde gerne etwas wissen.“

„Dann frag.“

Ich öffnete den Mund, aber außer heißer Luft kam nichts heraus. Was, wenn mir die Antwort nicht gefiel? Ich wollte nicht, dass mein schöner Traum ein schnelles Ende fand, weil ich mich nicht mit dem zufriedengeben konnte, was ich gerade hatte.

Als ich weiter still blieb, drehte Veith den Kopf zu mir und sah mir eindringlich in die Augen. „Sprich mit mir.“

Wenn das nur so einfach wäre. „Jetzt da wir …“ Ich stockte. Was, zusammen waren? Ein wenig Speichel ausgetauscht hatten? Ja, was waren wir eigentlich? „Jetzt da wie hier sind“, führte ich meine Worte ein wenig kläglich weiter, „was wird sein? Wie geht es jetzt weiter? Also zwischen uns, meine ich.“

Auf seine ruhige Art überlegte er erst einen Augenblick, bevor er antwortete, strich mir ein paar Strähnen aus dem Gesicht, um dann mit dem Finger über meine Lippen zu wandern. „Es wird nicht einfach werden, keiner darf es wissen.“

Das war nicht so ganz das, was ich hatte hören wollen. „Das heißt, wir müssen es vor den anderen verheimlichen?“

„Anders geht es nicht.“

Doch, würde es schon, aber auch wenn es mich schmerzte, glaubte ich nicht, dass er dieses Schritt für mich gehen würde. Klar, er liebte mich – das glaubte ich seinen Worten jedenfalls entnehmen zu können, denn gesagt hatte er es ja nicht –, aber das Rudel war sein Leben und ich war mir nicht sicher, ob er sein Leben gegen seine Liebe eintauschen würde. „Was sind wir jetzt?“

Wieder schwieg er einen Moment, bevor er antwortete. „Die Zeit in Sternheim gehört allein uns.“

Das war nicht ganz das, was ich gefragt hatte, aber wenigstens schon mal ein Anfang. „Und danach?“

„Nur Sternheim, mehr kann ich dir nicht geben.“ Er beugte sich leicht vor und strich mit den Lippen über meine. „Es tut mir leid, aber anders geht es nicht. Ich bin immer noch der Testiculus und habe eine Pflicht zu erfüllen.“

Natürlich, seine Pflicht als Begatter des weiblichen Geschlechts, wie hatte ich die nur vergessen können? Gar nicht, ich hatte es einfach nur für einen Augenblick verdrängt. „Warum, wenn dein Herz doch etwas anderes will?“

Er seufzte schwer und drehte sich zurück auf den Rücken. Sein Blick ging nach oben an die Decke, aber er ließ mich nicht los. „Es ist nicht so einfach, wie du es dir vorstellst.“

„Dann erkläre es mir, ich will es verstehen.“ Ich rückte ein Stück hoch, beugte mich über ihn, um ihn in die Augen sehen zu können. „Bitte.“

Er hob die Hand wieder an mein Gesicht. Es war, als wäre es ihm ein dringendes Bedürfnis, mich immerzu zu berühren – und ich würde mich sicher nicht beschweren. „Als ich noch klein war, kam meine Mamá einmal nach Hause. Sie war furchtbar aufgelöst und als ich sie fragte, was sie hätte, antwortete sie, dass der einzige Mann, der damals in unserem Rudel den Titel des Testiculus angenommen hatte, ihn wieder abgegeben hätte, weil er sich in eine Frau aus unserem Rudel verliebt hat.“

Irgendwie kam mir die Geschichte sehr bekannt vor. Auf jeden Fall gab es da einige Parallelen zu mir, nur das Veith nicht von seinem Posten zurückgetreten war. „Wer war es?“

„Wulf.“ Seine Hand wanderte über meinen Hals auf mein Schlüsselbein und verharrte da. Ein angenehmer Schauer jagte über meinen Rücken. „Er ist von seinem Posten zurückgetreten und hat damit Schande über unsere Familie und unser Rudel gebracht. So jedenfalls hat sie es empfunden.“ 

Dumme Frau. „Aber das ist falsch. Wenn er seine Gefährtin liebte, dann hat er sich genau richtig entschieden.“

„So siehst du das und vielleicht hast du auch recht“, gab Veith nach einem kurzen Moment zu, „aber meine Mamá konnte das nicht so sehen. In ihren Augen hat mein Onkel die Ehre und den Stolz des Rudels beschmutzt und dafür gesorgt, dass wir kein frisches Blut bekommen. Ohne Testiculus konnten wir nicht am Fest teilnehmen und mussten weitere zehn Jahre warten. Wir sind auf die Wechsel angewiesen. Ohne frisches Blut gibt es keine Kinder und ohne Kinder stirbt das Rudel.“

Ja, das war schon scheiße gelaufen, aber gegen seine Gefühle kam man nun mal nicht an. Wulf hat das verstanden, Veiths Mutter offensichtlich nicht.

„Ich war damals noch sehr klein gewesen“, erzählte er weiter, „und habe es nicht richtig verstanden, aber meine Mamá war sehr traurig und das wollte ich nicht sehen, also habe ich ihr versprochen, wenn ich alt genug bin, werde ich ein Testiculus werden, um die Ehre und den Stolz der Familie und des Rudels wieder herzustellen.“

„Aber du warst nur ein Kind, sie hat sicher nicht erwartet, dass du es wirklich machst.“

„Nein, natürlich nicht.“ Ein wehmütiger Zug erschien um seinen Mund. „Sie lobte mich für meine Idee und war stolz auf mich, aber sie hat nicht geglaubt, dass ich es wirklich machen würde, wenn mir klar würde, was diese Position für mich bedeuten würde.“ Sein Blick folgte seiner Hand und verharrte dort, als befände er sich in einer anderen Zeit.

„Warum hast du es dann getan?“

„Sie ist gestorben“, sagte er dumpf und schloss einen Augenblick die Augen. „Ich weiß, es war das Versprechen eines Kindes, aber mit ihrem Tod bekam es für mich eine ganz andere Bedeutung.“ Er hob seinen Blick, um mir in die Augen sehen zu können. „Verstehst du es jetzt? Ich hab es ihr versprochen, ich kann nicht mehr zurück.“

Ich verstand ihn, verstand die Last des Gelöbnisses, das auf seinen Schultern ruhte und trotzdem konnte ich es nicht akzeptieren. Er war damals ein Kind gewesen, sein Wort gehörte einer Toten, wie konnte ich dagegen ankommen? „Das ist nicht fair.“

„Aber ich kann nicht anders.“

Nein, natürlich nicht. Dieses Versprechen war für ihn mehr als Ehre und Stolz, es war für ihn eine Verbindung zu seiner Mutter und wer war ich schon, dass ich mich dazwischen drängeln konnte? „Und das ist auch gut so.“ Ich hauchte ihn einem Kuss auf die Lippen und kuschelte mich wieder an seine Schulter. „Du tust genau das Richtige“, sagte ich, auch wenn sich alles in mir dagegen sträubte.

Er schlang die Arme um mich und zog mich fest an sich und ich hoffte in diesem Augenblick, dass er mich nie wieder loslassen würde. „Danke.“

Ich schloss die Augen, hatte ich diesen Dank doch gar nicht verdient. Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass er sein Versprechen einfach vergessen sollte, damit wir glücklich sein konnten, damit ich glücklich sein konnte und mich nicht vor der Welt verstecken musste. Aber es bedeutete ihm so viel und ich war nicht in der Lage ihn in eine Situation zu drängen, die ihn seelisch kaputt machen konnte. Denn genau das wäre es, was geschehen würde, wenn ich es von ihm verlangte.

Ja, Veith war mein großer, böser Wolf, der über genug Stärke für zwei verfügte, aber er war auch nur ein Wesen mit Gefühlen, selbst wenn er die so gut wie nie zeigte.

„Würdest du mir jetzt auch eine Frage beantworten?“

„Wenn ich jetzt ja sage, dann habe ich dir damit bereits geantwortet.“ Ich lehnte den Kopf ein wenig zurück, um ihn angrinsen zu können, auch wenn mir im Moment so gar nicht danach war. „Oder was meinst du?“

Seine Hand glitt von meinen Rücken über meinen Arm, bis er meine Hand nehmen konnte, um sie an den Mund zu ziehen und einen Kuss drauf zu hauchen.

Das war eine sehr manipulative Art mich zu überreden, dass musste jetzt einfach mal angemerkt werden. „Okay, überzeugt, ich beantworte dir alles, was du wissen willst.“

„Du hast gezittert, vorhin als ich gekommen bin.“ Sein Blick nahm meinen gefangen. „Warum hast du gezittert, hast du dich vor mir gefürchtet?“

Mein Mund ging auf, nur um sich gleich wieder zu schießen. Das wollte ich ihm nicht sagen. Nicht jetzt, niemals. „Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, hier reinzustürmen und praktisch über mich herzufallen“, versuchte ich ihm vom Thema abzubringen.   

Die altvertraute Falte erschien auf seine Stirn. „Du weichst mir aus.“

„Du auch.“

Er blieb still, dachte nach und musterte dabei jeden Muskel in meinem Gesicht. „Ich wollte es bereits gestern tun, aber du warst so schnell weg. Seit der Sitzung im Hohen Rat kann ich an nichts anderes mehr denken, seit dem Moment, in dem du dich so vehement geweigert hast, meinen Namen preis zu geben. Aber, nachdem ich dich so verletzt habe … ich wusste nicht wie ich es machen sollte und dann bist du weggelaufen.“

„Du hättest mir ja folgen können“, überlegte ich laut.

„Nein, das ging nicht, ich musste zurück zu Cui. Ich war sowieso schon zu spät dran.“

„Aha. Und heute Morgen hat die Sehnsucht nach mir dich so übermannt, dass du einfach nicht anders konntest, als über mich herzufallen.“

„Ja.“

Dieses Wort, so einfach und so direkt verschlug mir einfach mal die Sprache. Die ganze Zeit hatte er sich gegen diese Gefühle gewehrt,  hatte sich gegen mich gewehrt und jetzt auf einmal war er völlig offen für mich. Es schien, als wollte er jedes Geheimnis, das er besaß, mit mir teilen, nur um mir noch etwas näher zu kommen. Ich konnte nur hoffen, dass er morgen nicht plötzlich wieder irgendwelche Stimmungsschwankungen bekam und es sich anders überlegte. Dann würde ich ihm mal eine richtige Szene machen, das schwor ich mir.

„Jetzt bist du dran“, sagte er.

„Womit?“

„Ich habe dir deine Fragen beantwortet, jetzt bist du dran. Warum hast du angefangen zu zittern.“

Er hatte recht, jetzt war es an mir, ein kleinen wenig von mir preiszugeben, aber wie sollte ich das anstellen? Wie sollte ich erklären, was Sven mir angetan hatte? Ich würde ihm danach nicht mehr in die Augen sehen können. Wenn er wüsste, wie dreckig ich war … das konnte ich einfach nicht ertragen. Aber er wollte es doch wissen. „Das ist … weil.“ Ich kniff die Lippen zusammen und stand hastig aus dem Bett auf. Ja, ich war feige und ich ergriff die Flucht. „Ich hab Hunger und mach mir ´ne Kleinigkeit, willst du auch was?“ Mit drei schnellen Schritten war ich bei der Tür, doch als ich die Klinke betätigte, ging sie nicht auf. Verflucht noch mal, warum ging die nicht auf? Auch beim dritten und vierten Versuch gelang es mir nicht. Verdammt!

„Talita?“ Das Bettzeug raschelte, als er sich aufsetzte.

„Keine Sorge, ich hab´s gleich, die Tür klemmt nur.“ Ich rüttelte an der Tür, aber sie ging nicht auf. warum zum Teufel ging die einfach nicht auf?

„Die Tür klemmt nicht, Talita.“

„Doch sie …“

„Nein, tut sie nicht. Ich habe sie vorhin abgeschlossen, erinnerst du dich?“

Er hatte … ach verflucht. Ich schloss die Augen und ließ meine Stirn gegens Holz knallen. Aua.

Das Bett quietschte, als Veith sich davon erhob und hinter mich trat. Seine Hand griff an mir vorbei nach dem Schlüssel. Er klickte, jetzt war sie offen, aber ich traute mich nicht, mich zu bewegen. „Was ist so schlimm, dass du versuchst vor mir wegzulaufen?“ Als ich nicht reagierte, schlang er von hinten die Arme um den Bauch und vergrub das Gesicht in meinem Haar. „Willst du es mir nicht sagen?“

Nein, wollte ich nicht, aber das allein war es nicht. „Ich kann es nicht.“ Ich konnte ihm nicht sagen, was mir passiert war, aus Angst davor, dass er mich danach zurückstoßen würde. Ich war schmutzig und wenn er es wüsste … nein, ich konnte es wirklich nicht.

Sein Griff um mich wurde etwas fester. „Warum nicht?“

„Weil ich … bitte Veith, zwing mich nicht es auszusprechen. Ich kann das nicht.“ Ich hatte ihn erst so kurz für mich, ich konnte ihn jetzt nicht schon wieder verlieren, das würde ich einfach nicht verkraften.

„Okay.“ Er hauchte mir einen Kuss auf den Nacken und rieb mir seiner Nase darüber. „Du brauchst nichts sagen.“

„Danke.“

So blieben wir lange Zeit einfach stehen, fühlten die Nähe des anderen, aber leider währte nichts auf der Welt ewig, besonders bei den Dingen, die man sich so sehnlichst wünschte. Die Zeit raste einfach viel zu schnell dahin und wir merkten es immer erst, wenn sie bereits vorbei war.

„Ich muss bald gehen.“

„Warum?“ Ich wollte noch nicht, dass er mich wieder verließ. Nicht jetzt, niemals.

„Cui denkt, ich wäre  auf Erkundungstour, aber ich kann nicht ewig wegbleiben.“

Er hatte seine Alpha belogen, um zu mir kommen zu können? Ich wusste nicht, ob mich das freuen, oder traurig stimmen sollte. „Aber ich will nicht, dass du gehst.“

„Ich will auch nicht gehen.“ Er griff meinen Arm und drehte mich zu sich herum, um mich ansehen zu können. „Glaub mir, dass ist das Letzte, was ich im Augenblick will.“

So, wie er mich ansah, würde ich ihm sogar glauben, dass er ein kleines, grünes Männchen war, das vom Mars gekommen war, um die Wesen dieser Welt mit nur einem Blick zu unterjochen – die weibliche Bevölkerung, versteht sich. „Wann sehen wir uns wieder?“ Hatte sich das jetzt genauso schnulzig angehört, wie es mir vorkam?

Ja, hat es!

„Bist du morgen auch beim Ratsgebäude zur Anhörung mit Anwar?“

Ich nickte. „Ja.“

„Dann sehen wir uns dort.“ Er küsste mich noch einmal sehr ausgiebig, bevor er das Zimmer und die Wohnung verließ. Ich konnte ihn nicht raus lassen, meine Beine waren wie Pudding. Nur einen sehnsuchtsvollen Blick, den bekam ich noch hin.

Kaum das die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, breitete sich auf meinem Gesicht langsam ein Lächeln aus. Veith war zu mir gekommen, wir waren jetzt ein Paar – glaubte ich zumindest – ein richtiges Paar, wenn auch nur ein heimliches. Ich könnte vor Freude Bäume ausreißen, beließ es aber bei einem kleinen Tänzchen auf der Stelle, das bekam ich mit meinen Puddingbeinen gerade noch so hin. Und auch ein Jauchzen, vor dem ich mich selber erschreckte, so laut war er, aber ich musste meiner Freude einfach Ausdruck verleihen.

Das Lächeln wollte auch den Rest des Tages nicht weichen. Natürlich bemerkte ich die verwirrten Blicke von Kaj und Pal, als die später von ihrem Ausflug zurückkamen, aber das konnte meiner Freude keinen Abbruch tun.

Veith hatte sich für mich entschieden und schon morgen würde ich ihn wiedersehen, alles andere war im Moment egal.

 

°°°°°

Tag 462

Freudig und bibbernd zugleich, stieg ich am Ratsgebäude aus der Kutsche und musste gegen den leichten Sonnenschein anblinzeln, der sich durch die Wolkendecke kämpfte. In der Nacht hatte es wieder geregnet, doch jetzt schien die Sonne sich endlich mal durchzusetzen. Hoffentlich blieb das so, von dem ewigen Regen, hatte ich schon Schwimmhäute zwischen den Fingern.

Ich ließ meinen Blick über die Masse an Wesen gleiten, die sich hier heute versammelt hatten. Die Protestanten hatten sich verdoppelt, die Lykaner verdreifacht und die Stadt Sternheim schien sich hier im Ganzen versammelt zu haben. Die Geräuschkulisse war enorm und was ich so alles roch … da konnte man echt nur noch die Nase rümpfen. Um zum Gebäude durchzukommen, würde ich ordentlich Ellenbogenkraft einsetzen müssen. Aber das war nicht der Grund, warum ich vor Aufregung praktisch zitterte. Veith war hier irgendwo und er hatte gesagt, dass wir uns heute sehen würden. Nur, wie sollten wir das machen? Es durfte doch keiner merken, was zwischen uns los war.

„Wenn du mal Platz machen würdest, könnte ich auch aussteigen“, klang Djenans Stimme leise an meinem Ohr.

Oh Mist, da hatte ich doch glatt meinen Begleiter vergessen. Eilig trat ich einen Schritt zur Seite, damit er auch aus der Kutsche klettern konnte. Er war heute Morgen wieder an meiner Tür aufgetaucht und hatte es sich nicht nehmen lassen, mich zu begleiten. Pal konnte heute nicht mitkommen. Kaj musste arbeiten und er hatte sich bereit erklärt, mit Raissa auf den Spielplatz zu gehen.

Djenan schlug die Tür der Kutsche zu und wandte sich dann mir zu. „Du scheinst heute ein wenig aufgeregt zu sein.“

„Das liegt am Verfahren. Ich bin einfach nur gespannt, ob Anwar aussagen wird und wenn, was er sagt.“

„Das kann ich dir auch so sagen.“ Mit mir an der Seite setzte er sich in Bewegung. „Die Lykaner sind wilde Bestien, eine Gefahr für die übrige Bevölkerung, das übrige Bla bla halt.“

Da ich damit beschäftigt war, nach einem ganz bestimmten Wolf Ausschau zu halten, bemerkte ich nicht, wie der Kater direkt vor mir stehen blieb. Naja, zumindest nicht bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich in ihn reinlief und mit der Nase in seinen breiten Rücken krachte. „´tschuldigung.“

„Suchst du jemand bestimmtes?“

„Ich suche niemanden.“ Mist, das kam wohl ein bisschen zu schnell raus. „Ich will nur gucken, wer alles hier ist“, versuchte ich meinen Patzer wieder wett zu machen, doch Djenans zweifelnden Blick zufolge, gelang mir das wohl nicht so ganz.

Meine Rettung aus dieser Situation kam in Form eines kleinen Alphamännchens, das mich in der Menge entdeckte und zu sich winkte.

„Da ist Najat“, sagte ich und lief ohne zu überleben auf ihn zu. Nur weg von meinem Big Daddy, der war viel zu aufmerksam und das konnte ich gerade gar nicht gebrauchen, nicht, wenn Veith hier irgendwo war und mein Herz allein bei dem Gedanken an ihn vor Freude in meiner Brust Trampolin sprang.

Najat verschwand kurz aus meinem Sichtfeld, als ein Rudel Lykaner mit finsteren Blicken und Rasterlöckchen an mir vorbeilief. Dann wurde ich auch noch unsanft in die Seite gestoßen, aber erst als ich noch einen kräftigen Schubs in den Rücken bekam, der mich auf die Knie schleuderte, wusste ich, dass es kein Versehen gewesen war.

Wütend fuhr ich zu meinem Angreifer herum, aber da war Djenan bereits hinter mir und stieß einen weiblichen Lykaner mit Wucht zurück, sodass sie auf dem Rücken landete. „Mach das noch einmal, dann wirst du wissen, wie scharf meine Krallen sind“, drohte er ihr, bevor er mir die Hand reichte, um mich auf die Beine zu ziehen.

Die Lykanerin knurrte ihn mit einer inbrünstigen Leidenschaft an, dass es einem das Fürchten lehrte.

Die Männer und Frauen um uns herum, sahen nur zu. Sie halfen weder der Lykanerin, obwohl sie eine von ihnen war, noch mir. Aber dafür bekam ich ziemlich deutliche Blicke von ihnen, die ich keinen anderem wünschte. Freunde würden wir wohl trotz allem niemals werden und in den Augen der meisten Anwesenden, war ich wohl weiterhin nichts als ein Ärgernis.

Djenan klopfte mir den Staub vom Hintern – war ich ein kleines Kind, oder was? – und führte mich dann von diesem kleinen Auflauf fort, zu Najat hin, der nicht mehr da war, wo er sein sollte, sondern sich in der Zwischenzeit mit ein paar anderen Alphas in eine abgeschiedene Ecke am Ratsgebäude zusammengefunden hatte. Dort waren sie vor den Blicken der Menge weitestgehend geschützt. Keine Zeugen.

Ich schluckte, oh bitte, nicht schon wieder, dass hatten wir doch schon beim letzten Mal.

„Du musst nicht zu ihnen gehen“, flüsterte Djenan mir ins Ohr, obwohl Najat mich bereits zum zweiten Mal zu ihnen winkte. „Wir können auch einfach ins Auditorium gehen und uns Plätze suchen.“

„Ja, … ähm, ich meine nein, ich … ist schon okay.“ Gestern war ich vielleicht noch einmal drumherum  gekommen mit ihnen zu reden, aber jetzt musste ich mich ihnen stellen. Oder schnell wie ein Hase davon flitzen. Außerdem stand auch Cui dort, was hieß, dass Veith nicht weit sein konnte, oder? Ich hoffte einfach mal das Beste, als ich mich in Bewegung setzte und mich neben die trächtige Alphawölfin stellte. „Die Herrschaften haben geläutet?“

Als sich drei Dutzend grimmiger Augenpaare auf mich richteten, bereute ich meinen blöden Spruch sofort wieder, denn die Macht, die sie gemeinsam ausstrahlten, war wirklich nicht zu verachten. Ein Wunder, dass sie sich noch nicht gegenseitig an die Kehle gegangen waren, um ihre Dominanz zu demonstrieren.

Opaja, die Alphawölfin des Rajarudels, schüttelte ungläubig den Kopf. „Und so jemanden vertraut ihr eure Leute an? Da ist es kein Wunder, dass es ständig Tote gibt. Sie scheint ihre Aufgabe nicht sehr ernst zu nehmen.“

Oh du … das war ein Schlag unter die Gürtellinie gewesen und hätte ich nicht gewusst, dass sie garantiert stärker und gnadenloser als ich war, hätte ich ihr mit Sicherheit das Passende an den Kopf geworfen.

Mein Blick schweifte einmal über alle Anwesenden. Es waren die gleichen Leute, die sich auch beim letzten Mal vor dem Verfahren versammelt hatten. Wahrscheinlich so ´ne Art Kriegsrat, um die Strategie zu besprechen.

Was für ´ne Strategie?

War ja nur so ein Gedanke.

„Aber nicht doch, Opaja“; meinte Najat. „Jeder von uns geht mit Anspannung anders um und das ist Talitas Weg.“

Ich liebte diesen Wolf einfach. Er schaffte es immer wieder, mich aus den Fettnäpfchen zu retten, in die ich der Reihe nach rein trat.

„Wir hatten gestern gehofft, dass du einmal aus dem Schild herauskommen würdest, um mit uns zu reden“, sprach Rojcan mich persönlich an und verblüffte mich damit total. Bisher hatte er es immer vermieden, das Wort direkt an mich zu richten. Das war echt seltsam.

„Naja, ich … war beschäftigt“, entschuldigte ich mich lahm. Wofür eigentlich? Ich war diesen Leuten doch gar keine Rechenschaft schuldig. Doch sobald ich in ihre Aura geriet, bekam ich das Gefühl ein kleines Mädchen zu sein, das vor den Rektor der Schule zitiert wurde, weil es die Mülltonnen in Brand gesetzt hatte und dann noch einen Indianertanz darum aufführte.

„Das haben wir gesehen“, sagte Xyla und lächelte leicht. Und damit war sie nicht die Einzige, auch bei ein paar der anderen Lykaner hoben sich die Mundwinkel. Nicht bei allen, aber genug, sodass es mich erst mal verwirrte.

„Du hast unsere Wölfe beschützt“, kam es von Ean, dem Alpharüden der Eissternwölfe. „Du hast die Macht des Schildes gebraucht.“

Ach darum ging es. „Das war nur ein Versehen. Ich wollte das eigentlich gar nicht.“ Ich ließ meinen Blick von einem zum anderen gleiten und dabei entdeckte ich ihn. Mein Herzschlag beschleunigte sich gleich auf dreifache Geschwindigkeit, aber ich ließ mir nichts anmerken, genauso wenig wie er. Wäre da nicht dieser kurze Blick von ihm gewesen, ich hätte glauben können, dass der gestrige Tag nur in meiner Vorstellung stattgefunden hatte. „Ich war nur so wütend, dass sie die Wölfe erschießen wollten, da ist es einfach passiert.“

Azat zog die Augenbrauen zusammen. „Wer wollte die Wölfe erschießen?“

„Na Anwar.“

Veith lief um die Gruppe herum und stellte sich halb hinter Cui und damit auch halb hinter mich. Ich spürte seine Anwesenheit in meinem Rücken, als würde er mich berühren und musste mich ernsthaft zusammenreißen, ihm nicht um den Hals zu springen,  und vor versammelter Mannschaft mein Besitzrecht auf ihn vorzuführen.

„Anwar?“, kam es von Prisca. Sie sah irgendwie schlecht aus, ungepflegt, blass. War sie krank?

„Ja Anwar. Er hat nach den Geschehnissen vorgestern einen Tötungsbefehl für die Verlorenen Wölfe ausgestellte.“

Um mich herum wurde Knurren laut.

Verwirrt sah ich von einem zum anderen. „Ich dachte, ihr wüsstet das.“

„Woher bitte sollten wir das wissen?“, kam es etwas überheblich von Opaja.

„Na ihr wart doch da und …“ Mist, jetzt hätte ich mich fast verplappert. Veith hatte mir gesagt, dass sie über alles Bescheid wissen. Hatte er gelogen? Ich konnte es mir gerade so verkneifen, ihm einen Blick zuzuwerfen. Mann, diese Heimlichtuerei war ja schwieriger, als ich geglaubt hatte und dabei tat ich es erst seit gerade mal fünf Minuten.

„Und was?“, wollte Rojcan wissen.

„Und da dachte ich, ihr hab das mitbekommen“, sagte ich schwach. Eine bessere Ausrede fiel mir auf die Schnelle nicht ein.

„Ich wusste davon“, sagte da Cui neben mir und überraschte mich damit ein weiteres Mal. „Veith ist ein wenig zwischen den Wächtern herumgeschlichen und hat so einiges aufgeschnappt.“

Also hatte er mich doch nicht belogen. Mir fiel ein Stein vom Herzen, nur wie ich das mit dem Rumschleichen finden sollte, war ich mir noch nicht ganz so sicher. Hieß das, er hatte mich und die Verlorenen Wölfe ausspioniert, um Cui später zu Bericht zu erstatten? Hm, darüber würden wir später noch einmal sprechen müssen.

Minestra knurrte. „Und du hast es nicht für nötig gehalten, es uns zu sagen?“

„Warum sollte ich? Dazu bestand kein Grund, ihr gehört nicht in mein Rudel.“

Ladys und Gentlemans, ein Lykaner wie er leibt und lebt. Egoistisch bis zum geht nicht mehr, wenn es nicht um sein eigenes Rudel geht.

Wieder wurde rumgeknurrt, aber das bekam ich gar nicht so richtig mir, weil da plötzlich eine Hand auf meinem Hintern lag, die mir sehr bekannt vorkam. Diese Hand hatte da bereits gestern gelegen und auch, wenn ich es da genossen hatte, wusste ich nicht, wie ich es im Augenblick finden sollte. Klar, er stand so, dass die anderen es nicht sehen konnten, aber was, wenn doch jemand etwas bemerkte. Ich könnte seine Hand einfach wegschlagen, aber das wäre wohl ein wenig auffällig – nur ein ganz klein bisschen.

„So kommen wir nicht weiter“, schritt Najat, die Stimme der Vernunft ein. „Wie wäre es, wenn Talita uns einfach erzählen würde, was vor zwei Tagen genau geschehen ist.“

Alle Blicke richteten sich auf mich – mal wieder –, doch ich konnte nicht wirklich darauf reagieren, Veiths Hand lenkte mich ein wenig ab, die nun damit begonnen hatte, meinen Rücken hinauf zuwandern und dort kribbelnde Spuren zu hinterlassen. Wollte der, dass ich zu einem Häufchen Wachs zusammenschmolz? Wenn er so weiter machte, hätte er mich bald soweit.

„Talita?“, fragte Najat noch einmal, weil ich nicht reagierte.

Ich schluckte, verkniff es mir, Veith einen bösen Blick zuzuwerfen, konnte es mir aber nicht versagen, mein Gewicht ein wenig zu verlagern und ihm dabei ganz ausversehen auf den Fuß zu latschen. Er ließ sich vor den anderen nichts anmerken, kniff mir zur Strafe aber in den Hintern, sodass ich fast einen Satz gemacht hätte. Na warte Freundchen, das würde ich ihm noch heimzahlen. „Was wollt ihr denn genau wissen?“ Halleluja, ich hatte meine Stimme wiedergefunden.

„Am besten alles“, sagte Zephyr, der Alpharüde des Zwielichtrudels und Führer seiner Dingos. Ich hatte ihn auf der Rudelversammlung im letzten Jahr kennengelernt.

„Auch von dem ersten Vorfall, der mit dem Toten Elfen“, fügte Azat hinzu.

„Das ist doch Schnee von gestern“, protestierte Opaja. „Darüber wissen wir doch schon alles.“

„Kannst du dir da wirklich sicher sein?“, fragte Azat. „In den Zeitungen steht nicht alles und Talita weiß alles aus erster Hand, also kann sie es doch gleich auch noch erzählen.“

Die Diskussion zwischen den Alphas nutzte ich, um Veith einen kurzen Blick zuzuwerfen, als seine Hand plötzlich über meinen Hintern auf Wanderschaft ging – in Zonen, wo er hier überhaupt nichts zu suchen hatte wohlgemerkt –, aber er tat so, als würde er es nicht bemerkten. Scheinbar konzentriert folgte er dem Gespräch und würdigte mich keines Blickes.

„Aber das ist doch gar nicht mehr aktuell“, widersprach Opaja sofort. „Es tut nichts mehr zur Sache.“

Das gab es doch nicht, dieser … Wolf! – ja, mir war im Moment keine bessere Beleidigung für Veith eingefallen. Ich verlagerte mein Gesicht wieder zur Seite, weg von ihm und seiner Hand und warf ihm einen sehr deutlichen Blick zu, der ihn mahnen sollte, aufzupassen, wo seine Hände landeten, wenn er keine geklatscht haben wollte.

„Da muss ich Opaja recht geben“, stimmte Xyla ihm zu.

Veith interessierte mein drohender Blick herzlich wenig. Er machte einfach einen unbemerkten Schritt zur Seite und schon lag seine Hand wieder auf meinem Hintern und streichelte sanft darüber, sodass ich am ganzen Körper eine Gänsehaut bekam. Das machte er doch nur, um mich zu ärgern!

Zephyr schüttelte den Kopf. „Nein, da muss ich dir widersprechen. Dieser erste Fall war der Auslöser für dieses Verfahren und da Anwar heute aussagen soll, wäre es wichtig, alles darüber zu wissen.“

Und dann schlüpfte sein Finger doch tatsächlich unter den Bund meines Lendenschurzes, nur ein kleines Stück, aber es reichte, um mir die Schamesröte ins Gesicht zu jagen.

„Das sehe ich auch so“, stimmte Cui ihm zu. „Besser wir wissen alles, damit wir hinterher nicht das nachsehen haben.“

Und jetzt kitzelte der Idiot mich da auch noch! Ich sollte ihn …

„Talita, alles in Ordnung?“, fragte Najat. „Du bist so rot im Gesicht.“

Als sich die Blicke der versammelten Mannschaft auf mich richteten, wurde ich gleich noch ein wenig röter. „Ähm nein … oh äh … ich meine ja.“ Ich trat Veith aus Versehen ein zweites Mal auf den Fuß, dieses Mal sehr nachdrücklich. Dass er nicht vor Schmerz aufjaulte, lag wohl nur an seiner Selbstbeherrschung. Aber auch wenn seiner Hand wieder höher rutschte, verschwinden tat sie nicht. „Mit mir ist alles okay.“

„Dann würde ich vorschlagen, du erzählst jetzt mal“, kam es da von Opaja. „Aber von Anfang an.“

War sie es nicht gerade noch gewesen, die sich dagegen ausgesprochen hatte? Da verstand doch einer mal die Welt. „Okay.“ Ich ließ meinen Blick nacheinander über alle Beteiligten gleiten. Veith bekam einen ganz besonderen zugeworfen, der deutlich sagte: „Du spielst ein gefährliches Spiel, mein großer, böser Wolf.“ Und dann begann ich zu erzählen. Von dem Elfen, von seinem Tod und dessen Folgen. Ich erzählte, wie die Wächter zweimal bei mir aufgetaucht waren und was ich im Dschungelpark vorgefunden hatte. Jedes kleinste Detail beider Fälle kam über meine Lippen und während diese Worte, die meinen Mund verließen, war ich plötzlich sehr froh, Veith hinter mir zu haben und seine Berührung zu spüren. Sie waren tröstend und gaben mir einen gewissen Halt, auch wenn ich weiterhin nervös war und jeden Moment damit rechnete, dass jemand anklagend den Finger auf mich richtete, weil ich den Testiculus zu schmutzigen Dingen verführt hatte. Obwohl ja eigentlich er Schuld trug, ich war nur ein Mitläufer.

„Moment“, unterbrach Rojcan meine Erzählung mittendrin, als auch Veiths kraulende Hand einen Moment verharrte. „Soll das heißen, dass eine der Wölfinnen schwanger ist?“

„Ähm … ja.“ Ich schaute von einem zum anderen, die plötzlich alle sehr unfreundlich dreinschauten. „Junina. Sie ist eine Einzelgängerin, ich hab nicht gedacht, dass euch das interessiert.“ Mein Blick glitt zu Najat. „Sie gehört doch gar nicht zu euch.“

„Das mag sein“, stimmte er mir zu, „aber sie ist eine Lykanerin und noch dazu eine sehr verwirrte. Was soll aus dem Baby werden, wenn …“

„Saphir wird sich darum kümmern.“ Das hatte sie zwar nie gesagt, aber ich ging jetzt einfach mal davon aus. „Saphir ist die Mamá von Junina, die beiden streifen zusammen umher.“

Das sorgte für weitere nachdenkliche Blicke.

„Das gefällt mir nicht“, sagte Opaja. „Wer weiß, was der Hohe Rat uns daraus wieder für einen Strick drehen kann.“

„Oder Anwar“, kam es von Minestra.

Azat schüttelte den Kopf. „Wir sollten es ihnen nicht sagen, aber zumindest Obsessantia sollte es wissen.“

Opaja nickte. „Ich werde mich darum kümmern.“

In dem Moment, in dem sie sich in Bewegung setzte, ließ Veith blitzschnell seine Hand fallen und gab mir damit Gelegenheit, ein wenig durchzuatmen. Seine Berührungen, die waren einfach … Gänsehaut pur. Dann noch das Verbotene dazu und die Angst, jeden Moment erwischt zu werden. Mein großer, böser Wolf lebte gern gefährlich und irgendwo in ihm hatte sich ein keines Spielekind versteckt. Wer hätte das gedacht?

„Wir sollten uns auch langsam auf den Weg machen“, sagte Azat. „Das Verfahren geht gleich los.“

Xyla wandte ihm den Kopf zu. „Wer wird denn heute aussagen?“

„Ich“, kam es von Najat.

Oh Gott sei Dank. Wenn es ein Alpha gab, der das Ruder für die Lykaner rumreißen konnte, dann war es Najat. Mit seiner ruhigen Art, würde er innerhalb von Sekunden selbst den stärksten Gegner um den kleinen Finger gewickelt haben. „Und Anwar?“, fragte ich, „wann kommt er dran?“

„Das werden wir merken, wenn es so weit ist“, sagte Prisca. „Und jetzt kommt, sonst verpassen wir den Anfang.“

Cui knurrte. „Versuchst du uns gerade, Befehle zu geben?“

„Und wenn es so wäre?“

Oh oh. Die Luft hier wurde mir plötzlich ein wenig zu dick. Vorsichtshalber trat ich einen Schritt zurück, hatte dabei aber nicht bedacht, dass Veith ja noch halb hinter mir stand. Ich stolperte über seine Beine, rutschte weg und schlug nur nicht auf dem Boden auf, weil er mich am Arm packte und zurück auf die Füße stellte. Dabei sagte er kein Wort. Der Ausdruck in seinem Gesicht war kalt und abweisend und hätte ich nicht gewusst, dass das nur gespielt war, es hätte mich verletzt. Selbst so war es nicht sehr angenehm und zeigte mir deutlich auf, was wir beide hatten: Eine heimliche Beziehung, von der niemand wissen durfte, weil es sonst ernste Probleme nach sich ziehen konnte.

„´tschuldigung“, murmelte ich und trat ein Stück von ihm weg. Aber ein Gutes hatte meine kleine Aktion gehabt. Cui und Prisca hatten von ihrem Zwist abgelassen und machten sich nun mit einem Kopfschütteln über meine Tollpatschigkeit auf dem Weg zum Ratsgebäude.

Veith warf mir noch einen kurzen Blick zu und folgte seiner Alpha dann. Langsam löste sich die Versammlung auf und ich konnte endlich tief durchatmen.

„Was war das gewesen?“

Bei Djenans Stimme machte ich erschrocken einen Satz zur Seite. Verdammt, wo kam der den plötzlich her und wo hatte er sich die ganze Zeit herumgetrieben? „Musst du mich so erschrecken?“

„Erschrecken ist ein Zeichen von schlechtem Gewissen.“

„Oder davon, dass ein hinterlistiger Kater hier herumschleicht.“

Auch die anderen Leute auf dem Platz rund um das Ratsgebäude, machten sich langsam auf den Weg hinein. Wenn ich noch einen Platz bekommen wollte, sollte ich mich beeilen.

„Ich bin nicht geschlichen, ich stand die ganze Zeit da drüben und habe dich beobachtet.“ Er zeigte zu einer Säule, die das ausladende Dach über den Eingangsbereich stützte. „Also sag mir, was war das gerade gewesen?“

Er hatte mich die ganze Zeit beobachtet? Aber er konnte doch nicht viel gesehen haben, nicht wie ich stand, oder? „Keine Ahnung was du meinst.“

„Ich meine den Wolf, von dem du dich hast befummeln lassen, weswegen du kurz davor warst, einfach zu einer Pfütze aus Wachs zusammenzuschmelzen.“

Ob ich so rot war, wie ich mich fühlte? „Ich weiß nicht, was du gefrühstückt hast, aber gib mir auch etwas davon, diese Halluzinationen müssen der Wahnsinn sein.“ Genau, Angriff war die beste Verteidigung, nur nicht zugeben.

„Na wenn das so ist.“ Djenan streckte den Arm zur Seite und dann lag seine Hand auf meinem Hintern und fummelte da rum!

„Hey!“ Blitzschnell drehte ich mich um und legte meine Hände schützend auf meine Kehrseite. „Geht’s noch?“

Er hob nur leicht die Augenbraue, als wüsste er nicht, was ich meinte.

„Okay, verstanden.“ Ich seufzte schwer und konnte es einfach nicht fassen. Nicht mal einen Tag hatte ich es geheim halten können. „Sag es niemanden, okay?“

Djenan zog die Augenbrauen zusammen. „Du willst es geheim halten?“

„Es ist … kompliziert.“ Wie kompliziert würde ich ihm jetzt nicht sagen, das ging ihn nichts an. „Bitte.“

Er musterte mich einige lange Minuten, seufzte dann aber ergeben. „Ich hab nichts gesehen.“

„Danke.“ Ich drückte ihm einen Kuss auf die Wange und nahm dann seine Hand. „Komm, bevor alle Plätze weg sind.“

 

°°°

 

„Was haben Sie vorgefunden, als Sie am Gehege der Verlorenen Wölfe angekommen sind?“

„Das Opfer, Allean von Sternheim, war von den Wölfen umringt. Er war bereits tot, als wir am Tatort eingetroffen sind“, antwortete Recep und folgte Dandil mit den Augen, der vor ihm auf und ab ging.

Ja genau, Recep, der Wächter, der auch gleichzeitig der vampirische Gefährte von Djenans Nichte  Obaja war, saß heute als erstes auf dem Stuhl im Auditorium, um seine Aussage zu machen, nur wusste ich nicht, ob ich das als gut oder schlecht einstufen sollte. Recep verband nichts mit den Lykanern, gleichzeitig hatte er aber auch keine besondere Abneigung gegen die Wandler – jedenfalls nicht mehr, als gegen andere.

Man möge sich nur mal meine Überraschung vorstellen, die mich überkommen hatte, als ich nach meinem Eintritt in den Saal Recep auf dem Podest gesehen hatte. War das Zufall? Schicksal? Keine Ahnung, aber irgendwie gab es mir ein gutes Gefühl, den Mann da unten zu kennen. War auf jeden Fall besser, als irgendeinen Fremden vorgesetzt zu bekommen, den man nicht einschätzen konnte.

„Wie sah er aus? Was hatten die Verlorenen Wölfe mit ihm gemacht?“, wollte Dandil wissen.

„Es war kein schöner Anblick.“

Der Kitsune drehte sich zu Recep um. „Beschreiben Sie ihn uns trotzdem.“

„Der Junge war von den Wölfen zerfleischt worden. Sein Körper war übersäht mit Hämatomen und tiefen Wunden, er muss sich heftig gewehrt haben.“

„Und was genau hat den Tot herbeigeführt?“

„Atemnot.“

Dandil blinzelte einmal. „Bitte?“

„Einer der Wölfe muss ihm die Kehle zugedrückt haben. Es wurden Quetschungen und Schwellungen in diesem Bereich festgestellt. Der Junge wurde erstickt.“

Bei diesen Worten schlug mein Herz schneller. Ich wollte nicht hören, wie der Elf zu Tode gekommen war, was die Wölfe mit ihm gemacht haben. Es war schon grausam genug gewesen, in zu sehen, wie er dort blutend und mit leerem Blick im Unterholz gelegen hatte.

„Was ist nach dem Tod des Jungen passiert?“

„Die Wölfe haben versucht ihn zu fressen. Wir haben Spuren von Zähnen und Speichel am Leichnam gefunden und Teile des Muskelfleisches und der inneren Organe fehlten und waren nicht auffindbar.“

Oh Gott. Wie konnte er nur so kalt dasitzen und darüber berichten, als handelte es sich um einen langweiligen Sonntagsbesuch, bei ungeliebten Verwandten? Allein vom Zuhören wurde mir schon schlecht.

„Warum haben sie den Leichnam nicht gänzlich gefressen?“

„Die zweite Hüterin der Verlorenen Wölfe, Saphir vom Eissternrudel hat eingegriffen“, antwortete Recep mit ruhiger Gelassenheit.

Dandil runzelte die Stirn. „Eine zweite Hüterin?“

Saphir vom, Eissternrudel? Verdammt woher wusste er das? Das hatte sie nicht mal mir erzählt und wir waren sowas wie Kollegen.

„Warum weiß ich nichts von einer Zweiten Hüterin?“

Weil du vielleicht doch nicht so schlau bist, wie du gerne tust!

„Die zweite Hüterin ist eine Lykanerin, die sich ausschließlich im Gehege der Verlorenen Wölfe aufhält“, erklärte Recep, „und zusammen mit Talita Kleiber von München die geschädigten Lykaner betreut.“

Geschädigt, wie sich das anhörte. Als wäre bei ihnen irgendwas kaputt gegangen – gut, irgendwie entsprach das ja auch der Realität. Trotzdem mochte ich dieses Wort nicht im Zusammenhang mit meinen Wölfen.

„Und sie ist der Grund, warum der tote Köper von Allean von Sternheim nicht bis zur Unkenntlichkeit zerstört wurde“, erkannte Dandil.

„Genau.“

Der Kitsune ging ein paar Schritte auf und ab. Ich konnte sehen, wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehten, als er versuchte, aus dieser Neuigkeit seine Vorteile zu ziehen. „Nun gut.“ Er drehte sich wieder zu dem Vampir herum. „Was geschah im weiteren Verlauf?“

Die Beantwortung dieser Frage nahm einige Zeit in Anspruch. Recep rekonstruierte, wie man mich geholt hatte, um zu dem toten Jungen zu kommen, wie ich die Verlorenen Wölfe weggesperrt hatte und sie dann den Tatort untersucht hatten. Es war die Rede von Aussagen der Zeugen, der weiteren Entwicklung der Untersuchungen und der Obduktion des Leichnams. All dies, was ich heute Morgen bereits einmal an die Alphas der Lykaner weitergegeben hatte, wurde hier nun noch einmal von Recep aufgeführt. Dabei gab es wesentlich mehr Einzelheiten, als ich kannte. Vielleicht kam es mir aber auch nur so vor, weil Recep die ganze Zeit Fachchinesisch redete und ich nur die Hälfte von dem verstand, was seinen Mund verließ.

„Recep aus dem Zuchtdiwane, wenn Sie ihre Meinung abgeben würden, wie sehe die dann aus“, fragte Dandil, als Recep geendet hatte.

Der Vampir blinzelte einmal sehr langsam. „Ich habe dazu keine Meinung, ich halte mich an Fakten.“

Ich runzelte die Stirn. Was hatte dieser Fuchs nun schon wieder vor?

„Jedes Wesen hat eine eigene Meinung und ich bitte Sie nun um die ihre.“

Die Augenbrauen von Recep zogen sich leicht zusammen. „Meine persönliche Meinung ist, die Verlorenen Wölfe sind eine Gefahr, wenn man ihnen begegnet, aber dieser Todesfall ist nicht ihr Verschulden. Allean von Sternheim wusste aus seiner vorigeren Begegnung, um die Gefahr, die von diesen Tieren ausging und hat seinen Tod somit selber verschuldet. Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.“

Dandils Augen blitzen. „Sie nennen die Verlorenen Wölfe Tiere.“

„Ja.“

„Sie sind in ihren Augen also keine Mortatia.“

„Nein, in ihrem jetzigen Geisteszustand sind sie nur eine niedere Spezies.“

Niedere Spezies? Oh du mieser, kleiner … am liebsten würde ich ihm für diesen Satz den Hals umdrehen. An meinen Wölfen war nichts niedrig!

Schwungvoll drehte sich Dandil zum Hohen Rat herum. „Lykaner, die den Verstand verloren haben, das und nichts anderes, sind die Verlorenen Wölfe. Ja, es war ein Zauber, der sie zu dem hat werden lassen, was sie heute sind, aber wer sagt uns denn, dass die restlichen Lykaner nicht auch mutieren, oder besser gesagt, sich zurückentwickeln werden und wir dann dieser Gefahr ohne schützendes Schild gegenüberstehen?“ Er verschränkte die Arme auf dem Rücken – während ich innerlich zu kochen begann – und nahm seinen ersten Lauf des Tages um das Podest in Angriff. „Leider war der Tod von Allean von Sternheim kein Einzelfall. Erst vor zwei Tagen hat sich diese Tragödie auf noch abscheulichere Weise wiederholt. Recep aus dem Zuchtdiwane, würden Sie uns bitte erläutern, was genau sich an diesem Tag im Gehege der Verlorenen Wölfe zugetragen hat?“

Man würde Dandil jetzt blöd aus der Wäsche gucken, wenn Recep mit Nein antworten würde.

Leider nickte der Vampir aber. „Ungefähr eine Stunde vor Mitternacht wurden wir alarmiert, dass aus dem Dschungelpark Schreie zu hören seien. Als wir dort ankamen, lebte das Opfer, die Harpyie Noora vom Hochland noch. Doch da sie sich im Inneren des Schildes befand, der den ganzen Park umschießt, konnten wir nicht zu ihr gelangen und eingreifen.“

„Was haben Sie stattdessen getan?“

„Ein paar der Wächter haben versucht, die Verlorenen Wölfe durch Rufe und später auch durch das Werfen von Steinen von ihrem Opfer abzulenken und die meisten Wölfe haben sich auch zurückgezogen, doch einige wenige haben nicht von dem Opfer abgelassen.“

Ja, das konnte ich mir vorstellen. Grey würde seine Beute niemals hergeben, wenn er sie einmal zwischen den Zähnen hatte.

„Talita Kleiber von München war nicht vor Ort?“, fragte Dandil.

„Nein, die befand sich zu diesem Zeitpunkt in ihrer Wohnung, wo ich sie kurze Zeit später aufgesucht habe.“

„So so, sie war also nicht da.“ Er kam vor Recep zum Stehen und da war wieder dieses Funkeln in seinen Augen, dass auf nichts Gutes schließen ließ. „Und wo war die zweite Hüterin? Warum ist sie nicht eingeschritten, um diese Tötung zu verhindern?“

Ich wusste doch, dass mir nicht gefallen würde, was er zu sagen hatte.

„Sie versuchte, die verscheuchten Wölfe fernzuhalten, doch sie war in der Unterzahl und konnte daher nur wenig ausrichten.“

„Das heißt, dass die Hüter dieser Wölfe nicht imstande sind, ihre Schützlinge zur Räson zu bringen und damit völlig ungeeignet für diesen Posten sind.“

Ich wollte schon den Mund öffnen, um zu protestieren, da drückte Djenan schmerzhaft meinen Arm und schüttelte den Kopf. Ich sollte nichts sagen? Hatte der einen an der Waffel?

„Die ausgewählten Hüterinnen der Lykaner sind dieser Aufgabe nicht gewachsen. Sie konnten die Todesfälle trotz der Sicherheitsmaßnahmen nicht verhindern, ja nicht mal das Beisein einer von ihnen, konnte es abwenden.“ Dandil drehte sich herum, um zum Hohen Rat aufsehen zu können. „Ich gehe sogar so weit zu behauptet, dass es niemand gibt, der die Wölfe soweit kontrollieren kann, dass von ihnen keine Gefahr mehr für die Bevölkerung ausgeht. Unser geehrter Wesensmeister und Parlamentär Anwar von Sternheim hat dieses Problem bereits erkannt und umgehend Gegenmaßnahmen ergriffen, die jedoch von Talita Kleiber von München abgeschmettert wurden, aber dazu später mehr.“

Oh, dieser kleine, verlogene Bastard!

„Wächter Recep, würden Sie bitte fortfahren? Was ist weitergeschehen.“

Und damit begann der wirklich unappetitliche Teil. Recep berichtete in allen Einzelheiten, wie sie die Harpyie vorgefunden hatten, wie ich dazugekommen war, um mit Saphirs Hilfe die Verlorenen Wölfe wegzusperren und wie sie die Einzelteile von Noora vom Hochland eingesammelt und verpackt hatten. Wieder wurden die Berichte der Zeugen aufgeführt, der Zustand, der Verlauf. Über eine Stunde redete Recep mit nur wenigen Unterbrechungen von Dandil, wenn der Fragen einwarf und erzählte damit wirklich alles. Von der toten Harpyie, von Lokos, dem vergifteten Fleisch, dem Tötungsbefehl von Anwar – den er völlig eigenmächtig und ohne Erlaubnis des Hohen Rats ausgestellt hatte –, meiner Weigerung die Wächter mit den Pfeilen einzulassen und meiner Macht über das Schild. Tja, Anwar von Sternheim hatte mit diesem Schild so gute Arbeit abgeliefert, dass nicht einmal er selber ohne meine Hilfe hindurch kommen konnte, was natürlich wieder eine Frage aufwarf.

„Wie glauben Sie, sind Allean von Sternheim und Noora vom Hochland durch den Schild gekommen?“, wollte Dandil von dem Wächter wissen.

„Das ist eine Frage, mit der sich bereits Experten beschäftigt haben, sowohl von den Wächtern, als auch vom Hohen Rat. Es wurden keine Fehler gefunden, das Schild funktioniert einwandfrei. Ohne das es zerstört wird, ist es unmöglich, hindurch zu gelangen.“

„Und doch ist es passiert.“

Da es keine Frage war, reagierte Recep nicht darauf.

„Das Schild ist undurchdringbar“, wandte der Kitsune sich mit lauter Stimme an den Rat, „nur einem Wesen ist es möglich ihn zu durchschreiten, was folgende Frage aufwirft: Hat Talita Kleiber von München etwas mit den beiden Tötungen zu tun? Wie sonst sollte es den Opfern gelungen sein, ohne ihre Hilfe durch eine magische Barriere zu kommen, die von mehreren hochrangigen Experten für untadelig erklärt wurde?“

Unter den Lykanern wurde an ein paar Stellen geflüstert und ich spürte plötzlich mehr als einen Blick auf mir. Glaubten sie ihm etwas die Andeutung, dass ich etwas mit den Todesfällen zu tun hatte? Diese miese Ratte da vorn hatte das so geplant, er wollte Zweifel und Zwiespalt sähen, um uns auseinander zu treiben um so eine bessere Angriffsfläche zu haben. Wenn wir einander nicht mehr vertrauen konnten, würden Unruhen entstehen und die Lykaner waren durch die ganze Situation bereits so angespannt, dass ein kleiner Funke genügen konnte, um das ganze Fass hochgehen zu lassen.

„Zwei Wesen sind tot“, referierte Dandil weiter. „Zwei Bürger dieser Stadt wurden zerrissen, von ein paar Wesen, die sich als Mortatia ausgeben und doch nur das Herz eines Tieres haben.“

Zwei? Hatte er da nicht vielleicht noch jemand vergessen?

„Um diese Tatsache weiter ausführen zu können, möchte ich Wächter Recep aus dem Zuchtdiwane entlassen und stattdessen Griella vom Hochland aufrufen, die nicht nur die Schwester eines der Opfer war, sondern auch noch der Gruppe der Antagonisten angehört, die den Ruf der Mehrheit der Stadt Sternheim öffentlich macht.“

Antagonisten? Hieß das nicht so viel wie Gegner? Wollte der jetzt wirklich einen von den Protestanten aufrufen, die die ganze Zeit schon eine Hetzkampagne gegen die Lykaner anführten? Das konnte doch nicht sein Ernst sein! Langsam wurde ich wirklich wütend. Ich musste mich echt am Riemen reißen, um nicht von meinem Platz aufzuspringen und diesem Widerling da unten meine Meinung zu geigen.

„Wächter Recep aus dem Zuchtdiwane ist entlassen“, rief der Minotaurus des Hohen Rats, „und Griella vom Hochland soll vortreten.“

Still vor mich hin köchelnd beobachtete ich, wie Recep das Podest verließ und seinen Platz für eine braune Harpyie frei machte, deren Federkleid mich an einen Adler erinnerte – genau wie ihre Nase. Mit dem Lederharnisch und den kurzen Short erinnerte sie mich ein wenig an die Harpyien aus dem weltberühmten Onlinegame WoW. Bis zu den Knien hatte sie ganz normale Beine, erst die Unterschenkel und Krallenfüße waren die Gliedmaßen eines Vogels. Die Flügel wuchsen aus den Armen, die Hände waren rasiermesserscharfe Klauen und auf dem Kopf hatte sie statt Haare Federn – ein Kamm, wie bei einem Vogel. Doch der Hammer waren die Schwanzfedern über dem Hintern, die sie erst neu anordnen musste, damit sie sich setzten konnte.

Sie wirkte würdevoll und gefasst, so ganz anders, als man es bei einer Frau erwarten würde, die gerade ihre Schwester verloren hatte, mit der sie bis vor kurzen zusammen noch anderen das Leben schwer gemacht hatte.

„Nennen sie uns ihren Namen.“

„Griella vom Hochland.“

Dandil nickte. „Sie wissen, dass sie hier die Wahrheit sagen müssen, da es ansonsten eine Strafe nach sich ziehen kann?“

„Natürlich weiß ich das. Im Gegensatz zu anderen Wesen kenne ich die Gesetze und weiß, was Recht und Unrecht ist.“

Das hatte sie jetzt nicht gesagt.

Djenan griff mein Bein ein wenig fester und flüsterte: „Bleib ruhig.“

Wenn das nur so einfach wäre.

Dandil begann eine weitere Wanderung um das Podest herum. „Griella, standen sie ihrer Schwester nahe?“

„Sehr nahe.“

„Dann muss sie dieses Unglück schwer getroffen haben.“

„Ich habe am Berg der Ewigkeit gestanden und für sie geschrien.“

Was? Sollte ich das jetzt verstehen?

„Griella, Ihre Schwester ist ja nun eine von zwei Toten und hat …“

Okay, das reichte jetzt, ich konnte mich einfach nicht mehr länger zurückhalten. „Warum redet ihr die ganze Zeit nur von zwei Toten?“, schrie ich durch das Auditorium und sicherte mir damit sofort von allen Seiten die Aufmerksamkeit. „Es sind drei! Einer meiner Wölfe ist von der Harpyie vergiftet worden, falls Sie das vergessen haben sollten, aber das scheint in diesem Saal niemanden zu interessieren!“

Dandil richtete sich kerzengerade auf und zog ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. „Frau von München, Bitte setzten Sie sich …“

„Ihr redet von den Lykanern, als wären sie weniger wert als ihr, warum? Keinen scheint es zu interessieren, das auch Lokos eine Gefährtin hatte, die nun um ihn trauert …“

„Frau von München!“

„… oder das diese Gefährtin trächtig ist und kurz vor der Niederkunft steht! Und dass sie wegen ihres Verlustes nur noch vor sich hinvegetiert. Im Gegensatz zu dem Elfenjungen, den ich bereits einmal verscheucht hatte, oder der Harpyie, die in ein gesperrtes Gebiet eingedrungen ist, um meine Wölfe zu vergiften, verstehen meine Wölfe nicht, was passiert! Warum zählt das Leben meiner Wölfe weniger, als das jedes anderen Wesens in diesem Saal, oder dort draußen? Sie sind auch Mortatia!“

Für einen Moment sah es fast so aus, als würde Dandil die Beherrschung verlieren. „Talita Kleiber von München. Bitte verlassen Sie das Auditorium, Sie sind von der Anhörung aus…“

„Sie können mich nicht ausschließen, weil ich schon allein gehe!“ Ich erhob mich und marschierte unter den Augen der Anwesenden die Reihe entlang. Dabei ignorierte ich sowohl die Tatsache, dass ich aus Versehen Djenan trat, als auch die, dass er mir hinterher lief. Ich musste hier einfach nur schnell raus, bevor ich vollends in die Luft ging. „Eingebildeter Schnösel“, wetterte ich leise und zauberte denen, an den ich vorbei ging, mit meinen gemurmelten Worten ein Schmunzeln auf die Lippen. „Hält sich für was Besseres und glaubt sich alles rausnehmen zu können.“ An der großen Saaltür wirbelte ich noch einmal zu dem Kitsune herum. „Ich würde nur zu gerne mal sehen, wie man versucht, ihre Rasse aus dem Codex zu entfernen, dann wären Sie sicher nicht mehr so überheblich!“

Rums, ich zog die Tür sehr nachdrücklich hinter mir zu und lief aufgebracht durch die Eingangshalle, ignorierte dabei völlig die Tatsache, dass Djenan die Tür nun ein weiteres Mal öffnen musste, um mir hinterher zu kommen.

Dieses überhebliche, arrogante, unwürdige, missratene …

„Talita.“

… dreiste, niederträchtige, boshafte, charakterlose, beschissene …

„Talita“, rief Djenan nun schon nachdrücklicher, als ich fast das Eingangsportal erreicht hatte.

… abartige, feige, verschlagende …

„Talita!“

„Was?!“ … Schwein!

Er stellte sich mir in den Weg und hielt mich so sehr wirksam auf. „Glaubst du wirklich, dass deine Szene darin etwas gebracht hat? Das war dumm von dir!“

Dumm? Hatte er mich gerade dumm genannt? Das war wie ein Schlag unter die Gürtellinie. „Wie kannst du das sagen? Hast du nicht mitbekommen, was da drinnen gerade los war? Sie haben so getan, als wäre Lokos Tod ohne Bedeutung, so als wäre er völlig wertlos!“

„Ja, aber spätestens Najat hätte ihm Bedeutung gegeben, nun denken dort drinnen alle, dass du nichts als ein kleines Mädchen bist, das sich nicht zusammenreißen kann und einen Wutanfall bekommt, wenn es nicht seinen Willen krieg. Ist es das, was du willst?“ Der eindringliche und tadelnde Blick von meinem Mentor ließ mich beschämt den Kopf senken, auch wenn er meine Wut damit nicht besänftigen konnte.

„Ich hab nichts falsch gemacht, das musste einmal gesagt werden.“

„Aber nicht so. Dandil hat dich bereits als unreif bezeichnet, als unfähig, die Verlorenen Wölfe zu hüten und mit deinem kleinen Ausbruch hast du ihm genau in die Hand gespielt. Was glaubst du, was der Hohe Rat nun von dir hält, hm?“

„Er ist ganz entzückt von ihren Worten.“

Bei der melodischen Stimme hinter mir, drehten wir uns beide herum. Obsessantia schritt auf uns zu. Ein zufriedenes Lächeln spielte um ihre Lippen und die offene Robe wehte hinter ihr her, als sie auf uns zugeschritten kam. Wieder fiel mir auf, wie jung sie war, jünger noch als ich, wenn ich das richtig einschätzte. Wie hatte eine solche Frau es geschafft, in den Hohen Rat zu gelangen?

Sie kam bei uns an, musterte Djenan mit einem kurzen Seitenblick und richtete ihre volle Aufmerksamkeit dann auf mich. „Talita, richtig?“

Eins wurde mir sofort bewusst, ich stand hier einem Alpha gegenüber, einem sehr mächtigen Alpha. Diese Aura war einfach nicht zu verkennen. „Ähm … ja.“

„Warum plötzlich so schüchtern? Eben ging es doch auch anders.“

Ich versteh dich nicht. In dem einen Moment fällst du fast wie eine aggressive Wölfin über mich her und im nächsten verwandelst du dich in ein kleines, schüchternes Kätzchen. Als ich mich an Veith Worte erinnerte, konnte ich das Zucken meines Mundwinkels nicht verhindern.

„So ist schon besser.“

Seufz. „Tut mir leid, wegen der Szene die ich da drin gemacht habe, aber ich konnte mir das Geschwafel einfach nicht länger anhören. Der Kerl ist so … grrr!“ Ich machte mit den Händen eine würgende Bewegung, bevor mir wieder klar wurde, mit wem ich mir hier eigentlich unterhielt – peinlich. Verlegen versteckte ich meine Hände hinter dem Rücken, als könnte ich es damit ungeschehen machen.

Obsessantia neigte ihren Kopf interessiert zur Seite. „Du hältst große Stücke auf die Lykaner, obwohl sie nicht immer … umgänglich waren.“

Umgänglich? Auch eine nette Art auszudrücken, dass bereits zwei von ihnen mich hatten ernstlich verspeisen wollen. „Ich mag sie eben“, sagte ich schulterzuckend, „und weiß auch, dass sie manchmal ein wenig anders ticken.“

„Ja, so könnte man es auch ausdrücken. Schade nur, dass es nicht mehr von deiner Sorte gibt“, sagte sie leicht betrübt.

Ach ja, die Verhandlung. „Solltest du nicht eigentlich da drinnen sitzen?“

Sie winkte ab. „Keine Panik, was diese Harpyie von sich gibt, kann uns nicht gefährlich werden. Einige Punkte die Dandil gegen die Lykaner aufbringen kann, mögen stimmen, aber diese Frau da drinnen ist nichts weiter als eine Fanatikerin, die alles sagen würde, um ihr Ziel zu erreichen. Und das weiß der Hohe Rat.“

Das konnte ich nur hoffen. „Aber warum darf sie dann aussagen, wenn ihre Ansicht bedeutungslos ist?“

„Sie ist die Schwester der Toten, sie hat drauf bestanden, hier zu sitzen.“

Das konnte ich mir vorstellen. Ich verstand sie ja auch. Mir tat der Tod ihrer Schwester nach wie vor nicht sehr leid, sie hatte ihn selber verschuldet, aber es war ein vergeudetest Leben, unnütz weggeworfen, für ein Ziel, das Leben zerstören sollte. „Ich verstehe diese Leute einfach nicht. Was haben sie davon, wenn die ihre Parolen brüllen und anklagend mit dem Finger auf die Lykaner zeigen?“

Obsessantia sah zu mir hoch. Sie war ein Stück kleiner als ich, reichte mir gerade mal bis zum Kinn. „Die Welt lässt sich leider nicht in Gut und Böse aufteilen. Es wird immer Wesen geben, die anderen etwas Schlechtes wollen, weil sie sich im Recht sehen. Aus ihrer Sicht tun sie das Richtige, wollen andere schützen. Ihnen ist gar nicht klar, was sie mit ihrem Tun für Leid bringen können.“

„Dann sollten sie vielleicht mal ein bissen besser nachdenken.“

Das ließ sie den Kopf schütteln. „Würdest du noch so reden, wenn du die Tänzerin wärst, die nie wieder tanzen kann? Oder wenn du deine Schwester wegen uns verloren hast?“

„Nein ich … nimmst du sie jetzt in Schutz? Ich dachte …“

„Ich nehme sie nicht in Schutz, ich verstehe sie nur.“

Ja, das konnte ich nachfühlen, mir ging es auch nicht anders.

„Und jetzt komm, ich möchte Griella vom Hochland auch noch ein paar Fragen stellen, da ich mich sicher bin, dass Dandil natürlich nur ganz aus Versehen ein paar entscheidende Punkte bei ihrer Befragung ausgelassen wird.“

Das würde ich ihm glatt zutrauen. „Dandil ist mit Anwar befreundet.“

„Ja und genau das ist das Problem. Wir Lykaner bedeuten Dandil nichts, es interessiert ihn nicht, was mit uns widerfährt. Er tut Anwar einfach einen Gefallen.“

„Wie konnte der Hohe Rat zulassen, dass so jemand die Befragungen durchführt?“

„Dandil ist sehr schlau und weiß immer die richtigen Fragen zu stellen. Es war keine Wahl die wir getroffen haben, es ist sein Posten. Aber jetzt lass uns wieder reingehen.“

„Reingehen? Aber ich wurde doch rausgeworfen.“

„Glaubst du nicht, dass meine Stellung reicht, um dich wieder ins Auditorium zu holen?“

„Doch ich …“ Verdammt, was stotterst du hier schon wieder herum? „Tut mir leid.“ Und wofür entschuldigst du dich jetzt?

Seufz.

„Dann lass uns gehen.“ Sie wartete, bis ich an ihrer Seite war und ging dann los. Djenan, der sich während des Gesprächs, ausnehmend ruhig verhalten hatte, folgte uns.

Obsessantia hatte bereits die Klinke der Tür zum Auditorium in der Hand, da drehte sie sich noch einmal zu mir herum. „Bevor wir reingehen, möchte ich dir noch einmal danken, dass du uns so vehement verteidigst und hoffe, dass deine Worte auch andere beeinflussen können. Vielleicht glaubst du es nicht, aber du bist ein Segen für die Lykaner, ohne dich hätten wir es noch schwerer. Du bist eine Stimme außerhalb der Rudel und das verleiht deinen Worten sehr viel Gewicht.“ Sie blitzte mich belustigt an. „Auch wenn es manchmal angebracht wäre, sie erst später zu sprechen.“

Die Worte ließen mich vor Verlegenheit nicht nur rot anlaufen, sondern verwandelten mich glatt in eine Tomate. Das ging leider auch nicht weg, als wir in den Anhörungsaal traten und ich mit Djenan an meiner Seite zurück auf meinen Platz schlich.

Veith, der mir schräg gegenüber saß, sah mich mit einem undurchdringlichen Blick an. Was er wohl dachte? Fand er meine Reaktion korrekt, oder überzogen? Verdammt, ich sollte mich nicht dafür schämen, was ich getan hatte, aber Djenans Tadel hing mir immer noch nach.

Obsessantia setzte sich erst gar nicht wieder auf ihren Platz zurück, sie blieb gleich unten und gesellte sich an Dandils Seite, was diesen für einen Augenblick zu irritieren schien – leicht zu merken, an der kurzen Unterbrechung in seinen Worten.

„Sie sind Mörder!“, antwortete Griella vom Hochland auf seine Frage und plusterte den Federkamm auf ihrem Kopf auf. „Sie haben meine Schwester getötet und auch über eine Vielzahl anderer Wesen Leid und Kummer gebracht. Die Lykaner sind nichts weiter als wilde Tiere und genauso sollten wir sie auch behandeln!“

„Das ist keine sehr faktische Antwort“, sagte Obsessantia und wandte sich dann Dandil zu. „Du erlaubst doch sicher, oder?“

Dem verkniffenen Zug um den Mund zufolge nicht wirklich, trotzdem deutete er mit einer Geste, dass ihr das Feld gehörte.

„Danke.“

Also, dass diese Höflichkeit dort unten nur gespielt war, erkannte wohl nicht nur ich.

Obsessantia stellte sich vor das Podest, stemmte die Arme in die Hüften und schaute zu der Harpyie hoch. „Du weißt sicher wer ich bin?“ Diese Feststellung ließ sie als Frage ausklingen.

„Obsessantia von den Rajawölfen“, spie Griella ihr entgegen.

„Na, dann muss ich mich ja nicht mehr vorstellen.“

Hinter mir wurde unterdrückt gekichert. Ein leises Klatschen folgte, gefolgt von einem unterdrückten „Au.“ Da hatte der Kicherer – gab es dieses Wort überhaupt? – für sein Verhalten eine Schelte bekommen.

„Griella vom Hochland, du bist die Schwester des einen Opfers.“

„Das habe ich bereits gesagt.“

Obsessantia neigte den Kopf auf eine sehr hündische Art, was jedoch den Wolf in ihr zeigte. „Kann es sein, dass du deswegen so ein Hass auf die Lykaner hegst?“

„Natürlich, ihr habt sie umgebracht, ihr Mörder!“

Aus den Reihen des Hohen Rats, erhob sich eine Mann, der ein drittes Auge auf der Stirn hatte – das sah voll eklig aus. „Ich wünsche etwas mehr Respekt, Sie reden hier immerhin mit einem Mitglied des Hohen Rats!“

Die Stimme, die das sagte, kam nicht aus seinem Mund, sie … erklang in meinem Kopf! Das war echt gruselig.

Die Harpyie kniff zwar die Lippen zusammen, sah aber nicht sehr einsichtig aus.

„Und wie kommt es dann, dass du bereits vorher gegen mein Volk gehetzt hast, wenn dein Hass erst mit dem Tod deiner Schwester ausgebrochen ist?“, fragte Obsessantia als hätte es diese kleine Unterbrechung von dem seltsamen Mann nie gegeben. Der war, nur so nebenbei, bereits wieder in der Menge des Hohen Rats untergetaucht.

„Ich habe genug fürchterliche Dinge über die Lykaner gehört, um mir ein Bild von ihnen machen zu können.“

„Mundpropaganda.“ Obsessantia nickte verstehend. „Solche Gerüchte gibt es auch über die Harpyien, laufe ich deswegen durch die Stadt und verdamme sie alle?“

„Das ist etwas anderes.“

„Warum?“

Dazu schwieg Griella. Klar, wenn ich die Antwort auf eine Frage nicht hatte, oder mir sicher war, dass sie nicht gut ankommen würde, hielt ich auch lieber den Mund, bevor ich mich um Kopf und Kragen redete und mich vielleicht noch blamierte.

Obsessantia ließ die Arme fallen und drehte sich zum Publikum um, sah allen in die Augen. Den Zuschauern, den Parlamentären und dem Hohen Rat. „In jeder Spezies gibt es Gerüchte und Anschuldigungen, die sie als etwas darstellen, was in Gruselgeschichten gehört, Monster, die unglaubliches verrichten und dabei eine Spur aus Kummer und Leid hinter sich herziehen. Vieles davon ist erlogen, manches enthält ein Körnchen Wahrheit, doch alles ist ausgeschmückt. Es gibt keine Spezies auf diesem Planeten, die fehlerfrei ist, keine! Und doch soll nun ein ganzes Volk darunter leiden, weil es ein bisschen anders ist als ihr, ein bisschen mehr anders als andere. Warum?, frage ich. Warum haben wir in euren Augen plötzlich einen niedrigeren Stellenwert, als all die anderen Wesen? Weil es Tote gab? Die gibt es in jedem Volk, genau wie auch jedes Volk Verbrecher hervorbringt, denn niemand ist unfehlbar.“

Sie drehte sich zu Griella um und fixierte sie. „Wie ich eben bereits zu Talita Kleiber von München gesagt habe, die Welt besteht nicht aus schwarz und weiß, sie erstrahlt auch in vielen Graufacetten. Was dem einen falsch erscheinen mag, ist für den anderen genau das richtige. Ich verurteile dich nicht für deine Ansichten, jedes Wesen hat ein Recht auf eine eigene Meinung, doch man sollte immer bedenken, was das eigene Handeln für Folgen hat und danach agieren.“

„Ich soll bedenken, was mein Handeln für Folgen hat?“, keifte die Harpyie aufgebracht. „Diese Wölfe, diese durchgeknallten Viecher haben meine Schwester umgebracht!“

„Warum?“

Die Harpyie zog verwirrt die Stirn in Falten. „Wie warum? Weil sie nicht mehr ganz richtig im Kopf sind, darum!“

„Genau das ist der Kernpunkt.“

„Was?“

„Die Wölfe von denen du hier sprichst, sie sind, wie hast du es so schön ausgedrückt? Durchgeknallt. Durch einen Zauber, fehlt ihnen ein Teil von sich selber und sie agieren dadurch nur noch rein nach Instinkt. Die Verlorenen Wölfe sind kein Maßstab für die Lykaner, es sind gerade mal zwei Dutzend, die anders sind als das übrige Volk, das tausende beherbergt und wenn sie nur genug Zeit haben, dann werden sie wieder zu sich selbst finden, so wie es bereits einigen gelungen ist.“

Die Augen der Harpyie verengten sich zu Schlitzen und gaben ihr etwas von einem Raubvogel. „Das mag stimmen, aber auch die übrigen Lykaner sind gefährlich. Man nehme nur diese weiße Wölfin, die im Gehege der Verlorenen Wölfe haust, diese zweite Hüterin. Die ist geistig völlig bei Verstand und hat trotzdem nicht eingegriffen, als diese Biester über meine Schwester hergefallen sind.“

„Ja, das hat seinen Grund und der wurde uns bereit von dem Wächter Recep aus dem Zuchtdiwan genannt.“ Sie neigte den Kopf zur anderen Seite, als bekäme sie so einen besseren Sichtwinkel auf die Harpyie. „Aber wo wir schon einmal dabei sind, hätte ich noch eine weitere Frage. Wie konnte deine Schwester eigentlich in das Gehege der Verlorenen Wölfe vordringen? Wie hat sie den Schild passiert?“

„Das weiß ich nicht“, sagte sie ohne zu zögern.

„Und da bist du dir ganz sicher?“

„Natürlich bin ich das. Sie hat mir nichts gesagt. Bis die Wächter vor meiner Tür standen, hab ich nicht mal gewusst, was los war.“

„Also eine Unwissende.“ Sie nickte. „Das führt uns zur nächsten Frage. Was hatte deine Schwester eigentlich im Gehege der Verlorenen Wölfe zu suchen?“

Griella machte den Mund auf, nur um ihn gleich darauf wieder zu verschließen.

„Ich weiß was sie da wollte“, sagte Obsessantia leise. „Die Beweise sind gesichert worden. Sie war dort, um die Verlorenen Wölfe zu vergiften, sie wollte töten, mit Vorsatz unschuldige Leben nehmen und nun sag mir, Griella vom Hochland, was macht sie zu einem besseren Mortatia als all die anderen? Warum schimpfst du sie nicht Mörderin, obwohl sie genau das ist.“

„Sie ist keine Mörderin!“, brauste die Harpyie auf. „Sie hat nichts …“

„Sie hat einen Wolf getötet, einen Lykaner in der Heilung. Noora vom Hochland ist genau das, was ich gesagt habe, eine Mörderin. Sie hatte beabsichtigt, mit List und Tücke zu töten, wollte Wesen das Leben nehmen, die sich nicht gegen sie wehren konnten, die geistig zurzeit nicht in der Lage sind, zwischen Falsch und Richtig zu entscheiden, doch bevor sie ihren perfiden Plan hatte in die Tat umsetzen können, hat das Blatt sich gewendet und …“

„Nein, das ist alles nicht wahr!“ Griella sprang von ihrem Stuhl auf, sodass er nach hinten kippte. „Sie drehen mir das Wort im Munde um!“

„Doch, ist es. Es ist die volle Wahrheit.“

„Seien sie still!“ Das letzte Wort kreischte sie hysterisch, dass ich mir – und so gut wie jeder andere in diesem Saal – die Ohren zuhalten musste, um zu verhindern, dass mein Trommelfell platzte. Nur Obsessantia, die blieb völlig ruhig und entspannt.

„Siehst du, dass ist es was du und seine Schwester getan habt“, kam es von Obsessantia ganz ruhig. „Gerüchte, Verleumdung, doch der Unterschied zwischen uns beiden ist einfach, dass ich für meine Anschuldigungen noch Beweise habe.“

Die Hände an den Seiten der Harpyie, ballten sich zu Fäusten. Sie stand kurz davor, auf irgendetwas einzuschlagen.

Obsessantia seufzte. „Ich verstehe dich und deine Wut sehr wohl, auch wenn du das nicht glauben magst, doch egal, was dir widerfahren sein mag, es gibt dir noch lange kein Recht dazu, ein ganzes Volk ins Unglück zu stürzen und Frauen, Kinder und Männer, ganze Familien zu verdammen.“ Mit einem Satz sprang sie neben die Harpyie auf das Podest, dass die gelbe Robe nur so flog und die Vogelfrau einen Schritt erschrocken vor ihr zurückwich. „Nichts von dem, was du gesagt hast, konnten wir nicht auch schon vor der Sitzung aus deinem Mund hören, da du es draußen lautstark rungerufen hast. Wir sind hier, um Fakten für oder gegen mein Volk zu sammeln.“ Sie drehte sich herum und nahm einen großen Magier, mit braunem Haar in der dritten Reihe in Augenschein. „Anwar, unser allseits geschätzter Wesensmeister der Stadt Sternheim und hochrangiger Parlamentär, ich weiß dass du eigentlich erst am letzten Verfahrenstag sprechen wolltest, doch ich glaube es ist an der Zeit, dass du auch mal etwas sagst und du uns mit deinen Ansichten amüsierst, schließlich bist du es doch, der mich und mein Volk verdammt, findest du nicht auch Dandil?“

Der Fuchs, einen Moment überrumpelt von Obsessantias plötzlicher Anrede, brauchte eine Sekunde, um zu kapieren, dass er gemeint war. „Ja, naja ich denke, ja.“

Na wenn das mal keine klare Aussage war.

 

°°°

 

Als Anwar den Platz auf dem Podest einnahm, wurden die Lykaner deutlich unruhiger. Vereinzelt wurde geknurrt und flüsternde Worte gezischt. Tja, schien fast so, als würde Anwar unter den Anwesenden keinen Beliebtheitspreis gewinnen. 

Der Magier wirkte kühl und gelassen, aalglatt, als er sich auf den Stuhl setzte – so wie immer. Sein wahres Gesicht verbarg er hinter einer Maske, bei der es nur wenige vermochten, sie ihm vom Gesicht zu reißen. Er beachtete die Lykaner gar nicht, war nur auf Dandil und den Hohen Rat fixiert. Sie galt es zu überzeugen, der Rest interessierte ihn nicht.

Im gemächlichen Schritt trat Dandil auf Anwar zu und verschränkte in einer bereits vertrauten Geste die Hände auf dem Rücken, bevor er sich auf das Wesentliche konzentrierte und das Drumherum ein wenig beiseite ließ. „Nennen Sie uns bitte Ihren Namen.“

„Anwar von Sternheim, Parlamentär des Hohen Rats und Wesensmeister der Stadt Sternheim.“

Mein Gott, der wollte deinen Namen und nicht deinen Lebenslauf!

„Ihnen ist bekannt, dass Sie hier die Wahrheit sagen müssen, da eine Falschaussage eine Strafe nach sich ziehen kann?“

„Dieser Umstand ist mir durchaus bekannt.“

„Nun gut.“ Im Gegensatz zu den anderen Zeugen, war Dandil bei Anwar nicht so unhöflich und fing an ihn zu umkreisen. Er blieb genau vor dem Magier stehen. „Herr von Sternheim, aufgrund des von ihnen eingereichten Antrags auf Ausschluss der Lykaner aus dem Codex, sind wir hier zusammengekommen und beraten in dieser doch sehr ernsten Angelegenheit. Als erstes möchte ich von Ihnen wissen, was Sie dazu veranlasst hat, diesen doch sehr rabiaten Pfad einzuschlagen.“

Anwar lehnte sich ein wenig vor und verschränkte die Hände auf dem Tisch. „Um das erklären zu können, muss ich ein wenig weiter ausholen.“

„Nur zu, unsere Aufmerksamkeit gehört Ihnen.“

Ich beugte mich auch ein wenig vor. Anwars Beweggründe interessierten mich doch sehr, weil, kein Wesen entwickelte einen solchen Hass auf ein anderes, wenn er dafür keinen triftigen Grund vorzuweisen hatte. Ich war gespannt.

Für einen Moment senkte Anwar den Blick auf seine Hände, als müsste er sich für das Kommende sammeln – so ein Schauspieler – erst dann sprach er. „Als junger Mann habe ich mich für den Weg der Gesetzeshüter entschieden und wurde zu einem ehrenhaften Mitglied der Wächter von Sternheim. Ich hatte den Traum davon, Recht und Ordnung zu vertreten und den Frieden zwischen den Wesen zu sichern.“

„Ein achtbarer Traum“, warf Dandil ein.

Oh, dieser Fuchs war voll der Schleimer!

„Ja.“ Anwar nickte. „Nur leider blieb es bei einem Traum. In einer so großen Stadt wie dieser gibt es sehr viele Probleme. Häusliche Gewalt, Raub, sexuelle Nötigung, Körperverletzung und Brandstiftung, um nur mal ein paar zu nennen. Unter anderem wurde ich auch sehr oft zu den Territorien der Lykaner rund um Sternheim gerufen. Nicht von den Lykanern – natürlich nicht, die lösen ihre Probleme ja auf ihre eigene Weise –, sondern von den Opfern.“ Er seufzte schwer, als würde ihn dieses Wissen belasten. „Es kommt vor, das Wanderer von ihrem Weg abkommen und in die Reviere geraten, ein paar unbedachte Jugendliche, die sich eine Mutprobe liefern, oder auch ein Engel, der zu tief über die Bäume gleitet und abstürzt. Dies alles und noch mehr habe ich erlebt und egal, wie unterschiedlich diese Fälle begonnen haben, ob die Territorien mit Absicht oder nur aus Versehen betreten wurden, sie haben alle auf die gleiche Art geendet. Die Lykaner haben die Eindringlinge mitunter mit Gewalt aus ihren Revieren entfernt, dabei war es ihnen gleich, wie die Leute dort hinein gelangt waren. Ihre aggressive Art hat dabei so gut wie jedem Opfer kurzfristige bis bleibende Schäden verursacht.“

Rund um mich herum, wurde Knurren laut, dass auch nur langsam wieder verschwand, als Obsessantia sie mir einem durchdringenden „Schhht!“, zur Ruhe zwingen wollte.

Anwar ignorierte das komplett. „Schon damals ist mir klar geworden, dass die Lykaner das gefährlichste Volk auf diesem Planeten waren und ich war der Meinung, dass diesem Verhalten irgendwie Einhalt geboten werden müsste, doch leider bewegten die Wandler sich im gesetzlichen Rahmen, sodass ich nichts unternehmen konnte.“

Tja Pech gehabt, was Anwar Baby?!

„Doch dann gab es einen Vorfall, der mich dazu bewegt hat, energischer gegen die Lykaner vorzugehen. Natürlich immer im Rahmen der Gesetze.“

Natürlich.

„Was war das für ein Vorfall?“, wollte Dandil wissen.

„Eine Gruppe Therianer hat einen Jagdausflug gemacht, um die Jungen zu unterweisen. Es waren insgesamt sieben Kinder im Alter zwischen fünf und acht Jahren, die von zwei Erwachsenen begleitet wurden.“ Er lehnte sich zurück und ließ seinen Blick über die anwesenden Lykaner geleiten. Bei mir – die mittendrin saß – blieb er einen Moment länger hängen.

Djenan zischte neben mir.

„Was ist?“, fragte ich flüsternd, doch er schüttelte nur den Kopf und fixierte Anwar, als würde er ihm gleich den Kopf abreißen wollen.

„Natürlich wussten die Therianer, dass das Gebiet rund um Sternheim fast gänzlich von Lykanern als das Ihre betrachtet wurde“, führte Anwar seine Geschichte weiter aus, „und so blieben nur kleine Abschnitte und Waldgebiete, in denen sie die Jungen lehren konnten. Ein solcher Waldabschnitt liegt in der Nähe vom Zwielichtrudel.“

Zwielichtrudel? Moment, das waren doch die Dingos von Zephir, oder? Lebten Dingos nicht in offenen, kargen Landschaften, oder hatte ich da etwas falsch verstanden?

„Die Therianer scheuchten zwischen den Büchen verschiedene Kleinnager auf, die sie den Kindern überließen, damit diese ihre Fähigkeiten erlernen konnten“, erklärte Anwar weiter.

Ja, so hatte Djenan das damals auch bei mir gemacht.

„Eines der Kinder folgte einem Hasen. Es war ein junges Mädchen, zählte gerade mal sechs Lebensjahre. Sie war so konzentriert auf ihre Jagd, dass sie  gar nicht bemerkte, wie sie den Wald verließ und dem Hasen in die Ödnis des Zwielichtrudels folgte. Die erwachsenen Therianer waren so mit den anderen Kindern beschäftigt, dass sie das Verschwinden des Mädchens nicht sofort bemerkten, doch als sie ihrer Spur folgen und in das Gebiet der Dingos eindrangen, fanden sie nur noch den Leichnams des Mädchens.“ Nach diesen Worten schwieg er einen Moment, damit sie auf die Zuhörer wirken konnten.

Bitte? Die Lykaner hatten Kind getötet? Aber … nein, das konnte nicht stimmen. Die Lykaner waren zwar eigen, aber nicht abscheulich grausam.

„Das er es wagt diese Geschichte für seine Zwecke zu missbrauchen“, grollte Djenan leise.

„Was?“ Ich beugte mich leicht vor, um meinem Big Daddy ins Gesicht sehen zu können. „Was ist denn los?“

Er antwortete nicht, kiff die Lippen nur zu einer dünnen Linie zusammen und sah aus, als würde er gleich jemanden an die Kehle gehen. Die Lykanerin neben ihm wurde auch leicht unruhig und warf immer wieder wachsame Blicke zu ihm rüber. Ihr war das wohl auch nicht ganz geheuer.  

Dandil schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie kam das Mädchen zu Tode?“

„Unserer Rekonstruktion zufolge, ist das Mädchen bei ihrer Jagd vier Lykanern über den Weg gelaufen. Sie haben das Opfer aus ihrem Revier vertreiben wollen, wobei das Mädchen in Panik verfallen ist und auf einen Abhang zustürzte, um sich in Sicherheit zu bringen. Als die Therianer dazu kamen, standen die Dingos am Abhang und sahen in die Tiefe. Das Mädchen war in ihrer Angst hineingestürzt. Es war zu tief, um überleben zu können.“ Er hob den Blick und sah zum Hohen Rat auf. „Die Lykaner haben ein Kind in den Tod gehetzt und schlussendlich jede Schuld von sich gewiesen!“

Aber … nein! Es war ein Unfall, ein schrecklicher Unfall. Die Lykaner würden einem Kind niemals etwas zu leide tun, egal welcher Spezies es angehörte. Nicht einmal dem Zögling eines Magiers würden sie etwas tun, da war ich mir sicher.

„Nach diesem Vorfall habe ich mich dazu entschlossen, dass diesem Treiben ein Riegel vorgeschoben werden musste. Ich begann die Gesetze zu studieren und las jeden Fall, in dem ein Lykaner verwickelt war. Es war schwer und viele dieser Taten waren bereits verjährt, aber ich gab nicht auf. Dieser Gewalt musste ein Ende gesetzt werden.“

Dandil nickte verstehend. „Und wie sind Sie vorgegangen?“

„Ich arbeitete mich hoch, stieg in die Politik ein und wurde zu einem angesehenen Mitglied der Parlamentäre des Hohen Rats. Ich arbeitete wirklich hart für mein Ziel und wurde in dieser Stadt sogar zum Wesensmeister ernannt.“

Einfluss. Er hatte gearbeitet um Einfluss zu bekommen und was verändern zu können. Das war doch eigentlich nichts Schlechtes, warum nur kam es mir dann so vor?

„Unter meiner Führung dieser Stadt gingen die Verbrechen in denen die Lykaner verwickelt waren, bis auf eine Minderzahl zurück. Ich sorgte dafür, dass schon die Kleinsten dieser Stadt im Kindergarten davon unterrichtet wurden, wie sie sich einem Lykaner gegenüber verhalten müssen und setzte mich auch mit den Alphas der Rudel in Verbindung, in der Hoffnung, einen friedlicheren Weg zu finden, der keine weiteren Opfer forderte, doch von dieser Seite aus stieß ich nur auf taube Ohren.“

„Das war zu erwarten.“

Also diesen dummen Kommentar hätte Dandil sich nun wirklich verkneifen können.

Anwar nickte. „Leider. Trotzdem gab ich nicht auf und für eine Weile schien meine Arbeit auch Früchte zu tragen, doch im letzten Jahr änderte sich schlagartig alles, als mein verstorbener Sohn der Macht der Magie verfallen war.“

Macht der Magie? Wollte der uns auf den Arm nehmen? Und was sollte dieser Blödsinn mit dem besorgten Wesensmeister, dem nur das Wohl seiner Schäfchen am Herzchen lag? Klar, ich glaubte ihm die Sache mit den Verbrechen – leider –, aber sein Hass auf die Lykaner war schon vor einem Jahr so groß gewesen, dass es nur etwas persönliches sein konnte, weswegen er so erbarmungslos gegen die Lykaner vorging. Egal was er dem Hohen Rat hier auftischte, seine Worte stanken zum Himmel. Hier war ganz und gar etwas faul.

„Doch so viel Leid das Vergehen meines Sohnes auch mit sich gebracht hat, eines hat es aufgezeigt“, führte Anwar seinen sicher einstudierten Monolog weiter. „Die Lykaner haben sich in den vergangenen Jahren nicht geändert und handeln genauso erbarmungslos wie zu früheren Zeiten, weswegen es nun endlich an der Zeit ist, etwas Handfestes dagegen zu unternehmen. Damit die Wesen dieser Welt sich vor diesen wilden Kreaturen schützen kann, gibt es nur einen Weg, ihnen muss der Status der Mortatia aberkannt werden. Nur so kann ihnen Einhalt geboten werden und …“

„Das ist doch alles erstunken und erlogen!“, fuhr ich auf. Nichts hielt mich mehr auf meinem Platz. Keine Ahnung was das war, aber mein Gefühl sagte mir, dass Anwar von Sternheim uns hier allen etwas vorspielte. Ja, er hatte sicher einen Grund die Lykaner zum Teufel zu wünschen, aber der hatte garantiert nichts mit dem Gesagten zu tun, dafür war er viel zu sehr Egomane. „Der wahre Grund für deinen Antrag ist doch, dass du dich vor den Lykanern fürchtest und es strafbar für dich wäre sie abzuknallen, solange sie noch ein Teil des Codex sind!“

Um mich herum knurrten ein paar Lykaner zustimmend und dieses Mal machte Obsessantia sich auch nicht die Mühe sie zur Ruhe zu bewegen. Selbst in den Zuschauerreihen der anderen Wesen wurde leise geflüstert. Ob nun, weil ich schon wieder meinen Senf dazu gab, oder weil sie meiner Meinung waren, konnte ich nicht sagen.

Dandil hingegen funkelte mich von unten an. „Talita Kleiber von München, ich muss doch sehr bitten. Wenn Sie ihr Temperament nicht zügeln können, dann sehe ich mich gezwungen, Sie von dem Rest des Verfahrens auszuschließen.“

„Warum, weil ich Dinge sagte, die sie einfach übergehen?“

Er schnappte empört nach Luft. „Also bitte …“

„Ihnen bedeuten die Lykaner nichts, mir schon und soll ich Ihnen auch sagen warum? Weil ich sie kenne, weil ich sie verstehe, auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind. Ja, sie haben Fehler, aber wer nicht? Sie sind schwierig und dickköpfig, aber sie sind keine Monster und sie haben es nicht verdient, zu einem unwürdigen Niemand degradiert zu werden, nur weil ein einzelner Magier aus was weiß ich für Gründen einen solchen Hass auf sie hegt!“

„Talita!“ Aus den Reihen des Hohen Rats erhob Obsessantia sich und fixierte mich mit einem Alphablick. Das war dieser Blick, unter dem man sich nur winden konnte und am liebsten die Flucht ergriffen hätte. „Genug.“

„Aber …“

„Genug habe ich gesagt.“

Sogar die anderen Lykaner im Saal duckten sich unter dieser Stimme, weswegen es nicht verwerflich war, dass ich mich einfach auf meinen Platz fallen ließ und den Kopf einzog, in der Hoffnung, dass sie mich so übersehen würde.

Dandil wandte sich zum Hohen Rat um. „Ich beantrage, dass Talita Kleiber von München von dem Verfahren ausgeschlossen wird, da ihre ständigen Zwischenrufe den Verlauf stören.“

„Ich bin dagegen“, sagte Obsessantia sofort. „Talita Kleiber von München ist jung und unbedacht und außerdem eine der größten Verfechter zu unserem Recht. Ich bin der Meinung, sie sollte bleiben, denn sie wird sich ab sofort sicher mit ihren Zwischenrufen zusammenreißen.“ Bei den letzten Worten sah sie wieder in meine Richtung. Deutlicher hätte ihre Mahnung nur sein können, wenn sie ihre Zähne um meine Kehle geschlossen hätte.

Also manchmal fragte ich mich wirklich, ob ich noch ganz dicht war, dass ich mich so zwischen die Fronten warf. Mein Leben wäre wirklich einfacher, wenn ich die Lykaner einfach ihrem Schicksal überlassen würde und mich nur um meine Dinge kümmern würde.

Die Lykaner sind stolz, aber bitte lass sie nicht im Stich, auch wenn sie es verdient hätten.

Mist, einer grusligen, körperlosen Stimme sollte man sich wirklich nicht widersetzen, wer wusste schon, wohin das führen konnte?

Der Mann mit dem dritten Auge auf der Stirn erhob sich wieder, sodass ihn alle sehen konnten. „Die Anwesenheit von Talita Kleiber von München ist gewünscht, sie darf bleiben.“ Und schon saß er wieder.

Okay, das mit der Stimme im Kopf war fast noch grusliger, als die körperlose Stimme in der Höhle der Verlorenen Wölfe. Ich konnte es mir einfach nicht verkneifen zu fragen, also beugte ich mich zu Djenan hinüber und flüsterte: „Wer ist der Kerl?“

„Ein Orakel. Wenn ihm der Zutritt gestattet wurde, kann er Gedanken lesen und die Mehrzahl des Hohen Rats denkt wohl, dass du bleiben darfst.“

Oh, das war … bizarr.

Obsessantia stand noch immer. „Da es erst für die nächste Sitzung vorgesehen war, dass Anwar von Sternheim sprich, möchte ich seine Vernehmung hier erst mal unterbrechen und stattdessen den Alpha Najat aus dem Steinbachrudel aufrufen. Er ist mit der Bitte an mich herangetreten, hier sprechen zu dürfen und ich denke, wir sollten seinen Worten lauschen, um uns in Erinnerung zu rufen, wer wir eigentlich sind und warum wir hier heute zusammenkamen.“

Nach diesen Worten zog Dandil ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. „Ich bin der Ansicht, dass Anwar von Sternheim zu Ende sprechen lassen sollte und die Vernehmung des Alphas auf den nächsten Verfahrenstag verlegt werden sollte.“

Für einen Moment blieb es in den Reihen des Hohen Rats still, dann erhob sich wieder der Dreiauge und verkündete in meinem Kopf: „Anwar von Sternheim ist bis zum nächsten Verfahrenstag entlassen, Najat vom Steinbachrudel möge vortreten.“ Und schon saß er wieder.

Man diese Art der Kommunikation klappte ja besser als jedes Rechtssystem, dass ich kannte. Schade nur, dass es so unheimlich war, fremde Stimmen im eigenen Kopf zu hören.

Die nächsten Minuten verbrachte ich damit, einen verärgerten Anwar dabei zuzusehen, wie er den Platz für Najat räumte, der im Gegensatz zu dem Magier ausgesprochen ruhig war. Auch Dandil schien von diesem Wechsel nicht sehr begeistert, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen und behielt seine professionelle Maske auf.

„Nennen Sie uns ihren Namen“, sagte der Kitsune, sobald der Werwolf saß und wieder Ruhe ins Auditorium eingekehrt war.

„Najat vom Steinbachrudel. Ich bin ein Alpha meines Rudels.“

Dandil bekam einen leicht verächtlichen Zug um den Mund. Passte ihm wohl immer noch nicht, dass Obsessantia ihn so ausgeboten hatte. „Ihnen ist klar, dass sie hier die Wahrheit sagen müssen, da es sonst eine Strafe nach sich ziehen kann?“

Najat nickte. „Ja, das ist mir bewusst.“

„Najat vom Steinbachrudel, Sie haben darum gebeten, hier auszusagen.“

„Das ist richtig.“

„Nun denn.“ Er verschränkte die Arme auf dem Rücken und begann, den Alpha zu umrunden – das war reine Schikane! „Was möchten Sie dem Hohen Rat mitteilen?“

„Ich möchte eine Geschichte erzählen.“ Ruhig beugte er sich vor und verschränkte die Hände auf dem Tisch. Im Gegensatz zu den anderen Personen die dort vor im gesessen hatten – mich eingeschlossen – versuchte er nicht Dandil mit den Augen zu folgen, sondern richtete den Blick direkt auf den Hohen Rat.

Mann, so selbstsicher würde ich auch gerne sein wollen.

„Unsere Aufmerksamkeit gehört Ihnen.“

Er nickte. „Bei uns in den Rudeln ist es Tradition, dass die Geschichten der Vergangenheit an die Nachkommen weitergegeben werden. Die Alten erzählen gerne von früheren Geschehnissen, auch aus der Zeit vor dem Codex. Es ist nun genau zweihundertdreiundsiebzig Jahre her, dass die Mortatia dieser Welt sich zusammengefunden haben und einen Bund miteinander schlossen, der den Frieden zwischen unseren Völkern sichern sollte.“

„Dies ist sowohl mir, als auch allen anderen in diesem Saal bewusst“; sagte Dandil verächtlich.

Gar nicht wahr, ich wusste nicht, wie lange der Codex bereits existierte. Naja, bis jetzt.

„Das mag stimmen“, sagte Najat, „aber viele scheinen vergessen zu haben, wie die Welt funktionierte, bevor wir uns alle dazu entschlossen haben, miteinander zu leben. Die Welt war voller Zwietracht und Krieg, jeder nahm sich, was er glaubte, was ihm zustände und da machte kein Volk eine Ausnahme. Die Magier verdrängten mein Volk, weil sie die Länder für sich beanspruchen wollten, genauso haben die Lykaner jeden getötet, der sich auf ihr Land verirrt hatte. Es war eine Zeit der Unruhe, die bei meinem Volk hängen geblieben ist. Es mag unser Verhalten nicht entschuldigen, wohl aber erklären. Aber Magier und Lykaner waren nicht die einzigen Wesen, die miteinander im Krieg lagen. Der Luftraum war erfüllt von den Auseinandersetzungen der Engel und Harpyien, in den Wäldern stritten sich die Elfen mit den Feen und in den Gebirgen setzten sich die Minotauren mit den Rakshasas auseinander. Jedes Volk lag mit einem anderem im Clinch, mache sogar mit mehr als einem. Überall herrschten Unruhen, weswegen die Völker sich dazu entschlossen haben, den Codex zu gründen und Regel aufzustellen, um friedlich miteinander leben zu können.“

Dandil schüttelte den Kopf. „Die Geschichte ist zwar sehr interessant, aber wieder kommt uns nichts Neues zu Ohren.“

Und wieder sprach er nur für sich selber.

Najat ignorierte ihn einfach. „Der Codex wurde so gestaltet, dass es jedem Wesen möglich war, nach seinen Bedürfnissen zu leben und doch soll mir und meinem Volk dieses Gesetz nun zum Verhängnis werden.“

„Die Welt hat sich weiter entwickelt“, sagte Dandil kühl. „Die Lykaner nicht.“

„Nein, wir geben sehr viel auf Traditionen und halten uns an diese.“ Sein Blick richtete sich sehr eindringlich auf den Kitsune. „Und wir werden uns nicht verdrängen lassen.“

Dandil kniff die Augen zusammen. „Soll das eine Drohung sein?“

„Nein, einfach nur ein Erweis von Tatsachen.“ Soviel zu ruhig und ausgeglichen. Rojcan hatte sich bei seiner Aussage wenigstens zusammengerissen, um den Anschein von Harmlosigkeit zu wahren, Najat machte sich diese Mühe erst gar nicht. Er wollte dem Hohen Rat in Erinnerung rufen, wer er und sein Volk einst gewesen waren und zu was sie wieder werden konnten.

Na ob das jetzt so schlau war, das vor dem Hohen Rat auszusprechen?

„Die Lykaner sind kein Volk von minderem Wert und keiner von uns wird sich dazu abstempeln lassen, egal was bei diesem Verfahren rauskommen mag. Wir bleiben friedlich, solange man uns nicht herausfordert.“ Sein Blick schwenkte hinüber zu Anwar. „Doch versucht man es doch, werden die alten Zeiten eine Rückkehr erleben.“ Najat erhob sich von seinem Platz. „Mehr habe ich nicht zu sagen.“

Um mich herum erhob sich das Heulen aus den Kehlen hunderte Lykaner, die Najats Ruf folgen würden, sollte es zu einer falschen Entscheidung kommen.

Ich schluckte. Das war nicht gut, ganz und gar nicht.

 

°°°

 

Zwischen den anderen Wesen drängte ich mich neben Djenan aus dem Auditorium und hielt mich rechts, weil ich dort ein dringendes Bedürfnis befriedigen musste – nein, ich wollte niemanden ermorden, auch wenn mir das im Augenblick sicher gut täte. „Ich muss noch mal kurz aufs Klo, bin gleich wieder da.“

„Klo?“

Die Augen zu nicht verdrehen, verlangte mir in diesem Moment eine enorme Selbstbeherrschung ab. „In den Feuchtraum, um dort zu tun, was man da halt so tut.“

„Du meinst, du musst mal pinkeln“, erwiderte Djenan völlig ernst.

Dies würdigte ich mit keiner Reaktion, drehte mich einfach um und verschwand nach hinten, Richtung Seitengang. Jetzt gerade sollte er mich wirklich nicht reizen, wegen Anwar war ich sowieso schon auf hundertachtzig. Dieser Magier war doch einfach …

Jeglicher Gedanke in meinem Kopf erstarrte zu Eis, als ich ihn sah und mein Herz sackte mir in die Hose.

Veith.

Er lehnte seitlich vom Gang, in den ich laut der Beschilderung musste, an der Wand. Den Kopf leicht gesenkt und die Arme vor der Brust verschränkt, stand er da und ließ sich von drei halbnackten Tussis mit gekünsteltem Kicheranfällen bequatschen. Zwei waren dunkelhäutig, die Dritte so Blond, als sei sie in einen Kanister mit Bleichmittel gefallen und die grapschte meinen Wolf an! das Schlimmste daran war aber, dass Veith sich daran nicht zu stören schien und auch nichts dagegen unternahm, als sie sich gegen ihn lehnte und mit den Titten an seinem Arm rieb – okay, ich gab´s zu, das machte sie nicht, aber viel fehlte nicht mehr.

Genau wie Veith trugen die drei Weiber rote Lendenschurze, es waren Lykaner, ganz klar. Kein anderes Wesen würde sich so ungeniert zur Schau stellen. Aber das schlimmste kam ja noch. Diese drei Weiber hatten um ihren Oberarm alle ein rotes Band gewickelt. Mittlerweile wusste ich nur zu gut, was das bedeutete und das gefiel mir gar nicht.

Die Hände an meinen Seiten schlossen sich zu Fäusten, in dem Wusch, diesen Hühnern zu verklickern, dass das mein Kerl war, aber das durfte ich nicht. Niemand durfte von uns wissen. Ich drückte die Lippen aufeinander, wandte den Blick ab und verschwand in den Gang mit dem Feuchtraum, bevor ich doch noch etwas Unüberlegtes tat.

Die Frau, die gerade den Feuchtraum verlassen wollte, als ich reinkam, wurde von mir fast noch über den Haufen gerannt, ließ mich nach einem empörten Schnauben allein. Mir doch egal, sollte sie mich doch für unhöflich halten. Im Moment war mir sowieso alles schnuppe, außer dem Bild, das ich vor Augen hatte.

Klar, ich verstand schon, dass Veith sich weiter völlig normal verhalten musste und ich ihn mit anderen Lykanern – auch deren weibliche Versionen – agieren lassen musste, egal wie sehr es mir gegen den Strich ging. Nur machte es das nicht unbedingt besser.

Seufz.

Ich ging hinüber zu den Waschtischen und starrte in den Spiegel. Ich war nicht hässlich, auf keinen Fall, aber mit diesen Wolfspuppen da draußen konnte ich nicht mithalten. Weder mit der Figur, noch mit der Oberweite. Was also fand Veith an mir, dass er für mich sogar sein Gelöbnis etwas dehnte? Verdammt, warum suchte ich jetzt eigentlich bei mir den Fehler? Er war es doch, der sich da draußen von drei Schönheiten angraben ließ und sich nicht mal daran störte, dass seine Freundin ihn dabei sah. Wahrscheinlich hatte er gar nicht bemerkt, dass ich direkt an ihm vorbeigelaufen war, nur ganz kurz davor, diesen drei Weibern mal ein paar Takte zu erzählen.

Als die Tür hinter mir aufging, starrte ich noch immer in den Spiegel und konnte den Ankömmling sehen. Veith, natürlich, wer auch sonst. „Die Pissoirs sind nebenan, hier ist für Frauen“, teilte ich ihm mit.

„Ich weiß“, sagte er, kam aber trotzdem zu mir und stellte sich in meinem Rücken, sodass ich seine Wärme auf der Haut spüren konnte. Viel zu nahe.

Wie konnte er jetzt hier auftauchen, wo er draußen doch gerade mit diesen Tussis zugange war? Der Kerl hatte wirklich keinen Funken Anstand im Leib! Und warum machte seine Anwesenheit mich so kribbelig? Er sollte sich in Grund und Boden schämen und nicht hinter mir stehen und mir eine Gänsehaut über den Rücken jagen, nur weil er eine Strähne von meinem Haar zwischen die Finger nahm.

„Warum eigentlich Grün?“

War das seine einzige Sorge? Der war so … ahhhr! „Pal wollte Kaj einen Streich spielen, nur leider hab ich ihn abbekommen und die grüne Farbe lässt sich nicht raus waschen“, sagte ich ziemlich kalt.

Veith bekam wieder diese kleine, niedliche Falte auf der Stirn. „Bist du sauer?“

Das fragte er mich doch jetzt gerade nicht wirklich, oder? „Gegenfrage, wer ist der Harem da draußen, der den Boden küsst, auf dem du gehst?“ Dass ich mich im Moment leicht eifersüchtig anhörte, konnte daran liegen, dass ich es durchaus war, aber das würde ich ihm sicher nicht unter die Nase reiben. So weit käme es noch.

„Frauen aus meinem Rudel, die bei mir nicht in Vergessenheit geraten wollen.“ Die kleine Falte blieb, als er mit einem Finger federleicht über die Wirbelsäule meinen Rücken hinauf wanderte, während er mein Gesicht intensiv durch den Spiegel betrachtete.

Bei dem wohligen Schauer auf meine Haut, konnte ich mir ein leises Seufzen nicht verkneifen. „Dann solltest du vielleicht zu ihnen gehen, anstatt hier bei mir zu stehen.“

„Nein, wir sind in Sternheim.“ Er rückte ganz nahe an mich heran, umschlang meine Hüfte und zog meinen Rücken gegen seine Brust. „Und solange ich hier bin, gibt es nur dich.“ Seine Nase strich über meine Halsbeuge, bevor einen Gänsehautfaktor-Kuss auf die zarte Haut hauchte. Erst auf die Halsbeuge, dann auf die Schulter und dann wurde ich plötzlich herumgerissen und fand seinen Mund auf meinen wieder.

Von null auf hundert in einer Sekunde. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als er mich gegen den Waschtisch drängte und ziemlich wild knurrte, als meine Hände fest über deine Brust strichen. Oh Gott, was machte ich hier eigentlich? Ich sollte sauer auf ihn sein und mich nicht … huch!

Er packte mich an den Beinen und hob mich auf den Waschtisch, als würde ich nicht mehr als eine Feder wiegen. Dabei klammerte ich mich an seinen Armen fest, um nicht nach hinten zu fallen. Seine Lippen blieben dabei auf meinen liegen und taten Dinge, die mir das Denken erschwerten. Warum sollte ich auch mein Hirn einschalten, wenn seine Zunge so gekonnt in meinen Mund eindrang und mich damit in andere Himmelssphären katapultierte und seine Hände so nachdrücklich meine Schenkel hochwanderten, dass mein ganzer Körper anfing zu summen? Nein Moment, er summte nicht, ich schnurrte. Oh Gott, dieser Kerl hatte mich voll und ganz in seiner Hand. Mich störte es nicht einmal, dass er sich zwischen meine Beine drängte, um mich so weit an den Rand des Waschtisches zog, dass mein Becken gegen seines drückte.

Diese Gefühle, die waren so … wow, ich konnte sie nicht mal richtig in Worte kleiden. Seine Hände, seine Lippen, das alles war so überwältigend, er riss mich damit in eine andere Welt, in eine Welt, die nur uns gehörte. Dort gab es keine dummen Tussis, die sich ihre Chancen auf ihn ausrechneten, oder Rudel, die in ihm bloß einen Samenspender mit Titel sahen. Hier konnte uns der Hohe Rat, Anwar und der Codex gestohlen bleiben. Nur die nächste Berührung zählte, seine Hände, die er mit gespreizten Fingen über meine Haut schob, immer weiter, bis sie unter mein Oberteil … oh Gott. „Veith“, sagte ich ein wenig atemlos.

Er knurrte zur Antwort nur, nahm seinen Namen aus meinem Mund als Anreiz fortzufahren und nicht als Mahnung. Aber so ungern ich dies hier auch beenden wollte, genau das war es gewesen.

„Veith, das hier ist eine öffentliche Toilette.“

„Ich weiß.“

Oh, wie wunderbar. Als er dann auch noch anfing, mit seinem herrlichen Mund tiefer zu gleiten, nahm ich sein Gesicht zwischen die Hände und hielt es vor meines. „Hier könnte jeden Moment jemand reinkommen und uns sehen, verstehst du?“

Lange Zeit sah er mir einfach nur in die Augen. Es hatte nicht den Anschein, als würde er sich an eventuellen Zuschauern stören, wenn er nur weiter machen durfte, doch irgendwann siegte auch bei ihm die Vernunft und er seufzte ergeben. „Du hast Recht.“ Langsam, aber nicht ohne mich noch einmal zu reizen, zog er seine Hand unter meinem Oberteil hervor und nahm meinen Mund ein weiteres Mal gefangen. „Weißt du, ich denke, ich möchte Isla noch einmal besuchen“, raunte er und jagte mir einen weiteren, heißen Schauer über meine Haut. „Meinst du, da ließe sich etwas machen?“

Schäkerte er etwa mit mir? Das waren ja ganz neue Seiten und ich musste gestehen, dass mir die unheimlich gut gefielen. „Ich denke, dass ich heute Abend ein wenig Zeit dafür entbehren könnte.“

„Um acht?“

„Ich werde da sein.“

Noch ein letzter Kuss, dann löste er sich von mir und verschwand genauso schnell, wie er erschien war. Den Verlust seines Körpers konnte ich nur verwinden, weil sich ein anderes, dringendes Bedürfnis breit machte, kaum dass die Tür hinter ihm zugefallen war. Ich musste immer noch aufs Klo, jetzt nötiger als zuvor und damit nichts in die Hose gehen konnte, verschwand ich hastig in einer der Kabinen. Dabei hatte ich die ganze Zeit ein dümmliches Lächeln auf den Lippen, das immer breiter wurde, wenn ich nur daran dachte, was wir gerade gemacht hatten. Wenn mich einer sehen könnte, wie ich hier blöd grinsend auf dem Klo saß, der würde mich doch für völlig bescheuert erklären. Aber das war mir egal. Ich war glücklich und das war das Einzige, was zählte.

Ich erledigte, was es zu erledigen gab, stellte mich wieder an den Waschtisch und sah wieder in den Spiegel. Meine Wangen waren gerötet, meine Lippen leicht geschwollen und meine Augen glänzten auf eine Art, die man nur als verliebt beschreiben konnte. Und dieses dümmliche Grinsen? Es wollte einfach nicht verschwinden.

Ich atmete noch ein paar Mal tief durch und spritze mir ein wenig Wasser ins Gesicht – damit nicht jeder gleich sehen konnte, was mit mir los war –, dann verließ ich den Feuchtraum der Damen, nur um Djenan in die Arme zu laufen, der neben der Tür an der Wand lehnte.

„Will ich wissen, was das Hundchen da drinnen bei dir getrieben hat?“

Pling und ich war feuerrot. Als er dann auch noch anfing, leise zu lachen, schlug ich ihm gegen den Arm und stolzierte davon.

Blöder Kater.

 

°°°

 

Ungeduldig lehnte ich am Baum und wartete auf Veith. Es war die gleiche Stelle, an der wir uns bereits vor zwei Tagen getroffen hatten. Die Zeit schien einfach nicht zu vergehen und obwohl es gerade mal drei Stunden her war, das ich meinen großen, bösen Wolf gesehen hatte, konnte ich es kaum erwarten, dass er auftauchte.

Meinen. Bei diesem Wort konnte ich gar nicht anders, als wieder so dümmlich verliebt zu lächeln. Aber so war es nun einmal, er gehörte mir, mir ganz allein.

Nur solange er in Sternheim ist.

Seufz.

„Wartest du schon lange?“, raunte eine sehr vertraute Stimme an meinem Ohr und jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Man hätte an dieser Stelle vielleicht erwartet, dass ich mich über seine plötzliche Anwesenheit erschreckte und am besten noch zusammenzuckte und ihm dabei den Kopf gegen die Nase schlug, wobei ich sie ihm brechen würde, aber das Einzige, was geschah, war, dass ich herumwirbelte und meinem großen, bösen Wolf um den Hals fiel.

„Da bist du ja endlich“, säuselte ich und wollte ihn küssen, doch er packte mich an den Hüften und schob mich sanft aber nachdrücklich von sich.

„Nicht hier, hier kann man uns sehen.“

Mein Lächeln fiel in sich zusammen. Wer bitte sollte uns hier schon sehen? Wir waren hinter dem Park, hier kam kaum eine Seele vorbei. „Du meinst wohl, dein Fanclub könnte uns hier sehen und auf falsche Gedanken kommen.“ Oder auch auf die richtigen.

Ich trat von ihm weg und verwandelte mich, bevor er auch nur ein Wort erwidern konnte. Und ja, ich war beleidigt. Da freute man sich und dann kam da sowas bei raus. Vielen Dank auch.

Veith stand immer noch da. Auf seiner Stirn war wieder diese kleine Falte, aber jetzt gerade fand ich die nicht sonderlich niedlich. „Talita, du weißt doch …“

„Ja, ja, verwandelst du dich jetzt, oder wäre das auch zu auffällig?“

Das Stirnrunzeln wurde tiefer, als er langsam seine Gestalt veränderte. Dabei ließ er mich keinen Moment aus den Augen. Auch nicht, als wir nebeneinander zum Schild traten und ich in sein raues Fell griff, um ihn dadurch hindurch zu bringen. „Du hast keinen Grund sauer zu sein.“

Ich war nicht sauer – nun ja, nicht sehr – ich war eifersüchtig und das war eigentlich noch schlimmer. Diese Weiber hatten die Erlaubnis, ihn zu berühren, wenn ich mich fernhalten musste. Niemand würde etwas dagegen sagen, wenn eine auf die Idee kommen würde, ihn einfach mal zu küssen, weil ihr gerade der Sinn danach stand. Diese Frauen durften das, was ich mir wünschte und das war es, was ich so belastend fand. Würde das jetzt die ganze Zeit so sein? Würde ich damit klarkommen?

Ich versuchte die Gedanken daran zu verdrängen, als ich durch den Schild trat und auf den Urwald zuhielt. Wir schwiegen, es war still – naja, wenn man von dem blöden Regen absah, der sich mal wieder über Sternheim breit gemacht hatte.

„Diese Frauen bedeuten mir nichts“, sagte Veith leise, nachdem wir in den Wald eingetaucht waren.

„Ich mag es trotzdem nicht, wenn sie um dich herumscharwenzeln und dich betatschen, als hätten sie jedes Recht dazu.“ Das hatten sie nämlich nicht. Solange er in Sternheim war, gehörte er allein mir und ich hoffte, dass diese Zeit niemals vorbeigehen würde, auch wenn ich wusste, dass dies nur ein Traum war, der nicht zur Realität werden konnte.

„Lass uns nicht von ihnen reden.“ Er stupste mir gegens Bein und schmiegte seinen Kopf gegen meine Taille. „Nicht hier.“

Wie von selbst fand meine Hand einen Weg in sein Fell und fuhr behutsam hindurch. „Es ist nur … ich mag das einfach nicht.“ Ich ließ meine Hand fallen und marschierte weiter. „Ich will … ahhh!“ Das feuchte, glitschige Laub rutschte unter meiner Pfote weg und ich landete nicht nur unsanft unter meinem Hintern, sondern knickte mir dabei auch noch fast meinen Schwanz um. Schlamm spritzte auf mein Fell und innerhalb von Sekunden war mein Popo durchgeweicht.

Veith blinzelte mich an, neigte den Kopf zur Seite und blinzelte erneut.

„Was?!“, fauchte ich. „Noch nie ´ne Katze gesehen, die im Dreck saß?“

„Jedenfalls keine mit Schlamm auf der Nasenspitze.“

Ich hob sofort die Pfote, um mir mein Gesicht sauber zu machen. Große Fehler, denn meine Pfote hatte im Dreck gelegen, aber das bemerkte ich erst, als ich mir die Grütze ins Gesicht schmierte. Völlig entgeistert saß ich da und wandte mein Gesicht dem braunen Wolf zu. „Was grinst du so?“

Er stellte die Ohren auf und fing an mit der Rute zu wedeln.

Ich kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. „Das war gar nichts auf meiner Nase gewesen, oder?“

„Nicht bis du mit deiner Pranke durch dein Gesicht gefahren bist“, gab er ohne Reue zu.

„Oh, du mieser, kleiner … das zahle ich dir heim!“ Mit beiden Händen griff ich in den aufgeweichten Erdboden und warf die dreckigen Klumpen nach ihm. Dem einen konnte er noch ausweichen, der andere klatschte gegen seine Schulter und klebte im feuchten Fell.

Er sah sich die Bescherung an und runzelte die Stirn – ja, auch in Wolfsgestalt ging das problemlos.

Langsam breitete sich ein Grinsen auf meinen Lippen aus. „Tja, mein Lieber, Rache ist süß.“

„So, ist sie das?“ Ganz gemächlich drehte er sich herum und ich glaubte schon, dass er einfach weiter gehen wollte, da trafen mich die ersten Schlammspritzer. Nein, er ging nicht. Er hatte sich nur umgedreht, um den Schlamm beim Buddeln in meine Richtung schießen zu können.

Schützend riss ich die Arme vors Gesicht, um der Schlammlawine zu entkommen, doch dieser Wolf konnte verdammt gut zielen. „Was … Veith! Lass das! Ich … bäh, igitt … Veith!“ Der Matsch traf mich überall. Bauch, Beine, Brust, Arme, Gesicht. Sogar in den Mund bekam ich das Zeug, was wirklich widerlich war. „Verdammt, Veith, ich …“ Rums! Da landete eine ganze Ladung in meinem Gesicht.

Ich versuchte, es so gut wie möglich wegzuwischen und funkelte den fiesen Wolf an, der sich völlig unschuldig vor mich gesetzt hatte und darauf wartete, was ich nun tun würde. „Das wirst du mir so was von büßen.“ Ich griff mir zwei neue Ladungen von dem Matsch, doch bevor ich ihn damit treffen konnte, tauchte er ins Unterholz ab. „Hey du Feigling, komm zurück!“

„Damit ich so aussehe wie du? Auf keinen Fall!“

Okay, er wollte spielen? Das konnte er haben. Das Jagen hatte ich bei Djenan gelernt. Zwar im Schnellkurs, aber Big Daddy wusste, was er tat.

Ich rappelte mich auf die Beine, behielt den Matsch in den Pfoten und sprintete ihm durch das Unterholz hinterher. Die vielen Gerüche im Urwald und der Regen machten es nicht einfach seiner Spur zu folgen, doch zum Glück bewegte er sich nicht gerade leise. Ich hörte wie Äste und Blätter erzitterten, wenn er daran vorbeilief, hörte das Knacken von Stöcken, die unter seinem Gewicht zerbrachen, oder das leise Lachen von ihm, das noch so neu für mich war. Er gab sich keine Mühe, sich vor mir zu verbergen, wollte, dass ich ihn jagte. Er spielte mit mir. Veith, der immer ruhige und grimmige Wolf, mit der stetig nachdenklichen Falte auf der Stirn, rannte durch meinen Dschungelpark,  und wollte, dass ich mit ihm spielte.

Das Glücksgefühl in meinem Herzen und die Schmetterlinge in meinem Magen rasten um die Wette miteinander, als ich entschlossen durch die Wildnis schoss, um ihm eine ordentliche Schlammpackung zu verabreichen. Ich würde ihn so einseifen, dass selbst sein Vater Schwierigkeiten bekommen würde, ihn wiederzuerkennen. Oh ja, das würde ich tun.

Voller Vorfreude auf mein Vorhaben, beeilte ich mich hinter ihm herzukommen, nur leider war das nicht so einfach, wie ich geglaubt hatte. der Boden war glitschig und wenn ich nicht aufpasste wo ich hinlief, dann würde ich erneut auf meinem Hintern landen. Also hätte ich mein Tempo eigentlich verringern müssen. Aber wenn ich zu langsam war, würde ich ihn verlieren und das wollte ich nicht. Ich wollte …

Plötzlich waren die Geräusche von ihm verschwunden. Sofort blieb ich stehen und lauschte auf meine Umgebung, doch nur der Regen, der stetig auf die Blätter und Pflanzen prasselte, drang an mein Ohr. Wachsam sah ich mich in der Dunkelheit um, doch selbst mit meiner verbesserten Sicht, war bei dem Wetter nicht viel auszumachen. Pflanzen, ein Vogel der im Baum saß und sein Gefieder gegen den Regen aufgeplustert hatte, aber kein großer, böser Wolf.

Langsam drehte ich mich einmal um meine eigene Achse. Das Fell in meinem Nacken stellte sich auf. Er war hier, er beobachtete mich, ich spürte seinen Blick ganz deutlich, doch ich entdeckte ihn nicht. Meine Ohren spitzen sich und versuchten die Geräusche in meine Umgebung zu filtern. Der Regen, der Schrei eines Vogels, ein Rascheln zu meiner Linken. Ich drehte den Kopf, konnte aber nichts entdecken.

Da knackte es. Ich fuhr herum und in der nächsten Sekunde wusste ich, dass mit meinem Gehörgang etwas ganz und gar nicht funktionierte, als ich in die Seite gerammt wurde und halb auf dem Rücken im Dreck landete. Über mir kauerte der große, böse Wolf, mit einem verspielten Funkeln in den Augen, schmiegte seinen Kopf einmal gegen meinen und sprang wieder ins Unterholz.

„Na warte.“ Ich schnellte auf die Beine und rannte ihm hinterher. Den würde ich schon einholen und dann würde ich ihm eine kostenlose Schlammpackung verabreichen!

Hinten traf mich etwas und lief mir eiskalt den Rücken herunter – Wortwörtlich. Ich wirbelte herum und sah gerade noch so Veiths Schwanzspitze, wie sie zwischen den Fahnen verschwand.

„Dich bekomm ich noch.“ Und wieder rannte ich ihm hinterher. Ich konnte es kaum glauben, da raste ich mit Veith durch den regennassen Dschungel und spielte Einkriegezeck.

Ein Lachen fuhr mir die Kehle hinauf, als ich über ein paar Baumstümpfe sprang und Veit auf der anderen Seite im Dreck entdeckte. Er musste weggerutscht sein. Natürlich nutzte ich meine Chance gleich voll auf, warf mich auf ihn, als er gerade wieder auf die Beine kam und riss ihn erneut mit mir in den Matsch. Das kalte Gefühl auf der Haut war ein klarer Kontrast zu der Hitze, die mein Wolf abstrahlte.

Irgendwo zwischen seinen Pfoten kam ich zum liegen – warum war ich denn jetzt unter ihm? – und kicherte leise, als er seine Schnauze über meine Halsbeuge rieb. Er stand so ahnungslos über mir, dass ich es mir einfach nicht verkneifen konnte, ihm eine Handvoll Schlamm hinter die Ohren zu schmaddern.

Er schnaubte empört und leckte mir zur Strafe einmal quer übers Gesicht.

„Iiii!“ Mit einem Ruck schubste ich ihn neben mich in den Dreck und rieb mir mit dem Arm durchs Gesicht, brachte nicht viel, es blieb trotzdem schmutzig.

Veith schaute mir belustigt zu, aber er sah auch nicht besser aus. Wäre er nicht er, würde er wahrscheinlich bis über beide Ohren grinsen. So bekam ich nur einen interessierten Blick.

„Guck nicht so, du siehst genauso aus.“

„Nein und das ist auch gut so.“

Hä? „War das jetzt ein Kompliment?“

Er neigte den Kopf zur Seite. „Was soll es denn sonst gewesen sein?“

Na eine Beleidigung. „Dann danke, aber das solltest du wohl wirklich noch ein wenig üben.“ Ich kratzte mich ab Oberschenkel, was nicht sonderlich viel brachte, da ich das Zeug am ganzen Körper hatte. Das war ein echt ekliges Gefühl. Dieser klebrige Matsch juckte im Fell und ich wusste schon genau, was ich dagegen tun konnte. „Komm“, sagte ich und rollte mich auf die Füße. Dabei machte der Schlamm unter mir ein ekliges, schmatzendes Geräusch, das mich das Gesicht verziehen ließ. Widerlich. Irgendwann würde ich es diesem Wolf heimzahlen, auch wenn ich insgeheim zugeben musste, dass es Spaß gemacht hatte.

„Wo willst du hin?“

„Das wirst du schon sehen“, grinste ich, wirbelte herum und sprintete zur Nordseite durch den Urwald. Mein Ziel war der kleine Teich, in den Djenan mich bei unserem ersten Treffen geschubst hatte, um meine Selbstbeherrschung auf die Probe zu stellen.

Hinter mir hörte ich das Getrampel von Veiths Pfoten, auf dem feuchten Boden. Es folgte ein lauter Rums, Äste knackten und dann ein paar derbe Flüche, die ich so noch nie aus seinem Mund – äh Schnauze – gehört hatte.

Ich drehte mich zu ihm herum und musste mich beherrschen nicht loszulachen, als ich ihn da zwischen Blättern und Schlamm auf dem Boden sah. Ich war hier wohl nicht die Einzige, die Opfer dieser unwegsamen Natur geworden war.

Kichernd rannte ich weiter, wich tiefhängenden Ästen und dichtem Buschwerk aus, bis sich vor mir eine kleine Lichtung enthüllte, die versteckt unter den Bäumen eine eigene Welt für sich bot. Ich fackelte nicht lange, nahm Anlauf und sprang. Noch während des Eintauchens in das warme Wasser, ließ ich meine Magie von mir abfließen und kam als Mensch zurück an die Oberfläche. Ja, das tat gut.

Dreck und Matsch lösten sich praktisch wie von selbst und als ich mir das Haar aus dem Gesicht strich, konnte ich beobachten, wie mein großer, böser Wolf gemächlich an den Teich schlich und mich nicht aus den Augen ließ.

Langsam schwamm ich rückwärts zur anderen Seite, wo das Wasser flacher war und ich stehen konnte. „Na los, komm rein. Es ist schön warm, oder bist du etwa wasserscheu?“

Veith zeigte mir die Zähne. Seine Muskeln spannten sich an und in einem weiten Satz flog er in den Teich. Die Fontäne die er dabei verursachte, erwischte auch mich und ich musste einen Moment den Blick abwenden, um nicht ersäuft zu werden. Dieser Wolf verdrängt mehr Wasser, als man ihm zutraute.

Erst als leichte Wellen auf mich zurollen, sah ich wieder zu ihm zurück und konnte beobachten, wie er langsam auf mich zu geschwommen kam und dabei in seine menschliche Gestalt wechselte. Sein Blick dabei, in ihm lag etwas seltsames, das ich nicht zuordnen konnte. Diesen Blick hatte ich noch nie gesehen und das Kribbeln das davon ausgelöst wurde, ließ mich bis in die Zehenspitzen erschauern. Es lag etwas Wildes darin. Er fixierte mich, als hätte er seine Beute ausgemacht und da er ein Jäger war, würde er sie auch niemals entkommen lassen.

Langsam schwamm ich rückwärts, bis ich den schlammigen Teichboden unter meinen Füßen spüren konnte. „Warum guckst du mich so an?“

Er sagte nichts, kein Ton verließ seine Lippen, als er immer näher kam.

Das verunsichere mich leicht. Was hatte er vor? „Veith?“ noch zwei Schritt ging ich zurück, bis mir das Wasser nur noch an die Knie reichte. „Was hast du?“

Er folgte mir, ließ mich nicht einen Moment aus den Augen, bis er genau vor mir stand und ich seine Körperwärme auf meiner feuchten Haut spüren konnte.

So standen wir einen Moment, einfach nur unter dem Mondlicht im Teich, während der Regen auf uns niederprasselte und sahen uns an. Er senkte seinen Blick auf seine Hände und ich spürte, wie er sie langsam meine Arme hinauf wandern ließ. Jede Berührung war dabei ein Prickeln, das den Tanz der Schmetterlinge in meinem Magen beschleunigte und mein Herz wie das eines Kolibris schlagen ließ. Immer höher ließ er seine Hände gleiten, bis sie in meinen Nacken angekommen waren, wo sich seine geschickten Finger auf die Haken legten, die mein Oberteil oben hielten.

Ich spürte seinen heißen Atem auf meiner Haut, als er sich zu meinem Hals vorbeugte und seine Lippen dort hauchzart über meine empfindliche Stelle strichen. „Wenn du das nicht willst, musst du mich daran hindern“, flüsterte er mir ins Ohr und biss dann sachte in mein Ohrläppchen, bevor er tief meinen Geruch in die Lungen sog.

Für einen Moment stockte mein Herzschlag, nur um dann mit Überschlaggeschwindigkeit weiter zu schlagen. Ein heißer Schauer jagte den nächsten und erst als er mir den Schal mit einem Ruck von Körper riss, bemerkte ich, dass er die Haken gelöst hatte.

Ich zuckte nicht zusammen, als ich plötzlich Oben ohne dastand und nur aus dem Augenwinkel mitbekam, wie mein Oberteil durch die Luft ans Ufer segelte.

Veit hauchte mir einen Kuss auf die Halsbeuge, strich mit der Nase über meine Schulter, mein Schlüsselbein und löste damit Gefühle in mir aus, die mir bis dahin völlig unbekannt waren. „Nur ein Wort und ich werde aufhören.“

Ich schloss die Augen, als er vor mir in die Knie ging und seine Nase an meinem Bauch rieb. Spürte nur seine Berührungen und das Wasser, das in kleinen Wellen gegen uns schlug. Nicht mal den Regen nahm ich mehr richtig wahr.

Langsam glitten seine Hände meine Beine hinauf, zu dem Saum meines Lendenschurzes und mein Herz schlug in freudiger Erwartung Purzelbäume, als sich seine Finger in den Rand des nassen Stoffes verhakten und er ihn langsam herunterzog. Sehr bedächtig tat er das, als wolle er jeden Zentimeter genießen und mich langsam aber sicher in den Wahnsinn treiben.

Überall, wo er mich berührte, sandten seine Finger kleine Blitze in meine Haut, die mich beinahe erbeben ließen. Er hauchte einen Kuss auf meinen Bauch, der sich fast in meine Haut brannte und wanderte mit den Lippen zu meinem Hüftknochen, an dem er zart knabberte und damit ungeahnte Gefühle in mir auslöste, die mich in seine Bann schlugen. „Heb die Beine an“, raunte er leise.

Nur sehr langsam öffnete ich die Augen und sah zu ihm hinab. Völlig durchnässt kniete er dort nackt vor mir und sah mit einem Blick zu mir hinauf, der mich erschauern ließ. Ich liebte diesen Mann, wurde mir mit unwiderruflicher Klarheit bewusst. Ich liebte ihn so sehr, dass es fast wehtat und ich würde alles für ihn tun, wenn er es nur verlangte.

Zögernd hob ich ein Bein nach dem anderen aus dem Lendenschurz und interessierte mich gar nicht dafür, wo er hinflog, als Veith es von uns wegschleuderte. Nur seine Augen zählten, diese gelben Irrlichter, die mich seit unserer ersten Begegnung kaum noch losgelassen hatten.

Seine Hände griffen nach meinen, als er sich wieder aufrichtete. Schritt für Schritt zog er mich mit sich ins tiefere Wasser und unterbrach dabei nicht einmal den Augenkontakt mit mir. In diesem Moment war ich eine Gefangene seines Willens und ich würde mich nicht wehren, egal was er mit mir vorhatte.

„Hier ist unser Platz“, flüsterte er, als mir das Wasser bis an die Brust reichte. „Hier gibt es nur uns.“

„Nur uns“, flüsterte ich zurück und legte die Hände an seine Brust, um mit den Fingern langsam die Konturen nachzuzeichnen. Hier würde uns niemand stören, hier waren wir beide ganz allein.

Ich beugte mich vor und hauchte einen Kuss auf seine Haut, wie er es bei mir getan hatte, wanderte mit meinen Lippen über seinen Hals, das Kinn, bis ich mein Ziel erreicht hatte und meinen Mund mit seinem vereinen konnte.

Seine Hände packten meine Taille, zogen mich so fest an sich, dass kein Tropfen Wasser mehr zwischen uns passte und sich die Hitze seiner Haut mit der Meinen verband. Haut an Haut in einem gestohlenen Augenblick, von dem niemand jemals etwas erfahren durfte. Aber ich wollte das hier, brauchte diese Nähe genauso sehr wie er. Vielleicht hatte er es nie mit diesen Worten gesagt, aber ich wusste, dass sein Herz nur für mich schlug und hier stand ich nun, um ihm zu beweisen, dass es mir nicht anders ging.

Langsam fuhren meine Hände an seinen Körper nach oben, erkundeten jeden Zentimeter seiner Haut, während unsere Lippen miteinander verschmolzen waren. Dieser Moment war das einzig Richtige und nicht eine Sekunde schlichen sich die Zweifel ein, die ich bei Pal verspürt hatte. Ich genoss es, wie seine Hand über meinen Schenkel strich, über meinen Rücken wanderte und sich in einer besitzergreifenden Geste um meinen Nacken schloss. Ich schwamm in dem Gefühl seiner anderen Hand, die sich um meine Brust legte und etwas noch nie Gekanntes in mir auslöste.

Nichts anderes war mehr wichtig, nur er und ich, nur dieser Moment der Zweisamkeit, in dem wir eins wurden und uns die Bedeutung der Hingebung vor Augen führten. Nur das Jetzt zählte, die Berührungen und Gefühle, die uns miteinander verbanden.

Wir ergänzten uns, als wäre es schon immer so gewesen, folgten dem anderem bei allem was er tat und wurden am Ufer des Teich Eins auf eine Art, die älter als die Menschheit war. Ich ritt auf diesen Gefühlen, schwelgte in ihnen und gab ihm alles, was ich zu geben hatte, hier, in diesem Urwald, in einer Zeit, die nur uns gehörte, auf eine Art, wie ich sie mit noch keinem anderen geteilt hatte.

Ich liebte ihn. Ich liebte ihn von ganzen Herzen und hoffte, dass es niemals enden würde. Er war alles, was ich wollte und alles, was ich brauchte. Und auch als wir danach ruhig nebeneinander lagen und in dem Nachhall der Gefühle schwelgten, die wie eine Welle über uns zusammengebrochen waren, wusste ich, dass ich von diesem Mann niemals genug bekommen würde.

Eingekuschelt in seiner Wärme, während der warme Regen auf uns niederprasselte, wusste ich genau, dass jetzt die Welt untergehen könnte und ich würde mit Freuden aus dem Leben scheiden, solange er nur bei mir war. Das hörte sich vielleicht ein wenig fanatisch an, aber das war eben genau das, was ich spürte.

Träge zog Veith Kreise auf meinem Rücken, während ich mich mit dem Gesicht an seine Brust kuschelte. „Geht es dir gut?“

Ein kleines Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. „Wie könnte es mir in diesem Moment nicht gut gehen?“ Ich hob den Kopf ein wenig, um seine Augen sehen zu können. „Schließlich bis du bei mir.“

„Du bist so still.“

„Was, hast du nicht geglaubt, dass ich auch mal den Mund halten könnte?“

„Nein, ich dachte nur …“ Und dann wurde er rot. Ja, ganz ehrlich, der große, böse Wolf bekam einen leicht rosigen Schimmer auf den Wangen, der nichts mit dem zu tun hatte, was wir gerade getrieben hatten.

„Bist du etwa verlegen?“, zog ich ihn auf.

Und da war sie wieder, die kleine, vertraute Falte. „Nein, natürlich nicht. Ich dachte nur, du willst vielleicht reden, weil das doch …“ Er presste die Lippen aufeinander.

Das war ja nicht zu fassen, Veith war verlegen, ich hatte ihn wirklich in Verlegenheit gebracht! Das war ja unglaublich. „Weil was?“ Okay, das war vielleicht gemein – was hieß hier vielleicht, das war ganz sicher gemein –, aber ich konnte einfach nicht widerstehen, ihn ein kleines bisschen aufzuziehen.

„Weil du noch nie Sex hattest“, grummelte er leise und wich meinem Blick aus, als sich seine Wangen noch ein wenig röter färbten. „Jedenfalls nicht, dass du dich erinnern könntest.“

„Du doch auch nicht“, konterte ich und konnte mir ein freches Grinsen nicht verkneifen. „Du brauchst gar nicht so böse zu gucken. Ich weiß das du ein Testiculus bist und die dürfen vor ihrem fünfundzwanzigsten Lebensjahr – warum auch immer – keine Frau anfassen.“

„Ich bin aber schon seit ein paar Monaten fünfundzwanzig.“

Ja, das war wohl wahr. „Möchtest du mir damit sagen, dass du dich bereits anderweitig amüsiert hast?“, scherzte ich und hatte doch gleichzeitig plötzlich Herzflattern. Veith war ein potenter Mann – das konnte ich nun aus erster Hand bestätigen – und wenn er dann endlich die Erlaubnis hatte, alles flachzulegen, was bei drei nicht auf den Bäumen war, dann würde er doch …

„Nein“, sagte er ganz ernst und sah mir dabei tief in die Augen. Die Hand von meinem Rücken legte sich auf meine Wange und seine Lippen hauchten einen Kuss auf meine. „Du bist die erste.“

Ein ganzer Berg von Steinen fiel mir vom Herzen. „Dann sollte ich vielleicht dich fragen, wie es dir geht, weil ich ja die Erfahrene von uns beiden bin.“

„Nur, dass du dich nicht erinnern kannst.“

Leider konnte ich das doch, zumindest an diesen einen Moment, aber das würde ich ihm nicht sagen. Ich wollte nicht, dass er wusste, wie schmutzig ich war. „Dann heißt das wohl unentschieden“, versuchte ich zu scherzen, aber er spürte, dass plötzlich etwas anders war.

„Was ist los?“

„Nichts.“ Ich strich mit dem Finger über seine Seite und stellte befriedigt fest, dass er davon eine Gänsehaut bekam. „Ich will nur ewig mit dir hier liegen und den Rest der Welt vergessen.“ Oh ja, diese eine Sache wollte ich wirklich vergessen.

Veith schwieg eine Weile und seufzte dann leise. „Warum lügst du mich an, Talita?“

„Ich lüge nicht, ich …“ Sein Blick ließ mich verstummen und den Kopf senken. Das konnte ich ihm nicht sagen, niemals. „Bitte, ich möchte nicht darüber reden und diesem Moment kaputt machen.“

Er ließ den Mund geschlossen, doch als er mich fester an sich zog, wusste ich, dass sich sein Hirn sicher weiter mit diesem Thema beschäftigen würde.

Mit dem Finger strich ich die lange, helle Linie auf seiner Hüfte nach, die Narbe, die mir schon bei unserer ersten Begegnung aufgefallen war. Über den Hüftknochen, bis zu seinem Oberschenkel zog sie sich, ein Mahnmal vergangener Zeiten. „Woher hast du eigentlich diese Narbe?“

„Von einen Einhorn.“

„Einem Einhorn? Wirklich?“

Bei meiner ungläubigen Stimme, sah er auf mich hinunter. „Ja. Es war knapp, aber ich habe überlebt.“

„Moment, Auszeit.“ Ich richtete mich halb auf. „Willst du damit andeuten, dass ein Einhorn versucht hat, dich  umzubringen?“ Das war ja wohl ein Scherz. Einhörner waren sanftmütige, reine Wesen, die keiner Fliege etwas zuleide tun konnten.

„Ich war unvorsichtig, hatte mich auf eine Wette mit Jago eingelassen und verloren. Damals habe ich gerade mal acht Jahre gezählt.“ Er hob seine Hand, um mit dem Finger meine Kinnlinie nachzuzeichnen. „Eine Herde Einhörner hat am Rand unseres Reviers gelebt und ich hab behauptet, unbeschadet durch sie durchrennen zu können, ohne dass sie mich erwischen.“ Nun zog er selber die lange Narbe auf seiner Hüfte nach. „Ich habe mich getäuscht.“

„Was ist passiert?“

„Ein Hengst hat mich mit seinem Horn erwischt und versucht, mich aufzuspießen. Zum Glück war ich klein und wendig, sodass er mich nur hier erwischen konnte. Aber gerettet hat mich mein Papá. Pal hatte mitbekommen, was Jago und ich so getrieben haben und gepetzt.“

Na dann konnte er ja aber nur von Glück reden. Doch eine Sache verstand ich nicht. „Warum hat der Hengst dich angegriffen? Ich dachte immer, Einhörner sind liebe und sanftmütige Tieren.“

Auf seiner Stirn erschien wieder diese kleine Falte. „Einhörner sind gefährliche Tiere, die alles angreifen, was sich in ihre Nähe wagt, um ihre Herde zu ernähren.“

„Was? Einhörner sind doch Pflanzenfresser, warum sollten sie dann …“

„Einhörner sind Fleischfresser, mit rasiermesserscharfen Zähnen und nur die wenigstens schaffen es, ihnen zu entkommen.“ Er hielt seine Hand hoch. Erst glaubte ich, er wolle mich berühren, doch dann merkte ich, dass er mir seinen kleinen Finger zeigte, der einmal gebrochen war. „Aber niemand überlebt eine solche Begegnung unverletzt.“

Was sollte ich dazu sagen? In dieser Welt gab es halt immer noch eine Menge Dinge, die ich lernen musste. Fleischfressende Einhörner, was kam als nächstes? Vegetarische Piranhas? Fliegende Schweine? Ich hatte schon seltsamere Dinge in dieser Welt gesehen.

Nachdenklich zog ich seine Narbe ein weiteres Mal nach. Dass wir beide dabei splitterfasernackt waren, störte mich nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil, so hatte ich eine exquisite Aussicht.

„Woran denkst du?“

„Daran, wie seltsam diese Welt noch immer für mich ist, obwohl ich jetzt schon so lange hier lebe.“

Seine Finger wanderten über meine Lippen und in seine Augen brannte seine Sehnsucht, die mir drohte den Atem zu rauben. Das bildete ich mir doch nicht ein, oder? Obwohl, vielleicht war es einfach nur ein Wunschtraum und ich interpretierte etwas hinein, was gar nicht da war.

„Ich muss bald zurück, sonst wird Cui sich fragen, wo ich die ganze Zeit gewesen bin“, sagte Veith leise.

Das waren Worte, die ich jetzt gerade nicht hören wollte, nicht wo ich ihn so nah bei mir hatte – voll der Stimmungskiller. „Musst du dich etwa bei ihr abmelden?“

„Nein, aber es fällt auf, wenn ich regelmäßig für ein paar Stunden verschwinde.“ Er setzte sich auch auf und beugte sich zu deinem Kuss nach vorn, der so viel sagte, was er wahrscheinlich niemals aussprechen würde. Veith war ein Mann der Taten, nicht der Worte, obwohl ich feststellen musste, dass er sich in den letzten Tagen sehr weit geöffnet hatte – wenigstens mir gegenüber.

Als er sich von mir löste, vermisste ich ihn sofort, obwohl er doch direkt vor mir saß.

„Ich muss gehen und du auch.“

Ja, weil meine Mitbewohner komisch aus der Wäsche gucken würden, wenn ich die ganze Nacht weg bliebe, ohne ihnen erklären zu können, wo ich mich rumgetrieben hatte. Nicht, dass ich ihnen Rechenschaft schuldig wäre, aber wenn ich mich geheimniskrämerisch verhalten würde, kämen die beiden sicher auf den Gedanken, dass ich etwas vor ihnen verbarg und das war dringend zu vermeiden, da es den Kern der ganzen Sache treffen würde. „Du hast wahrscheinlich Recht.“ Seufz. „Außerdem brauche ich dringend eine Dusche, um den Matsch von Stellen zu bekommen, wo niemals Matsch hätte hinkommen dürfen. Und da unser Bad ja nicht so geklappt hat, wie ich mir das vorgestellt habe …“

„War das eine Beschwerde?“

„Nein.“ Ich grinste ihn frech an. „Wenn das immer dabei rauskommt, wenn wir im Matsch spielen, dann können wir das gerne öfter machen.“

„Ich bin dabei.“ Er küsste mich ein weiteres Mal, viel ausgiebiger als vorher, bevor er auf die Beine sprang und mich mit hochzog, damit ich am schlammigen Ufer nicht ausrutschte. Dabei kamen wir uns wieder so nahe, dass an Abschied noch eine ganze Weile nicht zu denken war. Auch das Zusammensuchen meiner Sachen und das Anziehen gestaltete sich mit Veith an der Seite schwieriger, als ich es für möglich gehalten hätte. Ständig waren seine Hände und Lippen an Stellen, die ein schnelles Vorrankommen erschwerten und erst als er sich zurück in einem Wolf verwandelte und sich vor mir einen Weg durch den Urwald schlängelte, schien der Abend wirklich zu Ende zu gehen, auch wenn ich ihn gerne hätte ewig dauern lassen.

Ich liebte Veith und auch, wenn ich wusste, dass es nicht ewig währen würde, so wünschte ich mir, dass es immer so bleiben könnte.

 

°°°°°

Tag 463

„Talita, Gaare ist am Vox.“

„Komm rein.“ Ich schloss noch schnell die Kommodenschublade in meinem Zimmer und nahm das kleine schwarze Glas von Pal entgegen, der sich prompt auf meinem Bett niederließ, anstatt den Raum wieder zu verlassen und mir meine Privatsphäre zu gönnen. Werwölfe! „Ja?“, fragte ich ins Vox hinein.

„Talita meine Liebe, ich habe hervorragende Neuigkeiten für dich.“

„Wirklich? Ist Anwar tot umgekippt?“ Ich ließ mich neben Pal auf die Matratze fallen, der ein leises Lachen ausstieß und zog die Beine in den Schneidersitz. Draußen prasselte schwacher Regen gegen das Fenster und ließ den Tag dunkel und düster erscheinen.

„Was? Anwar?“, fragte Gaare verwirrt. „Ist er krank?“

Ja, kopfkrank, aber das war eine andere Geschichte. „Vergiss es einfach. Was sind das denn für Neuigkeiten?“

 „Neuigkeiten? Was hast du für Neuigkeiten?“ Am anderen Ende der Leitung gab es einen Knall, etwas klirrte und dann entfuhr dem etwas zerstreuten Magier ein wirklich derber Fluch.

„Gaare? Alles in Ordnung bei dir?“

„Was? Oh ja, mir geht es gut. Mir ist nur gerade etwas aus der Hand gefallen. Moment.“ Und dann war die Leitung tot.

Ich guckte etwas verdutzt auf mein Vox und seufzte schwer. Mit Gaare zu telefonieren war jedes Mal aufs neues ein Abenteuer. Seufz.

„Na, was wollte er?“

„Das werde ich hoffentlich jetzt rausfinden.“ Denn wenn Gaare sich meldete, hatte das immer einen Grund, auch wenn man ihn nicht gleich erfuhr. Ich sprach den Namen des alten Magiers in das schwarze Glas und wartete darauf da er abnahm. Und wartete und wartete gleich noch ein bisschen länger, weil ich gerade so viel Spaß daran hatte – Sarkasmus lässt grüßen.

Es dauerte gefühlte drei Stunden, bis er endlich sein Vox in die Hand nahm. „Gaare von Sternheim, wer spricht da?“

„Ich bin´s, Talita.“

„Talita meine Liebe. Ich freu mich, dass du dich mal meldest, aber ich habe gerade keine Zeit. Mir ist etwas runtergefallen und ich muss dringend noch etwa erledigen.“ Er schwieg einen Moment. „Wenn ich nur wüsste, was das war.“

Oh Mann, mit Gaare ging es wirklich stetig bergab. „Kann es sein, dass du dich bei mir melden wolltest, weil du Neuigkeiten für mich hast?“

Am anderen Ende blieb es ruhig. Viel zu lange.

„Gaare?“

„Oh, Talita meine Liebe, schön, dass du dich einmal meldest, ich habe fantastische Neuigkeiten für dich.“

Ich runzelte die Stirn. Also langsam begann ich mir ernstlich Sorgen um ihn zu machen. Er war ja schon immer ein wenig neben sich gewesen, aber das nahm ja langsam schon bedenkliche Züge an.

„Gaare, geht es dir wirklich gut?“

„Natürlich, natürlich, ich bin nur gerade ein wenig beschäftigt, aber es ist schön, dass du dich meldest, ich wollte sowieso gleich bei dir anrufen. Der Zirkel des schwarzen Mondes hat eine Entscheidung getroffen, sie stellen dir ihr Tor zur Verfügen, du musst nur noch entscheiden, wann du es nutzen möchtest.“

„Sie haben … ja gesagt?“, entfuhr er mir beinahe flüsternd. Der Zirkel ließ mich sein Portal benutzen, ich konnte nach Hause. Ich wusste nicht so recht wie ich diese Information verarbeiten sollte. Das war … seltsam. Ja, dieser Gedanke war seltsam.

„Ja, sind das nicht tolle Neuigkeiten? Du musst mir nur noch mitteilen, wann du es nutzen möchtest, dann werde ich alles Weitere organisieren. Stell dir nur mal vor Talita, schon heute Abend kannst du wieder im Kreis deiner Familie sein, du musst es nur sagen.“

„Schon heute“, stellte ich betrübt fest. Eigentlich sollte ich nach dieser Nachricht doch vor Freude Luftsprünge machen, oder? Ich sollte glücklich sein, dass ich endlich nach Hause konnte und meine Erinnerungen wiederbekommen konnte, aber diese Empfindung wollte sich bei mir einfach nicht einstellen. Ich hatte eher das Gefühl, als würde mir ein ganzer Berg in den Magen fallen.

„Ja, ist das nicht fabelhaft?“

„Ja.“ Ich wollte hier nicht weg, nicht jetzt, wo ich gerade Veith gefunden hatte. Und dann waren da noch die Verlorenen Wölfe und das Verfahren mit den Lykanern. Ich konnte doch nicht einfach so alles stehen und liegen lassen, man brauchte mich hier doch, oder? Und was war mit Pal und Kaj? Ich warf dem Wolf neben mir einen kurzen Blick zu, der mich aufmerksam musterte.

„Wenn du möchtest, kann ich mich gleich bei den Schwestern des schwarzen Mondes melden und noch für heute den Übertritt arrangieren.“

„Ja … ich meine nein. Ich muss noch ein paar Dinge erledigen, ich … ich …“ Ja was Ich? „Ich kann nicht einfach so gehen.“

Einen Moment blieb es still in der Leitung und ich befürchtete schon, dass Gaare wieder aufgelegt hatte. „Oh, das verstehe ich natürlich“, kam seine Stimmte dann doch bei mir an.

„Ich brauch einfach noch ein paar Tage“, rechtfertigte ich mich. Ja ein paar Tage noch, dass würde mir sicher reichen, um mich an diesen Gedanken zu gewöhnen, alles zu verlassen, was ich kannte. „Ich melde mich dann bei dir, okay?“

„Natürlich, wenn du das wünschst. Aber lass dir nicht zu viel Zeit. Hexen sind launische Geschöpfe. Schon Morgen könnten sie dir die Erlaubnis wieder entziehen und sie würden dir nicht mal einen Grund nennen.“

Sollte das heißen, das war meine einzige Chance? Heute oder gar nicht? Aber ich konnte doch nicht einfach so verschwinden! Nicht jetzt, nicht im Moment, wo Veith endlich der Meine war. „Aber Boudicca mag mich“, gab ich schwach zu bedenken.

„Ja, was wohl auch einer der Gründe ist, warum sie dir gestatten … oh, ich muss auflegen, da kommt Besuch.“ Und schon war die Verbindung wieder unterbrochen.

Einen Moment saß ich einfach nur so da, bevor ich das Vox langsam von meinem Ohr in meinen Schoß sinken ließ. Was sollte ich den jetzt nur tun?

„Was ist los?“, fragte Pal besorgt und legte mir eine Hand aufs Bein. Die Brandwunde auf seinem Gesicht verzog sich dabei auf eine befremdliche Weise und tauchte sein Gesicht in Schatten.

„Das war Gaare und … ich kann nach Hause.“ Diese Worte wollten mir kaum über die Lippen kommen. Warum? Warum fiel es mir plötzlich so schwer, mich von all dem hier zu lösen, wo es doch die ganze Zeit mein größter Wunsch war? Seit ich auf Fangs Dachboden aufgewacht war, wollte ich nichts weiter als zurück in die Welt, aus der ich kam und jetzt, wo ich die Chance hatte, zögerte ich. War wirklich Veith der Grund, oder gab es da noch mehr?

„Nach Hause?“ Pal sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Klar, in seinen Augen war ich bereits zu Hause.

„Da, wo ich herkomme, in die Welt der Menschen.“ Ich drehte das Vox in meinen Händen. Sowas gab es dort nicht. „Wenn ich will, kann ich noch heute zurück in meine Welt.“

Pal machte den Mund auf, aber kein Ton kam heraus. Tja, da waren wir wohl beide sprachlos. Was sagte man auch in so einer Situation? War ja nicht so, dass ich nur ein paar Straßen weiter zog, wo er mich hin und wieder besuchen könnte. Ich würde in eine ganz andere Welt gehen, in eine Welt, von der ich nicht wusste, was genau mich dort erwarten würde. Was, wenn ich meine Erinnerung trotzdem nicht zurück bekäme? Dann würde ich wieder bei null anfangen. Oder wenn das, was mich erwartetet, nicht glücklich machte?

„Möchtest du denn gehen?“, fragte er mich leise, fast zögernd, so als hätte er eigentlich Angst vor der Antwort.

Ja, genau das war die Frage. „Ich weiß nicht. Irgendwie schon, aber …“ Ich biss mir auf die Lippen.

„Komm her.“ Pal öffnete die Arme und ich schmiegte mich nur zu gerne hinein. Das war mir vertraut, das kannte und mochte ich. Es gab mir Halt. Diese Umarmung, diese Nähe war real, was auf der anderen Seite des Portals lag, das war der Traum. Das kannte ich nicht, jedenfalls nicht so, wie ich diese Welt kannte. Es war mir jetzt genauso fremd, wie es diese Welt zu Anfang gewesen war.

„Es kommt mir fast so vor, als wäre das hier meine Welt“, sagte ich leise. „Die andere ist nur ein Mythos für mich.“

„Du musst nicht gehen.“ Mit dem Finger hob er mein Kinn etwas an und musterte mich. „Du kannst hier bleiben, das weißt du, oder?“

Natürlich konnte ich auch hier bleiben, das war mir klar. Doch auch am Ende dieses Gedankens gab es das berühmt berüchtigte Aber. „Aber was, wenn ich es irgendwann bereue, nicht gegangen zu sein und das meine einzige Chance ist?“

„Und was, wenn du bereust, es doch getan zu haben?“, stellte er die Gegenfrage. „Glaubst du, du kannst ein weiteres Mal zu uns gelangen?“

„Ich weiß nicht.“ Ich schmiegte meinen Kopf zurück an Pals Brust und starrte vor mir ins Leere. Im Moment hatte ich absolut keine Ahnung was ich machen sollte. Es gab so viele Gründe hier zu bleiben, aber sie alle waren vergänglich. Die Verlorenen Wölfe würden irgendwann geheilt sein, dann hätte ich keinen Job mehr und müsste mir was Neues suche, weil der Hohe Rat mich sicher nicht finanziell unterstützen würde, wenn ich nur rumsäße. Und Veith …

Bei dem Gedanken an ihn überkam mich eine tiefe Traurigkeit. Ich wusste, dass das, was wir hatten, nicht für die Ewigkeit war, es würde zu Ende gehen, früher oder später würde er mich verlassen. Doch das, was auf der anderen Seite war, wäre für die Ewigkeit. Meine Erinnerungen.

„Musst du dich denn sofort entscheiden? Musst du heute gehen?“, wollte er leise wissen.

Ja, auch Pal würde ich zurück lassen. Genau wie Kaj, Raissa und meinen Big Daddy, aber was war mit meiner Familie auf der anderen Seite? Was war mit meinen Freunden dort drüben? „Nein, ein paar Tage habe ich noch.“ Zumindest hoffte ich das.

Pal zog mich fester an seine Brust. So saßen wir dann schweigend da und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Selbst als die Schritte von Kaj durch die Wohnung ertönten, bewegten wir uns nicht.

„Ach hier seid ihr. Ich …“ Im gleichen Moment, in dem sie uns sah, verstummte sie und Pals Kopf wirbelte zur Tür herum. Der Ausdruck in ihrem Gesicht wurde verschlossen. „Tut mir leid, ich wollte nicht stören.“ Damit verschwand sie auch wieder.

Verwirrt sah ich ihr hinter. „Was war das denn?“

Pal drehte sein Gesicht zu mir herum und neigte den Kopf nachdenklich zur Seite. Dabei musterte er jeden Zug in meinem Gesicht.

„Warum guckst du so?“

Sein Blick schnellte zu meinen Augen und senkte sich dann auf meinem Mund. Das blinde Auge war dabei sehr irritierend.

„Pal?“

„Ich würde gerne etwas probieren“, murmelte er und in der nächsten Sekunde lagen seine Lippen auf meinen.

Ich war zu überrumpelt, um irgendwas zu machen – außer starr vor Schreck dazusitzen – und als ich mich wieder so weit im Griff hatte, um zu reagieren – um ihn zum Beispiel wegzustoßen, eine zu kleben, oder etwas Hartes über den Kopf zu ziehen, um ihn etwas Vernunft einzubläuen –, hatte er sich bereits wieder zurückgezogen und sah mich mit großen, erstaunten Augen an.

„Spinnst du?!“ Ich wich bis ans Kopfende des Bettes zurück und wischte mir mit der Hand über den Mund. Der tickte doch wohl nicht mehr richtig. Das war … naja, nicht widerlich, aber es hatte sich falsch angefühlt. Das durfte er nicht, nur Veith hatte das Recht dazu.

Pal grinste nur. Erst nur ganz wenig und dann wurde es immer breiter. Das machte mich echt sauer. Was bildete der Kerl sich eigentlich ein? Erst küsste er mich und dann grinste er blöde. Das gab es doch einfach nicht!

„Findest du das jetzt auch noch witzig, oder was?!“, fuhr ich ihn an. Ich rutschte aus dem Bett und machte mich auf den Weg zur Tür. Ich musste hier raus und zwar ganz dringend, bevor ich noch etwas Unüberlegtes tat, wie ihn umzubringen, oder mich wegen Veith zu verplappern.

„Nein, warte Talita, wo willst du denn hin?“

„Weg von dir!“, fauchte ich durch den Flur, als ich bereits die Wohnungstür aufriss.

„Nein, hey, warte doch bitte.“ Eilig lief er mir hinterher, stürzte hinter mir die Treppen im Hausflur runter, um mich noch einzuholen, aber ich blieb nicht stehen. Nur weg von ihm.

„Talita, bitte bleib stehen, du verstehst das nicht.“

„Nein, verstehen tut ich das wirklich nicht! Ich habe dir bereits gesagt, dass das nichts werden kann!“, schallte meine Stimme durch den Hausflur. Ich stürmte hinaus auf die Straße, in den leichten Nieselregen und sah mich nach einem Taxi um. Keines da. War ja klar. Immer, wenn man eines brauchte, dann bekam man keines.

„Talita, jetzt warte doch mal.“

Ich dachte nicht im Traum daran und fauchte ihn nur an, als er seine Hand nach mir ausstreckte, um mich aufzuhalten. „Hat dir die Abfuhr im Wald nicht gereicht? Ich dachte eigentlich, dass ich mich deutlich ausgedrückt habe. Ich will nichts von dir Pal und ich will nicht, dass du sowas noch einmal machst!“

„Aber es war doch gar nicht so wie du denkst“, versuchte er mich zu überzeugen. „Ich wollte doch nur …“

„Ich will das nicht hören, also geh weg und lass mich in Ruhe!“, schrie ich ihn an und ließ ihn einfach stehen. Dass er das gemacht hatte, obwohl er wusste, dass ich das nicht wollte … das war einfach das Letzte. Nur Veith durfte das, nur mein großer, böser Wolf und das war einfach … ahhh! Warum hatte er das nur gemacht? Er wusste doch, wie es um meine Gefühle stand, war einer der Ersten gewesen, der es kapiert hatte und damit, dass ich ihn auf die Couch verbannt hatte, hätte doch eigentlich alles glasklar sein müssen!

Aber … scheiße, warum fühlte ich mich jetzt eigentlich schlecht? Ich hatte doch nun wirklich nichts Falsches gemacht. Der Kuss war kein Betrug an Veith, weil ich Pal eine geklebt hätte, wenn ich nicht so überrascht gewesen wäre und dass ich Pal so angefahren hatte, war seine eigene Schuld. Ich hatte also keinen Grund für ein schlechtes Gewissen.

Mist verdammter, ich brauchte dringend eine Auszeit, um meine Gedanken zu ordnen. Weg von allem und jedem. Da gab es eigentlich nur einen Ort, auch wenn ich erst später vorgehabt hatte, dorthin zu gehen und meinen großen, bösen Wolf zu treffen.

 

°°°

 

Um sich vor dem Nieselregen zu schützen, lag Saphir zusammen mit den Verlorenen Wölfen am Rand der Lichtung an der Höhle, unter ein paar ausladenden Ästen der Würgefeige, die ihr wirres Wurzelwerk in den Fels krallte. Der Blick der Wölfin richtete sich sofort auf mich, als ich unter den Bäumen des Waldes hervortrat und ich glaubte darin etwas wie Tadel zu erkennen, obwohl ich nicht wusste, was ich angestellt haben könnte.

Wirklich nicht?, fragte das kleine, fiese Stimmchen in meinem Hinterkopf.

Ich ignorierte es einfach. Veith war meine Sache und wenn ich ihn mit her brachte, ging sie das auch nichts an, nicht solange der Heilungsprozess der Verlorenen Wölfe dadurch nicht gestört wurde.

Über den aufgeweichten Boden ging ich zur Höhle und achtete sorgsam darauf, dass ich in keine Pfütze trat. Wasser von oben reichte mir schon, da brauchte ich das nicht auch noch zwischen den Zehen. Nun ja, zumindest nicht, wenn Veith nicht in der Nähe war und er nicht, naja … okay, räusper. Als die Erinnerungen vom gestrigen Abend in mir hochstiegen, wurden meine Wangen ganz heiß. Zum Glück war das durch das Fell nicht zu sehen.

Saphir ließ mich nicht aus den Augen, als ich den Beutel in die Höhle warf, einen Augenblick auf Geisterstimmen lauschten, die nicht erklangen und mich dann seufzend am Eingang an die Wand lehnte, um den Regentropfen beim Fallen zuzusehen.

„Wenn das Herz einen anderen Weg geht wie der Verstand, bleibst du auf der Strecke.“

Verwirrt richtete ich meinen Blick auf sie. „Ich … ähm, was?“

„Das hat einmal meine Tante zu mir gesagt.“ Sie setzte sich auf und fixierte mich mit einem Blick, wie es nur Wölfen möglich war. „Ich heiße es nicht gut, dass du diesen Lykaner hier reinbringst, aber ich sage nichts. Es geht mich nichts an und solange er keine Bedrohung für die Verlorenen Wölfe ist, störe ich mich an seiner Anwesenheit nicht.“

„Aber?“, fragte ich lauernd. Da musste einfach noch etwas kommen, sie sah nicht so aus, als wäre sie mit ihrer kleinen Rede bereits fertig.

„Du warst zwar gestern hier, hast aber nicht nach deinen Wölfen gesehen.“

„Ich habe …“ Meine Augen wurden groß, als mir klar wurde, dass sie Recht hatte. Ich hatte gestern mit Veith rumgealbert und … andere Dinge getan, aber nicht einen meiner Wölfe gesehen, weil ich zu abgelenkt war. Wie hatte mir das nur passieren können?

„Du bist verliebt“, räumte sie ein, „das verstehe ich, aber es geht nicht, dass du deine Pflichten vernachlässigst. Die Verlorenen Wölfe brauchen dich, brauchen deine Beständigkeit in ihrem Leben. Jede Abweichung von der Norm schadet ihnen und das ist nicht gut.“ Ihr Blick glitt in die Höhle in die hinterste Ecke, wo Junina sich zusammengerollt hatte und stumpf ins Leere starrte. Sie mochte vielleicht körperlich anwesend sein, aber im Geiste blieb sie bei Lokos. Die Trauer über den Verlust ihres Gefährten ging so tief, dass sogar die anderen Wölfe dies spürten und sehr vorsichtig mit ihr umgingen. Das war ein deutliches Zeichen dafür, dass diese Wesen mehr waren, als nur die Tiere, für die sie gehalten wurden.

Was würde geschehen, wenn ich heute Abend einfach in meine Welt zurückkehren würde? Was würde aus den Lykanern werden? Oder aus dem Verfahren, das morgen weiterging? „Es tut mir leid“, sagte ich schwach und besann mich wieder auf das, was Saphir gesagt hatte. „Es wird nicht mehr vorkommen.“ In Zukunft würde ich wieder auf meine Wölfe aufpassen und ich würde auch bleiben, bis der letzte von ihnen geheilt war. Ich musste halt einfach darauf hoffen, dass die Hexen mich ihr Tor auch noch danach benutzen ließen. „Ich … es war so viel los, ich habe nicht daran gedacht und …“

„Du musste dich nicht bei mir entschuldigen“, sagte sie sanft. „Du trägst eine große Last auf deinen Schultern, das ist mir durchaus bewusst. Zwar hast du dir vieles davon selber aufgebürdet, aber immer nur um etwas zum Besseren zu wenden. Ich verstehe, dass du hin und wieder eine Auszeit möchtest, dass du auch mal Zeit für dich brauchst.“ Sie kam zu mir und stupste mich mit der Nase in die Wange. „Du bist noch so jung und hast bereits viel durchgemacht, aber auch wenn du manchmal unter der Last die du trägst zu zerbrechen drohst, du bist stark genug, um sie zu tragen. Das schließt die Verlorenen Wölfe mit ein. Du darfst sie nicht vernachlässigen.“

Weil sie mich brauchten, weil ich zu ihnen gehörte, zumindest bis sie wieder wussten, wer sie waren und mich zurückstoßen konnten. Ich drückte die Lippen zusammen. Warum tat ich das alles eigentlich? Anerkennung bekam ich dafür keine und es brachte mir eigentlich nichts anderes als Ärger ein, mich mit den Lykanern und den Verlorenen Wölfen abzugeben. Manchmal fragte ich mich, ob mein Leben auf der anderen Seite einfacher gewesen war.

Die Antwort auf diese Frage, lag zum Greifen nahe, aber ich konnte das alles hier nicht einfach so im Stich lassen, so war ich nicht. Vielleicht war ich es früher einmal gewesen, aber im Moment war das hier eines der wichtigsten Dinge in meinem Leben. Wie widersprüchlich das klang. Einerseits nervte es mich, andererseits konnte ich nicht ohne. Brauchte ich es, um mich zu definieren? Und wenn ja, was hatte mich früher ausgemacht? Vielleicht war es aber auch etwas ganz anderes, was mich ausmachte, nur was und warum zum Teufel stellte ich mir gerade solche Fragen? Seufz.

Ich legte den Kopf auf die angezogenen Knie und beobachtete Saphir dabei, wie sie zu Junina in die Höhle trappte und sie durch Stupsen dazu bewegen wollte, aufzustehen. Als das nicht klappte, zwickte sie ihrer Tochter leicht in die Flanke, doch mehr als ein unwilliges Knurren bekam sie nicht. Die lebhafte Wölfin so zu sehen, tat mir im Herzen weh. Nichts war mehr von dem übrig, wie ich sie kennengelernt hatte, nicht mehr, seit Lokos tot war. „Wird sie darüber hinwegkommen?“, fragte ich leise.

„Vielleicht“, war alles, was Saphir dazu zu sagen hatte, bevor sie sich niedergeschlagen neben ihre Tochter legte, um sie ein wenig zu wärmen.

Der kugelrunde Bauch von Junina wurde dabei verdeckt. Bis zur Geburt konnte es nicht mehr lange dauern und wenn es so weit war, würde es neue Probleme mit sich bringen. Die Zukunft sah im Moment alles andere als rosig aus, egal aus welchem Blickwinkel ich sie beachtete. Ob es einen Unterschied machen würde, ob ich bleibe oder ginge? Ich war mir nicht sicher.

Ich starrte lange in die Ecke, auf die beiden Wölfinnen, bevor Saphir mir ihren Kopf zudrehte. „Was liegt dir auf dem Herzen?“

„Wie kommst du darauf, dass mir etwas auf dem Herzen liegt?“, fragte ich überrascht.

„Ich sehe es an deinen Augen und merke es an deinem Verhalten.“ Einen Moment schwieg sie und musterte mich genau, als wollte sie sich von ihrer eigenen Aussage noch einmal überzeugen. „Du bist heute nicht hier her gekommen, um nach den Verlorenen Wölfen zu sehen. Auch nicht, um deinen Liebhaber zu treffen, also bist du aus einem anderen Grund hier.“

Liebhaber? Hatte sie das wirklich gerade gesagt? Ich verzog das Gesicht. Das hörte sich wie aus einer schlechten Liebesromanze an. Obwohl, irgendwie war das, was Veith und ich hatten, ja auch etwas in der Art. Also nicht schlecht, nicht so wirklich jedenfalls, auch wenn mir diese Heimlichtuerei bereits jetzt tierisch auf den Sack ging.

Seufz.

„Gaare hat sich bei mir gemeldet, bevor ich hergekommen bin.“ Und dann hatte Pal mich geküsst. Ich konnte es immer noch nicht richtig fassen, dass er das getan hatte. Natürlich wusste er nichts von mir und Veith, aber in der Vergangenheit hatte ich mich doch eigentlich klar ausgedrückt, dass zwischen uns nichts laufen konnte, oder?

Saphir wartete still darauf, dass ich weitersprach.

„Ich war vor ein paar Tagen bei dem Hexenzirkel der Schwestern des schwarzen Mondes, um sie zu bitten, mich ihr Portal benutzen zu lassen.“

„Das hattest du mir bereits erzählt.“

Hatte ich das? Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern. Die letzten Tage und Wochen waren sowieso leicht verschwommen. Es war einfach zu viel passiert. „Ich darf ihr Tor benutzen und kann zurück in meine Welt.“ Ich schwieg einen Moment. „Schon heute Abend kann ich wieder zu Hause sein.“

Saphir legte den Kopf leicht schief und ich musste eine weitere Musterung über mich ergehen lassen. „Bei so einer Nachricht hätte ich eigentlich damit gerechnet, dass du dich freuen würdest, aber das scheinst du nicht zu tun.“

„Ich freue mich auch nicht.“ Auch wenn ich nicht wusste, wie genau ich mich deswegen fühlte, dass ich mich nicht freute, war glasklar.

„Und das macht dir nun zu schaffen.“

Es war eine Feststellung, keine Frage, also brauchte ich auch nicht darauf reagieren.

Leichtfüßig stand Saphir auf und setzte sich neben mich, um mit mir zusammen den Nieselregen zu beobachten. „Du hast Angst vor der Zukunft, Angst vor dem, was kommen könnte, bist unsicher. Alles was du kennst, lebt auf dieser Seite des Portals, alles was dich ausmacht, ist hier, weil du nicht weißt, wer du einmal gewesen bist.“

Das war eine ziemlich gute Zusammenfassung meiner Gefühlswelt.

„Und dann ist da noch dieser Lykaner, an den du dein Herz verloren hast.“

„Es wird nicht halten“, sagte ich leise. „Ich weiß es. Er führt ein Leben, in das er zurück muss. Früher oder später werden wir wieder getrennte Wege gehen.“

Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander und sahen den Tropfen zu, die nur noch vereinzelt dem Boden entgegen strebten.

„Es ist gut, dass du das weißt.“ Sie wandte mir ihren schönen weißen Kopf zu. „Sag mir, Talita, warum bleibst du nicht einfach hier? In dieser Welt wird es immer einen Platz für dich geben, auch wenn der nicht bei den Lykanern ist, du musst ihn nur suchen.“

„Aber wenn ich hierbleibe, dann ist meine Erinnerung für immer verloren.“

Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. „Du hast mir doch aber erzählt, dass immer mal wieder Ausschnitte aus deiner Vergangenheit zu dir zurückkehren. Könnte es nicht sein, dass sie irgendwann alle wieder da sind?“

Natürlich lag das durchaus im Bereich des Möglichen, aber … „Und wenn sie nicht zu mir zurückkehren?“

„Ist es für dich wirklich so schwer, ohne sie zu leben?“

„Sie sind wichtig für mich. Ich will wissen, wer ich einmal gewesen bin, wer ich sein könnte, aber hier habe ich keine Vergangenheit.“

„In der Vergangenheit zu leben, bringt dich niemals vorwärts. Ich verstehe dich und kann mir wahrscheinlich gar nicht vorstellen, wie es ist, in deiner Situation zu sein, aber eines solltest du dir unbedingt merken: Das Leben spielt nicht dort, wo wir einmal gewesen sind, sondern dort, wo wir noch hinkommen. Du willst deine Erinnerungen, um dich vollständig zu fühlen, doch dabei vergisst du einen entscheidenden Punkt. Vielleicht machen deine Erinnerungen dich zu dem, der du bist, doch du bist bereits seit über einem Jahr in dieser Welt und auch hier hast du viele Erinnerungen gesammelt, sowohl schöne, als auch schlechte. Dieses Erlebte hat dich zu einer jungen, starken Frau geformt. Willst du das wirklich alles aufgeben, nur um zu etwas zurückzukehren, was du gar nicht kennst? Wer weiß ob es dir gefällt, dass zu sehen, was du einmal warst.“ Sie stand auf und wandte sich zurück zur Höhle. „Denk einmal darüber nach“, sagte sie noch, bevor sie sich wieder zu Junina gesellte, die ihre Anwesenheit nicht mal zu bemerken schien.

 

°°°

 

Ich verharrte nicht mehr lange bei der Höhle, die Wölfe hatten Hunger. Ich musste sie zwar nicht jeden Tag füttern, weil sie sonst nur dick und träge werden würden, doch wenn die Mägen anfingen zu knurren, dann war es allerhöchste Zeit, zu dem kleinen Kühllager auf der Rückseite des Parks zu gehen, um die ausgebluteten Rinderhälften ins Schild zu tragen. Weit brauchte ich sie nicht schleppen, nur bis kurz hinter die Bäume. Dort stürzten sich die Wölfe bereits auf ihre Beute, als sei es die letzte Mahlzeit, die sie jemals bekommen würden.

Es wurde gedrängelt, geschubst, geknurrt und nach den anderen geschnappt, bis man sich ein Stück erbeutet hatte, mit dem man sich dann schleunigst vor den anderen in Sicherheit brachte, bevor sie es einem wieder abluchsen konnten. Jedes Mal das gleiche Spielchen, obwohl …

Ich runzelte die Stirn und ließ meine Augen ein weiteres Mal über die hungrige Meute gleiten, die sich noch um die kläglichen Reste stritt. Doch auch dieses Mal sah ich nur Wölfe. Wo war Simyo? Klar, er blieb immer irgendwo im Hintergrund, bist die anderen so weit weg waren – schließlich hatte er nicht so kräftige Kiefer wie die Wölfe, um ordentlich mitmischen zu können –, aber auch im Unterholz um uns herum konnte ich ihn nicht entdecken. Seltsam.

Ich beschloss trotz des Verschwindens erst mal Grey in seinem Zwinger zu füttern und Simyo – wenn er bis zu meiner Rückkehr nicht wieder aufgetaucht war – zu suchen.

Grey brauchte keine ganze Rinderhälfte. Trotzdem war das Stück, das ich zu den Zwingern buckeln musste, nicht ohne. Er war immerhin ein ziemlich großer Wolf, mit einem ziemlich großen Hunger, der nur friedlich blieb, wenn sein Magen gefüllt war – naja, so mehr oder weniger jedenfalls.

Die Routine Grey zu füttern, war mir mittlerweile ins Blut übergegangen. Futter zu ihm in den Zwinger und anschließend schleunigst wieder raus, bevor er mir in den Schwanz beißen konnte. Kein Scherz, dass hatte er bereits mehrmals versucht – zum Glück erfolglos.

Der Himmel war noch immer zugezogen, aber wenigstens trocken – auch wenn es so aussah, als würde da nachher wieder ordentlich etwas runterkommen –, sodass ich mir eine halbwegs saubere Stelle suchen konnte, wo mein Hintern nicht sofort durchgeweicht wurde. Von dort aus beobachtete ich, wie Grey seine Beute eilig verschlang und dabei alles anknurrte, was sich wagte, zu bewegen, wenn er mit essen beschäftigt war und sei es nur ein einzelnes Blatt, dass durch den Wind in den Zweigen wippte. Aber noch besser als das, was ich sah, war das, was ich hörte. Es war wirklich lustig, wie Grey gleichzeitig aß und knurrte, um nichtvorhandene Konkurrenz von seinem Fressen fernzuhalten. Besonders, als da ein dreister Frosch des Weges kam und wagte, an dem Zwinger vorbei zu hüpfen. Wäre der Zaun nicht dazwischen gewesen, hätte der Frosch als Nachspeise geendet. So hüpfte er einfach leicht erschrocken davon und Grey wandte sich mürrisch zurück zu seiner Mahlzeit. 

Erst als er sie schmatzend beendet hatte und sich die Schnauze leckte, ließ ich ihn heraus. Das lief aber nicht, ohne eine kleine List anzuwenden, da ich Grey nicht ohne Maulkorb rumlaufen ließ. Aber das war ganz einfach. Nur ein kleines Stück Fleisch in den Maulkorb packen und sobald er die Schnauze reinsteckte, um es sich zu holen, schnell den Verschluss verschließen. In diesem Moment war es immer von Vorteil, dass die Verlorenen Wölfe nicht intelligenter als Tiere waren, so konnte ich diesen Trick jedes Mal aufs Neue anwenden, bevor ich Grey hinaus zu den anderen ließ.

Nach der Fütterung war es bereits fast an der Zeit, Veith am Schild abzuholen, aber ich machte vorher noch einen kleinen Umweg, über den Futterplatz, in der Hoffnung, Simyo dort vorzufinden, weil ich ansonsten den Park nach ihm absuchen müsste.

Die ganze Beschäftigung mit den Wölfen tat mir gut, weil sie verhinderte, dass ich nachdenken konnte – zumindest über die Themen, die ich im Moment ruhen lassen wollte. Nur zu Veith schweiften sie manchmal ab, aber das war okay. Mehr als das sogar.

Ganz bis zum Futterplatz musste ich nicht zurück, ich entdeckte Simyo schon vorher. Er hockte in einem dichten Farn und beobachtete die anderen Wölfe aus dem Dickicht heraus. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, er lag auf der Lauer, um einen der anderen spielerisch anzugreifen, aber dass er nicht zum Fressen kam, war schon seltsam. Auch, wie er sich leicht zurückzog, als er mich bemerkte. Ich runzelte die Stirn, komisch. Das sollte ich auf jeden Fall im Auge behalten. Solche Verhaltensauffälligkeiten waren meistens die ersten Anzeichen, für eine Rückkehr der Lykanermagie. Doch als ich mich umwandte, um Veith am Schild abzuholen, folgte er mir genauso neugierig wie die anderen Wölfe und verhielt sich dabei kein bisschen anderes. Hm, vielleicht hatte er wirklich einfach keinen Hunger gehabt. Aber all diese Gedanken waren sowieso dahin, sobald ich Veith an unserem Treffpunkt sah. Ohne ein Wort, oder eine überflüssige Berührung führte ich ihn durch das Schild. Allein seine Hand zu halten, ließ meine Haut kribbeln und Erwartungen in mir aufkommen, die ich nicht benennen konnte. Zwischen uns schien eine Spannung zu bestehen, die nichts mit den Verlorenen Wölfen zu tun hatte, die uns durchs Unterholz begleiteten – wenn auch mit ein wenig Abstand.

Kaum, dass wir vom Dickicht geschluckt wurden, riss Veith mich an seine Brust und legte seine Lippen auf meine. Das war definitiv kein Begrüßungskuss, dafür war er einfach zu intensiv und dass ich mich an ihn schmiegte und meine Arme um seinen Nacken schlang, um ihn noch näher bei mir zu wissen, machte es wohl auch nicht gerade … nun ja, jugendfreier.

Seine Hände wanderten besitzergreifend an meine Taille, als fürchtete er, ich könnte ihm sonst weglaufen – was ich in dieser Situation mit hundertprozentiger Sicherheit nicht vorhatte.

Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis wir wieder voneinander ablassen konnten und uns einfach nur in den Armen hielten. Und das auch nur, weil Isla halb neben uns saß und uns mit einem heiseren Kläffen auf sich aufmerksam machte – ganz nach dem Motto: Hey, ihr seid hier nicht allein, sucht euch ein Zimmer. Oder auch: Wir sind auch noch da, ignoriert uns nicht.

Ich grinste Veith in die leicht verschleierten Augen. Sein Mund war feucht und rot und sein Blick sprach von einem Hunger, der meinen ganzen Körper unter Strom setzte. „Da hat mich wohl jemand vermisst.“

„Ja.“ Kurz und Bündig und völlig ehrlich.

Oh Mann, ich liebte diesen Wolf.

Er strich mir eine grüne Strähne hinters Ohr und hauchte mir einen weiteren, kurzen Kuss auf den Mund, ohne mich loszulassen. „Ich vermisse dich immer, wenn du nicht bei mir bist.“

Wie es mir in diesem Moment gelang, nicht zu einem kleinen Wachspfützchen zusammenzuschmelzen, war mir nicht ganz klar, aber ich schaffte es. „Wer hätte gedacht, dass du so romantisch sein kannst.“

Auf seiner Stirn, erschien die kleine, vertraute Falte. „Das war nicht romantisch, ich war nur ehrlich.“

Das entlockte mir ein kleines Lachen. Wenn er sowas sagte, wirkte er fast unschuldig. Ein Wort, das irgendwie nicht so recht zu Veith passen wollte.

Während ich noch seine Mentalitäten durchdachte und dabei fast in diesem heißen Blick verbrannte, knurrte er leise. Nein, das hatte nichts mit mir zu tun, sondern mit den Verlorenen Wölfen, die neugierig näher geschlichen waren, um den Neuling zu beschnüffeln – am Hintern. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich nicht darauf bestanden hatte, dass er sich verwandelte und nun als Mortatia im Wald stand. Mist.

„Vielleicht solltest du dich verwandeln, nur so zur Sicherheit.“

„Brauche ich nicht.“ Er warf den Wölfen einen warnenden Blick zu, den ich nur als dominant beschreiben konnte – sie zogen sich sofort ein paar Schritte von ihm zurück – und nahm meine Hand in seine. „Komm.“

Ich ließ mich ohne Gegenwehr mit ihm mitziehen. „Wo gehen wir hin?“

„Weiß ich nicht.“

Na toll. „Wenn du es nichts weißt, wer dann?“

„Ich werde es wissen, wenn ich es sehe.“

Hm, klare Aussagen waren heute wohl nicht so ganz sein Spezialgebiet. Ich ließ ihn einfach machen und folgte brav. Dabei bekam ich einen ausgezeichneten Blick auf seinen Hintern, der beim Laufen immer wieder unter dem Lendenschurz hervorguckte. Gerade wurden mir zum ersten Mal die Vorzüge eines Lendenschurzes klar. Nur ein kleines Stückchen Stoff, das zwischen mir und …

„Wenn du mich weiter so anguckst, garantiere ich nicht dafür, dass wir ans Ziel kommen.“

Erwischt. Hochrot richtete ich meinen Blick hastig wieder nach vorn und bemerkte zum ersten Mal den kleinen Beutel, den Veith um sein Handgelenk geschlungen hatte. Zu meiner Entschuldigung war zu sagen, dass ich ja auch auf andere Dinge geachtet hatte, als auf sein Handgelenk. Zum Beispiel auf sein markantes Gesicht, die ausgeprägte Brust, die verführerischen Lippen, die so tolle Sachen mit mir machen konnten, den Knackhintern …

„Du siehst mich schon wieder so an.“

Mist, schon wieder erwischt. Verdammter Hormonhaushalt. Ich führte mich ja fast schlimmer auf, als ein liebeskranker Teenager.

Was heißt hier fast?

Ruhe da auf den billigen Plätzen. „Was hast du da in dem Beutel?“

Er warf mir einen schnellen Blick zu, lief leicht rot an und sah dann wieder hastig nach vorn. „Das wirst du gleich sehen.“

Wie jetzt, war er etwa peinlich berührt? Das machte mich neugierig. „Nun sag schon.“

„Etwas zu essen“, nuschelte er so leise, dass ich mich anstrengen musste, ihn zu verstehen.

„Essen?“ Ich lief fast in Veit hinein, als er plötzlich vor einem dichtgewachsenen Strauch unter einem tiefhängenden Ast eines Lebensbaumes stehen blieb und in den kleinen Hohlraum spähte, der dazwischen entstanden war. Klein und gemütlich, ein richtig süßes Nest. „Und wieso ist es dir peinlich, mir etwas zu Essen mitzubringen?“

„Es ist mir nicht peinlich.“

So, wie er sich aufführte, konnte ich ihm das nicht so ganz abnehmen, beließ es aber erstmals dabei.

„Hier ist es gut. Komm.“ Veith ließ meine Hand los und kroch in den kleinen Hohlraum. Dabei musste er einen von den Wölfen wegschubsen, der neugierig seinen Kopf hineinsteckte. Ich folgte ihm nach einen Moment in die kleine Kuschelhöhle, die gerade genug Platz ließ, dass wir uns nebeneinander ausstrecken konnten.

„Und jetzt?“, fragte ich und konnte es nicht verhindern, dass mein Herzschlag sich beschleunigte. Er war so nahe vor mir, dass ich seinen Atem auf dem Gesicht spüren konnte. Langsam aber stetig ließ ich meine Magie abfließen, bis ich ihm als Mensch gegenüberlag. Ja, normalerweise wandelte ich mich nicht im Schild, aber hier drinnen war das sicher okay.

Sein Blick huschte auf den Beutel in seiner Hand, was dazu führte, dass seine Wangen wieder leicht rosig wurden. „Ich hab dir etwas mitgebracht.“ Mit fahrigen Fingern öffnete er die kleine, braune Tasche und holte eine Dose heraus, die er mir ohne Umschweife in die Hand drückte.

„Und das macht dich so nervös?“, zog ich ihn auf. Neugierig nahm ich den Deckel von der Dose und blickte auf etwas, das wohl eine Süßigkeit war. „Was ist das?“

„Es nennt sich Mellinia, eine süße Speise.“ Er nahm ein kleines, würfelartiges Gebilde heraus, das aussah, als sei es mit Schokolade überzogen und führte es an meine Lippen. „Ich habe es selbst gemacht“, fügte er leise hinzu und dann wusste ich plötzlich, warum er so nervös wirkte. Er hatte etwas für ich gekocht – oder gebacken, oder wie auch immer man diese Speise zubereitete – und war sich offenbar nicht sicher, ob es mir schmecken würde.

Lächelnd öffnete ich die Lippen und nahm das mir dargebotene Stück in den Mund. Dabei streifte ich mit den Lippen seine Finger, was mir ein Kribbeln bis in die Zehenspitzen schickte. Nein, mir war wirklich nicht mehr zu helfen.

Das Mellinia entpuppte sich als ein süßes Gebäckstück, mit einer cremigen Füllung aus Früchten. Rothoden, wie mir sofort klar war. Nichts anderes konnte für eine solche Geschmacksexplosion in meinem Mund sorgen. Ich liebte das Zeug einfach.

Da ich Veith nicht länger auf die Folter spannen wollte, lächelte ich ihn an. „Ich wusste gar nicht, dass du kochen kannst. Und dann auch noch so gut.“

„Meine Mutter hat es mir beigebracht.“ Er wählte ein weites Teilchen aus, das er mir in den Mund schob, aber nicht, ohne mit seinem Finger noch einmal ganz sanft über meine Lippen zu fahren. „Sie fand es wichtig auch sowas zu können.“

Seine Mutter, der Grund dafür, dass er niemals ganz mein sein würde. Obwohl, wenn doch, wäre das vielleicht der Grund für mich, warum ich nicht gehen würde, ein Grund, der mich dazu bewegen könnte, für immer in dieser Welt zu bleiben. Wie lange die Hexen wohl auf eine Antwort von mir warten würden?

„Was ist los?“, riss Veiths Stimme mich aus meinen Gedanken.

„Nichts“, sagte ich etwas zu hastig und steckte mir schnell ein weiteres Mellinia in den Mund. „Das ist wirklich gut“, setzte ich mit vollem Mund schnell hinterher. Irgendwie behagte es mir gar nicht, mit Veith über meinen möglichen Umzug in eine andere Welt zu reden. Ich wollte die wenige Zeit, die uns blieb, nicht mit Gedanken an Trennung belasten.

Wieder einmal legte sich die kleine Falte auf Veiths Gesicht. „Warum lügst du mich an?“

„Ich lüge nicht, die sind wirklich gut.“ Erneut griff ich in die Dose, doch bevor ich mir meinen plötzlich trocknenden Mund ein weiteres Mal füllen konnte, hielt er meine Hand auf halbem Wege fest.

„Du weißt genau, dass ich das nicht gemeint habe.“

„Nein? Was denn dann?“

„Talita, ich bin nicht dumm.“

„Ich weiß.“ Seufz. „Aber ich möchte im Augenblick nicht darüber reden.“

Einen Moment kniff er die Lippen zusammen. „Irgendwie möchtest du nie über irgendwas mit mir reden. Auch gestern hast du abgeblockt.“ Er sah mich sehr eindringlich an. „Warum sprichst du nicht mit mir?“

Das war das Einzige, was mich an Veith störte, er konnte Dinge nicht einfach auf sich beruhen lassen. „Weil ich im Augenblick nicht daran denken möchte.“

Er schwieg einen Moment, bevor er geschlagen seufzte. „Ist es etwas Wichtiges?“

„Jetzt gerade? Nein.“

„Aber das wird es einmal sein.“ Er ließ mein Handgelenk los.

„Ja, irgendwann, aber nicht in diesem Moment.“ Mein Blick ruhte bei diesen Worten auf dem Teilchen in meiner Hand. Veith hatte es für mich gemacht, nur für mich. Sollte ich in meine Welt zurückkehren, würde ich so etwas niemals wieder essen können. Dort gab es keine Rothoden, aber noch wichtiger, dort gab es keinen Veith. „Ich werde es dir erzählen, aber nicht jetzt.“

Er schwieg einfach. Das war seine Art mir mitzuteilen, dass er mit meiner Entscheidung nicht zufrieden war. Ich konnte es nicht ändern. Obwohl, eigentlich konnte ich das schon, aber ich wollte es nicht. Nicht in diesem Augenblick, der nur uns gehörte – und den sieben verlorenen Wölfen, die sich draußen vor unserem kleinen Nest niedergelassen hatten. Ich wollte jetzt einfach nur hier liegen und meine Essen mit Veit teilen. Teilen? Da kam mir eine Idee, die uns beide auf andere Gedanken bringen konnte und das unliebsame Thema hoffentlich in die Vergessenheit treiben konnte – wenn auch nur für kurze Zeit. „Weißt du, Kovu hat mir mal was über das Teilen von Essen mit einem Lykaner erzählt.“

Er horchte auf. „Ach ja?“

Ich nickte und wusste genau, dass er an die gleiche Situation dachte, die mir gerade im Kopf herumspukte. Damals hatte ich für Pal und die anderen Hawaiitoast gemacht und ihm angeboten, mein Brot mit ihm zu teilen, weil ich nicht wusste, was das für einen Lykaner bedeutete. Lykaner, gaben und nahmen – oder klauten – sich das Essen gegenseitig, aber immer nur im Ganzen. Wenn man ein Stück Essen, wie zum Beispiel dieses Mellinia in zwei Stücken brach und es mit jemanden teilte, hatte das eine ganz andere Bedeutung. „Wenn ich mein Essen mit dir teile, dann will ich mehr als nur Freundschaft von dir.“ Ich biss die eine Hälfte ab und ließ sie genüsslich auf meiner Zunge zergehen, während ich ihm das andere Stück hinhielt. Dabei tropfte etwas von dem Fruchtgelee auf meine Finger.

Veith beugte sich vor, ohne meinen Blick loszulassen und nahm das dargebotene Stück. Als ich meine Hand wegnehmen wollte, um nach einen weiteren zu greifen und das Spielchen zu wiederholen, schoss seine Hand blitzschnell hervor und hielt meine genau dort wo sie war.

Völlig ruhig kaute er, schluckte er sein Stück herunter und nahm dann meine Finger in den Mund, um mit der Zunge das Fruchtgelee abzulecken. Dabei ließ er meinen Blick nicht einen Moment los. Wow, bei dem Anblick wurde mir ganz anderes.

„Kovu hatte recht“, sagte er leise und beugte sich dann vor, um meine Lippen gefangen zu nehmen.

 

°°°

 

Ein Schrei ließ mich so schnell aus dem Schlaf fahren, dass ich mit dem Kopf gegen die tiefhängenden Äste des Lebensbaumes stieß, unter den Veith und ich uns schlafengelegt hatten. Ich fiel wieder zurück und direkt auf meinen großen, bösen Wolf rauf, der dann auch erst mal vor Schmerz stöhnte, weil ich ihm dabei auch noch den Ellenbogen in den Magen rammte. Mist. „Oh, tut mir leid, das war keine Absicht“, entschuldigte ich mich sofort und krabbelte eilig von ihm herunter, um nach möglichen Verletzungen zu gucken, doch er hielt meine Hände fest.

„Mir geht es gut.“

„Aber ich …“

„Talita, mit mir ist alles in Ordnung“, er richtete sich auf und hielt mit gerunzelter Stirn nach etwas Ausschau, dass sich unserer Sicht entzog und ich konnte mir bereits sehr gut vorstellen, was das war.

„Du hast den Schrei auch gehört?“

Veith nickte nur und kroch unter den Ästen hervor, ich direkt hinter ihm – echt schade, dass ich in diesem Moment nicht die Aussicht genießen konnten, denn dieser Hintern … oh Mann. Kaum dass er sich aufgerichtet hatte, lauschte er auf verdächtige Geräusche, aber es kam kein weiterer Schrei und auch kein anderes Geräusch, das nicht hier her gehörte – außer vielleicht der Regen, der wieder eingesetzt hatte. Alles wirkte vertraut und sicher und doch lag etwas in der Luft, dass sich mir die Härchen im Nacken aufstellten.

„Vielleicht sollten wir mal zum Schild gehen und gucken“, überlegte ich laut, mit einem mulmigen Gefühl im Magen. War wieder jemand hier eingedrungen? Ich rückte näher an Veith heran, sodass dieser schon fast Reflexartig seine Hand sehr besitzergreifend an meinen Rücken legte.

„Es kam nicht vom Schild.“

„Woher kam es dann?“ Als wenn die Natur, die mich umschloss, uns darauf eine Antwort geben könnte, ließ ich meinen Blick über die Bäume gleiten. Leider blieben die still – oder Gott sei Dank, weil, wer wollte schon die ganze Zeit von plappernden Bäumen umringt sein? Ich sicher nicht. Ich hatte schon meine Erfahrung mit sprechenden Bäumen gemacht und die meisten von denen hatten nichts Gescheites zu sagen.

Es war bereits dunkel – was ausnahmsweise mal nichts mit dem Wetter zu tun hatte, sondern mit der Tageszeit, oder besser gesagt, Nachtzeit. Wie lange hatten wir geschlafen?

„Ich rieche Furcht und … Verwirrung“, riss Veith mich aus meinen Gedanken und hielt die Nase witternd in die Luft. „Da lang.“ Er zeigte nach rechts.

Ich runzelte die Stirn. „Wie kannst du bei diesem Regen etwas außer der feuchten Luft riechen?“

„Meine Nase ist besser als deine“, sagte er so unwirsch, dass ich für einen Moment protestierend die Backen aufblähte und hätte ihm sicher ein paar Takte erzählt, wenn er nicht meine Hand genommen hätte, um mich mit sich mit zu ziehen.

Im strammen Schritt ging es in Begleitung der Verlorenen Wölfe quer durch den regennassen Wald – immer der Nase nach, wie man so schön zu sagen pflegte. Dabei ließ er nicht von mir ab und das Gefühl seiner Berührung machte den Grund unseres Ganges irgendwie unwirklich. Solange er nur in meiner Nähe war, konnte der Rest der Welt mich mal. Oh Mann, ich sollte dringend ein paar Prioritäten ändern, oder einen Arzt aufsuchen, das nahm ja langsam krankhafte Züge an und …

Als Veith abrupt stehenblieb, riss er mich mit dieser Aktion nicht nur aus meinen Gedanken, sondern sorgte damit auch noch dafür, dass meine Nase mit seinem Rücken kollidierte – a-ua! „Verdammt, Veith, musst du einfach so …“

„Sei ruhig“, raunte er – während ich mir verstimmt die Nase rieb – und lauschte in die Natur hinein. Und dann hörte ich es auch. Hektisches Atmen, ein paar Schritte, dann ein Geräusch wie ein Sturz.

Die Verlorenen Wölfe waren unruhig, jaulten leise und taperten nervös von einem Bein auf das andere. Etwas stimmte nicht.

Ich machte einen Schritt nach vorn, wurde von Veith aber sofort zurückgezogen. „Hey, was …“

„Ich gehe zuerst.“

O-kay. Mit gerunzelter Stirn folgte ich ihm und wusste nicht so recht, wie ich sein Bevormunden finden sollte. Einerseits war es ja sehr galant, wie er sich sichernd vor mich werfen wollte, um mein Leben gegen die Bösewichte der Welt zu beschützen – ja ja, ich wusste schon, das war jetzt leicht übertrieben –, aber andererseits war ich schon ein großes Mädchen, dass auf sich selber aufpassen konnte. Ich meine, in den letzten Monaten, als ich mich mit dem Hohen Rat wegen den Verlorenen Wölfen rumschlagen musste, war er ja schließlich auch nicht da gewesen. Ich hatte das mit dem Dschungelpark und dem Schild geregelt. Ich war beim Hohen Rat gewesen, der Anwar dazu gezwungen hatte, den Schild zu errichten. Ich hatte dafür gesorgt, dass der Hohe Rat mich für diese Arbeit bezahlte und dass die Verlorenen Wölfe hergebracht wurden. Und ich hatte auch dafür gesorgt, dass Kaj und ich eine gemeinsame Wohnung bekamen und dass meine Freundin nicht in den Knast wanderte. Und das Zeug mit meiner Erinnerung, Gaare und der ganze andere Kram? Das hatte ich immer so nebenbei erledigt. Da sollte ich in Veiths Augen doch eigentlich emanzipiert genug herüberkommen, um vorgehen zu dürfen, auch wenn das Ziel noch so ungewiss war.

Trotzdem fand ich sein Verhalten irgendwie süß. Ja, schon klar, da lief bei mir etwas ganz und gar nicht richtig, aber daran störte ich mich im Moment nicht. Ich war viel zu angespannt, wegen dem, was vor uns lag, denn mit jedem Schritt wurden die seltsamen Geräusche lauter. Es war noch eine Art Schaben dazugekommen, das mich irgendwie an Kratzen über Glas erinnerte – nur in abgeschwächter Form.

Wir waren schon nahe am Schild und hatten den Schutz der Bäume fast verlassen, als mir klar wurde, auf was wir uns hier zubewegten. Wir waren fast an der Stelle, an der die Überreste der Harpyie gelegen hatten. Ich krallte mich beinahe an Veiths Hand, als wir uns zielsicher auf diese Stelle zubewegten und war plötzlich heilfroh, dass er bei mir war und vorging.

Seit Grey die Frau hier getötet hatte, war ich immer einen großen Bogen über diesen kargen Vorplatz zwischen Schild und Wald gegangen, nur um nicht immer an diesen grausamen Tod denken zu müssen, doch jetzt schien es, als käme ich nicht länger drum herum.

Plötzlich änderte sich das Geräusch und aus dem Kratzen wurde ein Schlagen wie gegen Glas. Heftiges Klopfen, gefolgt von einem wütenden Schrei, in dem auch leichte Panik mitschwang.

Die Sache mit der Harpyie rückte leicht in den Hintergrund, als ich halb hinter Veith unter den wolkenreichen Himmel trat und ihn sah. „Simyo?“

Der Wolf in Menschengestalt wirbelte bei meiner Stimme herum und drückte sich mit dem Rücken gegen den durchsichtigen Schild, der an dieser Stelle leichte Wellen schlug. Seine blonden Haare standen wild von der schlanken Gestalt mit dem schmalen Gesicht ab. Seine Knöchel und Finger waren blutig, er wirkte wild, ungezähmt und knurrte uns drohend an. Das nahm Veith natürlich sofort zum Anlass, warnend zurück zu knurren.

„Lass das“, zischte ich ihn an und wollte auf meinen Wolf zugehen, um ihn zu beruhigen – keine Ahnung, was ihn so aufgeregt hatte, aber das hier war nicht normal, für den ruhigen Wolf. Doch so weit kam ich gar nicht, weil Veith mich sofort wieder hinter sich zog. „Und das auch!“, zischte ich, sobald ich mein Gleichgewicht wieder hatte.

„Er ist …“

„Einer meiner Wölfe“, unterbrach ich ihn sofort.

Einen kurzen Moment lieferten wir uns ein Blickduell, das ich wohl gewann, denn er ließ meine Hand los – wenn auch widerwillig. Aus einem Impuls heraus, hauchte ich meinem großen, bösen Wolf einen Kuss auf die Wange und drehte mich dann zu Simyo um, der uns misstrauisch beobachtete.

Als ich mich ihm näherte, hob ich die Hände, um ihm zu zeigen, dass von mir keine Gefahr ausging. „Alles ist gut, ganz ruhig, ich tue …“

„Bleib stehen“, knurrte Simyo und irritierte mich damit einen Augenblick. Er sprach? Wann war das denn passiert?

„Was … wie …“ Okay, vielleicht sollte ich mir einen Augenblick nehmen, um meine Gedanken zu ordnen, bevor ich den Mund aufmachte. Simyo hatte gesprochen. Er stand am Schild und sah so aus, als hätte er versucht hindurch zu kommen. Mein Blick glitt musternd über ihn. Er wirkte nervös, ängstlich, verwirrt. Mir fiel wieder ein, dass er sich heute seltsam benommen hatte und ich das als erstes Anzeichen dafür genommen hatte, dass er sich vielleicht auf dem Weg der Besserung befand, aber so schnell? Na gut, bei Simyo war sowieso alles ein wenig anders.

Das hieß, wenn er wieder normal war, musste diese ganze Situation mehr als verwirrend für ihn sein. Er war einer von den Einzelgängern gewesen, die Erion eingefangen hatte, um sie in seinen perfiden Plan zu intrigieren. Wenn dass das Letzte war, woran er sich erinnern konnte, war sein Verhalten mehr als nur verständlich. Er hatte keine Ahnung, wo er war und wer hier vor ihm stand. Er sah nur, dass er hinter einem Schild mit Fremden eingeschlossen war. Und die verlorenen Wölfe, die sich neugierig am Waldrand herumdrückten, machten es wahrscheinlich genauso wenig besser, wie der große, böse Wolf hinter mir, der versuchte ihn mit Blicken zu drohen.

Ich musste mit Simyo reden, das war wohl der einzige Weg, ihn davon zu überzeugen, dass ihm hier niemand etwas Böses wollte. „Ist es dir recht, wenn ich mich da hin setzte?“ Ich zeigte auf die Stelle vor mir. „Ich würde mich gerne mit dir unterhalten.“

Er sagte nichts, bewegte sich nicht, stand nur angespannt da und ließ keinen von uns aus den Augen.

„Okay“, sagte ich ganz ruhig und ließ mich langsam in den Schneidersitz sinken. Der Boden war nass und der Regen über mir wurde immer stärker. Das nervte, aber im Moment war es nur wichtig, keine schnellen Bewegungen zu machen.

Ich deutete auch Veith sich irgendwo hinzusetzten und wandte mich dann wieder meinem Wolf zu. Obwohl ich ihn jetzt wohl nicht mehr länger als meinen bezeichnen konnte. Er war jetzt … ja wer war er eigentlich? Simyo war ein Name, dem ich ihm gegeben hatte, weil ich nicht wusste, wie er hieß. Das war für den Anfang doch mal eine sehr gute Frage. „Wie heißt du?“

Seine Augen verengten sich leicht, aber er blieb weiter still.

„Okay, ich kann verstehen, dass du dich nicht mit mir unterhalten willst. Das ganze hier muss sehr verwirrend für dich sein.“ Wieder keine Reaktion. Dann eben anders. „Was ist das letzte, woran du dich erinnern kannst?“

Diese Frage hatte zur Folge, dass er die Lippen zurückzog und mich anknurrte. Veith knurrte sofort zurück.

„Hör auf damit“, zischte ich ihn an, ohne den Einzelläufer aus den Augen zu lassen. „Okay, ich werde jetzt einfach mal erzählen, was ich glaube, was passiert ist. Ich denke, du bist aus was weiß ich für Gründen, irgendwo rumgelaufen und dann hat dich entweder ein getigerter Wolf, der unglaublich nach Katze stinkt, oder ein Magier eingefangen und dich in eine alte Scheune gebracht, wo an dir herumgezaubert wurde. Ab da kannst du dich sicher an nichts mehr erinnern. War es so?“

Als er wieder nichts sagte, fand ich das schon ziemlich frustrierend. Ein einfaches „Ja“ oder  „Nein“, war doch wirklich nicht zu viel verlangt. Ein „Leck mich am Arsch“ wäre mir auch recht gewesen, einfach nur um eine Reaktion aus ihm herauszulocken.

„Okay, dann eben anders. Ich weiß nicht wer du bist, oder woher du kommst, aber ich kann dir versichern, dass du nicht in Gefahr bist. Du bist kein Gefangener und …“

„Dann lass mich auf der Stelle gehen!“

Na bitte, ich hatte ihm endlich eine Reaktion entlockt. „Das werde ich tun, aber zuerst musst du mir zuhören, das ist wichtig.“

Wieder schwieg er. Er glaubte mir nicht, kein Wort, er musste erst davon überzeugt werden. So begann ich im meine Geschichte zu erzählen, angefangen bei dem Moment, in dem ich auf Fangs Dachboden aufgewacht war. Ich erzählte ihm, wie ich ein paar Tage bei den Lykanern gelebt hatte und dann nach Sternheim zu Anwar gebracht wurde. Er erfuhr, wie ich meine Zeit dort verbracht hatte, von Erion, Gaare und Kaj und wie ich meine Magie bekommen hatte.

Ich glaubte meine Geschichte langweilte ihn, aber er hörte aufmerksam zu, besonders an der Stelle, an der das Steinbachrudel ins Spiel kam und ich zurück zum Wolfsbaumrudel ging, um mit ihnen herauszufinden, wer die ganzen Lykaner entführt hatte. Ich berichtete ihm von unserer Suche, von meiner Gefangennahme und den Grund für all die Entführungen. „Erion war besessen von dem Wunsch ein Drachenherz zu besitzen, um an die Macht zu gelangen. Es gibt nicht viele Dinge, die einem Drachen gefährlich werden können und zu den wenigen, die es können, gehört ein Rudel Lykaner, aber das weißt du sicher.“ Ich lächelte ihn an. Er erwiderte es nicht. Seufz. „Ist ja auch egal. Jedenfalls hat Erion Lykaner gesammelt und sie einer Gehirnwäsche unterzogen, damit sie für ihn Jagd auf einen Drachen machen. Du warst einer dieser Lykaner.“

Die Bilder der Erinnerung überrannten mich in einem nicht enden wollenden Film. Ich hatte davon geträumt, hatte Alpträume gehabt. „Wir sind nicht rechtzeitig gekommen. Der Drache ist gestorben, weil ich nicht richtig nachgedacht habe, weil ich die ganze Zeit den Falschen verdächtigt hatte. Aber egal.“ Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken loszuwerden, aber die hatten Wiederhaken und krallten sich mit aller Macht in meinem Kopf fest, damit ich sie niemals vergessen konnte.

„Erion starb, als er versuchte, dem Drachen das Herz aus der Brust zu schneiden und der Zauber brach. Nur leider waren manche von euch schon so lange in seiner Gewalt, dass eure Magie gestört war und ihr nicht einfach zurückkehren konntet. Du warst einer von ihnen. Darum haben wir uns entschlossen einen Platz zu suchen, wo ihr in Ruhe heilen könnt.“ Dass die Lykaner einen Moment überlegt hatten, die Verlorenen Wölfe einfach zu töten, um sich schnellstmöglich dieses Problems zu entledigen, ließ ich an dieser Stelle besser aus, schließlich hatte ich eine solch drastische Maßnahme durch meinen Trotz verhindern können. „Deswegen bist du und die anderen hier. Du bist kein Gefangener und sobald ich mich davon überzeugt habe, dass es dir wirklich gut geht und du keinen Rückfall erleiden kannst, darfst du auch gehen. Stell dir einfach vor, dass hier ist ein Heilerhaus und ich bin eine nervende Heilerin, die ihre Arbeit ein wenig zu genau nimmt, das hilft ungemein.“

Mit diesem Witz war ich bei einem der anderen Verlorenen Wölfe gut angekommen, bei ihm nicht. Er sah mich einfach nur still an und wartete wohl darauf, ob da noch mehr kam. Wenigstens hatte er mit dem Knurren aufgehört und auch die feindliche Haltung hatte leicht nachgelassen.

„So viel Zeit ist vergangen?“, fragte er nach einiger Zeit und hob den Blick. „Und das ist alles wahr?“,

„Glaubst du, ich könnte mir eine solche Geschichte aus den Fingern saugen? Das da“, – ich zeigte auf die verlorenen Wölfe am Waldrand, die sich mittlerweile im Unterholz niedergelassen hatten und uns sorgfältig beobachteten – „sind die Lykaner, die ihre andere Seite noch nicht wiedergefunden haben, aber auch sie werden heilen, so wie du, da bin ich mir sicher.“

Langsam und sehr wachsam ließ er sich am Schild auf den Boden sinken. Seine Aufmerksamkeit ließ dabei keinen Moment nach, aber ich war zuversichtlich, dass wir die erste Hürde genommen hatten. Er vertraute mir nicht – ganz klar, er war ein Lykaner, die vertrauten niemanden – aber er glaubte mir. Das war doch wenigstens ein kleiner Anfang. 

„Verrätst du mir jetzt deinen Namen? Ich habe dich die ganze Zeit Simyo genannt, weil ich ihn nicht kenne, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ich dich damit ansprechen soll, oder?“

„Reu vom Rudel der Mondlagune.“

Mein Mund klappte auf. „Mondlagune? Du bist kein Einzelgänger?“ Das kam dann doch sehr überraschend. Mondlagune? Davon hatte ich noch nie gehört, er konnte also nicht aus der Gegend stammen.

Er schüttelte den Kopf.

„Wenn du vom Rudel der Mondlagune kommst, was hast du dann in dieser Region verloren“, wollte Veith wissen und kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Erion hat unseres Wissens nach nur Lykaner aus dieser Gegend benutzt und die Mondlagune ist mehrere Tagesreisen entfernt.“  

Benutzt, wie sich das anhörte. Doch leider war es genau das, was Erion von Sternheim getan hatte.

„Ich war auf der Jagd“, sagte Reu leise. Mann, an diesen Namen würde ich mich wohl erst gewöhnen müssen. Für mich war dieser Mann Simyo. Der Name passte auch so viel besser – das war zumindest meine Meinung.

Sein Blick hob sich und fixierte meinen. „Ich habe den Mörder meiner Gefährtin gejagt.“

Das brachte so ziemlich jeden Gedanken in meinem Kopf zum Stocken. Hatte ich das wirklich richtig verstanden? Nein, entschied ich, ich musste mich verhört haben. Bitte, es musste einfach so sein, ich wollte nichts mehr von Toten wissen, davon gab es in letzter Zeit einfach zu viele in meinem Leben. „Du hast deine Gefährtin verloren?“, fragte ich vorsichtig.

„Ich habe sie nicht verloren, sie wurde von dem Einzelgänger Areon getötet!“, erwiderte er wütend. „Sie und noch mindestens ein Dutzend anderer Frauen der Lykaner.“ Er krallte die Finger ins Erdreich, als brauchte er etwas, an dem er seinen Zorn auslassen konnte. „Ich war ihm schon ganz nahe auf der Spur, als dieser Katzenwolf auftauchte und irgendetwas bei mir machte, damit ich mich nicht mehr bewegen konnte.“

„Sie hat dich paralysiert“, kam es ganz automatisch von mir. Das Gleiche hatte Kaj bei mir gemacht, als ich ihr zu dicht auf den Fersen war. „Erion hatte ihr einen Zauber auf die Hand gelegt, mit dem sie jeden, den sie berührte, paralysieren konnte.“

„Ich konnte mich jedenfalls nicht mehr bewegen und dann kam dieser Magier. Danach kann ich mich an nichts mehr erinnern. Erst heute bin ich wieder zu mir gekommen.“

Die kommende Stille wurde nur von dem Prasseln des Regens begleitet, der in den letzten Minuten immer stärker geworden war. Langsam aber sicher verfluchte ich die Najaden. Hätten die sich für ihre Balzzeit nicht einen anderen Monat aussuchen können? Oder einen anderen Kontinent?

„Ich habe von ihm gehört, von Areon“, kam es von Veith aus heiterem Himmel. „Überall wo er aufgetaucht ist, sind Lykanerinnen verschwunden, aber in dieser Gegend ist das nicht passiert. Du musst dich irren, er ist nicht hier in der Umgebung gewesen.“

„Er war hier“, knurrte Reu. „Ich bin der beste Fährtenleser in meinem Rudel und ich bin ihm in diese Gegend gefolgt.“

„Du musst dich täuschen.“

In der aufkommenden Spannung zwischen den beiden Kerlen, wurden die Wölfe leicht unruhig. Sie erhoben sich, liefen auf und ab und winselten kläglich. Vielleicht lag es aber auch an Grey, der jetzt wohl erst mitbekommen hatte, dass hier etwas los war und sich an den anderen Wölfen vorbeidrängte. Wenn er kam machten die anderen alle automatisch Platz, denn auch mit Maulkorb war er nicht ungefährlich.

Reu wurde bei seinem Anblick ganz starr. Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut und er sprang so schnell auf die Beine, dass er fast wieder hingefallen wäre. „Ihr Lügner!“, brüllte er.

„Was?“ Was war denn jetzt los?

Grey schlich über die Lichtung auf mich zu, umkreiste mich einmal und rieb dann seinen Kopf an meiner Schulter. Solche Momente der Zuneigung kamen selten von ihm und im Moment konnte ich nicht so wirklich darauf eingehen, dafür war ich viel zu beschäftigt damit, Reu im Auge zu behalten.

„Ich hab dir deine Geschichte geglaubt. Warum beherbergst du ein Monster?!“

Veith hatte sich erhoben und hinter mich in Stellung gebracht, was Grey mit einem Knurren kommentierte. Er mochte meinen großen, bösen Wolf nicht. „Meine Verlorenen Wölfe sind keine Monster!“, zischte ich ihn an. Ich hatte es so satt, dass die Wölfe ständig als Ungeheuer dargestellt wurden.

„Nicht die Wölfe, er!“ Sein ausgestreckter Finger zeigte auf Grey. „Areon!“

Meine Hand, die eben noch Greys Brustfell gekrault hatte, verharrte auf der Stelle. Wollte er damit etwa sagen dass Grey der Mörder seiner Gefährten und mindestens einem Dutzend weiterer Freuen war? „Nein“, sagte ich und wusste nicht, ob ich mir damit selber meine Frage beantwortete, oder Reus Worte abschmettern wollte. „Er war auch einer von Erions Wölfen. Er ist … er hat … das kann nicht sein. Du lügst!“

Reu knurrte.

„Woher weißt du, dass das Areon ist“, kam die Frage vom Waldrand. Saphir war zu uns gestoßen. Wie lange stand sie schon da?

„Ich habe ihn gesehen. Ich saß daneben, als er Faina … als er ihr das angetan hat.“ In seinen Augen stand der blanke Hass. Das Einzige was ihn wohl gerade davon abhielt einfach über Grey herzufallen und ihm die Kehle rauszureißen, war wohl die Tatsache, dass er in der Unterzahl war. „Er hat mich verhöhnt, als er ihr das antat. Ich weiß genau wer er ist. Ich kann es riechen.“

Grey wandte den Kopf,  und knurrte in Reus Richtung.

Wie das hier gerade ablief, gefiel mir überhaupt nicht. „Du musst dich irren“, sagte ich leise. Es konnte einfach nicht sein, dass ich die ganze Zeit einen Mörder beherbergt hatte.

Und was ist mit der Harpyie?

Daran war sie selber schuld! Ja, Grey war sehr dominant und auch aggressiv, aber deswegen war er noch lange kein geisteskranker Mörder, der Frauen aus Spaß umbrachte.

„Ich irre mich nicht.“

Diese Worte von Reu klangen so endgültig, dass ich es beinahe körperlich spüren konnte. Meine Hände gruben sich tiefer in Greys feuchtes Fell. Ich konnte das nicht glauben, das durfte nicht wahr sein.

„Wenn es stimmt, was du sagst, dann muss er getötet werden.“ Eiskalt sprach Saphir diese Worte aus.

Ich klammerte mich fester an den Wolf vor mir. „Nein“, sagte ich. „Das dürft ihr nicht.“

„Talita.“ Saphir trat zu uns in den strömenden Regen auf die Lichtung. „Du weißt selber, wie Grey ist. Er war immer anders als die anderen. Es ist gut möglich, dass er Areon ist.“

„Und woher willst du das so genau wissen?!“, fuhr ich sie an. Es gab in der letzten Zeit bereits genug Tote, das musste ein Ende haben.

Saphir stand nur schweigend im Regen.

„Du sagtest, du warst ihm nahe auf der Spur gewesen, als Kaj dich paralysiert hat“, stellte Veith auf seine ruhige Art fest.

Reu zögerte einen Moment. Wahrscheinlich weil er mit dem Namen Kaj nichts anfangen konnte. „Ich hatte seinen Geruch in meiner Nase, als dieser Katzenwolf mich holte“, bestätigte Reu seine Worte.

„Also ist es durchaus im Bereich des Möglichen, dass Erion an diesem Tag zwei Wölfe ins Netz gegangen sind. Reu und Areon.“

„Das kannst du nicht wissen.“ Bitte, dass durfte nicht wahr sein.

„Talita“, sagte Saphir ruhig. „Für Lykaner, die sich einer solchen Tat schuldig gemacht haben, gibt es nur eine Bestrafung.“

„Aber du weißt doch gar nicht, ob es die Wahrheit ist.“ Ich klammerte mich an Grey, der ungehalten knurrte und versuchte nicht zu weinen. Das konnten sie nicht machen, nicht mit einem meiner Wölfe. „Vielleicht lügt Reu ja.“

„Warum sollte er das tun?“, wollte Saphir wissen.

Woher sollte ich das wissen? Vielleicht war in seinem Kopf ja etwas kaputt.

„Ich glaube nicht, dass er lügt“, fügte sie hinzu. „Dafür gibt es keinen Grund.“

„Ich stimme den beiden zu“, sagte Veith und im gleichen Moment packte er Grey im Nacken und drückte ihn auf dem Boden.

„Nein!“

Grey knurrte und als ich versuchte, ihm zur Hilfe zu eilen, packte mich Saphir von hinten an meinen Klamotten und riss mich zurück, sodass ich auf dem Rücken landete. Eilig rappelte ich mich wieder auf die Füße und sah mich der weißen Wölfin gegenüber, die deutlich die Zähne bleckte.

„Du solltest gehen“, sagte sie sehr nachdrücklich.

Mein Blick hastete zu Veith und Grey. Mein großer, böser Wolf drückte den Grauen mit beiden Händen auf den Boden. Der Maulkorb sorgte dafür, dass er sich nicht wehren konnte und so war er den anderen hilflos ausgeliefert. „Das könnt ihr nicht machen!“, schrie ich sie an und hoffte, dass sie wieder zur Vernunft kommen würden.

„Für einen Mörder gibt es nur eine Strafe“, sagte Veith kalt und richtete dann seinen Blick auf mich. „Geh.“

Ich wollte nicht, meine Beine weigerten sich, mich von hier fortzutragen, aber noch weniger konnte ich das mit ansehen, was unweigerlich folgen würde. „Bitte“, versuchte ich es ein letztes Mal. „Bitte tut das nicht.“

Drei paar kalte Augen richteten sich auf mich und ich wusste, ich hatte verloren. Nun ließen meine Tränen sich nicht länger verbergen. Sie hatten vor, einen meiner Schützlinge zu töten. Ohne Verhandlung, ohne Beweis, wie die Tiere, für die sie von den meisten Wesen gehalten wurden.

„Manchmal verstehe ich, warum ihr bei den anderen Spezies so unbeliebt seid“, sagte ich noch leise und rannte dann davon in den Wald.

Ich sah nicht mehr, wie Reu sich Areon näherte, Triumph und Hass in den Augen, um sich für den brutalen Mord an seiner Gefährtin zu rächen. Ich sah nicht den kalten Ausdruck in Veith Augen, als der den grauen Wolf auf den Boden drückte, um es Reu einfacher zu machen. Ich sah auch nicht die dunkle Gestalt, die sich vor dem Schild rumdrückte und alles heimlich beobachtete, doch leider waren meine Ohren im letzten Jahr sehr gut geworden. So hörte ich, trotz der Entfernung, die ich bereits zurückgelegt hatte, dass schmerzhafte Jaulen, dass durch den ganzen Wald schallte.

Und auch, wie es abrupt endete.

 

°°°°°

Tag 464

Ein Aufprall, ganz leise, kaum zu hören. Kleine Ringe, die sich immer weiter ausweiten. Noch ein Tropfen, ein weiterer Aufprall. Die Kreise bildeten ein unaufhörliches Muster auf der Wasseroberfläche. Eine Symphonie des Einklangs, zusammen mit dem Prasseln des Regens, auf den kleinen Teich. Hier waren Veith und ich uns das erste Mal richtig nahe gewesen. Ohne Schranken, ohne Geheimnisse. Nur er und ich und unsere Körper, in einem Spiel, das uns in eine andere Welt gebracht hatte. Der Teich, unser Teich war für mich ein Ort wo ich glücklich sein konnte. Aber er konnte die trüben Gedanken nicht verscheuchen. Hier war gerade einer meiner Wölfe gestorben und ich hatte es nicht verhindern können. Aber das schlimmste an der Sache, ein kleiner Teil von mir hatte es auch gar nicht gewollt. Ich hätte mehr tun können, ich hätte ihn retten können, da war ich mir sicher und doch hatte ich es nicht getan. Warum nicht? Die Antwort war sehr einfach, auch wenn sie mir nicht gefiel.

Ich dachte über das Erlebnis mit Sven nach, die einzige Erinnerung, die ich komplett zurück erhalten hatte. Keine Frau sollte so etwas durchmachen und Grey hatte als das Areon vielen Frauen angetan, zu vielen – obwohl eine schon zu viel war.

Ich verstand Reu und wäre das Ganze nicht so plötzlich gekommen, hätte ich vielleicht auch anders reagiert. Jetzt, wo ich hier saß und Zeit hatte in Ruhe darüber nachzudenken, kam es mir immer noch grausam und vor, aber gerecht. Und das war es, was mich im Augenblick wirklich belastete, dass ich nichts gegen diesen grausamen Akt hatte, dass ein kleiner Teil von mir sogar zufrieden mit der Entscheidung war, die die anderen getroffen hatten. Hier war gerade jemand getötet worden und ich hatte damit kein Problem.

Wann war ich so eiskalt geworden?

„Talita.“

Ich hatte Veith nicht kommen hören, aber mit seinem Auftauchen gerechnet. Mir war klar gewesen, er würde kommen, wenn er erledigt hatte, was es zu erledigen gab. Mein großer, böser Wolf war nämlich gar nicht so böse, wie er gerne tat, sondern einfach nur missverstanden und ihm war klar, wie mich diese Sache belasten würde.

Er hockte sich vor mich und sah mir einfach in die Augen, bevor er mich wortlose in die Arme zog. So hockten wir still im Regen. Ich wusste, wo er gerade gewesen war, was er getan hatte mit diesen Händen, die mich an ihn drückten, oder konnte es mir zumindest vorstellen und ich konnte es akzeptieren.

„Lass uns gehen“, flüsterte ich an seiner Brust. „Ich will nach Hause.“

Wortlos zog er mich auf die Beine und hielt meine Hand die ganze Zeit fest. Den ganzen Weg durch den Park, durch das Schild, durch die nächtlichen Straßen von Sternheim, bis zu mir nach Hause. Wir sprachen nicht viel, das mussten wir auch gar nicht. Wichtig war nur, dass er bei mir war und mich festhielt, um die Dämonen der Vergangenheit in dieser Nacht von mir fernzuhalten.

Es konnten Minuten, Stunden, oder auch Tage gewesen sein, bis wir vor meiner Haustür ankamen. Ich wusste, dass er eigentlich nicht so lange von seinem Rudel wegbleiben konnte, ohne in Erklärungsnot zu kommen und trotzdem war ich froh darüber, dass er bei mir war. Am liebsten hätte ich ihn mit nach oben genommen, aber das ging nicht. Das würde zu Fragen von meinen Mitbewohnern sorgen, die ich nicht beantworten konnte. Trotzdem konnte ich ihn nicht loslassen, als ich bereits den Schlüssel für meine Haustür in den Händen hielt.

Mit der unausgesprochenen Bitte, mich nicht allein zu lassen, sah ich ihm in die Augen. Natürlich verstand er sofort, aber wir wussten beide, dass es nicht ging.

Schweigend legte er eine Hand auf meine Wange und hauchte mir für diese Nacht einen Abschiedskuss auf die Lippen. „Nachher, nach der Verhandlung, treffen wir uns am Schild.“ Sein Daumen strich über meine Wange. Wahrscheinlich fiel es ihm gerade genauso schwer sich von mir zu trennen, wie ich von ihm. „Und sei mir nicht böse, es musste sein.“

„Ich bin dir nicht böse.“ Und so entsetzlich das auch klang, es war die reine Wahrheit. „Ich verstehe es.“

Seine Augen forschten in meinen, suchten nach der Wahrheit. „Okay“, sagte er dann und hauchte mir einen letzten Kuss auf den Mund. „Wir sehen uns dann morgen.“

Seine Hand löste sich nur langsam aus meiner, aber dann ging er und ich konnte zusehen, wie er in der Nacht verschwand, noch ein leichtes Kribbeln auf meinen Lippen.

Müde und erschöpft nahm ich den Weg durch das Treppenhaus in die zweite Etage in Angriff, steckte den Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür und … die Tür war noch nicht mal richtig aufgegangen, da wurde ich bereits an eine feste Männerbrust gezogen. „Talita, verdammt, wo warst du denn den ganzen Tag? Ich hab mir Sorgen gemacht, weil du mich nicht hast erklären lassen und ich …“

Mit einem Finger auf Pal Lippen stoppte ich seinen Redefluss. „Vergiss einfach, was vorhin passiert ist.“ Im Gegensatz zu dem, was mit Grey geschehen war … es hatte keinerlei Bedeutung.

Er stutzte, musterte mich intensiv und blieb an meinem Gesicht hängen. Was er da wohl sah? „Was hast du?“

Nichts was ich jetzt erklären wollte. „Ich bin nur müde.“

Er kaufte es mir nicht ab, aber das war mir im Augenblick gleich. „Okay. Aber wegen vorhin, das mir dem Kuss, ich habe das nicht getan, weil ich es wollte.“

Nicht wollte? Mit einer hochgezogenen Augenbraue schloss ich die Wohnungstür. „Ach nicht? Wenn du es nicht gewollt hast, warum hast du es dann getan.“ Ich konnte mich nicht erinnern, mit einer Knarre vor ihm gestanden zu haben und ihn dazu zwang, mir die Lippen auf den Mund zu drücken.

„Es war ein Test gewesen.“

„Ein Test?“ Hatte er wissen wollen, wie gut ich küssen konnte, oder was? Eigentlich hätte ich ja gedacht, dass er schon eine ausreichende Probe bekommen hatte. „Und, habe ich ihn bestanden?“ Ich streifte mir die Schuhe von den Füßen.

„Ja, nein, ich meine, ich habe ihn bestanden.“

Mit gerunzelter Stirn warf ich ihm einen Blick zu, bevor ich in mein Zimmer verschwand. „Dir ist schon klar, dass du da nur Kauderwelsch quatschst?“

„Kauderwelsch?“ Er runzelte leicht die Stirn. „Was heißt das?“

Wie nicht anders zu erwarten, war er mir in mein Zimmer gefolgt.

„Das bedeutet, du redest Unsinn. Im Klartext, was du da von dir gibst, ergibt keinen Sinn.“

„Doch tut es.“

„Für dich vielleicht, mir entgeht er gerade jedenfalls.“

„Ja, weil … ist nicht so wichtig. Ich bin nur froh, dass zwischen uns alles in Ordnung ist.“ Einen Moment wurde er nervös. „Zwischen uns ist doch alles in Ordnung, oder?“

„Nur wenn du das nicht noch einmal probierst.“

„Keine Sorge, wird nicht mehr vorkommen.“

Das veranlasste mich dazu, meine Augenbraue ein weiteres Mal zu heben, bevor ich mir aus meinem Schrank ein Hemd für die Nacht holte. „Woher kommt diese Überzeugung?“

Er zuckte unbestimmt mit den Schultern und lehnte sich dann gegen den Türrahmen. „Ist einfach so.“

„Das hat etwas mit deinem Test zu tun“, stellte ich fest.

Dafür bekam ich das halbe Pal Lächeln, das mit der Brandnarbe im Gesicht jetzt immer etwas verzerrt aussah. Selbst nach einem Jahr hatte ich mich noch nicht richtig daran gewöhnt, ob mir das jemals gelingen würde?

„Möchtest du mir vielleicht erklären, was es damit auf sich hat?“

Nachdenklich verzog er die Lippen und schüttelte dann den Kopf. „Nein, im Moment noch nicht, ich will erst sehen …“ Er schloss den Mund.

„Was sehen?“

„Das wirst du dann merken.“

Mit diesen kryptischen Worten verließ er mein Zimmer und ließ mich mit drei dicken Fragenzeichen im Gesicht zurück.

 

°°°

 

Viel Schlaf bekam ich an diesem Tag nicht mehr. Nicht das ich nicht müde gewesen wäre, aber der letzte Verhandlungstag war angebrochen und die Anspannung für das Kommende stieg bei mir stetig. Das fing schon an, als ich um kurz nach fünf wortwörtlich aus dem Bett fiel, weil Raissa einen markerschütternden Schrei ausstieß. Ich war nicht die Einzige, die erschrocken in ihr Zimmer stürzte und sie auf ihrem Schreibtisch sitzend vorfand, laut kreischend, dass da ein riesengroßes Monster unter ihrem Bett säße.

Das gefährliche Ungeheuer entpuppte sich als ein kleiner, harmloser Weberknecht, den Pal unter den wachsamen Augen von Raissa aus dem Zimmer trug und kurzerhand einfach aus dem Fenster warf. Danach konnte die Kleine wieder schlafen, für uns drei war aber nicht mehr daran zu denken.

Mehr schweigend als alles andere, verbrachten wir den Morgen und hingen unseren Gedanken über die Zukunft nach. Der Zeitpunkt zum Aufbruch kam einerseits viel zu schnell, andererseits warteten wir ewig darauf. Pal blieb zurück, um unseren spinnenfeindlichen Nachwuchs zu bewachen, damit Kaj auch einem Verfahrenstag beiwohnen konnte.

Mit der Kutsche konnten wir nur die Hälfte des Weges zurücklegen. Die Straßen zum Ratsgebäude waren so verstopft, dass wirklich kein Durchkommen war. Die ganze Stadt musste auf den Beinen sein und der Zulauf der Lykaner machte es auch nicht gerade besser. Teilweise waren sogar Absperrungen errichtet worden, um den Massenauflauf zu kontrollieren. Ich kam problemlos durch die Sperrungen, mein Name in diesem Verfahren war weitläufig bekannt, sodass ich immer durchgewinkt wurde, sobald ich meinen Ausweis vorgezeigt hatte und da Kaj in meiner Begleitung unterwegs war, ließ man sie auch immer anstandslos passieren. Das war wohl das erste Mal, dass ich froh über meine Beteiligung an dieser ganzen Sache war.

Hinter den Absperrungen wurde es aber nicht besser. Das Gedränge war grauenhaft und je näher wir dem Ratsplatz kamen, desto schlimmer wurde es. Nur schwerlich kamen Kaj und ich voran. Der Eingang war vielleicht noch hundert Meter entfern, aber allein für die Hälfte der Strecke brauchten wir fast eine Viertelstunde und die Luft war erfüllt, von einer solchen Anspannung, dass sie praktisch mit Händen zu greifen war.

Hinter Kaj versuchte ich mir einen Weg durch die Menge zu bahnen. Der Lautstärkepegel sprengte fast die Skala – zumindest hörte er sich für meine empfindlichen Ohren so an. Lykaner drängten sich dicht an dicht, Bewohner der Stadt schlängelten sich durch die Massen und ich entdeckte mindestens eine Handvoll Journalisten, die die Anwesenden befragten. Auch die Lykaner, die zu meiner Verwunderung sogar mit ihnen redeten. Einer von ihnen war Najat, der, umringt von ein paar seiner Wölfe, mittendrin stand. Tja, seine Aussage beim letzten Verfahrenstag hatte wohl einige Wellen geschlagen. Er war interessant für die Bevölkerung. Ein Lykaner, der sich nicht hinter Worten versteckte, sondern alles so meinte, wie er es sagte, ein Lykaner, der nicht verheimlichte, dass er …

Meine Augen erspähten eine Person, die ich überall erkannt hätte. Da vorn stand Veith mit ein paar Wölfen aus seinem Rudel und ich hielt mit Kaj an der Seite genau auf ihn zu. Jetzt einfach in eine andere Richtung zu gehen, wäre wohl ein wenig auffällig, aber das brauchte ich auch nicht. Einfach an ihm vorbeigehen und sich nichts anmerken lassen, das konnte doch nicht so schwer sein.

Schritt für Schritt kam ich ihm näher und dann, als hätte er meine Anwesenheit gespürt, richtete er seinen Blick auf mich. Diese Augen, ich wollte an liebsten in ihnen versinken, ihn einfach packen und hier vor allem auf dem Platz abknutschen, das wäre …

„Was hast du hier zu suchen, du Straßenköter?!“

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie jemand Kaj hefig zur Seite stieß. Sie knallte gegen mich, schaffte es dabei aber noch irgendwie auf den Beinen zu bleiben. Ich nicht. Die Wucht schleuderte mich nach hinten und ich riss noch zwei Männer mit mir, bevor ich in einem Knäuel aus Armen und Beinen zu Boden ging. Einer von ihnen knurrte, der andere stieß einen derben Fluch aus.

Verdammt, was war das denn gerade gewesen? „Verflucht noch mal, warum …“ Irgendwer packte mich am Arm und zog mich wieder auf die Beine, ein älterer Lykaner, denn ich noch nie gesehen hatte. Wildhund, wenn ich mich nicht täuschte. Verdutzt sah ich ihn an. „Ähm … danke.“

„Kein Problem“, sagte er und wandte sich in die Richtung vor mir.

Ich folgte seinem Blick und bekam dabei nur am Rande mit, wie die beiden Kerle, die ich mit umgerissen hatte, wieder auf die Beine kamen. Viel zu sehr war ich von dem Szenario, dass sich vor mir abspielte, gefangen. Kaj stand dort, kreidebleich im Gesicht, vor ihr Vater Waran, der sie mit lauter Stimme anbrüllte. So wie er aussah, würde er jeden Moment handgreiflich werden. Das konnte ich nicht zulassen.

Mit Ellenbogenkraft, drängelte ich mich an ein paar Schaulustigen vorbei, direkt auf die das Vater-Tochter-Duo zu.

„… hier nichts zu suchen! Dich hätte man schon vor Jahren …“

„Hey, schrei sie nicht so an!“, blökte ich dazwischen, rechnete aber nicht mit dem bösen Blick, den mir das einbrachte. Schluck. Werwölfe waren manchmal echt gruselig.

„Misch dich nicht in Sachen ein, die dich nichts angehen, Katze!“

„Wenn Sie so über sie herfallen, dann geht mich das sehr wohl etwas an, sie ist schließlich meine Freundin!“

„Deine Freundin ist hier nicht erwünscht, nicht nach allem, was sie getan hat!“, knurrte er mich an.

Dieser Mann war einfach nicht zu fassen. Hatte er bei ihrem letzten Treffen nicht richtig zugehört? Hatte er nicht verstanden, was ihr passiert war? Warum behandelte er sie so? „Sie ist ihre Tochter, wie können sie nur so über sie reden?“

„MEINE TOCHTER IST TOT!“, brüllte er mich an und brachte damit die Gespräche in unserem näheren Umfeld zum Verstummen.

Bei diesen Worten zuckte Kaj kaum merklich zusammen, doch ich sah es.

Jeder Ausdruck aus meinem Gesicht verschwand. „Sie ist nicht tot, sie steht hier neben mir und kann jedes Wort das Sie sagen, hören.“

„Diese Frau ist nicht meine Tochter.“

„Doch, sie ist ihre Tochter und die Mutter ihres Enkelkinds und nur, weil sie irgendwelche Wahnvorstellungen haben, ändert das nichts an der Wahrheit! Und jetzt gehen Sie mir aus dem Weg, bevor ich auf die Idee komme, handgreiflich zu werden!“ Ich versetzte ihm einen Stoß, der ihn zurücktaumeln ließ, packte Kaj bei der Hand und stolzierte mit ihr an meiner Seite, mit erhobenem Kopf an ihm vorbei. Dabei spürte ich Veiths Blick genau auf mir und konnte es mir einfach nicht verkneifen, so nahe an ihm vorbei zu gehen, dass ich seine Hand streifte. Die Berührung allein reichte aus, in mir den Wunsch zu wecken, mich in seine Arme fallen zu lassen, aber das ging hier nicht. Nachher nach der Verhandlung treffen wir uns am Schild. Ja, nachher, da konnte ich das ohne Bedenken tun, aber nicht jetzt.

Ich spürte noch die Blicke des Höhlenrudels im Rücken und glaubte sogar, ein Knurren zu hören, aber hier war es so verdammt laut, dass ich mir nicht sicher sein konnte.

„Vielleicht ist es wirklich besser, wenn ich wieder nach Hause gehe“, murmelte Kaj neben mir, als wir uns an einer Gruppe Hyänen vorbeischlängelten.

Verwirrt wandte ich ihr Gesicht zu und runzelte die Stirn. „Warum willst du nach Hause? Nur wegen dem Idioten da?“

„Nein, nicht nur, aber …“ Sie biss sich einen Moment auf die Lippen. „Spürst du denn nicht die ganzen Blicke?“

Blicke? Was für Blicke? „Keine Ahnung wovon du sprichst.“

„Na die Lykaner“, erklärte sie und ihr Blick huschte hin und her. „Sie wissen, wer ich bin und was ich getan habe. Sie wissen, dass ich für Erion gearbeitet habe.“

Ach wirklich? Ich ließ meine Augen über die Umstehenden gleiten, die wie wir, versuchten zum Ratsgebäude zu kommen, bevor die die Türen zu machten – ganz ehrlich, dieser Bau war riesig, aber so viele Leute wie hier draußen rumstanden, konnte man darin dann doch nicht unterbringen. Hier lief es nach dem Motto, wer zu spät kommt, verpasst das Beste, oder in diesem Fall die Anhörung. Umso wichtiger war es, dass Kaj und ich endlich zum Eingang kamen, damit wir nicht draußen stehen bleiben mussten. Aber um zum eigentlich Thema zurückzukommen, nein, ich sah niemanden, der Kaj beobachtete. Dafür sah ich aber etwas sehr viel interessanteres. Am Rand der Treppe, die hinauf zu dem großen Eingangsportal führte, stand Anwar und er unterhielt sich mit Prisca. Vielmehr stand er gelangweilt und etwas genervt da, während sie heftig gestikulierte und auf ihn einredete. Es wirkte, als wenn die beiden sich schon länger kennen würden, aber woher? „Haben die Lykaner vor der ganzen Sache hier viel mit Anwar zu tun gehabt?“, fragte ich Kaj.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, wie kommst du darauf?“

„Guck mal da.“ Ich zeigte auf die beiden Abseitsstehenden, die begonnen hatten, ihre Rollen zu tauschen. Anwar sagte etwas zu Prisca, woraufhin sie ihre Hände wütend zu Fäusten ballte. „Komm.“ Ich zog Kaj hinter mir her.

„Wo willst du hin?“

„Ich will wissen, was da los ist.“

„Hältst du es im Moment wirklich für eine gute Idee fremde Gespräche zu belauschen?“, fragte sie skeptisch, folgte mir aber nachgiebig.

„Ich belausche keine fremden Gespräche, ich will nur mal … ähm … hallo sagen. Ja genau, ich will hallo sagen.“

„Aber sicher doch.“

Ihr letzter Kommentar wurde schon aus Prinzip ignoriert. Dafür stellte ich beim Näherkommen die Ohren auf, um zu hören, was die beiden zu bereden hatten. Die ersten Wortfetzen wehten mir bereits nach ein paar Metern an die Ohren. Irgendwas über „… kannst du nicht …“ und „… nicht dulden.“

„Nicht dulden?“, höhnte Anwar. „Was kannst du schon dagegen unternehmen?“

Zwei Schritte weiter konnte ich jedes Wort von ihnen hören. Da ich das Gespräch aber nicht stören wollte, verschob ich mein „Hallo“ auf später, wenn sie fertig waren. Guter Plan, oder?

„Ich werde zum Hohen Rat gehen und ihnen alles sagen“, entgegnete Prisca ihm drohend. Sie sah noch schlimmer aus als bei unserem letzten Treffen. Ihre Haare waren stumpf und fettig, unter den Augen hatte sie dunkle Ringe und der Lendenschurz und sie selber waren dreckig. Sie sah richtig verwahrlost aus. Und Krank. Hatte sie abgenommen, oder waren ihre Rippen schon immer zu sehen gewesen?

Anwar schnaubte. „Nur zu, geh zu ihnen, sie werden dir kein Wort glauben.“

Glauben? Was glauben? Ich ging noch drei Schritte näher ran, um besser zuhören zu  können.

„Natürlich werden sie das, es ist noch nicht verjährt.“

„Vielleicht nicht, aber sie werden deinen Worten trotzdem keinen Glauben schenken, Prisca. Du hättest früher kommen müssen, jetzt werden sie denken, dass du mit dieser Geschichte nur deine eigene Haut retten willst.“

„Nein, werden sie nicht, sie werden mir glauben. Deswegen solltest du deinen Antrag zurückziehen, sonst werde ich zu ihnen gehen und ihnen alles erzählen. Dann ist es aus mit dir, Anwar.“

Wovon zum Teufel redeten die beiden da bloß?

Auch Kaj spitzte nun neugierig die Ohren, hielt sich aber wie ich im Hintergrund.

Anwar schüttelte den Kopf. „Die Zeit, in der du mich mit bloßen Worten erpressen konntest, ist vorbei. Und selbst, wenn ich von dem Antrag zurücktreten würde – was ich nicht vorhabe – würde das nichts ändern, dafür ist dieses Verfahren einfach zu weit fortgeschritten. Der Hohe Rat hat sich entschlossen, euren Verbleib im Codex zu erörtern und davon kann sie nun niemand mehr abbringen, auch nicht deine haltlosen Drohungen.“

Prisca sah aus, als würde sie diesem überheblichen Magier gleich das geringschätzige Grinsen aus dem Gesicht schlagen. „Sie sind nicht haltlos.“

„Aber zu dem jetzigen Zeitpunkt sind sie völlig irrelevant. Sieh es ein Prisca, du hast verloren.“ Er beugte sich leicht zu ihr vor, damit sie ihn auch ganz genau verstand. „Ich habe mich lange genug vor dir gebeugt und dafür wirst du jetzt bezahlen.“

„Dann lass mich dafür bezahlen, aber lass mein Volk da raus.“

„Zu spät, Prisca.“ Er trat einen Schritt auf sie zu und drang damit in ihren persönlichen Bereich ein, zwang sie damit, einen Schritt zurück zu weichen. „Dreizehn Jahre zu spät.“

Sie funkelte ihn wütend an, zu machtlos, um sich gegen ihn zu wehren. „Das kannst du nicht machen.“

„Nicht?“, fragte er gespielt überrascht, „aber das habe ich doch schon, sieh dich doch nur mal um.“ Er machte eine weitreichende Geste, die den ganzen Platz umschloss. „Es ist fast geschafft und auch mit deinen Drohungen kannst du nichts mehr dagegen tun.“

„Fordere mich besser nicht heraus, Anwar.“

Die Züge in seinem Gesicht verhärteten sich und gaben ihm eine Aura, die mich frösteln ließ. „Nein, Prisca, fordere du mich nicht heraus. Ich bin der Wesensmeister dieser Stadt und Teil des Hohen Rats. Ich besitze eine Macht, gegen die du nicht ankommst.“

„Aber auch nur, weil kein Wesen dieser Stadt die Wahrheit über den auch so hoch geschätzten Anwar von Sternheim kennt.“

„Ganz genau und wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich muss eine ganze Rasse aus dem Codex entfernen.“ Er nickte ihr verspottend zu. „Vielleicht trifft man sich ja mal auf der Jagd.“ Damit drehte er sich um und betrat die erste Stufe der Treppe, um ins Ratsgebäude zu gelangen.

Ich sah es in dem Bruchteil einer Sekunde, sah Priscas vor Verzweiflung verzerrte Miene und wie sich ihre Muskeln anspannten. Mir war sofort klar, was passieren würde, wenn ich nicht eingriff. Es lief wie ein Film vor meinem inneren Auge ab. Prisca war in diesem Moment ein verzweifelter Lykaner, ein Tier, das sich in die Ecke gedrängt fühlte – warum auch immer – und solche Tiere waren gefährlich.

„Anwar, pass auf!“, schrie ich genau in dem Moment, in dem Prisca zum Sprung ansetzte, um sich auf den Magier zu stürzen. Nein, das habe ich nicht getan, um Anwar zu beschützen, sondern weil es die Lykaner sicher in kein gutes Licht rücken würde, wenn einer der Ihren sich an einem Mitglied des Hohen Rats vergriff. Auch wenn Anwar im eigentlichen Sinne nur ein Parlamentär war, er war ihr Berater und gehörte deswegen irgendwie zu ihnen.

Die Zeit schien sich in den nächsten Sekunden zu verlangsamen. Prisca flog durch die Luft auf Anwar zu, in dem gleichen Moment, in dem er sich zu ihr umdrehte. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung und nur dadurch, dass er sich auf der Stelle zu Boden fallen ließ, schaffte er es ihrem Angriff zu entgehen. Sie flog über ihn hinweg und krachte auf die Stufen. Anwar rollte hinunter zum Boden, drehte seine Hände dabei in die Richtung der Alphawölfin und schoss ein silbernes Licht auf sie ab, das sie gleich noch einmal niederstreckte.

Mich hielt nicht mehr auf meinem Platz. Ich stürmte nach vorn, schubste dabei eine Frau zur Seite, die mir im Wege stand und nur blöd in die Gegend glotzte und stürzte an die Seite der Wölfin. „Prisca, alles in Ordnung?“

Sie hob schwerfällig den Kopf und richtete ihren hasserfüllten Blick auf mich, doch sie schien mich im ersten Moment nicht zu erkennen. Ihre Lippe blutete und an der Stirn hatte sie einen kleinen Kratzer. Von nahem sah sie wirklich noch schlimmer aus. Sie stemmte sich auf die Arme, ohne mich aus den Augen zu lassen, während Anwar sich im Hintergrund bereits wieder auf die Beine gerappelt hatte und tobte und wütete, dass er sich ein solches Verhalten nicht bieten ließe und dass das noch ein Nachspiel haben würde.

Ich blendete ihn einfach aus und richtete meine Aufmerksamkeit wachsam auf Prisca. Sie sah mich so seltsam an, da war es besser, sie nicht aus den Augen zu lassen.

„Du“, flüsterte sie und fokussierte ihren Blick auf mich. Jetzt wusste sie wieder, wer ich war. „Du bist an allem schuld!“ Bei dem letzten Wort schlug sie nach mir.

Ich konnte nur ausweichen, weil ich mit etwas in der Art gerechnet hatte, aber nicht mit dem, was folgte. Während Prisca auf die Beine sprang, verzerrte sich ihre ganze Mimik in eine entsetzliche Maske, eine Mischung aus Mensch und Wolf, in der nichts so recht zusammenpassen wollte. Und dann griff sie mich an. Ihre Zähne klackten aufeinander, als sie versuchte, mir in den Arm zu beißen, aber ich war zu schnell für sie. Nichts würde mich in diesem Moment an Ort und Stelle halten können. Ich sprang einfach nur auf und rannte los, die Treppe hinunter, vorbei an Kaj und in die Menge hinein. Leider kam ich nicht sehr weit, überall standen Leute herum. Sie taten nichts, außer mir zuzusehen und aus dem Weg zu gehen, wann immer es angebracht war. Klar, Prisca war eine Alphawölfin und dazu noch eine echt angepisste. Kein Lykaner würde sich ihr jetzt freiwillig in den Weg stellen. Und kein anderes Geschöpf stellte sich leichtfertig einem Lykaner in dem Weg. Jedenfalls nicht so einem.

Eine Frau, in einer langen bunten Robe, die plötzlich unbedacht aus der Menge trat, rannte ich einfach über den Haufen. Es war keine Absicht gewesen, aber ich hatte nicht mehr rechtzeitig bremsen können – und wollen, nicht mit Prisca auf den Fersen. Ich hatte auch keine Zeit mehr, mich bei ihr zu entschuldigen, dafür war die wütende Wölfin einfach zu nahe hinter mir. Nur das Schimpfen der Frau über ungehobeltes Pack wehte mir hinterher.

„Bleib stehen, du Missgeburt!“, schrie Prisca, als ich seitlich um das Gebäude rannte, in der Hoffnung, mich davon machen zu können. Ich wollte sicher nicht zwischen ihre Zähne geraten, also war stehen bleiben gar keine Option. Ihre Reaktion war sowieso völlig überzogen. Klar, ich hatte ihr den Angriff auf Anwar versaut, aber doch nur, um ihr den Arsch zu retten und das war jetzt der Dank dafür.

„Bleib stehen, habe ich gesagt!“

„Nicht bevor du dich wieder beruhigt hast!“, rief ich zurück und dann entdeckte ich meine Rettung. Da stand ein Baum, ein Ahorn. Er war nicht so stabil, wie die Bäume, auf die ich sonst kletterte und auch nicht annähernd so hoch, aber wie hieß es so schön? In der Not fraß der Teufel Fliegen. Ich sprang einfach, entließ meine Magie, damit ich meine Krallen in die bröcklige Rinde schlagen konnte, zog mich mit aller Kraft hinauf und entkam damit in der letzten Sekunde Priscas Krallen. Sie schrie vor Wut auf, als ich hochkletterte, immer darauf bedacht, wo ich meinen Fuß hinsetzte.

Knapp sechs Meter, höher kam ich nicht, weil die Äste mein Gewicht nicht mehr tragen würden und runterzufallen war im Augenblick das Letzte, was ich wollte. Nicht mit dieser Furie dort unten, die mir aus was weiß ich für Gründen an die Kehle wollte.

Mit hämmernden Herzen und schwerem Atem hockte ich auf diesem Baum und sah nach unten in die Menge, die sich rund um mich versammelt hatte. Prisca tobte und schrie mich an, dass ich nach unten kommen sollte.

Na klar, aber sicher.

Natürlich merkte sie sehr schnell, dass ich das nicht tun würde und versuchte dann, zu mir nach oben zu kommen, aber damit hatte sie auch nicht viel Glück. Sie hatte keine Krallen zum Klettern und der untere Teil des Baumes bot keine Äste, an denen sie sich zu mir nach oben ziehen konnte – zum Glück. Trotzdem versuchte sie es, mehrmals sogar, landete jedoch immer wieder auf dem Boden und schrie ihre Wut zur Welt hinaus.

Sie war völlig durchgedreht, wahnsinnig. Was war nur mit ihr passiert?

„… feige Katze“, schrie sie, „du hast alles kaputt gemacht, es ist alles deine …“

Verdammt, ich musste mit ihr reden, sie irgendwie beruhigen, damit sie wieder normal wurde, aber was sagte man in einer solchen Situation? „Prisca, jetzt beruhig dich doch erst mal.“

„… schuld. Wenn ich dich zwischen die Finger bekommen, dann werde …“

„Prisca, bitte.“

„… ich dich für alles büßen lassen, was du …“

Ich sah hilfesuchend zu den Lykanern unter mir, die in einem weiten Kreis um uns herumstanden, um der wütenden Wölfin nicht zu nahe zu kommen. Wenigstens schien niemand von Hohen Rat anwesend zu sein und auch sonst kein anderes Wesen, dass diese Situation falsch auffassen konnte.

Falsch? Bist du des Wahnsinns? Die versucht dich gerade umzubringen, was kann man da falsch auffassen?!

„… getan hast und …“

Nein, Moment, die Lykaner da unten waren keine Zuschauer, sie schotteten uns vor den anderen ab, damit niemand etwas zu sehen bekam, was vielleicht lieber im Vorborgenen geschah – obwohl Priscas Gebrülle ja wohl kaum zu überhören war. Wie nett. Das hieß, Prisca könnte mich jetzt wahrscheinlich umbringen und es gäbe nur Lykaner als Zeugen, die vermutlich nie etwas gesehen hätten, wenn man sie danach fragte.

„Prisca, bitte“, startete ich einen neuen Versuch. „Lass uns reden, dann können wir …“

„Reden? Reden?! Mit dir rede ich nicht mehr, das Einzige, was ich tun werde …“

Mist, so kam ich bei ihr nicht weiter. Ich würde sie nur weiter in Rage bringen. Wie sie da unten stand, sah sie aus wie eine Verrückte. Nicht nur ihr verwahrloster Eindruck, nein, auch dieser entrückte Ausdruck in ihren Augen. Irgendetwas musste geschehen sein, dass sie hier so ausflippte, nur was?

Ich ließ meinen Blick über den Platz geiten, in der Hoffnung, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden und stellte fest, dass sich jetzt wesentlich weniger Leute hier rumtrieben, als noch vor zehn Minuten. Klar, die Verhandlung musste jeden Moment beginnen. Die Leute hatten sich bereits alle einen Platz gesucht, um sie nicht zu verpassen. Mir kaum noch bekannte Lykaner waren hier draußen und von den wenigen die ich entdeckte, war keiner ein Alpha, das einzige Wesen, das mir vielleicht aus meiner misslichen Lage helfen könnte. Aber auch Kaj sah ich nicht. Hatte die sich etwa aus dem Staub gemacht? Nein, das würde sie nicht. Dafür war sie zu …

Als plötzlich mein Baum anfing zu wackeln, schlug ich meine Krallen erschrocken in das Holz des Ahorns, um nicht auf den Boden zu klatschen. Prisca hatte in ihrer Wut den Stamm gepackt und schüttelte so stark daran, dass der ganze Baum ächzte. Scheiße, die wollte mich runter schütteln. Jetzt musste ich mir schnellstmöglich etwas überlegen. Abwarten, bis mich jemand aus meiner ungünstigen Position befreite, war nun keine Option mehr. Der Baum hatte der Kraft eines wütenden Werwolfs nicht viel entgegenzusetzen und das wussten wir beide.

„Prisca, verdammt, hör auf damit, lass das!“, fauchte ich sie an. Der Ast um den ich mein Hand geklammert hatte, brach mit einem lauten knacken und ich drohte vornüber zu kippen. Mein Glück war nur, dass ich die Krallen meiner anderen Hand in den Hauptstamm geschlagen hatte. Der war ein bisschen stabiler. „Prisca, bitte.“ Hilfesuchend ließ ich meinen Blick schweifen und entdeckte nur zufällig, wie mehrere Gestalten aus dem Ratsgebäude gerannt kamen. Das straßenköterblonde Haar von Kaj hätte ich jederzeit erkannt und auch die drei Gestalten die ihr folgten, waren mir auch nicht fremd. Kaj hatte die Wölfe aus dem Wolfsbaumrudel alarmiert und führte sie nun direkt auf mich zu. Ich danke Gott im Himmel, oder wer auch immer da die Fäden zog, dafür, folgte mit dem Blick, wie sie sich durch den Kreis der Lykaner drängten und mich auf dem Baum entdeckten, an dem ich mich mit meiner ganzen Kraft klammerte.

Fang war bei ihnen und Rem. Und auch Tyge. Sein Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an, als er Prisca sah und dann stürzte er sich ohne zu zögern auf die Alphawölfin.

Der Anblick, wie der Beta sein Oberhaupt angriff, war alles andere als schön. Sie krachten zusammen auf den Boden, Tyge oben. Er versuchte sie unten zu halten und auf sie einzureden, doch Prisca war wie von Sinnen, Sie schlug nach ihm, knurrte, biss ihn bis es blutete und schrie dabei Zeter und Mordio, doch sie hatte nicht die Kraft ihn abzuwerfen, nicht in ihrem geschwächten Zustand, in dem sie sich befand. Das machte sie so wütend, dass sie noch heftiger zu strampeln begann. Und als sie sich einfach nicht beruhigen ließ, tat Tyge das Einzige, was ihm in diesem Moment noch tun konnte, er dominierte sie, um seine Stärke zu demonstrieren und sie damit zur Unterwürfigkeit zu zwingen.

Ein Schlag auf den Kopf, ein fester Biss in die Kehle und Prisca erstarrte unter ihm. Er knurrte, biss fester zu, als sie sich regte, solange bis sie sich ihm völlig unterwarf und dann geschah etwas Magisches – anders konnte ich es einfach nicht ausdrücken. Priscas Körper fing aus heiterem Himmel an zu glühen, strahlte ein violettes Licht ab, das langsam ihren Körper verließ und auf Tyge überging.

Und dann war es vorbei, einfach so. Um uns herum herrschte eine gespenstige Stille. Tyge richtete den Oberkörper auf und fixierte Prisca so lange wortlos, bis diese von sich aus demütig den Kopf neigte. Und dann brach sie in Tränen aus. Sie lag einfach da und begann herzzerreißend zu schluchzen. Nun war ich völlig verwirrt. Was in Dreiteufelsnamen war das gerade gewesen?

Tyge erhob sich seufzend auf die Beine, nahm Prisca auf seine Arme, als wöge sie nicht mehr als eine Feder und drückte sie schützend an sich. Sofort vergrub sie das Gesicht an seiner Brust und weinte dort weiter. Er warf mir einen kurzen Blick zu und drehte sich dann zu Rem und Fang um, die ihm nur einen Moment in die Augen sahen, um dann auf die Knie zu fallen und unterwürfig den Kopf zu neigen.

„Kommt“, sagte er streng. Seine plötzliche Stimme wirkte in der Stille wie ein Kanonenschuss und als wäre es genau das gewesen, zuckten Rem und Fang auch zusammen. Tyge achtete nicht weiter auf sie, sondern schritt durch die Reihen der Lykaner mit Prisca auf dem Arm einfach davon. Rem und Fang folgten ihm wortlos und ich konnte nur beobachten, wie sie in der lückenhaften Menge auf dem Platz des Ratsgebäudes verschwanden.

Okay, das war selbst für hiesige Verhältnisse seltsam gewesen. Seit wann fingen Lykaner einfach so wie ein Glühwürmchen an zu leuchten?

„Du kannst jetzt runter kommen“, teilte Kaj mir mit.

Ich zögerte einen Augenblick, das Erlebte hing mir noch in den Knochen und meine zitternden Finger schafften es kaum einen festen Griff an dem Baum zu finden, als ich langsam mit dem Abstieg begann. Der Kreis um mich herum löste sich nach und nach auf und als ich unten ankam und mich neben Kaj stellte, waren nur noch ein paar Nachzügler vor Ort.

„Es war zu viel für sie“, sagte Kaj. Sie hatte den Blick auf die Stelle gerichtet, an der die Wolfsbaumwölfe verschwunden waren.

„Was?“

„Prisca, es war zu viel für die. Ihre Zeit ist vorbei.“

Prisca vergräbt sich in ihrem Schmerz und lässt keinen mehr an sich heran. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, dann hat das Wolfsbaumrudel einen neuen Alpha. Viele hoffen auf Onkel Tyge. Er hat Kraft und auch die Erfahrung, aber er ist zu alt, er würde die jungen Anwärter nicht lange abwehren können.

Wie ein Steinschlag prasselten diese Worte, die Pal vor gar nicht mal so langer Zeit zu mir gesagt hatte, auf mich ein. Jetzt wusste ich, was ich gesehen hatte. Die Aura, wie sie jeder Alpha besaß, war auf Tyge übergegangen. Das Rudel von unter den Wolfsbäumen hatte einen neuen Leitwolf.

 

°°°

 

Die Türen zum Ratsgebäude waren geschlossen, Kaj und ich kamen nicht mehr hinein. So blieb uns nur die Möglichkeit, uns eine leeres Fleckchen auf dem harten Boden vor dem Gebäude zu suchen und das Verfahren über das große Flimmerglas zu verfolgen, dass auf dem Ratsplatz aufgebaut worden war. Irgendjemand in dem Gebäude verfolgte die Anhörung und sandte die Bilder in seinen Gedanken mit Hilfe einer Azalee nach draußen auf das große Flimmerglas. Diese Lösung war zwar nicht gerade optimal – besonders, da mein Hintern schon allein von dem Gedanken daran wehtat, hier draußen sitzen zu müssen –, aber es war allemal besser, als unverrichteter Dinge nach Hause zu gehen. Wenigstens regnete es zur Abwechslung mal nicht. Der Himmel war zwar zugezogen, aber trocken – zumindest für den Moment.

„Nennen Sie uns Ihren Namen“, verlangte Dandil von der Wölfin mit dem feurig, rotem Haar, die auf dem Podest saß. Er war wie immer in seine gelbe Robe gekleidet, wie jedes Mitgliedes Hohen Rats. Das weiße Fell auf seinem Kopf war penibel zurückgekämmt und sogar seine Schwänze schien er mit einer Bürste bearbeitet zu haben, oder waren die schon immer so plüschig gewesen?

„Zita vom Landsitzerrudel, ich bin die Alphawölfin meines Rudels.“

Ich erinnerte mich. Sie hatte uns damals begleitet, als wir losgezogen waren, um Erion aufzuhalten. Ich hatte sie als überhebliche Zicke im Gedächtnis behalten.

„Ihnen ist bewusst, dass sie hier die Wahrheit sprechen müssen, da es sonst eine Strafe nach sich ziehen kann?“

„Ja, das weiß ich.“

Die Ansicht auf die Beiden blieb immer gleich weit entfernt. Egal wer uns da zeigte, was in dem Gebäude vor sich ging, er musste in den unteren Reihen der Tribüne sitzen und gab uns damit eine gute Einsicht in die Gesichter von Dandil und Zita.

„Als Alpha eines ganzen Rudels, haben Sie eine Menge zu sagen, stimmen Sie mir da zu?“ Wie immer verschränkte er die Arme auf dem Rücken und bewegte sich um das Podest herum. Vielleich brauchte er das ja, um nachzudenken. Oder er wollte die Zeugen damit einfach nur irritieren.

„Ich habe das Sagen“, stimmte Zita ihm zu.

„Gut. Ich möchte einmal eine theoretische Szene darstellen. Nehmen wir einmal an, am Ende dieses Verfahrens, werden die Lykaner des Codex verwiesen sein. Was werden Sie dann tun?“

Völlig entspannt lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück. Wie die Alphas da immer nur so locker sein konnten, war mir ein echtes Rätsel. „Ich nehme meine Wölfe und kehre mit ihnen zurück in unser Revier.“

„Ohne sich gegen diese Entscheidung zu wehren?“

„Dazu besteht kein Grund. Das Einzige, was ich mir wünsche, ist mein Leben wieder so aufzunehmen, wie es gewesen ist.“

In Dandils Gesicht trat dieser lauernde Ausdruck, der nie etwas Gutes verhieß. „Aber in dem Szenario, das ich Ihnen eben aufgegeben habe, wird Ihr Leben nicht mehr so aussehen, wie es einmal war.“

Pass auf Zita, pass bloß auf.

„Ob das stimmt, wird nicht von Dir abhängen.“

Gute Antwort.

Dandil verzog leicht das Gesicht. Das war wohl nicht das, was er hatte hören wollen. „In Ordnung, lassen wir das einen Moment. Sie haben gesagt, dass Sie in ihr Revier zurückkehren werden, aber nach der Rechtslage werden Sie kein Anspruch mehr auf ein eigenes Stück Land haben, was bedeuten würde, es gibt kein Revier, in das Sie zurückkehren können.“

„Das behaupten Sie.“

Er legte den Kopf leicht schief, als traute er seinen Ohren nicht. „Wollen Sie damit sagen, dass Sie auf ein Stück Land Anspruch erheben, auf das Sie kein Recht haben?“

Zita verschränkte die Arme vor der Brust und sah den Kitsune herausfordernd an. „Es ist mein Revier und das meines Rudels. Es ist seit vielen Generationen in unserem Besitz und ich werde es mir nicht wegnehmen lassen.“

Er hatte sie umrundet und blieb genau zwischen ihr und dem Hohen Rat stehen. „Das heißt, Sie werden ein Stück Land, das Ihnen dann nicht mehr zusteht, notfalls auch mit Gewalt verteidigen?“

„Sollten Streitigkeiten entstehen, werden die nicht von mir aus gehen.“

Dandil schnaubte abwertend. „Das ist eine nette Umschreibung, um mit Ja zu antworten.“

Darauf erwiderte sie nichts.

„Gut, nehmen wir ein anderes Szenario.“ Und wieder nahm er seinen Lauf um das Podest auf. „Sagen wir, am Ende dieses Verfahrens, bleibt alles wie gehabt und die Lykaner sind nicht aus dem Codex verstoßen. Was werden Sie in diesem Fall tun?“

Sie stutzte einen Moment, als befürchtete sie eine List seinerseits. „Ich werde mein Rudel nehmen und mit ihm in mein Revier zurückkehren.“

„Sie tun in beiden Fällen das Gleiche?“

„Ja.“

„Also werden Sie auch in dem zweiten Fall die Grenzen ihres Reviers verteidigen.“

„Natürlich.“ Glasklar und ohne Zögern.

„Das heißt“, sinnierte Dandil und hatte sie bereits wieder halb umrundet, „sollten die Lykaner nicht dem Codex verwiesen werden, werden Sie das Gleiche tun, was Sie auch vor dem Verfahren getan haben, was so viel bedeutet, wie, dass Sie aus der ganzen Sache nichts gelernt haben, weil Sie an Ihrem Verhalten nichts ändern werden.“

Dazu schwieg Zita.

„Beantworten Sie die Frage.“

„Ich sehe keinen Grund etwas zu ändern“, sagte sie stur.

Verdammt, warum konnten Lykaner niemals ein wenig einsichtig sein? Nur hin und wieder, das war doch wirklich nicht zu viel verlangt, oder? Mit diesem Verhalten jedenfalls werden sie keine Pluspunkte beim Hohen Rat sammeln.

„Es würde das Leben der anderen Spezies erleichtern, ist das denn kein guter Grund, etwas zu ändern?“, fragte er scheinheilig.

„Ich habe mit den andern Spezies nichts zu tun und wenn sie von meinem Rudel und unserem Revier weg bleiben, gibt es auch keinen Grund für eventuelle Geschehnisse, die mich dazu zwingen würden, etwas zu ändern.“

„Zwingen“, sinnierte er. „Es ist ein Zwang für sie, etwas zum Wohl der Allgemeinheit zu ändern?“

„Wenn damit das Leben meiner Lykaner beeinträchtig wird, ja.“

„Aber Sie sind Teil des Codex“, bedachte er, „Teil einer großen Gemeinschaft. Ihre Vorfahren haben unterschreiben und zugestimmt, dazuzugehören. Das bringt leider nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten mit sich, vor denen sich die Lykaner schon immer gedrückt haben.“

„Wir haben uns nicht gedrückt, wir haben uns so verhalten, wie es im Codex geschrieben steht. Dort steht auch, dass die anderen Wesen unsere Grenzen respektieren müssen und wir diese im Notfall gegen Eindringlinge verteidigen dürfen.“

„Aber ein Wanderer, der vom Weg abkommt, ist kein Eindringling.“ Er hielt vor ihr und wandte sich zu ihr um.

„Jeder, der die Grenze übertritt, ist ein Eindringling“, beharrte Zita auf ihrem Standpunkt.

„Genau wie eine junge Tänzerin, der dort ein Antrag gemacht wird und aufgrund des folgenden Vorfalls niemals wieder wird tanzen können.“

Zita kniff die Augen zusammen, als hätte er sie mit diesen Worten persönlich angegriffen. „Das habe ich nicht zu verschulden.“

Dandil neigte den Kopf neugierig zur Seite. „Haben sie kein Mitgefühl, für diese Frau?“

„Es tut mir leid für sie, dass es so gekommen ist, aber ich werde deswegen jetzt keine schlaflosen Nächte erleben, wenn Sie das meinen. Ich kenne sie nicht und sie ist mir nicht wichtig.“

„Weil nur das Rudel wichtig ist.“

„Genau.“

„Aber jeder der im Codex steht, hat sich damit verpflichtet, auch anderen zur Seite zu stehen“, erinnerte er sie.

„Solange sie die Grenzen nicht überschreiten.“

„Aber das tun Sie doch auch nicht.“

Ihre Stirn runzelte sich leicht. „Ich versteh nicht.“

„Was ich damit meine, Sie und auch kein anderer Lykaner verlässt je freiwillig die Grenzen des jeweiligen Territoriums.“

„Nein, nicht, wenn kein dringender Grund dazu besteht“, bestätigte sie. „Warum auch? Wir haben alles was wir brauchen, mehr wollen wir nicht.“

„Aber wenn Sie es nie verlassen, können Sie nicht helfen und entziehen sich damit ihrer Pflicht für die Gemeinschaft, die, wie es im Codex festgehalten wurde, den Frieden aufrecht erhalten soll, damit nie wieder so etwas wie in den Jahrhunderten davor geschehen kann.“ Und wieder nahm er seinen Lauf auf. „Und auch die Lykaner haben damals zugestimmt, dazu beizutragen, was so viel bedeutet, wie, dass Sie und auch jeder anderer Lykaner, sich bereits seit je her gegen den Codex stellen und trotzdem als Mortatia angesehen werden wollen.“

„Weil wir Mortatia sind“, sagte Zita bestimmt. „Um das zu erkennen, brauchen wir kein Stück Papier auf dem das steht, wir wissen, wer wir sind.“

Dandil hielt mitten in seinem Lauf inne und drehte sich ihr überrascht zu. „Wollen Sie damit sagen, dass es Ihnen gleich ist, ob Sie Teil des Codex sind, oder nicht?“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Was haben Sie dann gesagt?“

Sie ließ die Hände auf den Tisch fallen und drehte sich so, dass sie ihn ansehen konnte. „Ich habe damit gemeint, was ich gesagt habe. Aber um auch den Frieden mit uns zu garantieren, wäre es von Vorteil, wenn man alles genauso beließe, wie es ist.“

Das war eine unterschwellige Drohung und das war wohl jedem in diesem Saal klar.

Dandil nickte, als hätte er genau das gehört, was er hören wollte. „Danke, das war alles, was ich wissen wollte. Sie sind entlassen und ich möchte Anwar von Sternheim aufrufen.“

„Moment“, scholl da eine liebliche Frauenstimme durch den Saal.

Der Kameramann – oder wie auch immer man die Person nannte, die das Flimmerglas bediente – schwang den Kopf herum.

Aus den Reihen des Hohen Rats erhob sich die blonde Obsessantia, deren zierliches Aussehen wie immer nicht ganz mit der machtvollen Aura zusammenpassen wollte. „Ich hätte auch noch einige Fragen.“

Und wieder einmal bekam Dandil diesen Ausdruck im Gesicht, der vermuten ließ, dass ihm etwas sehr ekliges unter der Nase klebte. Trotzdem trat er anstandslos zur Seite, als die blonde Wölfin die Treppe herabschritt und seinen Platz vor Zita einnahm. Obsessantia sah der Alphawölfin so lange in die Augen, bis diese leicht den Kopf neigte und damit die Überlegenheit der anderen Wölfin anerkannte. „Du bist sehr festgefahren in deinen Ansichten“, sagte sie sanft.

„Ich bin traditionell“, erwiderte Zita bestimmt.

„Und verbietet diese Tradition es, anderen in ihrer Not zu helfen?“

Sie schüttelte leicht den Kopf. „Nein.“

„Hilfst du anderen auch?“

„Wenn es die Situation erfordert, dann ja.“

Obsessantia neigte den Kopf leicht zur Seite. „Auch außerhalb deines Rudels?“

„Es kommt selten vor, aber es ist bereits vorgekommen.“

Wow, mit Obsessantia sprach Zita ganz anders, als mit Dandil. Hatte es etwas damit zu tun, dass sie jetzt mit einem Lykaner sprach, oder dass Obsessantia ihr überlegen war?

„Nenne uns ein Beispiel“, verlangte die Wölfin des Hohen Rats.

Zu der wohl allgemeinen Verwunderung brauchte Zita da gar nicht lange überlegen. „Im letzten Jahr hat das Rudel von unter den Wolfsbäumen um Hilfe gebeten, um die von Erion von Sternheim entführten Lykaner zu befreien.“

„Hast du dafür eine Gegenleistung verlangt?“

„Nein.“

„Das war sehr nobel von dir.“

„Es war angebracht in der Tatsache, was geschehen war“, erwiderte Zita.

„Das ist wohl war.“ Obsessantia setzte sich auf den Rand des Podests und zog ein Bein unter den Po, als handelte es sich bei diesem Gespräch um ein nettes, zwangloses Zusammensein und nicht um ein Verhör, das dazu beitragen könnte, die Lykaner zu retten – oder auch nicht. „Aber was mich und sicher auch jeden anderen im Auditorium interessiert, ist, hast du oder dein Rudel schon mal jemanden anderem als einem Lykaner in seiner Not geholfen, so wie der Codex es verlangt?“

Sie zögerte, seufzte dann. „Ja“, sagte sie knirschend und wandte den Blick ab, als wäre es ihr unangenehm, dass diese Tatsache zur Sprache kam. Sie fand es wohl unwürdig so etwas zu tun und dass sie das hier auch noch laut verkünden musste, war ihr unangenehm. Da sollte doch einer noch mal die Werwölfe verstehen.

„Sag mir was passiert ist“, verlangte Obsessantia.

Zita lehnte sich vor und stützte sich mit verschränken Händen auf die Unterarme. „Griano, damals noch ein Junge von dreizehn Jahren, kam vom Spielen aus dem Wald zu mir mit den Worten, da liegt ein Mann in einem Loch. Natürlich habe ich im ersten Moment geglaubt, er spielt noch immer, aber nein, er hat genau das gemeint, was er gesagt hat, da lag ein Mann in einem Loch. Genaugenommen in einem alten, ausgetrockneten Brunnen im Wald, der von uns nie versiegelt worden war. Es war ein Reisender, ein Waldnymph, der glaubte, um schneller an sein Ziel zu gelangen, sei es eine gute Idee, eine Abkürzung durch meinen Wald zu nehmen.“

„Diese Meinung hat er wohl sehr schnell geändert“, überlegte Obsessantia belustigt.

„Ja.“

„Was ist weiter passiert?“

„Ich bin mit ein paar meiner Wölfe zum alten Brunnen aufgebrochen und habe den Nymph geborgen. Er hatte sich bei dem Sturz ein Bein gebrochen und die Schulter ausgekugelt, die Schmerzen haben ihn ohnmächtig werden lassen.“

Obsessantia neigte den Kopf neugierig zur Seite. „Habt ihr ihn außerhalb deiner Grenzen gebracht, dort abgelegt und einfach seinem Schicksal überlassen, wie die Mehrheit in diesem Saal es wahrscheinlich gerade vermutet?“

„Natürlich nicht“, echauffierte sie sich beleidigt, als sei allein der Gedanke daran völlig absurd.

„Was habt ihr dann getan?“ Ihr Kopf neigte sich zur anderen Seite. Irgendwie hatte diese Bewegung etwas hündisches an sich. „Habt ihr ihn umgebracht, um euch des Problems schnellstmögliches zu entledigen und seinen Leichnam dann irgendwo in den Tiefen deines Waldes vergraben, wo ihn nie jemand finden wird?“

Zur Antwort bekam Obsessantia ein verärgertes Knurren von der Alphawölfin und wow, ich hatte nicht geglaubt, dass es jemand gab, der sich so direkt der blonden Wölfin widersetzte, aber was verstand ich auch schon von Dominanzspielchen?

„Wir sind keine Monster, die alles niedermetzeln, was unseren Weg kreuzt.“

„Nicht?“, fragte Obsessantia gespielt überrascht und machte ein doch sehr erstauntes Gesicht.

Ich musste mich zusammenreißen, um nicht zu kichern.

Zita warf der jüngeren Frau einen verärgerten Blick zu. „Nein, sind wir nicht und das weißt du ganz genau, also tu nicht so überrascht.“

Ich schätze, Zita nervte dieses Spielchen von Obsessantia einfach.

Die Wölfin vom Hohen Rat dagegen schien sich köstlich zu amüsieren, jedenfalls sah sie so aus. „Wenn ihr ihn nicht weggeschafft hab und auch nicht umgebracht, was habt ihr dann getan? Vielleicht die Wächter gerufen, damit sie den Eindringling entfernen?“

Zita sah sie an, als glaubte sie, das Obsessantia den Verstand verloren hätte. „Und damit noch mehr Eindringlinge in meinem Revier zu dulden?“ Sie schnaubte.

„Dulden?“

„Ja dulden. Wir haben in ins Lager gebracht, wo er von unserem Heiler behandelt wurde. Er hat seinen Arm wieder eingerenkt und sein Bein geschient.“

„Und dann habt ihr ihn außerhalb von euren Grenzen ausgesetzt.“

Zita tippte genervt mit den Fingern auf den Tisch. „Nein.“

„Was habt ihr dann mit ihm gemacht?“

Ein Zögern. Es passte Zita wohl nicht, dass sie es sagen sollte. „Wir haben ihn eine Zeitlang bei uns aufgenommen, bis er allein gehen konnte.“

„Wirklich?“

Okay, wenn dieses Erstaunen gespielt war, dann hatte sie das echt gut drauf. Meine Überraschung dagegen war echt. Die Lykaner hatten einen Fremden unter diesen Umständen bei sich aufgenommen? Tja, Wunder geschahen halt immer wieder.

„Ja.“

„Ihr habt einen Fremden, der kein Lykaner ist und dazu noch ein Eindringling in dein Revier aufgenommen und gesund gepflegt?“

„Ja.“

„Und er hat euer Territorium nach seiner Heilung unbeschadet verlassen?“

Noch ein Zögern. „Nein.“

„Nein? Er hat es nicht unbeschadet verlassen?“

Oh oh, was kam denn jetzt noch?

„Nein, er hat es überhaupt nicht verlassen.“

Obsessantia richtete sich verblüfft auf. „Ist er gestorben? Eine Infektion, oder ein Wolf, der sich nicht zurückhalten konnte?“

Oh bitte nein.

„Nein.“

Puh, noch mal Schwein gehabt.

„Na was denn dann?“, fragte Obsessantia ungeduldig, als wollte sie nicht länger auf die Folter gespannt werden. Fehlte nur noch, dass sie aufgeregt rumzappelte.

Ein Seufzen, das wohl Zitas Kapitulation andeuten sollte. „Meine Tochter hat sich in ihn verliebt und er in sie. In der Zwischenzeit sind sie Gefährten.“

Was? Zita hatte bereits eine erwachsene Tochter mit einem Gefährten? Wahnsinn. Ich musste später unbedingt mit ihr reden, vielleicht würde sie mir ja das Geheimnis ihrer Jugend erzählen. Möglicherweise war es ein Jungbrunnen. Ob es in dieser Welt wohl einen Jungbrunnen gab? Das wäre doch mal interessant zu recherchieren, irgendwann mal, wenn ich ein bisschen Zeit hatte und die Probleme sich nicht meterhoch türmten. Und … Moment, war es nicht Zita gewesen, die vor einem Jahr so abfällig über das Wolfsbaumrudel gesprochen hatte, weil sie einen Therianer zu ihren Leuten zählten?

„Soll das heißen, du hast einen Waldnymph in dein Rudel aufgenommen?“, fragte Obsessantia ungläubig.

Mann, die war echt eine gute Schauspielerin. Aber als Mitglied des Hohen Rats musste man wohl einiges an Können mitbringen.  

„Er hat sich in der Gemeinschaft bewährt“, entgegnete Zita schlicht.

„Ist das ein ja?“

„Ja.“

Mann, wie sie das sagte, war doch nichts Schlimmes dabei. Ich verstand gar nicht, warum sie sich so anstellte. Es war doch eigentlich ganz nett von ihr.

„Es kann für dich nicht einfach gewesen sein, zuzusehen, wie dein einziges Kind die Liebe außerhalb deines Rudels fand“, erkannte Obsessantia sanft.

Zita faltete ihre Hände auseinander und legte sie mit gespreizten Fingern auf den Tisch. „Ich kann nicht bestreiten, dass es mir lieber gewesen wäre, wenn sie sich einen Lykaner gesucht hätte, aber wenn es schon jemand außerhalb des Rudels sein musste, bin ich froh darüber, dass ihre Wahl auf Nemus fiel. Auch wenn es ihm nicht immer gelingt, so versucht er doch zumindest uns und unsere Lebensweise zu verstehen.“

„Hättest du von vornherein gewusst, was geschehen würde, wenn du den Nymph mit in dein Lager nimmst, hättest du anders gehandelt?“

„Ich hätte mit Sicherheit zwei Mal darüber nachgedacht, mich aber trotzdem nicht anders entschieden, weil ich sehe wie glücklich meine Tochter mit ihrem Gefährten ist“, sagte sie ohne zu zögern.

„Denn das Wohlbefinden des Rudels ist der wichtigste Aspekt im Leben eines Alphas“, sinnierte Obsessantia. 

Zita hob den Blick. „Was wäre ein Alpha ohne sein Rudel?“

„Ein wahres Wort.“ Die zierliche, blonde Wölfin erhob sich und ließ den Blick über die Zuschauer schweifen. „Ist Nemus heute im Auditorium?“

„Ja.“ Zita nickte in die oberen Sitzreihen.

Auch Obsessantia wandte sich in diese Richtung und machte den Gesuchten sehr schnell aus. „Nemus, bitte stehe auf, damit alle dich sehen können.“

Das Bild auf dem Flimmerglas schwang auf einen jungen Mann mit grasgrünen Haaren – waren die vielleicht sogar aus Gras? – und brauner Haut, der ein echt nettes Gesicht hatte. Nur die Augen waren seltsam. Sie waren ganz grün, besaßen keinerlei Pupille.

„Wie ich höre, hast du deinen Platz im Landsitzerrudel gefunden“, sprach Obsessantia in direkt an.

Er nickte ein wenig unbeholfen. Offensichtlich war es ihm peinlich die allgemeine Aufmerksam zu auf sich zu haben.

„Lebst du gerne dort?“

In seinem Gesicht ging die Sonne auf. Er lächelte so glücklich, dass bei niemanden einen Zweifel an seinem folgenden Nicken aufkommen konnte.

„Regin von Kamaron, bitte erhebe dich.“ Obsessantia drehte sich um sich selbst, bis sie eine gedrungene Frau entdeckte, die sich in den Reihen der Lykaner von ihrem Patz erhoben hatte und neugierig nach unten schaute. Sie war eindeutig eine Serpens – die Schlangenhaare waren nicht zu verkennen. „Regin, würdest du uns bitte sagen, wo du lebst?“

„Ich bin ein Mitglied der Usomhyänen“, sagte sie laut, damit auch jeder sie von dort oben hören konnte.

Obsessantia drehte sich mit einem Lächeln weiter. „Und Taka von Land der Winde, auch dich möchte ich bitten, dich zu erheben.“

Kannte Obsessantia jeden in diesem Saal mit Namen?

Eine Windin mit wirbelndem, durchscheinendem Haar stand von ihrem Platz auf und sah durchs Auditorium nach unten zu der mächtigen Wölfin.

„Sag uns, Taka, welchen Ort nennst du dein Zuhause?“

„Ich gehöre zu den Füchsen der Sternenwälder.“

„Und Domina aus dem Sommerland.“ Obsessantia drehte sich herum, bis sie die Gesuchte inmitten der Lykaner sah. „Domina, wo führst du dein Leben?“

„Ich kam als Kind zu den Wölfen von unter den Wolfsbäumen und lebe noch heute als ein Teil des Rudels dort.“

Und das waren nicht alle. Obsessantia rief noch ein halbes Dutzend anderer Wesen auf, die auf irgendeinem Weg Mitglieder verschiedener Rudel geworden waren.

In mir machte sich ein Stich des Neides breit, als zum Ende hin mehr als zehn Personen standen, die keine Lykaner waren und trotzdem zu ihnen gehörten. Sie wurden nicht nur geduldet, nein, sie gehörten zu den Rudeln. Was hatten sie, was ich nicht hatte? Warum wurden sie akzeptiert und ich durfte nur am Rande stehen und zusehen? Das war nicht fair.

Die paar Leutchen machten vielleicht einen Prozent der anwesenden Lykaner aus und trotzdem waren sie beeindruckend. Einfach nur weil sie es geschafft hatten, eine Gemeinschaft zu knacken, die nichts mit Außenstehenden zu tun haben wollten.

In diesem Moment wünschte ich mir, dass sie mich auch aufrief. Ja klar, ich wusste dass ich hier draußen saß und selbst wenn sie mich gerufen hätte, nicht aufstehen könnte, ohne das es albern gewirkt hätte, aber trotzdem wünschte ich es mir. Ich gehörte zwar keine Rudel an, war in der Zwischenzeit aber sehr wichtig für die Gemeinschaft der Lykaner geworden und genießt sogar ihr Vertrauen, oder? Zumindest irgendwie. Sie vertrauten mir ihre Verlorenen Wölfe an, luden mich zu ihren Ritualen ein und dulden mich zeitweise sogar in ihren Revieren und Lagern. Nur einem Rudelmitglied wird ansonsten ein solcher Zugang zu den Rudeln erlaubt. Ich sollte auch dort stehen.

„Auch Lykaner interagieren in ihrem Umfeld mit Wesen, die nicht zu ihrem Rudel gehören“, fuhr Obsessantia fort, „nur eben anders, als die anderen Spezies, was nicht verwerflich ist. Die Wesen, die hier stehen sind der Beweis dafür. Ja, wir sind Lykaner und ja, wir sind anders als andere, aber wir arbeiten nicht gegen den Codex. Wir sind Mortatia!“

In einem solchen Moment rechnet man vielleicht damit, dass alle von ihren Plätzen aufspringen und wild ihre Beifallsbekundungen kund taten – zumindest tat ich das –, aber nichts dergleichen passierte. Die Lykaner richteten ihren Blick nur starr auf den Hohen Rat. Das war wohl ihre Art, der Wölfin des Hohen Rats zuzustimmen.

Obsessantia  wandte sich wieder der Alphawölfin auf dem Podest zu. „Zita, ich möchte dir für deine Beteiligung danken und entlasse dich hiermit, wenn Dandil keine weiteren Fragen an dich hat?“ Sie ließ ihren Satz in einer Frage ausklingen.

Dandil schüttelte den Kopf. Einmal hin und ein her. „Nein, ich habe keine Fragen mehr. Zita vom Landsitzerrudel kann entlassen werden und ich würde nun gerne Anwar von Sternheim aufrufen.“

„Anwar von Sternheim soll vortreten, Zita vom Landsitzerrudel ist entlassen“, schallte da eine Stimme durch unsere Köpfe. Ich war wohl nicht die einzige, die erschrocken zusammenzuckte. Das konnte nur wieder dieser dreiäugige Typ aus dem Hohen Rat gewesen sein, dieses Orakel. Mein Gott, wenn ich den sogar hier draußen hören konnte, wie mächtig war der Kerl eigentlich?

In den nächsten Minuten verfolgte ich auf der Leinwand, wie Zita das Podest frei machte und Anwar ihren Platz einnahm. Von dem fast-Überfall durch Prisca war nichts mehr gesehen. Er war geschniegelt wie immer und hatte dabei diese leicht arrogante Haltung, als Dandil vor ihn trat, um mit der Befragung zu begann.

„Nennen Sie uns Ihren Namen.“

„Anwar von Sternheim, Wesensmeister der Stadt Sternheim und Parlamentär des hochgeachteten Hohen Rats.“

Schleimer.

„Ihnen ist bewusst, dass Sie hier die Wahrheit sprechen müssen, da es sonst eine Strafe nach sich ziehen kann?“

Anwar nickte. „Ja, das ist mir bewusst.“

„Anwar von Sternheim“, begann Dandil dann und verschränkte die Arme auf dem Rücken. „Bei Ihrer letzten Vernehmung haben Sie uns die Gründe aufgezeigt, die Sie dazu veranlasst haben, so drastische Maßnahmen zu ergreifen, um dem Treiben der Lykaner ein Ende zu setzten. Um an diesen Punkt zu gelangen, an dem Sie sich nun befinden, haben Sie sehr viel Wissen in Bezug auf die Lykaner und deren Verhalten angehäuft, ja ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, Sie seien auf diesem Gebiet mittlerweile ein Experte.“

Ein geschmeicheltes Lächeln erschien in dem Gesicht des Magiers. „Nun ja, soweit würde ich nicht gehen, aber ja, ich habe mir zu dieser Thematik einiges an Wissen angereichert.“

„Das heißt, Sie können das Verhalten der Lykaner vorbestimmen?“, fragte er neugierig.

„Ein wenig.“

Dandil nickte, als hätte er nichts anders erwartet. „Zita vom Landsitzerrudel hat behauptet, egal wie dieses Verfahren ausgehen wird, sie wird mit ihrem Rudel friedlich die Stadt verlassen. Stimmt sie dieser Aussage zu?“

„Ja, denn im Moment weist nichts darauf hin, dass die Lykaner aggressiv bei einem Ausschluss reagieren werden, egal was der Alphawolf Najat vom Steinbachrudel behauptet. Das heißt natürlich, solange alles so läuft, wie sie es sich vorstellen.“

Neugierig neigte Dandil den Kopf zur Seite. „Was meinen Sie damit?“

„Nun ja“, begann Anwar und beugte sich ein wenig nach vorn. „Sollten die Lykaner nicht ausgeschlossen werden, wird sich an ihrem Verhalten – wie Zita vom Landsitzerrudel bereits deutlich gesagt hat – nichts ändern. Die Lykaner sehen keinen Grund, ihre Lebensart zu verändern und wenigstens ein paar ihrer Traditionen aufzugeben, um etwas zum Besseren zu wenden, nur weil sie Druck von außen bekommen. Sollten sie aber den Codex verlassen müssen, werden wir die Bevölkerung anfangs sehr zur Vorsicht ermahnen müssen.“

„Warum?“

„Es wird zu befürchten sein, dass die Lykaner die Landstriche, auf die sie vor dem Gesetz her kein Recht mehr haben, bis aufs Blut verteidigen werden. Ist früheres Eindringen in ihre Territorien – ob nun beabsichtigt oder nicht – noch halbwegs human abgelaufen, so wird es dann gefährlich werden, diesen Grund und Boden zu betreten. Die Lykaner werden aggressiv vorgehen, weil sie sich von jedem fremden Wesen, das sich ihnen nähert, bedroht fühlen werden. Sie werden eine Gefahr für sich und das Land, das sie zu besitzen glauben, sehen. Der Grund dafür ist ganz einfach: Tiere, die sich in die Ecke gedrängt fühlen, beißen.“

Oh, du mieser, kleine Kotzbrocken.

„Was würde das für eine Stadt wie Sternheim bedeuten, die praktisch – von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen – von Territorien der Lykaner eingeschlossen ist?“, wollte Dandil wissen. Der tat ja wirklich so, als sei Anwar plötzlich über Nacht zum Experten in Sachen Lykaner mutiert, was völliger Blödsinn war, da hatte ich ja mehr Ahnung von diesen Leutchen.

„Es würde bedeuten, dass die Bewohner in ihrem Leben sehr eingeschränkt werden“, antwortete Anwar. „Und dass sie jeden Schritt, den sie außerhalb der Stadt tun, mit Bedacht setzen können.“

„Das wäre eine Zumutung für die Bevölkerung.“

Anwar nickte. „Das ist wahr, daher würde ich in einem solchen Fall – sollte es wirklich dazu kommen –, auf den Plan der Dämonenkolonien zurückgreifen. Er wurde damals zwar nicht in die Tat umgesetzt, ist aber eine der humansten Möglichkeiten, mit dem Problem fertig zu werden.“

Dämonen? Hatte er wirklich gerade Dämonen gesagt? Ich beugte leicht mich zu Kaj hinüber. „Es gibt Dämonen?“

„Schhht.“

Vielen Dank auch für die Auskunft.

„Dämonenkolonie?“, fragte Dandil ganz verwirrt, so verwirrt, dass es nur gespielt sein konnte. „Würden Sie uns bitte erläutern, was Sie damit meinen, denn ich bin hier wohl gerade nicht der Einzige, der ein wenig ratlos ist.“

Ratlos, von wegen. Im Gegensatz zu mir, wusste der Fuchs garantiert, was Anwar meinte. Aber bitte, mir sollte es recht sein. So würde ich wenigstens nicht dumm sterben.

Der Magier verschränkte die Hände auf dem Tisch und richtete seine Worte dann direkt an den Hohen Rat. „Damals, als der Codex gegründet wurde, wurden auch die Dämonen trotz ihrer wilden und aggressiven Natur und den vielen Gegenstimmen darin aufgenommen, doch leider sollte die Mehrheit recht behalten, dass der Gattung der Dämonen nicht für den Status eines Mortatia geschaffen war. Sie mit Tieren zu vergleichen, wäre noch harmlos ausgedrückt. Sie konnten sich einfach nicht den Regeln des Codex unterwerfen und friedlich mit den anderen Rassen zusammenleben.“

Dandil begann vor Anwar auf und ab zu laufen. „Das ist uns wohl bekannt, jedes Wesen lernt das bereits im Geschichtsunterricht in der Schule, die einzige Rasse, die jemals aus dem Codex verbannt wurde, die Gründe und deren Folgen.“

Ich beugte mich erneut zu Kaj hinüber. „Gibt es Mortatia, die nicht im Codex stehen?“

„Das hast du doch gerade gehört und jetzt sei leise.“

Hm, das war das letzte Mal, dass ich Kaj irgendwo hin mitnahm. Unhöfliches Weib.

„Und genau um die geht es hier“, sagte Anwar daraufhin.

Dandil blieb stehen und richtete seinen Blick auf Anwar. „Ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinaus wollen, erklären Sie das bitte.“

Das war wohl das erste Mal dass ich derselben Meinung war wie dieser Kitsune. Den Tag musste ich mir im Kalender rot anstreichen.

„Ich rede von den Folgen“, erwiderte der Magier. „Also, aufgrund ihrer Natur wurden die Dämonen sehr schnell wieder aus dem Codex ausgeschlossen, nur leider haben sie das nicht ohne Gegenwehr zugelassen. Damals war der Frieden noch frisch und so wurde der Ausschluss gehandhabt, wie es für diese Zeit üblich war: mit Gewalt. Aber was nur die wenigsten wissen, es gab damals noch einen Ausweichplan für solche Fälle, eine Kolonie, in die die Aussätzigen gebracht werden konnten, um die Lebensweise der anderen Rassen nicht zu beeinträchtigen.“

Was? Hatte ich das richtig verstanden? Die wollten die Lykaner nehmen und sie alle auf einem kleinen Fleckchen zusammenpferchen? Am besten noch auf einer einsamen Insel irgendwo weit draußen im Meer, wo es niemand mitbekommen würde, wenn sie sich gegenseitig zerfleischten, oder was? Das konnten die doch nicht allen Ernstes vorhaben, das konnte doch nur in Mord und Totschlag enden und ich war mir sicher, dass sowohl Anwar, als auch Dandil das ganz genau wussten.

„Ihr Plan lautet also, alle Lykaner einzusammeln und sie auszuweisen“, fasste Dandil zusammen.  

„Nein. Solange die Lykaner friedlich bleiben, haben sie nichts zu befürchten, doch sollte nur ein Mann, oder eine Frau handgreiflich werden, dann sollte das gesamte Rudel in eine Gegend umgesiedelt werden, in der es niemanden mehr gefährlich werden kann.“

Im Klartext hieß das so viel, wie, entweder zogen die Lykaner sich freiwillig zurück, wenn jemand Anspruch auf ihre Reviere erhob – um Ressourcen zu schaffen, oder neue Orte anzusiedeln –, oder sie wurden mit Gewalt entfernt.

„Diese Einstellung ist sehr barmherzig von Ihnen, barmherziger jedenfalls, als die Lykaner selber sind.“ Dandil wandte sich zum Hohen Rat herum, um direkt mit ihm zu sprechen. „Heute vor der Anhörung hat sich die Rakshasi Kreol von Sternheim, eine Anhängerin der Gruppe der Antagonisten, mit einer Ereignis an mich gewandt, das in der vergangenen Nacht stattgefunden hat und von dem ich finde, dass es wichtig ist, es hier zu hören. Dazu möchte ich Kreol von Sternheim aufrufen.“

Antagonisten? Eine von den Protestanten? Na das konnte ja nichts Gutes verheißen. Was diese Gruppe von Unruhstiften wohl nun schon wieder vorzubringen hatte?

Einen Moment herrschte Ruhe im Auditorium, dann schallte die wieder diese Stimme durch unsere Köpfe. „Kreol von Sternheim soll Vortreten, Anwar von Sternheim ist entlassen.“

Dandil bedankte sich noch einmal bei Anwar, für dessen Zusammenarbeit und dann stand der Magier auf und tauschte seinen Platz mit einer jungen Rakshasi, ein Wesen das die perfekte Verschmelzung von Mensch und Panther darstellte. Rakshasis waren irgendwie wie ich, nur dass sie sich nicht verwandeln konnten. Das war ihre Gestalt, in der sie geboren wurden und mit der sie lebten.

Diese Rakshasi war sehr jung und sehr … nennen wir es außergewöhnlich. Auweia, so wie dieses Mädel aussah, mussten die Antagonisten ja wirklich in den letzten Löchern nach Genossen suchen. Oder jeden aufnehmen, der bei ihrem Anblick nicht sofort die Flucht ergriff – was bei dem Aussehen des Mädchens auf keinen Fall so ein verkehrter Gedanke war.

Eine Art String mit Büstenhalter war alles was sie trug – solche Leute liefen en masse in der Stadt Sternheim herum, aber dieser Anblick war schon ziemlich extrem. Ihre Ohren waren mehrfach gepierct, um die Hüften trug sie Ketten, die bei jedem Schritt gegen ihre Beine klirrten und ein nietenbesetztes Stirnband, hielt ihr ihre langen, schwarzen Haare aus dem Gesicht. Und das seltsamste? Sie kam mir bekannt vor. Aber wenn sie wirklich zu den Protestanten gehörte, die ständig auf dem Platz vor dem Dschungelpark rumhingen, dann hatte ich sie sicher schon einmal gesehen.

 „Nennen Sie uns Ihren Namen“, verlangte Dandil, sobald die Rakshasi sich gesetzt hatte.

„Ich bin Kreol von Sternheim.“

„Ihnen ist bewusst, dass sie hier die Wahrheit sprechen müssen, da es sonst eine Strafe nach sich ziehen kann?“

„Ein klares ja, Mann.“

Dandil verzog über die vulgäre Aussprache pikiert das Gesicht. „Sie sind heute mit einer Geschichte an mich herangetreten, die ich höchst besorgniserregend fand und für dieses Verfahren als wichtig erachte. Daher möchte ich Sie bitten, sie vor dem Hohen Rat noch einmal zu wiederholen.“

„Klar, kein Problem, deswegen bin ich ja in diesem Schuppen.“ Sie lehnte sich lässig zurück und ließ einmal neugierig den Blick durch den Saal schweifen. Fehlte nur noch, dass sie die Beine auf den Tisch legte und schmatzend Kaugummi kaute, dann wäre das Bild perfekt. „Also“, begann sie sehr langgezogen. „Ich bin gestern noch bei Brest gewesen, um da so … naja, das können Sie sich sicher denken und da bin ich dann irgendwann gegangen, weil, er ist zwar voll süß und so, aber danach, wenn er wegpennt, wirklich krass, der schnarcht, als wolle er einen ganzen Wald absägen und da bin ich dann so nach Hause gegangen und stellte fest, dass ich meine Tasche nicht bei mir hatte und das war voll scheiße und so, weil da meine ganzen Sachen drinnen waren und da dachte ich so nach, wo sie sein könnte und dachte natürlich, dass ich sie bei Brest habe stehen lassen und bin dann noch mal da hin, was er gar nicht gut fand, weil der hat schon gepennt und so und ich habe ihn wieder wach machen müssen, um ins Haus zu kommen und dann war meine Tasche gar nicht da, können Sie sich das vorstellen?“

„Unfassbar“, konnte Dandil sich nicht verkneifen zu spotten und ich musste ihm ehrlich zustimmen. Wow, dieses Mädel sprach ohne Punkt und Komma und musste dabei nicht einmal Luft holen. Zumindest glaubte ich, dass sie das nicht getan hatte. Und die Geschwindigkeit in der sie die Worte aneinanderhängte, das war wirklich … naja, so wie Dandil gesagt hatte, unfassbar.

„Ja, das fand ich auch“, stimmte sie ihm zu, nicht kapierend, dass er sie und nicht ihre Geschichte gemeint hatte. „Und dann musste ich wieder nachdenken und so und mir ist eingefallen, dass ich ja auf dem Platz vor dem Dschungelpark mit den anderen Antagonisten war und da dachte ich so bei mir, ich dachte, Kreol, vielleicht hast du sie ja da vergessen und dann bin ich da noch mal hin, obwohl ich eigentlich gar nicht wollte, weil es ja so stark geregnet hat und das war voll eklig und so, aber ich brauchte ja meine Sachen, also bin ich dann trotzdem da hin und hab da gesucht und so und da habe ich die Stimmen gehört“, schloss sie mit einem Gesicht, dass bei allen wohl den Grad der Spannung steigern lassen sollte.

Mir dagegen wurde plötzlich schlecht, denn mir war nur zu bewusst, was gestern Nacht bei den Verlorenen Wölfen geschehen war.

In Dandils Augen trat ein Glitzern, das mir absolut nicht gefallen wollte. Es zeigte nur zu deutlich,  wie die Rädchen in seinem Kopf arbeiteten, um die Lykaner schlecht möglichst dastehen zu lassen. „Was waren das für Stimmen?“

„Naja.“ Sie lehnte ihr Knie gegen den Tisch und fing an mit ihrem Stuhl zu kippeln. Ob ihr eigentlich klar war, dass die hier vor dem Hohen Rat saß? So wie sie sich benahm, sicher nicht. Wahrscheinlich war das einfach nur ein aufregendes Erlebnis für sie, mit dem sie später vor ihren Freunden angeben konnte. „Ich bin dann da so rumgelaufen und so und da habe ich halt diese Stimmen hinter dem Schild reden gehört und erst habe ich mir auch nichts dabei gedacht, ging mich ja schließlich nichts an und so, aber dann habe ich diese Hüterin schreien hören, von wegen, woher wollte ihr das denn wissen, oder so und da bin ich eben neugierig gewesen und habe zugehört, was da los ist und so.“

„Und was war da los?“

„Naja, da standen so ein paar Leutchen rum und haben gequatscht und so und irgendwas von entführen und paralysieren geredet und so und ich glaube, dass es dabei um die Sache mit Erion von Sternheim ging uns so und das er wohl einer von den Typen die er einkassiert und gehirntot gemacht hat früher ein Frauenmörder gewesen ist und sie das jetzt herausgefunden haben und so und sich aber nicht einig waren, weil Talita das nicht wollte, aber die anderen wollten es und ließen sie nicht ausreden und so.“

Kaj sah mich überrascht von der Seite an und auch von anderen Lykanern spürte ich plötzlich die Blicke auf mir. Ich versuchte sie, so gut es ging, zu ignorieren.

Dandil kam einen Schritt näher, begierig darauf auf den Kernpunkt der Geschichte zu kommen. „Was ließen sie sich nicht ausreden?“

„Na die wollten den umbringen, diesen Mörderwolf, weil er von so ´nem Typen die Braut kalt gemacht hat und der war auch da und dann noch so ein Typ und die wollten alle den Wolf, aber Talita wollte den beschützen und so.“

„Das heißt an diesem Gespräch waren mehrere Personen beteiligt, die …“

„Vier waren´s“, unterbrach sie ihn einfach. „Vier Stimmen habe ich gehört.“

Dandil schloss einen Moment die Augen und sah aus, als müsste er sich dazu zwingen, seine Befragte nicht einfach des Auditoriums zu verweisen, weil sie ihm einfach so dazwischen gequatscht hatte. „Das heißt, an diesem Gespräch waren vier Leute beteiligt, die darüber stritten, ob sie einen hilflosen Schutzbefohlenen töten sollten.“

Ach jetzt waren meine Wölfe plötzlich hilflose Schutzbefohlene? Sonst stellte er sie immer als hirnlose Monster dar, die sich nicht zurückhalten konnten und alles angriffen, was sich bewegte. Der drehte auch alles so, wie es ihm gerade in den Kram passte.

„Ne ne“, sagte Kreol und schüttelte den Kopf, während sie ihren Stuhl wieder nach vorn fallen ließ. „Die haben sich nicht gestritten, nur unterhalten und drei wollten den Wolf umbringen, aber Talita nicht, weil sie nicht glauben konnte, dass er getötet hat und so, also hat sie immer so gesagt, nein, ihr dürft das nicht tun und hat behauptet, der andere lügt und so, aber die anderen haben davon nichts wissen wollen und haben sie dann einfach weggeschickt, um den Wolf dem Hals umzudrehen und so.“

„Moment, Talita Kleiber von München wurde von den anderen weggeschickt?“

„Das habe ich doch wohl gerade gesagt.“ Sie verdrehte die Augen, als sei Dandil total dämlich, oder taub. Vielleicht auch beides.

„Und sie ist einfach so gegangen“, stellte er fest.

„Naja, nicht ganz. Zuerst hat sie nochmal versucht, die anderen davon abzuhalten, aber die haben nur gesagt, dass sie verschwinden soll und dann ist sie auch verschwunden und dann sind die anderen über den Wolf hergefallen und haben den kalt gemacht.“

„Kalt gemacht?“

„Ja, die haben den einfach umgebracht und so, haben ihn einfach gepackt und fertig gemacht und ihn dann in den Wald gebracht, um ihn zu begraben, oder so.“

Die Blicke auf mir wurden immer intensiver. Ich kam mir vor, als würden sie mich mit Lasern beschießen. Da war es echt schwer ruhig zu bleiben und so zu tun, als würde man nichts bemerkten.

Dandil horchte auf. „Die Todesstrafe? Ohne Beweise, ohne Verhandlung?“

„Das habe ich doch wohl gerade gesagt, oder?“ Sie sah ihn an, als wäre er völlig plemplem. „Die haben geglaubt, dass er getötet hat und gesagt, so wird das unter Lykanern gehandhabt und so und dann haben sie ihn umgebracht.“

Dandil kniff leicht die Augen zusammen. „Woher wissen Sie so genau, dass es Talita Kleiber von München war, die sich gegen diese Tötung ausgesprochen hat, sich dann aber vom Platz des Geschehens zurückzog, ohne etwa Hilfe zu leisten und nicht jemand anderes?“

So war das gar nicht gewesen!, hätte ich am liebsten geschrien, aber hier draußen würde mir sowieso niemand gehör schenken.

„Naja, ich kenne sie eben vom Park und aus der Zeitung und so und sehe sie regelmäßig dort rumlaufen und auch hinter dem Schild, wenn sie da rumläuft und so und auch als die Wächter da waren, da hab ich sie da auch gesehen.“

„Und wer waren die anderen? Sie haben von vier Stimmen gesprochen.“

Sie zuckte nichtssagend mit den Schultern. „Woher soll ich das wissen, ich kenn die ja nicht alle und es hat geregnet und so, aber die eine glaube ich, war die andere Hüterin, obwohl ich sie noch nie habe sprechen hören, aber ich glaube da war ein weißer Wolf und die Hüterin ist doch ein weißer Wolf, das haben Sie mir heute Morgen gesagt.“

Dandil Gesicht wurde zu einer verschlossenen Maske. Dass er ihr etwas verraten hatte, was für dieses Verfahren ein wichtiger Hinweis sein konnte und dass sie das dann auch noch laut hier verkündete, passte ihm wohl so gar nicht. Aber nun war es zu spät, alle hatten es gehört.

„Sie sprechen von Saphir vom Eissternrudel“, sagte Dandil.

„Ja, genau die, von der stand auch schon mal was in der Zeitung und so, aber ich weiß nicht genau ob sie das war, weil da sind ja noch andere weiße Wölfe in dem Park und ich will hier niemanden beschuldigen, oder so.“

„Nein, natürlich nicht“, sagte Dandil zynisch. „Aber ohne jemand zu beschuldigen, wenn Sie raten müssten, wer, glauben Sie, waren die anderen beiden Personen, die sich an dieser Tötung beteiligt haben?“

„Wirklich, Mann, ich habe keine Ahnung.“ Kreol schüttelte den Kopf, als wollte sie dem Gesagten noch Nachdruck verleihen. „Ich kenne die Stimmen nicht und da es so krass geregnet hat und so dunkel war und so, habe ich auch nicht gesehen, wer da noch so rumhing.“

„Können sie mir dann sagen, welcher Spezies die Beteiligten angehörten?“

„Naja, was Talita ist weiß ich nicht so genau, aber der Weiße war eindeutig ein Lykaner und die beiden anderen haben ständig rumgeknurrt und so, deswegen denke ich, dass sie auch Lykaner sind und der eine war nackt und der andere trug einen Lendenschurz, wie die Lykaner es immer tun, Sie wissen schon, diese hässlichen Stofffetzen und so, aber da sie sich nicht bei mir vorgestellt haben, kann ich das nicht so genau sagen.“

Der blöde Witz fruchtete weder bei Dandil noch bei einem anderen im Auditorium.

Zum ersten Mal seit dieser Vernehmung, verschränkte Dandil die Hände auf dem Rücken und begann einen Lauf um das runde Podest herum. „Das heißt also, diese Leute, bei denen wir davon ausgehen können, dass es Lykaner waren, haben Richter und Henker in einer Person gespielt, ohne sich vorher davon zu überzeugen, dass sie keinen Unschuldigen bestrafen.“

„Ja klar, das habe ich doch gerade gesagt, Mann, hören Sie mir gar nicht zu?“ Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie so ein bodenloses Verhalten einfach nicht fassen.

„Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen haben, extra zu uns zu kommen und von den Geschehnissen zu berichten und entlasse Sie hiermit aus der Befragung.“

Mein Gott, der konnte das Mädel wohl nicht schnell genug loswerden, aber zu meinem Leidwesen verstand ich ihn, wenn ich auch andere Gründe hatte.

„Klar, Mann, kein Problem, fand halt, dass es wichtig ist uns so und die Lykaner sind ja echt gefährlich und da muss man was tun und so.“

Dandil nickte bestätigend und achtete nicht weiter darauf, als Kreol das Podest verließ, sondern wandte sich gleich zum Hohen Rat herum. „Diese Begebenheit zeigt uns mal wieder, wie gefährlich die Gesellschaft der Lykaner selbst untereinander ist. Sie sind nicht so barmherzig zueinander, wie wir vorhaben mit ihnen umzugehen – sollten wir dem Plan von Anwar von Sternheim im Falle eines Ausschlusses verfolgen –, was nur dafür spricht, dass ihnen nicht der Status eines Mortatia zusteht, denn das ist kein mortatisches Verhalten.“

Und das schlimmste daran? Ich stimmte ihm zu.

 

°°°

 

Es folgte eine kurze Pause, die ich dazu nutzte, das Klo aufzusuchen. Kaj hatte ich ins Auditorium vorgeschickt, damit sie uns dort wenigstens für den zweiten Teil der Anhörung Plätze sichern konnte. Ganz ehrlich, ich wollte keine Minute länger dort draußen auf dem harten, kalten Glasboden sitzen. Außerdem sah es so aus, als würde es jeden Moment anfangen zu regnen und darauf hatte ich nun wirklich keinen Bock. Davon hatte ich in der letzten Zeit einfach zu viel abbekommen. Wasser aus der Dusche war okay, vom Himmel dagegen? Ein völliges no go. Gut, aus dem Wasserhahn, vor dem ich gerade stand, um mir die Hände zu waschen, war es auch in Ordnung, aber mehr dann auch nicht.

Ich trocknete mir die Hände mit einem Wegwerftuch ab, schmiss es in den Mülleimer und machte mir zur Tür auf. Weit kam ich nur nicht, denn kaum dass ich sie geöffnet hatte, prallte ich mit einer festen Männerbrust zusammen und wurde zurückgedrängt. Ich musste gar nicht sehen, wer das war, ich erkannte ihn allein am Geruch. Veith.

Sein Gesicht war grimmig, als er die Tür verriegelte und mein Gesicht zwischen die Finger nahm, um mich zu mustern.

Dass ich anfing zu lächeln, konnte ich gar nicht verhindern. „Bist du nur gekommen, um mich anzugucken, oder werde ich auch noch geküsst?“ Das wurde ich und zwar so stürmisch, dass mir ganz anders wurde. Wow, keine Ahnung womit ich das verdient hatte, aber er konnte mich gerne öfter so überfallen, ich würde mich sicher nicht dagegen wehren.

„Ich dachte, dir wäre etwas passiert“, raunte er an meinen Lippen und drängte mich rückwärts, bis ich an die Waschtische stieß. Moment, hatten wir das nicht schon mal gehabt? Wir sollten wirklich aufhören uns auf dem Klo zu treffen, dass endete irgendwie immer gleich.

„Passiert?“, fragte ich leicht benebelt und griff in sein Haar, damit er mir auch ja nicht entkommen konnte.

„Mit Prisca, ich habe es gerade erst gehört.“

„Prisca?“ Sollte ich mir jetzt Sorgen machen, dass er an eine andere Frau dachte, während er mit mir zugange war?

Seine Hände fassten nach meiner Hüfte, als er sich enger gegen mich drängte. „Sie hat dich gejagt.“

„Gejagt?“ Irgendwie verarbeitete mein Gehirn seine Worte nicht richtig.

Veith beendete den Kuss so abrupt, dass ich leicht irritiert war. Und als er mich dann auch noch festhielt, als ich ihn wieder zu mir ran ziehen wollte, wurde ich leicht ärgerlich. Was war sein Problem?

„Talita, Prisca hat dich gejagt und versucht zu töten.“

Ach so, dass war sein Problem.

„Ich habe es gerade von einem Lykaner aus dem Rudel der Immertalwölfe gehört.“

„Oh … äh, mir geht es gut.“

„Ich sehe es“, sagte er trocken und trieb mir damit mal wieder die Schamesröte ins Gesicht.

„Also“, sagte ich verlegen und strich mir mein grünes Haar hinters Ohr, „hast du nur nach mir gucken wollen, oder schweben dir noch andere Dinge im Sinn herum.“

Sein Gesicht nahm einen weicheren Ausdruck an, als er mir mit der Hand über die Wange strich. „Ich muss wieder zurück, ich wollte mich nur versichern, dass es dir gut geht.“

„Oh“, machte ich ein wenig enttäuscht. „Na dann, wir sehen uns dann ja nachher.“

„Ja.“ Er hauchte mir noch einen Kuss auf die Lippen und verschwand dann genauso plötzlich, wie er aufgetaucht war. Ich wartete ein paar Minuten, bis ich ihm ins Auditorium folgte, schließlich wollte ich ja nicht, dass man uns zusammen aus dem Damenklo kommen sah und vielleicht noch auf falsche Gedanken kam. Aber das hätte ich mir auch sparen können. Die Toiletten waren vielleicht leer gewesen, aber auf den Gängen herrschte ein Gedränge, das kaum ein durchlassen zuließ. Ich brauchte sehr viel Geduld – und ein wenig Ellenbogenkraft – um mich ins Auditorium vorzuarbeiten und meinen Platz auf den Tribünen zu finden. Zu meiner Überraschung lag der nicht wie sonst zwischen den Lykanern, sondern in dem Teil in dem sich die anderen Wesen niedergelassen hatten. Kaj hatte sich wahrscheinlich dort hingesetzt, weil sie immer noch unter Verfolgungswahn litt, aber ihr zu erklären, dass hier niemand auf ihren Kopf aus war, weil sie Erion geholfen hatte, brachte wohl nichts. Und mit ihren Klamotten sah sie eher wie ein Therianer aus, als wie ein Lykaner, also störten sich die anderen Wesen auch nicht an ihr.

Ich hatte gerade meinen Platz eingenommen, als die Stimme von diesem dreiäugigen Typen, diesem Orakel durch meinen Kopf schallte.

„Ruhe.“

Gänsehaut. Egal wie oft das passierte, das war immer noch gruselig.

Die Geräuschkulisse im Auditorium sank rapide ab, bis nur noch leichtes Murmeln aus den Reihen des Hohen Rats zu hören war. So entging wohl auch niemanden, als die Tür zum Saal geöffnet wurde und ein Mann mit blauer Haut und langem Haar, das wie Wasser um seinen Kopf schwappte, von zwei Wächtern in den Raum eskortiert wurde.

Oh Mann, musste man die Zeugen nun schon zwingen hier aufzutauchen? Nein, Moment. Ich kniff die Augen leicht zusammen. Sie führten ihn nicht hinein, sie schirmten ihn ab. Waren das sowas wie Bodyguards? Was war das für ein seltsamer Kerl?

Die beiden Wächter bauten sich links und rechts neben dem Typen auf, als er sich auf seinen Stuhl auf dem Podest setzte. Sein Blick schweifte unruhig hin und her und würde ich es nicht besser wissen, würde ich sagen, der blaue Kerl dort unten hat vor irgendwas eine scheiß Angst. 

„Ich möchte mich beim Hohen Rat für diese unübliche Vorgehensmaßnahme entschuldigen“, sagte Dandil an die Frauen und Männer in gelben Roben gerichtet, „aber mein Zeuge braucht diese Unterstützung von Seiten des Rechtssystems, um eine Aussage machen zu können.“

Darauf folgte einen Moment Stille.

„Akzeptiert“, schallte es wieder durch unsere Köpfe. Mann, daran würde ich mich wohl nie gewöhnen können.

„Ich danke dem Hohen Rat.“ Dandil wandte sich dem blauen Kerl zu. „Nennen Sie uns Ihren Namen.“

„Firn vom Amphitrite Bai.“

„Ihnen ist bewusst, dass sie hier die Wahrheit sprechen müssen, da es sonst eine Strafe nach sich ziehen kann?“

„Ja … ja das weiß ich.“

Er nickte, als hätte er nichts anders erwartet. „Ich habe Sie heute vorgeladen, weil ich aus den Akten der Wächter weiß, dass Sie in ihrem Leben ein einschneidendes Erlebnis mit den Lykanern hatten und ich es wichtig finde, dass auch der Hohe Rat erfährt, was ihnen widerfahren ist.“

Nervös leckte sich Firn über die Lippen und ließ seinen unruhigen Blick in alle Richtungen schnellen, als fühlte er sich von den Anwesenden bedroht. „Ja, ich … das verstehe ich.“

„Sie sind nicht gerne hier“, stellte Dandil fest.

Ach ne. Um das zu bemerken, brauchte man keinen Master in Psychologie, das erkannte schon ein Blinder mit Krückstock. Idiot.

„Nein, ich … seit dem Vorfall…“ Er knetete seine Hände nervös auf dem Tisch. „Also … ich habe ausgeprägte Psychose und bin klaustrophobisch, das heißt … also …enge Räume machen mir Angst und … manchmal bekomme ich Panik, weil … also …“

„Die Lykaner machen Ihnen Angst“, fasste er zusammen.

Firn nickte erleichtert, dass er es hatte nicht aussprechen müssen, warf aber noch einen schnellen Blick in die oberen Reihen. „Ja, ich … seitdem ist das so.“

„Und dass ist es auch, was ich jetzt von ihnen wissen möchte.“ Dandil verschränkte die Arme auf dem Rücken und begann wieder mit seinem Dauerlauf. Allerdings hielt er es bei diesem Typen hier wie bei Anwar und lief nur vor ihm auf und ab. „Warum machen die Lykaner ihnen Angst, das war schließlich nicht immer so, oder?“

„Nein, früher … ich … ich hatte nie ein Problem mit ihnen, damals, auf Incredibilis.“

Incredibilis? War das nicht der Kontinent, von dem die Rajawölfe kamen? Dem musste ja wirklich etwas Schlimmes zugestoßen sein, wenn er deswegen sogar den Kontinent wechselte und hier auf Florescere kam. Ich hatte Bilder von den verschieden Kontinenten in Büchern gesehen. Incredibilis war ein ganzer Kontinent, der wie das reinste Inselparadies wirkte. Voll von Palmen uns Stränden und, naja, vielen kleinen Inseln. Florescere dagegen waren zu großen Landstrichen übersät mit Wäldern, Gebirgen und Moorlandschaften. Also etwas ganz anderes.

Wieder bewegte sich Firns Haar, als sei es aus Wasser. Es erinnerte mich an eine Welle. Ich wusste, dass Kaj mich wieder anzischen würde, aber ich wollte wissen, was das für ein Kerl war. „Was ist er“, fragte ich sie leise.

„Ein Nereide und jetzt sei ruhig.“

Ein Nereide? Waren das nicht die die fünfzig Töchter irgendwelcher Gottheiten aus dem im alten Griechenland, die in Höhlen auf dem Grund des Meeres lebten? Oder auch anders gesagt, Meerwassernymphen? Die gab es auch in der männlichen Version? Wieder einmal etwas dazu gelernt.

„Incredibilis?“, fragte Dandil. „Da kommen Sie her?“

„Ja, da war es … das Meer, es war mein Zuhause und ich vermisse es.“

„Warum sind sie dann gegangen?“, wollte der Kitsune wissen.

Firn zögerte. Schweiß perlte auf seiner Stirn, er wurde immer unruhiger. „Ich lebte in einer Höhle unter dem Meeresspiegel, in der Nähe der … vom Rifatrudel.“

„Rifatrudel?“, flüsterte ich Kaj zu.

Sie seufzte genervt. „Ein kleines Rudel, Abkömmlinge von den Rajawölfen, sehr revierfixiert und jetzt sei ruhig und hör zu.“

„Das Rifatrudel?“, fragte auch Dandil an Frin gewandt.

„Ja, der Strand über meiner Höhle gehörte zu ihrem Revier und … sie haben mich dort geduldet. Ich bin nicht oft an Land gewesen.“

Dandil blieb stehen und drehte sich zu ihm herum. „Sie haben Ihre Anwesenheit also akzeptiert.“

„Ja.“

„Wann hat sich das geändert?“

„Nie. Ich war … ich durfte immer bleiben“, sagte er leise.

„Aber was hat sie dann vertrieben?“

Ein Ruck ging durch den Nereiden und seine Hände begannen ganz deutlich zu zittern, auch wenn er es zu verbergen versuchte.

„Ganz ruhig“, sagte Dandil mit sanfter Stimme. „Hier kann ihnen nichts passieren. Antworten Sie nur auf die Fragen.“

Diese Worte schienen Firn nicht gerade zu beruhigen, trotzdem öffnete er kaum merklich den Mund. „Potiri.“ Der Name kam als ein Flüstern über seine Lippen, als fürchtete er sich sogar davor ihn auszusprechen.

Dandils Ohren zuckten nach vorn. „Bitte?“

„Ihr Name, er … sie heißt … Potiri.“

„Potiri vom Rifatrudel?“

Nun stand ihm ganz deutlich der Schweiß auf der Stirn, Angstschweiß. „Ja, das ist … so heißt sie.“

„Was hat diese Potiri vom Rifatrudel getan, dass sie sich deswegen gezwungen sahen, den Kontinent zu wechseln?“

„Sie mochte mich.“

Der Kitsune runzelte verwirrt die Stirn. „Sie mochte Sie?“

„Ja, sie … mochte mich.“ Er zögerte einen Moment. „Sie mochte mich … ein wenig zu sehr.“

Dandil trat an das Podest heran. „Ich kann Ihren Ausführungen nur schwer folgen und möchte Sie daher einmal bitten, die Geschichte ganz vom Anfang zu erzählen.“

Das tat er, auch wenn es einige Zeit dauerte, bis er sich soweit zusammengerissen hatte, dass er den Mund öffnen konnte. „Sie war schwimmen.“

„Wer, Potiri vom Rifatrudel?“

Er nickte. „Ja. Ich kannte sie vom Sehen, sie schwamm gerne.“ Einen Moment verlor sich sein Blick in der Vergangenheit. „Sie ist zu weit rausgeschwommen und hat einen Krampf im Bein bekommen. Sie wäre fast ertrunken.“

„Und Sie haben sie vor dem Ertrinken gerettet?“

Wieder nickte er. „Sie wäre sonst gestorben.“

Dandil wartete einen Moment darauf, dass Firn weitersprach – was er nicht tat. So, wie der Kitsune dreinguckte, nervte es ihn wohl, dass er dem Nereiden jedes Wort aus der Nase ziehen musste. „War sie dankbar?“

Er machte ein Geräusch, das ich nur als abwertendes Schnauben identifizieren konnte. „Zu dankbar.“

„Was meinen Sie damit?“

„Sie hat … sie war jung, kaum erwachsen und sie glaubte … sie glaubte wohl … ich war ihr Retter. Sie hat … sie war zu dankbar und kam von da an jeden Tag zu mir.“ Seine Hände ballten sich zu Fäusten, bis die Knöchel weiß hervorstachen. „Am Anfang war es noch ganz in Ordnung, wir haben nur geredet und manchmal etwas gegessen. Wir haben … ich wusste nicht … sie wollte das Essen teilen und ich habe es angenommen.“

Oh scheiße.

„Essen Teilen? Was bedeutet das?“ Dieser Kerl konnte einfach nicht still stehen. Wieder begann er damit, Furchen in den Boden zu laufen.

„Eine Tradition, oder ein Ritual bei den Lykanern“, erwiderte Firn. „Nennen Sie es, wie Sie wollen. Essen wird geteilt, wenn man sich mehr als eine Freundschaft erhofft. Ich wusste es nicht. Ich wollte … sie hat es falsch verstanden.“

„Das heißt, nachdem Sie das Essen geteilt haben, glaubte Potiri vom Rifatrudel, dass Sie romantische Gefühle für sie hegen?“

„Ja.“

„Aber das taten Sie nicht.“

„Nein.“

„Haben Sie ihr das gesagt?“

„Mehr als einmal, aber sie hat … sie wollte es nicht hören, sie glaubte mir nicht.“

Dandil nickte verstehend. „Was ist weiter passiert?“

Er kniff die Lippen fest zusammen, den Blick auf etwas in die Ferne gerichtet, das nur er sehen konnte. „Sie steigerte sich in etwas hinein. Sie hat behauptet … sie glaubte, dass wir Gefährten seien. Sie wurde immer zudringlicher.“

„Sie liebte Sie.“

„Das glaubte sie zumindest.“

Dandil blieb vor Firn stehen. „Sind Sie irgendwann einmal darauf eingegangen?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, niemals und das … deswegen ist es passiert.“

„Was ist passiert?“

Nervös zuckte seine Zunge über seine Lippen. „Sie ist … sie hat meine Zurückweisung nicht verkraftet.“

„Nicht verkraftet?“

„Nein, sie wollte … sie glaubte ich gehöre ihr und … ich war ihr Besitz. Das glaubte sie.“

„Was hat sie getan?“

Der Moment, in dem ihn die Erinnerungen überkamen, war für alle deutlich zu erkennen. Seine Atmung wurde hektischer und sein ganzer Körper begann zu zittern.

„Sollen wir eine Pause machen?“, fragte Dandil mitfühlend.

„Nein ich … das schaff ich schon.“ Er ballte erneut seine Fäuste zusammen, als wolle er sich damit zwingen, mit dem Zittern aufzuhören. „Ich habe sie gemieden, war eine Woche in meiner Höhle, sie kann nicht unter Wasser. Aber sie war da … sie war … ich habe sie am Strand gesehen, jeden Tag. Sie war da und … sie hat auf mich gewartet.“

„Und weiter?“

„Und dann … ich bin aufgetaucht, ich wollte ihr sagen … sie musste gehen, was sie da tat, war nicht gut … nicht gut für sie, aber sie wollte reden, nur reden.“

Langsam neigte Dandil den Kopf zur Seite. „Aber sie hat nicht nur geredet.“

„Nein … also, zuerst schon und dann hat sie … sie hat etwas zu essen gemacht, bei sich zuhause. Es ist ein Abschiedsessen, das hat sie gesagt.“

„Doch es war mehr.“

„Sie hat etwas … da war etwas im Essen. Ich bin bewusstlos geworden.“

„Potiri vom Rifatrudel hat sie betäubt?“, fragte der Kitsune ungläubig.

„Ja.“

„Was ist dann passiert?“

„Ich bin aufgewacht … in einer kleinen Höhle. Sie war so eng … so eng … ich konnte kaum stehen und da war kein Wasser und Gitterstäbe. Ich war nackt und … es war so eng.“

„Sie hat sie eingesperrt“, stellte er ganz sachlich fest.

„Sie meinte … sie hat gesagt, ich gehöre ihr und sie wollte … ich musste ihr glaubhaft zustimmen, wenn ich wieder raus wollte, aber sie hat mich ständig … in dem Essen war immer etwas drin, ich war die ganze Zeit … sie hat da was rein gemischt … ich konnte mich nicht wehren.“

„Sie hat sie in einem lethargischen Zustand gehalten.“

„Ja, ich war … ich habe immer wieder das Bewusstsein verloren. Sie kam zu mir … ich war schwach, ich konnte mich nicht wehren, sie … ich habe kein Wasser gehabt. Sie hat mir Wasser immer nur zur Belohnung gegeben. Ich brauche Wasser.“

„Als Nereide brauchen Sie das Salzwasser, Meerwasser, um zu überleben. Ihre Haut, ihr Organismus braucht das.“

„Ja.“

„Und Potiri vom Rifatrudel hat es Ihnen entzogen, um sie gefügig zu machen.“

„Ich bekam es nur, wenn ich tat, was sie wollte.“

Da taten sich ja Abgründe auf, die ich mir nicht mal im Traum hätte ausdenken können. Sie quälte ihre Liebe, um zu bekommen, was sie wollte? Allein beim Gedanken daran, so etwas Veith anzutun, wurde mir ganz schlecht. Wie hatte sie sowas nur tun können?

„Hat sie Sie einmal aus ihrer Zelle herausgelassen?“, wollte Dandil weiter wissen.

„Nein, aber sie kam zu mir, wenn ich …“ Er stockte und drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. „Sie war da, wenn ich mich nicht wehren konnte.“

Dandil schwieg und sah Firn lange an, bevor er die nächste Frage stellte. „Hat sie Sie gezwungen, mit Ihnen den Geschlechtsverkehr einzugehen?“

Ach du scheiße, das konnte doch nicht wahr sein.

„Nein, ich …“ Er schüttelte den Kopf. „Das hat nicht funktioniert. Es ging nicht, sie … ich sollte es freiwillig machen, aber es ging nicht.“

Dandil nickte verstehend und auch ich hatte so eine Ahnung, was Frin genau damit gemeint hatte. „Hat das Rifatrudel über ihr Treiben ihres Mitgliedes Bescheid gewusst?“

„Ich … das weiß ich nicht, ich glaube nicht“, sagte er leise.

„Wie lange haben Sie sich in der Gefangenschaft von Potiri vom Rifatrudel befunden?“

„Fast zwei Jahre.“

Zwei? Zwei? Wie hatte er das aushalten können?

„Zwei Jahre, in denen Sie ihrer Gnade ausgesetzt waren und sie mit Ihnen gemacht hat, was sie wollte, in denen Sie sich ihrem Willen beugen mussten, wenn sie überleben wollten“, fasste Dandil zusammen. „Sie haben in dieser Zeit nicht einmal das Tageslicht gesehen und wurden ständig mit Betäubungsmitteln gefüttert. Noch dazu hat sie ihnen das lebensnotwendige Wasser entzogen und sie zu sexuellen Handlungen gedrängt, auch wenn es nicht zum Geschlechtsverkehr kam, ist das richtig?“

Er zögerte. „Sie hat gesagt … so zeigte sie mir ihre Liebe. Sie wollte mich ganz für sich haben.“

Ich war sprachlos. Was dieser Mann da unten erzählte, konnte einfach nicht wahr sein.

„Wie sind Sie dieser Gefangenschaft entkommen?“, wollte Dandil wissen und erneut trugen seine Beine ihn hin und her.

„Da kam ein Mann, ihr Vater. Er hat davon erfahren, weil … ich weiß nicht wie.“ Er stockte kurz. „Er hat mich geholt und mich zu den Wächtern gebracht.“

„Haben Sie Potiri vom Rifatrudel danach noch einmal wiedergesehen?“

Er schüttelte den Kopf.

„Haben Sie es zur Anzeige bei den Wächtern gebracht?“

„Nein.“

Dandil ließ seinen Blick auf das Opfer schweifen. „Warum nicht?“

„Ich konnte nicht … ich … ich wollte Potiri nicht wiedersehen.“

„Das heißt, dass dieses Vergehen nie gesühnt wurde?“

Er knautschte nervös die Hände auf dem Tisch. „Nein, ich … als es mir besser ging, habe ich Incredibilis verlassen.“

Dandil blieb stehen und drehte sich mit einer schwungvollen Bewegung zu Firn um. „Ist Potiri vom Rifatrudel zurzeit in Sternheim?“, fragte er lauernd.

Diese Frage erschreckte den Nereiden. Hektisch blickte er sich um, als befürchtete er, dass Potiri irgendwo in diesem Saal auf ihn lauern könnte. Seine Zunge glitt nervös über seine Lippen. „Ich … ich weiß nicht.“

„Aber sie haben Angst, dass es so sein könnte.“

Er schluckte heftig. „Ich will sie nicht wiedersehen.“

„Das kann ich verstehen.“ Mitfühlend legte er dem Nereiden die Hand auf den Arm, was diesen sofort zusammenzucken ließ, aber er hielt still, zwang sich dazu, den Arm nicht wegzuziehen. „Ich danke ihnen für Ihre Aussage vor dem Hohen Rat und entlasse sie hiermit. Die Wächter werden Sie zurück zu ihrem Hotel begleiten und bei Ihnen bleiben, bis sie die Stadt verlassen haben.“

„Ich … danke.“ Noch während er das sagte, stand er bereits von seinem Platz auf und wurde mit Hilfe der Wächter wieder aus dem Saal gebracht.

Nach dieser Aussage … ich wusste nicht, was ich denken sollte. Klar, dieses Mädchen hatte sich völlig falsch und irrational verhalten, aber daran war nicht die Rasse der Lykaner schuld. Es musste andere Gründe dafür geben, psychische, aber Dandil würde es sicher wieder so auslegen, als sei die ganze Spezies geistig gestört, nur weil einer von ihnen nicht ganz richtig im Kopf war.

„Das sind die Abgründe einer einzigen Spezies“, sprach Dandil zum Hohen Rat. „Sie sind nicht nur gewalttätig und aggressiv, sondern auch so besitzergreifend, dass sie ein Nein nicht akzeptieren konnten. Lykaner lassen sich wie Tiere von ihren Instinkten leiten und haben damit den Status eines Mortatias verwirkt.“

Na, was habe ich gesagt?!

„Ich möchte jetzt noch eine letzte Befragung durführen, bevor der Hohe Rat sich für eine Entscheidung in diesem Fall zurückzieht. Dafür möchte ich das ehrenwerte Mitglied des Hohen Rates, Obsessantia von den Rajawölfen, aufrufen.“

Diese Aussage sorgte für einige Unruhen im Auditorium und das nicht nur von Seiten der Lykaner und den anderen Zuschauern, nein auch die Parlamentäre raunten sich leise flüsternd Worte zu. Ein Mitglied des Hohen Rats auf dem Podest? Das war unfassbar. Mir war bei dem Gedanken auch ganz flau im Magen.

„Ruhe“, schallte es da von dem Orakeltyp mit den drei Augen durch unsere Köpfe und sofort wurde es wieder leise.

In der zurückehrenden Stille schritt Obsessantia fast hoheitlich unter den Augen der Anwesenden die Treppe den Saal hinunter auf das Podest zu. Sie erhob keinen Widerspruch und ließ sich nicht ansehen, was sie dachte. Vom äußeren Erscheinungsbild wirkte Obsessantia selbstsicher wie immer, als würde ihr niemand etwas können, doch ihre Augen verrieten etwas ganz anderes, zeigten ihre aufkommende Anspannung. Hier und heute war nicht irgendein Verfahrenstag, heute würde der Grundstein für die kommende Bestimmung gelegt werden, die darüber entschied, ob die Lykaner sich weiter Mortatia nennen durften, oder nicht. Jedes Wort, das heute über ihre Lippen kam, würde auf eine Goldwaage gelegt werden. Sie hatte die letzte Aussage vor der Entscheidung, damit lastete ein enormer Druck auf ihren Schultern und dieser Tatsache war sie sich nur allzu bewusst, als sie sich auf dem Stuhl in der Mitte des Auditoriums niederließ.

„Nennen Sie uns Ihren Namen“, begann Dandil seine Vernehmung, wie bei all den anderen.

„Obsessantia von den Rajawölfen.“

„Ihnen ist bewusst, dass sie hier die Wahrheit sprechen müssen, da es sonst eine Strafe nach sich ziehen kann?“

„Da ich diese Gesetze lebe, ja, das weiß ich.“

Dandil schnaubte leise, kommentierte diese Worte jedoch nicht. „Sie gehören zwar dem Hohen Rat an, aber Sie sind trotzdem durch und durch eine Lykanerin.“

Obsessantia kniff leicht die Augen zusammen. Sie roch eine Falle. „Wenn du mir sagst, worauf du damit genau hinaus willst, werde ich darauf reagieren.“

„Natürlich.“ Seine Hände falteten sich wieder auf seinem Rücken, als seine Beine ihn ganz von allein begannen, um das Podest herumzuführen. „Fällt es Ihnen schwer, soweit abseits Ihres Rudel zu leben und mit dem Hohen Rat von Stadt zu Stadt zu ziehen?“

„Manchmal ist es nicht ganz einfach. Ich liebe mein Rudel, aber ich weiß auch, wie wichtig dieser Posten ist und ich weiß, dass ich qualifiziert genug bin, ihn meinen Leuten gerecht zu besetzen.“

„Qualifiziert genug? Wie haben sie das entschieden? Es gab doch sicher mehr als einen Anwärter auf diesen Posten.“

Obsessantia lehnte sich entspannt zurück. Dabei ging sie aber nicht auf das Spielchen von Dandil ein, ihm mit den Augen zu folgen, sondern richtete ihren Blick auf den Hohen Rat, auf die Wesen, mit denen sie zusammenarbeitete. „Du magst es vielleicht nicht glauben, aber ich wurde von meinem Volk in einer Wahl gewählt und nicht in einem blutigen Kampf, wo der den Platz im Hohen Rat einnehmen durfte, der als letzter überlebte.“

„Eine Wahl also. Wie sah diese Wahl aus?“

„Diejenigen, die es sich zutrauten, diesen Posten einzunehmen haben sich zu einer Wahl in den Gebirgen von Ranzión eingefunden. Es waren alles Männer und Frauen, die durch ihr Gespür, ihre Intelligenz und ihre Selbstbeherrschung in den Rudeln herausgestochen sind.“

„Selbstbeherrschung ist für diesen Posten wichtig“, sinnierte Dandil.

„Das ist richtig.“

„Aber Sie verfügen nicht über diese Selbstbeherrschung.“

„Ich verfüge darüber und noch über viel mehr“, gab sie kalt zurück.

„Und trotzdem ist es bereits mehr als einmal dazu gekommen, dass Sie Dinge, wie Räume oder auch einen einfachen Platz in der Kantine gegen andere verteidigt haben, weil Sie sie als ihr Revier ansehen.“ Er blieb vor ihr stehen und richtete seinen Blick herausfordernd auf sie.

„Ich bin, was ich bin, mein lieber Dandil“, sagte sie schlicht und breitete offen die Arme aus. „Du kannst auch nicht aus deiner Haut heraus, oder gibt es noch einen anderen Grund, warum du mich und die Meinen versuchst in so schlechtem Licht dastehen zu lassen?“

Dandil spitzte pikiert die Lippen. Er mochte es wohl nicht sonderlich, wenn man seine Arbeit kritisierte. „Wenn die Lykaner im schlechten Licht dastehen, dann bin nicht ich, sondern sie selber dafür verantwortlich. Ich führe nur Befragungen durch.“

„Aber immer nur an Wesen, die schlechte Erfahrung mit uns gemacht haben.“

„Ich habe auch Lykaner und deren Freunde befragt. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen“, verteidigte er sich sofort.

Nicht schlecht. Wenn Obsessantia es schaffte, an Dandils Vorgehensweise Zweifel aufkommen zu lassen, dann waren die Lykaner vielleicht gerettet.

„Du tust das also nicht nur, weil du Anwar von Sternheim einen Gefallen tun möchtest?“, fragte sie aushorchend.

„Natürlich nicht, dieser Gedanke ist absurd.“

„Und doch sehe ich euch vor und nach jedem Verhandlungstag die Köpfe zusammenstecken, oder willst du das etwa bestreiten?“

Wer befragte hier eigentlich wen?

„Ich habe keinen Grund dies zu bestreiten. Anwar und ich sind langjährige Freunde und Arbeitskollegen. Es ist nichts verwerfliches daran, dass wir miteinander Zeit verbringen. “

„Und doch stehst du nun vor mir und siehst dich gezwungen, dich vor mir zu rechtfertigen. Warum tust du das? Hast du vielleicht ein schlechtes Gewissen, weil du dabei bist zu helfen, eine ganze Spezies zu verstoßen und ins Elend zu schicken?“

„Ich rechtfertige mich nicht, ich kläre nur Zusammenhänge und Sie lenken nur vom eigentlichen Thema ab.“

„Nun gut.“ Obsessantia lehnte sich auf ihrem Stuhl nach vorn. „Du willst mich also befragen. Dann los, was möchtest du wissen?“

Einen Moment wirkte Dandil leicht irritiert, von der plötzlichen Themenwechsel, fasste sich aber schnell wieder. „In der Gesellschaft der Lykaner wird viel auf Traditionen gegeben, richtig?“

Obsessantia nickte. „Ja, das ist aber auch weitläufig bekannt.“

„Vor diesem Verfahren habe ich mich über die Lykaner so weit wie es mir möglich war kundig gemacht und dabei habe ich auch etwas über die verschiedenen Traditionen und Rituale gelernt. Darunter war ein Ritual, dass sich Adolescens nennt. Würden Sie uns bitte erklären, was es damit auf sich hat?“

Obsessantia Gesicht drückte einen Moment Überraschung aus, bevor sie sich wieder so weit im Griff hatte, um zu antworten. „Es ist ein Ritual, das wir alle durchlaufen. Es beschreibt den Übergang von einem Kind zu einem Erwachsenen.“

„In welchem Alter befinden sich die Kinder, für die es Zeit ist, zumindest vom Status her zu einem Erwachsenen heranzureifen?“

„Die Vorbereitungszeit beginnt mit der Vollendung des achtzehnten Lebensjahres.“

„Und wie genau sieht dieses Ritual aus?“ Dandil beugte den Kopf nach vorn, als seien seine Schuhe plötzlich hoch interessant geworden. Doch seine Ohren waren lauschend aufgestellt.

„Mich würde doch wirklich interessieren, wo du darüber gelesen hast“, sagte Obsessantia mit zusammengekniffenen Augen.

Das konnte ich mir vorstellen. Die Lykaner waren mit ihren Ritualen ziemlich geheimniskrämerisch und wollten ganz sicher nicht, dass so etwas öffentlich gemacht wurde – ich musste da nur an die Sache mit dem Testiculus denken. Sie sahen ihr Leben als einzige Privatsphäre an.

„Das tut hier nichts zur Sache“, sagte Dandil. „Bitte beantworten Sie einfach die Frage.“

Etwas trat in Obsessantia Augen, etwas das ich nicht benennen konnte. Unwohlsein? Angst? „Das Kind, für das es an der Zeit ist zu einem Erwachsenen zu reifen … es …“

„Ja?“ Lauernd hob er den Kopf.

„Es muss Fasten“, sagte sie bestimmt. „Einen ganzen Monat lang.“

„Fasten bedeutet wenig zu essen.“

„Ja.“

„Wie wenig?“, wollte der Kitsune wissen.

Einen Moment drückte Obsessantia die Lippen aufeinander, als könnte sie es so verhindern, antworten zu müssen. „Er darf nur einmal in der Woche eine kleine Menge essen.“

Was? Sie hungerten ihre eigenen Leute aus? Hatte Kovu das auch durchmachen müssen? Ich konnte mich an kein Anzeichen daran erinnern, aber das musste nichts heißen, schließlich hatte ich ihn ja nur alle paar Wochen für wenige Stunden gesehen.

„Das ist ganz entschieden gegen die Bestimmungen des Codex“, stellte Dandil eiskalt fest. „Ein Kind hungern zu lassen, aus welchen Gründen auch immer, ist gegen das Gesetz.“

„Die Kinder werden in diesem Zeitraum von unseren Heilern überwacht, es besteht zu keinen Zeitpunkt eine Gefahr für sie. Es ist nur eine einfache Tradition.“, verteidigte Obsessantia sich und ihr Volk.

„Aber das ist noch nicht alles, oder?“

Da kam noch mehr?

Obsessantia drückte die Lippen fest aufeinander.

„Was geschieht im weiteren Verlauf der Adolescens?“

„Das Fasten ist eine Vorbereitung, auf das eigentliche Ritual.“ Während sie sprach, spießte sie den Kitsune mit tödlichen Blicken auf. Ihr Lächeln war verschwunden, nichts war mehr von der listigen Wölfin, mit dem leicht schrägen Humor übrig.

„Und wie sieht das eigentliche Ritual aus?“, wollte Dandil dann wissen.

„Nach der Fastenzeit wird das Kind in seiner Tiergestalt in den Wald gebracht und allein zurückgelassen“, sagte sie, ohne einen Moment zu zögern.

„Warum?“

„Es muss sich bewähren und zeigen, dass es reif genug ist, in die nächste Phase seines Lebens einzutreten.“

„Und wie bewährt es sich?“

„Es muss überleben.“

Boom, dieser Satz schlug bei mir ein wie eine Bombe.

„Moment, soll das heißen, erst wird das Kind ausgehungert und dann auch noch ausgesetzt?“, fragte Dandil ungläubig.

„Die Kinder der Lykaner sind stark, sie verkraften noch viel mehr“, sagte sie steif.

„Das glaube ich gerne.“ Dandil ließ seinen Blick über die Reihen der Zuschauer schweifen. „Ist Ihnen oder einem anderen Lykaner einmal aufgefallen, dass dieses Ritual aus der Zeit des Krieges stammt, wo es für die Völker noch wichtig war, gute Krieger hervorzubringen? Dass die Rudel auf diese Art  die Spreu von dem Weizen getrennt haben, damit sich nur die Besten und Stärksten von ihnen vermehren könne, um wieder ebenso gute Krieger hervorzubringen, die unter den widrigsten Umständen überleben konnten?“

„Es ist Tradition dieses Ritual zu durchlaufen und dabei spielt es keine Rolle, aus welcher Zeit es stammt.“

„Doch“, widersprach er sofort und fixierte sie. „Wenn diese Tradition nämlich gegen den Codes arbeitet, in dem die Lykaner bleiben wollen, spielt es sehr wohl eine Rolle. Aber lassen wir das einen Augenblick, ich möchte noch etwas anderes wissen, bei dem Sie mir sicher weiterhelfen können. Kommen denn alle Kinder von diesem Ritual zurück?“

„In der Zeit des Krieges, nein, heute ja.“

„Das heißt, alle Lykaner sind so stark, dass ihnen eine solche Tortur nichts ausmacht?“

Obsessantia beugte sich leicht vor und fixierte den Kitsune mit einem Blick, der ihn merklich schluckten ließ. „Das heißt, mein lieber Dandil, dass die Kinder, die nicht zurückkommen, gesucht und zurückgebracht werden. Sie haben dann im folgenden Jahr erneut die Möglichkeit, das Ritual zu durchlaufen.“

„Und dabei kam es nie zu einem Todesfall?“, fragte er lauernd.

Ein Zögern. „Nein.“

Sie log. Sie log so eindeutig, dass Dandil wieder dieses Glitzern in den Augen bekam. „Sie wissen, dass es unter Strafe verboten ist, eine Falschaussage zu machen und dass ich Sie dafür belangen kann.“

„In den Jahren seit der Entstehung des Codex ist kein Kind durch dieses Ritual zu Schaden gekommen. Es ist immer ein Erwachsener in der Nähe, der im Notfall eingreifen kann, um für die Sicherheit des Kindes zu Sorgen.“

Das war die Wahrheit, zumindest glaubte ich das. Aber … hä?

„Ich spreche hier nicht von den Kindern“, entgegnete Dandil.

Nicht? Wovon zum Teufel faselte er denn dann? Nun war ich verwirrt.

Dandil wandte sich dem Hohen Rat zu. „In den letzten Jahren ist es mehr als einmal vorgekommen, das Wesen in den Territorien der Lykaner zu Tode gekommen sind. Für solche Fälle gab es viele Ausreden, wie zum Beispiel, dass die Wesen angegriffen haben und die Lykaner sich verteidigen mussten, oder, dass man sie für Wild gehalten hatte, aber das entspricht nicht ganz der Wahrheit.“

Oh Mann, wenn Blicke töten könnten, wäre Dandil bereits unter der Erde.

Er wandte sich wieder der Wölfin zu. „Obwohl die zweite Ausrede dem tatsächlichen Tathergang schon sehr nahe kommt, habe ich Recht?“

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“

Da, sie hatte schon wieder gelogen.

Dandil neigte den Kopf leicht zur Seite. „Ist es nicht in Wahrheit so, dass diese doch vergleichbar recht hohe Todesquote daher stammt, dass die ausgesetzten Kinder, die sich durch ihren Hunger nur noch durch ihre Instinkte leiten lassen, alles als Beute ansehen, was sich bewegt und nicht zum Rudel gehört, auch unbefugte Eindringlinge?“

„Wer unsere Grenzen respektiert, wird niemals in Bedrängnis kommen.“

Das war ein indirektes Ja. Scheiße.

„Aber es gibt immer wieder Wesen, die sich auch in die Territorien der Lykaner verirren, ohne es zu wissen. Der Codex besagt, dass auch in einer solchen Situation die Sicherheit gewährleistet sein muss. Niemand kann ahnen, dass dort ein ausgehungerter Lykaner in seiner Tiergestalt umherstreift, der schon annähernd die Kraft eines ausgewachsenen Lykaners besitzt und der nur auf eine einfache Beute lauert.“

„Es ist immer jemand mit klarem Verstand dabei, der in einer solchen Situation eingreifen kann.“

„Doch das reicht nicht immer, habe ich recht?“

Oh, wenn sie nur dürfte, ich sah es ihr genau an, dann würde Dandil das Auditorium mit einem Arm weniger verlassen.

„Fassen wir zusammen“, sagte der gerissene Fuchs und begann vor Obsessantia auf und ab zu laufen. „Für dieses Ritual hungern die Lykaner ihre Kinder aus, setzen sie dann in der Wildnis aus und nehmen es dabei in Kauf, dass Unbeteiligte dabei zu Schaden kommen, obwohl ihre Vorväter dem Frieden zugestimmt haben.“ Dandil wartete auf eine Reaktion von Obsessantia, die nicht kam. „Wissen Sie, warum ich ausgerechnet Ihnen diese Frage gestellt habe?“

„Nein, aber du wirst es mir sicher gleich verraten.“

Das überging er einfach, als hätte sie nichts gesagt. „Sie sind ein angesehenes Mitglied des Hohen Rats, stehen also für den Codex und sollten damit auch dafür sorgen, dass seine Richtlinien eingehalten werden. Aber damit, dass Sie über dieses Ritual Bescheid wissen, haben Sie uns allen gezeigt, dass selbst der Lykaner, der einen Stuhl im Hohen Rat hat und damit die ganze Spezies repräsentiert, sich nicht an die Gesetze des Codex hält. Wäre es anders, hätten Sie dieses Ritual, dass nicht nur Kinder misshandelt, sondern auch noch Unbeteiligte in Gefahr bringt, unterbunden.“

Obsessantia kniff die Lippen zusammen.

„Haben Sie dazu gar nichts mehr zu sagen?“

„Nein, es wurde alles gesagt.“

„Nun gut, dann sind Sie hiermit entlassen und können wieder Platz beim Hohen Rat nehmen.“

Und genau das tat sie dann auch. Das sie auf dem Weg dorthin nicht einen kleinen Snack bei Dandil nahm, entsprang wahrscheinlich ihrer Willenskraft, die in diesem Moment stark beansprucht wurde.  

Der Kitsune wartete bis Obsessantia sich wieder auf ihrem Platz eingefunden hatte, bevor er seine Abschlussrede hielt. „Seit dieses Verfahren begonnen hat, haben wir viele Stimmen gehört, sowohl der Lykaner, als auch anderer Wesen, die zum Teil für und gegen den Ausschluss aus dem Codex waren. Wir haben gute Gründe dafür bekommen die Lykaner weiterhin den Status eines Mortatias zu lassen, aber genauso gute Gründe dies nicht zu tun, wobei diese – wie ich leider anmerken muss – überwiegen. Die Lykaner waren von je her eine der gefährlichsten Spezies, die  auf diesen Planeten wandelte, was zum Teil mit ihrer Abstammung zusammenhängt. Nun würden einige sagen, dass auch andere Wesen diese Instinkte haben, die sie wild und unberechenbar machen können, aber im Gegensatz zu den Lykanern, bemühen diese Wesen sich, mortatisch zu sein und fügen sich in die Gesellschaft ein. Das tun die Lykaner nicht. Sie ziehen sich zurück, wo ihnen nur die Möglichkeit bleibt und werden anderen Wesen gegenüber sogar aggressiv, sollten diese sich ihnen nähern. Sie sind so uneinsichtig und festgefahren in ihren Ansichten, dass sie sich selber im Wege stehen auf dem Weg in ihre eigene Zukunft, weil sie von ihrem Leben und ihren Traditionen nicht abrücken wollen. Ja, Traditionen sind wichtig, sie ehren das, was einmal war, aber es gibt auch Bräuche, die nicht mehr zeitgemäß sind, Ansichten die man fallen lassen muss, um vorwärts zu kommen und Sitten, die auch anderen das Leben schwer machen. Danke für ihre Aufmerksamkeit. Hiermit schließe ich die Anhörung zu dem Verfahren zum Ausschluss der Lykaner als Rasse im Ganzen aus dem Codex wegen unmotatiaischen Ansichten und Handlungen.“

„Der Hohe Rat wird sich nun zurückziehen um eine Entscheidung zu treffen und diese in drei Tagen verkünden.“

Tja, das hieß dann jetzt wohl warten und hoffen.

 

°°°

 

„Was glaubst du, wie der Hohe Rat sich entscheiden wird?“

„Ich weiß es nicht“, raunte Veith an der empfindlichen Haut in meinem Nacken und rieb seine Nase darüber.

Wir saßen an unserem Teich, unter einem ausladenden Baum und sahen den Regentropfen dabei zu, wie sie stetig auf das Wasser prasselten. Ich hatte mich mit dem Rücken an seine Brust gelehnt und spielte unablässig mit seinen Fingern in meinem Schoß, während er die ganze Zeit an meinen Nacken und meiner Halsbeuge roch, als sei mein Geruch eine Droge für ihn, von der er einfach nicht loskam.

Es war wunderbar einfach, so mit ihm hier so zu sitzen und mich von ihm im Arm halten zu lassen. Wären da nur nicht diese ständigen Gedanken an die Entscheidung des Hohen Rats, die mich einfach nicht zur Ruhe kommen ließen.

Ein kleiner Biss in meiner Halsbeuge ließ mich erschauern.

„Hier rumzusitzen und nichts tun zu können nervt.“

Veith hauchte mir einen Kuss auf die Schulter und legte dann sein Kinn darauf. „Wir haben alles getan, was in unserer Macht stand, jetzt können wir nur noch abwarten.“

Ich drehte seine Hand in meiner und strich über den kleinen Finger, denn er sich mal gebrochen hatte. „Und was, wenn ihr aus dem Codex geworfen werdet?“

„Du hast Najats Worte gehört.“

Ja, das hatte ich. Solange man sie in Ruhe ließe, blieben die Lykaner friedlich, doch sollte man sie herausfordern, musste man mit dem Schlimmsten rechnen. Zita hatte heute etwas ähnliches gesagt, wenn auch nicht so deutlich und direkt. „Ich will nicht, dass es so weit kommt.“

„Das will keiner von uns und egal, was passieren wird, wir werden uns anpassen. Das haben wir schon immer gekonnt, auch in der Zeit vor dem Codex.“

„Was kann im schlimmsten Fall passieren?“

„Das sie versuchen uns zu vertreiben. Ein Leben auf der Flucht. Wir werden uns nicht kolonialisieren lassen, nur weil jemand unser Land will.“

„Klar, ihr seid Lykaner, nichts kann euch in die Flucht schlagen.“

„Du überschätzt uns. Wir mögen viele sein, aber wenn die anderen sich gegen uns zusammenschließen, dann haben wir keine Chance.“

„Aber kein Lykaner wird sich kampflos ergeben.“ Das war einfach wieder ihrer Natur.

„Nein.“

Mir war klar, auf was das hinauslief, auch wenn mir der Gedanke absolut nicht gefiel: Krieg. Die Lykaner würden sich nicht einfach vertreiben lassen und ihre Territorien anderen überlassen. Sie würden ihr Zuhause verteidigen, egal wo es lag und sie würden sich auch nicht ihre Rechte nehmen lassen. Das konnte nur eines bedeuten, Krieg und sehr viel Blut. Bei dem Gedanken daran wurde mir ganz schlecht.

„Denk nicht weiter darüber nach.“ Er hauchte mir wieder einen Kuss in die Nackenbeuge und rieb sanft seine Nase darüber. „Du kannst im Moment sowieso nichts daran ändern.“

Auch wenn es mir gar nicht gefallen wollte, musste ich ihm in diesem Punkt zustimmen. Wenn der Hohe Rat sich wirklich für den Ausschluss entscheiden würde, was würde dann aus meinem großen, bösen Wolf werden? Und aus Pal, Kaj und Raissa? Veith hatte wenigstens noch sein Rudel, das ihm zur Seite stehen könnte, bei meinen drei Mitbewohnern lag der Fall gleich ganz anders. Ihnen würde gar nichts anderes übrig bleiben, als zu fliehen, bevor man sie wie die Tiere behandelte, für die sie bereits gehalten wurden.

„Würdest du es mir jetzt erzählen?“, fragte Veith leise.

„Was?“ Was würde ich tun, wenn es so weit wäre? Würde ich mit meinen Freunden gehen? Und was wäre mit den Verlorenen Wölfen? Ich konnte sie doch nicht so einfach schutzlos zurücklassen.

„Worüber du gestern nicht mit mir reden wolltest.“

„Ach das.“ Die Sache mit den Hexen. Es kam mir vor, als sei bereits ein ganzes Leben zwischen dem Gespräch mit Gaare und dem jetzt vergangen. So viel war seit gestern Morgen geschehen. Nicht nur die Verhandlung, auch die Sache mit Grey und Simyo alias Reu, der vorerst noch hier im Schild rumgurkte, bis er sich an die neue Situation gewöhnt hatte und das Erlebte wenigstens zu einem Teil verarbeitet hatte. Ich war ihm heute nicht begegnet, ging ihm aus dem Weg. Grey war tot und auch wenn er es vielleicht verdient hatte, Reu war schuld daran und deswegen konnte ich ihm momentan einfach nicht gegenüber treten.

„Talita?“

Eigentlich war es doch auch egal, wann ich es ihm sagte, im Moment hing sowieso alles im Argen. „Ich habe ein Portal gefunden und kann jederzeit in meine Welt zurückkehren.“ Wahrscheinlich merkte ich nur, wie er sich leicht anspannte, weil ich so nahe bei ihm saß.

„Und, wirst du gehen?“

„Irgendwann ja, aber im Moment nicht.“ Im Augenblick konnte ich nicht einfach verschwinden und alles so unerledigt zurück lassen, nicht jetzt wo alles so undurchsichtig war. Ich würde mich mein Leben lang fragen, was passiert war und was aus allen geworden war. So wie es im Augenblick stand, konnte ich nicht einfach gehen. Wenigstens die Verhandlung musste ich abwarten, schon allein für meinen Seelenfrieden.

„Ich hoffe, du bleibst nicht nur wegen mir. Du weißt, was ich dir gesagt habe.“

„Ja, ich weiß. Es kann nicht lange halten, unsere Leben sind zu verschieden.“ Ich ließ unsere verschränkten Hände in meinen Schoß fallen und lehnte mich mit dem Kopf an seine Schulter. Wäre Veith nicht ein Testiculus, könnte man an unserer Beziehung vielleicht noch etwas drehen, anderen war es schließlich auch gelungen, wie ich heute bei der Verhandlung feststellen musste, aber so wie die Sache stand? Keine Chance. „Natürlich will ich dich nicht verlassen, nicht jetzt wo du endlich mir gehörst. Es gibt auch noch andere Gründe. Ich kann nicht einfach so alles stehen und liegen lassen und verschwinden.“

„Aber du wirst gehen.“

„Ja, irgendwann werde ich gehen.“ Und damit nicht nur ihn zurücklassen. „Ich brauche meine Erinnerungen einfach wieder. Ohne sie fühle ich mich so … unvollständig.“

„Du brauchst es nicht zu erklären, ich verstehe es.“

Das glaubte ich ihm.

Einen Augenblick saßen wir nur still da. Ich beobachtete den Regen auf der Wasseroberfläche, wie er kleine Kreise zeichnete, spürte Veiths Lippen in meiner Halsbeuge und hätte eigentlich rundum glücklich sein sollen, wenn ich die Außenwelt nur ausblenden könnte. Doch die Probleme, die sich angehäuft hatten, waren einfach zu gegenwärtig. Es gab immer noch so viel, das offen war und dringender Klärung bedurfte, wie zum Beispiel die Tatsache, dass ich in der Höhle meiner Wölfe eine körperlose Stimme gehört hatte. Andererseits war diese Angelegenheit im Verhältnis zu den andern Problemen wirklich nichtig.

„Es wird Zeit zu gehen“, raunte Veith an meiner Haut und fuhr noch einmal mit den Lippen darüber.

„Ich will nicht.“

„Ich auch nicht, aber das ändert nichts.“

Ich hasste es, wenn er Recht hatte. Aber es war spät, ich war erschöpft und er würde noch eine knappe Stunde unterwegs sein, bis er zu dem provisorischen Lager der Höhlenwölfe gelangte. Und zu allem Überfluss war da immer noch der nervige Regen, der wohl niemals wieder ein Ende nehmen wollte. Mit einem Seufzer rutschte ich von ihm weg, stützte mich mit den Händen auf dem Boden ab und wollte mich gerade auf die Beine stemmen, als etwas Scharfes in meine Handfläche schnitt. Zischend riss ich den Arm zurück und sah auf einen kleinen, blutende Wunde an meinen Zeigefinger. „Mist.“ Ich hatte mich an einem Stein geschnitten. Blödes Ding.

„Zeig her.“

Ich streckte ihm meine Hand entgegen und zuckte leicht zusammen, als er den kleinen Schnitt nachfuhr. „Es ist nicht schlimm.“

„Puh, noch mal Glück gehabt und ich dachte schon, ich müsste jetzt verbluten.“

Veith ging auf meine kleine Neckerei nicht ein, sondern nahm meinen Finger in den Mund und leckte das Blut mit der Zunge ab. War es normal, dass mir bei diesem Anblick ganz unanständige Dinge einfielen und bei mir plötzlich alles kribbelte?

„Du sollst mich nicht immer so ansehen“, tadelte er milde und ich wurde mal wieder rot wie eine Tomate.

„Wenn du sowas mit mir machst, darf ich dich auch so angucken“, nuschelte ich und stemmte mich auf die Beine – aber dieses Mal achtete ich darauf, wo ich meine Hände platzierte.

„Ich habe nur die Wunde gesäubert.“

„Ja, mit der Zunge.“ Die noch ganz andere Sachen tun konnte. Mist, ich sollte aufhören, an solche Sachen zu denken, sonst würde das mit dem Aufbruch sicher noch ein Weilchen dauern.

„Womit hätte ich es denn sonst tun sollen?“ Zum Aufstehen brauchte Veith seine Hände nicht. Er erhob sich in einer geschmeidigen Bewegung und dass allein mit der Kraft in seinen Beinen. Das war ein Anblick, schmacht.

„Andere Leute würden dazu einen Lappen nehmen“, teilte ich ihm mit.

„Ich habe aber keinen hier.“ Er nahm meine Hand und zog mich in einer ruckartigen Bewegung an seine Brust. „Und meine Zunge schien dich noch nie gestört zu haben.“

Hatte er das wirklich gerade gesagt? Das waren ja ganz neue Seiten an meinem großen, bösen Wolf und ich musste ehrlich sagen, dass mir die gefielen. Wer hätte gedacht, dass Veith so facettenreich sein konnte, wo er sonst immer so störrisch, verschlossen und wortkarg war. Naja, wie hieß es so schön? Stille Wasser waren tiiief und dreckig. Tja, dieser Spruch war wie für ihn geschrieben.

Mit sanftem Drücken seines Fingers an meinem Kinn, hob Veith mein Gesicht und hauchte mir einen Kuss auf die Lippen. „Lass uns gehen.“

„Hast du Angst, dass du sonst nicht vor der Sperrstunde zuhause bist?“, zog ich ihn auf.

„Ich habe keine Angst, ich weiß nur, dass wir heute sonst nicht mehr hier wegkommen und anschließend wieder eine Dusche brauchen, um den ganzen Matsch loszuwerden.“

„Naja, wäre doch aber eine Überlegung wert.“

„Nein, nicht heute.“ Noch ein kurzer Kuss, dann gab er mich bis auf die Hand wieder frei. „Komm jetzt.“

„Na wenn du mich so lieb fragst, kann ich ja wohl schlecht nein sagen.“

Schweigend liefen wir los.

Mit Veith händchenhaltend durch den Regen zu spazieren, hatte schon etwas für sich. Es war so ruhig, eine kleine Welt, die nur uns gehörte. Wenigstens für den Augenblick.

„Morgen kann ich nicht kommen“, sagte er irgendwann aus heiterem Himmel.

„Was? Warum?“

„Cui besteht darauf, dass wir morgen alle im Lager bleiben und besprechen, was im schlimmsten Fall zu tun ist.“

Ein ganzer Tag ohne Veith? Dabei war unsere Zeit doch schon so begrenzt. Nur noch wenige Tage, dann fiel die Entscheidung über die Lykaner und egal wie die ausfiel, Veith würde danach aus meinem Leben verschwinden. Ich wollte diesen Tag, brauchte ihn, wir hatten doch nur so wenige. „Kannst du dich nicht für ein paar Stunden wegschleichen?“

„Nur wenn ich will, das Cui Fragen stellt. Es wäre einfach zu auffällig.“

Mist. „Warum hast du es mir nicht schon früher gesagt?“

Veith hob für mich einen tiefhängenden Ast mit einem kleinen Pflanzenbart, damit ich darunter durchschlüpfen konnte. „Es ist heute einfach so viel geschehen, ich hab es einfach vergessen.“

„Aber …“

„Talita, es geht nicht.“

Damit nahm er mir jeglichen Wind aus den Segeln. Drei Tage noch bis zum Urteilsspruch, drei Tage die er noch in Sternheim verbrachte und jetzt wurde mir davon auch noch einer weggenommen. „Das ist nicht fair.“

„Und doch lässt es sich nicht ändern. Ich kann morgen nicht kommen.“ Wir hatten den Vorplatz zwischen dem Schild und den Bäumen erreicht und sofort prasselte der Regen ohne den Schutz der Bäume heftiger auf unsere Köpfe. „Sei nicht sauer, ich …“ Er seufzte. Auch ihm wurde klar, dass unsere gemeinsame Zeit knapp wurde. „Ich versuche mir etwas zu überlegen, um dort wegzukommen.“

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Du hast Recht, es wäre zu auffällig und ich will nicht, dass es rauskommt, dann haben wir noch weniger Zeit.“ Mit einem gespielten Lächeln, das meine Augen nicht erreichte, wandte ich ihm den Kopf zu. „Außerdem habe ich so die Möglichkeit, mich einmal von deiner geballten männlichen Kraft zu erholen.“

„Geballte männliche Kraft?“

„Naja, du bist manchmal ganz schön aufdringlich. Dagegen kann ich mich gar nicht wehren, ich werde immer schwach, wenn ich dich sehe.“

Veith ging auf das kleine Spielchen ein. Alles war besser, als sich mit unserem Problem zu beschäftigen. „So, du wirst also immer schwach, wenn du mich siehst?“

„Klar, meine Beine werden dann zu Wackelpudding und ich kann mich kaum noch aufrecht halten.“ Dass das irgendwie der Wahrheit entsprach, verriet ich ihm nicht. Aber so wie sein Mundwinkel nach oben zuckte, ahnte er das wohl.

„Wackelpuddingbeine also.“

Wir hatten das Schild erreicht.

Er ließ meine Hand los und verschränkte selbstgefällig die Arme vor der Brust. „Das gefällt mir.“

Oh Mann, das männliche Ego war wirklich leicht aufzublasen. „Ja, dein Anblick ist der reine Wahnsinn, Ich bin immer völlig überwältigt, wenn ich dich sehe.“

„Überwältigt also, na dann … ahhh!“

Ich schaute verdutzt auf den am Boden liegenden Veith, nur einen Moment, dann prustete ich aus voller Kehle los.

„Das findest du wohl witzig“, murmelte er und rappelte sich grummelnd auf die Beine.

Ich konnte nicht antworten, ich war viel zu sehr damit beschäftigt, ihn auszulachen. Er hatte versucht sich obercool gegen den Schild zu lehnen, nur war da kein Widerstand gewesen und er war glatt hindurch gefallen. Nun stand er fluchend auf der anderen Seite des Schildes und funkelte mich an. Tja, er fand das wohl nicht so witzig wie ich, was nur daran liegen konnte, dass er sein eigenes Gesicht nicht sehen konnte. Das war einfach zu herrlich gewesen.

„Bist du jetzt fertig mit lachen?“, fragte er trocken.

Mit dem Handballen wischte ich mir eine Lachträne aus dem Gesicht. „Einen Moment noch“, gluckste ich, was seine Mundwinkel noch weiter nach unten zog. Okay, das war dann wohl auch genug. Noch immer grinsend trat ich durch den Schild zu ihm und schlang meine Arme um seinen Nacken, um ihn einem Kuss auf den Mundwinkel zu geben, der diese Falten verschwinden ließ. „Hat mein großer, böser Wolf sich wehgetan?“

„Nein, aber …“ Er richtete seinen Blick auf das Schild und bekam wieder die kleine niedliche Falte auf der Stirn. „Wie bin ich durch den Schild gekommen?“

„Was meinst du mit, wie bin …“ Ich verstummte, als mir seine Worte klar wurden. Veith war durch den Schild gegangen, ohne mich zu berühren – gut, durchgefallen, aber das war gerade uninteressant – wie war das möglich?

Veith löste sich ein wenig von mir und streckte die Hand aus. Sie ging ohne Probleme hindurch.

„Wie machst du das?“

„Ich weiß es nicht.“ Er ließ die Hand wieder sinken und richtete seinen Blick auf mich. Er war genauso ratlos wie ich.

 

°°°°°

Tag 465

Draußen war es noch dunkel, als ich die Beine mit schweren Augenlidern aus meinem Bett schwang, weil meine Blase einem dringenden Bedürfnis nachkommen wollte – und das bereits seit einer Stunde. Ich hatte mich die ganze Zeit tapfer dagegen gewehrt, wollte mein kuschliges, warmes Nest nicht verlassen, doch die Natur drängte, also blieb mir irgendwann nichts anderes übrig.

Leise und müde, um die anderen nicht zu stören, schlürfte ich ins Bad, erledigte dort, was es zu erledigen gab und trat wieder den Rückweg durch den Flur an. Mein Bett rief ganz laut meinen Namen und ich wollte es schließlich nicht enttäuschen und vor Kummer und Einsamkeit verrückt werden lassen. Ne, ne, das konnte ich meinem Bett nicht antun, dafür hatte ich es einfach viel zu lieb.

Ich war gerade an meiner Zimmertür angelangt und freute mich darauf wieder unter meine Decken zu schlüpfen, als ich das Geräusch hörte. Das klang wie ein unterdrücktes Stöhnen. Was war da los?

Ich spitzte die Ohren und … da, schon wieder! Ich sollte nicht gucken gehen. Irgendwas sagte mir, dass es das Beste sei, wenn ich einfach wieder in mein Bett verschwand und das Geräusch als eine Ausgeburt meiner Fantasie einordnete, aber das ging nicht. Jetzt war meine Neugierde entfesselt.

Auf Zehenspitzen schlich ich ins Wohnzimmer, immer dem leisen Stöhnen hinterher, ein Frauenstöhnen. Hatte Pal Besuch? Auf meiner Couch? Na dem würde ich was husten! Noch zwei Schritte, dann stand ich im Wohnzimmer, aber es war so dunkel, dass ich in dem spärlichen Licht, dass draußen von den Straßenlaternen kam, nur zwei Schemen ausmachen konnte, die sich da gerade in meinem Wohnzimmer, auf meiner Couch miteinander vergnügten.

Spätestens jetzt hätte ich ihnen ihre Privatsphäre lassen müssen und mich schleunigst verziehen sollen, aber das Verhalten der Lykaner hatte offensichtlich auf mich abgefärbt. Ich dachte nicht mal im Traum daran mich zu verziehen, tastete stattdessen nach dem Lichtschalter und knipste die Deckenleuchte an.

Zwei Gesichter wirbelten erschrocken zu mir herum. Das eine gehörte – wie nicht anders zu erwarten – Pal, dem die Haare zu allen Himmelsrichtungen abstanden. Da hatte jemand wohl ordentlich darin gewühlt.

Das zweite Gesicht erstaunte mich schon viel mehr. Unter Pal, die Hand gerade an einer sehr prekären Stelle an dem großen Roten, lag mit hochroten Wangen Kaj. Zum Glück trugen sie noch ihre Klamotten, sonst hätte es für uns alle drei sehr peinlich werden können.

Na da brat mir doch einer ´nen Storch, wer hätte das gedacht? Wortlos zog ich eine Augenbraue nach oben und lehnte mich an den Türrahmen.

Pals Blick huschte kurz zu Kaj und als er dann versuchte, eilig von ihr hochzustemmen, um zu verbergen, was die beiden da getrieben hatten – als wenn es da noch etwas zu verbergen gäbe –, rutschte er mit der Hand weg und landete mit einem dumpfen Bong zwischen Couch und Tisch. „Autsch“, hörte man nur noch und ich konnte mir ein Kichern absolut nicht verkneifen.

„Pal!“, rief Kaj und beugte sich über den Couchrand, nur um sich im nächsten Moment klar darüber zu werden, dass ich immer noch im Türrahmen stand und sie beide beobachtete. Wenn es überhaupt möglich war, wurde sie noch ein wenig röter. „Äh … ja, ich geh dann mal.“ Als hätte sie sich an etwas verbrannt – vielleicht hatte sie das ja, hi hi – stand sie auf und rauschte eilig an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Na so was. Kaj war mir nie so prüde vorgekommen.

Als der Tisch zur Seite geschoben wurde und Pal sich aus den Tiefen dazwischen leicht zerzaust erhob, richtete meine Aufmerksamkeit sich wieder auf ihn. „Wenn ich denke, dass das hier irgendwas mit deinem Kusstest zu tun hat, liege ich dann damit richtig?“

Als er sich zurück auf die Couch setzte, breitete sich ein freches Grinsen auf seinem Gesicht aus. Die Decken, die er zum Schlafen von mir bekommen hatte, waren in dem Treiben wohl auf den Boden gefallen und wurden von ihm eher nebensächlich wieder hochgezogen.

Ich löste mich von meinem Platz und ließ mich neben Pal in die Polster fallen. „Wie lange stehst du schon auf sie?“

„Ich weiß nicht.“ Er warf mir einen kurzen Blick zu und legte sich dann längs aufs Sofa. Dazu benutzter er die Armlehne als Kopfkissen. „Es ist irgendwie passiert, ich habe es gar nicht richtig gemerkt. Erst vorgestern, als sie uns so komisch angesehen hat, weil ich in deinem Bett saß.“

„Deswegen hast du mich geküsst“, stellte ich fest.

„Naja, ja. Ich musste einfach wissen, ob da noch etwas zwischen uns ist.“ Ein kurzer Blick von ihm. „Also zumindest von meiner Seite aus, aber auch wenn es ganz nett war, ich hatte nicht mehr dieses Bauchkribbeln, dass du sonst bei mir ausgelöst hast?“

„Ganz nett?“, sagte ich beleidigt und gab ihm einen Klaps auf den Oberschenkel. „Meine Küsse sind mehr als nur nett.“

Er grinste nur sein halbes Lächeln. „Bis vor kurzen waren sie das für mich auch, aber beim letzten Mal …“ Er ließ den Satz unvollendet.

Eigentlich hätte es mich doch traurig machen sollen, dass ich einen Verehrer verloren hatte, aber es stimmte mich nur nachdenklich. „Und Kaj, was sagt sie dazu?“

„Hat man das nicht gerade gesehen?“

Dafür gab es noch einen kleinen Klaps.

Er lachte leise. „Ich denke, sie ist nicht abgeneigt, aber zum Reden waren wir gerade ein wenig zu beschäftigt.“ Er warf mir einen gespielt bösen Blick zu. „Übrigens danke für die Unterbrechung.“

„Gern geschehen.“ Ich zog meine Beine an und machte mich neben ihm lang, sodass mein Kopf auf seiner Brust zur Ruhe kam. „Ihr hättet ja auch in ihr Zimmer gehen können.“

„Aber ihr Zimmer war so weit weg.“

„Ja, da ist es wirklich besser, wenn ihr versucht, meine Couch einzusauen.“

Seine Brust bebte unter meinem Ohr, als er leise lachte.

„Und, ist da etwas zwischen euch? Also, ich meine, ist es etwas Ernstes?“

„Das hoffe ich“, sagte er leise und nahm mich in den Arm. „Das hoffe ich wirklich.“

 

°°°

 

„Tante Ta-hal, da ist jemand am Vo-hox!“, quietschte Raissas Kleinmädchenstimme durch die ganze Wohnung, bevor sie wie ein kleiner Wirbelwind ins Wohnzimmer gestürmt kam und sich mit Anlauf auf Pals Schoß schmiss.

„Uff“, machte er. Da hatte sie wohl die richtige Stelle getroffen.

Ich lehnte mich über die Lehne des Sessels ihrer ausgestreckten Hand entgegen und nahm ihr das kleine Gerät ab.

„Es ist Gaare!“, verkündete sie lautstark und rappelte sich dann hoch, um auf Pals Beinen Hoppe-Hoppe-Reiter zu spielen. Ich hatte es ihr vor einiger Zeit beigebracht, uns seitdem mussten alle Anwohner dieser Räumlichkeiten darunter leiden.

„Hallo, Gaare“, sagte ich ins Vox und lehnte mich wieder zurück. Dabei beobachtete ich, wie Pal so tat, als würde er Raissa fallen lassen und sie vor Freude kreischte.

„Talita meine Liebe, ich habe schlechte Nachrichten für dich.“

Schlechte Nachrichten? „Hast du etwas vom Hohen Rat gehört?“ Dieser Gedanke war gar nicht so abwegig. Hin und wieder fungierte Gaare als Berater, auch beim Hohen Rat. Es war also gut möglich, dass er Insiderinformationen zum Ausschlussverfahren der Lykaner hatte.

Pal horchte bei meinen Worten auf und deutet Raissa mit dem Finger vor den Lippen einen Moment ruhig zu sein.

„Vom Hohen Rat?“, fragte er verwirrt. „Nein, nein, ich habe gerade mit Boudicca geredet. Die Schwestern des schwarzen Mondes entziehen dir ihre Erlaubnis das Portal zu nutzen, weil du gestern eine Hexe angegriffen hast.“

Ich braute bestimmt zehn Sekunden, bis mein Hirn diese Worte verarbeitet hatte. Aber dann schlugen sie wie ein Blitz bei mir ein. „Was?!“ Das konnte er doch nicht ernst meinen. Ich sollte eine Hexe angegriffen haben? War der noch ganz dicht? „Wann bitte soll das passiert sein?“

„Naja, gestern.“ Etwas raschelte am anderen Ende der Leitung, ein Klirren folgte. „Sie hat gesagt, wer so unhöflich zu einer Schwester ist, verdient es nicht ihre Hilfe zu bekommen.“

„Unhöflich?“ Verdammt, was redete er da? „Aber ich … ich hab doch gar nichts gemacht!“ Das konnten sie mir nicht antun, sie konnten die Erlaubnis nicht einfach so zurückziehen!

„Laut Boudicca hast du eine Hexe angegriffen.“

„Was soll ich getan habe?!“, fragte ich fassungslos. „Wann denn bitte? Ich … ich habe seit Tagen keine Hexe gesehen.“

„Gestern, vor dem Ratsgebäude.“

„Aber nein, Nein! Ich habe das nicht … da waren nur Lykaner!“

Gaare seufzte. „Talita meine Liebe, ich weiß es nicht. Boudicca hat nur gesagt, dass du dort mit einer Frau rumgerannt bist und dabei eine Hexe umgeschubst hättest. Und dass sie dir deswegen nicht mehr gestattet, das Portal zu benutzen.“

Was? Rumgerannt? Aber wann … natürlich, als Prisca mich gejagt hatte. Da war eine Frau gewesen, in die ich reingerannt war. Das konnten sie mir doch jetzt aber nicht zum Vorwurf machen! „Es war aber keine Absicht. Sie stand plötzlich vor mir und …“

„Ich habe es dir gesagt, Talita“, unterbrach Gaare mich mit eigenartiger Stimme, die so gar nicht zu ihm passte. „Ich habe dir gesagt, du sollst gleich gehen, weil Hexen sehr wankelmütige Wesen sind, aber du hast ja nicht hören wollen.“

Diese Worte machten mich sprachlos. Seit wann war Gaare so … so … kalt?

Am anderen Ende der Leitung wurde geseufzt. „Nun lässt es sich leider nicht mehr ändern.“

„Aber … was mache ich den jetzt?“ Sie konnten mir doch nicht einfach so die Erlaubnis entziehen, das hatte ich nicht verdient.

„Weitersuchen und darauf hoffen, dass sich ein anderer Zirkel finden lässt, der dich ihr Tor durchschreiten lässt“, war seine schlichte Antwort.

Ein anderer Zirkel? Aber schon um diesen zu finden hatten wir über ein Jahr gesucht. „Wie soll ich das machen?“ Ich kannte keine Hexenzirkel. Außerdem waren die Hexen eine große Gemeinschaft, die aus vielen Zirkeln bestand. Gerüchte wurden von einem zum andren weitergetragen. Sie alle würden nun glauben, dass ich eine Hexe angegriffen hatte und mich nicht mal anhören.

„Ich werde dir helfen.“

„Glaubst du denn, das bringt etwas?“, fragte ich bitter.

„Wir werden sehen und dieses Mal nutzt du das Tor, sobald du die Erlaubnis bekommen hast. Ich habe nicht die Zeit mich immer mit deinen Belangen zu beschäftigen. Hast du das verstanden?“

„Ja“, sagte ich schwach und merkte kaum, wie barsch und befehlend Gaare mit mir sprach, so ganz anders als sonst.

„Gut.“ Damit legte er auf. Ohne ein Wort des Abschieds und ohne ein Wort des Trost. Ich war so vor den Kopf gestoßen, dass ich gar nicht merkte, wie ungewöhnlich dieses Verhalten für Gaare war, ja eigentlich undenkbar. Aber andererseits hatte er sich wahrscheinlich schon lange genug mit mir und meinen Belangen herumgeplagt. Er hatte wahrscheinlich einfach kein Bock mehr auf mich.

Niedergeschlagen ließ ich das Vox sinken.

„Talita? Alles in Ordnung?“, fragte Pal.

In Ordnung? Nichts war in Ordnung. Ich hatte meine einzige Chance auf eine Rückkehr in meine Welt verspielt und damit auch auf meine Erinnerungen. Ich musste hier bleiben, ob ich nun wollte, oder nicht. Alles ging den Bach runter. Jetzt war ich in dieser Welt gefangen und konnte nichts dagegen tun. Und zu allem Überfluss konnte ich heute nicht mal Veith sehen, um mit ihm darüber zu reden. Nein, Moment, natürlich konnte ich das. Er durfte nicht zu mir, weil er eine solch lange Abwesenheit nicht erklären konnte, aber das hieß noch lange nicht, dass ich nicht zu ihm konnte, um mich mit ihm für eine halbe Stunde zu verdrücken. Ich musste nur ins Lager der Lykaner am Stadtrand, alles andere würde sich dann sicher finden.

„Talita?“ Pal beugte sich mir ein wenig entgegen.

Raissa sah fragend zwischen uns Erwachsenen hin und her, sagte aber zur Abwechslung mal nichts.

„Ich muss noch mal weg.“ Ich wollte jetzt einfach zu Veith. Entschlossen stand ich auf und lief in den Flur, um meine Sachen zusammensuchen. Ich würde jetzt zu Veith fahren, nur … ich brauchte eine Ausrede, warum ich dort auftauchte.

Pal folgte mir. „Wo musst du denn jetzt hin?“

„Ich will … ich muss nachdenken.“ Na bitte, wenigstens eine Ausrede hatte ich schon parat. „Wir sehen uns später.“ Damit verließ ich eilends die Wohnung, bevor er mir noch weitere Fragen stellen konnte. Jetzt musste ich mir nur noch einen guten Grund dafür überlegen, warum ich ins Lager der Lykaner wollte. Sollte doch eigentlich gar nicht so schwer sein, oder?

 

°°°

 

Der Anblick war überwältigend. Überall kleine und große Zelte in allen möglichen Farben und Formen aus Stoffen, die leicht schimmerten und völlig durcheinander herumstanden. Drumherum herrschte das Leben. Ein buntes Treiben im Regen.

Eine Kutsche zum Stadtrand zu bekommen, war gar nicht so einfach gewesen und kostete mich eine ordentliche Stange Geld, aber auf mein Moob hatte ich nicht zurückgreifen können. Es stand immer noch beschmiert vor meiner Haustür und wartete sehsüchtig darauf gereinigt zu werden. In der letzten Zeit war so viel geschehen, dass ich einfach nicht dazu gekommen war, es in die Werkstadt zu bringen, oder mich mit Nagellackentferner darüber her zu machen, um die Farbe runter zu kratzen – ja, Nagellackentferner, mein allround-Lösungsmittel für jede Gelegenheit.

Doch als ich die Kutsche unweit der äußeren Stadtgrenze verlassen hatte und mich dem prasselnden Regen aussetzte, der mich innerhalb von Sekunden bis auf die Knochen durchnässte, hatte ich noch ein weiteres Problem. Mir war immer noch keine Begründung eingefallen, die mein Auftauchen hier rechtfertigte. Es musste eine gute Begründung sein, eine glaubhafte, denn die die Lykaner waren misstrauische Zeitgenossen, die eine schlechte Lüge sofort rochen. Vielleicht irgendwas wegen dem Codex?

In der Ferne, unterm verregneten Horizont, war der Wolfsbaumwald zu sehen. Mehr war nicht zu erkennen. Es war zwar Tag, doch die tiefhängenden Wolken ließen alles finster erscheinen. Dafür sah ich diesen Zeltplatz, der die ganze Stadt umschloss, ja stand praktisch schon darin. Nach beide Richtungen erstreckte er sich und schien gar kein Ende nehmen zu wollen. Wenn die provisorischen Behausungen hier ein Anzeichen für die Menge der Lykaner waren, die sich in und um Sternheim versammelt hatten, dann mussten das … mehrere tausend Hundewandler sein, die aus aller Welt zusammengekommen waren. Schluck, jetzt wusste ich auch, warum mich Najat das eine Mal gewarnt hatte, nicht ohne Begleitung eines Lykaners hier aufzutauchen, das könnte tierisch in die Hose gehen und … Moment, Najat? Das war die Lösung für mein Problem! Najat würde wohl der einzige Lykaner in diesem Auflauf sein, der mich nicht fressen würde, wenn ich unangemeldet bei ihm auftauchte. Ich könnte einfach zu ihm gehen und behaupten, dass ich mit ihm über die Entscheidung und das, was danach geschehen würde, reden wollte – das wäre nicht mal eine Behauptung, denn es interessierte mich wirklich.

Nebenbei könnte ich dann nach Veith Ausschau halten. Ja, das war ein guter Plan. Die Tatsache, dass meine Chancen Veith in dieser Menge auszumachen, sehr gering waren, ignorierte ich an diesem Punkt einfach mal.

Entschlossen schritt ich in mein drohendes Verderben und wurde sofort von der Seite angeknurrt. Es war eine ältere Frau, die eigentlich zu der Sorte nettes, plätzchenbackendes Großmütterchen gehörte. Doch so, wie sie mich anknurrte, musste ich eher an Rotkäppchen denken. Oh Großmutter, warum hast du so spitze, große und scharfe Zähne? „Ähm … ich suche Najat vom Steinbachrudel. Können Sie mir vielleicht verraten, wo ich ihn finden kann?“ Ein Versuch war es jedenfalls wert.

Das ich nicht schreiend weglief, irritierte sie wohl. Sie verstummte, musterte mich einmal von oben bis unten, machte dann auf dem Absatz kehrt und verschwand in dem runden Zelt hinter sich.

Ähm … okay. Wenigstens hat sie nicht versucht mich zu fressen, das war doch schon was. Na gut, dann würde ich jemand anders fragen. Ich machte mich auf den Weg durch die kreuz und quer stehenden Zelte und entdeckte schon bald ein System hinter diesem durcheinander. Jedes Rudel schien andere Behausungen zu haben und die Grenzen waren klar festgelegt. Dazwischen befanden sich immer schmale Wege, auf denen sie sich fortbewegen konnten, aber ein Lykaner aus Rudel A, betrat niemals das Lager von Rudel B. Jedenfalls sahen die Lykaner, die sich auf ein Fleckchen zusammengefunden hatten, immer so ähnlich – ob nun von der Kleidung, Schmuck, oder dem Äußeren – das ich sicher war, sie gehörten alle zu einem Rudel.

Die Wege zwischen den einzelnen Lagern waren ausgetreten und matschig. Vorwärts zu kommen, ohne durch eine Pfütze zu latschen, war unmöglich und da ich von oben sowieso schon völlig durchnässt war, war es eh egal. Misstrauische Blicke aus Zelten begleiteten mich auf der Suche nach einem passenden Lykaner, den ich nach dem Weg fragen konnte. Aber die guckten alle so grimmig, dass ich es mir bisher verkniffen hatte, jemanden anzusprechen. Vielleicht würde ich mein Ziel ja auch ohne ihre Hilfe finden und dabei zufällig auch noch auf Veiths Rudel stoßen.

Doch leider waren Träume wie immer Schäume – zumindest was mich anging. Eine halbe Stunde lief ich so zwischen den Zelten hin und her, ließ meinen Blick immer wieder über die Planen gleiten, aber ich entdeckte nicht ein bekanntes Gesicht. Die dichten Regenschlieren machten es nicht gerade einfacher, etwas über eine weite Fläche zu erkennen. Eigentlich konnte ich nur das gut sehen, was in meiner unmittelbaren Umgebung war. Seufz, da würde ich wohl in den sauren Apfel beißen müssen.

Ich wandte mich nach links, mitten durch eine Schlammpfütze, die mir bis an die Knie reichte – igitt! Von oben hatte die aber nicht so tief ausgesehen. Mein Glück war wieder einmal perfekt. Grummeln lief ich weiter, hielt auf das erste Zelt vor mir gleich zu. Drei Männer hatten sich darin versammelt und hockten über etwas, das wie ein Brettspiel aussah.

Da sie sicher nicht begeistert wären, wenn ich mich einfach dazusetzen würde, winkte ich einfach ein wenig draußen herum. „Ähm … hallo? Ich hätte da mal eine Frage. Kann einer von euch mir vielleicht sagen, wo ich das Steinbachrudel finden kann? Ihr wisst schon, das Rudel von dem Alpha Najat.“

Schon nach dem „Ähm … hallo“ hatte ich ihre volle Aufmerksamkeit. Alle drei musterten mich sehr aufmerksam. Für zwei war mein klitschnasses Antlitz wohl so langweilig, dass sie sich einfach wieder ihrem Spiel zuwandten, nur der dritte nahm meiner Anwesenheit zur Kenntnis. „Geh nach Hause“, war jedoch alles was er sagte, bevor er sich wieder seinen zwei Mitstreitern zuwandte.

Ich kniff die Augen leicht zusammen. „Aber ich …“

Der Vorderste griff nach oben ins Zelt und ließ die Eingangsplane herunter.

Die sperrten mich aus! Machten die Plane runter und ließen mich einfach im Regen stehen! Ungehobeltes Volk.

Ich grummelte etwas Unhöfliches, drehte mich herum und rannte voll in jemand rein. „Uff“, machte ich, kippte nach hinten und landete mit dem Hintern im Dreck. Na toll, das hatte mir jetzt gerade nicht gefehlt. „Verdammt noch mal“, fluchte ich und sah mit geschlitzten Augen zu meinem Hindernis hinauf. Irgendwie kam mir dieser Umriss sehr bekannt vor. Dunkles Haar, schmal, fast schlaksig. Nettes Lächeln.

„Äh“, machte er und hielt mir die Hand hin, um mir aufzuhelfen, nahm sie aber zögernd wieder zurück, als ich diese Geste nicht beachtete und allein auf die Beine kam.

Super, jetzt war ich wirklich von oben bis unten mit Schlamm bespritzt. Ich könnte glatt als Schokopudding durchgehen.

„Ich hab gehört, was du eben gesagt hast.“

Ich unterbrach meinen nutzlosen Säuberungsversuch und sah zu ihm auf. „Bitte?“

„Na, das mit Najat, du suchst das Steinbachrudel.“ Nervös trat er von einem Bein aufs andere und beobachtete seine Umgebung, als hätte er Angst, dass ihn jemand mit mir zusammen sah. Wenn ihm meine Gesellschaft so zuwider war, warum quatschte er mich dann überhaupt an?

Ich kniff die Augen leicht zusammen. „Irgendwoher kenne ich dich.“

„Ja, ich … ich bin Modre, du weißt schon, der …“

„Der Mistkerl, der dafür gesorgt hat, dass ich das Rudel unter den Wolfsbäumen nicht mehr besuchen darf“, schnappte ich, als es mir wieder einfiel. Natürlich, er war daran schuld gewesen, dass Prisca mich verbannt hatte, nur weil er seine Finger nicht bei sich behalten konnte. Und jetzt wagte dieses Arschloch es wirklich, mich anzuquatschen und mich obendrein noch in den Schlamm zu schubsen? Oh, dem würde ich am liebsten … ahhhr!

„Naja, eigentlich wollte ich ja sagen, der Testiculus, aber irgendwie … ja.“ Er ließ die Hand wieder sinken. „Es tut mir wirklich leid, ich hatte nicht gewollt, dass es so kommt. Das musst du mir glauben.“

„Vergiss es einfach.“ Im Anbetracht der Tatsache, was momentan sonst noch los war, war diese Kleinigkeit nichtig. Zumindest in der Zwischenzeit.

„Nein, ich …“

„Lass einfach gut sein, okay? Ich muss jetzt weiter, also schieß los.“ Ich wartete einen Moment, aber er sagte kein Wort. „Wolltest du mir nicht gerade erklären, wo ich Najat finde?“

„Ich … ja. Da musst du da lang gehen.“ Er zeigte in die Richtung, aus der ich gerade gekommen war. War ja irgendwie klar gewesen. „Etwa zwei Kilometer am Stadtrand entlang, da hat er sein Lager.“

„Zwei Kilometer?“ Verdammt! Aber wenn ich so darüber nachdachte, Sternheim war schon eine verdammt große Stadt und die Lykaner hatten rundherum ihre Lager aufgeschlagen. Ich konnte wohl von Glück reden, dass ich mich nicht auf der komplett falschen Seite befand.

„Ja … ähm, wenn du willst, kann ich dich ein Stück begleiten.“

„Warum?“ Kritisch verengte ich die Augen – ja, die Lykaner waren auf diesem Fleckchen nicht die einzigen misstrauischen Wesen und ich erinnerte mich nur zu gut an meine letzte Begegnung mit Modre, da war es nicht verwerflich, wenn ich noch einmal nachfragte.

„Naja, ich muss eh in diese Richtung. Ich war nur gerade … äh, egal, aber ich muss jetzt zurück zum Rudel.“

Hatte er gerade einen Strahl in die Ecke gestellt, oder was? Irgendwie süß, dass es ihm peinlich war, das zu sagen. „Moment, du sprichst vom Wolfsbaumrudel.“

„Ja.“

Ich biss mir auf die Lippe und schmeckte das Regenwasser darauf. In der letzten halben Stunde hatte es ein wenig nachgelassen, doch der Himmel war noch immer tief verhangen. „Was ist mit … wie geht es Prisca?“

Der Ausdruck in seinem Gesicht wurde, soweit es ging, noch nervöser. „Prisca?“, fragte er ganz scheinheilig.

Wollte der mich jetzt verschaukeln, oder was? Ich setzte eine böse Miene auf. Naja, soweit ich dazu fähig war. „Dir ist klar, dass ich gestern dabei war, als …“

„Ja, ja, schon gut“, fuhr er mir schnell über den Mund, bevor ich zum Wesentlichen kommen konnte. Warum? War es ein Geheimnis, dass das Rudel unter den Wolfsbäumen einen neuen Alpha hatte? Und wenn ja, wieso? „Ich will einfach nur wissen, wie es Prisca geht.“

„Sie ist stark“, war seine schlichte Erwiderung.

Also ging es ihr scheiße. „Kann ich sie sehen?“

Er verlagerte nervös sein Gesicht. „Das kann ich nicht entscheiden.“

Warum mussten Lykaner eigentlich immer alles so kompliziert machen? „Glaubst du, es ist möglich, wenn ich mir bei Tyge die Erlaubnis hohle?“

„Ich weiß nicht, vielleicht.“

„Na, dann lass uns gehen.“

Er sah mich fragend an.

War der hohl oder was? „Zu Tyge, damit ich ihn fragen kann.“

„Okay.“

Ja, hohl, definitiv. Seufz.

Ich folgte im durch die Irrgärten der einzelnen Lager. Ohne Führer wäre ich hier vollkommen verloren gewesen. Wie er sich hier orientieren konnte, war mir ein Rätsel. Klar, er konnte sich seinen Weg erschnüffeln, aber hier lagen so viele Gerüche in der Luft, dass es gar nicht so einfach war, dieses Wirrwarr auseinander zu nehmen. Naja, zumindest für mich, er schien kein Problem mit dem Filtern der einzelnen Düfte zu haben. Vielleicht hatte er sich aber auch einfach nur den Weg gemerkt. Möglich war alles.

Wir liefen ungefähr eine halbe Stunde – also genau die Zeit die ich bereits gebraucht hatte. Vor uns tauchte ein riesiges Zelt auf, das eine Mischung aus Pavillon und Zirkuszelt sein konnte – einem sehr kleinen Zirkuszelt, ohne Fähnchen und Popkornstand. Es war grün und das einzige Gebilde auf diesem Platz, so ganz anders als bei den anderen.

„Äh … warte kurz hier“, sagte Modre zu mir, ging zu der Plane, hinter der der Eingang verborgen lag und verschwand darin.

Also stand ich im Nieselregen und wartete. Jetzt wäre mir stärkerer Regen lieber gewesen. Das würde wenigstens den Dreck wegwaschen.

Die Plane schlug erneut auf und Kovu kam freudig aus dem Zelt gestürmt. „Talita!“ Selbst wenn ich es gewollt hätte, wäre mir nicht die Möglichkeit geblieben, auszuweichen. In Nullkommanichts war er bei mir, schlang die Arme um mich und drehte mich lachend herum, sodass mir beinahe schlecht wurde. „Du bist es wirklich!“ Er drehte sich noch eine Runde, bevor er mich wieder auf dem Boden abstellte und mich anstrahlte.

Dieses freche Funkeln in den Augen, die langen braunen Haare, die er zu einem langen Flechtzopf auf den Rücken hatte. Dieses kindliche. Er sah genauso aus wie bei unserem letzten Treffen.

„Hey, nicht weinen. So schlimm bin ich gar nicht.“ Grinsend wischte er mir die Träne von der Wange, die sich einfach nicht zurückhalten wollte.

„Es ist … ich freu mich nur.“

„Das sieht aber nicht so aus“, zweifelte er.

Dafür bekam er einen Knuff. „Blödmann“, schniefte ich und wischte mir mit dem Arm über die Nase. Ich hatte nicht geglaubt, dass ich Kovu je wiedersehen würde und ihn hier zu treffen, so völlig überraschend, war einfach … ich freute mich.

„Los, komm erst mal ins Trockene, du bist ja völlig durchnässt.“ Er legte mir einen Arm über die Schulter, aber bevor ich nur einen Schritt gehen konnte, sah ich Tyge vor dem Zelt stehen. Plötzlich war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich wirklich so willkommen war, wie Kovu sich das vorstellte. Ob Tyge sich an Priscas Worte hielt? Ich zögerte und machte erst einen Schritt, als Tyge mir die Plane vor dem Eingang einladend aufhielt.

Diese kleine Geste reichte aus, dass mir ein ganzer Berg vom Herzen fiel. Ich hatte auf dem Weg hier her gar nicht bemerkt, wie sehr die Verbannung mich noch belastete.

Mit einem zögernden Lächeln tauchte ich an ihm vorbei in das Zelt, Kovu direkt hinter mir.

„Setz dich irgendwo hin, ich hol dir mal schnell ein Handtuch“ und Schwups, er verschwand zur Seite, wo mehrere kleine Truhen und Kisten standen.

Ich ließ meinen Blick durch das Innere schweifen. Eigentlich hatten sie es hier ganz nett. Es war ein großer, runder Raum, der durchdacht aufgeteilt war.

In der Mitte hatten sie eine Art Kochstelle errichtet, um die sich die Wölfe versammeln konnten. In ihr loderte ein kleines Feuer, das nicht nur das Zelt erhellte, sondern gleichzeitig auch für ein wenig Wärme sorgte. Rechts bunkerten sie in verschiedenen Kisten alles, was sie so brauchten. Kleidung, Töpfe, Lebensmittel. Wenn ich ein wenig darin rumstöbern würde, fände ich sicher noch mehr. Links von mir befand sich ein großes Decken- und Kissenlager. Das war wohl ihr Bau, in dem sie alle gemeinsam schliefen. Ich erinnerte mich noch gut an die Zeit, als ich mit den Wölfen von unter den Wolfsbäumen, in einem solchen Lager logiert hatte. Die Nächte waren warm und kuschlig gewesen. Ich hatte mich richtig geborgen gefühlt.

Nun lag in der Ecke Prisca mit dem Rücken zu mir, eingerollte in eine dicke Decke. Ihren Kopf hatte sie auf Rems Schoß gebettet, die immer wieder über das schwarze Haar ihres Schützlings strich. Neben Rem saß Fang ihr Gefährte und musterte mich mit leicht zusammengekniffenen Augen.

Außer den dreien da drüben befanden sich noch rund zwanzig andere Werwölfe in dem Zelt, die ich alle mehr oder weniger vom Sehen kannte.

Ich fühlte mich, als sei ich nach Hause gekommen und war kurz davor, in Tränen auszubrechen. Das Einzige, was mich daran hinderte, war Kovu, der plötzlich hinter mir stand und ohne meine Erlaubnis damit begann, mir die Haare trocken zu rubbeln. Ach ja, das hatte ich auch vermisst. Keinen Respekt vor dem privaten Bereich. „Lass das, ich kann das allein.“

Kovu zuckte nur die Schultern und überließ mir das Handtuch, doch kaum begann ich, selber meine Haare zu trocknen, war er mit einem weiteren da und begann damit meinen Rücken zu trocknen. Seufz. „Hast du dich im Schlamm gewälzt, oder warum siehst du so aus?“

„So ungefähr“, murmelte ich und ließ mich von ihm zu dem kleinen Feuer dirigieren, wo er mich einfach auf dem Boden drückte. Modre, Domina und ein paar andere waren auch hier. Ich ignorierte sie. Für mich war gerade Tyge wichtig, der sich neben mich gesetzt hatte.

„Wie geht es Prisca?“, fragte ich, während Kovu sich hinter mich setzte und wieder begann, an mir rumzurubbeln. Versuchte er mir die Haut vom Körper zu schleifen, oder was? Nach seiner Behandlung würde ich sicher krebsrot sein. Aber ich ließ ihn. Es tat gut hier zu sitzen und ihn bei mir zu wissen. Kovu war mir von Anfang an sehr wichtig gewesen. Anders als Veith und Pal, aber nicht weniger wichtig.

„Nicht sehr gut.“ Tyge senkte seinen Blick ins Feuer. „Sie hat sich aufgegeben.“

Bei diesen Worten wurde mir ganz kalt. Ich kannte den Grund und er war meine Schuld: Julicas Tod. „Das tut mir leid.“

Kovu hielt einen Moment in der Bewegung an und rubbelte dann etwas kräftiger mit dem Handtuch über meinen Arm. „Sei nicht albern, das hat nichts mit dir zu tun.“

„Aber wegen mir ist …“

„Kovu hat Recht“, unterbrach Tyge mich. „Natürlich spielt Julicas Tod mit hinein, aber das ist nicht der Hauptgrund für ihren Zustand.“

„Natürlich ist er das“, widersprach ich sofort. Was sollte es denn sonst sein?

„Nein ist es nicht.“ Tyge schüttelte den Kopf. „Es ist …“

„Hältst du es für klug, ihr das zu sagen?“, fuhr ihm eine Frau gegenüber dazwischen. Ich erkannte sie als die braunhaarige Wölfin Pirna, die damals auf dem Fest der Lykaner so einen Aufstand gemacht hatte.

„Zweifelst du an meinen Entscheidungen?“, stellte er die Gegenfrage.

Pirna kniff die Lippen zusammen. Ein klares Zeichen. Nein, sie zweifelte nicht, es passte ihr trotzdem nicht in den Kragen.

Der Regen prasselte leise auf das Zeltdach.

Kovu schmiss das Handtuch achtlos hinter sich und kuschelte sich an meinen Rücken. Es störte mich nicht, dass er die Arme um meinen Bauch schlang und sein Kinn auf meine Schulter ablegte, das war vertraut und ich hatte es vermisst.

Tyges Aufmerksamkeit kehrte auf mich zurück. „Prisca macht sich Vorwürfe, weil sie glaubt, dass sie an dem Ausschlussverfahren schuld ist.“ Er drückte kurz die Lippen zusammen. „In gewisser Weise ist sie das auch und unter dieser Last des Wissens ist sie zusammengebrochen.“

„Was?“ War das sein ernst?

„Julicas Tod hat sie schwer getroffen, aber sie wäre darüber hinweggekommen. Irgendwann. Doch das hier, all diese Leben auf seinem Gewissen zu haben, die ganze Rasse der Lykaner, das hat sie nicht verkraftet.“

Bitte? Jetzt verstand ich rein gar nichts mehr. „Was soll das heißen?“

„Genau das, was ich sage.“ Er richtete seinen Blick auf mich. „Erinnerst du dich noch daran, als wir dich zu Anwar brachten?“

Natürlich, wie könnte ich das vergessen. Ich nickte.

„Erinnerst du dich auch noch daran, wie wir Anwar dazu bekommen haben, dich bei ihm aufzunehmen?“

Ich runzelte die Stirn und musste tief in meiner Erinnerung graben, um die Antwort zu erhalten, aber ich fand sie. „Anwar hatte eine Schuld bei Prisca, deswegen hat er sich um mich gekümmert.“

Tyge schnaubte. „Es war keine Schuld, es war Erpressung.“

„Was?“ Jetzt verstand ich wirklich nur noch Bahnhof. „Prisca hat Anwar erpresst? Womit?“

Kovu rückte etwas näher und zuckte mit der Nase über meine Schulter. Schnüffelte er etwas schon wieder an mir?

„Es war vor ungefähr vor dreizehn Jahren.“

Die Worte, die Anwar vor dem Ratsgebäude zu Prisca gesagt hatte, zuckten durch mein Gedächtnis. Zu spät, Prisca. Dreizehn Jahre zu spät.

„Anwar war damals bereits für den Hohen Rat tätig, aber noch kein Parlamentär. Ich weiß nicht genau, was passiert ist, nur das, was Prisca mir erzählt hat.“

Ich konnte mich kaum richtig konzentrieren, weil Kovu auch noch anfing, mit dem Finger auf meiner Schulter herumzurubbeln, um erneut an dieser Stelle zu riechen. Ich gab ihm einen Klaps auf die Nase. „Lass das.“

Beleidigt legte er das Kinn zurück auf meine Schulter.

Tyge beachtete das Treiben seines Jüngsten nicht. „Sie war in der Nacht noch im Wald gewesen, um … ich weiß nicht mehr warum, nur das sie durch den Wald gestreift war, als sie auf ein seltsames Geräusch aufmerksam geworden ist, dass nicht in unser Revier gehörte. Sie glaubte, ein Eindringling habe sich in den Wald verirrt.“ Er schnaubte. „Verirrt hatte er sich nicht, aber ja, es war ein Eindringling, es war Anwar.“

„Was hatte Anwar mitten in der Nacht in eurem Wald verloren?“, wollte ich wissen.

„Er hat eine Leiche vergraben.“

Das schlug ein wie eine Bombe. „Eine … eine Leiche?“ Da war es wieder, mein Minnie-Mouse-Quietschen.

Tyge nickte. „Anwar hatte wohl Streit mit einem Bekannten gehabt, der wohl etwas ausgeartet ist. Ich weiß nicht worum es ging, nur, dass der Bekannte anschließend tot war und Anwar daran schuld.“

Das waren ja Abgründe, die kaum vorstellbar waren. Lügen, Intrigen und Machtspielchen. Wo war ich hier nur reingeraten?

„Anwar fürchtete um seine Macht und seine Stellung in der Stadt Sternheim und hat versucht, die Leiche verschwinden zu lassen. Dabei wurde er von Prisca erwischt.“

„Und damit hat sie ihn dann erpresst“, fasste ich zusammen. Na bitte, ich war die geborene Miss Marple.

„Ja, dreizehn Jahre lang hatte sie ihn in der Hand und er musste alles tun, was sie wollte.“

„Aber … warum ist sie nicht zu den Wächtern gegangen und hat ihn gleich angezeigt?“

Tyge warf mir einen Blick zu, der deutlich sagte, dass ich die Lykaner in der Zwischenzeit doch eigentlich genug kennen müsste, um allein auf die Antwort zu kommen. „Weil es sie nicht interessierte, was außerhalb unserer Rudelgrenzen vor sich ging. Wenn die anderen Rassen der Meinung sind, sich gegenseitig abschlachten zu müssen, dann sollen sie das ruhig tun, solange sie uns damit nicht behelligen.“

Das Lebensmotto der Lykaner.

„Prisca hat oft Dinge von Anwar gewollt, meistens wenn es um einen Lykaner ging, der Hilfe brauchte. Zum Beispiel mit den Wächtern, oder …“

„Deswegen hat Anwar es letztes Jahr auch so anstandslos aufgenommen, dass ihr in seinem Haus gewohnt habt“, ging mir ein Geistesblitz auf.

Tyge nickte.

Doch eines verstand ich nicht ganz. „Aber, wenn Prisca glaubte, das Anwar hinter dem Verschwinden der Lykaner steckte, warum hat sie ihm dann nicht einfach befohlen, sie rauszurücken? Damit, dass er es nicht konnte, hätte ihr doch sofort klar sein müssen, dass wir uns auf der falschen Fährte befanden.“

„So einfach war das nicht. Nachdem du uns erzählt hattest, dass du glaubst, Anwar steckt hinter alle dem, hat Prisca vermutet, dass er aus Rache an ihr die Lykaner entführt hat. Sie konnte es ihm aber nicht nachweisen und die Wächter hätten ihr nicht geglaubt. Anwar war in der Zwischenzeit ein hoch angesehenes Mitglied der Stadt und es gäbe für ihn keinen Grund, sich an den Lykanern zu vergreifen. Prisca hat zu lange geschwiegen, keiner würde ihr nun noch glauben.“

Nein, natürlich nicht. „Deswegen hat sie uns in das Haus geschickt, wir sollten für sie Beweise gegen ihn sammeln.“

Er nickte ein weiteres Mal. „Nur leider war Anwar in der Zwischenzeit ein wenig paranoid geworden, was uns betraf. Das wurde noch schlimmer, als wir in sein Haus kamen.“

„Was meinst du?“

„Du hattest Recht mit deiner Vermutung. Anwar hasst die Lykaner, weil er sie fürchtet. Genaugenommen fürchtet er nur Prisca, aber das reichte schon. Sie kennt die Wahrheit über ihn, ihr ganzes Rudel kennt diese Wahrheit und er fürchtete um seine Macht, die er verlieren würde, sollte einer von uns zu den Wächtern gehen.“

Danach kehrte einige Zeit Schweigen ein. Auch die anderen Werwölfe blieben still in der Last, die auf ihre Schultern drückte.

Ich drehte den Kopf so, dass ich den Kleinen angucken konnte. „Wusstest du das auch?“

„Ja.“

Aber  … wie hatten sie das die ganze Zeit vor mir verheimlichen können?

„Und nun ist es zu spät“, sagte Tyge. „Keiner wird uns das jetzt noch glauben, nicht mal, wenn wir ihnen die Knochen der Leiche zeigen würden. Der Hohe Rat würde nur denken, dass wir mit dieser Geschichte unsere Haut retten wollen.“

Was ja auch so war. Zwar war es wirklich geschehen, aber sie hatte geschwiegen, um dieses Geheimnis zu ihren Gunsten zu nutzen. Und jetzt konnten sie es nicht mehr preisgeben, weil das nichts ändern würde. „Warum erzählst du mir das alles?“, fragte ich,  meinen Blick auf das Prasseln des Feuers gerichtet.

„Damit du weißt, dass es nicht deine Schuld ist.“

Ich ließ meinen Blick zu Prisca schweifen, den Urheber dieser ganzen Probleme und empfand nur Mitleid mit diesem Stück Wrack. Ja, es mochte hart klingen, aber genau das war sie im Moment. „Kann man ihr irgendwie helfen?“

„Ich weiß es nicht“, sagte Tyge schwach. „Sie bräuchte wieder einen Grund zu leben, aber den hat sie im Augenblick nicht.“

 

°°°

 

Ich blieb noch ein Weilchen bei den Wölfen unter den Wolfsbäumen. Meine Gedanken kreisten die ganze Zeit um diese Geschichte. Wie hatte es nur so weit kommen können? An all dem war Prisca schuld und ich wusste nicht, ob ich Mitleid mit ihr haben sollte, oder es besser sei, sie für ihren Egoismus zu verfluchen. Hätte sie damals anders gehandelt, wäre vielen Leuten sehr viel Leid erspart geblieben. Andererseits hatte sie damals nicht wissen können, was dieses Geheimnis für Folgen haben würde. Sie hatte für die Lykaner etwas zum Besseren wenden wollen. Trotzdem war es egoistisch gewesen. Die Familie des Toten wusste bis heute nicht, was aus ihm geworden war. Aber Lykaner dachten bekanntlich ja immer erst an sich selbst.

Nein, ich wusste wirklich nicht, was ich denken sollte.

Erst als die Wölfe anfingen das Mittagessen vorzubereiten, wurde mir klar, dass ich schon seit Stunden hier saß und vor mich hingrübelte, dabei hatte ich noch andere Dinge vor. „Ich glaube, ich sollte langsam gehen. Ich wollte eigentlich nur kurz vorbei gucken, um zu sehen, wie es Prisca geht.“

„Du kannst gerne zum Essen bleiben“, bot Tyge an. Zwischen uns prasselte noch immer das kleine Lagerfeuer. „Du bist hier immer willkommen, Talita.“

Ja, jetzt wieder, nachdem Prisca zusammengebrochen war. „Nein, ich wollte noch zu Najat.“ Und hoffte darauf, dabei einen Hinweis auf Veiths Lager zu entdecken.

„Aber pass auf, wo du langläufst, tritt nicht über die Grenzen“, mahnte er mich.

Ich lächelte gezwungen. „Klar, immer schön auf den Trampelpfaden bleiben, damit kein Lykaner auf die Idee kommt, ein wenig an mir herumzuknabbern.“

Er neigte den Kopf leicht zur Seite und musterte mich. „Weißt du denn überhaupt, wo du hin musst?“

„Ich begleite sie.“ Kovu war so schnell auf den Beinen, dass ich fast hinten überkippte. „Dann weiß ich, dass sie sicher ankommt.“

Na, ob ich das so toll fand? Es würde meine Suche nach Veith erschweren, aber ich brachte es auch nicht übers Herz, dem Kleinen einen Korb zu geben, dafür hatte ich ihn viel zu gerne um mich.

Tyge warf seinen Sohn einen scheelen Blick zu. „Aber halt dich von den Mädchen fern, sonst bin ich es, der dir demnächst den Kopf abreißen will.“

„Klar doch.“ Er schnappte sich meine Hand und zog mich mit sich aus dem Zelt. Mir blieb gerade noch die Zeit zum Abschied die Hand zu heben, dann waren wir auch schon draußen.

Der Regen hatte fast komplett aufgehört. Nur die tiefhängenden Wolken kündeten davon, dass es für heute sicher noch nicht alles gewesen war.

„Komm, wir müssen hier entlang.“ Und wieder wurde ich durch die Gegend gezogen. Wie in alten Zeiten.

Ich richtete meinen Blick auf den Kleinen, als er den Pfad nach Nordwesten einschlug. „Du sollst dich von den Mädchen fern halten?“

Kovu grinste mich frech an. „Naja, sie sind halt … hier gibt es eine Menge Auswahl, so eine Gelegenheit bekomme ich nie wieder, da muss ich doch zugreifen, oder?“

Zugreifen? Was bitte hatte der Kleine angestellt? „In deinem Rudel gibt es doch eine ausreichende Auswahl, wie du es so schön ausgedrückt hast.“

Dafür bekam ich sein spitzbübisches Lächeln. „Schon, aber hier ist es anders. Und es ist ja auch nicht so, dass ich den Mädels hinterherlaufe, die kommen auf mich zu.“

Aus einigen Zelten wurden wir misstrauisch beobachtet, als wir auf dem schlammigen Pfad an ihnen vorbei liefen. Ein paar knurrten, andere zeigten mit dem Finger auf uns, oder sahen uns einfach schweigend hinterher.

„Oh du Armer, du tust mir ja fast leid.“ Aber auch nur fast.

„Hey, das ist mein Ernst. Sie wissen meine Qualitäten eben zu schätzen.“ Stolz hob er sein Kinn in die Höhe.

Oh mein Gott, Angriff der Egomanier! „Du bist noch grün hinter den Ohren, so viel Qualität kann da noch gar nicht vorhanden sein.“

Ein Kind, kaum älter als drei, rannte lachend aus einem Zelt und kreuzte unseren Weg. Ihm dicht auf den Fersen war ein großer, brauner Wolf, der es am Lendenschurz packte und aufhob, bevor es in ein fremdes Lager rennen konnte. Der Wolf würdigte uns nicht mal eines Blickes, als er mit dem baumelnden Kind in der Schnauze an uns vorbei zurück ins Zelt marschierte.

„Das sehen die Mädels aber ganz anders“, erwiderte Kovu. Sie sagen immer, ich küsse verdammt gut und in anderen Dingen bin ich auch nicht schlecht.“

Ich schnaubte. Aber sicher doch. Kovu war noch ein halbes Kind. Eigentlich sollte er lieber mit Spielzeugautos spielen – Spielzeugmoobs? – anstatt der Damenwelt nachzusteigen.

Während wir uns auf dem Pfad nun weiter Richtung Norden hielten, kniff der Kleine die Augen leicht zusammen. Mein Schnauben hatte ihm wohl nicht sonderlich gefallen. „Weißt du, wäre es anders, würde ich dich halt von meinen Vorzügen überzeugen, dann würdest du sicher nicht mehr so reden.“

Von seinen Vorzügen überzeugen? Ich stellte mir im Geiste vor Kovu, zu küssen, aber der Gedanke war so abwegig, dass sich das Bild nicht einstellen wollte. „Was meinst du mit anders?“, fragte ich stattdessen.

Er überlegte einen Moment. Unsere Schritte schmatzten beim Gehen auf dem feuchten Untergrund. „Gegenfrage“, sagte er dann. „Warum riechst du nach Veith?“

Vor Schreck fiel ich fast über meine eigenen Füße, konnte mich aber im letzten Moment noch fangen, weil ich immer noch Kovus Hand hielt. Um meine Fassung zurückzubekommen, brauchte ich allerdings zwei, drei Sekunden mehr und das bemerkte der Kleine natürlich. „Ich … was redest du da für einen Blödsinn?“

Kovu verdrehte die Augen. „Ach komm schon, Talita, ich hab ihn an deiner Haut gerochen. Glaubst du wirklich, ich würde den Geruch meines eigenen Bruders nicht erkennen?“

Ach, deswegen hatte er mich so intensiv beschnüffelt und auch noch an meiner Haut rumgerieben. Mist.

„Der Geruch war zwar nur schwach und ich glaube nicht, dass einer von den andren etwas gemerkt hat, aber mir brauchst du ja nun wirklich nichts vormachen.“

Ich schwieg ein paar Schritte, um mir eine glaubhafte Ausrede einfallen zu lassen, aber ich fand keine. „Ich habe keine Ahnung, was du da zu erkennen geglaubt hast, aber sicher nicht Veith.“ Einfach alles leugnen, bis einem das Gegenteil bewiesen werden konnte.

Kovu schnaubte. „Natürlich nicht, ich bin ja bekannt dafür, dass ich ständig Halluzinationen habe.“

Darauf reagierte ich erst gar nicht, auch nicht auf den lauernden Blick, den er mir zuwarf. Ich hätte ihm ja gerne von mir und Veith erzählt, aber ich hatte meinem großen, bösen Wolf versprochen zu schweigen und dieses Schweigen würde ich auch gegenüber dem Kleinen nicht brechen. Sollte er doch vermuten was er wollte, aus meinem Mund würde er nichts erfahren.

„Ist ja auch egal“, lenkte der Kleine dann ein und zog mich nach rechts auf ein Lager zu, das zwischen ein paar verlorenen Bäumchen stand. Eine riesige Plane war zwischen den Nutzhölzern gespannt worden und bot den Lykanern darunter Schutz vor der Nässe. Daneben, mit den Eingängen zu der Plane, standen vier Zelte, die erstaunliche Ähnlichkeiten mit Wigwams aufwiesen. Nur waren diese hier nicht so hoch. „Aber falls es dich interessiert, wo Veith ist, du kannst ihn da hinten bei dem kleinen Wäldchen finden.“ Er zeigte auf eine Baumgruppierung, die in der Ferne nur als unklarer Schemen unter dem dunkeln Himmel zu erkennen war.

„Ich werde es mir merken.“ Das würde ich wirklich, auch wenn ich es in einer sehr sarkastischen Ton rüber brachte. Der Kleine musste ja schließlich nicht alles wissen. Aber da wir gerade schon so schön bei den Lagerplätzen der Lykaner waren, gab es da noch etwas, dass ich vielleicht wissen sollte. „Ist das Rudel der Mondlagune eigentlich auch hier?“

Über den plötzlichen Themenwechsel, war Kovu einen Moment irritiert. „Äh … klar, die sind irgendwo da hinten.“ Er zeigte in die Richtung, aus der wir gerade gekommen sind. „Gar nicht weit von unserem Lager entfernt, vielleicht dreihundert Meter.“

Das war gut zu wissen. Sicher würde Simyo … äh, ich meinte natürlich Reu, bald zu seinen Leuten zurückkehren wollen.

„Warum fragst du?“

„Wegen einem meiner Verlorenen Wölfe.“

„Du hast einen Wolf von der Mondlagune bei dir?“, fragte er erstaunt.

„Wie es scheint, ja.“

„Wie kommt der den hier her?“

Ich zuckte nichtssagend mit den Schultern, hatte jetzt keine Lust den Sachverhalt zwischen Areon und Reu zu erklären. Andere Dinge waren jetzt einfach wichtiger und außerdem … naja, ich hatte jetzt einfach keine Lust, mich damit auseinander zu setzen. Verdrängen war viel besser. Verdrängen und Vergessen.

Unter der Plane war Leben. Ähnlich wie bei den Wölfen unter den Wolfsbäumen gab es auch hier ein Lagerfeuer, um das sich das Steinbachrudel versammelt hatte. Sie aßen aus ihren Schüsseln gerade etwas, das mich stark an eine Tofusuppe erinnerte. Braune Klumpen in Soße. Naja, sehr appetitlich sah das Zeug ja nicht aus. Blieb nur zu hoffen, dass es wenigstens nahrhaft war.

Eine hübsche, junge Wölfin, die neben Najat saß, bemerkte unser Näherkommen und stieß ihren Alpha an, damit auch er auf uns aufmerksam wurde. Er zog bei meinem Anblick die Augenbraue hoch, stellte seine Schüssel auf den Boden und kam zu der Lagergrenze, wo ich und Kovu auf ihn warteten. „Talita.“ Er bedachte meinen jungen Begleiter nur mit einem kurzen, abwesenden Blick. „Was führt dich zu uns?“

„Naja, ich wollte fragen … du hast bei der Anhörung deine Position sehr direkt zur Geltung gebracht und jetzt wollte ich wissen, ist das dein ernst?“

Auf Kovus Gesicht breitete sich ein laszives Lächeln aus – anders war es nicht zu beschreiben. Aber er sah nicht mich oder Najat an, er sah an dem Alpha vorbei.

„Du meinst, dass wir uns nicht vertreiben lassen und notfalls auch mit Gewalt gegen andere Wesen vorgehen?“

„Ja, genau, ich …“ Irritiert zog ich die Augenbrauen zusammen.

Was trieb Kovu da eigentlich? Jetzt ließ er die Zunge auch noch verführerisch über seine Lippen gleiten, mit einem Blick, der … aber hallo! Einen solch brennenden Blick mit diesen Verheißungen sollte der Kleine gar nicht drauf haben.

„Was bitte machst du da?“, fragte ich ihn und er grinste nur und zeigte auf das Mädchen, das Najat vorhin angestoßen hatte. Auch sie lächelte. Naja, zumindest bis die peilte, das Najat sie beobachtete. Er stieß ein leises Knurren aus, was das Mädchen dazu veranlasste, sich schnell abzuwenden und ganz auf ihr Essen zu konzentrieren.

Kovu drehte mir das Gesicht zu. Siehst du?, sagte sein Blick und das selbstgefällige Lächeln. Ich konnte nur die Augen verdrehen. Da guckte ihn mal ein Mädchen an und dann das. Naja, ich musste schon zugeben, dass der Kleine ein ansehnlicher Bursche war, trotzdem sollte er diese Spielchen lassen. Wie Tyge schon gesagt hatte, irgendwann würde ihm dafür jemand den Hals umdrehen.

Kopfschüttelnd wandte ich mich wieder Najat zu. „Was ist eigentlich wissen wollte …“

Mit einer erhobenen Hand, brachte er mich einen Augenblick zum Schweigen. Sein Blick ruhte dabei auf unseren neunmalklugen Casanova. „Ich denke, es ist an der Zeit, dass du zu deinem Rudel zurückgehst, du wirst dort sicher gebraucht.“

„Klar“, sagte er völlig normal, als würde er das jeden Tag erleben – so wie Tyge sich ausgedrückt hatte, war das sicher im Bereich des Möglichen. Er drückte mir noch einen Kuss auf die Wange und war dann auch schon mit den Worten: „Wir sehen uns“, verschwunden.

Ich konnte nur den Kopf schütteln. „Tut mir leid, er ist …“

„Jung. Er wird es auch noch lernen.“

Eigentlich hatte ich ja vorgehabt „voller unberechenbarer Hormone“ zu sagen, aber jung war auch in Ordnung.

„Aber um auf den Grund deines Besuches zu kommen …“

Wie er das sagte, als würde er mir nicht glauben. Und dann noch dieser Blick dabei. Wenn er damit nicht gleich aufhörte, würde ich vor ihm auf die Knie fallen und ihm all meine Sünden gestehen. Von dem Griff in die Keksdose vor ein paar Tage, bis hin zu dieser Lüge.

„… ich werde genau das tun, was ich gesagt habe. Ich werde mich nicht wie ein Tier behandeln lassen, nur weil in paar Sesselpupser der Meinung sind, dass es besser wäre, uns alle zu erschießen.“

Sesselpupser, hi hi. Sowas aus Najats Mund zu hören … es war nicht einfach, da nicht zu lachen. Und der Ernst der Lage war wahrscheinlich auch das Einzige, was mich daran hinderte. „Glaubst du nicht, dass es einen anderen Weg gibt, einen friedlichen?“

„Nein.“ Klipp und klar.

 

°°°

 

Irgendwo hier musste es sein. Kovu hatte gesagt: „Da hinten bei dem kleinen Wäldchen“ und dass hier war das einzige Wäldchen weit und breit. Folglich musste er sich irgendwo hier rumtreiben. Es sei denn natürlich, ich war auf dem völlig falschen Dampfer und außerhalb meiner Sichtweite befand sich noch ein Wäldchen, das ich von diesem Punkt aus nicht bemerkte.

Ich ließ meinen Blick die dünnen Bäume hochwandern. Birken wenn ich mich nicht irrte. Vielleicht sollte ich einfach reingehen und nach ihm suchen? Aber wenn das Höhlenrudel das hier wirklich vorübergehend zu ihrem Revier erklärt hatte, dann würden sie über mein Eindringen nicht besonders glücklich sein. Davon mal abgesehen, konnte ich nicht erklären, warum ich mich hier überhaupt herumtrieb. Obwohl, doch, ich hatte ein Ausrede, sogar eine sehr gute. Aber reingehen empfand ich trotzdem nicht als besonders gescheite Lösung. Vielleicht sollte ich es erst mal mit Rufen probieren? Einen Versuch war es auch jeden Fall wert. „Ähm … hallo? Ist da jemand? Kann mich jemand da drinnen hören? Haaallooo!“

Ich wartete einen Moment auf eine Reaktion aus dem Inneren, die nicht kam. Fünf Minuten gab ich mir, dann versuchte ich es ein weiteres Mal und als wieder nichts brachte, lief ich ein Stück um das Wäldchen herum und versuchte es dort von neuem. Das Spielchen betrieb bestimmt zwanzig Minuten und wurde langsam sogar ärgerlich, weil ich so hartnäckig ignoriert wurde. Sie mussten mich einfach gehört haben, so groß war das verdammte Wäldchen nicht und die Lykaner hatten ausnehmend gute Ohren, was nur heißen konnte, dass sie mich mit Absicht mieden. „Okay, ich weiß, dass ihr da drin seid, könnte vielleicht irgendjemand mal herauskommen? Cui? Kanin? Veith?“ Oh bitte lass es Veith sein, das würde es für mich erheblich leichter machen.

Natürlich war es nicht Veith, es war nicht mal jemand den ich kannte.

„Ach, du bist das“, sagte sie leicht verärgert. „Was schreist du hier so herum?“

Sie war eine etwas kräftigere, dunkelhäutige Frau, die ihr schwarzes Haar zu einem langen Zopf über die Schulter geflochten hatte. Ihre gelben Augen stachen leuchtend aus ihrem Gesicht hervor.

Ich musste nur einen Blick auf sie werfen um zu wissen, dass ich sie nicht leiden konnte. Das hatte nichts mit ihrem Aussehen zu tun, oder mit verärgerten Ausdruck in ihrem Gesicht, sondern mit dem roten Band um ihren Arm. Sie war eine von den Weibern, die versuchten, sich Veith zu angeln.

Er gehört mir, also lass deine dreckigen Griffel von ihm!, wollte ich sie anschreien, als sie sich abwartend vor mich stellte, doch da das kontraproduktiv gewesen wäre, versuchte ich es mit einem Lächeln, das sich ziemlich starr auf meinem Gesicht anfühlte. „Ähm … ich war gerade in der Nähe und da wollte ich mal nachfragen, wie es Cree geht.“ Da, glaubhafte Ausrede für mein Auftauchen. Manchmal war ich halt doch nicht auf den Kopf gefallen.

Sie kniff die Augen leicht zusammen. „Warum willst du etwas über unseren Welpen wissen?“

„Na weil … äh ich mag Cree und seine Mamá …“

„Warum redest du mit ihr? Schick sie einfach weg.“

Bei der männlichen Stimme machte mein Herz in der Brust einen Hüpfer wie auf ein Trampolin. Zwischen den Bäumen trat Veith hervor und stellte sich an die Seite der Frau, was ich mit leichtem Zähneknirschen registrierte. Hinter ihm kamen noch drei weitere Lykaner, ein Mann und zwei Frauen. Das eine Weib, die Blondine, kannte ich bereits vom Sehen. Sie war im Lager der Höhlenwölfe gewesen, als ich Kanin zurückgebracht hatte und auch im Ratsgebäude, am zweiten Verhandlungstag. Genau wie die andere Tussi, trug sie ein rotes Band um den Oberarm. Allerdings klebte sie dabei an dem blonden Kerl neben sich, den ich auch schon einmal gesehen hatte. Er war auch ein Testiculus. Das letzte Weib hatte ich noch nie gesehen.

„Sie ist wegen Cree hier“, sagte die Frau, die als erstes gekommen war. „Sie will wissen, wie es ihm geht.“

Veiths Blick richtete sich mit einer stählernen Kälte auf mich, dass es mich bis ins Mark gefror. Ich mochte es nicht, wenn er mich so ansah, so völlig verschlossen und feindlich. „Cree geht es gut.“ Seine Augen huschten nach links.

„Das freut mich zu hören.“ So weit so gut. Jetzt musste ich mich nur irgendwie mit ihm verständigen und darauf hoffen, dass er sich für eine halbe Stunde wegschleichen konnte, um mich dann irgendwo mit ihm zu treffen. „Hat er mal nach Kaj gefragt?“ Ich versuchte, Veith mit Blicken um ein Zeichen zu bitten, das mir sagte, ob wir uns vielleicht später noch sehen konnten, denn dass er jetzt nicht vor den Augen seiner Rudelgefährten einfach verschwand und mit mir von dannen zog, war mehr als klar.

„Du solltest jetzt gehen.“ Wieder huschten seine Augen nach links.

„Aber ich wollte doch …“

„Geh“, sagte er kalt und führte mit der Hand eine kleine Bewegung durch, die nach links zeigte. Die anderen schenkten dieser Geste keine Aufmerksamkeit, doch ich sah sie ganz genau. Er hatte nach links gezeigt, genau dorthin, wohin seine Augen vorher gehuscht waren.

Okay, entweder bekam ich Wunschvorstellungen, oder er hatte mir damit das gewollte Zeichen gegen. „Geh nach links, wir treffen uns da später“, sollte es heißen. Zumindest glaubte ich das, oder hoffte es vielmehr. „Na gut, dann … vielleicht sieht man …“

Die Werwölfe drehten mir geschlossen den Rücken zu und verschwanden dann wieder zwischen den Bäumen. „Aufdringliche Katze“, hörte ich eine weibliche Stimme sagen. Eine andere murmelte daraufhin etwas, aber Veith hörte ich nicht mehr.

Gut, dann war es jetzt wohl besser, wenn ich mich auf den Weg machte. Aber ich ging nicht gleich nach links. Lykaner hatten verdammt gute Nasen und würden sich sicher wundern, wenn meine Spur mich nicht Richtung Sternheim, sondern weiter weg bringen würde, sollten sie ihr aus was weiß ich für Gründen folgen. Oder es könnte mich auch jemand aus dem Wäldchen beobachten, um sicher zu gehen, dass ich auch wirklich verschwand. Paranoid? Wer, ich?

Es war auf jeden Fall besser, einen kleinen Umweg zu machen, Veith würde mich schon finden.

Ein kurzes Stück zwischen den Lagern hin und her gelaufen und dann eine halbe Stunde Fußmarsch Richtung des Wolfbaumwaldes, fand ich einen Hügel, mit einer kleinen Höhlung. Das war zwar kein Vier-Sterne-Hotel, aber immer noch besser, als im drohenden Regen zu stehen.

Ich kroch hinein und setzte mich hin.

Jetzt hieß es warten.

 

°°°

 

Eine sanfte Berührung auf meiner Wange ließ mich verschlafen die Augen öffnen und den vertrauten Blick auffangen, den ich so liebte. „Hey“, nuschelte ich noch ein wenig schläfrig und rieb mir mit der Hand durchs Gesicht. Ob ich genauso zerknittert aussah, wie ich mich fühlte?

Veith setzte sich neben mich. Er war von dem Regen nass und die Strähnen fielen ihm ins Gesicht. Ich wollte diese Strähnen zur Seite streichen. Sein Blick ruhte auf mir, als ich mich in eine aufrechte Position setzte. Ich musste während des Wartens eingeschlafen sein.

„Kein Begrüßungskuss?“, wollte ich wissen.

„Du hättest nicht herkommen sollen.“

„Aber ich …“ Ich biss mir auf die Lippe. Klar war es gefährlich hier aufzutauchen, aber …

„Komm her.“ Er öffnete die Arme und zog mich auf seinem Schoß, wo ich mein Gesicht an seiner Brust vergrub. „Du hättest trotzdem nicht herkommen sollen.“

„Aber ich wollte … ich …  sie haben mir die Erlaubnis entzogen.“

„Erlaubnis?“

„Das Portal zu benutzen. Ich … Gaare hat bei mir angerufen. Ich hab gestern wohl eine Hexe über den Haufen gerannt, als ich vor Prisca weggelaufen bin. Das fand sie wohl nicht sehr witzig.“ Ich lachte bitte. „Deswegen haben sie mir die Erlaubnis entzogen. Ich kann hier nicht mehr weg.“

Veiths Arme schlossen sich fester um mich und gaben mir die Geborgenheit, die ich im Augenblick so dringend brauchte. Ein wenig Trost, mehr wollte ich nicht. „Es wird sich schon eine andere Gelegenheit bieten.“

„Und wenn nicht?“, sprach ich meinen Angst aus, die mich am meisten belastete. Was, wenn das meine einzige Chance gewesen war? Dann war ich eine Gefangene in dieser Welt. Ohne Veith, denn ihn würde ich nicht mehr lange haben. Unsere heimliche Beziehung hatte ein Ablaufdatum.

„Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben.“

Was für ein abgedroschener Spruch. „Ich wünschte, es könnte immer so sein zwischen uns.“ Ich setzte mich in seinen Armen auf und strich diese neckische Strähne seines feuchten Haares zur Seite. „Ich möchte das hier für die Ewigkeit.“

Etwas Gequältes trat in Veiths Gesicht. „Talita, ich …“

„Ich weiß. Es wir nie so kommen, doch das ist das, was ich mir wünsche.“ Ich rutschte herum, bis ich über seinem Schoß saß und griff in meinen Nacken, um den Knoten meines Oberteils zu lösen. „Darum lass uns die wenige Zeit die wir haben nicht verschwenden.“

Veith verfolgte jede meiner Bewegungen. „Was machst du da?“

Diese Frage entlockte mir ein Lächeln. „Wonach sieht es denn aus?“ Ich ließ die Hände samt dem Stoff sinken und ließ meine Finger dann über seine Arme streichen. Seine Muskeln zuckten unter dieser Berührung.

Veiths Griff an meiner Hüfte verstärkte sich. „Nicht hier, hier kann jederzeit jemand vorbei kommen.“

„Wer sollte schon hier her kommen und das auch noch bei dem Wetter?“ Ich beugte mich vor und strich mit der Nase an seiner Wange entlang, hauchte ihm einen Kuss auf den Mundwinkel. „Hier gibt es nur uns.“

„Es könnte sein, dass mich jemand sucht.“

Irgendwie dachte ich immer, dass es einfacher wäre einen Mann zu verführen. Aber Veith war ja auch kein einfacher Mann, er war ein Wolf. „Wie lange kannst du den fort bleiben?“

„Nicht lange.“

„Na dann solltest du wohl besser aufhören zu reden.“ Ich lächelte an seinen Lippen, als ich spürte, wie seine Hände an meinem Körper auf Wanderschaft gingen. Yes, ich hatte gewonnen.

Sein Kuss begann ganz sanft, so völlig anders, als ich es gewohnt war, aber er ließ sich auch nicht drängen, als ich nachdrücklicher wurde und so rutschte, dass unsere Becken aneinander stießen. Er gab einen leichten Knurrlaut von sich. Seine Hand strich über meine Haut, bahnte sich einen Weg über meinen Körper, spielte mit meiner Brust, während seine Lippen meine gefangen hielten.

Das ging mir alles nicht schnell genug. Ich wollte ein wenig Vergessen, wollte die schlimmen Dinge in meinem Leben ausblenden, die ungewisse Zukunft, eine Zukunft ohne Veith. „Veith“, wisperte ich. Wie sollte ich nur jemals ohne ihn leben? Ich schlang meine Arme um seien Nacken, vergrub meine Hände in seinen Haaren. Ich wollte ihn nie wieder loslassen, dieser Moment sollte ewig währen.

Mein Mund strich über seine Kinnpartie, wanderte zu seiner Halsbeuge, wo ich ihm sanft ins Ohrläppchen biss.

Er knurrte und im nächsten Moment fand ich mich auf dem Rücken unter ihm liegend wieder. Tja, da hatte ich wohl endlich den Wolf rausgekitzelt.

Stürmisch fiel er über mich her, nahm sich, was er wollte, was er brauchte, was ich brauchte. Diese Vereinigung hatte nichts Sanftes an sich. Es war ein Zeichen unserer Ängste, unseres Wissens über das Vergängliche. Ein paar gestohlene Stunden, mehr hatten wir nicht, das war alles was uns blieb. Und die würden wir mit Verzweiflung genießen, denn es gab keinen Ausweg. Zwei Tage blieben uns noch, dann würden wir uns nie mehr wiedersehn.

 

°°°

Tag 466

„Ich will die! Nein, die da oben. Nein die da!“ Raissa lief los und riss dabei fast noch ein Regal mit Müsli um, bevor sie sich das kunterbunte Päckchen aus dem Regal klaubte und mich freudig anstrahlte.

„Äh … dir ist schon aufgefallen, dass du bereits eine Schachtel Frühstücksflocken hast?“ Ich griff nach dem Päckchen mit den tanzenden Blumen aus unserem Einkaufswagen und wedelte damit vor ihrer Nase herum. „Hier, siehst du?“

Sie sah mit großen, unschuldigen Kinderaugen auf die bunte Schachtel in meiner Hand, dann in mein Gesicht und drückte die Frühstücksflocken mit dem karierten, jaulenden Wolf fester an ihre Brust. „Aber ich mag die. Mamá kauft mir immer die Wutzis.“

„Gut, dann stellen wir die Drinos zurück und nehmen die Wutzis.“

„Aber ich mag auch die Drinos.“

Oh, wie konnte man so großen Kulleraugen widerstehen, wenn sie einen so bittend ansahen? „Na gut, dann nehmen wie sie beide, aber du musst …“

Nach dem „Na gut“ hörte sie mir gar nicht mehr zu. Sie warf einfach die Schachtel zu den anderen Sachen in den Wagen und flitzte los, auf der Jagd nach einer weiteren Beute, die  meinen Geldbeutel ein wenig erleichtern würde.

„… sie auch wirklich essen“, schloss ich, obwohl sie schon längst außer Hörweite war. Seufz. Besser ich folgte ihr. 

Es war später Morgen und ich hatte mich dazu entschlossen, mit Raissa nach unten in den Laden an der Ecke zu gehen, um fürs Frühstück ein wenig Frühgebäck zu kaufen. Doch sie machte aus einer schnellen Besorgung einen Großeinkauf, während die hungrigen Wölfe zu Hause wahrscheinlich schon an meinem Tisch nagten, weil ihnen der Magen bereits in den Kniekehlen hing.

Die Frühstücksflockendiskussion war nicht die letzte dieser Art, die wir hatten. Es ging weiter bei dem Brot, bei dem Belag, bei den Getränken und besonders viel Zeit verbrachten wir bei den Süßigkeiten, wo sie es ehrlich schaffte – ich hatte keine Ahnung wie sie das machte – mich zu drei verschiedenen Artikeln zu überreden. Das mussten diese Augen sein. Diesem Welpenblick konnte wohl niemand widerstehen – warum nur war Kaj noch nicht pleite?

Doch als sie dann versuchte mir noch Kekse abzuschwatzen, war bei mir Schluss. „Wir haben genug“, sagte ich ihr bestimmt und lenkte den Wagen weg von den Regalen. „Komm, wir gehen jetzt zur Kasse, Mamá wartet sicher schon auf dich.“

Sie nickte ernst. „Ja, Mamá dürfen wir nicht warten lassen, sonst macht sie sich noch Sorgen.“

„Stimmt genau.“

„Ich geh schon mal vor und halt uns einen Platz in der Schlange frei.“ Und Schwupp war sie schon wieder verschwunden. Diesem Kind sollte man echt einen Peilsender verpassen. Nur gut, dass sich die Kasse bereits in meinem Blickfeld befand, so musste ich keinen auf Schumi machen, um ihr hinterherzukommen.

Wie sie es gesagt hatte, stand sie artig in der Schlange – eine Harpyie hatte sich noch hinter ihr eingereiht – und wartete auf mich. „Hast du den auch genug Geld dabei?“, fragte sie mich, als ich mich zu ihr gesellte und den bösen Blick der Vogelfrau hinter mir ignorierte. Während ich damit begann die Einkäufe auf den Tresen zu legen, tat ich so, als müsste ich über diese Frage ernsthaft nachdenken. „Ich glaube nicht, wir müssen wohl die Frühstücksflocken wieder weglegen und auch zwei Süßigkeiten.“

 „Wirklich?“ Ihre Augen nahmen einen enttäuschten Ausdruck an.

„Nein, ich mache nur Spaß.“ Ich strich ihr über den Kopf und legte unter den wachsamen Blicken des Kassierers alle Artikel vor ihm ab. Erst als ich den Wagen komplett leergeräumt hatte, begann er damit die Preise zusammenzurechnen und …

„Entschuldigen Sie bitte, aber sind sie nicht diese Hüterin, von der man so viel liest, oder?“

Mit einer Schachtel Frühstücksflocken in der Hand drehte ich mich zu der Harpyie um. „Wie kommen Sie darauf?“

Die Frau musterte mich von oben bis unten. „Natürlich sind Sie das. Ihr Bild findet man in jeder Zeitung.“

Tja, der zweifelhafte Ruhm eines Nobodys.

Sie hielt mir den Finger so plötzlich unter die Nase, dass ich mich gezwungen sah, hastig einen Schritt vor ihr zurückzuweichen und dabei noch fast in den Einkaufwagen fiel. „Wie können Sie nachts eigentlich gut schlafen? Schämen Sie sich gar nicht?“

Na super, so eine war das. „Ich wüsste nicht wofür ich mich schämen sollte, ich bin schließlich keine von denen, die versuchen eine ganze Spezies auszulöschen, nur weil mir ihre Nase nicht passt.“

Sie plusterte sich auf – nein wirklich, sie plusterte ihre Federn auf. „Das Sie es wagen so mit mir zu sprechen, Schämen sollten Sie sich. Diese Verbrecher haben eine unschuldige Harpyie getötet und Sie …“

„Wie wäre es, wenn Sie das jemanden erzählen, den das interessiert? Bei mir stoßen Sie damit nur auf taube Ohren.“

„Oh Sie … Sie …“

Ich wandte mich einfach ab und wollte nach der bereits abgerechneten Obsttüte greifen, um sie wieder in den Wagen zu legen, aber genau in dem Moment legte auch der Kassierer seine Hand darauf. Ich sprang weg, als hätte mich eine Biene gestochen. Verdammt, nicht schon wieder. Warum mussten Fremde einen eigentlich immer berühren?

Er beachtete diese Reaktion gar nicht. „Ich glaube Sie sollten Ihre Lebensmittel woanders kaufen.“

Bitte? „Warum?“

„Weil … jemand wie Sie in diesem Laden nicht erwünscht ist. Wir verkaufen nicht an solches Pack.“ Sein abwertender Blick fiel auf Raissa, die diese Szene mit großen Augen verfolgte. „Wir …“

„Das können sie vergessen.“ Na sag mal, bei dem hakts wohl. Ich griff mir die Obsttüte und all die anderen Sachen und ließ sie im Einkaufswagen verschwinden. Dann knallte ich ihm das Geld auf dem Tresen. „Den Rest können Sie meinetwegen behalten. Und keine Sorge, ich komme wieder. So einen vorzüglichen Service kann ich mir doch nicht entgehen lassen. Komm Raissa.“ Ich nahm die Hand von der Kleinen, hob mein Kinn in die Höhe und schob meinen Wagen zu den Einpacktischen.

Die ganze Zeit, während ich die Sachen in meinem Beutel verstaute, konnte ich die Blicke auf mir spüren und auch das Murmeln hören. Bleib ruhig, sagte ich mir. Das sind Idioten, die wissen es einfach nicht besser, ganz ruhig bleiben.

Eine kleine Hand zupfte an meinem champagnerfarbenen Lendenschurz. „Tante Tal, warum wollte der Mann uns die Sachen nicht verkaufen? War dein Geld abgelaufen?“

Geld abgelaufen? Das entlockte mir ein kleines Lächeln. „Nein, mit meinem Geld war alles in Ordnung.“ Ich strich der Kleinen mit der Hand über die Wange.

„Aber warum hat er dann die Sachen behalten wollen?“

Wie erklärte man einem Kind, dass die ganze Stadt wegen diesem blöden Verfahren langsam am Austicken war? Es war ja nicht das erste Mal, dass so etwas geschah. Raissa war seit über einer Woche nicht mehr in der Schule gewesen, weil ihr Direktor empfahl, sie nicht mehr hinzuschicken, bis die ganze Angelegenheit geklärt war. Selbst vom Spielplatz hatte Pal die Kleine einmal nach Hause bringen müssen, weil die Eltern der anderen Kinder sich über sie und Lykaner im allgemein abfällig mokiert hatten und bei Schulfreunden war sie schon lange nicht mehr eingeladen worden.

Das waren aber nur die Sachen, die der Kleinen passiert waren und die sie zum Glück nicht richtig realisiert hatte. Was Kaj, Pal und ich in den letzten Wochen schon alles durch hatten … naja, es war besser das vor einer Siebenjährigen zu verbergen. Zumindest so lange wie es ging.

„Tante Tal?“

Erst als sie mich erneut ansprach, merkte ich, dass ich sie seit Minuten einfach nur angesehen hatten und dass die Leute drüben an der Kasse schon misstrauisch zu uns herüber sahen. „Weil er Pudding im Hirn hat, darum“, sagte ich und räumte die letzten Sachen in den zweiten Beutel.

Raissa kicherte. „Pudding im Hirn.“

„Ja Pudding und jetzt komm.“ Ich nahm Raissa an die eine Hand und die Beutel in die andere und verließ dann mit erhobenem Kopf den Laden. Sollten diese Idioten doch an ihrem Tratsch und ihren Ansichten ersticken. Wen ich nicht mehr in diesen Laden kam, dann sicher nicht, weil man mich dort nicht haben wollte, sondern weil ich etwas Besseres fand.  

„Pal mag auch Frühstücksflocken“, sagte Raissa, als wir die Straße in Angriff nahmen. Der Laden war nicht einmal zehn Minuten von meiner Wohnung entfernt und da es gerade nur nieselte, konnten wir den Weg getrost zu Fuß zurücklegen. „Darum sind sie immer so schnell weg.“

„Tja, Pal ist halt ein Schleckermaul, genau wie du.“

Sie nickte. „Ich weiß und er spielt immer mit mir, deswegen darf er sie auch essen und am Abend mit mir kuscheln.“

„Das ist aber lieb von dir.“

„Das sagt Mamá auch immer.“

Mit einem wachsamen Blick auf die Straße, ging ich auf die andere Seite. Um die Zeit herrschte selten viel Verkehr.

„Ich glaub das Mamá Pal auch mag.“

„Ach wirklich?“

„Hmhm.“ Bei diesem Geräusch nickte sie heftig mit dem Kopf. „Sie kommt auch immer abends in mein Bett kuscheln und dann kuscheln wir zu dritt. Und dann liest sie mir noch eine Geschichte vor. Magst du mir auch eine Geschichte vorlesen? Dann darfst du auch in mein Bett kuscheln kommen.“

Auweia, Kinder kamen schon auf komische Ideen. „Ich glaube nicht, dass dein Bett groß genug für uns vier ist, dann müssten wir uns ja aufeinanderstapeln.“

Raissa spitzte die Lippen, als dachte sie angestrengt über dieses Problem nach. „Dann machen wir das in Mamás Bett. Sie hat ein ganz großes Bett, da passen wir alle rein und dann kann sie uns allen vorlesen.“

Na, ob Kaj darüber so begeistert sein würde? „Weißt du was, das ist eine gute Idee. Am besten fragst du zuhause aber erst deine Mamá, ob sie damit auch einverstanden ist.“

„Okay.“

Als wir zur nächsten Ecke kamen, wurden Stimmen laut. Im ersten Moment schenkte ich ihnen keine Beachtung, hörte sich wie sinnloses Rumgepöbel irgendwelche pubertierenden Idioten an. Doch dann fragte Raissa: „Warum ziehen sie ihr am Schwanz?“

Ich folgte ihrem Blick. An der Straße standen zwei junge Kerle und ein ziemlich aufgetakeltes Mädchen, die sich gerade damit amüsierten, eine Hyäne umzustoßen. Das Tier landete auf der Seite und gab ein unheimliches Hyänengeheul von sich – halb ächzend, halb lachend, durchsetzt mit einem heiseren Knurren, wie das knarren einer alten Tür. Mir stellten sich die Nackenhaare auf.

Die drei Teenys lachten.

„Na, was willst du jetzt machen?“, fragte der Minotaurus und trat nach der Hyäne, als sie versuchte wieder auf die Beine zu kommen. Sie wurde schmerzhaft in den Magen getroffen und landete erneut auf dem Boden.

„Scheiß Lykaner“, fügte der junge, fuchsfarbene Zentaur hinzu und versuchte die Hyäne mit den Hufen zu erwischen.

Das Mädchen, eine Serpens, lachte. „Glaubst wohl, dass du ungeschoren in unserer Stadt herumlaufen darfst? Aber das darfst du nicht.“

„Bitte“, schluchzte die Hyäne. Das Fell um ihre Augen war von ihren Tränen schon ganz nass. „Ich will doch nur …“ Sie jaulte auf, als der Zentaur ihr auf den Schwaz trat.

Ich stellte meine Beutel auf den Boden. „Raissa, du bleibst genau hier stehen.“ Diesen kleinen Idioten würde ich jetzt eine Lektion erteilen.

„Okay.“

Die beiden Jungs klatschten sich ab, hatten gar nicht gemerkt, dass ich mich ihnen näherte.

„Das wird ihr sicher eine Lehre sein“, kam es überheblich von der Serpens.

„Ich werde euch jetzt mal eine Lehre erteilen“, fauchte ich und gab dem Minotaurus eine Ohrfeige, die ihn wegtaumeln ließ. „Was glaubt ihr eigentlich was ihr hier tut? Seid ihr hirntod oder was?!“

„Hey, misch dich nicht ein“, kam es von dem Zentaur, nachdem er seine erste Überraschung überwunden hatte. „Das hier geht dich nichts an.“

Oh, diese kleinen Hosenscheißer, am liebsten würde ich ihnen das Gesicht zerkratzen. „Verschwindet hier, bevor ich noch etwas Unüberlegtes tue.“

„Ach ja?“ Die Serpens kam wieder einen Schritt näher. „Was willst du denn tun?“, fragte sie herausfordernd. Kar, sie sah sich in der Überzahl, aber ich hatte diesen drei Schwachmaten gegenüber einen Vorteil, ich besaß nämlich ein Hirn und wusste dieses auch zu benutzen.

„Wenn es sein muss, lege ich dich übers Knie.“ Ich ließ die drei nicht aus den Augen, als ich mich vorsichtshalber zwischen ihnen und der Hyäne schob.

„Warum interessiert dich das überhaupt?“, wollte der Minotaurus wissen und drückte seine Hand auf seine Wange. Die Ohrfeige musste gesessen haben.

„Was es mich interessiert? Bist du wirklich so saudumm, oder tust du nur so? Was ihr hier tut ist Körperverletzung!“

„Ist doch nur ´ne blöde Hyäne, wenn interessiert das schon?“, nörgelte die Serpens.

„Mich interessiert es und falls du nicht weißt wer ich bin, dann solltest du jetzt mal genau zuhören. Ich bin die Hüterin der Verlorenen Wölfe und habe sehr viel Einfluss bei den Lykanern …“ – okay, das war geschummelt, aber das musste ich ihnen ja nicht unter die Nase reiben – „… und wenn die von mir hören, was ihr getan habt, dann sind die in null Komma nix hier und lassen euch die gleiche Behandlung zukommen, wie ihr es mir der Hyäne getan habt.“ Um meiner Drohung noch Nachdruck zu verleihen, zog ich mein Vox aus meinem Lendenschurz.

„Hey, nun mal langsam“, kam es da ein bisschen panisch von dem Zentaur. „War doch alles nur Spaß, ehrlich.“

Spaß, aber natürlich, nur für wen stellte sich an dieser Stelle die Frage.

„Wir gehen jetzt einfach und vergessen die ganze Sache, okay?“ Er nickte mit seinem Kopf und die drei machten sich schleunigst auf und davon.

Ich sah ihnen noch nach, bis sie um die nächste Ecke verschwunden waren, dann erst hockte ich mich zu der Hyäne herunter, die leise vor sich hin weinte. „Verdammt, warum bist du allein in der Stadt unterwegs?“

„Ich wollte doch nur …“

„Nicht so wichtig.“ Ich strich ihr vorsichtig über den Kopf. „Bist du irgendwo verletzt? Brauchst du Hilfe?“

„Nein ich … danke.“ Sie schniefte und sah mich das erste Mal richtig an. „Du bist wirklich die Hüterin.“

„Natürlich bin ich das. Auch wenn ich mit meinem Einfluss ein wenig gemogelt habe. Soll ich dich zurück in dein Lager bringen?“

Sie schüttelte den Kopf und rappelte sich hoch. Dabei passte sie auf, dass sie das rechte Vorderbein nicht richtig belastete. „Ich komm schon klar.“

Irgendwie passte mir das gar nicht, aber Lykaner waren sture Kreaturen. Wenn sie nicht wollte, dann konnte ich nichts tun. „Na gut, aber pass auf und geh diesen drei Idioten aus dem Weg.“

Ihre Augen blitzen wütend auf. „Wenn ich nur beißen dürfte, dann hätten sie das nie getan.“

„Das Leben ist halt scheiße.“ An manchen Tagen mehr als an anderen.

Sie seufzte nur und wandte sich ab.

Ich sah der Hyäne hinterher, wie sie davonhumpelte. Zwei Vorfälle in einer halben Stunde, die Stadt drehte wirklich langsam durch. Jetzt wurden die Lykaner schon auf offener Straße angegriffen, obwohl sie noch Mortatia waren, was kam als nächstes? Eigentlich wollte ich das gar nicht so genau wissen.

Ich ging wieder zurück zu Raissa, die artig auf mich gewartet hatte und machte mich mit ihr auf den Weg nach Hause. Dabei versuchte ich ihre Fragen bezüglich dieses Vorfalls so gut, wie es ging, zu beantworten, wusste aber nicht recht, wie ich das anstellen sollte. Also erklärte ich ihr letztendlich, dass die drei Idioten seien, die es nicht besser wissen – natürlich mit anderen Worten.

Der restliche Weg zurück zu meiner Wohnung war zum Glück ereignislos und ich war heilfroh, als ich die Tür hinter mir verschloss und die Außenwelt wenigstens eine kurze Zeit damit aussperren konnte.

„Mamá, rate, was wir erlebt haben!“, rief Raissa und rannte ins Wohnzimmer. Sie kam bereits zurück, bevor ich mir überhaupt die Schuhe ausgezogen hatte. „Mamá ist nicht im Wohnzimmer.“

„Na dann guck doch mal in ihrem Schlafzimmer nach.“ Logische Schlussfolgerung. Wenn sie an dem einen Ort nicht zu finden war, musste sie sich an einem anderen aufhalten. Jup, ich war ein geborenes Genie.

Das tat sie dann auch. Problem dabei war nur, dass die Schlafzimmertür abgeschlossen war. „Mamá!“, rief Raissa erneut und hämmerte mit beiden Fäustchen gegen die Tür. „Wir sind wieder da!“

Von drinnen hörte ich unterdrücktes Fluchen. Das klang aber nicht nach einer Frau, sondern nach Pal. Auf meinem Gesicht breitete sich ein breites Grinsen aus, als Kaj mit zerzausten Haaren die Tür ausschloss und Raissa ihre dünnen Ärmchen um die Beine ihrer Mutter schlang.

„Hey, meine Süße, na wie war der Einkauf?“

„Ganz toll. Ich hab ganz viele Sachen bekommen …“

Ich spähte an Kaj vorbei ins Zimmer und tatsächlich. Da auf ihrem Bett lag Pal und grinste zurück. Und ich hatte mir schon Sorgen gemacht, dass die beiden kurz vorm Verhungern waren. Aber vielleicht waren sie auch deswegen übereinander hergefallen. Ein bisschen am anderen herumknabbern … oh nein, Kopfkino!

„… und das, obwohl der Mann Pudding im Kopf hatte. Und dann hat Tante Tal die Hyäne gerettet, aber warum war deine Tür abgeschlossen?“

„Äh … was?“ Etwas überfordert richtete Kaj ihren Blick auf mich.

„Sie wollte wissen, warum du deine Tür verschlossen hast“, half ich liebenswürdig weiter. Nein, das konnte ich mir nicht entgehen lassen, das war einfach zu köstlich.

Auf Kajs Wangen breitete sich ein leichter Rotschimmer aus. „Naja … äh … weil wir …“

Auch Raissa sah ein Kaj vorbei in das Zimmer und entdeckte Pal auf dem Bett. Egal was sie darin getrieben hatten – hüst – er war wenigstens angezogen.

„… äh … wir haben gespielt“, schloss Kaj.

Raissa machte große Augen. „Was habt ihr denn gespielt?“

„Betthüpfen“, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen und sah mit Genuss, wie Kajs Wangen feuerrot wurden. Sie warf mir einen echt finsteren Blick zu.

„Ich will auch Betthüpfen!“, rief die Kleine und stürmte an ihrer Mutter vorbei. Sie krabbelte ins Bett und begann darauf herumzuspringen. Pal musste seine Beine schnell in Sicherheit bringen und packte sie dann spielerisch, um sie abzukitzeln. Die Kleine kreischte vor Freude.

„Du findest es wohl echt witzig, mich so in Verlegenheit zu bringen, was?“, fauchte die Wölfin mich leise an.

Das ließ mein Grinsen nur noch breiter werden. „Allzu oft bekomme ich dazu ja keine Gelegenheit, also muss ich sie nutzen.“ Ich streifte meine Schuhe von den Füßen und stellte sie in das kleine Regal an der Wand. „Außerdem ist das meine Rache für die grünen Haare.“

„Das war Pal und nicht ich.“

„Ihr seid beide schuld.“ Schließlich waren sie es gewesen, die sich immer gegenseitig Streiche spielen mussten. Und ich musste nun auf Dauer darunter leiden.

Kaj lehnte sich augenverdrehend gegen den Türrahmen und beobachtete Raissa dabei, wie sie versuchte, auf Pals Rücken zu klettern. Er bockte dabei wie ein störrisches Pferd und warf sie immer wieder ab. Davon ließ die Kleine sich aber nicht entmutigend. Sie versuchte es einfach noch mal und freute sich einen Kullerkeks, wenn er sie wieder abwarf.

„Magst du ihn?“, fragte ich sie leise.

Sie sah kurz zu mir und dann wieder zum Bett. „Weißt du, nachdem mein Rudel mich damals verstoßen hat und ich auch von den anderen Lykanern gemieden wurde, glaubte ich nicht daran, dass ich je wieder einen von ihnen so nah an mich heranlassen könnte.“

Ich wartete einfach ab.

Sie richtete ihren Blick wieder auf mich. Dabei spielte ein kleines Lächeln um ihre Lippen. „Ja, ich mag ihn, sogar sehr.“

„Das freut mich zu hören, aber merke dir gut, wenn du ihm wehtust, dann bekommst du es mit mir zu tun.“ Das war schließlich immer noch mein Pal.

„Uhhh, ich zittere schon vor Angst.“

„Das solltest du auch.“ Ich schnappte mir die beiden Beutel vom Boden und machte mich auf dem Weg ins Wohnzimmer.

„Talita.“

Kajs ernste Stimme ließ mich noch einmal innehalten und zu ihr umdrehen. „Ja?“

„Was meinte Raissa damit, dass du eine Hyäne gerettet hast?“

Ganz einfach. „Das es für Lykaner nicht mehr sicher ist durch die Stadt zu laufen.“

 

°°°

 

Als ich gegen Mittag an unserem Treffpunkt am Schild ankam, war Veith bereits da. Ich schnappte mir seine Hand, um ihn durchs Schild zu ziehen und kaum dass wir zwischen den Bäumen verschwanden, drückte er mich mit dem Rücken gegen den nächsten Stamm und bedachte mich mit einem glühenden Blick.

„Holla, da freut sich wohl jemand mich zu sehen.“

„Ich habe den ganzen Tag darauf gewartet.“

Schmacht, welche Frau wollte solche Worte nicht hören, besonders wenn sie von einem Wolf wie Veith kamen, der immer alles so meinte, wie er es sagte? Mein Finger strich über seine Brust. „Bist du denn gut hier angekommen?“ Nach den Vorfällen am Vormittag war ich schon leicht in Sorge um ihn gewesen. Um zu mir zu kommen, schlich er immer ganz allein durch die Stadt. Ja, auch mich machte diese ganze Situation langsam verrückt.

„Natürlich.“

Ich schlang ihm die Arme um den Nacken. „Na dann küss mich endlich, denn darauf habe ich bereits den ganzen Tag gewartet.“

So wie sein Blick auf mir lag, war es ein Wunder, dass er damit wartete, bis ich ausgesprochen hatte. Aber dann lagen seine Lippen auf meinen und seine Hände gingen auf Wanderschaft. Wie konnte es nur sein, dass er damit jedes Mal meinen Puls noch schneller in die Höhe treiben konnte? Ich bekam von diesem Wolf einfach nicht genug. Und dann glitten seine Lippen auch noch an meine empfindliche Halsbeuge. Ich war das sprichwörtliche Häufchen Wachs in seinen Händen.

„Also, wenn du nicht gleich aufhörst, dann geht der Baum hinter mir in Flammen auf.“

Seine Hände faste meine Hüfte fester und dann verharrte er einfach. Hielt ganz still, während sein heißer Atem noch immer meine Haut liebkoste. Doch irgendwas stimmte plötzlich nicht mehr. Es war nicht nur so, dass er einfach still stand, nein, er war richtig angespannt, rührte sich keinen Millimeter mehr, während er versuchte langsam wieder zu atmen zu kommen.

„Veith?“

„Du hast Recht.“ Er löste sich von mir und schritt tiefer in den Wald hinein. Zwar hielt er dabei meine Hand fest, sah mir aber nicht in die Augen. Es war, als versuchte er vor etwas davon zu laufen.

„Veith? Was hast du?“

„Ich will nur Isla sehen.“

Isla? Wie kam er denn jetzt plötzlich auf seine Cousine? Irgendwas lief hier gerade völlig verkehrt. „Veith, warte, was … bleib doch mal stehen.“ Ich stemmte meine Beine in den Boden und zwang ihn damit auch stehen zu bleiben, aber er sah mich noch immer nicht an. „Veith, was ist los?“

Er drückte die Lippen nur fester aufeinander.

„Sieh mich an, bitte.“

Tat er nicht. Er blickte stur geradeaus.

Das machte mich nervös. Warum tat er das? „Ist … hab ich etwas falsch gemacht?“, fragte ich vorsichtig. Vielleicht hatte er meinen Spruch ja nicht so witzig gefunden wie ich, oder …

Er schüttelte den Kopf und ließ ihn hängen. „Nein, du hast nichts falsch gemacht.“

„Was ist es dann?“ Ich wartete und ein ungutes Gefühl machte sich in meinem Magen breit. Was war nur los, dass er sich so verhielt? „Veith, du machst mir langsam Angst.“

Endlich, endlich sah er mich an und in seinen Augen, die immer alles so gut verbergen konnten zeigte sich Furcht. Was war geschehen, vor dem mein großer, böser Wolf sich fürchtete? „Veith, was ist los?“

Er drückte nur die Lippen aufeinander.

Ich trat ein Schritt näher und schlang die Arme um seine Mitte. Diese Geste wurde von ihm sofort erwidert.

„Nur noch zwei Tage“, sagte er leise und vergrub sein Gesicht in meinem grünen Haar. „Die Zukunft ist ungewiss.“

Er hatte wirklich Angst, wurde mir klar. Mein großer, böser Wolf fürchtete um den Tag, an dem sich unsere Wege trennten. Er hatte Angst vor der Zukunft der Lykaner. Keiner wusste, wie der Hohe Rat sich entscheiden würde. Ja, langsam aber sicher drehten wirklich alle durch. Wenn selbst Veith, mein unerschütterlicher Veith es schon zeigte, dann waren wir alle echt am Arsch.

Ich vergrub mein Gesicht an seiner Brust und versuchte stark zu sein. Nun war er es mal, der Trost brauchte und ich würde ihn ihm geben, so oft und so lange wie er wollte. Für Veith konnte ich stark sein. Am liebsten hätte ich etwas gesagt, wie: „Es kommst schon wieder alles in Ordnung, du wirst schon sehen“, aber wir würden beide wissen, dass das nur eine Lüge war, denn selbst, wenn die Lykaner nicht aus dem Codex verbannt wurden, unsere Wege würden sich trennen und danach würde nichts mehr in Ordnung sein. „Lass und jetzt nicht darüber nachdenken“, sagte ich stattdessen und hob meinen Kopf, um seine Augen sehen zu können. „Lass uns einfach den Tag genießen. Zwei Tage haben wir noch.“

„Ja.“ Er strich mir eine Strähne aus dem Gesicht und schien sich dabei jede Kontur in meinem Gesicht einprägen zu wollen, so intensiv sah er mich an. „Zwei Tage haben wir noch.“

„Na dann komm.“ Als seine kleine Falte auf der Stirn auftauchte, musste ich lächeln. „Du wolltest doch Isla sehen.“ Ich drückte ihm noch einen Kuss auf die Lippen und zog ihn dann mit mir. „Am besten gucken wir erst mal an der Höhle nach, bei dem Regen halten sich die Wölfe meist dort auf.“

Natürlich wusste er das, er war schließlich schon oft genug hier gewesen, doch er ließ mich reden. Auf dem Weg zu den Höhlen erzählte ich ihm einen Haufen Blödsinn, einfach um ihn von den anderen Gedanken wegzubekommen. „… naja und dann ging die Tür auf und Kaj stand da mit völlig zerzausten Haaren. Raissa wollte natürlich wissen, warum die Tür zu war und hat …“

Mit dem Finger auf meinem Mund stoppte Veith meinen Redefluss und lauschte. Mein Herz stockte. Oh nein, bitte nicht. Immer wenn er das tat, geschah anschließend etwas Furchtbares. Er sollte das lassen!

„Hörst du das?“, fragte er mich.

Ich wollte nichts hören. Ich wollte nicht, dass jetzt irgendwas passierte, doch ich konnte gar nichts dagegen tun, dass ich die Ohren spitzte und auf die Geräusche des Waldes lauschte, die sich unter dem leichten Regen verbargen. Ich runzelte verwirrt die Stirn. „Ist das nicht …“

„Da weint ein Baby“, bestätigte Veith meine Vermutung.

Aber was hatte … „Junina“, ging mir ein Licht auf. Meine Stirn glättete sich in der Erkenntnis, als ich ihm das Gesicht zuwandte. „Junina muss ihr Baby bekommen haben. Komm.“

Wir heizten los. Mit jedem Schritt, dem wir der Höhle näher kamen, wurde das Weinen lauter, nur … warum weinte das Baby eigentlich? Ich hatte ein ganz komisches Gefühl bei dieser Sache, doch ich war nicht auf den Anblick gefasst gewesen, der sich mir bot, als wir die Höhle betraten.

In der einen Ecke saßen zwei nackte Frauen mit weißen Haaren, von der eine leise weinte. Die Ältere hielt die Jüngere in den Armen und schaukelte sie langsam hin und her, während sie tröstend auf sie einsprach. In der anderen Ecke saß Reu auf dem Boden. In seinen Armen schaukelte er ein frisch geborenes Baby und versuchte, es zu trösten. Die Zeichen der Geburt klebten noch an dem kleinen Würmchen.

„Was ist hier los?“, fragte ich. Auf diese Bild konnte ich mir keinen Reim machen.

Reu sah mich mit leicht gequälter Miene an. „Sie hat ihr Baby bekommen und sich während der Geburt zurückverwandelt.“

Ich sah auf die beiden Frauen in der Ecke und begegnete einem blauen Blick. Das war Saphir. Die ältere Frau war Saphir und die andere musste dem zu folge Junina sein.

„Aber sie will das Baby nicht“, führte Reu weiter aus. „Sie will es nicht einmal füttern und es hat Hunger.“

Mein Blick schnellte zu Reu zurück. „Was?“

„Sie will das Baby nicht.“

„Aber …“

„Sie will es nicht“, sagte Saphir bestimmt.

Ich wandte mich wieder den beiden Frauen zu. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein! Sie konnte das Baby doch nicht einfach so abschieben.

„Sieh mich nicht so an Talita. Junina hat keinen Bezug zu diesem Kind. Sie weiß nicht, das sie schwanger war, sie kennt Lokus nicht und sie ist noch aufgewühlt wegen dem, was geschehen ist.“

Das konnte ja sein und ich verstand das auch, aber trotzdem konnte sie das kleine Würmchen doch nicht einfach so abschieben. „Aber vielleicht, wenn sich die erste Aufregung gelegt hat …“

„Ich will es nicht!“, schrie Junina und vergrub das Gesicht in den Händen. „Ich will es nicht, ich will kein Baby, ich will es nicht, es ist nicht meins, ich habe kein Baby.“

Saphir drückte ihre Tochter fester an sich. „Keine Angst, alles wird gut. Ich bin bei dir.“

Alles wird gut? Was lief hier denn für ein Film ab? „Du kannst dein Kind doch nicht einfach so verstoßen. Es braucht dich doch, sonst stirbt es. Du kannst nicht …“

„Es ist nicht mein Kind!“, schrie sie mich an. Die Augen wirr, von Angst und Unverständnis gezeichnet. Sie hatte absolut keinen Plan, was hier vor sich ging.

Ich sah hilfesuchend zu Veith, der das alles mit gerunzelter Stirn verfolgte.

„Bring es weg“, sagte Saphir da zu mir.

„Was?“

„Du sollst es wegbringen.“ Sie richtete ihren blauen Blick auf mich. „Junina will das Baby nicht und ich auch nicht. Ich wollte nur meine Tochter wiederhaben.“

„Aber …“

„Kein Aber. Die Zeiten sind schwer und ab morgen wird sich alles verändern. Ich weiß, dass du noch darauf hoffst, dass der Hohe Rat die Lykaner im Codex belässt, doch das ist nicht mehr als Wunschdenken. Ab morgen wird für uns alles anders werden und da kann ich kein Baby gebrauchen. Ich brauch nur meine Tochter und die habe ich nun wieder.“

„Gebrauchen?“ Ich konnte kaum glauben, was sie da sagte. „Das ist doch kein Ding, über das wir hier sprechen, das ist ein Baby und das kann man nicht so einfach abschieben, nur weil es gerade nicht in die Lebensplanung passt.“

Saphir verengte leicht ihre Augen. „Was weißt du schon, du bist nicht mal ein Lykaner. Schon jetzt, wo wir noch im Codex stehen, ist das Leben für uns nicht einfach. Ohne den Schutz des Codex wird es für uns noch schwerer werden, da kann ich mich nicht auch noch um ein Baby kümmern.“

Wie konnte sie nur so gleichgültig sein? Sie war doch sonst nicht so.

„Also, bring es weg.“

„Ich kann doch nicht einfach …“

„Bring es weg. Ich will es nicht und Janina auch nicht.“

Das sagte sie so einfach. „Aber wohin soll ich es denn bringen?“

„Es laufen doch genug Lykaner in der Stadt herum“, erwiderte sie kalt. „Gib es ihnen, oder behalt es selber.“

Ich verstand es nicht, ich verstand es wirklich nicht. Seit wann war Saphir so eisig? Die Antwort konnte ich mir selber geben, sie hatte Angst. Genau wie Veith und jeder andere Lykaner in dieser verfluchten Stadt. Alle waren am Durchdrehen, aber jetzt musste ein unschuldiges Baby darunter leiden. Das ging einfach zu weit.

„Und lass uns bitte aus dem Schild.“

„Was?“ Hatte ich das richtig verstanden?

„Du sollst uns aus dem Schild lassen.“ Sie seufzte, als sei sie einfach nur müde vom Leben. „Versteh doch, es ist bald nicht mehr sicher in der Stadt. Ich kann nicht darauf hoffen, dass der Hohe Rat die richtige Entscheidung trifft und Junina geht es nun soweit gut, dass ich mit ihr gehen kann. Ich muss mein Kind in Sicherheit bringen und möchte nicht mehr hier sein, wenn das Urteil gesprochen wird. Es gab schon einmal einen Tötungsbefehl für die Verlorenen Wölfe und ich möchte nicht mehr hier sein, wenn dieses Verfahren beendet ist.“

Sie rechnete wirklich mit dem Schlimmsten, aber war das wirklich so falsch? Keiner von uns wusste, was der morgige Tag bringen würde. „Und das Baby?“, fragte ich hilflos.

„Es ist nicht mein Problem.“

 

°°°

 

Und genau so geschah es dann auch. Egal, was ich sagte, Saphir wollte nicht mit sich reden lassen. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ sie mit ihrer Tochter den Schild. Kein Blick mehr für mich, keinen für die Verlorenen Wölfe am Waldrand und keines für das kleine Mädchen in meinen Armen. Ich sollte die beiden nie wieder sehen.

Doch damit, dass sie weg waren, fingen meine Probleme erst an. Was sollte ich denn jetzt mit dem kleinen Würmchen anfangen? Zuerst einmal musste etwas Essbares besorgt werden. Der nächste Laden war ein ganzes Stück entfernt, aber es half alles nichts. Ich ließ die beiden Kerle mit dem Würmchen zurück und dachte nicht darüber nach, dass dies eigentlich meine und Veiths Zeit war, als ich zwischen Regalen hin und her lief und alles Wichtige kaufte, was die Verkäuferin für ein Baby empfahl. Ich hatte von so einem Zeug keine Ahnung, also musste ich mich beraten lassen. Fläschchen, Milchpulver, Windeln, Decke, Babypuder. Was da nicht alles seinen Weg in meinen Wagen fand. Dann musste ich das Zeug natürlich auch wieder zurück zum Gehege der Verlorenen Wölfe schaffen. Danach taten mir die Arme weh.

Die Kerle hatten sich wieder in die Höhle verzogen und saßen schweigend jeder in einer anderen Ecke. Als mein Blick auf die Stelle fiel, wo vor einer Stunde noch Junina und Saphir gesessen hatten, drückte ich vor Wut die Lippen aufeinander. Nach dem ersten Schock war ich so sauer auf diese Frauen. Wie hatten sie das nur tun können, ein unschuldiges Baby einfach so im Stich zu lassen? Ich verstand sie ja, sie hatten Angst, niemand wusste, was morgen geschehen würde, aber dieses Kind hatte damit nichts zu tun. Es hatte nicht gebeten auf die Welt zu kommen, es war einfach geschehen und nun das. Der Vater war tot und die Mutter wollte es nicht. Leben war manchmal wirklich das Letzte.

Wie die Milch zubereitet wurde, wusste Reu zum Glück. Es war wohl nicht das erste Mal, dass er so einen kleinen Knirps im Arm hielt. Die Milch wurde automatisch von der Flasche erwärmt, wenn sie in dem Gefäß geschüttelt wurde. Wieder irgendein magischer Trick, sehr praktisch, wenn gerade keine Heißwasserleitung in der Nähe war.

Ich setzte mich zu Veith, während Reu den kleinen Schluckspecht fütterte. Es hatte ein Zug am Leib, wow, so viel könnte ich sicher nicht bechern. Trotzdem wusste ich immer noch nicht, was ich mit der Kleinen – es war ein Mädchen, wie ich bei genauerer Betrachtung festgestellt hatte – machen sollte. Ein Baby war eine große Verantwortung und dieser fühlte ich mich absolut nicht gewachsen. Vielleicht sollte ich es Kaj geben? Kaj mochte Kinder, aber die hatte ja schon Raissa. Nicht, dass das ein Hindernis für sie wäre, eher eine Herausforderung. Sie würde es trotzdem machen, da war ich mir sicher, aber wie Saphir schon gesagt hatte, die Zukunft war ungewiss und niemand wusste, was der morgige Tag bringen würde. Wenn der Hohe Rat die Lykaner wirklich ausschließen sollte, wäre Kaj mit einem Kleinkind und einen Baby auf der Flucht. Dabei konnte so viel geschehen. Nein, entschied ich, das konnte ich nicht machen. Allerhöchstens als letzter Ausweg, aber dann würde ich es wahrscheinlich eher selber behalten.

„Bringe sie zu den Lykanern“, sagte Veith. Er hielt mich im Arm und zeichnete mit dem Finger kleine Muster auf meinen Rücken. So hatte er sich unseren vorletzten Tag wahrscheinlich auch nicht vorstellen.

„Du glaubst sie würden sie nehmen?“

„Es gibt viele Lykaner.“

War das ein Ja, oder einfach nur Hoffnung seinerseits?

„Es gibt Frauen, die keine Kinder haben und sich welche wünschen“, mischte Reu sich da ein. „Auch welche, die ihre Kinder verloren haben. Sie werden dir dieses Mädchen liebend gern abnehmen.“

Seine Worte ließen mich aufhorchen. Das war es. In meinem Kopf kristallisierte sich ein Plan. Ich hatte keine Ahnung, ob er gelingen würde, aber einen Versuch war es wert. Dazu allerdings müsste ich noch schnell Gaare aufsuchen, um mir sein Moob auszuleihen, denn mit Lykanern durch die ganze Stadt zu laufen, war nicht mehr sicher. Mein Blick richtete sich auf Reu. „Möchtest du auch zurück in dein Rudel?“

In seinen Augen glomm Hoffnung auf.

„Ich habe mich erkundigt, das Rudel aus der Mondlagune ist auch in der Stadt. Wenn du möchtest, kann ich dich zu ihren bringen.“

„Ja, das möchte ich.“

Dann musste ich Gaare jetzt nur noch dazu bekommen, mir sein Moob auszuleihen. Ich sah Veith an. Dieser Tag war für uns wohl verloren. Bis ich aus dem Lager der Lykaner zurück wäre, würde sicher schon der Mond am Himmel stehen. Für uns wäre da keine Zeit mehr, nicht heute.

„Tu, was du tun musst“, flüsterte er mir zu und gab mir einen Kuss auf den Scheitel.

 

°°°

 

Ich fuhr nicht schnell, denn auch, wenn die Straßen fast leer waren und Reu es sicher kaum erwarten konnte, nach dieser langen Zeit zu seinem Rudel zurückzukehren, bedeutete jede Minute, die ich früher an mein Ziel gelangte, eine Minute, die ich weniger mit Veith hatte. Und doch kam der Zeitpunkt, an dem wir uns trennen mussten.

Schweigend fuhr ich an den Straßenrand und ließ den Motor ersterben. „Von hier sind es noch zehn Minuten Fußweg zu den Lykanern“, sagte ich leise, ohne meinen großen, bösen Wolf anzusehen. Denn so gerne ich auch mit ihm zusammen zu den Lagern gefahren wäre, es war besser, wenn man uns nicht gemeinsam sah.

Er beugte sich zu mir rüber und streifte mit seiner Nase über meine Wange. Dabei hielt er die Augen geschlossen. „Wir können uns morgen noch sehen.“

Ja, nur noch morgen und dann war alles vorbei. Wegen dieser unvorhergesehenen Geschehnisse hatten wir einen ganzen Tag verloren und jetzt blieb uns kaum noch Zeit. Der Countdown lief unaufhaltsam seinem Ende entgegen und ich konnte nichts dagegen tun. Eine Träne löste sich aus meinem Auge und eine zweite.

„Nicht weinen“, sagte er sanft und zerrieb die salzige Flüssigkeit mit dem Daumen auf meiner Wange. „Morgen, nach dem Urteil, sehen wir uns.“

„Morgen“, sagte ich schwach, konnte es aber nicht verhindern, dass mir eine weitere Träne über die Wange lief.

Er küsste sie weg und sagte noch einmal „Morgen“, bevor er aus dem Moob stieg.

Ich konnte ihm nur tatenlos hinterher sehen, als er durch den Nieselregen ein Stück den Gehweg entlanglief und dann in eine Seitenstraße verschwand.

„Wer ist er eigentlich?“, fragte Reu vom Rücksitz.

Mist, den hatte ich ja völlig vergessen. Also nicht wirklich, aber irgendwie hatte ich seine Anwesenheit einfach ausgeblendet. Ich warf ihm einen schnellen Blick durch den Rückspiegel zu und wischte mir eine Träne aus dem Augenwinkel, bevor ich das Moob wieder startete und es zurück in den Verkehr lenkte. „Niemand.“

„Niemand?“

„Niemand, der dich etwas angeht“, spezifizierte ich.

Einen Moment schwieg er. „Er bedeutet dir sehr viel.“

Welch eine Erkenntnis. „Bitte, Reu, tu einfach so, als würde er nicht existieren, damit würdest du mir einen großen Gefallen tun. Du hast ihn einfach nie gesehen.“

Er zog die Stirn kraus. „Warum?“

„Weil ich dich darum bitte. Er … bitte, tu es einfach.“

Und wieder kehrte eine Zeitlang Ruhe ein, in der nur das sanfte Summen des Motors unter dem Regen zu hören war.

„In Ordnung, ich habe ihn nie gesehen.“

„Danke.“ Jetzt konnte ich nur noch auf sein Wort vertrauen und darauf hoffen, dass er auch gegenüber seinem Rudels Schweigen bewahren würde.

 

°°°

 

Je näher wir dem bunten Lager vor uns kamen, desto nervöser wurde Reu. Ich hatte ihm vorsichtshalber sogar schon das Baby zusätzlich zu dem schweren Beutel auf meinem Rücken abgenommen. Und dann sahen wir die ersten Lykaner zwischen den Zelten der Wölfe aus der Mondlagune herumlaufen. Reu neben mir erstarrte. Seine Augen waren groß wie Teller und ich glaubte darin sogar einen leichten Tränenschimmer zu erkennen.

„Reu?“, fragte ich vorsichtig. Ich war es von den anderen Verlorenen Wölfen immer gewohnt, dass sie kaum zu halten waren, wenn sie ihr Rudel vor der Nase hatten. Er dagegen blieb direkt vor der Lagergrenze der Wölfe aus der Mondlagune stehen. Dieses Verhalten irritierte mich. Aber vielleicht brauchte er auch nur einen Moment länger als die anderen.

„Urina“, flüsterte er.

Eine gut betuchte Frau, die gerade einem älteren Mann eins auf die Finger gab, weil er von dem Essen naschen wollte, dass sie gerade zubereitete, wirbelte mit dem Kopf herum, als hätte sie den gehauchten Namen gehört. Sofort erblickte sie Reu. Erst wurden ihre Augen groß, dann schlug sie die Hände vor den Mund und im nächsten Moment rief sie seinen Namen und sprang weinend auf die Beine, um ihn nur Sekunden später um den Hals zu fallen. „Reu, Reu, Reu …“, sagte sie dabei immer wieder.

Auch er schlang seine Arme um sie und jetzt liefen auch bei ihm die Tränen, während er ihren Namen flüsterte. „Urina.“

Auch die anderen Lykaner aus dem Rudel der Mondlagune waren auf die beiden aufmerksam geworden. Ein paar riefen: „Es ist Reu!“ Andere liefen einfach nur auf ihn zu und nahmen ihn in den Arm und wieder andere starrten einfach nur ungläubig, bis ihr Hirn diesen Anblick verkraftet hatte.

Das war es, war ein Rudel ausmachte, das war es, was ich die ganze Zeit auch hatte haben wollen: Zugehörigkeit.

Durch den Tränenschleier sah ich, wie sie das Messer nahm und damit einmal quer über meine Handfläche schnitt. Erschrocken riss ich meinen Arm zurück. „Aua, warum hast du das gemacht?“

Sie nahm meine blutige Hand und rückte sie auf die glatte Oberfläche des Spiegels. „Ich sehe nicht länger dabei zu, dass du Stück für Stück zerbrichst, darum schicke ich dich an einen Ort, an dem du vergessen kannst.“

Ich sah sie ungläubig an, verstand nicht was sie von mir wollte, da gab sie mir auch schon einen kräftigen Stoß, der mich in den Spiegel katapultierte …

Der Erinnerungsblitz verschwand so schnell, wie er gekommen war. Ich musste ein paar Mal blinzeln, um die hellen Flecken von meiner Netzhaut zu bekommen. Wo bitte kam das jetzt plötzlich her? Ich …

„Du bist doch diese Hüterin, oder?“

Ich richtete meinen Blick auf ein junges Mädchen mit braunem Haar, das vor mir stand und mich mit großen Augen ansah. „Äh … ja.“

Plötzlich schlang sie ihre Arme um mich und drückte mich ganz fest an sich. „Danke“, sagte sie, „danke dass du mir meinen Onkel wiedergebracht hast.“

Für einen Moment war ich völlig überrumpelt. Dann erst bemerkte ich, das Reu inmitten seines Rudels stand und ihnen berichtete, was mit ihm passiert war. Auch mein Name fiel ein paar Mal und nach und nach richteten sich die Blicke der Lykaner auf mich. „Ich wusste es nicht“, sagte ich sofort, da ich schon befürchtete, sie würden mich lynchen, weil ich ihnen Reu über ein Jahr hatte vorenthalten. „Ich dachte er wäre ein Einzelgänger, ich wusste nicht, das er zu euch gehört.“ Besser ich stellte das gleich klar, bevor noch irgendwelche Missverständnisse aufkamen. Bei Lykanern wusste man halt nie so recht.

Diese Frau, Urina, sie lächelte. Noch immer hielt sie Reu fest im Arm. „Das hat mein Bruder uns schon gesagt.“

Na dann war ja alles gut.

Der ältere Mann, der vorhin hatte das Essen stibitzen wollen, beugte sich ein wenig zu mir und schnüffelte an dem Baby in meinen Armen. Verunsichert machte ich einen Schritt von ihm weg. Das war dann doch etwas zu nahe, selbst für Lykaner.

Der Mann verzog fragend das Gesicht. „Das ist ein Wolf.“

Davon ging ich auch mal aus. Zwar hatte das Würmchen sich noch nicht verwandelt, aber da ihre Eltern Werwölfe waren, galt für sie sicher das Gleiche.

Nun richtete sich auch Urinas Blick auf das Baby. „Was machst du mit ihr?“

Sie wusste, dass es ein Mädchen war? Erstaunliche Nase. Ich hatte erst herausgefunden das sie ein Mädchen war, als ich ihr eine Windel umgewickelte. „Ihr Papá ist tot.“ Ich senkte den Blick auf die Kleine und strich mit den Fingern über die weiche Wange. „Und ihre Mamá will sie nicht.“

Mitleid trat in das Gesicht von Reus älterer Schwester. „Das arme Ding.“

„Und was hast du damit jetzt vor?“, fragte der ältere Mann misstrauisch.

Alle Augen richteten sich auf mich, als wollten sie mir drohen, nichts Falsches zu sagen. Nur der von Urina nicht. „Wir nehmen dir die Kleine ab.“

„Nein!“, sagte ich hastig und wich rasch einen Schritt zurück, als sie nach ihr greifen wollte.

Jetzt machte Urina das gleiche Gesicht wie die anderen. „Es ist ein Kind er Lykaner, du kannst es nicht behalten.“

„Das hatte ich auch nicht vor, aber … ich brauche sie noch.“

Sie kniff die Augen zusammen. „Wofür?“

Tja, wie erklärte ich das jetzt am besten? „Ich … da ist eine Frau, eine Lykanerin und, naja, sie hat ein paar Schicksalsschläge hinter sich. Sie hat ihre Tochter verloren.“ Wegen mir. „Und, naja, ich habe gehofft … sie braucht wieder etwas, für das es sich zu leben lohnt.“

„Wird sie das Kind auch nehmen und sich gut darum kümmern?“

Ich senkte den Blick auf das Bündeln in meinem Arm. Wie sollte man so etwas Süßes verstoßen können? „Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Natürlich hoffe ich, dass sie es nimmt und dann wird sie sich auch gut um sie kümmern, aber …“

„Schon gut, du brauchst nicht weiter zu sprechen. Versprich mir nur eines. Sollte diese Lykanerin das Kind nicht annehmen, bring es zu uns, wir werden uns gut um sie kümmern.“

„Das kann ich tun.“

„Gut, dann …“ Sie sah zu Reu nach oben, der darum bemüht war, seine Fassung wiederzuerlangen. Noch immer liefen ihm einzelne Tränen über die Wangen. „Wir würden jetzt gerne …“

„Verstehe schon, Wiedervereinigung und so weiter.“ Ich lächelte. „Ich wollte sowieso nicht lange stören und muss dann auch weiter.“

„In Ordnung, aber denk an dein Versprechen“, mahnte sie mich noch.

Wäre es nicht so toll, dass sie sich um das Kind bemühte, käme ich glatt auf den Gedanken, dass sie befürchtete, ich würde das Würmchen verspeisen, sobald ich außer Sichtweite war.

Ich nickte ihr noch einmal zu und verließ das Rudel von der Mondlagune dann auch schon wieder. Jetzt war es an der Zeit das Wolfsbaumrudel aufzusuchen und auf das Beste zu hoffen.

 

°°°

 

Mich mit Tasche und Baby durch die Plane am Eingang durchzumanövrieren, ohne dabei eins von beiden abzulegen, oder gar fallen zu lassen, war schwerer als in meiner Vorstellung. Ich musste mich mit dem Hintern zuerst reinschieben, da ich keine Hand frei hatte und die Plane einfach nicht von allein zur Seite weichen wollte – ich hatte es probiert, aber sie hatte meine Blicke schlicht ignoriert.

Bevor ich mich dazu entschloss, einfach in das Zelt zu marschieren, hatte ich einen Augenblick gezögert, weil ich mir nicht sicher war, ob ich immer noch willkommen war. Aber Tyge hatte gestern doch gesagt, dass ich jederzeit vorbeischauen dürfte. Okay, so hatte er es nicht gesagt, aber so gemeint. Hoffte ich zumindest.

„Talita!“, rief da von irgendwoher aus dem Inneren Kovu.

Ich drehte mich herum und sah den Kleinen bereits auf mich zustürmen, doch im letzten Moment bremste er vor mir ab, den Blick auf das Würmchen in meinen Armen gerichtet – zum Glück, denn Kovu hatte etwas von einem Bernhardiner, der einem in seiner Freude einfach mal über den Haufen rannte, um einem besser das Gesicht abzuschlabbern.

„Was ist das?“, wollte er wissen und zeigte auf ein dickes Beinchen, das etwas unkontrolliert herumstrampelte.

Zweifelnd sah ich ihn an. War das sein ernst? „Obwohl es auch andere Bezeichnungen dafür gibt, bezeichnet man es im allgemeinen als Baby, schon mal gehört?“ Blöde Fragen verlangten halt blöde Antworten.

„Ha ha“, machte er. „Aber als ich dich gestern gesehen habe, da hattest du noch kein Baby.“

„Das hab ich immer noch nicht.“ Ich sah in die Ecke mit dem Bau. Genau wie gestern lag Prisca dort in eine dicke Decke eingewickelt, mit dem Gesicht zur Zeltwand. Es machte den Eindruck, als hätte sie sich in den vielen Stunden kein Stück gerührt. „Ich würde gerne … darf ich zu ihr gehen?“ Mein Blick suchte im Zelt nach dem von Tyge und fand ihn zusammen mit ein paar der anderen Lykaner um das Lagerfeuer versammelt. Er war jetzt der Alpha, er traf die Entscheidungen, also musste ich auch ihn fragen. Zwar schien er etwas verwirrt über mein Auftauchen mit dem Baby, nickte jedoch.

Okay, dann mal ran an den Speck. Hoffentlich klappte das auch wirklich so, wie ich mir das vorgestellt hatte.

Ich ließ meinen Beutel an Ort und Stelle auf den Boden gleiten, seufzte erfreut, als ich mich des Gewichts entledigen durfte und ging unter den neugierigen und auch misstrauischen Blicken der Lykaner zum Bau hinüber. Nach kurzem Zögern kniete ich mich hinter Prisca hin. Jetzt war nur noch die Frage, wie ich anfangen sollte. Gleich mit der Tür ins Haus zu fallen kam mir töricht vor, aber lange herumzudrucksen würde auch nichts bringen.

Na dann sitz hier nicht so nutzlos rum und tu etwas!

„Prisca?“ Das war doch schon mal ein guter Anfang dafür, jemanden für die nächsten Jahre ein Baby aufzuschwatzen. Ich war so stolz auf mich. Leider war meine Annäherung nicht von Erfolg gekrönt. Sie ignorierte mich, oder vielleicht bemerkte sie meine Anwesenheit auch einfach nicht. „Ähm, Prisca? Ich würde dir gerne jemanden vorstellen.“ Wieder kam keine Reaktion. Mist, das hatte ich mir irgendwie einfacher vorgestellt.

Ich warf einen hilfesuchenden Blick zu den Lykanern im Zelt, doch von denen bekam ich nur milde Neugierde. Seufz.

Okay, dann eben anders. Ein guter Anfang wäre es doch schon mal mich nicht mit ihrem Rücken zu unterhalten. Also stand ich wieder auf, umrundete sie und kniete mich erneut hin – dieses Mal in ihrem Sichtfeld.

Das Würmchen in meinen Armen gab ein Wimmern von sich, beruhigte sich jedoch wieder – wahrscheinlich hatte ich nur ihren Schönheitsschlaf gestört. Das war der Moment, in dem Prisca aus ihrer Lethargie erwachte. Ihr Blick fokussierte sich auf das rosa Würmchen in meinem Arm, aber sonst tat sie nichts.

„Ich würde dir gerne jemanden vorstellen.“ Ich senkte die Arme ein wenig, damit sie einen besseren Blick auf das kleine Bündel hatte. „Ihr Papá ist tot, weißt du? Und ihre Mamá hat sie direkt nach der Geburt verstoßen und jetzt habe ich keine Ahnung, was ich mit ihr machen soll. Ich meine, sie ist noch so klein und unschuldig und braucht jemand, der sich um sie kümmern kann, aber ich weiß genau, dass ich das nicht hinkriegen kann. Ich weiß nicht, wie man sich um ein Baby kümmert.“

Das hat sich doch schon mal gar nicht so schlecht angehört. Ich machte eine kleine Pause, in der meine Worte auf sie wirken konnten. Prisca hatte sich zwar immer noch nicht bewegt, aber sie schien mir zuzuhören. Das war schon mal gut. Na dann, auf in die zweite Runde. „Irgendwie sind meine Arme von Halten langsam steif. Würdest du sie mir einen Moment abnehmen? Nur ganz kurz, damit ich meine Muskeln ein wenig lockern kann.“

Alle im Zelt hielten gespannt den Atem an, aber Prisca bewegte sich nicht. Ich wartete etwas, hoffte, aber sie blieb einfach liegen. Das war wohl ein Schuss in den Ofen …

Ihre Hand zuckte. Langsam schob sie die Decke von ihrem Körper und richtete sich in eine sitzende Position auf. Sie sah immer noch so schlimm wie bei unserer letzten Begegnung aus, wenn nicht sogar noch schlimmer. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen und ihre Wangen waren eingefallen. Das einst so schöne, schwarze  Haar stand stumpf und fettig von ihrem Kopf ab und auf ihren Rippen hätte man Klavier spielen können. Aber ich sagte nichts, als sie sich vorbeugte und mir das kleine Würmchen behutsam aus dem Arm nahm. Die Blicke der Lykaner wurden von mir genauso ignoriert.

„Danke“, sagte ich und schüttelte die Arme aus. „Ich trag sie schon die ganze Zeit. Man sollte nicht glauben, wie schwer so ein Baby mit der Zeit werden kann.“ Ich seufzte theatralisch. „Aber ich werde dann gleich auch weiter müssen, schließlich muss ich noch jemand finden, der die Kleine bei sich aufnimmt.“

Sie gab bei diesen Worten keine Reaktion von sich. Mist. Aber was hatte ich den gedacht, was passieren würde? Dass sie mich anknurren würde und sich weigerte, das Baby wieder rauszurücken und dann, dank dem Würmchen, eine Wunderheilung hinter sich brachte? Naja, irgendwie schon, musste ich mir eingestehen. Aber Pustekuchen. Sie saß einfach nur da, die Kleine in ihrem Arm und sah sie an.

„Na dann …“

„Wo ist ihre Mutter?“, fragte sie plötzlich.

Ich war davon so überrascht, dass ich einen Moment brauchte, um Worte zu finden. „Ich weiß nicht“, gestand ich. „Sie will die Kleine nicht, deswegen dachte ich … naja, sie braucht jemand, der sich um sie kümmert und da dachte ich …“ Ich ließ den Satz unvollendet, schließlich konnte ich ihr ja nicht sagen, dass ich ihr die Kleine gegeben hatte, damit sie einen Ersatz für Julica hatte, denn ihre Tochter war durch nichts zu ersetzten und es stimmte ja auch nicht so ganz. Vielmehr wollte ich, das Prisca wieder einen Grund zum Leben hatte und wieder zu sich selbst zu werden. Was könnte einen besser helfen, als so ein kleines Würmchen, das einem immer schön auf Trapp hielt?

„Wie heißt sie?“

Ich öffnete den Mund, nur um ihn gleich wieder zu verschließen. Das Würmchen hatte keinen Namen. Nicht mal dazu hatte Junina sich herabgelassen. Warum war mir das nicht früher aufgefallen? „Sie hat noch keinen Namen, den wirst du ihr geben müssen.

Ihr Blick sah einen Moment zu mir rüber. „Ich?“

„Ja, du. Damit …“ Ich verstummte, als mir klar wurde, dass ich mich gerade verraten hatte. Dumm, Talita, dumm. „Was ich meinte …“ Mist.

Prisca ignorierte mein Gestammel. „Ich möchte mich um sie kümmern.“

„Wirklich?“ All meine Hoffnungen lagen in diesem einen Wort.

Ein leichtes Lächeln erschien um ihre Lippen. „Amo-te“, sagte sie leise. „Ich nenne sie Amo-te.“

„Amo-te?“ Ich kostete diesen Klang auf der Zunge. „Das hört sich schön an, das passt.“

Sie lächelte auf die Kleine hinab und strich über das kleine Babyfäustchen. „Talita?“

„Hm?“

„Dir ist bewusst, dass ich bis vor zwei Tagen eine Alphawölfin war und mir durchaus bewusst ist, was du hier für ein Spielchen treibst?“

Erwischt, Mist. Leugne alles! „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“

Sie bedachte mich mit diesem Blick, der mich schon früher in Angst und Schrecken versetzt hatte und auch wenn diese Alphaaura nicht mehr vorhanden war … dieser Blick hatte es noch immer in sich. „Ich …“, begann ich, um mein Handeln zu rechtfertigen, verstummte aber sofort, als ich aus ihrem Mund ein leises „Danke“ hörte.

Einen Moment war ich versucht, ihr die Schulter zu tätscheln – sowas machte man in einem solchen Moment doch, oder? –, aber ich ließ es dann doch sein. Prisca war immerhin Prisca und die war mir schon immer lieber gewesen, wenn sie weit weg war. Keine Ahnung warum, aber die Frau hatte mir schon immer eine Heidenangst eingejagt und daran änderte sich jetzt auch nichts, nur weil sie kein Alpha mehr war.

„Talita, würdest du mal bitte herkommen?“

Ich sah zu Tyge, der mich zu sich winkte. „Klar.“ Noch ein letztes Streicheln über die Babywange – die war einfach so weich – und ich erhob mich, um mich vier Meter weiter neben ihm wieder niederzulassen. Kovu nutzte diese Gelegenheit sofort, um sich mir ein wenig aufzudrängen. Sein Kopf landete auf meinem Schoß und seine Hand platzierte meine auf seinem Haar. die Botschaft war deutlich: „Kraul mich.“ Es war schön, dass sich manche Sachen niemals änderten.

„Talita“, sagte Tyge und bekam das, was ich einen Alphablick nannte. Das hatte Prisca auch immer gemacht – gruselig. „Woher kommt das Baby?“

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie ein paar der anderen Lykaner sich vorsichtig Prisca näherten, um sich mit dem neuen Rudelmitglied bekannt zu machen. Prisca hatte dabei die ganze Zeit ein Lächeln auf den Lippen.  „Von einem meiner Verlorenen Wölfe. Ich weiß nicht, ob du es gehört hast, aber eine von ihnen …“

„Ja, Prisca hatte mir davon erzählt.“

„Naja, dann.“ Ich senkte den Blick auf Kovu, der genießerisch die Augen geschlossen hatte und es sich sichtlich gut gehen ließ. Der Kleine konnte wirklich aus jeder Situation etwas Gutes herausholen. So eine Gabe hätte ich auch gerne. „Junina hat das Baby heute Nacht auf die Welt gebracht, aber sie wollte es nicht, sie … wollte es nicht“, wiederholte ich schwach. Es machte mich immer noch sauer. Irgendwo verstand ich sie ja, aber trotzdem.

„Und wenn sie sich nun doch umentscheidet?“, wollte Tyge wissen. „Prisca wird das Kind nicht mehr hergeben.“

„Sie wird sich nicht umentscheiden.“ Da war ich mir hundertprozentig sicher.

Leise Stimmen kamen von der kleinen Ansammlung dort drüben zu uns. Fast alle aus dem Zelt hatten sich bei Prisca und der Kleinen versammelt.

„Wie kannst du dir da so sicher sein?“

„Ich habe ihren Blick gesehen“, sagte ich. „Außerdem ist sie weg.“

„Weg?“

„Ja weg.“ Es gab „Oh´s“ und Ah´s“ und leises Gelächter, als Amo-te nieste. Jemand ließ eine unterschwellige Bemerkung zu Priscas Körperhygiene raus – die konnte einen schon mal zum Nießen bringen. „Ihre Mamá hat sie bereits vor Stunden weggebracht. Sie dürften Sternheim in der Zwischenzeit verlassen haben. Sie wird nicht zurückkommen und ihr Baby einfordern, da bin ich mir sicher.“

„Und der Papá?“

„Tot, vergiftet. Amo-te hat niemanden mehr.“

Vom Bau kam ein lautes Lachen. Überrascht wandten Tyge und ich uns der Ecke zu, es war von Prisca erklungen. Sie stand von ihrem Platz auf. Diese Bewegung schien ihr nicht ganz einfach zu fallen. Tyge folgte ihr mit dem Blick, als sie langsam aber sicher das Zelt verließ.

„Sie geht sich nur waschen“, kam es da von Rem. Amo-te lag in ihren Armen und gab seltsame Gluckslaute von sich. War das normal? „Geh und mach ihr etwas zu Essen“, fügte sie an Fang gerichtet hinzu und stieß dann Pirna an. „Und du geh hinterher, ich will nicht, dass sie einfach umfällt.“

Bewegung kam unter die Lykaner. Tja, Tyge war vielleicht der Alpha des Rudels, aber Rem war die Heilerin und wenn es um die Gesundheit der Wölfe ging, hatte sie die Befehlsgewalt.

„Es ist also sicher, dass ihr die Kleine nicht mehr weggenommen wird?“, wollte Tyge sichergehen.

„So sicher wie ich hier gerade vor dir sitze. Sie will das Kind unter keinen Umständen, das hat sie sehr deutlich gemacht.“ Denn sie liebte dieses Baby nicht. In ihren Augen hatte ich nicht dieses Funkeln gesehen, das bei Prisca sofort erschien war – nur Panik. Endlose Angst und blanke Panik. Sie würde ihr Kind niemals lieben, nicht so wie Prisca es tun konnte. „Ich hoffe, dass das Würmchen ihr helfen kann.“

„Das wird die Zeit zeigen“, sagte Tyge. „Sie ist zumindest schon mal aufgestanden, das hat sie nicht mehr gemacht, seit ich sie vor zwei Tagen in dieses Zelt getragen habe.“

„Jetzt muss sie nur noch etwas essen, dann wird alles wieder gut“, fügte der Kleine hinzu und genoss es sichtlich, sich den Kopf kraulen zu lassen.

Na, das es so schnell ging, bezweifelte ich stark, aber der Kleine hatte schon recht, Amo-te hatte für den ersten Schritt gesorgt, den Prisca machen musste und mit der Unterstützung und der Zuwendung ihres Rudels, konnte sie wieder auf die Beine kommen. Und, dass sie die bekommen würde, zeigte sich, kaum dass die Wölfin das Zelt wieder betrat. Sofort war sie wieder von allen umringt. Sie wurde zurück zum Bau geführt und bekam die Kleine wieder in den Arm gedrückt. Dann wurde ihr von allen Seiten Essen zugeschoben. Ihre Rippen konnte man nach wie vor einzeln zählen und die Wangen waren immer noch eingefallen, aber in ihre Augen war wieder Leben eingekehrt, das mit jeder Minute, in der sie das Baby betrachtete, stärker wurde.

Mutterliebe, schoss es mir durch den Kopf. Nichts war stärker als diese Liebe. Ob ich so etwas auch jemals fühlen würde? Nicht wenn ich mit Veith zusammen bliebe, weil es zwei unterschiedlichen Rassen nicht möglich war, gemeinsame Kinder zu bekommen. Die Frauen aus solchen Paarungen konnten schwanger werden, nur leider verloren sie die Kinder meist gleich wieder. Sollte es trotz allem einmal zu einer normalen Geburt kommen, hatten diese Kinder nur eine Lebenserwartung von wenigen Tagen. Die unterschiedliche Magie der Eltern vertrug sich nicht und dieses kleine Wesen musste beide in sich beherbergen. Dazu war es einfach zu schwach. Wenn es älter war, konnte es dieses Ungleichgewicht vielleicht kompensieren, aber nicht, solange es noch so klein war. Es starb einfach.

Aber warum machte ich mir über solche Dinge eigentlich Gedanken? Veith wäre nach dem morgigen Tag für mich sowieso unerreichbar. Er würde Kinder haben, mit einer anderen Frau und ich würde allein zurückbleiben. Ich glaubte nicht, dass ich jemals wieder einen Mann so wie ihn lieben könnte. Nach dem morgigen Tag war alles vorbei. Er würde weg sein, für immer.

„Hey“, machte Kovu und strich besorgt über meine Wange. „Warum weinst du?“

Weil ich ihn morgen das letzte Mal sehe, wollte ich meinen Schmerz hinausschreien. Weil mir morgen das Herz gebrochen wird und weil mein Leben dann kein Sinn mehr hat! Er würde einfach gehen, weil er es seiner Mamá versprochen hatte. Wie konnte die Zeit mit ihm nur so schnell vergehen?

Kovu richtete sich auf. „Talita?“

„Ich … ich muss weg.“ Hastig rappelte ich mich auf die Füße. Tränen rollten dabei unablässig über meine Wangen. Ich hatte einen ganzen Tag mit ihm verloren. „Im Beutel ist Milch und Windeln und … ich muss jetzt gehen.“ Meine Stimme war fest, doch die Zeichen der Verzweiflung wollten sich einfach nicht verbergen lassen.

Ich rannte praktisch aus dem Zelt, ignorierte Kovus Ruf. Ich musste hier weg, bevor ich noch …

Eine starke Hand packte mich am Arm und riss mich zurück an eine harte Brust. „Talita, verdammt, was ist los?“, wollte Kovu wissen.

Hinter ihm standen Tyge und Domina. Sie waren mir nach draußen gefolgt.

Wie sollte ich das erklären. „Stress“, sagte ich kurzerhand und wischte mir mit dem freien Arm die Tränen aus dem Gesicht. Aber es kamen immer mehr. Es wollte einfach nicht aufhören. „Der Stress … ich brauche einfach nur …“

„Erzähl keinen Stuss“, unterbrach mich der Kleine. „Du warst zwar schon immer nahe am Wasser gebaut, aber du hast noch nie aus heiterem Himmel angefangen zu weinen und …“

„Was mein einfühlsamer Sohn sagen möchte“, – Tyge bedachte seinen Sohn mit einem halt-bloß-die-Klappe-Blick – „das du …“

„Nein, es ist nur der Stress.“ Ich machte mich von Kovu los und wich ein paar Schritte zurück. „Ich muss nur … lasst mich einfach.“

„Aber …“, begann der Kleine.

„Lasst mich!“, schrie ich sie an, obwohl sie mir ja nur helfen wollten. Aber im Moment verkraftete ich das nicht. Tyge sah seinem Sohn so ähnlich und auch in Kovu fand ich ihm in jedem Zug, obwohl die beiden so unterschiedlich aussahen. Das konnte ich jetzt nicht, ich brauchte Zeit für mich.

Auf dem Absatz machte ich kehrt und rannte einfach davon.

 

°°°°°

Tag 467

„Ich mach auf!“, schrie unser kleiner Wirbelwind bereits durch die ganze Wohnung, als die Türklingel noch nicht mal richtig verklungen war. Warum war die Kleine eigentlich immer so früh wach?

Mit schweren Lidern öffnete ich die Augen. Sie schienen aus Blei zu sein, so gewichtig waren sie und sie fühlten sich geschwollen an. Ich war gestern einfach nach Hause gefahren, hatte mich in mein Bett verkrochen, um mich dort still meinen Tränen hinzugegeben. Die ganze Nacht hatte ich kaum ein Auge zugemacht und mich immer nur unruhig von einer Seite auf die andere gewälzt. Jetzt fühlte ich mich völlig erschlagen und hatte keinerlei Ambitionen, mein Bett zu verlassen. Wahrscheinlich würde ich den Rest des Tages einfach hier liegen bleiben, wäre es nicht der Tag. Heute fiel die Entscheidung, die über das Leben tausender und abertausender entscheiden würde. Aber irgendwie kam mir das fast nichtig vor, denn heute war auch der Tag, an dem ich Veith verlieren würde.

Veith …

OH Gott, wie sollte ich das nur schaffen? Wie konnte ich ihn gehen lassen?

Ich hörte wie die Wohnungstür geöffnet wurde und dann das begeisterte Quietschen von Raissa. „Es ist Cree!“

Was? Hatte ich das richtig verstanden? Cree war noch in der Stadt? Ich hatte geglaubt, dass Cui ihn nach dem letzten Besuch bei mir postwendend zurück in ihr Revier geschickt hätte. So konnte man sich täuschen.

„Cree?“, hörte ich Kaj fragen. „Du bist es wirklich.“

Jup, ich hatte richtig gehört. Okay, vielleicht sollte ich ja doch aufstehen, es war immerhin schon fast sechs Uhr morgens und die erste Sonne wollte schon aufgehen. Seufz.

Zerschlagen schwang ich die Beine aus dem Bett und fiel dabei fast noch auf die Nase, weil sich meine Füße in dem Bettlaken verfingen. Na, das fing heute ja schon gut an und ließ auf mehr hoffen. Leise vor mich hin schimpfend durchquerte ich mein Zimmer und riss die Tür auf. Tatsächlich, da stand Cree und musste eine feste Umarmung von Kaj über sich ergehen lassen. Raissa hüpfte währenddessen um die zwei herum und rief immer wieder: „Es ist Cree, es ist Cree, es ist Cree!“ Ihre Begeisterung war wirklich kaum zu bändigen.

Kaj löste sich von ihrem Sohn, strich ihm übers Haar, über die Arme, über die Wange, als müsste sie sich vergewissern, dass er wirklich da war und der Kurze ließ das völlig ruhig über sich ergehen. „Was machst du denn hier?“

„Ich muss heute wieder zurück ins Revier und ich wollte dich vorher noch einmal sehen“, sagte er ganz direkt.

„Oh, Cree.“ Und wieder zog sie ihn in ihre Arme.

Ich hätte fast das Gleiche gesagt, nur in einem anderen Ton. Das war ein Problem, dass ich heute auch noch gebraucht hatte. „Ich werde dann mal bei Cui anrufen.“ Sie war sicher begeistert, wenn ich ihr berichtete, dass der Kurze wieder einmal bei uns aufgetaucht war.

Ich wollte gerade in mein Zimmer zurück, als Pal aus dem Bad kam. Dank Raissas lautstarker Verkündung wusste er bereits, was ihn hier draußen erwartete und nahm es mit einem Lächeln hin. „Hey Großer, nett das du mal vorbei schaust.“ Er ging zur Wohnungstür, um sie zu schließen – musste ja nicht jeder mitbekommen, was hier los war. „Ich werde dann mal Frühstück machen. Wer hilft mir?“

„Ich!“, schrie Raissa und war bereits vor Pal im Wohnzimmer. Eine Sekunde später stürmte sie zurück, packte Crees Hand und zog ihn aus der Umarmung seiner Mutter mit einem „Und du hilfst auch“ bestimmt ins Wohnzimmer.

Über so viel Alltag konnte ich nur den Kopf schütteln – ja Alltag, sowas und noch mehr passierte hier schließlich ständig.

Ich überließ die Vier sich selber und verschwand in meinem Zimmer. Dort nahm ich mein Vox von meiner Kommode. „Cui“, sprach ich ins schwarze Glas und ließ mich Rücklings auf mein Bett fallen. Genau einmal klingelte es, dann hörte ich am anderen Ende eine männliche Stimme. „Ja?“

War es eigentlich normal, dass da immer ein Mann ans Vox ging, wenn ich sie sprechen wollte? Vielleicht war das ja ihr Gefährte. „Hier ist Talita, ich wollte nur Bescheid sagen, dass Cree soeben bei mir aufgetaucht ist und ich …“

„Einen Moment.“

Im Hintergrund konnte ich einige Geräusche vernehmen. Deckenrascheln, ein verschlafenes Gähnen und leises Stimmengemurmel.

„Ja?“, hörte ich dann Cuis sehr verschlafene Stimme.

„Cree ist eben bei mir aufgetaucht“, sagte ich ohne Umschweife. „Da es ziemlich umständlich wäre, ihn ins Lager zu bringen, oder extra jemand herzuschicken, um ihn abzuholen, würde ich vorschlagen, dass ich ihn einfach nachher mit zum Ratsplatz bringe.“

„Talita?“

„Wer den sonst?“ Soweit ich wusste, war Kaj die einzige Adresse, die Cree außerhalb seines Rudels aufsuchte und die wohnte nun mal hier. Wer also sollte ich sonst sein?

Am anderen Ende der Leitung gab es ein sehr genervtes Stöhnen. „Cree ist bei dir?“

„Ja.“ Hatten die etwa noch gar nicht gemerkt, dass er verschwunden war?

„Ja, in Ordnung, bring ihn mit, damit ich ihm dann den Kopf abreißen kann.“

Ein „Sei nicht so streng zu ihm, er wollte doch nur noch einmal seine Mamá sehen“ konnte ich mir an dieser Stelle nicht verkneifen.

Sie grummelte nur etwas Unaussprechliches und legte dann auf.

Auch ich ließ mein Vox sinken und meine Gedanken kreisen. Cree war hier, weil er Kaj sehen wollte, bevor er zurück in sein Revier musste. Vielleicht aber fürchtete er sich genauso wie alle anderen vor dem Kommenden. Wer konnte jetzt schon sagen, was passieren würde. Wenn die Lykaner aus dem Codex ausgeschlossen würden, wäre das vielleicht die letzte Gelegenheit, seine Mamá zu sehen, denn bei einem Leben auf der Flucht würden nette Familientreffen wohl eher selten vorkommen. Sollte es wirklich zum Schlimmsten kommen, stand es sowieso in den Sternen, was noch geschehen würde.

Da mich diese Gedanken nicht weiterbrachten und da ich jetzt sowieso nicht mehr schlafen konnte – als wenn ich das vorher gekonnt hätte –, entschloss ich mich etwas Produktives zu tun und den Tag zu beginnen. Klamotten aus dem Schrank und ab in den Feuchtraum zu einer morgendlichen Dusche – und nein, die grüne Farbe in meinen Haaren ging immer noch nicht raus. Sie war nicht einmal ansatzweise verblasst. Seufz.

Mit noch feuchten Haaren tauchte ich dann im Wohnzimmer auf. Pal schob mir meinen Tee zu, kaum dass ich am Tresen Platz genommen hatte und begann dann damit, den Tisch zu decken, während Kaj mit den Kindern am Herd stand. Es war ein richtig idyllischer Familienmorgen. Hier war ich wohl nicht die Einzige, die versuchte, das Kommende zu verdrängen.

„Und?“, fragte Pal und verteilte die Teller auf dem Tresen. „Was hat Cui gesagt? Schickt sie wieder einen ihrer Wachhunde?“

Woher wusste er denn jetzt wieder, dass ich bei Cui angerufen hatte? Hm, wahrscheinlich hat Kaj ihm das gesagt. „Nein, wir beide nehmen Cree nachher mit zum Ratsgebäude und übergeben ihn da an sie.“

Der Kurze zuckte bei den Worten zusammen und warf mir einen vorsichtigen Blick zu. Ja, Cree, das wird sicher Ärger geben. Ich verkniff es mir, das laut auszusprechen.

„Mach dir keine Sorgen, Großer“, munterte Pal den Kurzen auf. „Du bist doch ein echter Kerl, du wirst das schon schaffen. Und beim nächsten Mal kannst du deiner Mamá dann deine Kriegernarben zeigen.“

„Narben?“, fragte er etwas ängstlich.

Ich konnte nur die Augen verdrehen. „Pal, du bist ein echtes Trampeltier.“

Kaj strich ihrem Sohn liebevoll über den Kopf. „Mach dir keine Sorgen, Cui wird schon nicht so streng sein.“

Und so ging es die nächste Stunde weiter. Erst am Herd, dann am Frühstückstisch und dann auf der Couch,. Es war phantastisch und irgendwie gelang es uns dabei etwas von unserer Anspannung zu verlieren. Aber dann wurde es Zeit zum Aufbruch. Kaj würde mit Raissa in der Wohnung bleiben. Eigentlich wäre die Wölfin ja gerne mitgekommen, aber die Kleine mitzunehmen, stand völlig außer Frage. Wer wusste schon so genau, was uns an unserem Ziel erwartete? Die Stadt war schließlich bereits seit einigen Tagen am Durchdrehen. Nein, es war sicherer, wenn sie hier blieb.

Also verließ ich mit Pal und Cree die Wohnung, doch mit dem was draußen auf uns wartete, hatte wohl keiner gerechnet.

 

°°°

 

Da ich Gaare seinen Wagen noch nicht zurückgebracht hatte, nutzte ich ihn gleich mal, um uns drei zum Ratsgebäude zu bringen. So zumindest war der Plan gewesen. Doch weit kamen wir nicht, denn in der Stadt war die Hölle los.

Der einfachste Weg wäre es gewesen, bis zur Hauptstraße zu fahren, die direkt an unser Ziel führte, doch das war nicht möglich, da sie komplett abgeriegelt war. Zu beiden Seiten hatte man Sperren errichtet und damit eine Art Gasse geschaffen, durch die die Lykaner aus den Lagern wie Vieh getrieben wurden. Ich musste aus dem Moob steigen und einen von den unzähligen Wächtern ansprechen – die auf beiden Seiten en masse zu finden waren – um zu erfahren, was hier eigentlich los war.

„Anordnung des Wesensmeisters“, war die Antwort des jungen Incubus. Die Straße war auf Anwars Befehl hin abgeriegelt worden. Die Lykaner durften sich heute nur darauf bewegen, um die Sicherheit der anderen Bewohner nicht zu gefährden. Bis hinaus aus der Stadt waren diese Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden. Ich vermutete ja eher, dass Anwar die Lykaner mit dieser Handlung einfach nur erniedrigen wollte. 

„Keine Chance durchzukommen“, sagte ich zu Pal, als ich mich wieder zu ihm ins Moob setzte. „Wir müssen laufen.“ Ich warf einen Blick zu Cree nach hinten. Pal würde eventuell noch als Therianer durchgehen. Er hatte sich dem Style der Stadt angepasst und trug, wie ich, sogar Schuhe und Klamotten aus Läden. Die waren vom Stoff und der Verarbeitung her völlig anders, als das, was die Lykaner sonst am Leibe trugen. Aber Cree? Keine Chance. Der war durch und durch Lykaner. „Und zwar durch diese Viehgasse.“

Pal drückte die Lippen aufeinander. „Das kann nichts Gutes bedeuten. Bei dem Aufgebot an Wächtern und dieser Sicherheitsvorkehrung …“

„Es ist Anwars Werk und der weiß sicher nicht mehr als ich.“ Das hoffte ich zumindest. „Anwar will einfach nur mal wieder demonstrieren, wie überlegen er den Lykanern ist.“

Der Zweifel blieb bei Pal.

„Noch ist nichts entschieden“, versuchte ich ihn aufzumuntern. „Du wirst schon sehen, der Hohe Rat fällt die richtige Entscheidung und dann kann Anwar sich seine Absperrungen dorthin schieben, wo niemals die Sonne hin scheint.“

Pal schnaubte belustigt. „Ich hoffe du behältst Recht.“

Das hoffte ich auch.

 

°°°

 

„Kannst du sie sehen?“ Blöde Frage, schalt ich mich selber. Cree reichte mir gerademal bis an die Schulter, wie sollte er über diese Masse hinweg etwas erkennen, wenn ich das nicht mal tat. Selbst wenn er sich auf die Zehenspitzen stellen würde, könnte er nur bis zu seinem Vordermann gucken. Das war hier aber auch ein Gedränge. Es hatte den Anschein, als wären alle Lykaner über achtzehn hier auf dem Ratsplatz erschienen, die sich in und um die Stadt aufhielten. Andere Wesen dagegen sah man kaum – außer den allgegenwärtigen Wächtern. Warum guckten die alle nur so grimmig? Die schienen sich auf einen Übergriff der Lykaner vorbereitet zu haben, als rechneten sie mit dem Schlimmsten. Und da sollte noch mal jemand behaupten, ich sei paranoid.

„Ich glaube, da sind sie“, sagte Pal und zeigte über die Menge hinweg auf eine Stelle in der Nähe des riesigen Flimmerglas, das hier draußen wieder aufgebaut worden war. Er hatte es gut, der war so groß, dass es ein leichtes für ihn war, über die anderen hinweg zugucken.

„Na dann lasst uns gehen“, sagte ich und griff Crees Hand, damit er mir in dem Gedränge nicht verloren gehen konnte.

Schon seit wir innerhalb der Absperrung gewesen waren, fühlte ich mich nicht besonders gut. Überall waren Fremde, zu viel und zu nahe. Pal hatte versucht mich ein wenig vor ihnen abzuschirmen, aber bei der Menge war es ein aussichtsloses Unterfangen. Mehr als einmal war ich bei den Berührungen Fremder weggezuckt, doch nun folgte ich unbeirrt meinen Weg. Nicht, weil ich Cree unbedingt loswerden wollte, sondern weil Cree in Veiths Rudel gehörte. Die Chancen standen nicht schlecht, dass ich an meinem Ziel auf ihn treffen würde. Zwar würde ich mich von ihm fernhalten müssen – wenigstens bis nach der Entscheidung des Hohen Rats – aber ich würde ihn wenigstens schon einmal sehen können.

Im Slalomlauf ging es durch die Massen. Von oben rieselte leichter Regen auf uns nieder, doch das schien heute niemanden zu interessieren. Vor uns tauchte das gesuchte Rudel auf. Sie hatten ziemlich weit vorn an dem Flimmerglas einen Platz gefunden. Cui war da und Waran und noch einige andere, die ich vom Sehen her kannte, aber meine Augen suchten nur die von Veith. Er war auch der erste, der mich bemerkte und Cui darauf aufmerksam machte, dass ich mich mit Cree an der Seite auf sie zubewegte. Danach ließen seine Augen mich nicht mehr los, aber da uns die anderen aus dem Rudel auch genau unter die Lupe nahmen, fiel das nicht sonderlich auf.

Was er wohl dachte? Wie er sich fühlte? Verdammt, daran sollte ich jetzt nicht denken. Später hatte ich dafür Zeit, jetzt gab es Wichtigeres für mich zu erledigen.

Mit jedem Schritt, den wir der kleinen Gruppe näher kamen, wurde Cree langsamer. Zum Schluss musste ich ihn fast hinter mir herzerren, um an mein Ziel zu gelangen. Da hatte wohl jemand mächtig Bammel. Um ehrlich zu sein, hätte ich mich sicher auch so gesträubt, wenn Cui mich so angesehen hätte. Als wir dann vor ihr standen, neigte Cree den Kopf so tief, dass sein Nacken frei lag – eine sehr unterwürfige Pose, von der er wohl hoffte, dass sie ihm den Arsch rettete.

„Es tut mir leid, dass ich einfach abgehauen bin, ich weiß, dass es falsch war“, sagte er, bevor Cui überhaupt die Gelegenheit bekam, den Mund aufzumachen.

So ist´s richtig, Kurzer. Immer schön reumütig zeigen, dann frisst sie dich vielleicht erst später, wenn es keine Zeugen gibt.

„Und warum hast du es dann getan, wenn du wusstest, dass es falsch ist? Du wusstest doch sicher, dass es Ärger geben würde“, wollte sie wissen.

Er bis sich kurz auf die Lippen. „Wir gehen heute zurück ins Revier“, gab er dann kleinlaut von sich und warf einen nervösen Blick zu seinem Großpapá. „Ich wollte Mamá vorher noch einmal sehen.“

Waran schnaubte. „Wie oft muss ich dir noch sagen, das diese Frau …“

Mit erhobener Hand brachte Cui ihm zum Schweigen. „Ich verstehe deine Beweggründe, aber du hast dich unerlaubt vom Rudel entfernt und dich damit in Gefahr gebracht. Es ist gefährlich, allein unterwegs zu sein, besonders im Moment.“

Er nickte. „Ich weiß.“

Cui seufzte. „Nun gut, dann geh jetzt mit deinem Großpapá, wir werden uns später noch einmal genauer darüber unterhalten.“

Vorsichtig riskierte er einen Blick auf seinen Rudelalpha. „Werde ich bestraft?“

„Das weiß ich jetzt noch nicht.“ Sie strich ihm sanft über den Kopf. „Und jetzt geh. Heute sollten keine Kinder hier sein.“

Ob er verstand, oder nicht, er verschwand mit seinem Opa in der Menge, die heute seltsam leise war im Vergleich zu den vergangenen Tagen. Es würde nur ein wenig geflüstert. Eine unheimliche Stimmung lag in der Luft und die Anspannung schien mit jeder Minute weiter zu steigen.

„Du weißt, dass das deine Schuld ist?“, fragte Cui.

Ich brauchte einen Moment, um zu kapieren, dass sie mich meinte – was wohl hauptsächlich von den Blicken ausging, die ich bekam. „Ähm …“ Warum guckten die mich plötzlich alle so an?

Cui verschränkte die Arme vor der Brust. „Durch dich weiß er, dass seine Mamá noch am Leben ist.“

Ach darum ging es. Das mit den Armen vor der Brust konnte ich auch. „Ich werde mich dafür sicher nicht entschuldigen.“

Das ließ Cuis Mundwinkel zucken. „Nichts anderes habe ich erwartet, ich wollte es nur noch mal festhalten. Für den Fall, das Cree so etwas noch einmal tut, denke immer daran, passiert ihm dabei etwas, dann ist es deine Schuld.“

Ich öffnete den Mund, nur um ihn gleich wieder zu schließen. Was sollte das?

Neben mir knurrte Pal. „Sollte ihm dabei etwas passieren, dann nur, weil ihr ihn von seiner Mamá fernhaltet und er keinen anderen Weg weiß, als sich zu ihr zu schleichen, um sie zu sehen. Würdet ihr es ihm nämlich gestatten und ihn begleiten, dann läge die Verantwortung nämlich bei euch. Ihr solltet euch lieber an die eigenen Nasen fassen, als die Schuld bei anderen zu suchen.“

Wow, das war … ich starrte ihn mit offenem Mund an. Ich glaubte nicht, dass ich Pal schon mal so mit einem Alpha habe reden hören. Obwohl, doch, bei Prisca hat er es auch getan, einmal.

Cui zog nur eine Augenbraue nach oben. „Du scheinst mehr Rückgrat zu besitzen, als es auf den ersten Anschein vermuten lässt.“

Er schwieg, durchbohrte sie nur weiter mit Blicken, was sie zum Lachen brachte.

O-kay, ich war mir sicher, dass ich irgendwas nicht mitbekommen hatte, doch bevor ich danach fragen konnte, machte die blonde Wölfin neben Cui sie auf einen Punkt am Ratsgebäude aufmerksam, der ihren Gesichtsausdruck sofort verhärten ließ.

Da ich von Natur aus ein wenig neugierig war – nur ein ganz kleines bisschen – schob ich mich ein wenig zur Seite, um den Blicken dabei folgen zu können. Dass ich dabei in Veiths Nähe kam und ihn sogar kurz an der Hand streifte, war nur ein Zufall – wenn auch ein schöner. Doch in diesem Gefühl konnte ich nicht schwelgen, denn nun erkannte ich, was die Werwölfe hatte aufmerksam werden lassen. Anwar.

Wie der König der Welt stolzierte er die breite Treppe zum Portal des Ratsgebäudes hinauf, die Selbstsicherheit in Person. Das konnte aber auch an den sechs Wächtern liegen, die wohl seine Aufpasser spielen sollten, damit kein Wölfchen auf die Idee kam, ihm am Allerwertesten zu knabbern. Er wirkte viel zu gut gelaunt für diesen Tag. Ob er schon etwas Konkretes wusste? Oder war er sich seiner Sache einfach nur sicher? Egal was es war, ihn bei so guter Laune zu sehen, konnte nichts Gutes bedeuten und ließ  mich doch langsam zweifeln.

Kurz darauf war er im Gebäude verschwunden und wie ich jetzt bemerkte, waren die Höhlenwölfe nicht die einzigen, die dem Portal finstere Blicke sandten. Fast alle Lykaner starrten dem Magier hinterher, als wünschten sie ihm die Pest an den Hals. Ich konnte es ihnen nachfühlen.

Dieses Theater spielten noch einige andere Parlamentäre ab, aber vom Hohen Rat sah ich niemand. Auch wurde niemand anders, als die Mitglieder des Konsortiums eingelassen. Wächter die am Portal postiert waren, ließen niemand anderen ein.

Erst in der Zeit des Wartens fiel mir auf, dass sich heute, außer den Lykanern, nur wenige andere Wesen auf dem Ratsplatz aufhielten. Natürlich die Journalisten, die durften schließlich niemals fehlen. Ein paar Protestanten und nur wenige mutige Anwohner aus Sternheim. Ansonsten waren nur Lykaner an diesem Ort. Und ich, aber mich zählte man ja eh schon zu den Hundewandlern – so mehr oder weniger jedenfalls.

Die Zeit des Wartens war lang und wurde nur einen Augenblick unterbrochen, als das Flimmerglas zum Leben erwachte und darauf Obsessantias Abbild erschien. Sofort trat auf dem ganzen Platz eine Grabesstille ein – unheimlich.

„Lykaner, hört mir zu.“ Unter dem ruhigen Blick von Obsessantia stieg die Anspannung unter den Lykanern deutlich. Kannte sie die Entscheidung des Hohen Rats bereits? Sie ließ sich nichts anmerken. „Die Alphas werden ohne Ausnahme aufgefordert, das Ratsgebäude zu betreten und Plätze im Auditorium einzunehmen. Keinem anderen Lykaner ist der Zutritt gestattet.“

Die Wandler wurden ein wenig unruhig. Flüsternde Sätze wie: „Was soll das?“ und „… ein Hinterhalt …“, oder „das können wir nicht machen“, fielen.

Ich sah hinauf zum Flimmerglas, aber Obsessantias Antlitz war bereits verschwunden. Nur noch die schwarze, matte Scheibe sah auf uns herunter.

„Das gefällt mir nicht“, sagte der dunkelhäutige Typ, den ich inzwischen als Cuis Gefährten ausmachen konnte. Doch seinen Namen wusste ich immer noch nicht.

„Obsessantia wird wissen, was sie tut“, erwiderte Cui schlicht. „Pass auf meine Wölfe auf“, sagte sie noch zu ihm und machte sich auf dem Weg zum Ratsgebäude, wie viele andere auch.

Es war nur ein kleiner Teil, der sich aus der großen Menge löste und auf das Portal zuströmte, doch diese wenigen Lykaner waren von einer geballten Macht umgeben, die alle zurückweichen ließ. Es wurde wieder still auf dem Platz. Keiner wandte den Blick ab, bis auch der letzte Alpha im Gebäude verschwunden war und die Wächter wieder Stellung davor bezogen, doch die Spannung in der Luft stieg stetig an. Dann hieß es für uns wieder warten.

Was hatte es nur zu bedeuten, dass heute so ein Aufgebot an Wächtern diesen Platz bewachten, oder dass nur die Alphas in das Gebäude gelassen wurden? Ich hatte ein ganz ungutes Gefühl, das sich einfach nicht abschütteln ließ und mit jeder Minute die verstrich, wurde ich unruhiger. Den einzigen Trost den ich hatte, war, dass es den anderen scheinbar nicht anders ging.

Nur zu gerne hätte ich Veiths Hand genommen, aber außer mein Gewicht ein wenig zu verlagern und ihn wie zufällig zu streifen, war nicht drin, dazu war hier einfach zu viel los.

Fast eine Stunde stand ich seit meiner Ankunft hier bereits auf dem Platz, als das Flimmerglas ein weiteres Mal auflebte. Uns wurde der Innenraum des Auditoriums gezeigt. Die Zuschauerreihen waren nur von den knapp dreihundert Alphas belegt, was den Raum ziemlich leer wirken ließ. Die Reihen der Parlamentäre dagegen waren wie immer bis auf dem letzten Platz belegt und einige wenige Journalisten waren auch zugelassen worden. Die Welt musste schließlich erfahren, was heute dort passierte. Doch wer noch nicht da war, war der Hohe Rat. Die Plätze auf der Tribüne waren leer und wirkten wie ausgestorben. War das ein gutes, oder ein schlechtes Zeichen? Ich wusste es nicht zu sagen.

„Hör auf damit, bevor du dir die Lippe blutig beißt“, mahnte Pal mich und strich mit dem Finger über meinen Mund. Ich hatte mir auf die Lippe gebissen? Wie hatte mir das entgehen können?

Natürlich hatte Veith diese Geste wahrgenommen, ich sah es an seinen plötzlich geballten Fäusten, aber jetzt auf Abstand zu dem großen Roten zu gehen, war nicht drin. Wie hätte ich das erklären sollen? Außerdem  war ich es normalerweise, die es ertragen musste, wenn ihr Freund von irgendwelchen liebeshungrigen Weibern angegraben wurde, nun musste er halt mal dadurch. Nicht das ich dachte, es geschehe ihm recht, es war halt einfach so.

„Der Hohe Rat erscheint“, sagte irgendwer hinter mir.

Sofort richtete sich meine geballte Aufmerksamkeit wieder auf das Flimmerglas und ich konnte verfolgen, wie sich nach und nach die Reihen der Front mit den Wesen in den gelben Roben füllten. Dabei war nur das Rascheln des Stoffes zu hören. Genau wie hier draußen, herrschte auch dort drinnen eine Stille, die zum Fürchten war.

Als sich auch das letzte Wesen aus dem Hohen Rat gesetzt hatte, schweifte die Augen desjenigen, der uns ein Einblick ins Innerste gewährte, durch den Saal. Für einen Moment blieben sie an Anwar hängen, der nun nicht mehr ganz so sicher wirkte, wie vorher, als er das Gebäude betreten hatte. Die Anspannung und Nervosität stand ihm ins Gesicht geschrieben. Hatte er etwas erfahren? Ein Lichtfunke der Hoffnung keimte in mir auf. Vielleicht war ja doch noch nicht alles verloren.

Die Sicht glitt weiter, verharrte hin und wieder auf einzelnen Mitgliedern des Konsortiums – darunter auch Dandil, der sich durch nichts anmerken ließ, wie der Hohe Rat entschieden hatte – und blieb schlussendlich an der großen Tür hängen, die sich nur Augenblicke später öffnete. Obsessantia trat in ihrer zierlichen Gestalt in den Saal. Zum ersten Mal seit ich sie kannte, trug sie keine gelbe Robe, sondern nur die Kleidung eines Lykaners. War das ein gutes, oder ein schlechtes Zeichen? Verdammt, warum mussten die das so spannend machen?

Ganz ruhig, noch ist alles offen.

Souverän durchschritt sie das Auditorium. Es war ihr nicht anzusehen, was in ihrem Kopf vor sich ging. Sie betrat das Podest und postierte sich in der Mitte. Als sie den Hohen Rat noch einen letzten Blick zuwarf, bevor sie sich an die Alphas wandte, wirkte sie angespannt, ja fast feindlich.

Oh nein, bitte nicht.

„Der Hohe Rat der Mortatia hat eine Entscheidung getroffen. Die Lykaner wurden aus dem Codex ausgeschlossen, in ihren Augen sind wir keine Mortatia“, sagte sie ohne Umschweife.

Diese Worte waren wie ein Schock. Mir blieb fast das Herz stehen. Nein, das konnte nicht sein, das durfte nicht sein!

Um mich herum wurde es unruhig. Einige verwandelten sich und bleckten die Zähne, andere knurrten und wieder andere stießen wüste Beschimpfungen gegen den Hohen Rat aus. Und ich? Ich stand inmitten hunderter, wütender Lykaner und konnte einfach nicht glauben, was Obsessantia uns soeben mitgeteilt hatte. Nein, ich konnte es einfach nicht glauben, das durfte nicht wahr sein.

Am Rande nur bekam ich mit, wie die Wächter sich bereit machten, um notfalls eingreifen zu können, sollte es von Seiten der Lykaner zu Ausschreitungen kommen, doch die waren alle auf den Bildschirm vor sich konzentriert, als wollten sie ihn gleich fressen.

Im Auditorium war die Stimmung nicht besser. Die Alphas knurrten wütetend gegen den Hohen Rat. Sie verlangten lautstark, dass es eine weitere Anhörung geben musste und dass sie …

„Hört zu!“, rief  Obsessantia mit lauter Stimme, die keinen Widerspruch zuließ. Sie wartete einen Augenblick, bis es wieder halbwegs ruhig war. „Die Lykaner wurden als Rasse im Ganzen aus dem Codex wegen unmotatiaischen Ansichten und Handlungen ausgeschlossen und verlieren damit jegliches Recht vor dem Gesetz. Ab sofort gelten wir als niederes, instinktgeleitetes Wesen, annähernd mortaischer Intelligenz und wurden damit in den Stand eines Tieres versetzt. Wir müssen die Stadt sofort verlassen. Bis morgen um diese Zeit darf sich kein Lykaner mehr in Sternheim und seiner Umgebung befinden. Wird dennoch einer aufgegriffen, wir er samt seines Rudel in eine eigens dafür eingerichtete Kolonie auf den Inseln von Incredibilis gebracht. Sollte ein Lykaner zu einer anderen Zeit in einer Stadt entdeckt werden – ob  nun in Sternheim, oder einer anderen Ortschaft –, wird er samt seinem Rudel eingefangen und in die Kolonie auf den Inseln von Incredibilis gebracht. Sollte ein Lykaner gegenüber eines Mortatias in irgendeiner Weise aggressiv sein, wird er eingefangen und samt seinem Rudel in einer Kolonie auf den Inseln von Incredibilis übergesiedelt. Sollte ein Lykaner einen Mortatia aus welchem Grund auch immer verletzten, wird er samt seinem Rudel getötet. Geht nun zu euren Rudeln und sorgt für ihre Sicherheit.“

„Das können sie nicht machen“, flüsterte ich, als ich beobachtete, wie Obsessantia vom Podest sprang und den Hohen Rat anknurrte, bevor sie den Saal verließ. „Die Lykaner sind Mortatia, sie dürfen sie nicht aus dem Codex nehmen.“

„Das sehen sie offensichtlich anders“, kommentierte Pal grimmig und sah zu, wie sich die Alphas von ihrem Plätzen erhoben um Obsessantia hinaus zu folgten.

Ich warf einen hilflosen Blick zu Veith, der nur die Lippen zusammenkniff und seinen Blick von mir abwandte.

Es war geschehen. Der schlimmste Zustand war eingetroffen, das, womit niemand wirklich gerechnet hatte, sollte nun wahr werden. Wie hatte das passieren können? „Das ist nicht richtig.“

„Und doch wird es niemand von uns ändern können“, sagte Pal wütend.

Die Sicht auf dem Flimmerglas schweifte hinüber zum Hohen Rat, weiter zu den Parlamentären und blieb auf Anwar hängen, der mit Schulterklopfen und freudigen Umarmungen seinen Sieg über die Lykaner feierte. Er hatte es geschafft, er hatte eine ganze Spezies dazu verdammt, ein Leben auf der Flucht vor den Mortatian zu führen.

Die Alphas blieben schweigsam, als sie das Ratsgebäude verließen, kein Wort verließ ihre Lippen. Sie gaben den Mitgliedern ihrer Rudel, ihren Familien und Freunden einfach nur stummes Zeichen, woraufhin die sich ihrem Oberhaupt anschlossen und in einer haarsträubenden Stille auf den abgesperrten Bereich zuhielten, der sie direkt aus der Stadt hinausbringen würde. Die Lykaner waren ruhig, zu ruhig für meinen Geschmack. Es war eine Ruhe vor dem Sturm, in der sich einem sämtliche Nackenhaare aufstellten. Das gefiel mir noch viel weniger als die Entscheidung des Hohen Rates. So waren sie nicht, das war nicht richtig.

Auch Veith ging. Ohne ein Wort und ohne einen Blick in meine Richtung wandte er sich ab und folgte seiner Alpha vom Ratsplatz.

Nein!, wollte ich schreien und konnte mich gerade noch so daran hindern nach seinem Arm zu greifen und ihn zurückzuziehen. Er konnte nicht gehen, nicht einfach so. Wir hatten noch einen Tag. Heute gehörte noch uns, er durfte nicht aus meinem Leben verschwinden, nicht so, nicht ohne sich wenigstens zu verabschieden. Nicht ohne ein Wort, einer Berührung. Bitte, geh nicht, bitte.

Aber er ging einfach. Weg, immer weiter. Als er in der Menge verschwand, wusste ich sofort, dass wir uns heute nicht mehr sehen würden. Obsessantias Worte waren eindeutig gewesen. Geht und blickt nicht zurück, die Zeit der Unruhen bricht an.

„Wir sollten auch verschwinden“, sagte Pal und ließ seinen Blick angespannt über die Menge gleiten. „Komm.“

Gehen? Wie sollte ich jetzt gehen? Meine Liebe verschwand gerade und ich sollte jetzt einfach abhauen und hinter mir lassen? Wie sollte das funktionieren? „Wohin?“

„Erst mal nach Hause ein paar Sachen holen und dann … ich weiß nicht.“

Ich schaffte es nicht allein meine Beine in Bewegung zu bringen. Pal musste meine Hand nehmen und mich mit sich ziehen. Wahrscheinlich schob er es auf den Schock, der durch die Entscheidung ausgelöst wurde, aber es war viel Schlimmer. Veith war weg. Wir hatten keinen Tag mehr gehabt und nun verschwand er einfach aus meinem Leben.

Nur langsam kamen wir voran. Die Wächter an den Seiten behielten jeden der Lykaner genau im Auge, als er sich auf den Weg durch den abgesperrten Bereich machte. Pal und ich taten das nicht. Wir nahmen einen anderen Weg. Vorbei an dem kleinen Pavillon auf der Wiese, um in eine Seitenstraße zu gelangen. Die Wächter würden uns nicht aufhalten, wir sahen aus wie Therianer. Die Tränen zurückzuhalten war nicht einfach. Ich konnte immer nur daran denken, dass irgendwo da vorn Veith war, irgendwo in dieser Viehgasse befand er sich und …

„Mach das nochmal und ich spring dir an die Kehle!“

Die Worte rissen mich aus meinen Gedanken und lenkten meinen Blick auf eine Szene, die sich am Rand abspielte. Eine junge Lykanerin lag auf dem Boden, während Rojcan, der Alpha des Nebeltalrudels, durch die Absperrung brach und einem Wächter einen Stoß versetzte, der diesen auf den Rücken schleuderte.

„Fass nie wieder einen meiner Wölfe an“, knurrte er den auf dem Boden liegenden Mann an und reichte der Frau die Hand, um sie wieder auf die Beine zu ziehen. Und das war der Moment, in dem die Situation eskalierte. Weitere Wächter stürmten heran. Einer davon knüppelte Rojcan in die Kniekehlen und streckte ihn zu Boden. Die anderen Wölfe aus dem Nebeltalrudel hielt nichts mehr in der Reihe. Knurrend sprangen sie über die Absperrung und stürzten sich auf jeden Wächter in der Reichweite. Sie hatten ihren Alpha angegriffen und damit ihr Rudel. Das würde kein Lykaner dulden.

Ich war wohl nicht die einzige, die vor Entsetzen stehengeblieben war und dieses Schauspiel verfolgte.

Die Lykaner nahmen sich bei ihrem Angriff nicht zurück. Sie hatten nichts mehr zu verlieren. Einer verwandelte sich im Sprung und stürzte sich auf den Vampir, der Rojcan seinen Knüppel in die Kniekehlen geschlagen hatte. Ein anderer stürzte sich einfach auf einen Elfen, der gerade nach einer Frau ausholte und riss ihn mit sich zu Boden. Ein matter, silbern Blitz fegte über die Köpfe hinweg und traf einen Wolf im Sprung, der einfach zu Boden ging und sich nicht mehr regte.

Ich schlug vor Entsetzen die Hände vor den Mund. „Oh Gott, nein.“

An der Seite stand ein Magier, der in seiner Hand einen leuchtend, gelben Ball aus Magie formte. Er holte damit aus und warf ihm nach dem nächsten Lykaner, der ihm vor Augen kam. Der Ball klatschte gegen die Brust des älteren Mannes, schlang sich wie zähflüssiges Gummi, um den ganzen Körper und schloss ihn darin ein. Der Mann schlug um sich, versuchte das klebrige Zeug loszuwerden, doch es ließ sich nicht entfernen. Immer größer wurde der Ball, bis der Lykaner in einer großen, durchscheinen, gelben Blase eingesperrt war, in der er so viel toben konnte wie er wollte, er kam nicht heraus. Und er war nicht der Einzige. Immer mehr dieser gelben Bälle flogen durch die Luft und sperrten die Lykaner außerhalb der Absperrung nacheinander in sich ein. Die Frau die auf dem Boden gelegen hatte, der Wolf, der von dem silbernen Blitz getroffen worden war, Rojcan. Sie alle fanden nacheinander ihre Gefangenschaft in diesen gelben Kugeln, die mit ihnen leicht über der Erde schwebten.

Es wurde geknurrt, getobt und gewütet, aber es brachte nichts.

Die Lykaner in der Viehgasse wurden von den Wächtern dazu angehalten, weiter zu gehen.

„Komm“, sagte Pal und zog meinen Arm.

Was? Er wollte gehen? Einfach so verschwinden? „Aber … wir müssen ihnen helfen.“

„Ihnen kann keiner mehr helfen.“ Sein Gesicht war bei diesen Worten angespannt. Er drehte sich weg und zog mich mit sich.

Ich musste mich zwingen, meinen Blick anzuwenden und diesen Wölfen den Rücken zu kehren. Klar, ich hatte Rojcan noch nie wirklich leiden können, aber das wünschte ich niemanden.

Sollte ein Lykaner gegenüber eines Mortatias in irgendeiner Weise aggressiv sein, wird er eingefangen und samt seinem Rudel in einer Kolonie auf den Inseln von Incredibilis übergesiedelt. Sollte ein Lykaner einen Mortatia aus welchem Grund auch immer verletzten, wird er samt seinem Rudel getötet.

Was würde nun mit ihm und den anderen passieren?

 

°°°

 

„Wir … wir müssen hier sofort weg.“

„Kaj, nun beruhig dich doch.“ Pal versuchte nach ihrem Arme zu greifen, doch sie flitzte bereits aus dem Wohnzimmer. Die Tür zu ihrem Schlafzimmer knallte gegen die Wand, Schranktüren wurden aufgerissen. Ich hörte wie Pal versuchte, sie zu beruhigen, doch Kaj hatte Angst, Angst um sich und um ihre Tochter. Obsessantias Worte waren klar gewesen: Verlasst sofort die Stadt und nachdem, was Kaj von uns gehört hatte, war es genau das, was sie vorhatte.

Raissa sah mit großen Augen zur Tür. „Was hat Mamá denn?“

Wie sollte man einem Kind erklären, dass ein einzelner Mann für das zukünftige Leid eines ganzen Volkes verantwortlich war? „Das ist nicht so einfach. Ähm …“ Ich musste sie irgendwie ablenken, ihre heile Welt erhalten, aber wie sollte das gehen? „Möchtest du vielleicht etwas essen? Komm, ich mach dir eine Kleinigkeit.“ Gut, das war keine Lösung, aber das Beste, was mir im Moment einfiel.

„Ich möchte Frühstücksflocken!“, rief die begeistert und stürmte vor zum Schrank. Sie versuchte auf die Anrichte zu klettern, um an den Schrank darüber zu kommen, doch auf halber Höhe, hob ich sie wieder herunter. Das war eindeutig zu gefährlich.

„Du bekommst Frühstücksflocken, aber ich geb sie dir.“ Das lag immerhin im Bereich meiner Möglichkeiten. Wenn ich schon nichts anderes ausrichten konnte, so konnte ich ihr wenigstens auf dem Nachmittag Frühstücksflocken geben.

Als ich die Schachtel aus dem Schrank nahm, wurde mir klar, dass das möglicherweise Raissas letzte Schachtel sein würde und daran war nur Anwar schuld. Er hatte sie und tausende andere Kinder ins Unglück gestürzt. Als ich damals in Anwars Haus kam, hätte ich nie damit gerechnet, wie diese Geschichte einmal enden würde. Hätte ich das nur damals gewusst, hätte ich nur schon früher etwas gegen ihn ausrichten können, aber die ganze Rumschnüffelei hatte sich seinerzeit als sinnlos erwiesen. Anwar war einfach nichts nachzuweisen.

„Nicht die Drinos, ich will die Wutzis“, protestierte Raissa, als ich die Flocken in eine Schüssel schütten wollte.

„Drinos?“, fragte ich etwas verwirrt.

Raissa verdrehte die Augen. „Ich will die Wutzis, die Packung mit dem Wolf, nicht die mit den tanzenden Blumen.“

Mein Blick senkte sich auf die Schachtel in meiner Hand. Dort waren drei Blumen mit lächelnden Gesichtern, die sich an den Blättern hielten und miteinander tanzten. „Nicht die Blumen“, murmelte ich. Ein Bild blitzte vor meinem inneren Auge auf. Veith, wie er in Anwars Haus im Dunkeln stand und mir seinen Arm hin hielt, damit ich daran roch. Ein intensiver Geruch nach Blumen war von seiner Haut ausgegangen, weil er dieses Elixier getrunken hatte. Genau wie wir anderen auch. Wir hatten nach Blumen duften müssen, damit man uns nicht nachweisen konnte, dass wir das Büro des Magiers durchsuchten, das Büro in dem auch … „Blumen“, flüsterte ich. „Aber natürlich, das ist es!“ Ich drückte der verdutzten Raissa die Frühstücksflocken in die Hand und eilte in den Flur. „Ich muss noch mal weg, bewegt euch nicht von der Stelle, bis ich wieder da bin!“, rief ich Pal und Kaj im Schlafzimmer zu und zog mein Vox aus der Tasche, während ich schon die Wohnung verließ. Es war riskant und würde wahrscheinlich gar nichts bringen, aber ich musste es wenigstens versuchen. Das war eine Chance, die ich mir nicht entgehen lassen durfte, die letzte Chance, die wir hatten. Den Lykanern konnte ich davon nichts sagen, sie waren zu auffällig, das hier war ein Job für Katzen.

Zwei Mal klingelte es, dann wurde abgenommen. „Ja?“

„Hallo Big Daddy, ich bin´s, Talita, ich bräuchte deine Hilfe.“

Er schwieg einen Moment, wahrscheinlich hatte er die Anspannung in meiner Stimme vernommen. „Was hast du vor?“

„Etwas ganz dummes.“ Das mein Untergang sein könnte, sollte ich erwischt werden.

„Dann sollte ich dich wohl besser unterstützen.“

 

°°°

 

Angespannt stand ich auf der anderen Straßenseite von Anwars Anwesen, unter einem ausladenden Baum und kaute nervös auf meiner Lippe herum. Wo nur blieb Djenan? Wir waren vor zehn Minuten miteinander verabredet gewesen und wenn er nicht gleicht auftauchte, würde ich das allein durchziehen, bevor mich noch der Mut verließ.

Wie schon den ganzen Tag nieselte es munter vor sich hin. Viel Betrieb herrschte hier draußen nicht, obwohl es erst Nachmittag war, aber meiner Meinung nach war es immer noch zu viel. Hatten die alle kein Zuhause, wo sie sich rumtreiben konnten? Es wäre mir lieber, wenn man mich hier nicht sehen würde. Nicht, dass ich etwas Verbotenes geplant hätte, natürlich nicht, auf solche Ideen würde ich im Traum nicht …

Eine Berührung an der Schulter ließ mich so stark zusammenfahren, dass meine Zähne aufeinanderschlugen.

„Ganz ruhig, ich bin es nur“, murmelte Djenan hinter mir, doch als ich mich umdrehte, war er nicht zu sehen. Hä? Aber …

„Hier oben.“

Mein Kopf bewegte sich in den Nacken und erspähte auf dem untersten Ast einen ziemlich großen und ziemlich schweren Kuder. Genaugenommen handelte es sich dabei um einen männlichen Luchs – einen sehr großen Luchs, der einen Beutel an sein Bein gebunden hatte –, besser bekannt als Djenan. „Findest du es witzig, mich zu Tode zu erschrecken?!“

Er neigte den Kopf zur Seite, als müsste er darüber intensiv nachdenken. „manchmal“, sagte er.

Eigentlich hätte ich ja mit so einer Antwort rechnen müssen, seufz. „Was machst du eigentlich da oben?“

„Die bessere Frage lautet, was machst du da unten? Wir wollen in das Haus des Wesensmeisters der Stadt Sternheim ein- …“

„Schhh!“, machte ich und wedelte dabei mit den Händen herum.

„… -brechen und du stehst hier seit einer halben Stunde herum und beobachtest …“

„Schhht!“ Wollte der, dass ich aufflog? Ich sah mich hastig um, um sicher zu gehen, dass uns niemand hörte.

„… es. Das ist nicht besonders unauffällig.“

„Es ist auch nicht sehr unauffällig, dass ich hier stehe und mit einem Baum spreche, oder dass du unseren Plan lautstark auf der Straße verkündest“, konterte ich.

Seine Schnauze verzog sich zu einem Luchslächeln, als er geschmeidig den Baum heruntersprang und sich dann schnurrend an meine Beine schmiegte.

„Bist du jetzt fertig mit dem Katzentheater, oder dauert das hier noch ein wenig.“

„Nur die Ruhe.“ Er setzte sich neben mich und sah hinüber zu Anwars Anwesen, das still vor uns lag. „Wir haben Zeit, der Herr des Hauses ist nicht daheim.“

Das überraschte mich. „Woher weißt du das?“

Er warf mir einen Blick zu, als fände er die Frage mehr als überflüssig. „Talita, ich bin Friseur und obendrein noch ein gutaussehender Kerl. Meine Kunden erzählen mir Dinge, da würden sich dir die Haare sträuben. Ich weiß zum Beispiel, dass der Vorsitzende des Magnus-Konzerns zurzeit bei seinem Arzt wegen üblem Fußpilz in Behandlung ist …“

Igitt.

„… das hat mir gestern seine Sekretärin berichtet, mit der nebenbei etwas zu laufen hat. Dann weiß ich, dass der Parlamentär Gurion sein Moob bei den Wächtern als gestohlen gemeldet hat, als er gerade in der Kneipe war, um sich zu besaufen. Später kam dann die Erinnerung nach und nach wieder. Es war nicht gestohlen worden, er hatte es im See versenkt, als er besoffen war. Die Wächter kennen die Wahrheit bis heute nicht. Und dann weiß ich auch, dass der Hohe Rat eine Versammlung morgen früh vom Aufgang der ersten Sonne, auf den Aufgang der zweiten Sonne verlegen musste, weil das Ratsmitglied Frana einen dringenden Termin bei dem Topstylisten der Stadt hat, den sie auf keinen Fall verpassen möchte. So eine Krallenmaniküre ist schließlich wichtiger als die Belange der Welt. Oder dann war da noch die Verkäuferin aus dem Backstop, du weißt schon, die, die immer so tollpatschig ist und die hatte einer Verabredung …“

„Ja ja, ist ja gut“, unterbrach ich ihn, bevor er mir jetzt in allen Einzelheiten erzählte … ich wollte eigentlich gar nicht so genau wissen, was bei dieser Verabredung vorgefallen war. „Und was hat das alles mit Anwar zu tun?“

„Nun, die Kellnerin aus dem Assindia war vor zwei Tagen in meinem Salon und während ich ihre Haare in neuem Glanz erstrahlen ließ, erzählte sie mir, dass der hochgeschätzte Wesensmeister der Stadt für heute Abend dort ein Tisch reserviert hat.“

Ja, wahrscheinlich um seinen erhofften Sieg zu feiern. Ich knirschte mit den Zähnen, als ich daran dachte, wie er sich gerade ausgelassen betrank, während die Lykaner eilends die Stadt verließen, da sie um ihr Leben fürchten mussten. „Er ist also nicht zu hause.“

„Nein, ich denke nicht. Ich habe das Haus bereits einmal umrundet und auch wenn hier alles nach Anwar riecht, konnte ich keine frische Witterung von ihm aufnehmen.“ Er blickte zu mir hoch. „Es scheint dennoch jemand im Haus zu sein.“

„Das muss Lewis sein, der Butler. Gaare könnte auch da sein, aber der ist dann unten in seiner Bibliothek, da bekommt er eh nichts mit.“

„Hm“, machte Djenan.

„Hm? Was soll hm heißen?“

„Es wäre mir lieber, wenn wir nachts wiederkommen würden. Dann schlafen alle und das Risiko entdeckt zu werden ist geringer.“

„Die Zeit habe ich aber nicht.“

Er schnaubte. „Du meinst, die Lykaner haben diese Zeit nicht.“

Ich würde mich jetzt sicher nicht auf eine Grundsatzdiskussion mit ihm einlassen. „Hilfst du mir nun, oder muss ich es allein machen?“

„Lass uns zur Hintertür gehen, die ist offen.“

Also hatte er sich wirklich schon umgeschaut. „Okay, aber nicht hier, ich kenne einen besseren Weg.“

Das brachte mir eine erhobene Augenbraue ein.

„Was? Glaubst du nicht, dass ich zu unserem Besuch auch etwas beitragen kann?“, fragte ich ein wenig beleidigt und setzte mich in Bewegung.

Djenan schnaubte, als er mir in die Nebenstraße folgte. „Das ist kein Besuch, Talita, wir wollen in das Haus ein- …“

„Schhhschh!“

„… -brechen“, schloss er, ohne auf meinen wütenden Gesichtsausdruck zu achten.

„Musst du das hier auf der Straße so herumposaunen?“

Er sah sich betont nach links und nach rechts auf der leeren Straße um. „Wer glaubst du, würde uns hier belauschen?“

„Woher bitte soll ich das wissen? Hör einfach auf es laut zu auszusprechen, bevor wir deswegen noch in Schwierigkeiten geraten.“

„Wenn wir wirklich in Schwierigkeiten kommen sollten, dann wird das eher daran liegen, dass da jemand die ganze Zeit auf der andren Straßenseite gestanden hat und sehr auffällig das Haus beobachtete.“

Dazu sagte ich nichts, hob nur meinen Kopf in die Höhe, uns stolzierte weiter. Mein Ziel lag auf der Rückseite von Anwars Anwesen.

Damals, vor einem Jahr, nachdem Pal verschwunden war, hatte ich nachts durch das Badezimmerfenster beobachtet, wie Kaj durch den Garten schlich und war ihr wegen dieses seltsamen Verhaltens gefolgt. Dabei hatte ich einen Geheimweg durch den Schild gefunden, der das gante Grundstück aus Sicherheitsgründen umschloss. Ein Durchgang in der Mauer, der durch eine Illusion verborgen war und das war jetzt mein Ziel.

Ich wusste nicht, ob diese Lücke von Erion, oder Anwar geschaffen worden war, oder ob es sie einfach als Bonus zum Kauf dieses Hauses gab, den Erion sich zu nutzte gemacht hatte, aber ich wusste genau das sie da war, auch wenn ich sie nicht auf Anhieb fand. Von dieser Seite sah die Mauer aber auch ganz anders aus.

Mit den Händen tastete ich an dem rauen Stein entlang und ignorierte Big Daddys zweifelnde Blicke.

„Vielleicht sollten wir das doch auf meine Weise …“

„Nein, ich weiß dass sie hier ist.“ Ich musste sie nur finden.

Djenan legte sich ins Gras des Randstreifens und beobachtete mich mäßig interessiert, als ich mich langsam an dem rauen Mauerwerk weiter tastete. Zwei Minuten, fünf Minuten. Einmal trat ich in ein Loch und klatschte mit dem Gesicht fast gegen die Wand, aber diese verflixte Mauer wollte trotzdem nicht nachgeben. Hatte Anwar den Durchgang etwa zugemacht? Ansonsten musste der hier doch irgendwo … „Ahhh!“ Meine Hand ging glatt durch den Stein durch und ich fiel in die Wand hinein. Die Landung auf den Knien war hart und kleine Steinchen bohrten sich dabei in meine Haut. Mist. Es war nicht wie bei meinem Schild, ich hatte nicht das Gefühl, dass ich durch kaltes Wasser ging. Wo mich die Illusion berührte, verspürte ich einfach nur ein leichtes Kribbeln auf der Haut.

„Das ist ja interessant“, hörte ich Djenan auf der anderen Seite der Mauer sagen. Einen Moment später steckte er den Kopf hindurch und … dieser Anblick, gruselig. Es sah aus, als hinge der Kopf an der Wand, wie eines von Anwars ausgestopften Tieren. Mein Anblick war aber auch nicht viel besser, da ich halb in der Mauer hockte und … ich krabbelte schnell in den Garten, bevor ich Perspektive näher durchdenken konnte.

Djenan folgte mir auf leisen Pfoten, hielt dabei seine Nase in die Luft und witterte die Umgebung prüfend. „Zerberus“, flüsterte er.

„Ja, Anwar hat vier Stück von ihnen. Er benutzt sie zur Jagd.“

„Wo sind sie?“

„Dahinten.“ Ich zeigte in nordöstliche Richtung. „Der am weitesten entfernte Platz vom Haus, damit ihr bellen nicht stört.“

„Gut für uns.“ Djenan ließ noch einmal wachsam einen Blick durch den verregneten Garten wandern, dann schlich er mit einem „Komm“ in meine Richtung los. Nicht auf dem Weg, natürlich nicht, das wäre ja viel zu einfach. Nein, wir schlugen uns einen Pfad durch die Ziersträucher an der Mauer entlang, wo ich mehr als einmal ekliges Getier entdeckte.

Der leichte Nieselregen verbarg unsere Geräusche glücklicherweise. Naja, zumindest bis zu dem Moment, als Djenan mit einem Fauchen einen Satz drei Meter rückwärts machte. Erschrocken sah ich erst zum Haus – nicht, dass uns jemand gehört hatte – und dann zu Djenan, der mit gesträubtem Fell die Ohren anlegte und leise grollte.

Mein Herz schlug wild in meiner Brust. Was war los? Ich konnte nichts erkennen, die Wolken verdeckten die Sonnen und ließen den Garten fast nächtlich erscheinen. „Was hast du?“, fragte ich nervös. Und das war der Augenblick, als ein kleines, durscheinendes Wesen aus dem Zierstrauch rausspazierte.

„Ghost“, flüsterte ich überrascht.

Er bewegte das Mäulchen, als wollte er miauen, spazierte zu mir rüber und versuchte seinen Kopf an meinem Bein zu reiben. Wie schon früher schaffte er es dabei irgendwie fest zu bleiben. Als ich jedoch über sein körperloses Köpfchen streichen wollte, fuhr meine Hand einfach in ihn hinein.

„Hast du die große, böse Miezekatze halb zu Tode erschreckt?“ Ich warf über die Schulter einen Blick zu Djenan, den er finster erwiderte.

„Schweig still, Weib.“ Leise stahl er sich an mir vorbei, weiter Richtung Haus. „Und komm, wir haben etwas zu erledigen.“

Ha, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, es wäre ihm peinlich, dass er sich vor einem kleinen Geist erschrocken hatte. „Lass dich nicht ärgern“, sagte ich noch zu Ghost, bevor ich dem großen Kätzchen durch die Ziersträucher zum Haus folgte. Dort wurde es schon etwas kniffliger für uns. Das Haus bestand aus Glas, Einwegglas, um genau zu sein. Man konnte durch die Wände ungehindert hinausgucken, doch von draußen sah man gar nichts. Da wir uns dieser Tatsache bewusst war, mussten wir über den Boden durch die aufgeweichte Erde kriechen, um eine größtmögliche Deckung zu erhalten – die Blumen waren leider nicht sehr hoch. Es war nur fraglich, ob es was brachte. Wenn jemand drinnen stand und durch die Wand guckte, dann könnte er uns sicher trotzdem sehen.

Das Glück schien ausnahmsweise einmal auf unserer Seite zu sein. Wir kamen ungehindert zur Hintertür, die direkt in die Küche führte und wie Djenan behauptet hatte, tatsächlich offen war.

Erinnerungen an meine Zeit hier überströmten mich, als ich die Küche betrat. Julica, wie sie auf der Anrichte saß und sich ein liebevolles Wortgefecht mit Kovu leistete. Pal, der mich mit Essen vollstopfte, während ich Hawaii-Toast machte. Veith, wie er davonging, als ich fast den großen Roten küsste.

Veith …

Verdammt, warum mussten meine Gedanken immer zu ihm abschweifen? Das konnte ich gerade überhaupt nicht gebrauchen.

„Wo müssen wir lang?“

Djenans Stimme riss mich aus der Vergangenheit und katapultierte mich ins Hier und Jetzt. „Was?“

Big Daddy schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Du kennst dich hier aus, ich nicht, also sag mir, wo ist das Büro.“ Er sagte das so langsam, als hielte er mich für geistig minderbemittelt.

Ich warf ihm einen bösen Blick zu. „Den Flur entlang, zweiter Gang rechts bis zu der Tür mit den Schnitzereien, auf den die Lykaner getötet werden.“

Djenan hob eine Augenbraue – ja, Luchse konnten sowas scheinbar auch.

Ich ignorierte diese Geste und ging vor, damit er sich nicht auch noch verlief. Leise, auf Zehenspitzen schlichen wir durch den Korridor. Wie schon früher hatte ich das Gefühl von den kalten, toten Augen der ausgestopften Tiere an den Wänden auf jedem Schritt beobachtet zu werden. Sie waren tot und auch kein anderes Lebewesen schien sich hier aufzuhalten, aber die Gänsehaut wollte sich einfach nicht vertreiben lassen. Dies war ein düsterer Ort.

Die Stille des Hauses wurde nur von unserem leisen Atem durchbrochen. Vorsichtig sah ich im jede Ecke, bevor ich sie überwand und schneller, als ich geglaubt hatte, fanden wir uns vor Anwars Büro wieder. Die Klinke ließ sich problemlos runterdrücken, doch dann war unser Glück aufgebraucht. „Mist, abgeschlossen.“

„Lass mich mal.“

Erst als ich mich umdrehte, merkte ich, dass Djenan sich zurückverwandelt hatte und nun splitterfasernackt neben mir stand. „Oh Gott!“ Hastig wandte ich ihm den Rücken zu. „Hättest du mich nicht vorwarnen können?“

„Sei leise“, war alles was er erwiderte.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er sich den kleinen Beutel vom Arm losband und sich damit vor die Tür hockte. Er inspizierte das Schloss, zog dann ein kleines Lederetui aus seinem Beutel und wählte daraus ein paar seltsam gebogene Metallnadeln heraus, mit denen er sich an dem Schloss zu schaffen machte. 

„Ist das etwa Einbruchswerkzeug?“

„Pssst“, machte er wieder nur.

Ich sah ihm interessiert über die Schulter. Ein paar Sekunden, mehr brauchte er nicht, dann schwang die Tür nach drinnen auf. „Wie hast du das gemacht?“

„Übung.“

„Du hast Übung darin Schlösser zu knacken?“

Er warf mir nur einen undefinierbaren Blick zu und schob mich dann in das Büro. Die Tür schloss er leise hinter uns. „So weit, so gut.“ Mit dem Etui in der einen und dem Beutel in der anderen Hand, ließ er einmal seinen Blick durch das Büro wandern und blieb an den Bücherregalen hängen. „Und wo ist nun dieser verborgene Raum?“

„Da hinten.“ Ich zeigte auf den braunen Vorhang und versuchte, betont nicht auf seine nackte Mitte zu starren. Mann und ich dachte, ich hätte mich in der Zwischenzeit daran gewöhnt, aber bei Djenan … naja, er stand noch nie nackt vor mir und ich hatte nicht damit gerechnet, dass sich das jemals ändern würde. „Sie ist aber mit einem Zauber gesichert, deswegen haben wir sie beim letzten Mal nicht öffnen können.“

Djenan hatte sich schon während meiner Erklärung auf den Weg gemacht und zog den Vorhang zur Seite. Eine unscheinbare Tür kam dahinter zum Vorschein. Die Klinke verlockte zum Öffnen, doch ich erinnerte mich noch gut an Veiths Worte, als wir gemeinsam mit den anderen hier gestanden haben.

Djenan hockte sich wortlos davor, um sie zu inspizieren. Ich hatte ihm bereits am Vox gesagt, dass sie magisch verschlossen war. Genau an der Klinke, zwischen Rahmen und Tür, war ein schwaches Glühen von einer Magieader auszumachen. Es schien aus der Wand zu kommen und in das Holz der Tür einzusickern, aber um das zu sehen, musste man wirklich sehr genau hingucken.

„Eine Falle“, sagte er leise, als spräche er mit sich selbst. „Egal was dahinter liegt, Anwar möchte nicht, dass es jemand außer ihm zu Gesicht bekommt.“

„Ja, das hat Veith damals auch vermutet. Er meinte, die Tür könnte einen Alarm auslösen, nur wenn man sie berührt.“

„Oder in die Luft fliegen, oder uns mit einem Fluch belegen, der uns innerhalb von Sekunden zu Staub vertrocknen lässt, oder wir werden in die Wand gesogen, um dort auf ewig mit dem Haus zu verschmelzen, oder …“

„Ja ja, hab verstanden, böse Tür.“ Na das waren doch einmal tolle Aussichten.

„Aber, egal was passieren wird, sollten wir versuchen, sie gewaltsam zu öffnen, wird Anwar es sofort wissen. Diese Art von Zauber haben immer eine direkte Verbindung zu ihrem Erschaffer.“

„Wow, dafür, dass du keine Magie wirken kannst, kennst du dich da aber echt gut aus.“

„Ich habe so meine Erfahrung.“ Er richtete sich unversehens auf, um seinen Blick durch den Raum gleiten zu lassen. Natürlich schaffte ich es wieder einmal nicht, mich rechtzeitig wegzudrehen. Gott, diese Kerle machten mich noch mal echt wahnsinnig.

„Dieser Zauber darf niemals unterbrochen werden“, erklärte er.

„Heißt das, wir können da nicht rein?“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Doch. Du hast gesagt …“

„Das dieser Zauber niemals unterbrochen werden darf. Auch Anwar darf ihn nicht brechen, sonst würde ihn sein eigener Fluch treffen.“

„Aber …“ Ich runzelte die Stirn. „Wie soll das gehen. Er nutzt dieses Raum, ich habe es selber mitbekommen.“

Djenan horchte auf. „Du hast mitbekommen, wie Anwar diesen Raum betreten hat?“

„Ja.“ Naja, so mehr oder weniger. Genaugenommen hatte ich mit Veith unter dem Schreibtisch gehockt und drauf gehofft, nicht entdeckt zu werden.

„Was hat er vorher gemacht?“

„Vorher?“

„Bevor er den Raum betreten hat“, erklärte er geduldig.

Ich warf ihm einen finsteren Blick zu. „Mir ist schon klar, was dieses Wort besagt, aber danke, dass du mir die Bedeutung noch einmal erklärt hast, sehr liebenswürdig von dir.“

„Talita“, mahnte er.

„Ja ja, ist ja schon gut. Lass mich einen Moment nachdenken.“ Es war gar nicht so einfach sich daran zu erinnern. Eigentlich wusste ich nur noch genau, wie eng ich bei Veith gesessen hatte. „Kaj und Anwar sind in den Raum gekommen, als wir ihn durchsucht haben. Sie haben gestritten. Irgendwann ist Ghost aufgetaucht und hat für ein bisschen Unruhe gesorgt. Dann hat er Kaj weggeschickt, hat uns fast unter dem Schreibtisch entdeckt und ist dann in den Raum marschiert.“ Ich erinnerte mich noch genau an das Ritsch-Geräusch, dass der braune Vorhang gemacht hatte.

„Er war am Schreibtisch?“

„Ja, er hat da in der Schublade rumgekramt und ist dann zu der Tür.“

Djenan setzte sich bereits in Bewegung, bevor ich zu Ende gesprochen hatte und begann damit die Schubladen zu durchsuchen.

Ich folgte ihm neugierig. „Wenn du mir sagst, was du suchst, kann ich dir helfen.“

„Einen Stift, eine kleine Röhre, oder einen Strohhalm. Irgendwas in der Art.“

Einen Strohhalm? „Willst du dir ´nen Cocktail machen, oder was?“

„Um den Raum zu betreten, kann der Zauber nicht gebrochen oder durchtrennt werden, niemals“, sagte er, während er die Schublade schloss und sich der nächsten zuwandte. „Er muss gedehnt werden und dafür muss es eine Art Schlüssel geben. Ich habe zwar etwas dabei, was ihn ersetzen könnte, doch da ich die Beschaffenheit des Zaubers nicht genau kenne, würde ich gerne den originalen Schlüssel nehmen, um jedes Risiko auszuschalten.“

O-kay. Im Grunde hatte ich gerade nur Bahnhof verstanden. „Und der Schlüssel, den du dafür brauchst, ist ein Strohhalm?“

Big Daddy warf mir einen Blick zu, der hier nicht näher erläutert wird. Nur so viel, ich kam mir plötzlich sehr dämlich vor. „Ich habe nicht gesagt, dass es ein Strohhalm ist, nur dass ich etwas in der Art suche. Es muss eine kleine dünne Röhre sein, die ich … Bingo.“ Er zog etwas aus der Schublade, das mich an einen hohlen Holzdübel erinnerte. Im richtigen Winkel blitzte es glitzernd auf. „Das müsste es sein.“

Er legte den Schlüssel auf den Schreibtisch und begann in seinem Beutel zu kramen. Nach einigem Suchen förderte er ein seltsames Gerät zu Tage, das mich stark an ein kleines Voltmessgerät erinnerte. Doch statt Zahlen hatte dieses hier seltsame Zeichen, die aufleuchteten, als er den Tester an den hohlen Dübel hielt. „Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich den Schlüssel gefunden.“

Das wäre zu schön um wahr zu sein – auch wenn ich mir nicht ganz vorstellen konnte, wie er mit diesem Ding die Tür öffnen wollte. „Glaubst du wirklich, dass er sich solche Mühe gibt, diesen Raum zu sichern, nur um den Schlüssel dann so offensichtlich zu verwahren?“

„Ich denke, er ist sich seiner Sache einfach zu sicher. Wer würde es schließlich wagen, in das Haus des hochgeschätzten Wesensmeister der Stadt einzudringen, nur um sich an seiner Tür zu vergreifen? Arroganz kann einen sehr schnell leichtsinnig handeln lassen. Außerdem ist ein offensichtliches Versteck manchmal sicherer, als ein geheimes. Wer würde schließlich vermuten, dass ein Schlüssel für eine so stark gesicherte Tür einfach zwischen dem ganzen anderem Kram in einer unverschlossenen Schublade im Schreibtisch liegen würde?“ Er packte sein Messgerät zurück in den Beutel. „Außerdem ist diese Art von Zauber kaum bekannt und nur die wenigstens wissen, wonach sie suchen müssen, um dieses Schloss zu knacken.“ Er umrundete den Tisch, um sich wieder an der der Tür zu schaffen zu machen. „Aber, um wirklich sicher zu gehen, ob meine Theorie stimmt, werden wir es wohl ausprobieren müssen.“

„Findest du das nicht ein wenig gefährlich?“, fragte ich skeptisch, plötzlich nicht mehr so sicher, ob wir das wirklich machen sollten. Ich wollte nicht zusehen, wie Djenan von der Wand aufgesogen wurde und ich selber befand mich auch ganz gerne außerhalb.

Er hockte sich wieder vor die Tür und begann auf der Höhe der Magieader herumzufummeln. „Was wäre das Leben ohne ein wenig Nervenkitzel.“

„Ich weiß nicht, vielleicht sollten wir die ganze Sache doch lieber …“

„Geschafft“, unterbrach er mich und richtete sich auf, um mir einen Blick auf sein Werk zu erlauben. Den seltsamen Stift hatte er zusammengedrückt und auf Höhe der Magieader in den Schlitz zwischen Rahmen und Tür gesteckt. Er leuchtete von innen heraus. Es sah aus, als hätte er die Ader mit einem Mantel umringt. Wie hatte er diese Fummelarbeit nur so schnell hinbekommen? „Bring mir mal das kleine Etui aus meinem Beutel.“

Eilig kam ich seiner Aufforderung nach und machte große Augen, als ich das ganze Zeug darin sah. Das war ja … alles Einbruchswerkzeug! Zumindest die Dinge, die ich erkannte. Was war hier eigentlich los? Woher hatte er das ganze Zeug und … „Woher weißt du, wie man solche Türen knackt?“

„Frag nicht so viel und sei lieber dankbar, dass ich es weiß“, gab er unbestimmt zur Antwort und nahm das Etui, das ich ihm hinhielt. Wie schon an der Bürotür stocherte er mit seinen Nadeln ein wenig in dem Schloss herum – so sah es für mich jedenfalls aus –, dann gab es einen Klick und Djenan richtete sich auf. Die Nadeln verschwanden im Etui und dann legte er die Hand auf die Klinke.

Ich hielt die Luft an, als er sie vorsichtig herunterdrückte und die Tür lautlos in den Raum aufschwang. Und dann verstand ich auch, was Djenan mit „er muss gedehnt werden“ meinte. Das kleine Röhrchen lag wie ein Schutzmantel um den Zauber und zog sich mit jedem Zentimeter, den Djenan die Tür weiter öffnete, in die Länge. Der Zauber selber blieb intakt, hatte sich nur verlängert. Es sah aus, als führte auf Höhe der Klinke eine Gummischnur von der Tür zum Rahmen.

„Möchtest du vorgehen, oder soll ich?“, fragte Djenan.

„Ist es denn jetzt sicher?“

„Theoretisch ja.“

„Theoretisch?“, kickste ich. „Und wenn du dich irrst?“

„Dann wird es wahrscheinlich der letzte Irrtum in meinem Leben gewesen sein.“ Damit machte er einen Schritt in den Raum, direkt durch die Schnur durch, die plötzlich durchlässig war – wie ein Lichtstrahl. Mir blieb fast das Herz stehen. Doch es passierte gar nichts. „Scheint sicher zu sein“, sagte er ganz ruhig und drehte sich zu mir um.

„Scheint … ich dreh dir gleich den Hals um! Erschreck mich nie wieder so.“ Gott, gleich erlitt ich einen Herzinfarkt.

„Bleib ruhig, ist doch alles gut gegangen.“ Er fühlte an der Wand nach dem Lichtschalter und meine nächste Erwiderung blieb mir im Halse stecken.

„Gott, was ist das denn?“ Ich machte ein paar Schritte in den Raum und sah mich mit großen Augen um.

„Sieht aus wie eine Einsatzzentrale in einem Kriegsgebiet“, murmelte er und machte ein paar Schritte in den Raum hinein.

Alle Wände waren mit Karten zugepflastert. Eine Weltkarte hatte überall Pins zu stecken. Ein paar Gelbe, ein paar grüne und jede Menge Roter. Die anderen Karten schienen von verschiedenen Ländern zu sein. Einzelne Bereiche waren rot markiert.

Djenan stellte sich neben mich. „Das sind die Territorien der Lykaner.“

„Was?“

„Siehst du das hier?“ Er zeigte auf die roten Pins. „Jede davon Markiert den ungefähren Standpunkt eines Lykanerlagers. Und das hier“, – er deutete auf die markierten Bereiche der andern Karten – „sind Grenzlinien der Reviere. Hier, guck dir das an, erkennst du es vielleicht?“  Sein Finger wies auf Karte direkt neben der Tür.

Ich trat einen Schritt näher, um sie mir genauer anzusehen. Meine Augen wurden noch größer, als sie die bekannten Grenzlinien ausmachten. „Das ist das Territorium der Wölfe unter den Wolfsbäumen und das hier … die Höhlenwölfe.“ Plötzlich erkannte ich überall die Reviere aus der Gegend um Sternheim. Die anderen waren mir fremd, aber einzelne Namen, die unten auf die Karten geschrieben waren, erklärten zu welchen Gegenden sie gehören. Rudel am Nixenhort, Wölfe der Ewigkeit, Rajawölfe. „Wozu brauch er das alles?“

„Das würde mich auch interessieren.“ Er blätterte in einer Akte, die er von einem der überfüllten Tische genommen hatte.

„Was hast du da?“ Ich stellte mich zu ihm, um auch einen Blick auf die Papiere zu werfen. Meine Augen wurden Groß – mal wieder. „Das sind Akten der Wächter.“ Das Zeichen oben in der Ecke war eindeutig.

„Ja. Es scheint hier um einen Unfalltod zu gehen, an dem die Lykaner beteiligt waren.“ Er legte die Akte weg und nahm sich die nächste. Und noch eine. Bestimmt ein Dutzend Akten sahen wir durch und sie alle beschäftigten sich mit Straftaten, oder Beteiligungen einer solchen der Lykaner. „Das hier ist vom letzten Jahr, von den Verschwundenen Wölfen.“ Er blätterte eine Seite um, wodurch ein Bild aus der Akte rutschte.

Soweit es möglich war, wurden meine Augen noch größer. „Grey“, flüsterte ich und hob das Bild auf. Es wirkte ziemlich neu und … „Das ist neu.“

„Was?“

„Dieses Bild, es wurde erst vor kurzem geschossen. Hier, siehst du diesen Baum?“ Ich zeigte auf eine vertrocknete Mangrove, die neben einem Farnstrauch stand. „Der steht im Gehege der Verlorenen Wölfe.“

„Da waren noch anderer solcher Bilder.“

„Wo?“

„Da.“ Er deutete auf einen Stapel Bilder, die Halb vergraben unter den ganzen Akten lagen.

Ich zog sie hervor und sah sie mir nacheinander durch. Da war Kanin, Lokus, Saphir, Isla. Alle meine Verlorenen Wölfe waren darauf abgebildet. „Was soll das?“

„Das kann ich dir beim besten Willen nicht verraten.“

Ich sah die Bilder weiter durch. Dort waren nicht nur Abbildungen für die Ewigkeit von meinen Wölfen, sondern auch andere Bilder von Wesen, die ich nicht kannte. Doch Moment. Ich sah mir ein Bild mit einer Gruppe von Leuten genauer an. Waren das nicht diese Antagonisten? „Wozu hat er die?“

„Wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen.“ Er kramte ein wenig auf dem Tisch herum, während ich mir noch die restlichen Bilder durchsah. Die Leute darauf waren mir völlig unbekannt. Doch ein Bild kam mir wage bekannt vor, ein Bild mit einer Gruppe aus verschiedenen Wesen. Engel, Nymphen, Serpens, Therianer. Ich hatte es schon einmal gesehen, da war ich mir sicher, konnte mich aber nicht mehr erinnern, wo.

„Wie hieß noch mal dieser Tote bei deinen Wölfen?“, wollte Djenan plötzlich wissen.

Ich ließ die Bilder sinken und sah interessiert zu ihm rüber. „Meinst du Allean von Sternheim, oder Noora vom Hochland?“

„Genau die.“

Okay, das machte mich jetzt neugierig. Ich legte die Bilder zurück auf ihren Platz und lehnte mich über Djenans Arm, um zu sehen, was er da gefunden hatte. „Das ist Allean von Sternheim.“ Auf dem Bild ist er ein wenig jünger gewesen, aber er war deutlich zu erkennen.

„Wie es aussieht, hatte dieser Allean keine ganz saubere Weste. Hier.“ Er zeigte auf einem Absatz und erst jetzt fiel mir auf, dass es sich um eine weitere Wächterakte handelte. Dort stand, dass Allean sich hin und wieder wohl mal mit einem Fünf-Finger-Rabatt von der schweren Arbeit in der Schule belohnt hat. „Und hier ist auch eine Akte zu dieser Nora“, sagte Djenan und zog aus dem Stapel Papiere eine weitere vor. „Sie ist wohl auch mal bei den Wächtern aufgefallen.“

„Was steht da?“

„Das sie einige Betrügereien begannen hat, die so manchen um ein wenig Geld erleichtert hat. Aber wirklich interessant ist das hier.“ Er reichte mir zwei Papiere. Anwars Wappen prangte darauf und es besagte im Grunde, dass Allean von Sternheim und Noora vom Hochland von allen ihren Taten freigesprochen waren. Unterschreiben waren sie von Anwar von Sternheim.

„Kann er sowas denn einfach machen?“, fragte ich.

„Sieht wohl so aus.“ Djenan nahm mir die Zettel wieder aus der Hand und betrachte sie selber noch einmal. „Jetzt ist auch klar, wie er sie dazu bekommen hat, in das Gehege der Verlorenen Wölfe zu marschieren.“

„Was meinst du?“

„Na ist das nicht klar?“ Er sah mich an.

„Wäre es so klar, würde ich sicher nicht so dumm nachfragen.“

„Pass auf. Da drüben liegen jede Menge Adressen von den Antagonisten und wir wissen, dass zumindest Noora vom Hochland eine von ihnen war. Wie er den Jungen kennengelernt hat, weiß ich noch nicht, aber klar ist, das Anwar mit diesen Antagonisten zusammenarbeitet – die Beweise liegen hier. Und scheinbar hat er Noora vom Hochland das Angebot gemacht, sie straffrei zu machen, wenn sie für ihn in das Gehege geht. Der Beweis sind diese Zettel.“ Er wedelte mit den Dokumenten in seiner Hand. „Bei Allean von Sternheim wird es ähnlich abgelaufen sein.“

Das könnte stimmen, doch ich wäre niemals allein darauf gekommen. „Aber ein Besuch im Gehege ist gefährlich und das wussten beide. Bevor Noora in zu meinen Wölfen gegangen ist, hatten sie Allean bereits getötet.“

„Weswegen sie die Giftköder mitgenommen hat.“

„Und der Schild? Wie sind sie da durchgekommen?“

„Das weiß ich noch nicht.“ Er legte die Zettel wieder hin. „Das passt zusammen. Sieh dich um, vielleicht finden wir noch andere Hinweise.“

„Das ist ja schön und gut, aber wie hilft das den Lykanern?“

„Such einfach weiter und halt die Augen offen.“

Und das tat ich dann auch. Über eine Stunde arbeiten wir Akten durch und was ich da alles fand … dieser Mann war ja schon ein richtiger Fanatiker. Er hatte alles über die Lykaner gesammelt, was er in die Hände bekommen konnte und Bilder und Adressen waren dabei noch das kleinere Übel. Ich fand ganze Stammbäume von einzelner Wölfe und Tagebücher. Aber das interessanteste, das mir in die Finger fiel, war eine richtig dicke Schwarte in einem schwarzen Ledereinband.  Es war nicht beschriftet, aber schon nachdem ich die ersten Seiten durchgeblättert hatte, ging mir sehr schnell auf, was ich hier in den Händen hielt. „Das sind die Rituale der Lykaner.“

„Was?“

„Dieses Buch hier.“ Ihr hielt es kurz hoch, um es ihm zu zeigen. „Ich kenne einige der Begriffe.“ Den Testiculus hatte ich schon gefunden und jetzt brauchte ich noch … „Adolescens“, flüsterte ich. „Das ist der Beweis, dass Dandil mit Anwar unter einer Decke steckt.“ Ich klappte das Buch zusammen und konnte mein Glück kaum fassen. „Hiermit kann ich dem Hohen Rat beweisen, dass Dandil kein faires Verfahren geführt hat, sondern die ganze Zeit mit Anwar unter einer Decke gesteckt hat und nur darauf hinarbeitete, dass die Lykaner dem Codex verwiesen werden.“

„Dann präg es dir gut ein.“

„Bitte?“

„Du kannst die Sachen nicht mitnehmen, deswegen musst du dich an alles genau erinnern, um dem Hohen Rat die Beweise aus deinem Gedächtnis vorzulegen. Falls Anwar diesen Raum betritt und nicht alles da ist, dann könnte …“ Etwas klirrte. „Ahhh, verdammt!“

Erschrocken fuhr ich zu ihm zurück. „Was ist los?“ Meine Augen wurden groß, als ich das viele Rot an seiner Hand sah. „Ist das Blut?“

„Ja, aber nicht meines. Hilf mir mal das sauber zu machen. “

Ich legte das Buch zur Seite und suchte nach einem Lappen, oder etwas in der Art. „Wenn es nicht deines ist, wem gehört es dann?“

„Deins.“

„Bitte?“ Hatte ich das gerade richtig verstanden?

„Es ist dein Blut, Talita. Schau.“ Zwischen Wand und einem Stapel Notizbücher zog er ein Gestell hervor, das mir aus dem Chemieunterricht bekannt war, ein Reagenzglasständer. In ihm standen mehrere Phiolen mit Blut gefüllt. Auf jeder einzelnen stand mein Name drauf.

„Aber … was will Anwar den mit meinem Blut?“

„Das wüsste ich auch gerne.“

Genau wie ich betrachtete er die Gläschen stirnrunzelnd, als würden sie uns so die Wahrheit offenbaren. Blut, mein Blut. Wozu könnte ein Magier Blut gebrauchen? Blut war … aber natürlich, Blut! Das war des Rätsels Lösung. Mein Blut, das war es! Kurz bevor Veith durch den Schild gefallen war, hatte ich mir in die Hand geschnitten und Veith hatte den Tropfen von meinem Blut abgeleckt. „Er hat es Allean von Sternheim und Noora vom Hochland gegeben!“ Ich war plötzlich ganz aufgeregt. „Boudicca hat es mir erklärt. Blut ist Magie. Um den Schild zu schaffen, hatte ich Anwar einen Tropfen von meinem Blut gegeben, damit nur ich ihn durchschreiten kann. Das Schild ist nicht defekt, alles funktioniert perfekt. Nur jemand, der mich berührt, oder mein Blut in sich hat, kann es durchschreiten. Das ist es!“

Djenan runzelte nachdenklich die Stirn und nickte dann. „Das könnte stimmen, aber wie ist er an dein Blut gekommen?“

„Das weiß ich nicht und das ist im Moment auch egal. Ich muss jetzt erst mal telefonieren.“ Was ich hier gefunden hatte, könnte alles verändern. „Ich muss dringend mit den Alphas sprechen.“

 

°°°°°

Tag 468

Unsere Welle rückte dunkel und heimlich in der Nacht heran. Aus allen Ecken und Winkeln der Stadt kamen wir gekrochen und alle hatten wir ein Ziel: das Ratsgebäude der Stadt Sternheim.

Anfangs traf man uns nur vereinzelt, aber je näher wir unserem Ziel kamen, desto mehr wurden wir. Der Kreis um das Ratsgebäude wurde mit jedem Schritt dichter. Die Bewohner der erwachenden Stadt, die uns begegneten, eilten hastig zurück in ihre Häuser. Wächter die sich uns in den Weg stellen wollten, wurden auf humane Weise außer Gefecht gesetzt, aber nur von jenen, die noch als Mortatia galten. Von den Gefährten der Rudel, von den Freunden. Von dem Therianer Domina aus den Sommerland, von Regin von Kamaron, der Serpens, von dem Waldnymph Nemus, der Windin Taka von Land der Winde und all den anderen. Und natürlich mir. Wir gehörten zu den Lykanern, aber vom Gesetz her waren wir immer noch Teil des Codex, wir waren Mortatia und man dürfte keinen Lykaner für das bestrafen, was wir taten – was im Grunde hieß, den Wächtern ein Schlafpulver entgegen zu pusten und sie damit für eine Weile ins Land der Träume schicken. Das Schlafpulver hatten wir von den Heilern bekommen.

Jeder Alpha wusste, was er zu tun hatte. Ich hatte Stunden in ihren Lagern verbracht, um dort alles zu planen. Der Hohe Rat würde uns anhören, wir würden ihm gar keine andere Wahl lassen und dann müssten sie alles noch einmal überdenken, denn auch, wenn sie es nicht wahrhaben wollten, die Lykaner gehörten zu ihnen, auch sie waren Mortatia.

Wir hatten alles bis ins kleinste Detail geplant und sogar noch Lykaner aus den umliegenden Revieren hinzugeholt, um mit einer Masse aufzutreten, mit der sie niemals rechnen würden. Alle hatten wir dabei. Männer, Frauen und Kinder. Alte und Junge. Schwangere. Noch nie in der Geschichte dieser Welt war es vorgekommen, dass sich die Lykaner zusammengeschlossen hatten, um für dasselbe Ziel zu kämpfen: Gerechtigkeit.

Von oben tönte ein leichtes Donnergrollen. Ein Blitz zuckte in der Ferne über den Himmel und tauchte die erwachende Stadt in ein unheimliches Licht. In der Ferne war bereits die Dachkuppe des Ratsgebäudes zu erkennen, die düster unter dem schwarzen Himmel in die Höhe ragte. Wie ein Mahnmal stand es da und deutete uns das Ziel, dem wir mit jedem Schritt näher kamen.

Ich lief ganz vorn mit Obsessantia. Uns folgten ein Dutzend Rudel, von denen ich keines persönlich kannte, aber das war egal, da wir alle dasselbe Ziel hatten.

Keiner sprach ein Wort. Es war richtig unheimlich, wie leise wir uns durch die Stadt bewegten, die Hauptstraße hinauf, die gestern noch gesperrt gewesen war.

Aus den Fenstern der Häuser zu beiden Seiten bekamen wir neugierige und misstrauische Blicke. Vor uns rannte eine Gruppe Teenys schnell ins nächste Geschäft, als sie uns kommen sahen. Aus der Seitenstraße kam ein Fukaner gerannt und stoppte abrupt, als er uns sah. Seine Augen blickten hektisch zu beiden Seiten, bis er sich im nächsten Hauseingang in Sicherheit brachte. Aus der gleichen Straße tauchten einen Augenblick später weitere Lykaner auf. Die Wölfe von unter den Wolfsbäumen. Tyge nickte Obsessantia und mir zu und führte seine Wölfe dann weiter. Prisca lief direkt hinter ihm, Amo-te in den Armen. Ja, wir hatten wirklich jeden dabei.

Der Kreis zog sich immer dichter und niemand würde ihm entkommen. Nicht, bevor wir gesagt hatten, weswegen wir gekommen waren.

Ein weiterer Blitz zuckte über den Horizont. Hinter dem dunklen Wolkenhimmel war die Sonne bereits aufgegangen. Der Hohe Rat befand sich mit Sicherheit in dem Gebäude. Zu irgendeinem Meeting, das hatte Djenan mir gestern doch gesagt, als er auch erzählt hatte, dass da irgendjemand gerade eine Fußpilzbehandlung hatte. Sie waren dort drinnen und wir würden sie erst rauslassen, wenn das Recht zugeschlagen hatte.

Das waren die Dinge, an die ich dachte, als ich als eine der Ersten den Ratsplatz betrat. Zur gleichen Zeit strömten auch die Lykaner aus den anderen Zuwegen an diesen Ort. Natürlich waren wir bereits entdeckt worden. Die Wesen, die an diesem Ort arbeiteten, verschwanden bei unserem Anblick sofort in dem Gebäude. Das konnte uns nur recht sein.

Wie eine Einheit bewegten wir uns, kreisten das Gebäude ein, bis wir eine unüberwindbare Mauer bildeten und ließen uns an Ort und Stelle auf den Boden sinken. Jetzt hieß es warten.

Wieder grollte Donner über unsere Köpfe. Nur wenige Sekunden später zuckte ein Blitz über den Himmel und ein zweiter. Leichter Nieselregen fiel auf uns hernieder. Kurz darauf schlug das Portal zum Ratsgebäude auf. Ein paar Wächter strömten heraus und blieben abrupt wieder stehen, als sie uns ruhig vor dem Gebäude entdeckten, eingekreist, ohne eine Möglichkeit auf Flucht. Was sie wohl gerade sahen? Tausende von Lykanern, die das Gebäude von allen Seiten umringten. Frauen und Männer, ganze Familien die einfach nur da saßen und sie stumm beobachteten. Der ganze Platz war voll mit ihnen. Auch in den Straßen darum standen und saßen wir. Eine stumme Wache von Wesen, die nichts mehr zu verlieren hatten, aber dafür alles zu gewinnen.

„Was hat das zu bedeuten?!“, forderte eine mir nur allzu bekannte Stimme zu erfahren. Hinter den Wächtern erschien nicht nur Anwar und bekam bei diesem Anblick riesige Augen. Ich sah wie sein Adamsapfel beim Schlucken hüpfte. Tja, mein Lieber, damit hattest du wohl nicht gerechnet, was? Auch Dandil entdeckte ich und mehrere Mitglieder des Hohen Rats, die ich aus den Sitzungen kannte. Der Magier, der damals das Schild kontrolliert hatte, war auch da. Weitere Wächter folgten – was hatten so viele von denen im Gebäude zu suchen? – und langsam wurde die Treppe voll.

Die Lykaner hielten den feindlichen Blicken stand, als ich mich an Obsessantias Seite auf die Beine erhob und langsam auf die Treppe zuhielt. Natürlich hielten wir respektvollen Abstand, aber der Mittelpunkt waren wir. Jeder konnte uns sehen.

Anwar drängt sich in die vorderste Reihe. „Ergreift sie!“, lautete sein Befehl, doch keiner der Wächter bewegte sich auch nur einen Mikrometer. Tja, wir waren halt leicht in der Überzahl. Natürlich war mir bewusst, dass das nicht so bleiben würde, da sie sicher weitere Wächter hierher beordern würden, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen, aber bis dahin, hatte ich Zeit mein Anliegen vorzubringen.

Wir hatten besprochen, dass ich mit dem Hohen Rat reden würde, da ich die Beweise gesehen hatte und Obsessantia mir nur den Rücken stärken sollte. Djenan war auch irgendwo zwischen den Lykanern, zusammen mit Pal, Kaj und Raissa. Er würde notfalls als mein Zeuge fungieren.

„Was steht ihr hier so nutzlos herum?!“, keifte Anwar. „Nehm sie in Gewahrsam, sie haben hier nichts zu suchen!“

Einer der Wächter trat hervor, ich musste kein zweites Mal hinsehen, um Recep zu erkennen. „Wir können nichts ausrichten, wir …“

„Ich will keine Entschuldigungen, ich will, dass etwas dagegen unternommen wird, sonst werde ich …“

„Das reicht!“, donnerte eine Stimme durch unsere Köpfe. Uh, der war ja auch wieder hier.

An der Seite drückte sich eine dürre Gestalt in einer zerschlissenen Magierrobe mit dicker Brille und dürrem Haar nach vorn. Gaare? Was machte der den hier? Er sagte leise etwas zu dem Gruselfutzi mit der Geisterstimme. Daraufhin entbrannte eine hitzige Diskussion unter den Leutchen dort oben, an der sich so ziemlich alle beteiligten. Ähm … o-kay. So war das eigentlich nicht geplant gewesen.

Obsessantia gab mir einen leichten Stoß mit dem Ellenbogen und ruckte mit dem Kopf eindeutig Richtung Streithähne.

Was? Ich sollte mich da jetzt einmischen?

Nun mach schon, formte die Wölfin mit den Lippen.

Na gut, okay, dann mal los. Ich trat einen Schritt vor und räusperte mich. Dabei versuchte ich mir nicht anmerken zu lassen, wie unwohl ich mich dabei fühlte. Mein Herz schien förmlich in meinem Herz stecken bleiben zu wollen, so hoch hüpfte es. Als keiner darauf reagierte, holte ich tief Luft. „Sie fragen sich sicher, warum wir hier sind“, sagte ich laut genug, dass sie uns hören konnten.

Einzelne drehten sich zu mir um, aber nicht genug.

Na gut, dann eben anders. „Dies ist unser friedlicher Protest. Wir werden den Kreis nicht öffnen, wir werden gegen niemanden die Hand erheben und wir werden nicht verschwinden, ehe wir wieder in den Codex aufgenommen werden. Wir sind keine Tiere, wir sind Mortatia!“, brüllte ich laut und damit hatte ich endlich die allgemeine Aufmerksamkeit. Na bitte, ging doch, warum denn nicht gleich so?

„Mortatia?“, wütete Anwar. Der sah aus, als wenn er mich gleich fressen wollte. „Ich sehe hier keine Mortatia, nur unnützes Getier, das schnellstens entfernt werden sollte!“

Hinter mir klang unterdrücktes Knurren, aber die Lykaner bewegten sich noch immer nicht, oder zeigten anderweitig Aggressivität.

„Und ich sehe einen Mann, der vor dreizehn Jahren einen anderen umgebracht hat und um dies zu vertuschen, nachts in den Wald ging, um diese Leiche verschwinden zu lassen“, konterte ich. Nach außen wirkte ich ruhig, doch innen raste mein Herz. An dieser Stelle hing alles von mir ab und das war eine enorme Verantwortung. So viele Leben. Warum hatte ich mich gleich darauf eingelassen? Auch ja, weil mir diese undankbaren Lykaner ans Herz gewachsen waren.

Anwar wurde ein kleinen wenig blass und dann puterrot. „Diese Behauptung ist eine Unverfrorenheit!“

Darauf ging ich gar nicht erst ein. „Nur leider wurde er bei dieser Tat von einem Lykaner beobachtet, der sich diesen Umstand zunutze machte und es, statt damit zu den Wächtern zu gehen, zu seinem eigenen Vorteil ausnutzte, um den Lykanern das Leben ein wenig angenehmer zu machen.“ Ich richtete meinen Blick auf die Mitglieder des Hohen Rats. „Das ist der Grund, warum Anwar von Sternheim die Lykaner aus dem Codex haben wollte. Er musste ihre Glaubwürdigkeit untergraben, damit sein Stand und seine Macht nicht gefährdet werden können. Ich habe Beweise gefunden, die belegen, dass Anwar von Sternheim und das Mitglied des Hohen Rats, Dandil von Sternheim zusammengearbeitet haben, um den Lykaner den Status der Mortatia abzuerkennen. Das Verfahren dass sie geführt haben, war keineswegs neutral, es hatte nur ein Ziel, den Ausschluss der Lykaner und nur wegen ihrer Manipulation haben sie erreicht, was sie wollten.“

„Das ist eine Lüge!“, ereiferte sich Anwar sofort. Dandil dagegen war ganz ruhig. Wahrscheinlich glaubte er nicht daran, dass ich wirklich etwas gefunden hatte.

Der Typ mit den drei Augen neigte den Kopf leicht zur Seite. „Das sind schwere Anschuldigungen.“

„Ich weiß. Und ich werde nicht davon abrücken, weil sie der Wahrheit entsprechen.“ Und darauf vertraute, dass die Gerechtigkeit siegte. Oh, wie kitschig sich das angehört hatte.

Mr. Dreiauge trat ein Schritt nach vorn. „Warum tun Sie das? Sie gehören nicht zu den Lykanern.“

„Die Lykaner sind meine Freunde und meine Familie.“

„Das ist doch lächerlich!“, wetterte Anwar. „Wir rufen noch mehr Wächter und …“

„Und was? Wollt ihr uns niedermetzeln?“, fragte ich ungläubig. „Wir werden nicht freiwillig gehen und wir haben kleine Kinder bei uns, schwangere Frauen und Alte. Wollt ihr wirklich auf ein paar Unschuldige einprügeln, nur weil ein Mann einen solchen Hass auf die Lykaner verspürt? Weil er sich vor ihnen fürchtet? Meine Beweise belegen, dass dieser Mann ein falsches Spiel treibt. Nicht wir sind hier die Tiere!“

Ein Lykaner nach dem anderen warf seinen Kopf in den Nacken und heulte beifallend. Aus hunderten von Kehlen drang dieser durchdringende Klang, der es einem unmöglich machte, seinen eigenen Gedanken zu lauschen. Doch genauso schnell wie er begonnen hatte, hörte er auch wieder auf.

Die Leute auf der Treppe wurden sichtlich nervös. Langsam wurde ihnen bewusst, dass sie sich in einer Falle befanden, aus der sie nicht so schnell herauskommen würden.

Dandil kam mit auf dem Rücken verschränkten Armen die Treppe herunter und baute sich vor mir auf. Ich wich nicht zurück, auch wenn ich es gerne getan hätte. Diesen durchtriebenen Kerl wollte ich nicht in meiner Nähe habe. „Dürfte ich diese Beweise einmal sehen?“

„Kein Problem. Sie müssen mir nur eine Azalee geben, dann kann ich sie Ihnen zeigen.“ Ich tippte mir gegen den Kopf. „Ist alles hier oben drin.“

„So etwas ist keine Beweis, dass können Sie sich selber ausgemalt haben. Es gibt genug Wesen, die dazu in der Lage sind.“

„Ach, Erinnerungen sind also kein Beweis?“, fragte ich süßlich. „Dann ist meine komplette Aussage hinfällig, weil das auch alles Erinnerungen waren. Dann sind auch viele der anderen Aussagen hinfällig, da sie aus der Erinnerung heraus gesprochen haben.“

Wir stierten uns wütend an.

„Was sind das für Beweise“, wollte Mr. Dreiauge wissen.

Ich sah an Dandil vorbei. „Zum einen weiß ich jetzt, wie Allean von Sternheim, oder Noora vom Hochland durch den Schild gekommen sind. Auch dahinter steckt Anwar von Sternheim. Er hat mit ihnen ein Geschäft gemacht. Wenn sie …“

„Das ist eine dreiste Lüge!“, unterbrach der Wesensmeister mich sofort. „Ich will, dass diese Frau sofort verhaftet wird und …“

„Nein“, kam es vom Dreiauge. „Wir möchten hören, was sie zu sagen hat.“

Wir? Meinte er wir im Sinne von der Hohe Rat, oder wir im Sinne von ich-bin-Schizophren-und-habe-mehrere-Persönlichkeiten?

„Sprich“, forderte er mich auf.

Und das tat ich dann auch. Ich erzählte ihnen alles. Von dem Mord, den Anwar begangen hatte, von den Folgen und seiner wachsenden Paranoia. Davon, das er Kaj ausgenutzt hatte, um mit ihrem Wissen und ihrer Hilfe die Lykaner belasten zu können. Von dem Schild und den beiden Toten. Von den Akten, seiner Zusammenarbeit mit den Protestanten, den Karten und dem Buch, das beweist, dass Dandil mit Anwar zusammenarbeitet. Auch die Fotos blieben nicht unerwähnt, genauso wie Tagebücher und Stammbäume. Ich erklärte ihnen auch, dass ich nicht wüsste, wie er an mein Blut gekommen war, aber es doch sehr verdächtig war, dass er es überhaupt hatte, was wollte er schließlich damit?

In der ganzen Zeit, in der ich sprach, war es auf dem Platz mucksmäuschenstill. Niemand unterbrach mich, nicht mal Anwar. Der wurde nur mit jedem meiner Worte blasser und auch Dandil schien nicht mehr ganz so gefasst. Einmal versuchte er mich zu unterbrechen, wurde aber von der Nymphe des Hohen Rats sofort wieder zum Schweigen gebracht.

Fenster am Gebäude wurden geöffnet, um zu sehen, was hier unten los war. Recep rückte leicht von dem Wesensmeister der Stadt ab und Gaare bekam hinter seiner Brille immer größere Augen. Was ich hier erzählte, war einfach unglaublich. Und im Hintergrund wachten die Lykaner still und hofften auf das Beste.

„… alles ist in seinem Haus“, schloss ich. „Sie müssen nur dort hingehen, dort werden sie alle Beweise finden.“

„Woher weißt du das?“, wollte Dreiauge wissen.

Auch darauf hatte ich eine Antwort. „Von meiner Mitbewohnerin Kaj. Sie wurde gezwungen …“

„Das ist nicht wahr!“, brüllte Anwar auf einmal los. Auf seiner Stirn stand Schweiß und in seinen Augen stand die nackte Panik. „Das ist eine Lüge, das hat sie alles nur erfunden. Es gibt absolut nichts …“

„Wenn es nur eine Lüge ist“, sagte Obsessantia und ergriff damit zum ersten Mal das Wort, „dann können wir doch jetzt sofort zu deinem Haus gehen und nachsehen. Wenn wir lügen, dürfte es ja nichts zu finden geben.“

Anwar sah sie mit schreckensweiten Augen an, fuhr sich fahrig durch die Haare, blickte zum Hohen Rat, dann zu den Lykanern, zu mir und wieder zu Obsessantia. Es schien als überlegte er, wie er aus der Sache wieder rauskommen könnte.

„Sieh es ein, Anwar“, sagte ich leise, „es ist vorbei und über den Verbleib der Lykaner im Codes muss neu verhandelt werden.“

„Nein, aber …“ Er sah zu Dandil, doch der schien plötzlich nicht mehr so wortgewandt und spitzfindig wie sonst. „Ich habe es nicht allein getan!“, schrie er dann plötzlich. „Dieser Plan, dass alles, es kam nicht von mir, er hatte die Idee, er hat alles möglich gemacht und Dandil hat geholfen.“

„Sei still!“, zischte Dandil. Seine Augen glühten rot. War das normal?

„Ich gehe sicher nicht allein unter!“, schrie er den Kitsune an. „Dandil hat geholfen, aber eigentlich war das nicht unser Plan, es ging alles von …“

Ein silberner Lichtblitz pfiff haarscharf über unsere Köpfe hinweg, so nah, dass ich den Luftzug spüren konnte. Innerhalb von Sekundenbruchteilen war er über den Platz gefegt. Ich sah nicht genau wie er in Anwars Brust eindrang, es ging einfach zu schnell. Dafür sah ich den Magier zu Boden gehen, bevor er den Namen seines Mitstreiters hatte preisgeben können. Seine toten Augen waren auf die Lykaner gerichtet, als der Donner über den Platz rollte.

 

°°°

 

Alles war schiefgegangen. Nicht nur, dass ich mit den Lykanern nicht nennenswert weitergekommen war, jetzt war auch noch ein Mann tot. Nicht nur ein mächtiger Magier, sondern auch noch der erste Mann der Stadt, ein angesehenes Mitglied der Parlamentäre. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.

Die Lykaner hielt nach wie vor die Stellung, hatten sich nicht einen Mikrometer von ihrem Platz bewegt und hielten an ihrem friedlichen Protest fest, so wie es besprochen gewesen war. Egal was passierte, wir würden uns nicht von der Stelle rühren. Doch ihre Nervosität war deutlich gestiegen und das war gar nicht gut. Nervöse Lykaner waren in einer solchen Situation ein nicht zu kalkulierendes Risiko. Wenigstens konnte dieser Angriff nicht ihnen zugeschrieben werden, denn auch wenn die Lykaner allen Grund hätten, Anwar zum Teufel zu jagen und ihn dort in den ewigen Höllenfeuern tausend Tode sterben zu lassen, so war keiner von ihnen in der Lage aktive Magie zu nutzen und damit kam von ihnen keiner als Täter in Frage.

Welch schwacher Trost.

Ich saß in der vordersten Reihe der Lykaner auf dem Boden und beobachtete die Wächter vor dem Eingang des Ratsgebäudes, die sich um den Leichnam gesammelt hatten. Seit der Ankunft der Lykaner hatte sich ihre Zahl verzehnfacht – wahrscheinlich um uns alle aus der Stadt zu jagen, doch dann war ihnen diese Kleinigkeit dazwischen gekommen –, aber damit hatten wir gerechnet. Nicht aber damit, dass sie uns völlig unbehelligt ließen, denn bisher hatten sie zwar ein wachsames Auge auf uns geworfen, aber nicht mehr getan.

Was hatte Anwar vor seinen Tod sagen wollen? Das war die Frage, die die ganze Zeit in meinem Kopf ihre Kreise zog. Da war außer Anwar und Dandil noch jemand beteiligt? Ein Hintermann, der eigentlich  die Fäden zog? Aber wer? Ich war völlig ratlos.

Am Rande bemerkte ich Gaare, der sich mit ein wenig Hilfe der Wächter von Anwars Seite erhob. Er war zu dem Magier geeilt, sobald er ihn hatte fallen sehen, in der Hoffnung noch etwas ausrichten zu können, doch es war bereits zu spät gewesen. Nun löste er sich aus der Gruppe der Wächter und mächtigen Wesen des Hohen Rats und lief mit hängenden Schultern die Treppe hinab.

Er tat mir leid. Anwar war ein machthungriger Mistkerl gewesen, ja, aber irgendwie auch sein Freund und er hatte zusehen müssen, wie sein Freund fiel.

Unter den Augen der Lykaner erhob ich mich und ging zu ihm hinüber. Er sollte jetzt nicht allein sein, niemand sollte in einer solchen Situation allein sein. Diese Bewegung wurde von den Wächtern sofort mit Argusaugen verfolgt. Hatten die etwa Angst, ich würde Gaare umnieten? Idioten. „Gaare?“

„Hm?“ Der Blick den er auf mich richtete, wirkte nachdenklich. „Ach, Talita meine Liebe, du bist das.“

„Ja, ich. Geht es dir gut?“

„Ich habe gerade einen Bekannten sterben sehen und …“ Er drückte die papierdünnen Lippen aufeinander.

„Komm“, sagte ich und nahm seinen knochigen Arm. „Setzen wir uns da hinten hin.“ Ich führte ihn abseits zu dem kleinen Pavillon auf die Wiese. Die Lykaner konnten auch einen Moment ohne mich herumsitzen und ihre Wache halten. Hier waren wir ein wenig ungestört, doch irgendwie wollte sich kein Gespräch einstellen. Eigentlich hätten Worte des Trostes meinen Mund verlassen sollen, doch was sagte man über einen Mann, der so viel Leid gebracht hatte? Zu sagen: „Als Anwar starb, hatte er endlich mal etwas richtig gemacht, also sei nicht traurig“, kam mir etwas zu herzlos und irgendwie auch unpassend vor.

„Du hast wirklich gute Arbeit geleistet“, durchbrach Gaare irgendwann diese drückende Stille. Seine Finger setzten sich in Bewegung und spielten sinnlos in der Luft herum. Es sah aus, als würde er etwas vor sich in die Luft zeichnen. „Diese Beweise zu sammeln, wie hast du denn nur alles herausgefunden?“

„Das war gar nicht so einfach“, gab ich zu und erinnerte mich nur zu gut daran, wie ich mit Djenan in Anwars Haus eingedrungen war. „Ich muss zugeben, es war nicht Kaj gewesen, die die mir alles erzählt hat, wie ich vorhin behauptet habe. Ich bin deswegen bei Anwar eingebrochen.“

Gaare machte große Augen, die durch seine Brille noch größer wirkten. „Du bist … ist das dein ernst?“

„Ja, wir … ich habe mich ins Haus geschlichen. Aus der Zeit in der ich dort noch gewohnt habe, wusste ich, dass Anwar in seinem Büro eine verborgene Tür hatte.“

„Eine Tür?“

Ich nickte. „Ja, in seinem Büro, versteckt hinter einem braunen Vorhang. Kennst du die?“

Er schüttelte den Kopf, unterbrach dabei seine Arbeit mit den Fingern aber nicht. „Nein, eine solche Tür habe ich nie bemerkt. Und dahinter hast du die Beweise gefunden? Aber woher wusstest du, dass du dort suchen musst?“

„Ich wusste es nicht. Als ich die Tür das erste Mal bemerkt habe, war sie verschlossen gewesen. Es war eigentlich eher Hoffnung, die mich noch einmal dort hingetrieben hat, ein Gefühl, verstehst du?“

Seine Finger bewegten sich in einem immer wiederholenden Muster, den Blick konzentriert darauf gerichtet. Es war irgendwie hypnotisierend.

Ich zuckte mit den Schultern. „Als der Hohe Rat seine Entscheidung verkündet hat … naja, ich musste halt irgendetwas tun.“

Gaare nickte verstehend. „Und die Tür? Wie hast du die geöffnet? Ihre Versiegelung war mit der Magie aus der Caput Vena gespeist. Sie unbefugt zu öffnen, sollte unmöglich sein.“

Seine Worte ließen mich stutzen. Caput Vena? War das nicht diese mächtige Magieader, die mir damals geholfen hatte, mich meiner magischen Seite zu öffnen? Misstrauisch verengte ich die dir Augen – ja, das paranoide Verhalten der Lykaner färbte langsam aber sicher auch mich ab, doch hier stimmte etwas nicht. „Woher weißt du, dass die Tür magisch versiegelt war?“ Diese Tatsache hatte ich nicht erwähnt, da war ich mir sicher. Also woher wusste er es, wenn er von der Existenz der Tür keine Ahnung hatte?

„Ich weiß das, weil …“ Gaare verstummte, als ihm sein Fehler bewusst wurde. „Damit bin ich wohl aufgeflogen.“ Im nächsten Moment machte der Magier mit den Händen eine ruckartige Bewegung in meine Richtung und ich konnte mich nicht mehr bewegen. „Ich weiß das, weil ich selber es war, der den Zauber auf sie gelegt hat.“

Bitte was? Was war denn jetzt los?

„Weißt du Talita, du hättest gehen sollen, als ich es dir gesagt habe.“ In völliger Ruhe, nahm er die Bewegung seiner Finger wieder auf, immer in demselben Muster. „Dann wäre dir so vieles erspart geblieben und auch mir.“

Ich versuchte die Muskeln anzuspannen, den Kopf zu drehen, oder wenigstens mit den Augen zu zwinkern, aber nichts ging mehr. Ich war eingefroren. Scheiße, warum konnte ich mich nicht mehr bewegen? Ich wollte in Panik geraten, oder laut schreien, aber selbst mein Herzschlag beschleunigte sich nicht. Auch die Atmung blieb gleich. Es war, als würde mein Körper von jemand anderem beherrscht und mein Geist sei in dieser Hülle gefangen.

„Jetzt machst du dich aber albern“, schmunzelte Gaare und warf mir einen kurzen Blick zu, bevor er sich wieder auf seine Hände konzentrierte. „Das ist ein einfacher Fluch, mit dem ich dich da belegt habe. Er macht dich einfach nur bewegungsunfähig, ohne dabei deine lebenswichtigen Funktionen einzufrieren. In ein paar Stunden kannst du einfach aufstehen, als wäre nichts passiert.“

Scheiße, hatte er gerade auf meine Gedanken geantwortet?

„Ja, das habe ich.“

Wenn ich gekonnt hätte, wären meine Augen in diesem Moment tellergroß geworden. So saß ich einfach weiter da, als würde ich meinen Gedanken lauschen und dabei die Lykaner beobachten. Aber wie war es möglich, dass Gaare Gedanken lesen konnte? Davon hatte ich noch nie gehört.

„Es ist weniger die Fähigkeit, Gedanken zu lesen, als vielmehr sie zu ahnen. Aber da diese Eingebungen nicht immer sehr stimmig sind, werden sie selten angewandt.“ Er verfiel einen Moment in Schweigen. „Weißt du, Dandil hatte beantragt, mich bei den Vernehmungen dabei zu haben, in der Hoffnung, damit vielleicht etwas herauszufinden, was in den Köpfen der Lykaner so vor sich geht, aber der Hohe Rat hat abgelehnt, weil sie noch als Mortatia galten und das ein Eingriff in die Privatsphäre gewesen wäre. Ich habe Anwar gleich gesagt, dass der Hohe Rat diese Bitte ablehnen würde.“

Der Hohe Rat? Anwar? Dandil? Was hatte Gaare den plötzlich damit zu tun? Und die Tür? Ich … ich … verdammt, was war hier eigentlich los?

„Was hier los ist?“ Gaare schmunzelte. „Hast du wirklich geglaubt, dass Erion und Anwar das alles selbst zustande gebracht haben?“ Er schüttelte den Kopf, als hielte er mich einfach nur für töricht und einfältig. „Erion war nur ein zweitklassiger Magier, mit einem extragroßen Ego und Anwar, der war einfach nur etwas größenwahnsinnig.“

Erion? Aber was hatte der denn jetzt damit zu tun? Was war eigentlich in Gaare gefahren? Ich verstand das einfach nicht.

„In mich ist gar nichts gefahren, ich muss mich einfach nur nicht länger verstellen. Siehst du das hier?“ In seinen Händen flackerte es kurz. Für einen Moment leuchtete aus dem Nichts ein bläuliches Netz auf. Dann war es auch schon wieder verschwunden, doch seine Hände arbeiteten weiter in der Luft, als könnte er das Netz noch sehen und würde es weiter knüpfen. „Das ist der Zauber, den Erion dazu genutzt hat, um die Lykaner unter seine Kontrolle zu bringen. Ich habe ihm den Denkanstoß dazu gegeben. Anwars Sohn war nicht sehr schlau, allein wäre er niemals darauf gekommen, die Wölfe  zu benutzen, um an das Drachenherz zu gelangen, nach dem er so gierte.“

Was?!, wollte ich fragen, du hast ihn auf diese Idee gebracht? Bist du völlig bescheuert?! So viel wollte ich ihm an den Kopf werfen, aber ich konnte nur stumm in meinen Gedanken schreien. Doch ihm reichte das, er ahnte meine Gedanken ja – trief vor Sarkasmus.

„Ja, von mir hatte er diese Idee, ich habe sie ihm im Schlaf eingeflüstert. Doch selbst, als er gewusst hat, was zu tun ist, hat er es nicht auf die Reihe bekommen. Der Zauber wollte ihm einfach nicht gelingen. Ich habe ihn bei seinen kläglichen Versuchen beobachtet.“ Er schnaubte abfällig. „So dumm, so armselig. Ich musste ihm ein weiteres Mal zuflüstern, damit er es schafft. Er hat nie bemerkt, dass eigentlich ich es war, der seinen Zauber geschaffen hat. Sein Geist war so schwach, ganz anders als deiner. Dich habe ich nie manipulieren können.“

Er sagte das mit einem seltsamen Unterton, der mir so gar nicht gefallen wollte. Eigentlich wollte mir an dieser Situation überhaupt nichts gefallen. Seine Finger bewegten sich weiter, unaufhaltsam. Was hatte er nur vor?

„Das, meine Liebe, wirst du noch sehen.“

Sehen? Ich wollte es nicht sehen. Es konnte nichts Gutes bedeuten, nicht wenn das der gleiche Zauber war, den Erion bereits genutzt hatte, als er die Lykaner unterjochte. Hier gab es einfach zu viele Lykaner.

„Oh, es ist nicht der gleiche Zauber, dieser hier ist viel wirksamer.“

Wirksamer?

Seine Augen blitzen. „Es hätte nicht so kommen müssen, aber du musstest dich ja einmischen und meinen sorgfältigen Plan zunichtemachen. Jetzt bleibt mir gar nichts anderes mehr übrig.“

Seinen Plan? Aber ich hatte gedacht, es wäre Anwar gewesen. Hatte ich mich schon wieder getäuscht? Aber nein, ich hatte die Beweise gefunden und Anwar hatte gestanden, kurz bevor er …

Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Anwar hatte gestanden, kurz bevor er gestorben war, kurz bevor er verraten konnte, wer noch in diesen perfiden Plan verstrickt war. Aber … Gaare sollte hinter alledem stecken? Aber wie war das möglich? Mein lieber Gaare würde so etwas doch niemals tun, der war nicht grausam, oder abartig. Gaare war … naja, Gaare eben, einmalig.

„Ja“, sagte Gaare. „Ich bin es, der hinter allem steckt. Schon mein ganzes Leben hege ich den Wunsch die Lykaner zu vernichten, doch leider hat sich nie etwas ergeben. Zumindest nicht, bis Anwar seinen Bruder in einem Streit tötete.“

Das war … die Leiche, die Anwar hatte verschwinden lassen, war sein Bruder?

„Sein Halbbruder, um genau zu sein. Ich habe es ein paar Tage später erfahren. Anwar ist in seinem Büro zusammengebrochen. Die Schuld und die Furcht vor Entdeckung haben den ach so großen Wesensmeister der Stadt in die Knie gezwungen. So fand ich ihn und er hat mir alles gebeichtet.“ Er schwieg einen Moment, in dem sich ein fürchterliches Lächeln auf seinem Gesicht breit machte. „Und plötzlich war die Chance da, auf die ich all die Jahre gewartet hatte. Die Zeit für meine Rache war gekommen.“

Rache? Aber wofür denn?

„Die Rache dafür, dass diese Hunde meine Eltern getötet haben“, presste Gaare zwischen zusammengepressten Lippen hervor. Solch einen Ton hatte ich noch nie an ihm gehört. So dunkel, voller Wut und Hass.

Über uns blitzte und donnerte es, während ich mich fragte, wie Gaare darauf kam, dass die Lykaner seine Eltern getötet hatten.

„Weil sie es getan haben!“, zischte er mich an. „Ich hab es gesehen, damals, als ich noch ein kleiner Junge gewesen bin. Ich hab gesehen, wie sie in unser Haus kamen, wie sie meine Eltern töteten.“

Was? Aber nein, das konnte nicht stimmen, das …

„Willst du behaupten, dass ich mir das ganze Blut nur ausgedacht habe?!“, fuhr er mich an. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt und sprühten vor Hass. „Glaubst du, dass es nur ein Traum war? Ich höre ihre Schreie noch heute im Schlaf, ich höre wie meine Mamá geschrien hat, als sie ihr die Kehle durchgebissen haben. Ihr Röcheln. Ich muss nur die Augen schließen, um alles wieder zu sehen.“

Aber nein, das konnte nicht sein, es musste sich um ein Missverständnis handeln. Da musste noch etwas anderes dahinter stecken. Die Lykaner waren nicht grausam, das wusste ich genau.

„Und ob noch mehr dahinter steckte. Meine Eltern hatten ihnen ihr Land abgenommen. Sie haben ihnen geholfen, als sie in Not gerieten und der Preis dafür war ihr Revier, doch die Lykaner waren der Meinung, dass dieser Preis zu hoch ist und haben sich zurückgeholt, was ihrer Ansicht nach ihnen gehörte.“ Er ballte die Hand zur Faust. „Und der Hohe Rat von damals hat nichts gegen sie unternommen. Sie befanden, dass die Lykaner im Recht waren. Niemand hat sich für den Tod einer Hexe und eines Magiers interessiert, die schon vorher zu Betrügern abgestempelt waren.“

Dazu wollte mir einfach nichts mehr einfallen. Das war ja wie in einem schlechten Krimi. Tote, Blut und Bösewichte, wohin man auch schaute.

Er atmete tief ein und aus, als versuchte er, sich zu beruhigen. „Aber meine Rache begann vor dreizehn Jahren.“ Seine Finger nahmen ihre Arbeit wieder auf. „Der Hohe Rat wollte nichts gegen diese Bestien unternehmen, also nahm ich es in meine eigene Hand. Anwar war leicht zu manipulieren. Ich musste ihm nur immer zureden, dass die Lykaner sich seiner Macht bemächtigen würden, wenn ihnen der Sinn danach stand, dass sie ihn ausnützen würden und ihn eines Tages stürzen würden. Sie hatten ihn voll und ganz in ihrer Hand und waren unberechenbar. Mit der Zeit wurde er leicht paranoid und begann, auf meine Anweisung hin damit, Beweise gegen die Lykaner zu sammeln, um sie sich ein für alle Mal vom Hals zu schaffen. Doch wie auch früher interessierte der Hohe Rat sich nicht genug für die Lykaner, um sich mit diesem Problem zu befassen und egal, wie oft Anwar versuchte, sie aus dem Codex auszuschließen, der Hohe Rat lehnte den Antrag immer ab, ohne ein zweites Mal darüber nachzudenken.“ Er schüttelte den Kopf, als könnte er es immer noch nicht fassen. „Ich bin ein sehr geduldiger Mortatia, Talita und kann warten, wenn ich ein Ziel habe, aber die Jahre zogen dahin und irgendwann ist es auch dem geduldigsten Magier zu viel. Also brauchte ich einen neuen Plan, etwas, dass die Aufmerksamkeit des Hohen Rats auf die Lykaner lenkte und an dieser Stelle kam Erion ins Spiel.“

Über uns zuckte ein weiterer Blitz. Ein Baby weinte, ich konnte es bis hierher hören, aber die Lykaner machten immer noch keine Anstalten, sich von ihren Plätzen zu erheben. Ruhig verharrten sie an Ort und Stelle, aber keiner wurde auf mich aufmerksam, keiner sah in meine Richtung und merkte, dass etwas nicht stimmte. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich ganz auf mich alleingestellt und damit völlig überfordert. Wo war Pal? Wo war Kaj? Aber am wichtigsten, wo war Veith? Ich hatte ihn heute ein paar Mal von weitem gesehen, aber nie die Möglichkeit gehabt, zu ihm zu gehen. Und jetzt war er irgendwo in dieser Menge. Er war in Gefahr, weil dieser Magier etwas plante, für das seine Hände einfach nicht zur Ruhe kommen wollten.

„Wenn der Hohe Rat nur verstehen würde, wie gefährlich die Lykaner waren, dann müsste er endlich reagieren“, sagte Gaare, als hätte er meine Gedanken gar nicht bemerkt, weil er viel zu sehr in seine eigenen vertieft war. „Jedes Wesen auf dieser Welt weiß um die Kraft eines Lykaners, weiß, dass sie in der Lage sind, einen Drachen zu töten und die magische Macht an sich zu bringen, aber etwas zu wissen und es zu sehen, sind zwei verschiedene Dinge. Ich wollte ihnen genau vor Augen führen, damit sie für ihre Taten endlich büßen würden. Ich habe gehofft, diese Situation für meine weiteren Pläne ausnutzen zu können, aber du, meine Liebe, hast mir da leider einen Strich durch die Rechnung gemacht.“

Wie hatte das passieren können, wie hatte ich mich nur so in diesem Mann täuschen können? War ich wirklich so naiv, wie Pal einmal behauptet hatte? Aber ich konnte doch nicht voller Misstrauen durch die Welt gehen!

„Du hast es durch dein Verhalten geschafft, für all das Leid Erion verantwortlich zu machen und die Lykaner waren wieder aus dem Schneider. Du hast meinen Plan gestört, also musste ich dich irgendwie loswerden. Doch du bist so naiv und unschuldig, also, wie könnte ich dir etwas zuleide tun?“ Er schüttelte den Kopf, als fände er den Gedanken selber absurd. „Aber dann, als du verlangt hast, dass Anwar den Schild für dich fertigt, hast du mich auf eine Idee gebracht.“ Er wandte mir den Kopf zu. „Wusstest du eigentlich, dass Anwar in den Schild den Zauber von Erion mit eingewoben hat?“

Was?

„Wenn diese Wölfe nicht unter ihm leben würden, wären sie schon vor Monaten wieder sie selbst geworden. Er gibt die ganze Zeit Magie ab und beschießt die Wölfe damit, damit sie bleiben was sie sind und die Bewohner dieser Stadt in Schrecken versetzten können. Nur die Stärksten von ihnen konnten sich aus dem Zauber befreien. Aber egal.“

Nein, das konnte nicht sein, das durfte nicht stimmen, denn das würde bedeuten … oh Gott, was hatte ich getan?

„Ich habe Anwar das Blut von deinem Arzt besorgt, damit er diese Leute dort hineinschickt. Ich habe gehofft, du würdest Vernunft annehmen und dich von den Lykanern abwenden, aber das tatest du nicht. Dann habe ich mich mit einem Hexenzirkel in Verbindung gesetzt, in der Hoffnung, dich dadurch loszuwerden, aber du wolltest nicht gehen.“

Moment, sollte das heißen, dass der Zirkel des schwarzen Mondes der erste war, mit dem er sich in Verbindung gesetzt hatte?

„Natürlich. Glaubst du wirklich, dass es mit meinen Beziehungen so lange dauern würde, dich nach Hause zu schicken?“

Aber … warum hatte er es dann nicht schon vorher getan?

„Weil ich dich interessant fand“, antwortete er schlicht auf meine unausgesprochene Frage. „Ein Wesen wie dich hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen und ob du es nun glaubst oder nicht, ich war schon immer sehr wissbegierig. Früher bin ich sogar viel gereist, aber das Alter …“ Er ließ das Ende des Satzes offen. „Ich fand dich einfach interessant, aber dann bist du mir in die Quere gekommen.“ Er warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.

Oh, tut mir leid, dass meine Anwesenheit deine Pläne zerstört hat, dachte ich sarkastisch.

„Das sollte es auch, aber das ist jetzt sowieso egal.“ Mit den Armen machte er eine Bewegung, als schüttle er eine Decke auf. Ich sah das bläuliche Netzt aufleuchten, sah wie es emporschwebte und dabei immer größer wurde. Es schwebte hinauf zu den regenverhangenen Wolken, immer höher, genau über die Lykaner und wurde dabei immer größer, solange, bis es den ganzen Platz überspannte. Aber … das … wie war das nur möglich?

„Magie, meine Liebe“, sagte er schlicht und beobachte sein Werk. „Mit Magie ist vieles möglich, wenn man sie nur einzusetzen weiß.“

Dass bläuliche Leuchten des Netzes zuckte immer wieder auf, wenn es von einem Regentropfen getroffen wurde, aber die Lykaner bemerkten es nicht. Keiner bemerkte diesen Zauber, der nur Gefahr für sie bedeuten könnte. Was passierte jetzt? Was hatte Gaare vor?

Der lächelte nur listig. „Wenn eine Handvoll Lykaner, die keine Kontrolle über ihr inneres Tier in sich haben, eine ganze Stadt gegen sich aufbringen kann, was glaubst du würde passieren, wenn jeder Lykaner zu einem Unberechenbaren mutieren würde?“

Ich verstand nicht, was wollte er mir damit sagen.

„Das Netz tränkt den Regen mit dem Zauber, der Regen fällt auf die Lykaner, den Rest wirst du dir wohl selber zusammenreimen können, denn ich muss mich auf den Weg machen. Ich wünsche dir viel Glück, Talita.“ Viel leichter als man es einem so alten Mann zutrauen würde, kam er auf die Beine und verließ den Pavillon. Ich konnte den Kopf nicht drehen, um ihm mit Blicken zu folgen. Ich konnte gar nichts machen, als einfach nur dazusitzen und in meinem Kopf laut zu schreien.

Wenn der Regen mit dem Zauber getränkt wurde, der meine Verlorenen Wölfe geschaffen hat, konnte nur eines passieren, wenn die Lykaner mit ihnen in Kontakt kamen. Dieser Gedanke war so grausam, dass ich ihn mir gar nicht ausmalen wollte.

Wild wanderten meine Augen über die Lykaner, in der Hoffnung, dass irgendeiner von ihnen auf mich aufmerksam werden würde, aber niemand beachtete mich. Ich sah Obsessantia ganz vorn sitzen und hinauf zur Treppe starren. Ich sah Tyge und Prisca, sah noch viele andere Gesichter, von denen mir wenige vertraut waren, aber niemand achtete …

Plötzlich gab es Unruhen zwischen den Lykanern. Ich konnte es nicht sehen, es befand sich außerhalb meines Sichtfeldes, aber ich hörte es. Schimpfen, Rufe und dann ein Knurren.

Die Lykaner wandten sich zu den Unruhen um. Obsessantia erhob sich, um über die Menge blicken zu können. Sie rief etwas, aber ich konnte nicht verstehen. Nur ihr verärgerter Gesichtsausdruck verriet, dass sie sauer war, aber der wich sehr schnell Verwirrung und dann Bestürzung.

Auch Tyge hatte sich erhoben, genau wie eine blonde Wölfin ein Stück vor ihm, die gerade noch so in seinem Sichtbereich war. Nur deswegen sah ich, wie sie sich plötzlich in Schmerzen krümmte und aufjaulte.

Obsessantia wirbelte zu ihr herum, genau in dem Moment, in dem sie sich in eine Hyäne verwandelte und mit wildem, unruhigen Augen um sich blickte. Sie stieß einen verängstigten Laut aus, eine Mischung aus Jaulen und Lachen, dass einem eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Und als Obsessantia versuchte, nach ihr zu greifen, sah ich nur noch, wie die starken Kiefer Millimeter vor ihrer Hand zusammenkrachten. Das warnende Knurren von der Hyäne war bis zu mir zu hören.

Und dann brach das Chaos aus.

Überall verwandelten sich plötzlich Lykaner in ihre zweite Gestalt. Verwirrt und ängstlich bissen sie um sich, oder versuchten die Flucht zu ergreifen. Ihre Rudelkameraden sprangen auf die Beine, versuchten mit ihnen zu reden, sie zu beruhigen, oder einfach nur festzuhalten. Keiner wusste, was los war, keiner außer mir und ich konnte nur tatenlos zusehen.

Nein!, wollte ich schreien. Ihr müsst hier weg, der Zauber hängt unter den Wolken!, aber niemand konnte meine stummen Rufe hören. Sie wurden zu Verlorenen, vergaßen, wer sie waren, warum sie sich hier aufhielten und das die ganzen Wesen um sie, zu ihnen gehörten.

Überall herrschte Aufruhe. Auch die Wächter traten nun auf den Plan und versuchten, die Lykaner in diese gelben Blasen zu sperren, wie sie es schon mit Rojcans Rudel gemacht hatten. Sie versuchten, dieser Übermacht Herr zu werden, doch für jeden Verlorenen, den sie außer Gefecht setzten, tauchten drei neue auf und die Lykaner selber hatten keine Ahnung, was plötzlich in ihre Familien und Freunde gefahren war.

Obsessantia war bereits in der Menge untergegangen. Ich sah wie Tyge Prisca packte und sie wegstieß, als ein Dingo sie anspringen wollte, sah Gesichter auftauchen und wieder verschwinden. Und überall war diese Verwirrung, weil keiner wusste, was eigentlich los war.

Das ganze hatte vielleicht gerade mal zwei Minuten gedauert. Zwei Minuten seit Gaares Verschwinden und … Pal. Da war Pal! Diesen Riesen mit dem roten Schopf würde ich überall erkennen. Hektisch arbeitete er sich durch die Unruhen, blickte sich andauernd um, als suche er nach etwas und dann richtete sich sein Blick auf mich.

Er rief etwas, aber über den Lärm verstand ich es nicht. Bewegen konnte ich mich auch nicht und dass war es wohl, was ihn stutzig machte und ihn in meine Richtung kommen ließ.

Ja, Pal, Hilfe!

Er arbeitete sich durch die Meute, genau auf mich zu, als von der Seite ein Wolf angesprungen kam und ihn mit sich zu Boden riss.

Nein!

Er verschwand aus meinem Sichtfeld. Wo war er? Ich konnte ihn nicht mehr sehen, wo war Pal?! Scheiße, nein, nein, nein, nein, nein! Er war weg, er war weg, er war … da war er. Einen blutenden Kratzer auf der Brandnarbe, tauchte er am Rand des Geschehens auf und rannte über die Wiese auf den kleinen Pavillon zu, die drei Stufen hinauf zu mir. „Talita, steh auf, wir müssen hier weg. Ich weiß nicht, was los ist, aber alle drehen durch. Wir müssen verschwinden!“ Er machte mit der Hand eine auffordernde Handbewegung, der ich nicht folgen konnte, so sehr ich es mir auch wünschte.

Hilf mir, flehte ich mir den Augen und hoffte dass er verstand. Bitte Pal, hilf mir.

Pal sah sich hektisch nach hinten um, als dort ein lautes Jaulen erklang und als er zu mir zurückblickte, sah er das ich mich immer noch nicht bewegt hatte. „Verdammt noch mal, komm endlich!“

Wenn ich nur könnte.

Das war wohl der Moment, in dem er merkte, dass mit mir etwas nicht stimmte. Er runzelte die Stirn und packte mich bei der Schulter. „Talita?“ Leichtes Schütteln. Ich spürte es, das war aber auch alles. „Verdammt, was ist los mit dir.“ Er versuchte meinen Arm zu nehmen, um mich auf die Beine zu ziehen, aber es war, als klebte ich an der Bank. Kein Muskel ließ sich bewegen, ich war eingefroren. „Scheiße, was ist hier los?“

Er ließ von mir ab und hockte sich vor mich, um mir in die Augen sehen zu können. Er brauchte nur eine Sekunde, damit ihm alle Gesichtszüge entglitten. „Du bist verflucht worden“, flüsterte er, als seien die Worte nur für ihn gedacht.

Ja, ja!, wollte ich schreien. Ja, ich war verflucht worden, ich konnte mich nicht mehr bewegen.

Ein entschlossener Zug erschien um Pals Mund. Er stand auf und verschwand aus meinem Sichtfeld. Im nächsten Moment merkte ich, wie die Bank unter mir sich bewegte. Ein Ruck, eine Vibration, etwas knackte.

„Komm schon, komm schon“, zischte Pal angestrengt. Das Knacken wurde lauter, als bräche etwas. Ich spürte wie die Bank sich bewegte. Dann gab es einen heftigen Ruck. Das Holz der Bank splitterte und im nächsten Moment fiel ich auf den Boden. Innerhalb von Sekunden schoss mein Adrenalin in die Höhe und nur durch schnelles zupacken schaffte ich es, nicht aufs Gesicht zu klatschen. Ich hatte … oh mein Gott, ich konnte mich wieder bewegen. „Oh Gott, oh Gott, oh Gott.“

Eine Hand packte mich am Arm und zog mich auf die Beine. „Verdammt, Talita, was ist hier los?“, herrschte Pal mich an.

Ich sah auf das, was mal die Bank gewesen war, Pal hatte sie zerbrochen, einfach durchgebrochen. „Gaare“, sagte ich. Ich konnte wieder sprechen. Ich konnte mich wieder bewegen und wieder sprechen.

„Was?“

„Gaare“, wiederholte ich und machte mich entschlossen auf den Weg. „Gaare steckt hinter alle dem. Er hat mich verflucht und er ist auch hierfür verantwortlich. Er hat einen Zauber gewoben, der sich mit dem Regen verbindet und die Lykaner zu Verlorenen macht. Der ganze Ratsplatz ist betroffen! Er ist Richtung Stadt verschwunden, wir können ihn noch einholen.“ Ich eilte auf die Menge zu. Jetzt brauchte ich Obsessantia. „Er steckt auch hinter den Plänen von Erion und Anwar, er hat mir alles erzählt.“ Verdammt, wo war nur diese Wölfin?

Pal rannte an meiner Seite. „Was?“

„Ich brauche Obsessantia. Wir müssen ihn verfolgen, damit er den Zauber rückgängig machte und jemand muss dem Hohen Rat Bescheid sagen, damit …“ Vor mir tauchte ein Vampir auf. „Recep!“, rief ich und rannte auf ihn zu.

Er fuhr zu mir herum und dieser Umstand wurde von einem Wildhund ausgenutzt, sich auf ihn zu stürzten. Die Verlorenen waren alle so verängstigt und unsicher, dass sie sich auf alles stürzten, was sich bewegte.

Pal griff blitzschnell zu und riss den Wildhund von Recep runter. Er flog durch die Luft und kam jaulend auf der Seite auf, bevor er sich mit eingezogener Rute davon machte. „Regle du das hier, ich suche Obsessantia!“, rief er mir zu und war schon verschwunden.

Der Vampir sprang wieder auf die Beine, aber bevor er sich wieder ins Chaos stürzen konnte, packte ich ihm beim Arm. „Sie müssen zum Hohen Rat gehen, die Lykaner wurden Verflucht. Der Regen macht das, Gaare hat das getan, wir müssen ihn finden, damit er …“

Recep stieß mich zur Seite, nur eine Sekunde, bevor ein Verlorener über mich segelte. Er packte den Wolf im Nacken, drückte ihn auf den Boden und schlug ihm kräftig auf den Kopf. So fest, dass der Wolf einfach bewusstlos zu Boden sank. Das ging so schnell, dass ich es mit den Augen kaum verfolgen konnte.

Oh Gott.

„Und jetzt nochmal zu dem, was Sie eben gesagt haben“, wandte sich der Vampir wieder an mich und zog mich an der Hand auf die Beine.

„Das … es würde zu lange dauern, dass jetzt ausführlich zu erklären. Wir müssen Gaare verfolgen, weit kann er noch nicht sein. Sie müssen dem Hohen Rat sagen, dass die Lykaner verflucht wurden, deswegen führen sie sich so auf.“

Recep sah mich zweifelnd an.

„Bitte, sie müssen mir glauben“, flehte ich ihn an.

Er drückte die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf, als führte er eine innere Diskussion und war dabei, die zu verlieren.

Aus der Menge lösten sich einige Lykaner in ihrer verwandelten Gestalt und rannten vom Ratsplatz. Einige erkannte ich.

„In Ordnung“, sagte der Vampir. „Ich gebe dem Magier vom Hohen Rat Bescheid. Wenn das hier wirklich ein Fluch ist, dann wird er ihn brechen können. Sie bleiben hier und …“

Aus der Menge schoss ein riesigerer, roter Wolf und hielt genau an meiner Seite. Pal. „Komm, steig auf!“

Ich trödelte nicht lange, schwang mein Bein über den roten Riesen und kletterte auf seinen Rücken.

„Halt dich fest!“

Das tat ich. Ohne auf Recep zu achten, krallten sich meine Hände in sein Fell. Ich drückte die Schenkel um seine Flanken zusammen und spürte, wie die Muskeln unter mir arbeiteten, als er von jetzt auf gleich los stürmte. Mitten durch die Menge rasten wir vom Ratsplatz, hinein in die Stadt.

„Ich habe Obsessantia Bescheid gegeben und ein paar haben bereits die Verfolgung aufgenommen“, sagte er, während er um eine Ecke bog. „Wir müssen sie einholen.“

Über uns grollte der Donner und nur Sekunden später erhellte ein Blitz den Himmel.

Auf einem Wolf zu reiten, war ein seltsames Gefühl. Er war kleiner und schmaler als ein Pferd. Ich musste mich stark an ihn klammern und ganz flach auf seinen Rücken drücken, um nicht irgendwo einfach auf der Strecke zu bleiben, wenn er plötzlich abbog, oder zwischen den wenigen Wesen auf den Straßen Slalom lief. Wir bekamen mehr als einmal einen empörten Spruch über Rowdies hinterhergerufen – einmal sogar einen Stinkefinger gezeigt – aber das interessierte keinen von uns beiden. Vor unseren Augen lag nur das Ziel, wir mussten die anderen Lykaner einholen und Gaare finden, damit er den Zauber von den Werwölfen lösen konnte, bevor diese Situation noch komplett eskalierte.

Der Regen machte es uns auch nicht gerade einfacher die Spur der anderen zu finden. Er wusch die Luft, reinigte sie. Zum Glück war die Fährte noch so frisch, dass sie nicht so leicht fortgespült werden konnte.

Auf Pals Rücken jagte ich durch die Straßen von Sternheim. Mortatia sprangen uns hastig aus dem Weg. Moobs und Kutschen wichen eilig aus, wenn wir plötzlich eine Straße überquerten. Empörung und unfreundliche Rufe folgten uns. Der Wind schlug mir ins Gesicht, genauso wie der Geruch der Lykaner, die kurz vor uns hier langgewetzt waren. Und dann entdeckte ich Fang, der hundert Meter weiter um eine Ecke jagte.

„Da sind sie!“

Das hätte ich nicht sagen brauchen, Pal beschleunigte bereits, da hatte ich noch nicht mal ausgesprochen.

Um nicht einfach auf die Straße zu klatschen, musste ich mich praktisch in ihm festkrallen. Als er um die Ecke fegte, streifte mein Knie den Boden, so sehr neigte er sich zur Seite. Weiter vorn entdeckte ich die anderen Lykaner. Tyge und Fang. Kovu, Najat, Cui und Zita. Und da war auch Veith. Ich erkannte ihn sofort und mein Herz zog sich bei seinem Anblick zusammen.

Veith …

Die Wölfe jagten durch die Straßen, auf einen einzigen Punkt vor sich konzentriert, auf den Magier, der auf den Rücken des Glatisant dahin hetzte. Verflucht, wo hatte er dieses Vieh her und warum musste das so verdammt schnell sein?

Pal holte auf und kurz darauf fanden wir uns an der Seite von Fang wieder. Seine Zunge wehte im Wind wie eine Fahne. Ohne einen Ton von sich zu geben, spaltete sich ein Teil der Gruppe ab und verschwanden in einer Seitenstraße. Najat, Cui und noch ein Dutzend anderer Wölfe, auch Veith. Sie verschwanden aus meinem Sichtfeld und mir war sofort klar, was die vorhatten: sie wollten Gaare in die Zange nehmen, ihm den Weg abschneiden. Lykaner in Aktion, sie waren auf der Jagd.

Gleichzeitig drosselten Tyge und Zita das Tempo und mit ihnen alle anderen Wölfe. Vielleicht würde das Gaare leichtsinnig machen und ihn in dem Glauben falscher Sicherheit dazu bringen, auch langsamer zu laufen – vielleicht.

Pal dagegen zog das Tempo noch ein wenig an, um zu den Alphas an der Spitze aufzuschließen. Er gehörte zu keinem Rudel mehr, er unterstand nicht länger seinem Alpha, daher konnte er sich dieses Recht herausnehmen. Eine Einmannarmee mit einer Katze auf dem Rücken – miau.

Für Pal war das kein Problem, er war der schnellste Lykaner in dieser Gegend, nur deswegen hatten wir die anderen überhaupt einholen können.

Über mir vernahm ich den Schrei eines Adlers. Der Schatten von riesigen Schwingen fiel auf uns herunter. Recep flog auf seinem Greif über unsere Köpfe hinweg. Ihm folgte ein Dutzend anderer Wächter auf den gleichen Tieren. Wieder ein Schrei. Dieses Mal so durchdringend und spitz, dass sich mir Härchen im Nacken aufstellten – markerschütternd. Und dann geschahen viele Dinge auf einmal. Der Glatisant erschrak vor dem Schrei und stieg. Den Schlangenkopf schlug er dabei wild nach hinten und haute damit Gaare von seinem Rücken, der noch versuchte, sich auf dem Tier festzuklammern. Zwecklos, er fand keinen Halt und krachte zu Boden. Hart kam er auf und schaffte es gerade noch so sich zur Seite zu rollen, bevor ihn die Hufe des Tieres erwischen konnte.

Ein weiterer Schrei des Greifs und der Glatisant stürmte in heller Panik davon.

Gleichzeitig sah ich Najat, Cui und die anderen von der Seite heranstürmen. Recep lenkte seinen Greif zum Sturzflug über unsere Köpfe hinweg und auch wir kamen in großen Sätzen immer näher.

Gaare sah sich plötzlich in der Falle. Hektisch flog sein Blick umher, keine Chance. Seine Wut zum Himmel herausbrüllend, sandte er nach allen Seiten eine magische Energiewelle ab, die alles mit sich riss, was auf ihrem Weg lag. Auch ich wurde von ihr erfasst und von Pal geschleudert. Mit der Schulter voran krachte ich auf den Boden, schürfte mir die Haut ab und spürte wie sich der Dreck in meine Haut grub. Ein schmererfülltes Jaulen drang an meine Ohren, irgendwo knurrte jemand.

Ich versuchte wieder auf die Beine zu kommen, hier rumzuliegen wäre voll negativ, aber irgendwie waren alle meine Glieder aus Wackelpudding. Mein Brustkorb tat weh, meine Schulter schmerzte und von meiner Haut würde ich besser erst gar nicht anfangen. Nun komm schon auf die Beine, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für ein Nickerchen. Wille war alles. Ich stemmte mich auf die Arme, spuckte Dreck aus und hustete, als ich mich mühsam höher arbeitete. Kleine, rote Tropfen sprühten aus meinem Mund, als mich ein weiterer Hustenanfall packte. Meine Lunge zog sich schmerzhaft zusammen und ich hatte Schwierigkeiten mit dem Luftholen. Scheiße, das war Blut, ich hustete Blut! Was war denn jetzt kaputt?

„Kommt mir nicht zu nahe!“, schrie Gaare.

Ich zwang mich meinen Kopf zu drehen, auch wenn mir alles wehtat und ich am liebsten einfach still in mich zusammengesackt wäre, um hier eine kleine Siesta zu halten.

Die Lykaner hatten Gaare eingekesselt, knurrten und schnappten immer wieder nach ihm, doch er zog unentwegt Magie aus dem Boden und schmiss Blitze nach ihnen, die gleiche Art Blitze, der auch Anwar getroffen hatte, Anwar, der danach nicht mehr aufstehen konnte, nie wieder. In mehreren Reihen standen die Wölfe um ihn herum. Tyge sprang vor, musste aber gleich wieder zurückweichen, um nicht getroffen zu werden – das war haarscharf gewesen.

Ein anderer, ein weißer Wolf versuchte seine Chance zu nutzen und sprang vor. Gaare bemerkte ihn aus dem Augenwinkel, schmiss einen kalten Blitz und der Wolf war bereits tot, bevor der auf den Boden aufschlug.

„Nein.“ Meine Stimme war nur ein Hauch. Gaare war trotz seines hohen Alters einfach zu schnell. Wieder standen mir die Bilder vom Drachengebirge vor einem Jahr vor Augen. So viel Schrecken, so viel Leid. „Nein“, wiederholte ich lauter. Das durfte nicht noch einmal geschehen, ich würde das nicht zulassen.

Ich raffte alle meine verbliebenden Kräfte zusammen und arbeitete mich auf die Beine. Ein Stich brannte in meinem Brustkorb und machte mir das Atmen schwer. So gut wie es ging versuchte ich, den Schmerz zu ignorieren. Mit schweren Gliedern trat ich näher, Schritt für Schritt. Mein Atem ging schwer, feucht. Weitere rote Tropfen verließen meine Kehle in einem erneuten Hustenanfall. Mehr als ein Röcheln bekam ich kaum hin, trotzdem versuchte ich mich zusammenzureißen.

„Gaare!“, rief ich mit lauter, krächzender Stimme. Ein weiterer, schwerer Schritt in seine Richtung. „Gaare, gib auf!“ Noch ein Schritt, husten, weitere Blutstropen. Ich musste mich an einem Lykaner abstützen, um nicht einfach zusammenzuklappen. Auf einem hellbraunen, kleinen Wolf. Kovu. Sein besorgter Blick traf mich.

Die Wächter landeten in einem äußeren Kreis und sprangen eilig von ihren Flugtieren.

„Gib auf, es ist vorbei. Du kannst nicht mehr gewinnen.“

Sein hassverzerrter Blick richtete sich auf mich. „Es ist erst vorbei, wenn ich es sage, meine Liebe.“ Um seinen Mundwinkel zuckte es und das Folgende nahm ich wie in Zeitlupe wahr. Gaare richtete sich auf und erschuf dabei einen neuen Blitz. Er drehte sich leicht und ich wusste was passieren würde, bevor er geschah.

Ich sah Veith ein Stück weiter mit angelegten Ohren und gefletschten Zähnen stehen. Ich sah, wie sich der Blitz aus Gaares Hand löste, kalt und tödlich und genau auf den großen, bösen Wolf zuhielt. Woher wusste Gaare, das Veith es war, dem mein Herz gehörte. Hatte er vorhin doch meinen Gedanken gelauscht?

Plötzlich waren die Erinnerungen da. Unsere erste Begegnung.

Oh. Mein. Gott!

Da stand ein Traum von einem Mann, der fleischgewordene Traum meiner schmutzigen Fantasien, ein richtiger Adonis. Hellbraunes Haar, das ihm in die gelben Augen fiel. Groß, einen ganzen Kopf größer als ich, muskulös, durchtrainiert. Markantes, hartes Gesicht, kantiges Kinn und an der Hüfte hatte er eine lange Narbe. Ich konnte sie auf der leicht gebräunten Haut genau sehen, weil er – schluck – im Adamskostüm vor uns stand. Völlig nackt! Ich konnte wirklich alles sehen und daran schien er sich nicht im Geringsten zu stören.

Unser erster Kuss.

Ohne nachzudenken stellte ich mich auf die Zehenspitzen und verschloss seinen Mund mit meinem. In diesem Moment wusste ich nicht, was mich dazu bewog, aber es erschien mir genau richtig. Es war wahrscheinlich das Falscheste, was ich tun konnte, doch es ging nicht anders. Er gab sich die Schuld für etwas, wofür er nichts konnte. Er hatte Angst um mich gehabt. Deswegen war er so verstört. Und dieser Kuss war meine Art ihn zu beruhigen, wie ich es mit Worten nicht hinbekommen hätte. Er sollte einfach nur wissen, was diese Worte mir bedeuteten, welche Wärme sie in mir auslösten.

Unser erster Tanz der Körper.

So standen wir einen Moment einfach nur unter dem Mondlicht im Teich, während der Regen auf uns niederprasselte und sahen uns an. Er senkte seinen Blick auf seine Hände und ich spürte, wie er sie langsam meine Arme hinauf wandern ließ. Jede Berührung war dabei ein Prickeln, das den Tanz der Schmetterlinge in meinem Magen beschleunigte und mein Herz wie das eines Kolibris schlagen ließ. Immer höher ließ er seine Hände gleiten, bis sie in meinen Nacken angekommen waren, wo sich seine geschickten Finger auf die Haken legten, die mein Oberteil oben hielten.

Ich spürte seinen heißen Atem auf meiner Haut, als er sich zu meinem Hals vorbeugte und seine Lippen dort hauchzart über meine empfindliche Stelle strichen. „Wenn du das nicht willst, musst du mich daran hindern“, flüsterte er mir ins Ohr und biss dann sachte in mein Ohrläppchen, bevor er tief meinen Geruch in die Lungen sog.

Ohne darüber nachzudenken, warf ich mich vor Veith. Ein stechender Schmerz traf mich in den Bauch, ein Schmerz, der mich von innen heraus zu zerreißen drohte. Ich hörte meinen eigenen Schrei. Irgendwer rief meinen Namen. Harter Aufprall. Schmerz. Hände an meinen Wangen. Schmerz. Veiths Gesicht über meinem. Schmerz.

„Ich liebe dich“, flüsterte ich schwach, dann versank die Welt in Dunkelheit, aus der es kein Entkommen mehr gab.

 

°°°°°

Tag 472

„Sie sieht so blass aus.“

Diese Stimme kannte ich. Ein Bild blitzte vor meinem inneren Auge auf. Kovu.

„Na was glaubst du, wie man nach einem solchen Angriff aussieht, wie das blühende Leben?“

Das war Kaj, diesen Tonfall würde ich unter hunderten erkennen.

Ich wollte die Augen aufschlagen, doch sie waren wie zugeklebt. Nichts rührte sich und ich blieb träge schwebend im Nichts hängen.

„Wann wacht sie endlich auf?“

Pal? War er auch hier? Wo war ich?

„Ich weiß nicht. Ich weiß nicht mal …“

Diese Stimme war mir unbekannt. Verdammt, warum bekam ich meine Augen nicht auf? Was war hier eigentlich los?

„Was?“, fragte Pal in einem leicht aggressiven Ton.

Stille.

„Ich weiß nicht, ob sie überhaupt wieder aufwacht.“

„Sagen Sie sowas nicht!“

„Pal …“

„Nein! Ich will das nicht hören. Sie wird wieder zu sich kommen, wir müssen nur warten.“

Meine Gedanken flossen nur langsam und zähflüssig dahin, wie klebriger Honig. Ich wollte aufwachen, doch es gelang mir nicht. Träume umfingen mich und rissen mich in einem Bilderstrom mit sich. Wie Wildwasser spülten sie mich fort und nichts als Dunkelheit blieb zurück.

„Komm zu mir zurück, Talita, bitte, lass mich nicht allein.“

Veith.

 

°°°

 

Ein Pulsieren im Bauch, pochender Schmerz, nur ganz leicht, aber er war da.

Langsam trieb ich aus dem Nebel empor, immer höher, bis ich meinen Körper wieder spürte. Weich, warm, geborgen, das war es, was ich fühlte, das und das unangenehme Ziehen in meinem Bauch. Alles um mich herum war still, aber ich war nicht allein. In der Luft lag einfach diese schützende Gegenwart, jemand wachte über mich, aber wer?

Meine Augen waren schwer wie Blei, trotzdem zwang ich mich die Lider aufzuschlagen. Erst nur ein leichtes Blinzeln, kaum mehr als ein Zucken. Sofort blendete mich das helle Licht des Tages, das durch die Fenster fiel und ich kniff die Augen wieder zu. Ein zweiter Versuch, nur einen Spalt. Alles war verschwommen. Ich erkannte nur, dass ich mich an einem fremden Ort befand. Ein weiteres Zwinkern. Ich entdeckte einen roten Schopf direkt neben mir im Bett – ja, ich lag in einem Bett. Pal saß daneben auf einem Stuhl. Den Kopf auf der Matratze, meine Hand in seiner, schlief er. Im Schlaf hatte er etwas Unschuldiges an sich.

Mir war warm und als ich den Kopf drehte, wurde mir auch klar warum. Kovu lag neben mir im Bett, halb auf mich gekuschelt und hielt mich fest, als hätte er Angst, dass ich mich sonst einfach in Luft auflöse. Seinen Arm benutzte ich als Kopfkissen, sein Bein lag halb über meinen und aus seinem Mund kam ein sehr leises Schnarchen, das mich leicht schmunzeln ließ. Kovu war einfach nur einmalig.

Ich ließ meinen Blick weiter schweifen. Kaj war auch hier. Sie lag zusammengerollt an der Wand nur auf einer Decke auf dem Boden, die Arme schützend um Raissas schlafenden Leib geschlungen. Ihr Haar war wirr, unter den Augen lag ein dunkler Schatten. Sie wirkte erschöpft und unter den Lidern zuckte es unablässig. Die Kleine dagegen lag ganz ruhig da und schlief den Schlaf der Gerechten.

Im Raum befand sich noch ein weiterer Stuhl, an der Wand, mir gegenüber, der von Veith besetzt war. Als einziger schlief er nicht. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, hatte er das Gesicht in den Händen vergraben. Zerschlagen, traurig, hoffnungslos, das waren die Worte, die mir bei seinem Anblick durch den Kopf gingen.

„Sie ist wach!“

Nein, ich war nicht die einzige, die bei Raissas plötzlichen Ausruf vor Schreck zusammenzuckte. Pal sprang erschrocken auf die Beine und Kovu fiel aus dem Bett.

„Ah … verdammt!“, hörte ich den Kleinen schimpfen.

Kaj war sofort neben mir, nahm meine Hand und drückte sie sich an die Wange. „Du bist wach“, weinte sie. „Wir dachten schon … oh danke, du bist wach.“

Pal hatte sich meine andere Hand geschnappt, während Kovu sich wieder auf die Beine rappelte und Raissa dabei half, zu mir ins Bett zu klettern. War das ein Krankenzimmer?

Kaj war hier nicht die Einzige, die heulte, auch Pals Augen wirkten verdächtig feucht.

„Was …“ Ich musste mich räuspern, um etwas durch meine trocknende Kehle zu zwängen. „Was ist geschehen?“

„Schhh, nicht reden.“ Vom Beistelltisch fischte Kaj aus einer kleinen Schale einen halb geschmolzenen Eiswürfel und legte ihn mir auf die Zunge. „Lutsch den, dann geht es besser.“

Danke Frau Doktor.

„Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt“, teilte Kovu mir mit und ließ sich neben Raissa am Fußende aufs Bett sinken. Die ganze Matratze wackelte dabei. Das konnte aber auch daran liegen, dass Raissa vor Freude auf und ab wippte.

„Schatz, lass das“, mahnte Kaj ihre Tochter und schob mir einen weiteren Eiswürfel in den Mund. Es tat wirklich gut, diese Kühle in der trocknenden Kehlte zu spüren. „Talita braucht noch Ruhe.“

„Warum? Du hast gesagt, sobald sie aufwacht, wird alles wieder gut.“

Sobald ich wieder aufwachte? Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass mir etwas Entscheidendes entging. Warum lag ich eigentlich in einem Krankenbett? Und warum schmerzte mein Bauch so?

„Ja, aber sie muss sich noch ein wenig erholen. Pal, kannst du bitte mal den Heiler holen?“

„Klar“, sagte er und richtete seinen drohenden Blick auf mich. „Und du, mach das ja nicht noch mal.“

Was hatte ich denn getan? Verdammt, was war hier eigentlich los?

Pal drückte noch einmal meine Hand und verließ dann den Raum.

„Was ist … was ist geschehen?“, fragte ich noch einmal. Dieses Mal klappte es mit dem Sprechen schon etwas besser, auch wenn die Kehle immer noch kratzte.

„Du hast dich schützend vor einen tödlichen Blitz geworfen, um meinen Bruder zu retten“, sagte Kovu frei heraus. „Im ersten Moment haben wir geglaubt, du bist tot und …“ Er wandte schnell den Blick ab und wischte sich unauffällig über die Wangen.

Was? Ich hatte seinen Bruder gerettet? Mein Blick richtete sich auf Veith, der sich keinen Millimeter von seinem Platz bewegt hatte und die Erinnerung traf mich mit einem Schlag. Der Ratsplatz, Gaare, der Blitz …

Mein ganzer Körper fing an zu zittern. Erst nur in den Fingerspitzen, aber es breitete sich sehr schnell in den ganzen Körper auf. Veith, ich hatte beinahe Veith verloren und …

„Ganz ruhig“, sagte Kaj und strich mir über den Kopf, so wie sie es immer bei Raissa tat. „Du bist aufgewacht, alles ist gut.“

„Aber … was ist passiert? Warum …“

Die Tür ging auf und Pal kam, gefolgt von einem Zwerg in einem weißen Kittel, in den Raum. „Sie haben einen eigentlich tödlichen Silberschweif abbekommen, der Sie nur nicht getötet hat, weil sie kein Lykaner sind“, sagte er mit tiefer, grollender Stimme.

„Bitte?“

Der Zwerg zog unter dem Bett einen Tritt hervor, auf den er sich stellte, um über die Bettkante zu ragen. „Hallo, mein Name ist Heiler Rasporti und Sie haben mir in den letzten Tagen einiges an Kopfzerbrechen bereitet.“

„Oh, das tut mir leid.“ Hallo? Jemand zuhause da oben? Wofür entschuldigst du dich jetzt eigentlich?

Er lachte leicht aus voller Kehle. „Das muss es nicht, schließlich ist das mein Job. Also, wie geht es Ihnen?“ Er zog aus seinem Kittel ein Röhrchen hervor, das am einen Ende aufleuchtete, als er mit dem Finger darüberstrich und untersuche damit meiner Augen.

„Mein Bauch tut leicht weh.“

„Das war zu erwarten.“ Er leuchtete ins andere Auge. „Und wie ist ihr Befinden sonst?“

„Naja, meine Kehle ist ein wenig trocken, aber ansonsten gut. Denke ich.“

„Das hört sich doch schon sehr vielversprechend an.“ Er richtete seinen strengen Blick auf mich. „Sie haben wirklich Glück gehabt und allein die Tatsache dass Sie kein Lykaner sind, hat sie am Leben erhalten.“

Das hatte er eben schon einmal gesagt. „Ich verstehe nicht.“

„Den Silberschweif, den Gaare von Sternheim abgefeuert hat, war auf die Magie eines Lykaners ausgerichtet und daher nur für einen solchen tödlich“, erklärte Kaj. „Aber du bist kein Lykaner und das war wohl das erste Mal, dass ich dafür wirklich dankbar war.

Das heißt, hätte ich mich nicht vor Veith geworfen …

Meine Augen schnellten zu meinem großen, bösen Wolf. Oh Gott.

„Aber Sie wurden trotzdem stark in Mitleidenschaft gezogen und wir haben fast drei Tage um Ihr Leben gebangt.“

„Drei Tage?“

Er nickte. „Ja, ihr Zustand hat sich erst  gestern stabilisiert.“

Das hieß, drei Tage und gestern … „Ich war vier Tage ohne Bewusstsein?“

„Ja, aber jetzt sollte alles wieder in Ordnung kommen. Sie sind eine Kämpfernatur, ihr Körper hat sich gegen die fremde Magie gewehrt und dass ist es, was Sie gerettet hat.“ Er steckte seine Lampe zurück in den Kittel und stieg wieder von dem Tritt herunter. „So, ich werde dann mal der Schwester Bescheid geben, damit sie Ihnen etwas zu essen bringt. An sie können Sie sich auch wenden, wenn Sie etwas brauchen. Ansonsten werde ich in ein paar Stunden noch einmal vorbeischauen, um mich zu versichern, dass alles in Ordnung ist. Außer natürlich, sie wollen noch etwa wissen?“ Er ließ es in einer Frage ausklingen.

Wissen wollte ich noch eine ganze Menge Dinge, ab nichts davon könnte mir ein Heiler beantworten. „Nein, ich … mir geht’s gut.“

„Schön, dann sehen wir uns nachher.“ Er wandte sich an mein Belagerungsteam. „Und Sie alle sorgen bitte dafür, dass Frau von München sich nicht so sehr aufregt. Sie braucht jetzt Ruhe.“

Alle nickten artig. Doch es hielt gerade mal bis zu dem Moment, als die Tür hinter dem Arzt ins Schloss gefallen war.

„Was ist passiert?“, fragte ich wieder. Langsam glaubte ich, dass ich einen Sprung in der Platte hatte. „Ich meine, nachdem ich …“ Ich warf einen Blick zu Veith herüber. Er hatte sich immer noch nicht bewegt. Was war nur los? „… nachdem ich bewusstlos wurde.“

„Meinem Papá ist es gelungen, Gaare zu überwältigen“, erzählte der Kleine. „Er schien irgendwie geschockt darüber, dass er dich getroffen hat und hat nicht mehr aufgepasst.“

Ja, wahrscheinlich, weil er mich für naiv und unschuldig hielt, warum auch immer. Sein Hass galt nicht mir.

„Jetzt sitzt er hinter Schloss und Riegel und wartet auf seine Verhandlung.“

„Und Dandil?“

„Der wurde aus dem Hohen Rat entlassen und sitzt nun seine Strafe wegen Verschwörung ab“, sagte Pal. „Im Haus von Anwar hat man alle Beweise gefunden, die dafür nötig waren.“

Ich traute mich fast nicht es zu fragen. „Und was heißt das jetzt für die Lykaner?“

Pal setzte sich wieder neben mich auf den Stuhl. „Es bedeutet, dass wir wieder als Mortatia gelten, da alles ein großes Komplott gegen uns war. Der Hohe Rat hat zwei Tage durchgehend darüber debattiert und es wurde entschieden, dass dieses Verfahren bereits auf einer falschen Basis eröffnet wurde und wurde wegen fehlerhafter Führung und Manipulation für nichtig erklärt.“

„Und solange da jetzt nicht noch ein Größenwahnsinniger aus irgendeiner Ecke gekrochen kommt, tut der Hohe Rat einfach so, als hätte es diese ganze Angelegenheit niemals gegeben“, fügte Kovu hinzu.

„Einfach so?“ Das war kaum zu glauben.

„Sie haben uns noch mitgeteilt, dass wir eine Lehre daraus ziehen sollen, damit so etwas nie wieder passieren kann“, erklärte Kaj mit einem leichten Grollen in der Stimme.

„Also ist wieder alles beim alten?“ War es wirklich so einfach?

„Naja, fast alles. Für die Kitsune wird ein neuer Vertreter im Hohen Rat gesucht und es stehen Wahlen bevor, da die Stadt nun ohne Wesensmeister ist. Wir werden auf der Straße immer noch schräg angesehen und es gibt immer noch einige Leute, die offen gegen uns hetzten, aber da wir eh bald wieder zurück in unseren Revieren sind, hat das keinerlei Bedeutung.“

So wie der Kleine das sagte, hatten sie wohl doch nichts daraus gelernt. „Sind die Lykaner schon alle weg?“

„Die meisten. Najat treibt sich, glaube ich, noch in der Stadt rum und mein Rudel ist auch noch hier, wegen dir.“ Der Kleine sah mir fest in die Augen. „Sie wollen nicht gehen, bevor sie wissen, dass mit dir alles in Ordnung ist.“

„Und die …“ Ich biss mir auf die Lippen und warf einen vorsichtigen Blick Richtung Veith.

Kovu schüttelte den Kopf. „Nein, die sind schon weg, nur er ist noch hier und von den Rajawölfen habe ich gestern auch noch ein paar gesehen, aber ansonsten …“

Die Tür zu meinem Zimmer wurde geöffnet und eine freundlich aussehende Krankenschwester mit Tentakeln statt Armen, brachte ein Tablett herein. „Ah, wie schön, dass Sie aufgewacht sind“, flötete sie und schob Pal leicht zur Seite, um das Essen auf meinem Nachttisch abzustellen. „Wie geht es Ihnen denn, alles gut überstanden?“

„Ähm … ich denke ja.“

„Das hört man doch gerne. Wenn Sie etwas brauchen, dann rufen Sie nur nach mir und ich bin sofort für sie da.“

„Danke.“

Sie winkte ab. „Aber dafür brauchen Sie sich doch nicht zu bedanken, das ist meine Berufung. Aber jetzt werde ich sie wieder allein lassen und passen Sie auf, dass Sie sich nicht überanstrengen, Sie brauchen noch Ruhe.“

Ich nickte artig.

„Nun gut, dann werde ich Sie mal wieder allein lassen.“ Sie stelzte zur Tür. „Und immer daran denken, nur rufen und ich bin sofort da.“

„Werde ich.“

„Schön.“ Sie warf allen im Raum noch einen mahnenden Blick zu, damit sie auch ja lieb zu mir waren und mich nicht ärgerten und schloss dann die Tür beim Hinausgehen hinter sich.

Kovu schüttelte sich. „Woha, die ist echt gruselig.“

„Ich mag sie“, kam es von Raissa.“

„Ja, aber auch nur, weil du klein und süß bist und sie dir immer etwas Leckeres zusteckt, wenn sie dich sieht.“

„Gar nicht wahr!“, protestierte sie und blies die kleinen Bäckchen auf. „Sie ist nett, darum mag ich sie.“

„Geht es den Lykanern den gut? Ich meine, wegen dem Zauber von Gaare“, unterbrach ich die beiden Kindsköpfe, bevor sie anfingen sich gegenseitig die Zungen rauszustrecken. Nein, Moment, zu spät. Da taten sie es schon. Und mit was für einer Leidenschaft. Wie hatte Tyge das eine Mal so schön gesagt? Welpen. Dieses eine Wort drückte alles aus.

„Ja. Der Magier des Hohen Rats konnte den Zauber ziemlich schnell brechen und alle sind sofort wieder normal geworden“, antwortete Pal. „Sie waren wohl schon dabei das Problem zu beheben, als die Wächter bei uns auftauchten.“

Gott sei Dank. „Also gibt es nicht noch mehr Verlorene Wölfe.“

„Es gibt gar keine Verlorenen Wölfe mehr“, haute Kaj da zu meiner Überraschung raus.

Ich guckte sie an wie ein Pferd. „Was soll das heißen, es gibt gar keine mehr?“ 

„Naja, nachdem Anwar gestorben ist, ist der Schild zusammengebrochen. Die Wölfe haben sich zwar noch einige Zeit im Dschungelpark versteckt und waren etwas verwirrt, aber sie haben sich zurückverwandelt, alle. Keiner weiß warum.“

Doch, ich wusste es. Gaare hatte es mir gesagt. „Weil das Schild weg war.“

Pal sah mich fragend an.

„Ich weiß es von Gaare. Anwar hat das Schild so konzipiert, dass es pausenlos Magie auf die Lykaner abgegeben hat, die sie weiter in diesem desolaten Zustand gehalten hat. Nur die stärksten Lykaner schafften es mit der Zeit, sich gegen den Zauber zur Wehr zu setzen. Ohne den Schild wären sie schon lange geheilt gewesen.“

Das brachte mir eine Menge erstaunte Blicke ein.

„Es tut mir leid“, sah ich mich gezwungen, mich zu entschuldigen. „Hätte ich es gewusst, dann …“

„Du kannst nichts dafür. Woher hättest du es wissen sollen?“, sagte Kaj sofort. „Mach dir also keine Gedanken. Es gab nur einen der dafür verantwortlich war und der ist jetzt tot.“

Da war wohl etwas Wahres dran. „Aber hätte ich nicht so drauf gepocht, dass Anwar als Strafe dieses Schild errichten muss …“

„Geschehen ist geschehen“, sagte Pal. „Sich jetzt Vorwürfe zu machen, würde auch nichts bringen. Es ist sehr viel schief gegangen, aber jetzt wird alles wieder besser.“

Das hoffte ich. Aber wenn ich diesen Wolf da drüben auf dem Stuhl so sah, konnte ich nicht so recht daran glauben. Er hatte mich noch nicht einmal angesehen, noch nicht ein Wort gesagt, seit ich die Augen aufgeschlagen hatte. Was war nur los? Ich wollte seine Stimme hören, von ihm in den Arm genommen werden, ihn bei mir wissen und hören, dass alles wieder gut würde. Nur wenn er das sagte, konnte ich das auch glauben, aber er saß einfach nur still da.

Kaj folgte meinem Blick. „Er hat nicht einmal dieses Zimmer verlassen, seit er dich hergetragen hat.“

Er hatte mich hergetragen?

„Ich glaube, er macht sich Vorwürfe, dass du den Blitz abbekommen hast, der eigentlich für ihn gedacht war“, fügte sie noch hinzu.

Nein, das war es nicht, aber wie sollte sie das wissen? „Veith?“

Er reagierte nicht, blieb einfach auf seinem Stuhl sitzen.

Verdammt, ich musste … ich wusste nicht was ich musste. „Könnt ihr uns bitte einen Moment allein lassen?“

Kaj warf mir einen zweifelnden Blick zu, doch das Flehen meiner Augen erweichte sie. Seufzend hob sie Raissa vom Bett. „Komm, wir gehen jetzt auch erst mal etwas essen.“

„Jaaa!“, machte sie und hüpfte auf dem Weg zur Tür an der Hand ihrer Mamá auf und ab. „Darf ich mir etwas aussuchen? Darf ich ein Eis, oder … nein, ich will …“

„Wir werden sehen“, unterbrach Kaj ihren Gartenzwerg und öffnete die Tür. Pal folgte ihr, doch nicht ohne ein: „Aber denk dran, keine Aufregung.“

Da konnte ich nur die Augen verdrehen.

Kovu gab mir noch einen Kuss auf die Wange und flüsterte mir ein „viel Glück“ ins Ohr, bevor er aus dem Bett stieg und den anderen hinterher eilte. „Hey, wartet auf mich!“ Die Tür ging zu und ich war mit meinem großen, bösen Wolf allein. Zum ersten Mal seit fast einer Woche wie mir klar wurde. Genauso lange war es auch her, dass ich das letzte Mal seine Stimme gehört hatte, oder ihn berühren konnte, aber auch wenn wir jetzt allein waren, regte er sich immer noch nicht.

„Veith?“, versuchte ich es noch einmal, doch wieder kam er nicht zu mir. Kein Wort, keine Regung. Was war nur los? „Veith bitte.“ Ignorier mich nicht, tu nicht so, als würdest du mich nicht hören.

Da, er ballte die Hände zu Fäusten und drückte sie sich gegen den Nasenrücken. Dann stand er zwar auf, ging aber zum Fenster, nicht zu mir. Ich sah die Anspannung in seinen Schultern, als er die Hände auf dem Fensterbrett abstützte. „Du hättest sterben können“, kam es sehr leise von ihm.

Endlich, endlich! „Und du wärst gestorben“, gab ich genauso leise zurück, denn der Zauber war auf ihn ausgelegt gewesen, nicht auf mich. „Veith?“ Als er wieder nicht reagierte, schlug ich die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Vorsichtig setzte ich einen Fuß nach dem anderen auf, um zu testen, ob sie mein Gewicht nach der langen Liegezeit auch tragen würden. Ein bisschen wackelig waren sie schon und meine Muskeln protestierten ohne Ausnahme, aber ich hatte ja auch nicht vor, einen Marathon zu bestreiten, ich wollte nur die drei Meter vom Bett bis zum Fenster schaffen und die waren drin. Hoffentlich.

Vorsichtig, einen Fuß vor den nächsten setzend, ging ich zu ihm. Mit den Fingern berührte ich den angespannten Rücken und fühlte das Zittern, das seine Haut überlief. Er war zum Zerreißen gespannt und ihn so zu sehen, tat mir weh. „Veith.“ Von hinten schlang ich meine Arme um seine Mitte, kuschelte mich fest an seinen Rücken, sog dieses vertrauten Geruch ein, der für mich nicht nur Geborgenheit, sondern auch Sicherheit bedeutete und dankte dem Herrgott im Himmel – an den ich nicht glaubte – dafür, dass mein großer, böser Wolf es auch zuließ.

„Als du da lagst … als du …“ Er atmete schwer ein und ließ den Kopf hängen. „Tu mir das nie wieder an. Dich so zu sehen … mach das nie wieder“, sagte er schwach.

Mein großer, böser, starker Wolf, er hatte Angst um mich gehabt. Ich drückte mein Gesicht fester an seine Haut. „Nie wieder“, versprach ich, denn auch ich wollte ihn nie wieder so sehen, so verletzt und verzweifelt.

Seine Hand fand meine. Er nahm sie von seinem Bauch und zog sie hoch zu seinem Gesicht, wo er einen zarten Kuss drauf hauchte. Eine Berührung, zart wie der Flügel eines Schmetterlings und sie war intimer als alles, was wir bisher miteinander geteilt hatten.

 Er ließ meine Hand wieder sinken, drehte sich in meinen Armen herum und nahm mein Gesicht zwischen seinen Händen gefangen. Das war der Moment, in dem ich zum ersten Mal ungehinderten Einblick in seine Seele hatte. Ich konnte jedes Gefühl in seinen Augen lesen, die für mich so offen waren wie die Himmelspforten für einen Engel. Wut, Angst, Hoffnung, Verzweiflung. Alles stand in ihnen und als er seinen Kopf senkte und seine Lippen auf meine legte, spürte ich etwas, wovor ich mich die ganze Zeit gefürchtet hatte: Abschied.

Der Moment war gekommen, das Böse war besiegt und für die Lykaner bestand keine Gefahr mehr. Es war von Anfang an klar gewesen, dass dieser Augenblick kommen würde, dass es ein Uns nur gab, solange er in Sternheim war und trotz der vielen Stunden, die wir zusammen verbracht hatten, war alles nur ein Wimpernschlag gewesen. Viel zu kurz.

Eine Träne löste sich aus meinem Augenwinkel, als mir die volle Bedeutung dieses Augenblicks klar wurde. Er würde gehen, er würde mich verlassen.

Er löste seine Lippen, legte seine Stirn an meine und schloss die Augen. „Nicht weinen.“

„Das sagst du so einfach“, schniefte ich und versuchte jede Sekunde dieses Moments in mein Herz zu bannen, damit ich sie niemals vergaß. Seine Berührung, sein Geruch, dieses Gefühl, dass nur er bei mir auslösen konnte.

Ich klammerte mich an ihn, wollte diesen Augenblick in die Länge ziehen, ihn niemals loslassen, doch das Schicksal war ein gemeines Aas. Die Tür ging mit einem Klicken auf und auch wenn wir auseinandersprangen, als sei zwischen uns plötzlich ein Feuer ausgebrochen, wussten wir doch beide, dass es zu spät war. Das was wir die ganze Zeit hatten verheimlichen können, war nun aufgeflogen, man hatte uns erwischt.

Verunsichert sah ich zur Tür, wo Tyge mit einem seltsam undurchdringlichen Gesichtsausdruck stand. Keine Regung verriet, was er dachte, als er uns sah. Er schloss nur wortlos die Tür von innen und fixierte seinen Sohn.

„Ich sollte dann jetzt gehen, Cui wartet sicher schon auf mich“, sagte Veith. Kurz wanderte sein Blick noch in meine Richtung, dann drehte er sich entschlossen weg und ging auf die Tür zu.

Ich konnte mich nicht mehr länger zusammenreißen. Die Tränen brannten in den Augen und drohten überzulaufen. Mit einem trockenen Schluchzen wandte ich mich von den beiden weg, um nicht sehen zu müssen, wie mein großer, böser Wolf mich verließ, um in sein Leben zurückzukehren. Ein Leben ohne mich. Aber ich würde nicht zusammenbrechen, das schwor ich mir. Ich würde aufrecht stehen bleiben, wenigstens bis zu dem Moment, wenn die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Erst dann würde ich es mir gestatten, meinem Kummer nachzugeben.

„Veith, warte“, sagte Tyge und augenblicklich verstummten Veiths Schritte. „Du weißt, dass du das nicht tun musst?“

Er schwieg eine Weile, als müsste er sich zwingen, nicht das zu sagen, was er wollte. „Das ist mein Weg“, kam es dann schlussendlich aus seinem Mund.

„Dein Weg führt dich in eine Sackgasse“, sagte Tyge. „Unter den Frauen in deinem Rudel wirst du nicht finden, was du suchst. In keinem Rudel, weil du dir bereits eine Gefährtin genommen hast und sie ist kein Lykaner.“

Als Veit auf diese Worte nicht reagierte, machte Tyge einen Schritt auf ihn zu.

„Du bist mein Sohn und das Einzige, was ich will ist, dass du glücklich bist. Die Ehre ist mir dabei völlig egal. Geh mit deiner Gefährtin in eine Welt, in der ihr beide glücklich werden könnt, du bist deiner Mamá nichts mehr schuldig.“

„Ich bin der Testiculus.“ Mit diesen Worten verließ er den Raum und nahm mein Herz gleich mit.

In diesem Moment hatte ich keine Träne, obwohl ich einfach nur heulen wollte. Das Einzige, was er mir ließ, war eine tiefe Leere, von der ich nicht wusste, ob sie sich jemals wieder füllen würde – oder es überhaupt wollte.

Warum musste es so wehtun, ihn gehen zu lassen? Warum halfen die Erinnerungen an die gestohlenen Stunden mit ihm nicht?

„Er ist genau wie seine Mamá“, sagte Tyge leise.

Der Frau, der er dieses dumme Versprechen gegeben hatte? Sie war schon lange tot und konnte mir jetzt auch nicht mehr helfen.

„Meine Gefährtin, Asmara. Kovu mag ihr von meinen Kindern äußerlich am ähnlichsten sein, doch ihr Wesen hat Veith geerbt. Das Wohl der anderen geht immer vor. Pflicht, Verantwortung und Ehre. Sie hätte alles gegeben, damit ihre Familie und ihr Rudel glücklich ist und stolz auf sie sein kann. So war sie nun einmal und so ist auch er.“

Dann sollte ich mich wohl bei dieser Frau dafür bedanken, das Veith war, wie er war. Dass er Ehrgefühl über sein eigenes Glück stellte und nicht nur sich damit unglücklich machte. Ach, was beklagte ich mich eigentlich? Veith war der Wahnsinn, genauso wie er war. Niemand war perfekt. Ich nicht und er auch nicht und nun musste ich lernen damit zu leben. „Es ist schon in Ordnung“, sagte ich stumpf und versuchte den Schmerz bei dieser Lüge zu verdrängen. „Er hat von Anfang an klargestellt, was passieren würde. Ich dachte nur …“ Mist, jetzt brach mir auch noch die Stimme weg.

Ich schlang die Arme um mich selbst, um dieses Gefühl vom Auseinanderfallen zu verhindern, doch es half nicht, ich zerbrach innerlich. Stück für Stück zersplitterte ich in Scherben. „Es war dumm von mir, mehr zu wollen.“

Tyge seufzte und machte einen Schritt auf mich zu. „Talita, du musst …“

Ich sollte nie erfahren, was ich musste, denn genau in diesem Moment schlug die Tür mit einem Knall auf und ein Wirbelwind aus knallbunten Tüchern fegte in das Zimmer. „Talita, endlich bist du wach. Seit diesem schrecklichen Zwischenfall war ich jeden Tag hier, um dir die gute Mitteilung zu bringen. Ich habe schon geglaubt, du schläfst nur, um mich zu ärgern. Aber jetzt lass dich erst mal kräftig drücken.“

Und dann erlitt ich für einen kurzen Moment Atemnot, als sie mich mit dem Gesicht voran an zwei ausladenden Brüste drückte. „Boudicca, was …“

„Ich habe exzellente Nachrichten für dich.“ Sie schob mich eine Armlänge von sich weg und musterte mich mit einem Schnalzen am Ende. „Du siehst fürchterlich aus, weißt du das? Du solltest mehr essen. Und duschen. Du riechst als sei seit Tagen kein Wasser an deine Haut gekommen. Dieser Geruch nach Hund hängt an dir, nein, das geht gar nicht.“

Oh, vielen Dank auch. Wer wollte sowas nicht hören, wenn er dem Tod gerade von der Schippe gesprungen war und nach einem mehrtägigen Koma, erst ´ne Stunde auf den eigenen Beinen stand? Oh ja, Moment, jeder! „Sind Sie nur hier, um mich mit Liebenswürdigkeiten zu überhäufen, oder hat Ihr Besuch noch einen anderen Grund?“ Nein, im Augenblick war mein Depot an Nettigkeiten erschöpft. Ich hatte einfach keine Kraft mehr dafür und es war mir auch egal, was diese Hexe von mir dachte, oder mit mir machte. Das Wichtigste in meinem Leben war gerade zur Tür hinausspaziert und damit war alles andere egal geworden.

„Hörst du den nicht zu? Ich habe gute Neuigkeiten für dich.“ Sie trat einen Schritt zurück und inspizierte mit einem leicht angewiderten Gesicht das Zimmer – entsprach wohl nicht ihrem Geschmack. „Der Zirkel des schwarzen Mondes hat sich dazu entschlossen, seine Entscheidung noch einmal zu überdenken, nachdem wir von den Vorfällen der letzten Tage gehört haben und den Angriff auf die Hexe einer Prüfungen unterzogen haben. Wir haben entschieden, unseren Rückzug zurückzuziehen und deiner Bitte jetzt doch zu entsprechen. Wir schicken dich zurück in deine Welt!“ Am Ende kreischte sie vor Freude auf und klatschte begeistert in die Hände, als wollte sie sich selber Applaus für dieses Meisterstück leisten.

„Was?“ Ich verstand nicht ganz und stand da wie erstarrt.

„Ist das nicht toll? Du kannst endlich zurück nach Hause und dann kommen deine Erinnerungen auch zurück, ganz bestimmt.“

Nach Hause. Irgendwie war dieser Gedanke seltsam. So lange hatte ich dahin zurückgewollt, woher ich gekommen war, nur um etwas zurückzuholen, was in der Vergangenheit lag. Doch jetzt war das egal. Ich hatte etwas viel wichtigeres verloren und das würde ich auch nie wieder bekommen. Veith war weg, doch wenn ich hinüber in die andere Welt ginge, würden die Erinnerungen an ihn bleiben. In diesem Fall würde mir kein Vergessen helfen, der Schmerz, der drohte mein Herz zu zerreißen, würde sich in mir festkrallen.

„Talita? Stimmt etwas nicht? Warum freust du dich denn nicht? Das sind doch gute Nachrichten, oder?“

Mein Blick glitt zu Tyge, der stumm im Raum stand und auch nicht sehr glücklich wirkte. Würde er mich vermissen, wenn ich ginge? Und die anderen? Ich würde niemals zu den Lykanern gehören, egal wie sehr ich mir das wünschte und da die Verlorenen Wölfe nun alle wieder genesen waren, gab es nichts mehr, was mich hier noch hielt.

Boudicca neige den Kopf leicht zur Seite. „Talita?“

Kein Veith.

„Was hast du denn, Kleines?“

Niemand mehr der mich braucht.

„Freust du dich den gar nicht?“

Unnütz. „Doch, natürlich.“ Ich zwang ein Lächeln auf meine Lippen und hoffte, dass es nicht so verkrampft aussah, wie es sich anfühlte. „Ich möchte dir und deinen Schwestern danken, ich bin wirklich dank …“ Den Rest der Worte verschluckte ich, als Veith mit böser Miene in den Raum gestapft kam und sich bedrohlich vor mir aufbaute. Nur eine Sekunde lag sein Blick auf mir, dann nahm er mein Gesicht entschlossen zwischen seine Hände und dann spürte ich auch schon seine Lippen auf den meinen. Ich war so überrumpelt, dass ich im ersten Moment gar nicht reagieren konnte, mein Hirn schaffte es einfach kaum, diesen Moment zu verarbeiten und seinen drängenden Lippen entgegenzukommen.

Erst als er einen Hauch von Luft zwischen unsere Münder ließ, erwachte mein Herz wieder stotternd zum Leben. Trotzdem verstand ich nicht, was das zu beuten hatte.

„Mein Papá hat Recht. Ehre bedeutet gar nichts, wenn ich deswegen das Wichtigste in meinem Leben verliere“, hauchte er an meinem Mund. „Das hätte meine Mamá auch nicht gewollt.“

Mir stockte der Atem. Sollte das wirklich das bedeuten, was ich glaubte? Ich wagte kaum zu hoffen.

„Ich gebe dich nicht mehr her.“ Seine Nase streifte meine, als er meinen Geruch tief aufsog. „Nie mehr.“ Und dann lagen seine Lippen wieder auf meinen und mein Herz drohte vor Freude zu explodieren. Er hatte sich gegen den Testiculus und für mich entschieden! Das war so unglaublich, dass es gar nicht richtig in meinen Kopf wollte. Das konnte nur ein Traum sein, das … Moment, träumte ich vielleicht?

Abrupt löste ich mich von ihm und sah, wie auf seiner Stirn wieder diese kleine Falte entstand. „Ist das dein ernst?“

Sein linker Mundwinkel wanderte langsam nach oben. „Mein vollster Ernst. Du, Talita Kleiber von München, gehörst mir.“

Oh wow, ganz schön besitzergreifend. Aber das gefiel mir. „Und du bist auch kein Traum?“

„Fühle ich mich wie ein Traum an?“

Das ließ ein Lächeln auf meinen Lippen entstehen. „Immer. Du bist mein Traum.“

„Dann hoffe ich, dass du niemals aufwachen wirst.“

War dieser Moment wirklich echt? Es gab nur einen Weg das herauszufinden. Ich schlang meine Arme um seinen Nacken, zog ihn zu mir und dieses Mal war ich es, der unsere Lippen miteinander verband. Es war … Gott, dieses Gefühl war kaum zu beschreiben. Er war hier, direkt vor mir in meinen Armen und nun gehöre er endlich mir.

Die Welt um uns herum verblasste, als er seine Hände von meinem Gesicht löste und mich mit einem Knurren an der Taille packte, damit ich ihm nicht entkommen konnte. Dabei sollte doch eigentlich ich es sein, die ihn fesselte, weil er ständig abhaute. Ich schmiegte mich mit dem ganzen Körper an ihn, lächelte in den Kuss hinein und genoss es in seiner Wärme zu stehen. Niemals wieder würde ich ihn gehen lassen. Für jetzt und alle Zeit gehörte er mir und diese Schnepfen aus seinem Rudel sollten nur versuchen, sich ein weiteres Mal an ihn heranzumachen, dann würde ich ihnen zeigen, wie scharf meine Krallen waren.

„Oh, wow“, kam es von Boudicca. „Ist es hier drinnen plötzlich so heiß, oder bin ich das etwa?“ Sie beäugte Tyge und zwinkerte ihm lasziv zu, was diesen dazu veranlasste, sich schnell einen Schritt von ihr zu entfernen und sie misstrauisch im Auge zu behalten.

Ich bekam davon gar nichts mit, war völlig gefangen in meiner eigenen Welt. Veith hatte sich für mich entschieden. Ich konnte es kaum glauben, er gehörte nun mir, mir ganz allein und kein Lykaner würde uns trennen können, dafür war mein großer, böser Wolf einfach zu stur.

Ich wusste nicht, wie lange wir dort standen und nicht genug voneinander kriegen konnten, doch als seine Hand in meinen Nacken wanderte, um die Haken meines Oberteils zu lösen, fiel mir Gott sei Dank ein, dass wir uns nicht allein um Raum befanden. Ich schnappte sein Handgelenk und hielt ihn fest. „Dir ist klar, dass wir Zuschauer haben?“, fragte ich an seinen Lippen.

„Sollen sie doch gaffen.“ Er befreite seinen Arm mit einer geschickten Drehung aus meiner Hand und wollte wieder nach meinem Nacken greifen, doch ich wich ein Stück zurück und konnte nicht anders als lachen, als ich seinen bösen Blick sah.

Das war mal ein hungriger Wolf. „Später“, hauchte ich und gab ihn einen schnellen Kuss auf die Nasenspitze, was ihn wieder die Stirn runzeln ließ. Wahnsinn, ich liebte diesen Kerl einfach. Ohne ihn loszulassen, wandte ich mich zu Boudicca um. Das fette Grinsen in meinem Gesicht wollte dabei einfach nicht weichen. „Ich möchte dir und deinen Schwestern danken, dass ihr mich euer Portal benutzen lassen wollt, aber …“ Ich blickte zu Veith auf, strich mit den Fingern über seine Wange, die Nase, den Mund. „Ich glaube, ich verzichte auf meine Erinnerungen. Ich hab nämlich etwas viel besseres gefunden.“

Bei diesen Worten fing Boudicca fast an zu schmachten. „Muss Liebe schön sein.“

„Nein“, sagte Veith.

„Nein?“ Nun war ich die mit dem Stirnrunzeln. „Was Nein? Liebe ist nicht schön?“ Wenn dem so wäre, hätten wir ein echtes Problem.

„Nein, du wirst nicht hier bleiben. Du gehörst nicht in diese Welt.“

Das Lächeln auf meinem Gesicht fiel augenblicklich in sich zusammen. Er wollte mich wegschicken? „Aber du hast doch gerade gesagt …“

„Ich werde nicht zulasse, dass du auf deine Erinnerungen verzichtest. Sie bedeuten dir zu viel.“

„Ja, schon, aber du bedeutest mir mehr, ich will dich nicht verlieren.“ Nicht schon wieder, nicht wo es doch gerade so aussah, als würde alles gut werden. Das würde ich kein weiteres Mal verkraften, das konnte er mir nicht antun.

„Das denkst du vielleicht im Augenblick, aber irgendwann wirst du beginnen, mich zu hassen, weil ich der Grund war, der dich von deinen Erinnerungen ferngehalten hat. Das könnte ich nicht ertragen.“

Ruckartig löste ich mich von ihm und brachte einige Schritte Entfernung zwischen uns. „Das war es jetzt also? Du kommst hier rein um mir zu sagen, dass du dich für mich entschieden hast, nur um mich dann wegzuschicken?“ Zum Ende hin wurde meine Stimme leicht schrill.

„Talita, ich …“

„Nein!“ Das konnte doch nicht sein Ernst sein. „Warum bist du dann wieder hier aufgetaucht? Dann hättest du doch gleich wegbleiben können! Warum tust du mir das an? Warum musst du mich immer und immer wieder verletzten? Findest du das witzig? Macht dir das Spaß? Scheiße, Veith, ich versteh nicht …“

Er griff nach meinem Arm und zog mich wieder an sich. Im nächsten Moment lagen seine Lippen wieder auf meinen, aber ich wollte das nicht. Ich wollte ihn schlagen, diesen Mistkerl dafür büßen lassen, dass er mir das schon wieder antat. Da ich aber so fest in seiner Umklammerung steckte, dass ich meine Arme nicht bewegen konnte, holte ich mit dem Fuß aus und trat ihm mit voller Wucht gegen das Schienbein.

Augenblicklich ließ er mit einem Schmerzenslaut von mir ab und stolperte fluchend einen Schritt von mir weg.

„Was fällt dir ein, du Arschloch? Glaubst du wirklich, damit könntest du es besser machen? Meine Erinnerungen sind mir egal, du bist mir wichtig, warum verstehst du das nicht? Muss ich es dir erst schriftlich geben? Ach weißt du was, vergiss es einfach. Ich scheiß auf dich! Auf dich und deinen ewigen Launen! Ich …“

„Bist du jetzt bald mal fertig?“

„Ob ich …“ Ich glaubte mich verhört zu haben. Wollte er mich wütend machen? War das sein Ziel?

„Wenn du mich hättest aussprechen lassen, dann hätte ich dir gesagt, dass ich dich begleiten werde.“ Mit einem echt bösen Blick, rieb er sich übers Schienbein. Uh, das würde einen richtigen blauen Fleck geben.

Moment, was hatte er gesagt? „Mich begleiten?“ Jetzt verstand ich gar nichts mehr.

Veith stellte sein Bein wieder ab und sah mir in die Augen. „Du wirst zurück in deine Welt gehen, weil dir deine Erinnerungen einfach wichtig sind und ich werde dich begleiten.“

„Aber das … dein Rudel, deine Familie, was ist mit …“

„Es gibt nichts, was mich hier hält. Mein neues Rudel bedeutet mir nichts, von meinem alten habe ich mich bereits losgesagt und mein Papá will einfach nur, dass ich glücklich bin. Ich brauche diese Welt nicht, solange ich bei dir bin, bin ich glücklich. Du bist alles, was ich will.“

War das sein ernst? „Aber dein Vater und Kovu. Was ist mit …“

„Ich will nur dich, samt deinen Erinnerungen.“

Er wollte mich nicht wegschicken, er wollte mit mir mitgehen. Er wollte …

Mit einem Freudenschrei sprang ich ihm um den Hals. Er ließ mich nicht allein, er würde bei mir bleiben, mir gehören, mir ganz allein.

Einst war ich mir nicht sicher gewesen, ob er sein Leben für seine Liebe eintauschen würde, jetzt war ich es. Veith würde es nicht nur eintauschen, für mich tat er es sogar und das war wohl das größte Geschenk, das er mir hatte machen können.

„Hach, wie schön“, seufzte Boudicca. „Doch noch ein beneidenswertes Ende.“ Sie warf einen Blick zu Tyge rüber, während ich schon wieder dabei war Veith mit Haut und Haaren zu verspeisen. „Und was machen wir zwei Hübschen jetzt?“

Tyge blinzelte einmal ungläubig, machte auf dem Absatz kehrt und verließ eilends das Zimmer. Wäre ich nicht so beschäftigt gewesen, ich hätte sicher darüber gelacht.

 

°°°

 

Aus dem dunkeln Tunnel trat ich in den sonnenbeschienenen Nachmittag. Meine Hand war fest mit Veiths verschränkt. Seit wir das Heilzentrum in Sternheim verlassen hatten – gegen den ausdrücklichen Wunsch des Arztes – hatte er mich nicht einmal losgelassen. Das war ziemlich kompliziert gewesen, beim Moobfahren.

Um hier herzukommen, in das Lager der Höhlenwölfe, hatten wir Gaares altes Moob benutzt. Zwar hatte es mir widerstrebt, in dieses Fahrzeug einzusteigen, aber meines war immer noch nicht zu gebrauchen und eine andere Möglichkeit hatten wir auf die Schnelle nicht gehabt. Und Gaare würde es in nächster Zeit sowieso nicht mehr gebrauchen können, so Veiths Worte.

Unter den Augen von drei Dutzend Höhlenwölfen, durchquerten wir das Lager auf der Suche nach Cui. Mir war es ja irgendwie unangenehm, die ganzen Blicke auf mir zu spüren, aber Veith würde ich deswegen noch lange nicht loslassen. Er gehörte jetzt mir und endlich durfte ich es auch allen zeigen. Ja, schaut nur alle her, das ist jetzt mein großer, böser Wolf, also Pfoten weg, sonst bekommt ihr es mit mir zu tun!

Ein paar Frauen in einer kleinen Gruppe sahen uns besonders intensiv hinterher. Ich versuchte sie, so gut es ging, zu ignorieren und konzentrierte mich lieber auf die Alphawölfin, die vor einer Höhle saß und irgendein Spiel spielte, bei dem sie beschriftete Steine hin und her schob.

Natürlich hatte sie uns bereits entdeckt und sah uns mit zusammengekniffenen Augen entgegen. „Was hat das zu bedeuten?“, wünschte Cui zu erfahren, sobald wir vor ihr standen. Ihr Blick ruhte dabei auf unseren verschränkten Händen.

„Wir müssen reden.“ Veith ließ seinen Blick einen Moment auf mich gleiten, bevor er wieder auf seiner Alpha zu ruhen kam. „Jetzt.“

Cui musterte uns intensiv. Sie schien nicht sauer, nur nachdenklich. „Vielleicht sollten wir dazu in meine Höhle gehen, dort gibt es nicht so viele neugierige Ohren.“ Ihr Kopf drehte sich blitzschnell nach links zu drei Frauen, die nicht mal so taten, als wären sie mit etwas anderem als Lauschen beschäftigt. Doch als sie Cuis Blick sahen, verstreuten sie sich blitzschnell in alle Winde. Tja, die Macht eines Alphas.

Cui erhob sich vom Boden und verschwand in der Höhle hinter sich. Veith zögerte nicht, ihr zu folgen und zog mich einfach mit.

Raue Steinwände nahmen uns auf, ein kurzer Tunnel, an deren Ende uns ein sanftes Licht empfing. Hier sah es so ganz anders aus, als ich es mir vorgestellt hatte, irgendwie wohnlich. Es gab eine kleine Sitzecke aus Holz, die mit dicken Fellen bezogen war. An der Seite war eine große Kochstelle mit Schränken drum herum – die Küche, wie mir klar wurde – wo ihr Gefährte stand und gerade Obst kleinschnitt. Er warf uns beim Eintreten nur einen kurzen Blick zu und widmete sich dann wieder seiner Aufgabe. Ich entdeckte zwei Zugänge zu weiteren Räumen, konnte aber nicht sehen, was dahinter lag, weil sie mit schweren Stoffen verhangen waren.

„Das ist also der Grund“, sagte Cui, kaum dass wir ihre Höhle betreten hatten und warf sich auf ein dickes Fellpolster an der Wand. War das ihr Bett?

Veith runzelte fragend die Stirn. Er hatte keine Ahnung was die Alphawölfin damit meinte.

War es nicht faszinierend, wie gut ich ihn in der Zwischenzeit einschätzen konnte?

Cuis Gefährte hob den vollen Früchteteller vom Tresen und kam damit zu seiner Gefährtin rüber.

„Sie“, meinte Cui und zeigte auf mich. „Du hast dich nie auf eine Wölfin in diesem Rudel eingelassen, hast ihre Annäherungsversuche zwar geduldet, bist aber nie darauf eingegangen. Danke“, fügte sie an ihren Mann hinzu und nahm den Teller mit dem aufgeschnittenen Ost aus seinen Händen, um ihn neben sich zu stellen. Ihr Gefährte setzte sich hinter sie und begann so selbstverständlich über ihre Haut zu streichen, als würde er das jeden Tag machen – was wahrscheinlich auch so war. „Ein paar der Frauen glaubten schon, etwas mit deiner Manneskraft stimme nicht“, sprach sie weiter und suchte sich ein Stück Banane vom Teller aus, das in ihrem Mund verschwand – zumindest glaubte ich, dass es Banane war, aber hier konnte man sich ja nie so sicher sein. „Ich allerdings glaubte nicht an diese Theorie“, sagte sie und richtete ihren Blick wieder auf Veith. „Ich sah es in deinen Augen, Sehnsucht. Dein Herz gehörte bereits einer Frau. Natürlich habe ich gehofft, dass das mit der Zeit vergehen würde, doch wie mir scheint, vergebens.“ Sie richtete ihren Blick auf mich und ich musste mich echt zusammenreißen, um mich darunter nicht zu winden.

„Es war nie meine Absicht, dir oder dem Rudel etwas vorzuspielen“, sagte Veith leise. „Ich dachte ich würde es schaffen, aber da habe ich mich getäuscht.“

Sie fixierte ihn. „Beantworte mir nur eine Frage, Veith. Hast du um dein Herz schon gewusst, bevor du in mein Rudel gekommen bist?“

„Ja.“ Klipp und klar.

„Warum hast du es dann trotzdem getan?“

Das waren jetzt genaugenommen aber schon zwei Fragen.

„Ich habe meiner Mamá als Kind das Versprechen gegeben, ein Testiculus zu werden, damit sie stolz auf mich sein kann. Als sie dann gestorben ist, habe ich mir geschworen, es durchzuziehen.“

„Und was hat sich jetzt geändert?“

Das war die dritte Frage, die Frau konnte wohl nicht bis eins zählen.

Veith warf mir einen kurzen Blick zu und sagte dann allen Ernstes: „Katzen sind unberechenbar.“

Cui lachte auf, während ich die Backen aufblähte. Sie wischte sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln und grinste meinen großen, bösen Wolf an. „Damit willst du sagen, dass du nicht geglaubt hast, dass jemand wie sie sich in dein Herz schleichen könnte.“

Jemand wie ich? Wollte die mich ärgern, oder was? Wenn sie noch mal sowas raushaute, würde ich … einfach hier stehen bleiben und sie böse angucken. Ja genau, das würde ich tun.

„Ich habe nicht damit gerechnet, dass es jemand wie sie gibt“, entgegnete Veith schlicht und drückte meine Hand ein wenig fester. „Cui, ich bin hier, um dir zu sagen, dass ich den Status eines Testiculus ablege. Ich werde meine Sachen packen und gehen.“

„Gehen?“ Cui zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. „Du willst mich nicht bitten, sie ins Rudel aufzunehmen, damit du sie offiziell zur Gefährtin nehmen kannst?“

Was? Sie würde mich aufnehmen? Hatte ich das richtig verstanden?

„Nein, ich werde nicht bleiben. Ich werde mit Talita in ihre Welt gehen.“

„In ihre Welt? Du meinst …“ Sie warf mir einen schnellen Blick zu. „In die Welt ohne Magie?“

Er nickte nur.

„Hältst du das für eine gute Idee?“

„Nichts könnte mich davon abbringen.“

Sie musterte uns eine lange Minute und seufzte dann. „Nun gut, ich werde euch sicher nicht aufhalten, auch wenn ich eure Entscheidung nicht gut finde. Wer weiß, ob ihr in der anderen Welt zurechtkommt. Ich wünsche euch auf jeden Fall alles Gute für die Zukunft.“

Veith nickte ihr zu und wandte sich mit mir an der Hand um. Für ihn war alles gesagt, aber ich wollte noch etwas wissen. „Warte mal.“ Ich drehte mich Cui zu. „Darf ich dir eine Frage stellen?“

Sie sah etwas überrascht aus, nickte aber. „Natürlich.“

Okay, ich hoffte jetzt einfach mal, dass ich da wirklich nichts falsch verstanden hatte. „Hättest du mich wirklich in dein Rudel aufgenommen?“

Jetzt lächelte sie richtig offen. „Wenn Veith mich darum gebeten hätte, damit du seine Gefährtin sein kannst, ja.“

„Wirklich?“

„Ja.“ Sie richtete sich ein wenig auf und neigte dabei den Kopf zur Seite. „Ich mag dich, Talita. Du bist nicht nur eine Freundin der Lykaner, die sich in vielen schwierigen Situationen bewiesen hat, du hast mir auch Kanin wiedergebracht. Vielleicht hab ich es dir nie so deutlich gesagt, aber ich bin dir mehr als dankbar. Wenn du es wünschst, kannst du bei uns bleiben.“

Diese Worte machten mich sprachlos. Einen Moment glaubte ich sogar, dass ich gleich anfangen würde zu heulen. Sie hatten mich akzeptiert. Ich könnte eine von ihnen sein, in einem Rudel leben. Doch meine Erinnerungen …

„Nein“, sagte Veith, der meinen inneren Zwiespalt wohl mitbekam. „Wir gehen.“ Er richtete seinen Blick auf Cui. „Ich wünsche dir und deinem Baby alles Gute.“

Sie nickte ihm zu.

„Aber ...“, begann ich, wurde von Veith aber zum Höhlenausgang hinausgezogen.

„Dies ist nicht der Ort, den du suchst“, sagte er und führte mich aus dem kurzen Tunnel quer über dem Lagerplatz zu einer Höhle weiter hinten. „Hier findest du deine Erinnerungen nicht und dies ist auch nicht das Wolfsbaumrudel.“

„Aber, willst du denn gar nicht bleiben?“

„Du würdest an diesem Ort nicht glücklich werden. Ja, du sehnst dich nach Akzeptanz und hier würdest du sie vielleicht finden, aber dir würde so viel anderes fehlen und das werde ich nicht zulassen.“ Er drehte sich zu mir herum und strich mir mit der freien Hand über die Wange. „Hier ist niemand, den du kennst. Deine Freunde sind Einzelgänger, oder gehören anderen Rudeln an. Bei den Höhlenwölfen würdest du nicht glücklich werden.“

Wenn er es so ausdrückte … „Ich hasse es, wenn du recht hast.“

„Warum?“

„Ich … das sagt man doch nur so. Und jetzt lass uns deine Sachen packen, damit wir hier wegkommen. Ich bin müde und will ins Bett.“

„Ganz wie du befiehlst.“ Seine Lippen streiften einmal zärtlich über meine, bevor er mich in seine Höhle führte. Sie sah ganz ähnlich aus wie die von Cui, hatte aber nur einen Raum, der von glühenden Magieadern in den Wänden beleuchtet wurde. Ein großes Lager aus Fellen, das ihm als Bett diente, drei Stühle, die neben dem Eingang um ein erloschenes Lagerfeuer gruppiert waren. Ein Schrank und mehrere Regale. Es wirkte ein wenig karg, aber es passte zu Veith.

Er hauchte mir noch einen Kuss auf die Lippen und ließ dann meine Hand los, um aus seinem Schrank einen großen Beutel zu holen, in dem er seine Sachen verstauen konnte.

Zwei Minuten stand ich einfach nur dumm rum und schaute ihm dabei zu. „Kann ich dir vielleicht helfen?“

„Nein.“ Dabei guckte er mich nicht mal an.

Seufz. Da ich immer noch ein wenig schwach auf den Beinen war und wirklich müde, ließ ich mich auf dem bequemen Stuhl neben dem Eingang nieder und beobachtete ihn von da aus. Ein paar Klamotten aus dem Schrank fanden den Weg in seinen Beutel. Zahnputzzeug, Bilder. Er ließ den Beutel auf den Boden sinken und schloss die Schranktüren, um anschließend zu seinem Bettlager zu gehen. Dort beugte er sich herunter, um etwas unter seinem Fellkissen hervorzuziehen. Dabei verrutschte sein Lendenschurz leicht. Hmmm … netter Anblick.

„Ich hab dir schon mal gesagt, du sollst mich nicht so angucken.“

Mein Blick schnellte zu seinem Gesicht und ich wurde dunkelrot, als ich bemerkte, dass er mich beobachtet hatte. Mist, ertappt. „Selber schuld, wenn du deinen Hintern so zur Schau stellst“, verteidigte ich mich.

In einer geschmeidigen Bewegung richtete Veith sich auf und hatte dabei einen Blick drauf, der mich überall ganz kribbelig werden ließ.

„Warum darfst du mich so ansehen, ich dich aber nicht?“, wollte ich wissen. Meine Stimme war tiefer geworden, was ihm ein seltsames Geräusch entlockte, eine Mischung aus Knurren und Schnurren. Mir wurde ganz anders dabei, richtig heiß.

Er machte einen Schritt auf mich zu …

Das war der Moment, in dem die Frau uneingeladen in die Höhle stürmte und in die aufkeimende Stimmung platzen ließ. „Ist es wahr?“, wollte sie von ihm wissen und schien nicht mal zu bemerken, dass ich auch noch im Raum war. Sie war glatt an mir vorbeigelaufen. „Du verlässt das Rudel?“

„Ja“, antwortete er schlicht.

„Warum? Ich dachte … ich will nicht dass du gehst. Ich … verdammt Veith, du kannst doch jetzt nicht einfach so abhauen!“

Sie hatte mich wirklich nicht bemerkt. Ich lehnte mich zurück, schlug die Beine übereinander und wartete ab, was die Schrulle weiter wollte. Ich konnte sie auf Anhieb nicht leiden, was wohl etwas mit dem roten Band an ihrem Arm zu tun hat.

Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „Warum nicht?“

„Warum nicht? Ist das dein Ernst?“ Sie lachte fassungslos auf. „Weil ich es nicht will, darum! Du bist der Testiculus, es ist deine Pflicht hier zu bleiben und dir eine Gefährtin zu nehmen und ich werde es nicht …“

„Ich habe eine Gefährtin.“

Das brachte sie einen Moment zum Schweigen. „Was? Wen?“

Er nickte mit dem Kopf in meiner Richtung.

Sie drehte sich überrascht zu mir um.

Ich begrüßte sie mit einem breiten Lächeln und einem kleinen Winken. „Hi.“

Das Erstaunen wich schnell Skepsis. „Eine Katze?“, fragte sie ungläubig und wandte sich ihm wieder zu. „Du verlässt das Rudel und gibst alles auf wegen dieser Katze? Bist du noch ganz dicht?!“

Holla, wie war die denn drauf? Die hatte sich doch nicht etwa in meinen großen, bösen Wolf verguckt?

Veiths Gesicht wurde so ausdruckslos wie bei unserer ersten Begegnung. „Sari, ich habe dir bereits gesagt, dass du mich nicht interessierst und …“

„Das sah auf dem Fest des Testiculus aber anders aus. Ich habe dich bemalt und dir hat es gefallen.“

Ach deswegen kam mir die Tussi so bekannt vor. Jetzt konnte ich sie noch viel weniger leiden als vorher. Ja ich war eifersüchtig. Na und? Verklagt mich doch!

„Das lag an dem Aphrodisiakum im Feuer.“

Aphrodisiakum? Hatte er gerade wirklich Aphrodisiakum gesagt? Damit meinte er doch nicht etwa die Kräuter, die ich und die anderen Frauen ins Feuer geschmissen hatten. Obwohl, es würde erklären, warum ich mich so seltsam gefühlt hatte und so mir nichts, dir nichts mit Pal in den Wald verschwunden war.

„Das Aphrodisiakum ist für bestimmte Regungen aber nicht verantwortlich.“ Sie sah betont in seinen Schritt, wofür ich ihr am liebsten in den Hintern getreten hätte. Einfach nur das Bein ausstrecken und kräftig zutreten. Dafür müsste ich nicht mal aufstehen, sie stand nah genug. „Und du warst eindeutig scharf auf mich, das konnte jeder sehen.“

Ja, weil die Klamotten der Lykaner nicht besonders viel verbargen.

„Diese Regung hatte ich nicht dir zu verdanken, ich hatte Talita beim Tanz um das Feuer zugesehen.“

Oh wirklich? Rede ruhig weiter, Süßer.

Sari drückte ihren Mund wütend zu einer dünnen Linie zusammen. „Das sagst du jetzt doch nur, wie sie mit in der Höhle ist.“

„Warum sollte ich lügen? Es würde nichts bringen. Ihr ist sicher klar, dass ich schon häufiger einen Ständer hatte.“ Bei diesen Worten wurden seine Wangen leicht rosig. „Und das auch andere Frauen dafür verantwortlich waren.“

„Aha!“, machte Sari und deutete mit dem ausgestreckten Finger auf Veith. „Da, du hast es gerade selbst zugegeben, dass du …“

„Ist sie immer so anstrengend?“, fragte ich dazwischen. Also wirklich, natürlich war mir klar, das Veith seine erste Latte nicht dank mir hatte. Hallo? Er war fünfundzwanzig und ich kannte ihn gerade mal etwas über ein Jahr. Feuchte Träume begannen bereits im Teenageralter. Aber trotzdem war das nicht gerade ein Thema, über das ich allzu genau informiert werden wollte.

Veith schüttelte nur den Kopf. Ob er damit nun mir antwortete, oder ihn einfach nur über Saris Verhalten schüttelte, konnte ich nicht sagen. „Geh zu Quan, er hat viel für dich übrig.“

„Ich will aber nicht Quan, ich will dich!“

„Er ist aber nicht mehr zu haben“, mischte ich mich ein weiteres Mal ein. Der ging es doch wohl zu gut. Veith war meiner.

„Du willst mich doch nur wegen meines Aussehens“, sagte Veith.

Das ließ mich genauer hinhören. War das sein ernst?

„Na und? Was ist so schlimm daran?“

Ja, es war sein ernst. Ich konnte es kaum glauben wie berechnend dieses Weib war. Meine Stimmung verfinsterte sich. „Ein Partner, oder Gefährte macht mehr aus, als nur das Äußere“, sagte ich sanft. „Veith hat so viel mehr zu bieten, doch wenn du das nicht sehen kannst, hast du ihn auch nicht verdient. Davon mal abgesehen gehört er mir und ich lasse mir mein Eigentum nicht wegnehmen.“

Wütend fuhr sie zu mir herum, kniff die Augen zusammen und machte dann ganz plötzlich einen Schritt auf Veith zu, um ihn zu küssen. Mitten auf den Mund! Ich war sprachlos und konnte gar nicht so schnell reagieren, wie mein großer, böser Wolf es tat. Er nahm einfach ihre Handgelenke und drückte sie wieder von sich weg. Dabei knurrte er warnend, doch das schien sie gar nicht zu interessieren, sie versuchte es gleich noch einmal.

Na sag mal … die wollte es wohl nicht kapieren.

„Hör auf dich so aufzuspielen“, sagte Sari. „Wir passen perfekt zusammen, alle sagen das und du wirst meine Vorzüge auch noch lieben lernen.“

„Ausgeschlossen“, knurrte er.

Gute Antwort. Ich stand von dem Hocker auf. Mein Blick brannte sich auf dem Punkt, an dem er Sari immer noch festhielt, damit sie ihm nicht noch mal so nahe kommen konnte. „Lass sie los.“

Seine Augen wanderten wachsam auf mich.

„Lass sie los“, wiederholte ich und trat neben ihm. Ich wollte nicht, dass er diese selbstverliebte Person berührte. Ich wollte überhaupt nicht, dass er außer mir ein anderes Weib berührte. Ja, ich konnte auch ein klein wenig besitzergreifend sein – aber nur ein klein wenig.

Sobald er seinen Griff von ihr gelöst hatte, schnappte ich mir sein Gesicht und küsste ihn, wie ich es zuvor noch nie vor Zuschauern gemacht hatte. Sofort drängte er näher, schlang seine Arme um mich und wir lieferten eine Show, die Sari vor Wut krebsrot anlaufen ließ.

„Das ist krank“, spie sie uns entgegen.

Ich löste meine Lippen von ihm, hielt sein Gesicht aber weiter zwischen meinen Händen, als ich mich ihr mit einem abwertenden Blick zuwandte. „Du kriegst ihn nicht, er gehört mir. Und jetzt verzieh dich, das hier ist privat.“

Veith machte wieder dieses Geräusch, das mich am ganzen Körper erschauern ließ.

„Das … das … das ist noch nicht zu Ende!“, zischte sie, machte auf dem Absatz kehrt und stürmte aus der Höhle.

„Spiel, Satz und Sieg“, murmelte ich mit einem Siegerlächeln auf den Lippen.

Veith sah mich fragend an.

„Vergiss es einfach und küss mich endlich wieder, damit ich Wackelpuddingbeine bekomme.“

Und das tat er dann auch.

 

°°°°°

Epilog

Heute war es so weit, mein vierhundertachtzigster Tag in dieser Welt. Ich würde dahin zurückkehren, woher ich kam und ich durfte den Mann, der wie ein Tornado in mein Herz gestürmt war, mitnehmen. Ein Jahr, drei Monate, drei Wochen und vier Tage war es nun her, dass ich auf einem staubigen Dachboden aufgewacht war und kurz darauf meinen großen, bösen Wolf in seiner ganzen Pracht bewundern durfte. Die Erinnerung daran zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht. Damals war ich ganz schön geschockt darüber gewesen, als er einfach so splitterfasernackt vor mir aufgetaucht war und seit diesem Tag hatte ich ihn kaum noch aus meinem Kopf bekommen.

Jetzt lag ich hier in meinem Bett und blinzelte in den strahlenden Sonnenmorgen. Die Brunftzeit der Najaden war vorbei und die Wolken hatten sich endlich verzogen. Dieser Tag war einfach wundervoll.

Unter meinem Ohr hörte ich den regelmäßigen Herzschlag des Mannes, den ich liebte. Er hatte die Arme um mich geschlungen, als wollte er auch im Schlaf sicher gehen, dass ich nicht einfach verschwinden konnte.

Er sah so jung und unschuldig aus, wenn er schlief, so … verlockend. Hmmm … wie er so da lag, so völlig wehrlos, konnte ich einfach nicht widerstehen. Vorsichtig rutschte ich ein wenig höher und hauchte ihm einen Kuss auf die Brust und dann noch einen auf sein Schlüsselbein. Dabei ließ ich meine Hand über seine Seite hinunter zu seiner Hüfte gleiten.

„Was machst du da?“

Aha, er schlief also doch nicht mehr. „Ich spiele Wecker, weil wir heute noch einen wichtigen Termin haben“, säuselte ich und knabberte leicht an seinem Hals.

„Wenn du das so machst, werden wir dieses Bett aber nicht so schnell verlassen.“ Seine flinken Finger flutschten frech unter mein Nachtshirt. Ich spürte, wie seine Hand über meinen Bauch direkt zu meiner Brust wanderte und konnte ein Stöhnen gerade noch so unterdrücken, als er sein Ziel fand.

„Aus diesem Grund habe ich dich etwas früher geweckt.“ Ich richtete mich halb auf und blickte in seine schläfrigen Augen. Ein Kribbeln jagte durch meinen ganzen Körper, als seine Hand die richtige Stelle massierte und jetzt konnte ich ein Seufzen nicht mehr zurückhalten. Meine Augen schlossen sich flatternd, damit ich dieses Gefühl noch intensiver wahrnehmen konnte.

„Mach die Augen wieder auf“, raunte er. „Ich will sie sehen.“

Irgendwie schien das eine unmögliche Aufgabe zu sein, besonders, da er nicht aufhörte.

„Talita, komm schon.“

„Jetzt schon?“, stöhnte ich und war über meine dreisten Worte selber erstaunt.

Veith knurrte und zog mich mit einem Ruck über seine Mitte, sodass ich aufrecht auf hm saß. Langsam strich er meine Beine hinauf und ich beobachtete genau, wie seine Hände den Saum meines Nachtshirts ergriffen und damit spielten. „Zieh es aus, Talita.“

Wie er meinen Namen sagte, Gänsehaut pur. Ich ließ ihn nicht aus den Augen, als ich mir das Shirt über den Kopf zog, wollte jede seiner Regungen in mir aufnehmen. Ich war so kurz davor gewesen, ihn zu verlieren, dass ich seit acht Tagen alles wie ein Schwamm in mich aufsog, was mit ihm zu tun hatte. Mittlerweile brauchte ich Veith zum Leben, wie die Luft zum Atmen. Ohne ihn wäre ich nichts, er war mein Lebenselixier.

Fast anbetungswürdig strich seine Hand meinen Bauch hinauf, zwischen meine Brüste. Diese Berührung ließ mich am ganzen Körper kribbelig werden. „Nur ich darf dich so sehen.“ Er strich über meine Brust, meinen Hals hinauf zu meiner Wange. „Nur ich.“

„Stimmt gar nicht“, grinste ich. „Hin und wieder gucke ich auch hin.“

Veith kniff die Augen zusammen. „Komm her, du freche Katze.“ Blitzschnell packte er meine Hüfte und im nächsten Moment fand ich mich unter ihm wieder.

Danach redeten wir nicht mehr viel, wir wussten uns auf andere Weise zu artikulieren. Eine sehr lange Zeit. Erst als ich mitbekam, dass auch die restlichen Anwohner dieser Räumlichkeiten langsam zum Leben erwachten, schaffte ich es aus Veiths Klauen zu entkommen und aus dem Raum zu huschen. Hinaus in den Flur und ab in den Feuchtraum, bevor jemand anders auf die Idee kam, ihn mir streitig zu machen. Dort musste ich allerdings schnell die Tür hinter mir zu machen, bevor mein großer, böser Wolf mit hinein huschen konnte, sonst würde ich hier vermutlich niemals fertig werden und schon in weniger als zwei Stunden mussten wir uns mit den Schwestern des schwarzen Mondes treffen.

Ich würde heute nach Hause gehen. Das war irgendwie der einzige Gedanke, den ich die ganze Zeit unter der Dusche hatte. Ich würde mit Veith an meiner Seite an den Ort zurückkehren, an dem ich geboren worden war. Was mich dort wohl erwartete? Ich konnte es mir eigentlich nicht vorstellen. Und trotz aller Ängste und Bedenken beeilte ich mich, aus der Dusche zu kommen und marschierte, nur im Handtuch eingewickelt zurück in mein Zimmer.

Bevor ich die Tür hinter mir schloss, verkündete ich den anderen mit einem lauten Ruf, dass der Feuchtraum nun wieder frei war.

Veith war nicht in meinem Zimmer. Wahrscheinlich hatte er sich nach dem Morgensport erst einmal in der Küche stärken müssen. Ich lächelte bei dem Gedanken, was wir heute Morgen so getrieben hatten und riss meinen Kleiderschrank auf, um mir Klamotten für den Tag rauszuholen. Aber nicht irgendwelche. Was ich suchte war ganz hinten in einer kleinen Truhe vergraben, die ich seit über einem Jahr nicht mehr angerührt hatte.

Ich kniete mich vor den Schrank und zog die große Kiste vor mich. Es war fast schon ein heiliger Moment, als ich den Deckel aufklappte und die einzelnen Sachen nacheinander rauslegte. Eine saubere Jeans, ein weißes Top und dazu eine Lederjacke. Das waren die Sachen, mit denen ich vor vierhundertachtzig Tagen auf Fangs Dachboden aufgewacht war. Sie sahen noch genauso aus, wie an dem Tag, als ich sie für diesen Tag in den Schrank gelegt hatte.

Die Tür hinter mir öffnete sich mit einem leisen Kick. Ich brachte mich nicht umdrehen, um zu wissen, wer da kam. Veiths Gegenwart spürte ich immer. „Die Sachen habe ich nicht mehr gesehen, seit ich dich zu Anwar gebracht habe.“

Ja, an diesen Tag erinnerte ich mich sehr gut. Es war äußerst verletzend gewesen, dass sie mich sang und klanglos bei ihm zurückgelassen hatten. „Es war auch der letzte Tag, an dem ich sie getragen habe.“ Ich legte das Tanktop auf den Boden und drehte mich zu Veith herum. Dabei stellte ich fest, dass er auch unter der Dusche gewesen sein muss. Sein Haar war noch feucht und ein Handtuch war alles, was er am Leib hatte. Das war mehr Stoff, als er sonst trug und doch irgendwie aufreizender.

„Du guckst schon wieder so.“

„So, tu ich das?“

„Ja.“

Ich grinste. Wie sollte man bei diesem Anblick auch nicht gucken. Aber wo ich ihn gerade schon mal so schön vor mir hatte, fiel mir noch etwas ein. „Ich hab noch was für dich.“

„Wenn du mir das gibst, dann kommen wir hier aber nicht pünktlich weg.“

Schäkerte er etwa gerade mit mir? „Nicht das.“ Obwohl das sicher auch eine Option wäre. Ich würde sie mir auf jeden Fall für später merken. „Schau mal in der obersten Schublade von der Kommode. Das Päckchen darin ist für dich.“

Nur sehr langsam wandte er sich von mir ab und ging zur Kommode, wo er aus der obersten Schublade ein großes, in Papier eingeschlagenes Bündel herausnahm. „Was ist das?“

„Mach es auf, dann siehst du es.“ Ich erhob mich und stellte mich neben ihn, als er das Bündel auf die Kommode legte, um es auszupacken. Mit einer stoischen Ruhe, die mich fast in den Wahnsinn trieb, löste er erst die Schnüre und schlug dann das braune Papier zur Seite. Zum Vorschein kam ein Bündel Kleidung – also richtige Kleidung, nicht dieses Stückchen Stoff, dass er sonst am Leib trug, obwohl ich das auch zu würdigen wusste.

Veith entfaltete das obere Kleidungstück und breitete das Shirt neben dem Bündel aus. Es war weiß, ohne Aufdruck, ein einfaches, weißes Shirt. Nach ausgiebiger Begutachtung entfaltete er das zweite Kleidungstück, eine schwarze Hose. Auch sie wurde über die Kommode ausgebreitet, als wollte er überprüfen, ob sie seinen Blicken standhalten konnte.

Ich verlagerte mein Gewicht nervös von einem Bein aufs andere. Warum sagte er denn nicht? Gefiel es ihm nicht? Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, ihn bei seinem Stirnrunzeln zu beobachten. „Und?“

„Ich habe solche Kleidung noch nie gesehen.“

„Das wundert mich nicht, ich habe sie ja auch extra für dich anfertigen lassen.“ Ich strich über den weichen Stoff der Hose. „Ich war bei einem Schneider, der diese beiden Teile nach meinen Vorstellungen genäht hat. Dort, wo wir hingehen, tragen die Männer so etwas.“ Wenn Veith in der nicht-magischen-Welt in einem Lendenschurz auftauchen würde, bekäme er sicher scheele Blicke. „Ich hab es für eine gute Idee gehalten“, fügte ich kleinlaut hinzu und sah ihn vorsichtig an. Es schien nicht so, als gefiele ihm die Aussicht darauf, in Zukunft in solchen Klamotten herumzurennen.

„Danke“, raunte er und zog mich mit einem Ruck an seine Brust, nur um mich zu küssen, das mir Hören und Sehen verging.

Drei Anläufe brauchte ich, um mich von seinen stürmischen Lippen zu befreien. „Ich kann also davon ausgehen, dass du sie anziehen wirst?“

„Ich vertraue dir“, sagte er ganz ernst. „Du kommst aus dieser anderen Welt und wirst schon wissen, was du tust.“

„Du ziehst sie also an?“

Zur Antwort löste er das Handtuch um seine Hüfte und trat einen Schritt zurück. Ich bekam einen ganz trockenen Mund, als ich zusah, wie er die Hose ergriff und sie sich überzog. Danach kam das Shirt. Er zupfte und rupfte an dem Stoff herum. „Ungewohnt“, sagte er.

War es normal, dass ich ihm die Klamotten am liebsten gleich wieder vom Leib reißen wollte? Mir war wirklich nicht mehr zu helfen. „Du wirst dich schon daran gewöhnen, ich hab es ja auch geschafft.“ Langsam ließ ich den Blick von oben nach unten gleiten um seinen Anblick in mich aufzunehmen und blieb an seinen nackten Füßen hängen. „Mist“, entschlüpfte es mir.

Veith neigte neugierig den Kopf zur Seite. „Was ist?“

„Ich hab nicht an die Schuhe gedacht.“ Ich kaute auf meiner Unterlippe rum. Das war ein Problem. Ohne Schuhe konnte er nicht auf der Straße rumlaufen. Auf der andern Seite des Spiegels waren die Städte nicht so sauber wie hier und auch wenn er sein Leben lang im Wald rumgelaufen war und es ihn sicher nichts ausmachen würde, Barfuß zu gehen, so ging das nicht. „Ich werde Pal fragen, ob er ein paar Schuhe hat, die er dir geben kann.“ Das war zwar keine optimale Lösung, weil die Schuhe hier so ganz anders aussahen, aber wir hatten keine Zeit mehr, uns noch etwas anderes zu organisieren.

Ich wandte mich ab und wollte das Zimmer verlassen, um den großen Roten zu fragen, wurde aber von Veith bereits zurückgezogen, bevor ich die Tür überhaupt berührt hatte.

„Ich will nicht dass du so zu ihm gehst.“

Ich sah an mir herunter und stellte fest, dass ich immer noch nur das Handtuch trug. „Normalerweise habe ich weniger an, wenn er mich sieht.“

„Aber normalerweise lässt sich deine Kleidung nicht so einfach entfernen.“ Wie, um es mir zu demonstrieren, zupfte er einfach an meinem Handtuch und weg war es.

„Veith!“, schrie ich empört und holte mir mein Handtuch zurück. „Du bist unmöglich.“

„Das habe ich von dir gelernt.“

Oh wie süß, mein großer, böser Wolf war in Spielerlaune. Aber nicht jetzt. Ich musste mich fertig machen, damit wir nicht zu spät kamen. „Na dann geh du eben fragen, während ich mich anziehe.“ Ich scheuchte ihn mit einer Handbewegung aus dem Raum – natürlich nicht, ohne vorher noch einmal ausgiebig seinen Mund zu erkunden – und nahm mir meine Kleidung vom Boden, sobald ich allein war. Unterwäsche, Jeans, Top, Socken, Lederjacke und Sneakers. Veith hatte Recht, es war wirklich ungewohnt solche Kleidung zu tragen, aber das würde ich ab jetzt jeden Tag machen müssen, denn im Lendenschurz in München herumzulaufen, war nicht drin. Obwohl …

Kurzentschlossen packte ich noch ein paar von meinen hiesigen Klamotten mit in den Beutel, den ich gestern bereits gepackt hatte und schwang ihn mir auf den Rücken. Außer ein paar Bildern und kleinen Erinnerungstücken war da sowieso nichts drinnen. Naja und die Sachen, mit denen ich hier angekommen war. Mein Schlüssel, meine Brieftasche, das Foto von Taylor.

Ich ging zur Zimmertür, um ein letztes Mal diesen Raum zu verlassen, verharrte an der Klinke aber noch einen Moment. Mein Blick schweifte über diese vier Wände, über das Bett, den Schrank, das Fensterbrett. Ich würde all das hier nie wiedersehen, dies war ein Abschied für immer.

Bei diesem Gedanken wollten mir die Tränen in die Augen steigen, doch ich unterdrückte sie und verließ entschlossenen Schrittes dieses Zimmer, um nach meinem großen, bösen Wolf zu suchen. Fündig wurde ich im Wohnzimmer, wo er in meinem Lieblingssessel saß und mit seinem Beutel zu den Füßen auf mich wartete.

Pal und Kaj saßen mit Raissa am Tresen und frühstückten, hörten bei meinem Eintritt aber sofort auf. Auch sie würde ich nie wieder sehen. Waren meine Erinnerungen es wirklich wert, all das aufzugeben? Die Zweifel die ich schon die ganze Zeit hegte, wurden stärker. Wer wusste schließlich, was mich auf der anderen Seite erwartete?

In das drückende Schweigen hinein hob ich meine Hand zum Gruß. „Hi.“

Pal legte sein Brot auf den Teller, rutschte vom Hocker und zog mich in eine Umarmung, die mir das Atmen erschwerte. „Ich werde dich vermissen“, flüsterte er an meinem Ohr.

Oh Gott, bitte nicht. Jetzt stiegen mir doch die Tränen in die Augen. „Ich dich auch“, flüsterte ich zurück und versuchte, ein Schluchzen zu unterdrücken. Verdammt, warum musste es nur so schwer sein? Ich drückte ihn noch etwas fester an mich, bevor ich von ihm abließ und versuchte, unauffällig die Tränen aus meinen Augen zu wischen. Brachte jedoch nicht viel, da ich bemerkte, als ich meinen Blick auf Kaj richtete, dass ihr auch die Tränen über die Wangen rannen. Sie schluchzte auf und saß sie in dem einen Moment noch auf dem Hocker, so lagen wir uns im nächsten in den Armen und heulten Rotz und Wasser. Sätze wie „Ich werde dich nie vergessen“ und „Ich werde immer an dich denken“ und „Du wirst mir fehlen“ oder auch „Du bist meine beste Freundin“ flogen nur so hin und her und wurden nur durch unser Schluchzen unterbrochen.

Damals, als ich Kaj kennenlernte, hätte ich niemals gedacht, dass ich für diese Frau einmal so empfinden würde. Sie war weit mehr als eine Freundin für mich geworden, sie war meine Schwester, meine Familie.

„Warum weint ihr denn?“

Ich löste mich ein Stück von Kaj und sah zu Raissa, die mittlerweile neben mir stand. Oh Gott, wie sollte ich der Kleinen das nur erklären? Wie sollte ich sie zurücklassen? Ich würde sie genauso vermissen wie Kaj.

Mit dem Handrücken wischte ich mir die Tränen aus den Augen und hockte mich vor sie. Überlegend kaute ich mir auf der Lippe herum. Bisher hatte ihr noch niemand gesagt, dass ich gehen würde, weil wir einfach nicht wussten wie. Doch jetzt ließ es sich nicht mehr aufschieben. Okay, so könnte es vielleicht gehen. „Erinnerst du dich an das Märchen, das ich dir immer vorgelesen habe? Jenseits des Spiegels?“

Sie nickte.

„Weißt du, diese Welt gibt es wirklich und ich komme von dort.“

Sie machte große Augen. „Wirklich?“

„Hm-hm.“ Ich nickte. „Und jetzt muss ich wieder zurück.“

Sie neigte den Kopf, als müsste sie über diese Tatsache nachdenken. „Kann ich mitkommen?“

Oh Gott, warum musste sie jetzt sowas fragen? Das machte es mir nur noch schwerer. „Nein, du musst doch auf Mamá und Pal aufpassen, damit sie keinen Unsinn machen.“

„Stimmt.“ Sie nickte, um ihre Aussage zu untermalen. „Und wann kommst du zurück?“

„Niemals.“ Wie schwer es mir fiel dieses Wort auszusprechen.

Ihr Mund ging auf und wieder zu. Und dann sammelten sich auch in ihren Augen Tränen. „Warum nicht?“

„Weil es dort etwas sehr wichtiges für mich gibt, das ich hier nicht habe.“

„Wichtiger als ich?“

Oh nein, wie konnte sie mir eine solche Frage stellen? Ich schüttelte den Kopf und zog sie in die Arme. „Das lässt sich nicht miteinander vergleichen. Ihr seid mir beide auf eure Art sehr wichtig.“

„Aber ich will nicht, dass du gehst.“

Irgendwie wollte ich das auch nicht und wie ich die Kleine so an mich drückte, verstärkten meine Zweifel sich noch, ob ich auch wirklich das Richtige tat. „Nicht traurig sein, du hast doch noch Mamá und Pal, die beiden werden immer bei dir sein.“ Ich blickte auf zu Kaj, der immer noch die Tränen über die Wangen kullerten. Pal hatte sie in den Arm gezogen und beobachtete mich still.

„Wir müssen gehen, Talita“, sagte Veith leise.

Schon? Ich sah zu, wie er sich erhob und neben mich und Raissa hockte. Er stupste sie an, bis sie ihn ansah. „Du brauchst nicht weinen.“

„Aber ich will nicht, dass Tante Tal geht.“

„Willst du denn nicht, dass sie glücklich ist?“

Ihre Augen wurden, wenn es ging, noch ein wenig größer. „Ist sie nicht glücklich?“

„Doch, aber da, wo sie herkommt, hat sie etwas sehr wichtiges verloren und wenn sie es wiederfindet, wird sie noch glücklicher sein, aber hier kann sie es nicht finden, deswegen muss sie gehen.“

„Aber … aber, warum kommt sie dann nicht zurück, wenn sie es gefunden hat?“

„Weil sie es nicht mit hierher bringen kann.“ Er strich ihr über die Wange. „Du brauchst nicht traurig sein. Talita wird es gut gehen, ich passe auf sie auf.“

„Und du musst auf Pal und deine Mamá aufpassen“, fügte ich hinzu und wischte mir erneut über die Augen.

Nur sehr langsam nickte Raissa und rannte dann in die offenen Arme ihrer Mutter. Leider war damit noch nicht alles zu ende. Es dauerte weitere zwanzig Minuten und meine gesamte Tränenflüssigkeit, bis ich meinen Beutel über die Schulter schwingen konnte und an Veiths Seite die Wohnung verließ, die mir so lange ein Zuhause gewesen war.

Allein seine Anwesenheit gab mir die Kraft, das Haus zu verlassen und als ich auf die Straße trat, hatte ich mich eigentlich so weit beruhigt, dass ich wieder aufatmen konnte. Doch als ich sah, was dort draußen auf mich wartete, fing ich von neuem an zu heulen. Djenan stand da und lehnte lässig an einer Laterne. Ich sah Tyge, Fang und Wulf, der schützend einen Arm um ein junges Mädchen gelegt hatte. Prisca stand da mit Amo-te in den Armen und Kovu rannte mich beinahe über den Haufen, als er mich und seinen großen Bruder gleichzeitig in die Arme riss. Dabei zeigte er keine Scheu, seinen Tränen freien Lauf zu lassen und mir lief sofort auch wieder das Wasser. Er war gekommen um mich zu verabschieden, sie alle waren gekommen. ich wurde gedrückt und umarmt, bekam Glückwünsche für die Zukunft und ein Küsschen auf die Wange und ein Schulterdrücker und … „Oh Gott, ich werde euch alle so schrecklich vermissen“, heulte ich und versuchte, mit einem Taschentuch meinen Tränen Einhalt zu gebieten – brachte nicht viel.

Veith drückte meine freie Hand. „Du wirst sie in deiner Erinnerung bei dir tragen.“

„Das will ich doch schwer hoffen“, entrüstete sich Kovu und entlockte mir damit einen kleinen Lacher. Ihn würde ich ganz besonders vermissen.

„Talita“, sagte dann die einzige Person zu mir, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte: Wulf.

Ich war so überrascht, dass ich glatt mit dem Heulen aufhörte, als ich mich zu ihm drehte.

„Ich möchte dir danken, dass du mir meine Tochter wiedergebracht hast und mich dafür entschuldigen, was ich fast getan hätte.“

Das überraschte mich fast noch mehr, als die Tatsache, dass er mich direkt ansprach. Mein Blick glitt zu dem jungen Mädchen neben ihm. „Du bist Isla.“

Sie nickte. „Ja, das bin ich und auch ich möchte dir danken.“

Bei ihren Worten wurden meine Augen groß. Diese Stimme, dieser sanfte Klang, das war doch … „Du hast damals in der Höhle zu mir gesprochen.“

Etwas verwirrt runzelte sie die Stirn und sofort fiel mir die Ähnlichkeit zu Veith ins Auge. „Ich weiß nicht was du meinst.“

„In der Höhle, da war diese Stimme. Ich wusste die ganze Zeit nicht, woher das kam.“ Aber ich war mir sicher, das war die gleiche Stimme, die mich damals gebeten hatte, die Lykaner nicht aufzugeben. „Aber jetzt, du warst es.“

Isla zuckte in einer sehr anmutigen Bewegung mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, das ganze letzte Jahr ist nur ein verschwommener Fleck. Es war wie ein Traum, manchmal war alles ganz klar und dann wieder verwischt, so unwirklich. Und dann bin ich wieder im Nichts verschwunden.“ Ihre Augen nahmen einen leicht entrückten Ausdruck an, irgendwie glasig. „Dort war es seltsam. Es gab keine Zeit und kein ich und doch war ich da. Ich konnte es fühlen, verstehst du?“

Um ehrlich zu sein: „Nicht wirklich. Tut mir leid“, fühlte ich mich verpflichtet hinzuzufügen.

„Ja, es ist schwer zu erklären.“

Was sollte ich darauf erwidern?

Wulf drückte seine Tochter an sich und gab ihr einen Kuss auf den Scheitel. „Aber jetzt bist du wieder da und alles wird gut.“

Das wünschte ich den beiden wirklich.

Unentschlossen sah ich von einem zum anderen. Es wurde Zeit zu gehen, aber es fiel mir so unglaublich schwer mich von ihnen zu trennen. Ich warf einen hilfesuchenden Blick zu Veith und der verstand mich auch ohne Worte.

„Ja“, sagte er. „Es wird Zeit, die Hexen warten.“

„Ich begleite euch“, kam es von Djenan.

Überrascht sah ich zu ihm.

„Ihr braucht doch sicher ein Taxi und ich war so frei und habe mir das Moob von Catlin ausgeliehen.“ Er machte eine einladende Bewegung zu dem pinken Flitzer hinter ihm. „Ich warte nur darauf, dass ihr einsteigt.“

Und das taten wir dann auch. Natürlich erst nach zahlreichen weiteren Tränen und Umarmungen, aber irgendwann schaffte ich es, mich auf den Rücksitz zu setzen und winkte ihnen allen mit verquollenen Augen zu, als Djenan sich langsam in den Straßenverkehr einfädelte.

Die Fahrt dauerte nicht lange und ich verbrachte meine Zeit damit, mein Gesicht an Veiths Brust zu vergraben und nicht daran zu denken, was ich hier alles zurücklassen würde. Es wird sich lohnen, versuchte ich mir einzureden. Auf der anderen Seite warteten meine Erinnerungen auf mich, meine Familie und Freunde aus einem Leben das ich nicht kannte. Ich tauschte nicht das eine gegen das andere ein, ich ging dahin zurück, woher ich gekommen war.

„Du machst das richtige“, sagte Veith leise, als wüsste er genau, was in meinem Kopf vor sich ging.

„Und wenn nicht?“, fragte ich leise.

Er bedachte mich mit einem nachdenklichen Blick, während Djenan in eine schmale Seitenstraße einbog. „Wenn du jetzt nicht gehst, wirst du für den Moment glücklich sein, aber irgendwann werden die Zweifel kommen, denn du wirst nie erfahren, was du vergessen hast.“

Ja, genau das war der Grund, warum ich gehen musste. Ich brauchte meiner Vergangenheit wie die Luft zum Atmen, wie Veith. Das alles brauchte ich, um wirklich glücklich zu werden.

Das Moob hielt am Straßenrand und Djenan schaltete den Motor aus. „Wir sind da“, verkündete er und warf ein Lächeln nach hinten.

Veith drückte noch einmal meine Hand und stieg samt seinem Beutel aus. Ich machte es auf der anderen Seite nach. Dann stand ich leicht beklommen da und sah meinem Big Daddy entgegen, wie auch er ausstieg und zu mir kam.

„Danke“, sagte ich leise und spürte, wie mir schon wieder die Tränen in die Augen stiegen. „Für alles.“

Ein kleines Lächeln erschien um seine Lippen. Er packte mich an der Taille und im nächsten Moment küsste er mich – direkt auf den Mund.

Veith riss mich zurück und knurrte den Kater an.

„Das war meine Bezahlung“, zwinkerte er und bevor ich noch die Gelegenheit hatte, etwas zu sagen, stieg er wieder in das Moob und fuhr davon. Er winkte noch einmal frech in meine Richtung, dann war er auch schon weg.

Ich stand völlig sprachlos da. Was bitte sollte das jetzt wieder?

Veith grollte noch immer leicht in der Kehle und warf der leeren Straße wütende Blicke zu. Er sah aus, als wollte er gleich jemanden fressen – vorzugsweise wahrscheinlich Djenan. „Komm“, sagte er und zog mich zu dem kleinen Häuschen hinter uns, dass ich als das kleine Hexenhäuschen wiedererkannte, in dem ich schon einmal mit Gaare gewesen war.

Der Garten war gepflegt, genau wie das Häuschen selber.

Wir traten auf die dreistufige Treppe und Veith klopfte etwas zu heftig gegen das Holz.

„Lass die Tür ganz“, mahnte ich ihn, den die konnte nichts für Djenans dreistes Verhalten. Also wirklich, darüber konnte ich noch immer nur den Kopf schütteln.

Wir warten nicht lange, bis die Tür geöffnet wurde und die Hexe Chana, die mich auch schon bei meinem ersten Besuch in Empfang genommen hatte, mit gerümpfter Nase begrüßte. „Pünktlichkeit ist Ihnen wohl ein Fremdwort.“

Ja, ich konnte sie auch nicht leiden. „Tut mir leid, es gab unvorhergesehene Verzögerungen.“

„Die gleiche Entschuldigung, wie beim letzen Mal.“ Sie schüttelte nur missbilligend den Kopf, öffnete aber die Tür weiter, damit wir an ihr vorbei das Haus betreten konnten. Wie beim letzten Mal empfing mich ein Geruch aus Kräutern und Räucherstäbchen. Es kitzelte in der Nase.

„Folgen Sie mir, Boudicca erwartet Sie bereits“, sagte Chana, schloss die Haustür und führte uns durch den hellen Flur hinter in den Keller. Auch hier war alles sauber und ordentlich. Ich entdeckte weder eine Spinne, noch das passende Netzt dazu.

Eine Steintreppe führte uns in die Tiefe und langsam wurde ich echt nervös. Gleich war es so weit, gleich würde ich alles, was ich kannte, hinter mir lassen, um etwas zu finden, das ich verloren hatte.

Unten nahm uns ein großer Raum in Empfang, in dem es  nur einen großen Teppich mit einem großen Pentagramm gab. Drei Türen gingen von diesem Raum ab. Chana steuerte die erste links an und öffnete sie für uns. „Boudicca wartete darin auf Sie.“

„Danke“, fühlte ich mich verpflichtet zu sagen, auch wenn ich es nicht so meinte. Ich meine, ging es eigentlich noch unfreundlicher? Wahrscheinlich nur, wenn sie uns oben die Tür vor der Nase zugeschlagen hätte.

Veith drückte ganz leicht meine Hand und führte mich in einen kleinen Raum. Er war genauso karg wie der große Vorraum, nur gab es hier zusätzlich zu dem Pentagrammteppich noch einen großen, sehr eindrucksvollen Spiegel. Er war aus Gold gefertigt, mit wunderschönen Verzierungen, die mich an zwitschernde Vögel erinnerten.

„Da seid ihr ja endlich!“, quietschte eine fröhliche Stimme und ich zuckte zusammen, als ich in einem Meer aus Tüchern zu versinken drohte. Boudicca hatte mich in ihre Arme gerissen und ließ mich nur los, um die Prozedur bei Veith zu wiederholen. Er schien sich kein bisschen wohler dabei zu fühlen und machte hastig einen Schritt hinter mich, sobald sie wieder von ihm abließ.

Meine Mundwinkel zuckten. Da hatte wohl jemand meinen großen, bösen Wolf verschreckt.

„Wie geht es euch“, wollte Boudicca wissen und zog eine Athame aus den Tiefen ihres Rock. „Da ihr so spät gekommen seid, müssen wir uns ein wenig beeilen, ich habe gleich noch einen anderen Termin. Einen kleinen Fluch, nichts weltbewegendes.“

Einen Fluch? War das ihr ernst?

Sie zwinkerte uns zu. „Na dann mal her mit den Händen.“

Hände?

„Ich brauche euer Blut, du erinnerst dich?“

Ach ja, da war ja noch etwas. Zögernd streckte ich ihr die Hand entgegen, die sogleich von ihr ergriffen wurde. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und als sie mit der Athame über meine Zeigefinger strich, zuckte ich zusammen. Dunkelrotes Blut quoll hervor.

„Und jetzt du.“ Sie machte eine auffordernde Bewegung Richtung Veith, der ihr die Hand auch nur zögerlich reichte. Als sie mit dem Messer über seine Haut schnitt, entrang sich mir doch tatsächlich ein leises Grollen, das sie bewog die Augenbraue zu erheben.

„´tschuldigung“, murmelte ich, obwohl es mir nicht wirklich leid tat. Ich meine, hallo? Sie hatte gerade Veith verletzt, da war es doch wohl gestattet, leicht aggressiv zu werden.

Boudicca zückte noch einen Stift aus den Tiefen ihres Faltenrocks und malte Veith ein Pentagramm auf den Handrücken, erst dann ließ sie ihn wieder los. „Damit du auch durch den Spiegel kommst.“

Veith sah nicht besonders begeistert aus. Eher so, als würde er sich seine Hand schnellstmöglich waschen wollen, damit er das Zeichen wieder von der Haut bekam.

„So und nun müsste ihr eure Hände gegen das Glas drücken. Dabei müsst ihr daran denken, wo genau ihr hinwollt und dann einfach durch den Spiegel gehen.“

„So einfach? Kein Hokus Pokus, oder Simsalabim?“

Sie runzelte leicht die Stirn. „Ich versteh zwar nicht, was du damit sagen willst, aber ja, so einfach ist es.“ Sie sah von einem zum anderen. „Was habt ihr den geglaubt, was wir hier tun müssten, das Portal erst noch erschaffen?“

Naja, zumindest hatte ich es mir etwas eindrucksvoller vorgestellt. „Ähm … keine Ahnung.“

Sie schnalzte mit der Zunge. „Nun aber los, ich habe gleich noch einen wichtigen Termin.“ Sie schob uns vor den Spiegel und deutete uns, dass wir uns ein wenig beeilen sollten. Mann, da bekam ich ja voll das Gefühl unerwünscht zu sein.

„Kommen meine Erinnerungen dann auch wirklich wieder?“

„Natürlich, oder zweifelst du etwa an meinen Worten?“ Sie spitzte die Lippen. „Es kann aber ein bisschen dauern.“

„Dauern? Wie lange?“

„Das kann ich dir nicht genau sagen. Laut unseren Aufzeichnungen ist es unterschiedlich.“

Aufzeichnungen?

„Manchmal dauert es nur wenige Minuten, manchmal einen ganzen Tag, aber sie kommen auf jeden Fall wieder.“

Auf jeden Fall. Ich sah zu Veith hoch und er schien nun auch ein wenig nervös zu sein. „Bereit?“

Er nickte leicht.

„Okay.“ Ich hob meine Hand und drückte sie gegen das Glas. Es war warm und begann leicht zu summen, als es mit meinem Blut in Berührung kam. München, dachte ich ganz fest mit flatterndem Herzen. München, wir wollen nach München.

Auch Veith drückte seine Hand gegen das Glas. Seine Augen waren dabei die ganze Zeit auf mich gerichtet.

„Wir gehen jetzt in eine Welt, jenseits der Magie.“ Mit diesen Worten drückte ich seine Hand fester, um machte einen Schritt in den Spiegel hinein.

 

°°°

 

Ein blauer Blitz zuckte vor meinen Augen. Es war ein Gefühl wie im freien Fall, das genauso schnell verging, wie es gekommen war.

Die Landung war hart. Naja, nicht wirklich, eigentlich war das, was auf mir landete, hart und so passierte es, dass ich tiefer in den Teppichboden gedrückt wurde. „Autsch“, murmelte ich und versuchte, mich von der fluchenden Last zu befreien, die mich zu erdrücken drohte. War Veith schon immer so schwer gewesen?

Er rollte sich von mir runter und schlug mich dabei auch noch mit seinem Beutel.

„Uff.“ Na toll. Und noch mal „Autsch“.

„Entschuldige“, brummte er und setzte sich aufrecht hin.

Ich tat es ihm nach und stellte fest, dass ich vor einen schlichten Wohnspiegel in einem mir fremden Flur saß. Die Wände waren mit Holz vertäfelt und unter der Decke hing eine billige Deckenleuchte. Ein paar Bilder an der Wand, eine Kommode mit einem künstlichen Blumenstrauß. Mehrere Türen gingen von hier aus in andere Räume ab. Aber, egal wie sehr ich mich hier umschaute und auf etwas vertrautes hoffte, das mir sagte, ja, hier gehöre ich hin, alles blieb fremd, Verdammt, warum erkannte ich diesen Flur nicht? Boudicca hatte doch gesagt, dass es nur ein paar Minuten dauert, bis meine Erinnerungen zurück kamen.

Oder einen ganzen Tag.

Mist.

Was sollte ich machen, wenn es einen ganzen Tag dauerte, wenn … mein Blick fiel auf Veith, der sich nicht von der Stelle bewegt hatte.

Er kniete vor dem Spiegel und sah auf seine Hände, als seien sie ihm fremd, als gehörten sie nicht zu ihm. Er drehte sie hin und her, als suchte etwas auf ihnen, aber als er es offensichtlich nicht fand, tastete er seine Brust ab, als könnte er dort fündig werden. Dass ich noch anwesend war und sein seltsames Verhalten beobachtete, bemerkte er nicht einmal.

Zögernd streckte ich die Hand nach ihm aus und als er bei der Berührung an seinem Arm vor Schreck zusammenzuckte, zuckte auch ich. Was war denn jetzt verkehrt? Ein Veith, der sich überraschen ließ und das auch noch zeigte?

„Hey.“ Als sein Blick sich auf mich richtete, legte ich die Hand an seine Wange. „Alles okay mit dir?“

„Er ist weg.“ Veith ließ seine Arme in seinen Schoss sinken. „Mein Wolf, ich spüre ihn nicht mehr.“

„Oh.“ Was sollte ich auch sonst sagen? Veith wusste, was passieren würde, wenn er an meiner Seite durch das Portal schritt. Sein Wolf war Magie und Magie gab es hier nicht. Aber etwas zu wissen und es selber zu erleben, waren zwei Paar Schuh, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Ich bekam die Lippen kaum auseinander, aber die nächste Frage musste gestellt werden, einfach um mir Klarheit zu verschaffen. „Bereust du es?“

Zu einer Antwort konnte er nicht mal mehr ansetzen, weil wir plötzlich nicht mehr allein im Flur waren. Eine kleine Frau, mit runden Hüften und toupieren Haaren stand im Türrahmen und sah uns mit großen Augen an. Ihre zu grell geschminkten Lippen öffneten sich bei unserem Anblick. „Was tun Sie in meiner Wohnung?“

In ihrer Wohnung? Ich machte den Mund auf, nur im ihn gleich wieder zu schließen. Wohnte ich hier den nicht? Sie schien mich zumindest nicht zu kennen. Aber ich hatte dem Spiegel doch gesagt, dass ich nach Hause wollte und … nein, ich hatte ihm gesagt, dass ich nach München wollte. Verdammt, war ich etwa in der falschen Wohnung gelandet? Um wirklich sicher zu gehen, musste ich fragen. „Kennen Sie mich denn nicht?“

„Ob ich Sie kenne? Ob ich Sie kenne?!“

Mein Gott hatte die eine hohe Stimme, da taten einem ja die Ohren weh.

„Ich werde die Polizei rufen, ich werde Sie verhaften lassen und …“

Was? Nein! „Das ist nicht nötig, wir verschwinden schon.“

„… dann wird man sie einsperren und …“ Während sie wütete, zog sie ein Handy aus der Hosentasche.

Oh Scheiße. „Nein, nein, das ist wirklich nicht nötig.“ Ich rappelte mich auf die Beine und zog Veith an der Hand mit mir. „Wir gehen einfach und dann ist es, als wäre nie …“

„Nicht nötig?!“, höhnte sie und tippte auf ihrem Handy herum.

Oh scheiße, jetzt wurde es brenzlig. Ich hatte nicht vor, mich von der Polizei einkassieren zu lassen. Davon mal abgesehen, dass Veith sich sicher nicht einsperren ließe und es auch sicher nicht gutheißen würde, wenn ich verhaftet würde, wie sollte ich auch erklären, wie ich in diese Wohnung gekommen war? Ne, Flucht war im Augenblick wohl die beste Lösung. Also schnappte ich mir Veiths Hand und machte, dass ich mit ihm aus der Wohnung kam.

Wir hörten noch wie die Frau uns hinterher rief, als ich die Wohnungstür aufriss und wir durch das Treppenhaus eilten, aber bevor sie uns aufhalten konnte, waren wir auch schon weg. Raus aus dem Haus, die Straße entlang und ab in die nächste Gasse, die wir finden konnten.

Schwer atmend lehnte ich mich dort an die Wand. „Verdammt, das hätte schief gehen können.“ Ich rieb mir übers Gesicht. Wie hatten wir nur in einer wildfremden Wohnung landen können? Kein Wunder, dass die Dame die Polizei hatte holen wollen.

Veith sah um die Ecke, ob sie uns nicht vielleicht doch gefolgt war, aber mal ehrlich, was sollte sie dazu bewegen? Sie war sicher einfach nur froh, uns wieder los zu sein.

Aber eine andere Sache war noch viel wichtiger, wo verdammt noch mal waren wir? Ich wusste es nicht. Warum wusste ich es nicht? „Scheiße, ich kann mich immer noch nicht erinnern.“

Veith löste sich von seinem Posten und kam zu mir herüber. „Das kommt noch.“ Als ich ihm nicht in die Augen sah, drückte er mein Kinn hoch. „Du musst Geduld haben.“

„Und was machen wir bis dahin? Ich weiß immer noch nichts, außer dass wir jetzt in meiner Welt sind, aber …“ Ich biss mir auf die Lippe. Hatte ich doch einen Fehler gemacht? Hätte ich vielleicht nicht gehen sollen?

„Gib dir ein wenig Zeit.“

Vielleicht hatte er Recht. „Vielleicht muss mein Hirn erst rebooten“, überlegte ich laut.

Er kräuselte die Stirn. „Rebooten?“

„Neustarten, noch mal von … warum guckst du mich so an.“

Er neigte den Kopf zur Seite. „Die Farbe ist weg.“

Die Farbe ist weg? Hatte er etwas an den Kopf bekommen? „Was für eine Farbe?“

Er nahm eine Strähne von meinem Haar und drehte sie zwischen den Fingern. „Sie sind nicht mehr grün.“

Sie sind nicht mehr … ich bekam große Augen. Tatsächlich, meine Haare hatten wieder ihre normale Farbe, aber wie … natürlich. Das war magische Farbe gewesen, deswegen hatte ich sie auch nie rausbekommen. Aber hier gab es keine Magie und ohne Magie keine Farbe.

Erst jetzt wurde mir langsam aber sicher bewusst, was geschehen war. Ich war wieder in meiner Welt. Ich war wirklich zurück, aber … „Ich weiß nicht, wo wir sind.“ Und das machte mir Angst. Es war wie der Tag, an dem ich auf Fangs Dachboden erwacht war, nur das ich dieses Mal wusste, wie ich hier her gekommen war. „Was machen wir denn jetzt?“

„Ich weiß nicht“, sagte er ganz ehrlich und neigte den Kopf ein wenig zur Seite. „Wir könnten rumlaufen und vielleicht erkennst du ja etwas wieder.“

„Und wenn nicht?“

„Dann müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen.“

Ich zögerte, kaute mir auf der Unterlippe herum. Wovor hatte ich eigentlich solche Angst? Davor, dass ich mich nicht erinnerte, oder vielleicht davor, dass ich es doch tat? Wie paradox war das denn bitte? Schließlich hatte ich die ganze Zeit hierher gewollt und jetzt machte ich hier so ein Theater.

„Komm“, sagte Veith und nahm meine Hand. „Lass uns gehen, dann werden wir weiter sehen.“

Nur langsam folgte ich ihm hinaus aus der Gasse, zur vielbefahrenden Hauptstraße. Ich suchte ein Straßenschild, konnte außer Wohnhäusern aber nur eine Bushaltestelle ausmachen.

Die Leute, die sich hier draußen rumtrieben, waren sommerlich gekleidet. Verdammt, ich wusste nicht einmal, welche Jahreszeit wir hatten, in der magischen Welt lief das ganz anders ab.

Auf der anderen Straßenseite war ein kleiner Bäcker, aus dem gerade ein Mann mit einer großen Brötchentüte rauskam. Und da hinten war eine Frau, die ihren kleinen Hund Gassi führte. Alles Menschen, alles so … normal. Die Kinder auf dem Spielplatz, die Leute, die eilig ihrem jeweiligen Ziel entgegenliefen, Autos. So lange hatte ich kein Auto mehr gesehen.

Ich sah zu Veith, der genau wie ich alles um sich herum in sich aufnahm. Das war so fremd für ihn, so völlig anders, als er es gewohnt war. „Alles okay mit dir?“

Er warf mir nur einen kurzen Blick zu und nickte dann steif, bevor er einen Bus beobachtete, der auf der anderen Straßenseite fuhr. Sowas kannte er auch nicht.

„Das ist so eine Art Großtaxi.“

Er runzelte die Stirn. „Es gibt nur 162 davon?“

„Wie kommst du darauf?“

„Die Zahl steht vorn auf dem Großtaxi.“

Etwas blitzte vor meinem inneren Auge auf.

„Er ist so süß“, schwärmte Jenn.

Ich konnte nur die Augen verdrehen. Er war nicht süß, er war ein Blödmann, noch dazu einer, der eine Freundin hatte und die hieß nicht Jenn.

„Weißt du was er getan hat?“

„Nein, aber du wirst es mir sicher gleich verraten.“

Jenn stemmte empört die Hände in die Hüfte. „Du könntest wenigstens so tun, als würde es dich interessieren.“

„Ja, könnte ich“, bestätigte ich abwesend und ließ meinen Blick auf das Haltestellenschild gleiten. 162. Wann kam nur der Bus?

Plötzlich wurde ich ganz aufgeregt. „Die Linie, ich kenne sie, ich bin schon mit ihr gefahren!“, ich riss ihn beinahe von den Füßen, so schnell zerrte ich ihn hinter mir her. Mein Ziel war der Fahrplan. Vielleicht, wenn ich die Straßennamen sah, vielleicht würde ich mich dann an noch etwas erinnern.

Ich streckte den Finger aus und zählte die Stationen. Neun. Verdammt und der Bus war gerade weg. Das würde Ärger geben, wenn ich nach Hause kam.

„Neun“, sagte ich leise und ließ meinen Finger wie in meiner Erinnerung über den Plan gleiten. Von hier aus waren es aber dreizehn Stationen. Ich runzelte die Stirn. Woher wusste ich das auf einmal? „Dreizehn.“

Veith beugte sich leicht vor. „Alles in Ordnung mit dir?“

„Ich … ich weiß nicht“, sagte ich ganz ehrlich und drehte mich zu ihm herum. „Wir müssen mit dem Bus fahren.“

Er runzelte die Stirn. „Kannst du dich wieder erinnern?“

„Nein.“

„Und woher weißt du es dann?“

„Keine Ahnung.“ Ich sah hinauf zu dem Schild mit der Liniennummer. „Ich weiß es einfach. Dreizehn Stationen, dann  müssen wir aussteigen.“

„Und dann?“

Ein schwerer Seufzer entkam mir. „Das wüsste ich auch gerne.“

Und da war sie wieder, meine kleine Falte. Ich schlang meiner Arme um Veiths Mitte und kuschelte den Kopf an seine Brust. Diese Geste wurde von ihm sofort erwidert.

„Ich weiß es einfach.“

 

°°°

 

Die Umgebung und die vielen Menschen auf diesem engen Raum schienen Veith nervös zu machen, auch wenn er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Ich spürte es, merkte es an seiner Haltung. „Alles okay mit dir?“, fragte ich und kuschelte mich etwas enger an seine Schulter. Eins war definitiv klar, Veith mochte keine Busse. Ob es nun an den vielen Leuten, den Gerüchen, oder dem Lärm lag, war dabei egal. Zum Glück mussten wir nur noch zwei Stationen fahren.

„Mir geht es gut“, war alles was er sagte, ließ den älteren Herrn auf dem Platz uns gegenüber aber nicht aus den Augen. Würde ich es nicht besser wissen, könnte ich auf den Gedanken kommen, er will ihn fressen. „Es ist unhöflich, andere so anzustarren“, teilte ich ihm leise mit.

Der Bus wurde langsamer und fuhr an den Rand, um weitere Passagiere auszuspucken und einzulassen.

„Er starrt dich aber auch an.“

„Was wohl daran liegt, das ich hier so schamlos mit meinem großen, bösen Wolf kuschele.“

Er hob eine Augenbraue. „Schamlos?“

„Deine Hand liegt auf meinem Hintern, also ja, schamlos.“

Die Türen vorn gingen auf und eine Gruppe junger Männer stieg ein. Einer von ihnen lachte und … nein!

Jenn kramte in ihrer Tasche nach dem Handy, als sich die Bustüren öffneten. Nur ein einziger Kerl stieg ein und der sah gar nicht schlecht aus. Ich stieß Jenn leicht an und zeigte auf ihn. Zu meiner Beschämung bemerkte er diese Geste und kam dann auch noch mit einem breiten Grinsen auf mich zu. Ging es noch peinlicher? Ich war bestimmt wieder rot angelaufen, als er mich anlächelte.

„Hi, ich bin Sven.“

„Talita, hey, was ist los?“ Veith strich mir über die Wange. „Warum zitterst du?“

So hatte ich Sven kennengelernt. In diesem Bus war ich ihm das erste Mal begegnet, als er auf dem Weg zu seinem großen Bruder war.

„Talita?“

Aber von diesen Kerlen dort war keiner Sven, das waren Fremde und … oh Gott. Der Bus fuhr schon längst wieder, als ich das Gesicht an Veiths Brust vergrub, um mich so vor den Erinnerungen zu verstecken. Er schlang sofort die Arme um mich und drückte mich an sich. Das war wirklich das Einzige, was ich einfach vergessen wollte.

„Was hast du?“

Ich schüttelte nur den Kopf. Irgendwann würde ich es ihm sagen, aber nicht jetzt, dass konnte ich einfach nicht.

Er drückte die Lippen aufeinander. Es gefiel ihm nicht, dass ich nicht mit ihm sprach, aber was sollte ich denn machen? Ich konnte es ihm einfach nicht sagen.

Die Anzeige im Bus sprang um und ich nutzte es, um das Thema zu wechseln. „Wir müssen aussteigen.“ Ohne ihm in die Augen zu sehen, hüpfte ich vom Sitz, schwang meinen Beutel über die Schulter und stellte mich an die Tür.

Veith schob mir nur Sekunden später die Hand in meine. „Ich hoffe, dass du es mir irgendwann sagst.“

Überrascht sah ich ihn an.

„Glaubst du, ich habe es nicht gemerkt? Du weichst mir öfter aus und ich habe das Gefühl, dass es sich dabei jedes Mal um dasselbe Thema handelt.“

Verdammt, natürlich hatte er es gemerkt. Das hier war schließlich Veith. Ich senkte den Blick und kniff die Lippen zusammen. „Ich hoffe auch, dass ich es dir irgendwann sagen kann“, kam es da mutig aus meinem Mund.

Der Bus fuhr langsam an den Straßenrand und die vollautomatischen Türen öffneten sie von Zauberhand vor uns. Aber das hier hatte nichts mit Magie zu tun, hier war die Technik am Werk, eine Technik, die in Veiths Heimat völlig unbekannt war.

Ich drückte seine Hand und stieg aus.

„Komm schon, Tal!“

Vor mir rannte sie nach Hause, um sich vor dem plötzlichen Regenguss in Sicherheit zu bringen. Sie war schon um die Ecke verschwunden, da hatte ich noch nicht mal die Hälfte der Strecke hinter mir.

Ich sog stark die Luft an.

„Was hast du?“

„Hier wohne ich“, flüsterte ich. Ich war mir ganz sicher. Dort in der Seitenstraße wohnte ich, da war mein Zuhause.

„Dann lass uns gehen.“

Jetzt wurde es ernst. Mit flatterndem Herzchen und festen Griff um Veiths Hand, stieg ich aus dem Bus. Ich glaubte, er sei in diesem Moment das Einzige, was mich noch auf den Beinen hielt, so nervös war ich. Hier irgendwo wohnte ich, hier war mein Zuhause, der Ort an dem auch meine Familie wohnte. Das zumindest glaubte ich zu wissen.

Hinter mir fuhr der Bus brummend davon, als ich meinen Blick über die Gegend schweifen ließ. Eine kleine, hübsche Vorstadtsiedlung mit weißen Gartenzäunen und schmucken kleinen Häuschen. Das hier war so eine richtige Bilderbuchsiedlung, in der das Gras so grün war, dass es fast in den Augen wehtat. Alle Hecken waren akribisch beschnitten worden und in den Beeten fand man keine Pflanze, die dort nicht sein durfte. Irgendwie spießig, fiel mir dazu ein, aber ich wusste, dass dies der Ort war, an den ich gehörte. Dort drüben in die Seitenstraße, dort musste ich hin, dort würde ich finden, wonach ich suchte.  

Doch irgendwie war ich plötzlich so verunsichert, das ich mich nicht bewegen konnte.

„Sind wir falsch?“, fragte Veith leise und auch er ließ seinen Blick über die Umgebung wandern.

Ich schüttelte ganz leicht den Kopf. „Nein.“ Ich wusste, dass wir hier richtig waren, fühlte es, erinnerte mich, doch ich wusste nicht, was genau mich am Ziel erwartete und das war es, was mich zögern ließ. Warum kamen die Erinnerungen auch immer erst, wenn ich etwas sah, dass ich kannte? Was war das für ein dummes Spiel?

Veith drückte meine Hand. Er verstand mich auch ohne Worte. „Dann komm.“

„Okay.“ Aber ich bewegte mich nicht. Erst leichtes Drängen von ihm brachte meine Beine dazu ihre Arbeit aufzunehmen.

Langsam bogen wir in die nächste Seitenstraße ab und blieben beide abrupt stehen. Eine Mauer hätte uns nicht wirksamer anhalten lassen. Meine Augen wurden groß. Das konnte es nicht geben, das war irgendwie irreal, wir waren schließlich nicht mehr in der magischen Welt. „Siehst du das Gleiche wie ich?“

Veith nickte. „Fangs Haus.“

Das traf den Nagel so ziemlich auf den Kopf.

Das Haus vor uns war eine exakte Kopie von Fangs Haus im Lager der Lykaner. Naja, so mehr oder weniger jedenfalls. Es standen andere Blumenkästen auf den Fensterbänken und die Außenlampen funktionierten hier mit elektrischem Strom. Außerdem war der Anstrich ein anderer, aber ansonsten? Der gleiche Grundriss. Türen, Fenster, Schnitt, Größe, alles gleich. Mir trat das vertraute Gefühl von damals in Erinnerung. An dem Tag als ich auf dem Dachboden von Fang erwacht war, kam mir alles so vertraut und doch irgendwie falsch vor. War das der Grund?

„Hier wohne ich.“ Ich erinnerte mich daran, wie ich tausende von Malen durch das Gartentor da vorn gelaufen war. Ich überbrückte die letzten Meter, die mich noch davon trennten, fuhr mit den Fingern zögernd über das von der Sonne aufgewärmte Metall. „Aber … wie ist das möglich?“ Fragend sah ich zu Veith hoch.

In seine Stirn hatte sich wieder diese kleine Falte gegraben. „Das wüsste ich …“ Er brach schlagartig ab und seine Augen wurden groß wie Teller. „Was …“ Er warf mir einen schnellen Blick zu, wandte sich jedoch gleich wieder dem Haus zu.

Ich folgte seinem Blick, du konnte es kaum glauben. In der Haustür stand eine junge Frau, die mich genauso verblüfft ansah, wie ich sie. „Es gibt nicht nur eine Kopie vom Haus, sondern auch von mir?“ Hallo Minnie-Mouse-Stimme, lang nicht mehr gehört. Dieses Mädel glich mir bis zu den Haarspitzen – jetzt wo meine Haare nicht mehr grün waren.

Wir starten uns nur an. Dann schlug das Mädchen sich die Hände vor dem Mund und fing an zu weinen. „Tal?“

Nein, das war keine Kopie oder Doppelgängerin. Das war Tiara, meine eineiige Zwillingsschwester, das Gymnastik- und Karate-Ass der Familie. Meine sieben Minuten jüngere Schwester. Das kleine Nesthäkchen. „Tia“, flüsterte ich und das war der Moment, in dem sich der Knoten löste und eine Flut von Erinnerungen über mir zusammenbrach.

„Ahhh!“ Der Druck war so stark, dass ich unter ihm in die Knie ging und mir den Schädel hielt, damit er nicht in tausend Stücke zersprang.

„Talita!“ Ich spürte, wie Veith sich erschrocken neben mich kniete, spürte seine Hände. Alles wurde irgendwie verschwommen.

Die Tür geht mit einem Knall auf und Tiara stürmt in den Raum. „Rate was ich gefunden habe.“

Mäßig interessiert ließ ich von meinen Hausaufgaben ab und drehte ich mich auf meinem Stuhl herum. „Was hast du denn gefunden.“

„Da, schau.“ Sie hielt die Hand auf und präsentierte mir eine riesige Kröte.

Igitt. „Also manchmal bist du echt eklig, Tia.“

Eilige Schritte kamen auf mich zu.

Mit einem freudigen Kreischen, dass mein Trommelfell zum Beben brachte, schlang meine beste Freundin Jenn ihre Arme um meinen Hals. „Ich hab´s geschafft, ich hab´s geschaffte, ich hab´s geschafft!“ Freudestrahlend hüpfte sie auf und ab.

„Kannst du das bitte noch etwas lauter sagen?“, fragte ich trocken und stocherte in meinem Ohr herum. „Ich glaube mein anderes Ohr funktioniert noch.“

„Scheiße, Tal, was ist los?“ Das war Tiaras Stimme.

Lachend lief ich in das Spiegelkabinett, Tiara gleich hinter mir. Die Verzerrungen meines kindlichen Abbilds waren toll und manchmal auch gruselig.

„Tal, wo bist du?“, hörte ich Tia laut fragen.

„Ich bin hier!“, rief mein kindliches Ich aus und lief lachend in die Tiefen dieser optischen Verwirrung.

„Wo denn?“

„Na hier.“ Ich winkte und die Spiegel winkten hundertfach zurück. „Hier, Tia, ich bin hier!“

„Tal, nicht so schnell!“

„Was hast du mit ihr gemacht, du Idiot?!“, fuhr Tia Veith an.

„Okay, so machen wir es“, flüsterte ich Tia zu und stand auf. Operation: Verscheuch die blöde Freundin von Taylor konnte beginnen.

Tia sprang auf die Beine. „Aber meinst du nicht, dass Taylor böse auf uns sein wird?“

Bestimmt schüttelte ich den Kopf. „Nein, sie ist dumm, er wird uns dankbar sein und endlich wieder mit uns spielen.“

„Verdammt, Tal, was ist los?“ Hände strichen über mein Haar, meine Schultern. „Mama, Papa! Kommt schnell, Tal ist hier!“

„Schatz, du musst essen“, sagte meine Mutter besorgt und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht.

Ich drehte mich auf dem Bett weg von ihr. Ich wollte nichts essen, ich wollte einfach nur, dass sie mich in Frieden ließ, dass sie … warum konnte sie es nicht ungeschehen machen? Warum konnte ich es nicht vergessen?

„Talita?“

„Ich habe keinen Hunger.“

Sie seufzte. „Du weißt, dass es nicht deine Schuld ist? Was Sven getan hat … du kannst nichts dafür. Er …“

„Bitte“, sagte ich leise und spürte, wie die ersten Tränen über meine Wangen liefen. „Geh weg.“ Ich wollte das nicht hören. Ihre Worte halfen nicht, machten es nur schlimmer. Hätte ich mich nur mehr gewehrt.

„Okay, du lässt mir keine andere Wahl.“

„Geh weg von ihr, sonst schlag ich dich!“, wütete Tia.

Veith rückte nur noch näher an mich heran.

 „Weihnachtsmann, dein Bart rutscht!“, hörte ich Taylor lachen.

„Das ist Papa!“ Anklagend zeigte ich auf den dickbäuchigen Mann, dem langsam aber sicher der falsche Bart aus dem Gesicht rutschte. Auch schnelles Zupacken half da nicht mehr. Der Bart machte einen Abgang und der Weihnachtsmann brauchte in nächster Zeit nicht mehr über eine Rasur nachdenken.

Tia sah aus, als wenn sie gleich heulen würde – mal wieder. „Ist Papa der Weihnachtsmann?“

Mama sah aus, als könnte sie sich kaum noch das Lachen verkneifen.

„Nein“, sagte Taylor. „Der Weihnachtsmann hatte nur so viel zu tun, dass er Papa gebeten hat, für ihn einzuspringen.“

Jetzt heulte Tiara wirklich. „Aber ich will den Weihnachtsmann!“

Weitere Schritte näherten sich hastig. „Mach Platz, Schatz, ich mach das schon.“ Das war eine neue Stimme, eine, die mir trotzdem sehr bekannt war, meine Mutter. „Mach den Kopf runter, gleich ist es vorbei“, sagte sie sanft und übte mit der Hand schwachen Druck auf meinen Kopf aus, damit ich ihren Worten auch nachkam.

Tiara ließ ihr Bein herumwirbeln und schickte ihren Gegner auf die Matte.

Ich konnte es kaum fassen und fing an zu schreien und zu jubeln. „Das war der Sieg! Ja Tia, ja!“

Und nicht nur ich, auch meine Mutter schrie vor Freude, nur mein Vater beließ es bei einem Lächeln und Klatschen.

Tia streckte siegreich die Hände in die Luft und führte ihr kleines Freudentänzchen auf, was die Menge in der Sporthalle nur noch weiter aufstachelte. Der Karatepokal ging dieses Mal an sie.

„So ist gut“, hörte ich die sanfte Stimme meiner Mutter. „Schön atmen, gleich ist es vorbei.“

Ja, sie hatte Recht, der Druck ließ langsam nach, ich konnte es spüren.

„Die gehören mir!“, schrie ich und zerrte an der Tüte mit den Gummibärchen, aber Tiara wollte sie einfach nicht loslassen.

„Nein, dir gehören die anderen, das sind meine!“

„Mama hat sie mir gekauft!“

„Nein mir!“

Eine Hand griff zwischen uns und wir ließen überrascht beide von der Tüte ab. Ganz gemächlich riss Taylor das Plastik auf, ließ daraus ein Gummibärchen in seinem Mund verschwinden und spazierte samt der Tüte aus der Küche.

Tiara und ich sahen ihm sprachlos hinterher. Und dann, im stillen Einverständnis machten wir uns auf dem Weg ihm zu folgen. Das waren unsere Gummibärchen!

„Genau so, gleich ist es vorbei.“

Der Bilderstrom verblasste, der Druck verschwand und ich lag praktisch keuchend auf dem Bürgersteig und fand langsam in die Realität zurück.

Unter meinen Kopf fühlte ich was Warmes, Weiches. Der Geruch war mir so vertraut, wie mein eigenes Spiegelbild. Veith, ich lag auf Veiths Schoß. Meine Hände krallten sich in seine Hose. „Oh Gott“, stöhnte ich.

„Besser?“, fragte meine Mutter und erst jetzt realisierte ich es wirklich.

Langsam drehte ich den Kopf und sah in das Gesicht der Frau, dass das Letzte gewesen war, dass ich vor Augen hatte, bevor ich durch den Spiegel in eine andere Welt gestoßen wurde. „Du warst es“, flüsterte ich. „Du hast mich dorthin geschickt.“

Sie hielt meinem Blick stand. „Es war das Einzige, was ich noch tun konnte, um dich nicht zu verlieren.“

Sie redete von Sven und davon, dass ich mich aufgegeben hatte, dass ich einfach nicht verwinden konnte, was passiert war.

Ich drehte das Gesicht zurück in Veiths Schoß und spürte, wie er schützend die Arme um mich legte.

„Ein Lykaner?“, fragte meine Mutter erstaunt. „Wie hast du das denn hinbekommen?“

Hä? Wie kam sie denn auf Lykaner? Er gurkte hier schließlich nicht als Wolf durch die Gegend und würde es wahrscheinlich auch nie wieder tun – und außerdem trug er zum ersten Mal in seinem Leben Hosen. Ich richtete mich auf, um sie anzusehen. Mein Vater stand hinter ihr und Tiara saß neben ihr auf dem Boden und sah neugierig und auch etwas verwirrt von einem zum anderen. „Woher weißt du, dass er ein Lykaner ist?“

„Die Augen“, erwiderte sie und richtete den Blick auf Veith. „Solche Augen findest du nur bei einem Lykaner.“

Und dann erst ging mir die genaue Bedeutung ihrer Worte auf. Sie wusste von den Lykanern, sie wusste von der magischen Welt hinter dem Spiegel, aber … sie war doch ein Mensch, oder? Ich kniff die Augen leicht zusammen. „Wer bist du?“

Das ließ sie auf eine sehr geheimnisvolle Art lächeln. „Deine Mutter.“

Ja, so sah sie zumindest aus.

„Vielleicht sollten wir erst mal hineingehen“, sagte mein Vater da. Seine Stimme war wie immer ruhig und gelassen, wie das Schnurren einer Katze.  Das war schon immer so gewesen. Bei keinen anderen Wesen hatte ich jemals eine so wohltuende Stimme gehört. „Tia und ich werden etwas zu essen machen und du kannst dich mit deiner Mutter unterhalten.“

„Aber ich …“, wollte Tiara sofort protestieren.

„Du kannst mir helfen“, schloss mein Vater und sein Blick ließ keine Widerworte zu.

Ich zögerte und lauschte, als Tia ein weiteres Mal protestierte und damit eine kleine Diskussion mit meinem Vater vom Zaun brach. Schade nur für sie, dass er immer gewann.

Ich richtete mich nur langsam auf, war immer noch unsicher und glaubte, dass nur Veiths Hand mir Halt gab.

„Na komm, mein Schatz“, sagte meine Mutter und berührte mich leicht am Rücken, um mich ins Haus zu führen. Papa und Tiara standen immer noch draußen, als ich durch den Eingang in den langen Flur trat. Sofort war alles da, all die Jahre, die ich hier aufgewachsen war. Wie ich mit meiner Schwester durchs Haus gerannt war, wie meine Mutter mir in der Küche das Kochen beigebracht hatte und wie mein Vater mir Geschichten aus einer anderen Welt erzählt hatte, einer Welt … oh mein Gott. „Die Katze, die vom Kuchen naschte.“

Meine Mutter blieb bei diesen Worten stehen und lächelte mich an. „Ja, sie ist wahr.“

Veith runzelte die Stirn.

„Das ist eine Geschichte, die mein Vater mir immer erzählt hat. Die Katze wurde vom Kuchen auf dem Fensterbrett angelockt, woraufhin die Köchin ihn in einen Mann verwandelte, um ihm erklären zu können, dass man sowas nicht machte.“

„Genaugenommen hat deine Mutter einen Fluch nach mir geworfen und meinen Schwanz angesengt“, lächelte mein Vater und schloss hinter sich und Tiara die Tür. „Danach musste ich sie unbedingt wieder sehen.“

„Sie hat was angesengt?“ Tiara sah fragend von einem zum anderen und verzog den Mund. „Ich will mich ja nicht in euer Sexualleben einmischen, genaugenommen möchte ich nicht mal darüber nachdenken, ob ihr eines habt, aber hat sie wirklich deinen … äh …“ Und schwub, sie wurde feuerrot.

Diese Reaktion lag also in der Familie.

Ich drehte mich überrascht um, als ich hinter mir ein kleines Lachen hörte. Veith versuchte sichtlich, ein Grinsen zu unterdrücken. Na so was, wer hätte das gedacht.

„So, Tia, du kommst jetzt mit mir, damit deine Mutter sich mit deiner Schwester unterhalten kann.“ Im Vorbeigehen, drückte er mir noch einen Kuss auf die Stirn. „Schön dass du wieder hier bist.“ Dann nahm er meine sich sträubende Schwester und zog sie mit sich ins Wohnzimmer.

„Ich will aber bei Tal bleiben.“

„Später.“

„Aber …“

„Später.“

„Hmpf!“

Meine Mutter lächelte nachsichtig. „Na dann kommt mal.“ Auch sie verschwand im Wohnzimmer.

Okay, jetzt wurde es ernst. Ich ließ meinen Beutel auf den Boden gleiten und nahm auch Veith seinen ab, um ihn runterzustellen. Mein Herz schlug schnell in der Brust, als ich mit ihm an der Hand ins Wohnzimmer folgte. Alles schien mir hier so vertraut. Die hellen Sofas, die Tür zur Küche, Gardinen, Schränke, Dekoration. Das alles kannte ich und doch war es irgendwie seltsam, wieder hier zu sein.

Meine Mutter hatte in ihrem Sessel Platz genommen und sah uns erwartungsvoll entgegen.

Na gut, dann mal ran. Neben Veith ließ ich mich auf der Couch nieder. Seine Anwesenheit war tröstlich.

„Also, was möchtest du wissen?“, fragte meine Mutter ganz direkt.

„Alles.“

„Das habe ich mir gedacht. Nun gut.“ Sie schlug die Beine übereinander und lehnte sich im Sessel zurück. „Wie du dir ja nun schon selber zusammengereimt hast, sind dein Vater und ich mehr, als man auf dem ersten Blick vermuten würde.“

Und das war noch untertrieben.

„Weißt du, ursprünglich komme ich aus einem kleinen Ort, der sich Zuchtdiwan nennt. Dort bin ich aufgewachsen und dort lernte ich auch deinen Vater kennen. Hast du schon mal von ihm gehört?“

Ja, ja hatte ich, aber … ich sah zu Veith, aber der folgte nur aufmerksam den Worten meiner Mutter. „Ich habe in der letzten Zeit viele neue Orte kennengelernt“, sagte ich ausweichend und kuschelte mich an meinen großen, bösen Wolf, der sogleich den Arm um mich legte.

Meine Mutter lächelte. Sie war blond und von der Statur ähnlich wie ich, ein wenig kleiner, fast wie eine Elfe. „Ich hab schon immer gerne gebacken, aber das weißt du ja. Und manchmal habe ich den Kuchen zum Abkühlen aufs Fensterbrett gestellt.“

Sowas gab es wirklich? Ich dachte immer, das kommt nur in schlechten Märchen vor.

„Als ich ungefähr in deinem Alter war, verschwanden die Kuchen regelmäßig von meinem Fensterbrett. Erst habe ich an einen Streich gedacht, aber je öfter das passierte, desto ärgerlicher wurde ich und eines Tages erwischte ich deinen Vater dabei, wie er die Pfote nach meinem Kuchen ausstreckte. Ich habe ihn einen Fluch auf den Pelz gejagt, der ihn drei Meter in die Höhe springen ließ. Von da an kam er fast täglich wieder. Es wurde wie ein Spiel zwischen uns. Schaffte ich es, ihn zu erwischen, oder bekam er meinen Kuchen.“ Sie lächelte bei der Erinnerung daran.

„Was bist du?“, fragte ich gerade heraus.

Sie lächelte schief. „Ist das nicht deutlich?“

„Wenn es so deutlich ist, dann müsste ich doch nicht fragen, oder?“

„Sie ist eine Hexe“, sagte Veith leise.

Eine Hexe?

Meine Mutter nickte. „Und, weißt du auch, was mein Mann ist?“

Er warf einen Blick auf mich und runzelte die Stirn. „Das ist nicht möglich.“

„Was ist nicht möglich?“, wollte ich sofort wissen.

„Doch“, sagte meine Mutter.

Doch? Was doch?

„Das kann aber nicht sein. wie …“

„Verdammt noch mal, würde mir jetzt bitte jemand sagen, worüber ihr beide redet?“ Dieses Ignorieren ging mir voll gegen den Strich.

Veith richtete den Blick wieder auf mich. Die kleine Falte blieb zwischen seinen Augen. „Die Katze, die vom Kuchen naschte“, sagte er. „Du bist eine Katze, eine halbe, das hast du immer gesagt.“

Man konnte praktisch sehen, wie über meinem Kopf eine Glühbirne aufleuchtete. „Du meinst, mein Vater ist ein Therianer?“

„Um genau zu sein, ein Schneeleopard“, fügte meine Mutter hinzu.

Nun war ich vollends verwirrt. „Aber ich dachte immer, das verschiedene Wesen keine Kinder kriegen können, weil die Magie sich nicht miteinander verträgt.“

„Nicht, so lange sie jung sind, das ist wahr.“ Sie seufzte und ihr Blick richtete sich in weite Ferne. „Weißt du, dein Vater und ich sind uns sehr schnell nahe gekommen und ich wurde schwanger. Es war wie ein Wunder, die Chance, dass so etwas passiert, ist geringer als im Lotto zu gewinnen.“ Sie lächelte über ihren eigenen Scherz. „Aber es kann nicht überleben, selbst wenn es auf die Welt kommt. Die Magie zerstört es von innen heraus. Ein Schutz der Natur, damit die Rassen sich nicht vermischen. Aber ich wollte dieses Kind, ich wollte es unbedingt.“ Sie richtete ihren Blick auf mich. „Doch das ging nur, wenn ich die Magie aufgab, denn ohne Magie hatte das Kind in meinem Leib eine Chance, zu überleben.“

„Du bist auf die Erde gekommen, weil du schwanger warst“, fasste ich zusammen.

Sie nickte. „Ja und dein Vater hat mich begleitet. Es kam damals alles ziemlich plötzlich, aber ich hatte keine Zeit groß darüber nachzudenken. Mit jeder Minute die ich zögerte, stieg die Wahrscheinlichkeit, dass das kleine Leben in mir starb. Ich kam noch in der Stunden her, als ich es erfuhr.“

„Und Papá ist einfach mitgekommen?“

Ihre Mundwinkel kletterten nach oben. „Papá, wie du das sagst.“

„Ja, ich … das hab ich so gelernt.“

Sie nickte. „Dein Vater hat nicht gezögert und neun Monate später kam Taylor auf die Welt.“

Der Name versetzte mir einen Schock. Taylor, mein großer Bruder, der bei einem Badeunfall ums Leben kam. Er ist mit dem Kopf gegen einen Pfosten geknallt, als er vom Steg ins Wasser sprang. Während ich noch oben stand und nach ihm rief, ertrank er unter mir. Das war nun zwölf Jahre her. „Er ist im Urlaub in unserem Sommerhaus gestorben.“

Meine Mutter senkte ihren Blick. „Es war nicht deine Schuld, du warst nur ein kleines Kind.“ Sie schüttelte den Kopf, um die Erinnerung verschwinden zu lassen. „Danach versuchten wir, irgendwie weiter zu machen und zum Glück hatten wir ja noch euch Mädchen, aber dann, vor zwei Jahren, als du diesen Jungen kennengelernt hast, da …“

„Stopp!“ Ich warf einen hastigen Blick zu Veith. „Ich will nicht darüber reden.“

Eine lange Minute sah sie mich einfach nur an. „Na gut, aber du solltest es ihm sagen.“

Ich kniff die Lippen zusammen, spürte Veiths Blick auf mir, aber ich würde es jetzt nicht sagen, dass konnte sie nicht von mir verlangen. Ja, vielleicht hatte ich es eine Zeitlang vergessen und ja, ich hatte nun jemanden, der mir darüber hinweghelfen konnte, aber deswegen hatte ich es noch lange nicht verarbeitet.

Sie seufzte. „Danach warst du nicht mehr du selbst. Du gingst nicht mehr weg und hast selbst Tiara nicht mehr an dich herangelassen. Du verweigertest das Essen. Ich sah dich vor meinen Augen sterben, jeden Tag ein wenig mehr und mir wurde klar, dass ich etwas unternehmen musste, wenn ich nicht noch ein Kind verlieren wollte. Du brauchtest Zeit zum Heilen, aber solange du dich erinnern konntest, konntest du nicht heilen.“

„Also hast du mich in die andere Welt geschickt.“

Sie nickte. „Du warst alt genug, dass dir die gemischte Magie nichts mehr anhaben konnte. Ich brachte dich zu meiner Freundin Susan, damit sie dir das Pentagramm auf der Schulter tätowierte, nicht mal da hast du dich gewehrt und es einfach über dich ergehen lassen und da wusste ich, mir blieb keine andere Wahl mehr.“

Ich erinnerte mich noch daran. Zwar hatte ich mich gewundert, was meine Mutter damit bezweckte, aber es war mir auch egal gewesen. Sie hatte das Bild ausgesucht.

„Ich wusste, wenn du mit diesem Zeichen in der magischen Welt auftauchst, dass du früher oder später an eine Hexe geraten würdest und diese wüsste ganz genau, woher du stammst. Sie würde dich zurückschicken. Aber nachdem ich dich in die andere Welt gestoßen hatte, verging so viel Zeit. Ich war mehr als einmal kurz davor, dir zu folgen, um dich zu suchen, aber kurz nachdem du hinübergegangen warst, ist das Portal gesprungen, ich konnte nicht zu dir.“ Ihr stiegen die Tränen in die Augen. „Das Portal war kaputt, warum war es kaputt? Ich konnte nicht zu dir und das hat mich fast wahnsinnig gemacht.“

„Oh Mama.“

„Talita hat das Portal zerbrochen“, sagte Veith.

Meine Mutter sah ihn fragend an.

„Talita ist auf dem Dachboden meines Onkels gelandet und beim Aufwachen mit dem Kopf gegen den Spiegel geknallt.“

Die Augen meiner Mutter wurden groß. „Du hast … aber natürlich. Dadurch, dass du das Gegenstück zerstört hast, ist auch mein Portal kaputt gegangen. Es bezog seine Magie durch den Gang der Welten, aber wenn dieser Gang in sich zusammenbricht, kann die Magie ihn nicht mehr speisen.“

„Ich dachte in dieser Welt gibt es keine Magie.“

„Nein, gibt es auch nicht. Die Portale sind ein Teil der magischen Welt, nur deswegen funktionieren sie auch von dieser Seite. Aber dieser Gang hat seine Tücken. Man verliert einfach sein Gedächtnis.“

„Der Grund, warum du mich hindurch geschickt hast.“

Ihr Gesicht nahm einen liebevollen Zug an. „Es tut mir leid, dass ich das getan habe, aber ich wusste mir nicht mehr anders zu helfen. Ich hätte auch nicht gedacht, dass es so lange dauern würde, bis du wieder zu uns zurückkehrst. Was ist nur passiert?“

Was passiert war? Jede Menge. „Ich bin inmitten eines Rudels Lykaner gelandet.“

Meine Mutter sog die Luft scharf an und warf einen Blick zu Veith, der diesen nur ruhig erwiderte.

„Sie waren über mein Auftauchen nicht sonderlich erfreut und als sie dann auch noch das Zeichen der Hexen auf meiner Schulter entdeckten … naja, sagen wir es mal so, ich habe mich dann dazu entschlossen, dass es das Beste sei, wenn ich es unter meiner Kleidung versteckte.“

„Aber die Hexen hätten es spüren müssen, egal ob sie es sahen.“

„Ich hatte eher weniger mit Hexen zu tun, war hauptsächlich mit Lykanern und Magiern zusammen.“

„Verstehe“, sagte sie nur.

„Ich habe es ja nicht gewusst“, verteidigte ich mich. „Du und Papa habt nie etwas gesagt und … und …“

Im Nebenraum klapperte Geschirr und meine Schwester lachte laut auf. „Und Tia?“ War sie wie ich?

„Tia weiß davon nichts.“

„Wie hast du ihr meine Abwesenheit erklärt?“

„Ich habe ihr gesagt, dass ich dich auf unbestimmte Zeit in ein Rehabilitationszentrum geschickte habe, wo du keine Kontakte zur Außenwelt haben durftest. Ich habe ihr gesagt, dass du Zeit brauchst, um das Geschehene zu verarbeiten und dass man dir dort helfen kann.“

Also hatte sie ihr eine Lüge aufgetischt. „Ich hatte noch nie ein Geheimnis vor ihr.“

„Ich werde dir nicht verbieten, ihr alles zu erzählen. Du bist alt genug, um selber zu wissen, was du ihr sagen wirst, aber du solltest dich nicht wundern, wenn sie dir kein Wort glaubt.“

Schon klar, was ich hinter mir hatte und was meine Eltern waren – ich konnte es immer noch nicht so richtig glauben – klang so phantastisch, dass es aus einem Märchen stammen könnte. Einem Märchen voller Bösewichter.

Die trüben Gedanken an das Geschehene, die in mir aufkommen wollte, verschwanden sofort, wie Tiara mit einem „Essen ist fertig!“, ins Wohnzimmer gestürmt kam und sich neben mir auf die Couch warf. Einen Moment schien sie zu überlegen, ob sie mich in die Arme schließen sollte, aber da war Veiths Arm im Weg. Also entfernte sie ihn kurzerhand von meinen Schultern und zog mich dann an ihre Brust. „Du lässt schön deine Flossen von ihr, verstanden?“

Oh ja, meine Schwester und ihre Ansichten. Sie kannte Veith nicht und hatte nicht überprüfen können, ob er nett und gut genug für mich war. Deswegen hatte er sich ihrer Ansicht nach von mir fern zu halten, bis sie etwas anderes sagte. Aber Veith war nicht nett. Er war ein großer, böser Wolf, der sehr besitzergreifend sein konnte und als er sich unter unseren Augen wortlos von der Couch erhob, befürchtete ich schon, das hier gleich ein heftiger Streit entbrennen könnte. Doch er zog mich nur aus den Armen meiner Schwester auf die Beine und schob mich hinter seinen Rücken.

„Sie gehört mir.“ Herausfordernd sah er meiner Schwester entgegen und wäre ich wegen Tiaras verblüfften Gesichtsausdruck nicht kurz vor einem Lachanfall, dann hätte ich ihm wohl gesagt, dass ich eigentlich nur mir allein gehörte – aber wirklich nur eigentlich.

Tiara konnte über so viel Besitzgier nur nach Luft schnappen. Fassungslos sah sie zu meiner Mutter, die sich sichtlich das Grinsen verkniff. „Sag doch auch mal was!“, forderte sie sie auf, doch meine Mutter erhob nur ergeben ihre Hände.

„Ich halte mich da raus.“

Aus der Küche trat mein Vater, in den Händen ein Handtuch, mit dem er sich jeden Finger einzeln abwischte. „Wer jetzt nicht zum Essen kommt, bekommt nichts mehr.“

„Bin sofort da“, sagte Tiara und weg war sie.

Super, wurde ich wirklich gerade gegen eine Mahlzeit eingetauscht?

Jetzt lachte meine Mutter über meinen Gesichtsausdruck und folgte meinem Vater in den Nebenraum.

Ich konnte nur den Kopf schütteln und entschuldigend zu Veith hinauf gucken. „Willkommen in meiner Familie.“

Seine Finger strichen eine widerspenstige Strähne aus meinem Gesicht, während seine Augen tief in meine Seele zu blicken schienen. „Nein“, sagte er.

„Nein?“ Fragend sah ich zu ihm hoch. Das hatte jetzt nämlich irgendwie keinen Sinn ergeben.

„Du hast mich vorhin gefragt, ob ich es bereue, mit dir gegangen zu sein. Nein, ich bereue es nicht.“

Diese einfachen Worten reichten, damit in meinem Gesicht die Sonne aufging. Mit einem Jubelschrei fiel ich ihm um den Hals und drückte ihn so stark an mich, dass er ächzte. „Jetzt gibt es nur noch uns.“

„Nur uns“, bestätigte er und im nächsten Moment lagen seine Lippen auf meinen, um diesen Schwur mit einem Kuss zu besiegeln.

 

°°°°°

 

Ende zweiter Teil

Bonusstory

Jenseits der Realität

 

„Das macht dann achtzehn Euro.“

Ich kramte, in meiner Tasche nach meinem Portemonnaie und gab der Kassiererin in dem weiten Leinenkleid und der braunen Haube ´nen Zwanziger. Zum Anlass dieses Tages hatte sie sich die Haare zu einem komplizierten Zopf flechten lassen. Naja, vermutlich war dieser Zopf gar nicht so kompliziert, sondern kam mir nur so vor, weil ich für sowas kein Talent hatte.

Die Frau zählte das Geld in die Kasse und reichte mir dann Eintrittskarten und Wechselgeld, mit denen ich schnell zurück zu Veith eilte. Ich wollte ihn nicht zu lange mit Tiara allein lassen, da die beiden sich nicht sonderlich gut verstanden, das war in den letzten Wochen mehr als deutlich geworden. Ich glaubte, dass er eifersüchtig auf sie war, da sie meine eineiige Zwillingsschwester war und uns somit schon seit der Geburt ein besonderes Verhältnis verband und sie war eifersüchtig auf ihn, da sie nun nicht mehr die Nummer eins in meinem Leben war. Die Eifersucht zwischen den beiden ging mir meistens gehörig auf den Geist, besonders dann, wenn sie wieder miteinander in Streit gerieten – was leider sehr häufig passierte.

Auf den Straßen außerhalb des Festplatzes herrschte bereits reger Betrieb. Von überall her strömten Leute, die an dem Mittelalterfestival teilnehmen wollten. Dabei kamen nicht alle in normaler Alltagskleidung. Es gab auch bunte Kostüme, die dem Mittelalter nachempfunden waren, auch wenn die wenigsten davon wirklich authentisch wirkten. Egal, der Wille zählte und der war auf jeden Fall gegeben – zumindest bei den anderen. Denn, obwohl Tiara darauf bestanden hatte und selber in so einem Fummel herumlief, hatte ich mich schlichtweg geweigert, mir so eine Tracht überzuziehen. Ich war gerade mal drei Wochen zurück in meiner Welt und würde mich nicht so schnell wieder von meinen Jeans trennen. Davon mal abgesehen, dass ich mich immer noch versuchte, wieder daran zu gewöhnen. War doch schon ein ganz schöner Unterschied zu einem Lendenschurz.

Noch mehr Probleme als ich hatte allerdings mein großer, böser Wolf, der mit Tiara gerade an einem dieser großen Werbeplakate stand und stirnrunzelnd von dem kleinen Flyer in seiner Hand, auf das große Ebenbild und wieder zurück sah. In den dunklen Jeans und dem schwarzen Shirt sah er noch viel heißer aus als früher. Das war meine Meinung, seine leider nicht. Er tat sich ein wenig schwer damit, genau wie mit vielem anderem, was immer wieder diese süße, kleine Falte auf seiner Stirn hervorrief. Genau wie es jetzt gerade wieder das Plakat tat.

„… für einem Kuhkaff kommst du denn?“, fragte meine Schwester gerade, als ich näher kam und verdrehte übertrieben die Augen.

Ich schulterte meine Tasche neu und gesellte mich an ihre Seite. „Kein Kuhkaff, eine andere Welt, eine …“

„Fängt das schon wieder an“, seufzte sie.

Ja, ich hatte ihr alles erzählt und wie nicht anders zu erwarten, hatte sie mir kein Wort geglaubt. Tiara war der festen Überzeugung, dass Veith in irgendwelche illegalen Machenschaften verwickelt war und sich jetzt bei uns versteckte, da ihm sonst irgendein Mafioso die Birne wegballern würde – ihre Worte. Als ich sie fragte, warum ich eine so unrealistische Geschichte erfinden sollte, um seine wahre Herkunft zu verschleiern, antwortete sie nur, dass der Kerl mir die Gehirnwindungen vernebelt hatte und ich alles tat, was er von mir verlangte – inklusive ihr und unseren Eltern diese Geschichte aufzutischen.

Jetzt funkelte sie mich wieder so an, wie sie es immer tat, wenn wir auf dieses Thema kamen – was in den letzten drei Wochen reichlich oft geschehen war. Ich glaube, sie war einfach nur frustriert, weil sie glaubte, dass ich sie anlog. „Irgendwann musst du mir die Wahrheit sagen.“ Sie hatte die gleiche helle Haut wie ich, nur waren ihre weißblonden Haare doppelt so lang. Und genau wie ich besaß sie auch diese fast dürre Figur. Es war immer als sah ich in einen Spiegel, wenn ich ihr gegenüberstand. Nur das sie heute ein pfirsichfarbenes Bliaut mit schwarzer Schnürung an den Seiten und dunklen Ornamenten an den Säumen trug. Ein echtes mittelalterliches Kleid eben. Inklusive weißem Häubchen und seilartigem Gürtel. Ja, wenn meine Schwester sich in etwas reinhängte, dann aber richtig. Ich glaubte sogar ihre Schuhe waren irgendwie mittelalterlich.

„Das ist die Wahrheit“, erklärte ich ihr zum bestimmt hunderttausensten Mal.

„Aber sicher doch und Schweine können fliegen.“

Ja, dass hatte ich auch ein paar Mal gedacht, als ich noch auf der anderen Seite des Spiegels gelebt hatte. Ich ignorierte Tiara einfach – das Beste was man in einem solchen Moment machen konnte – und stellte mich zu meinem großen, bösen Wolf, um zu sehen, wo jetzt wieder die kleine Falte herkam. „Warum guckst du so?“

Er hielt mir den Flyer vor die Nase. Veiths Haare waren in der letzten Zeit etwas länger geworden und fielen ihm nun in die stechend gelben Augen. Er hatte etwas abgenommen, was mir nicht sonderlich gut gefiel, aber die hiesige Kost sagte ihm nicht wirklich zu. Vielleicht war es aber auch einfach nur die Umstellung auf eine andere Welt, die ihm noch so zu schaffen machte. Ich konnte es ihm gut nachfühlen, hatte ich doch dasselbe durchmachen müssen.

„Das ist ein Foto“, sagte er nun.  

Lächelnd schüttelte ich den Kopf. „Nein, das ist ein Flyer.“

Die kleine Falte vertiefte sich. Oh wie ich diese Falte liebte. „Aber es sieht genauso aus wie dieses Schild.“ Er zeigte auf das Plakat vor uns. „Sogar dieser kleine Fleck über dem Buchstaben ist gleich.“

Ich spähte über seinen Arm und tatsächlich, das A in Mittelalter hatte an der Spitze einen kleinen Fleck, wie einen Tintenklecks. Das war aber Pfusch. „Das muss beim Drucken passiert sein“, überlegte ich laut. Als er mir seinen Kopf zuwandte, musste er gar nichts sagen, ich wusste auch so, was er wissen wollte. „Pass auf, wie Computer funktionieren, habe ich dir ja bereits grob erklärt.“

„Jetzt geht das wieder los“, verdrehte Tia die Augen.

Ich ignorierte meine Schwester einfach. „Alles, was man auf einem PC tut, kann mit Hilfe einer kleinen Maschine namens Drucker eins zu eins auf Papier gebracht werden. Danach vervielfältigt oder vergrößert man es, um es zu verteilen. Dieser Fleck hier“, – ich tippte auf die kleine Persona non grata – „muss schon auf dem Original gewesen sein, weshalb er auch auf jedem anderen Flyer oder Plakat zu finden ist.“

„Ja, ja, Tintenstrahldrucker sind echt toll, können wir jetzt gehen? Bitte?“

Und wieder wurde sie von uns ignoriert. „Hast du das verstanden?“

Auch wenn er „Ich denke schon“ sagte und leicht mit dem Kopf nickte, wollte das Stirnrunzeln nicht so richtig weichen. Mein armer, großer, böser Wolf. Auf Zehenspitzen drückte ich ihm einen Kuss auf die Wange und zupfte ihm den Flyer aus der Hand, um ihn in meiner Hosentasche verschwinden zu lassen. „Na, dann lass uns gehen, bevor Tia hier vor lauter Aufregung noch einen Kollaps bekommt.“

Über diese Unverschämtheit blies meine Schwester ihre Backen auf. „Sei nicht so vorlaut, nur weil du jetzt ein so anhängliches Hündchen hast.“

Ich streckte ihr die Zunge raus. „Da spricht doch nur der Neid aus deiner Stimme.“

„Keine Angst, ich bin nicht neidisch. Mein Traumprinz ist sicher auch nicht mehr weit von mir entfernt. Vielleicht finde ich ihn ja sogar hier auf diesem Fest.“

„Hier?“

Herausfordernd sah sie mich an. „Warum denn nicht? Kann doch gut möglich sein.“

Na, ich wusste ja nicht so recht. Aber okay. Suchend ließ ich mein Blick über die Anwesenden gleiten, die sich zum Einlass an der Mauer drängten. „Wie wäre es mit dem Typen in den braunen Pluderhosen?“ Ich kicherte. „Obwohl er ja irgendwie das falsche Zeitalter erwischt hat. Sieht eher nach Renaissance als nach Mittelalter aus.“

Tia verzog das Gesicht. „Ich habe gesagt, ich suche meinen Traumprinzen und keinen Frosch. Sieh dir doch nur mal die Augen an.“

Da hatte sie irgendwie recht. Entweder hatte der Kerl ein schiefes Gesicht, oder das rechte Auge saß wirklich höher als das linke – auf diese Entfernung war das gar nicht so einfach auszumachen. Trotzdem. „Ganz schön oberflächlich von dir. Vielleicht verwandelt sich der Froschmann ja in einen Traumprinzen, wenn du ihn küsst. Du musst dich nur trauen.“ Nicht, dass ich daran zweifelte, dass sie das wirklich tat. Tia war schon immer sehr … nennen wir es speziell, gewesen.

„Ha, ha, sehr witzig.“ Meine kleine Schwester hakte sich bei mir ein und zog mich Richtung Einlass. Sie hatte wohl keine Lust mehr darauf zu warten, dass wir uns in Bewegung setzten.                                                   

Ich schnappte mir noch schnell Veiths Hand, um ihn in der Menge nicht zu verlieren.

„Solche Scherze kannst du dir aber auch nur erlauben, weil du so einen affenscharfen Mafiabruder hast.“

Jetzt fing sie damit wieder an. Seufz. „Ich habe dir bereits mehrfach gesagt, dass Veith sich nicht vor der Mafia bei uns versteckt, sondern dass er aus einer anderen Welt kommt.“

„Ja, einer Welt voller fliegender Affen und kleinen, grünen Männchen“, spottete sie und reihte sich  mit uns in der kurzen Schlange ein.

„Grün ist gar nicht so verkehrt“, murmelte ich in Erinnerung an Catlin. Manchmal war es schon beinahe erschreckend, wie sehr mein Leben hier von der Zeit auf der anderen Seite des Spiegels beeinflusst wurde. An manchen Tagen kam es mir so vor, als befände ich mich in einem Traum jenseits der Realität. Hier war es so anders als dort und ich hatte mich mehr als einmal bei dem Gedanken erwischt, Pal und die anderen zu besuchen. Ich vermisste ihn fürchterlich und auch wenn ich wusste, dass hier, an dem Ort, an dem ich geboren wurde, mein Platz war, konnte ich gegen die Sehnsucht nichts ausrichten. Doch es waren nicht nur die Leute, die ich so wahnsinnig vermisste, auch würde ich mich nie mehr verwandeln können, um im Pelz durch den Wald zu streifen.

Natürlich kannst du. Du musst dir nur einen Pelzmantel besorgen und ihn bei einem Spaziergang durch den Wald überstreifen.

Ich verdrehte über meine innere Stimme die Augen. Als wenn das dasselbe wäre.

Und Veith. Er redete nicht darüber, aber ich glaubte, es belastete ihn, dass er seinen Wolf verloren hatte. Hier fehlte ihm ein Teil von sich selber und auch, wenn er noch immer hervorragend knurren konnte, wenn ihm etwas nicht passte, so war es doch etwas ganz anderes. Der Wolf war noch in seinem Verhalten, doch mehr war da nicht mehr.

„… träumst du?“ Tia fuchtelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum.

„Wie?“ Vorsorglich zog ich meinen Kopf ein wenig zurück, ich mochte meine Nase nämlich wie sie war und sah schon, wie ihre Hand aus Versehen dagegen klatschte.

„Die Karten.“ Sie zeigte auf den Mann vor uns. „Ohne die Karten lässt er uns nicht rein“, sagte sie geduldig, als hätte sie es mit einem zurückgebliebenen Kleinkind zu tun.

Ein böser Blick meinerseits für Tia und die Karten für den Kerl in Strumpfhosen – ja wirklich, der trug Strumpfhosen, wie Robin Hood, nur waren seine braun – folgten, dann befanden wir uns nicht nur in einer anderen Welt, sondern in einer anderen Zeit.

Der Anblick war fantastisch. Rund um eine riesige Kirche standen Stände aus alter Zeit, bei denen man in der Vergangenheit abtauchen konnte. Handwerker und Gaukler, Ritter und Pferde. Ich sah Stände mit Esoterikprodukten. Kräuter, Felle, Lederwaren, Keramik, Schmuck, Hieb- und Stichwaffen, Bögen. Ja, bei unserem Schlendern über den Markt entdeckte ich sogar eine Armbrust – obwohl ich ja glaubte, dass die eher zur Dekoration da war und nicht zum Verkauf stand. Eine Frau mit einem Reisigbesen lief lachend an uns vorbei. An der Seite saß ein Mann vor einem kleinen Ofen und blies vor den Augen der Besucher ein Klumpen Glas zu einer Vase. Unter einem provisorischen Holzdach hatten sich mehrere Frauen an Webstühlen niedergelassen, die unter der Anweisung einer Weberin Schnüre durch die Bahnen gleiten ließen.

Tia zerrte uns beide von einem Stand zum Nächsten. Wir sahen Künstler, Tänzer, Musikanten, Akrobaten, Feuerspucker und Schwertkämpfer.

Aber das war noch nicht alles.

Die meisten Besucher waren, wie Veith und ich, ganz normal gekleidet, doch zwischen denen liefen immer wieder Leute in altertümlichen Gewändern und Kleidung umher. Gut, es war wenig authentisch, Dixiklos hatte es wohl damals noch nicht gegeben, aber mal ehrlich, welcher Neuzeitler wollte sein Geschäft schon auf einem altertümlichen Abort verrichten? Ich sicher nicht.

Hier zu sein, auf diesem Fest,  war wie eine Rückkehr in der Zeit, zurück ins Mittelalter.

„Guck mal, die führen hier nachher eine kleine Inszenierung auf.“ Tia deutete auf eine Empore. „ Sicher eine Aufführung voller Liebe und Intrigen. Hach, Liebe im Mittelalter muss so romantisch gewesen sein.“

Naja, wenn sie es romantisch fand, mit irgendeinem fremden Kerl verheiratet zu werden, der ihr Opa sein könnte und schon mit sechzehn drei Blagen am Hals zu haben. Bitte, jedem das Seine.

Aber sie hatte Recht. Vor uns liefen Leute in sehr ausgefallenen Kostümen herum. Die gehörten sicher zu den Veranstaltern. Ein Bettler war an den Schandpfahl gebunden und jammerte übertrieben theatralisch vor sich hin. Nonnen, Bauern und Mönche unterhielten sich mit einer sehr schönen Frau. Ihr langes schwarzes Haar glänzte in der Sonne.

Ich hatte das starke Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben, aber bevor ich mich dem entsinnen konnte, zog Tia uns schon an ihr vorbei auf dem Pranger zu, der in der Festmitte stand.

„Du bist nicht liebenswürdig“, teilte die schwarzhaarige Frau dem Knappen neben sich mit. „Du bist eine Plage.“

Nanu, diese Stimme, die kam mir irgendwie bekannt vor. Woher kannte ich sie nur?

„Und das von jemanden, dem Febe heute noch die Ohren langziehen will, weil sie als Welpe so viel Schabernack betrieben hat.“

Das ließ mich so abrupt anhalten, dass ich mit der Nase fast im Dreck landete, weil Tiara versuche mich weiter zu ziehen. Er hatte gerade Febe gesagt. Febe, wie von den Drillingen. Und Welpe, das Wort war auch gefallen.

„Hey!“, moserte Tiara. „Was machst du?“

„Kann ja nicht jeder so ein Schleimer sein wie du“, kam es wieder von der Schwarzhaarigen.

Das konnte nicht sein, das war unmöglich.

Als der Knappe „Das nennt man nicht schleimen, dass nennt man beliebt. Ich bin halt der Liebling der Drillinge“ sagte, drehte ich mich langsam zu ihnen um. Die schwarzen Haare, diese Stimme, das Lächeln. Das war Julica, die verstorbene Tochter von Prisca! Und der Knappe neben ihnen war Kovu, Veiths kleiner Bruder. Das war … das war …

„Talita?“

Eine Berührung an der Schulter ließ mich am ganzen Körper zusammenzucken. Erschrocken sah ich hinauf in Veiths Gesicht.

Sein besorgter Blick musterte mein Gesicht. „Was ist los? Du siehst aus wie eine Tote.“

Tote. Ich stand kurz davor, einfach hysterisch loszulachen.

„Mein Gott, was du nur für ein Charmeur bist“, spottete Tiara, aber auch sie beobachtete mich mit leichter Sorge im Blick.

Ich war unfähig auch nur einen Ton von mir zu geben. Das Einzige, was ich noch zustande brachte, war auf Julica und Kovu zu zeigen. Dabei gingen mir immer wieder die gleichen Worte durch den Kopf. Julica war tot, Najat hatte sie getötet, um sein Leben zu retten. Sie konnte gar nicht hier sein.

Veith sah verwirrt von der kleinen Gruppe zu mir, dann wieder zurück. Er verstand nicht, was ihm zeigte.

„Siehst du es denn nicht, das sind …“ Abrupt brach ich ab, als mein Blick erneut auf die Leute fiel. Das war nicht möglich. „Aber wie …“

„Tal?“ Tiara rückte näher und berührte mich am Arm. „Was hast du?“

„Ich werde verrückt“, murmelte ich. Julica und Kovu waren verschwunden. Also, nicht wirklich. Die Frau und der Knappe standen noch immer da, aber weder hatten sie Ähnlichkeit mit den beiden Lykanern, noch waren mir ihre Stimmen, oder gar Worte bekannt. Die Frau hatte kurzes, braunes Haar und eine ziemlich große Nase und der Knappe war viel schmächtiger als Kovus Statur.

„Was hast du gesagt?“ Tiara beugte sich leicht vor, um mir ins Gesicht sehen zu können. „Tal?“

„Ich … nichts. Ich dachte nur …“ Ich schüttelte den Kopf. Meine Fantasie musste mir einen üblen Streich gespielt haben.

„Was dachtest du?“

„Nichts. Ist schon gut“, log ich. Nichts war gut. Ich bildete mir sowas doch nicht einfach ein, aber das Julica hier auftauchte, war einfach unmöglich. Magie gab es hier nicht und nicht mal in der Welt jenseits des Spiegels konnten Tote wieder auferstehen.

„Bist du sicher?“, fragte Tiara noch einmal nach. Sie glaubte mir nicht.

Mehr als ein Nicken brachte ich nicht zustande, denn nein, ich war mir absolut nicht sicher. „Das … vergesst es einfach.“ Ich versuchte ein Lächeln aufzusetzen, das nicht ganz so verrutscht aussah. So wie Veith mich ansah, misslang mir mein Meisterstück. „Kommt, lasst uns weitergehen.“ Ich hakte mich bei meinem großen, bösen Wolf ein und zog ihn weg von diesen Leuten. „Da drüben waren wir noch nicht. Lass uns mal sehen, was es da gibt.“

„Ich will erst etwas essen“, verkündete Tiara und ließ den Blick über die Umgebung gleiten. Mein sonderbares Benehmen hatte sie schon wieder vergessen – zumindest hatte es den Anschein. Das Spanferkel dort drüben am Stand schien ihr zuzuzwinkern. „Da. Wollt ihr auch etwas?“

Unisono schüttelten wir den Kopf.

Gleichgültig zuckte sie mit den Schultern. „Na, wer nicht will, der hat schon. Wartet hier auf mich.“ Und schon verschwand sie im Strom der Menge. Durch ihr Kleid war sie zum Glück gut im Auge zu behalten.

„Du weißt, dass ich es nicht mag, wenn du mich anlügst“, sagte Veith leise und durchbohrte mich praktisch mit seinem Blick.

„Ich …“ Mist. „Ich dachte nur, ich hätte etwas gesehen, dass nicht da ist“, verteidigte ich mich schwach. Das war immerhin keine Lüge, den Julica konnte einfach nicht da gewesen sein, das ging einfach nicht.

„Du hast ausgesehen wie damals, als der Drache gestorben ist.“ Sein Mund verzog sich grimmig. „Du hast völlig entsetzt gewirkt.“

„Ja, weil ich …“ Ich verstummte. Wie konnte ich ihm sagen, was ich glaubte gesehen zu haben? Es war so schon eine harte Nuss für ihn, hier zu sein. Ich wollte seine Gedanken nicht auch noch unnötig auf die andere Welt lenken. „Meine Fantasie hat mir nur einen Streich gespielt, das ist alles.“

Er wartete, aber als da nicht mehr kam, zog er mich seufzend in die Arme. „Manchmal wüsste ich nur zu gerne, was in deinem Kopf vor sich geht.“

Das ließ meinen Mundwinkel ein wenig zucken. „Ditto.“

So blieben wir eine ganze Weile stehen und störten uns auch nicht an den Gaffern um uns herum. Eigentlich schenke uns auch kaum jemand seine Aufmerksamkeit. Sie mussten alle denken, dass sie es mit einem normalen, frischverliebten Pärchen zu tun hatten. Keiner von ihnen konnte sich die Wahrheit erträumen. Niemand wusste, dass direkt unter ihnen ein Wolf war.

„Warum sprichst du nie mit mir?“, fragte Veith kurz darauf leise.

Ich drehte meinen Kopf leicht an seiner Brust, um ihn in die Augen sehen zu können. „Ich spreche doch mit dir.“

„Nicht wenn dich etwas bedrückt.“

War ja klar, dass er es nicht auf sich beruhen lassen konnte. „Veith, es ist wirklich nichts. Ich hab nur gerade gedacht, dass ich jemanden von früher gesehen hätte.“

„Und das hat dich so erschreckt?“

Eine Antwort blieb mir zum Glück erspart, weil genau in dem Moment Tiara wieder neben uns auftauchte. In ihrer Hand hielt sie eine kleine Plastikschale mit Gulasch – jedenfalls sah das Zeug so aus, es könnten auch Hasenknödel sein. Igitt. Auf jeden Fall war es kein Fleisch. Tiara war strickte Veganerin, niemals würde sie Fleisch oder etwas anders zu sich nehmen, dass von einem Tier stammte.

„Ich weiß, was wir als nächstes machen“, verkündete sie.

Nur widerwillig löste ich meinen Blick von Veith, um ihn auf meine Schwester zu richten. „Ich hoffe, das hat nicht wieder etwas mit deiner Suche nach deinem Traumprinzen zu tun.“

Der Ausdruck, der daraufhin in ihrem Gesicht erschien, wirkte fast pikiert. „Wo denkst du hin? Ich habe an etwas viel Aufregenderes gedacht.“ Ihre Augen blitzten verschmitzt.

„Und das wäre?“

„Wir gehen zum Hexenbad.“

Veith und ich zeigten nach diesen Worten wohl den gleichen verwirrten Ausdruck.

„Ich habe es gerade von dem Verkäufer am Stand gehört.“ Sie nahm meinen Arm und ignorierte die Tatsache, dass ich mich gerade an Veith gekuschelt hatte einfach, um mich fortzuziehen. „Das Hexenbad ist ein Spiel. Eine Person – Veith – wird auf ein freischwebendes Brett gesetzt und eine andere – ich – muss mit einem Ball auf eine Zielscheibe werfen. Wenn der Werfer – ich -  ins Schwarze trifft, geht die erstgenannte Person – Veith – baden.“

Ich zog äußerst skeptisch die Augenbraue nach oben. „Und du glaubst wirklich, dass Veith da mitspielt?“

Sie grinste meinen großen, bösen Wolf an, während wir um den vorderen Teil der Kirche herumgingen. „Na für irgendwas muss er ja gut sein.“

„Ich vereitle deine Wünsche und Sehnsüchte ja nur äußerst ungern, aber ich verbiete das.“ Ich blieb stehen und zwang sie damit auch anzuhalten. „Du wirst Veith nicht baden schicken.“

Sie zog einen Flunsch. „Spielverderber.“

„Damit kann ich leben.“

Tia bekam diesen sturen Zug um den Mund, der auf nichts Gutes hoffen ließ. „Veith, was sagst du denn dazu? Das wird bestimmt witzig, meinst du nicht auch?“

Er antwortete nicht, schien sie nicht mal zu hören.

„Veith?“, fragte ich und berührte ihn am Arm.

„Ein Engel“, sagte er leise.

Ich folgte seinem Blick. Das Fest war um eine gewaltige Kirche herum aufgebaut worden, über deren Portal das sanfte Antlitz einer Engelsstatur prangte. Sie war so schön gearbeitet, dass sie fast echt wirkte. Man könnte fast glauben, dass sie sich jeden Moment … ich riss erschrocken die Augen auf. Verdammt, hatte ich mir das eingebildet, oder hatte sie sich gerade bewegt? Scheiße, ja, ganz deutlich, ihre Flügel schlugen leicht im Wind. Sie drehte den Kopf und winkte mir zu. Der Engel winkte mir zu!

Was zum Teufel war hier los? War das wieder nur eine Einbildung? Aber …

Ich drehte mich hecktisch zu Veith und Tiara um, aber die schienen nichts bemerkt zu haben. Er schüttelte nur den Kopf, als sie versuchte, ihn doch noch zu einem Hexenbad zu überreden. „Veith?“

Lächelnd wandte er sich mir zu, ein Lächeln, wie ich es sonst nur an ihm sah, wenn wir allein waren. Und im nächsten Moment glaubte ich, dass mir die Augen aus dem Kopf fielen. Völlig ungeniert zog er sich das Shirt über den Kopf und fackelte auch nicht lange, um die Hose folgen zu lassen. „Lauf mit uns“, forderte er mich auf und im nächsten Moment begann sein Körper sich zu verformen. Aus seiner Haut spross braunes Fell, die Ohren wanderten an dem Kopf nach oben und das Gesicht verlängerte sich zu einer Schnauze. Es dauerte vielleicht drei Sekunden, dann stand ein riesiger, brauner Wolf vor mir.

„Oh, du bist aber süß“, schnurrte Tia und beugte sich zu ihm vor, um ihn hinter den Ohren zu kraulen. Zu meiner Verblüffung ließ er das zu. Veith ließ sich von meiner Schwester anfassen. Was war denn jetzt verkehrt? Und Tiara schien sich kein bisschen zu wundern, dass Veith jetzt mit einer Rute durch die Gegend lief, was ihre Mafiatheorie völlig wiederlegte.

Und … aber …. Was ging hier vor? Ich verstand es nicht.

„Komm Talita, Lauf mit uns“, forderte Veith mich erneut auf.

„Uns?“ Ich verstand nicht.

Plötzlich begann der Boden zu beben. Die Menschen um uns herum blieben stehen, als seien sie erstarrt. Ihre Körper zitterten kaum merklich. Dann, wie auf ein unsichtbares Kommando hin, streckten sie alle gleichzeitig die Arme zur Seite aus. Ihre Haut wurde dunkler, braun, rissig. Aus den Fingern und aus dem Kopf wuchsen Zweige mit frischen, grünen Blättern. Ihre Größe schwoll an. Sie wurden breiter, höher. Vor meinen Augen verwandelten sich all diese Menschen in Bäume.

Ich war nicht fähig mich zu bewegen, konnte nur ungläubig auf das Schauspiel vor mir starren.

„Ich werde dich vermissen.“

Erschrocken wirbelte ich herum. Ein großer, roter Wolf trat aus einem Dickicht hervor, der größte Wolf, den ich je in meinem Leben gesehen hatte. „Ich werde dich vermissen.“

„Pal?“ Das war nicht möglich.

Er war nicht der Einzige, der zwischen den Bäumen hervortrat. Da war auch Prisca und Kaj und Raissa und Tyge und so viele andere.

Sie alle kamen aus dem Wald. Wo waren nur die ganzen Stände hin verschwunden? Sie waren einfach weg, nur ich und die Wölfe waren noch hier. Und Tiara, die gerade dabei war, Hundehalsbänder von einem Baum zu pflücken und sie nacheinander den Wölfen umzubinden. „Ihr seid so süß“, sagte sie immer wieder. „Wenn ich nur könnte, würde ich euch alle mit nach Hause nehmen.“

„Komm Talita, Lauf mit uns“, wiederholte Veith wieder. Um sein Hals war ein hübsches, blaues Halsband gebunden, das mit Strasssteinen verziert war. Strasssteinen? Wirklich? Also, ich hätte ihm ja eher ein Halstuch mit einem Totenkopf darauf umgebunden.

„Und was ist mit Tia?“, wollte ich wissen. Irgendwie kam mir diese Situation nicht mehr seltsam vor. Es war okay, wie es war, aber ich musste wissen, was mit meiner Schwester war, schließlich konnte ich sie doch nicht einfach hier zurück lassen.

Veith schüttelte bedauernd den Kopf. „Sie kann nicht mitkommen. Sie hat keinen Pelz, so wie du und ich.“

Überrascht sah ich an mir herunter. Ich trug nur noch einen Lendenschurz und mein ganzer Körper war mit weißem Fell bedeckt, nur unterbrochen von den dunklen Rosetten.

„Ich bin vielleicht nicht wie ihr, aber ich habe auch einen Pelz.“ Wie selbstverständlich zog Tia einen dicken Pelzmantel aus ihrer kleinen Handtasche und warf ihn sich über. „Seht ihr? Jetzt kann ich mitlaufen.“

Ja, das konnte sie. „Aber du musst dich nur verwandeln, dann brauchst du dieses Ding nicht.“

„Kann ich nicht.“

„Natürlich kannst du das“, wiedersprach ich ihr sofort. „Du bist meine Zwillingsschwester, also bist du wie ich.“

Über mir im Baum fauchte es. Ein riesiger Luchs hockte da im Geäst und grollte in den Wald hinein. „Big Daddy!“

„Nein“, wiedersprach Tiara. „Du kommst nach Papa, du kannst dich verwandeln. Auch wenn wir eineiige Zwillinge sind, so komme ich doch nach Mama.“

„Nach Mama?“ Das verstand ich nicht, aber etwas anderes wurde mir klar. Natürlich konnte sie sich nicht verwandeln, sie hatte das Erweckungsritual ja gar nicht durchlaufen. „Wir brauchen Gaare.“ Aber das würde wohl kaum möglich sein.

„Du hast nach mir gerufen?“

Ich fuhr so hastig herum, dass ich mit dem Fuß an einer Wurzel hängen blieb und auf dem Allerwertesten landete. Direkt vor mir stand ein alter, knochiger Mann, mit einer so dicken Brille, dass er an einen Maulwurf erinnerte. Bei seinem Anblick rannen kalte Schauer über meinen Rücken. „Gaare“, hauchte ich.

„Es ist erst vorbei, wenn ich es sage, meine Liebe.“ Um seinen Mundwinkel zuckte es. In seiner Hand glimmte ein silberner Blitz. Ich sah kaum, wie er ihn nach mir warf, fühlte nur diesen Schmerz in meiner Brust und …

Erschrocken riss ich die Augen auf und fand mich liegend auf unserer Couch liegend im Wohnzimmer wieder. Draußen war es schon dunkel und nur der Fernseher gab ein leicht flackerndes Licht von sich. Alles war ruhig. Kein Gaare, keine Wölfe und kein Mittelaltermarkt, auf dem die Toten zurückkehrten.

Eine Berührung an der Schulter ließ mich zusammenzucken. Das war Veith, mein großer, böser Wolf. Erst jetzt nahm ich wahr, dass ich angekuschelt mit dem Kopf auf seinem Schoss lag und er mich besorgt musterte. Ich war beim Fernsehen mit ihm eingeschlafen.

Er musste nichts sagen, war es doch nicht das erste Mal seit meiner Rückkehr nach Hause, dass ich so seltsame Träume hatte. Meine Familie wusste darum. Meine Mutter sagte, dass sie ganz normal waren und mit der Zeit verschwinden würden, doch das mit dem Mittelalter war mal was Neues gewesen. Kam wohl davon, dass ich heute mit Veith und Tiara auf einem solchen gewesen war.

Ich seufzte und kuschelte mich näher an ihn, spürte kaum, wie er sich vorbeugte und einen Kuss auf meine Schläfe hauchte, bevor ich wieder einschlief.

Was brauchte ich eine andere Welt? Solange ich Veith an meiner Seite hatte, war ich überall zu Hause. Ob nun im Hier und Jetzt, in einer magischen Welt, oder in meinen Träumen, jenseits der Realität. 

 

Imprint

Publication Date: 05-13-2013

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Dedication:
Für all die treuen Leser, die mit Talita so eifrig mitfiebern

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